Der Geist des Windparks: Indigene Perspektiven auf erneuerbare Energie in Mexiko 9783839448151

The rejection of contaminating wind power by the Ikojts in Mexico makes it clear that the relationship between nature, r

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German Pages 264 Year 2020

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Inhalt
Abbildungen
Abkürzungen
Vorwort
1. Einleitung
2. Gefüge sozionatürlicher Welten und erneuerbarer Energien
3. Feldforschung bei den Ikojts
4. Ressourcen-Verflechtungen von Wind, Fischen und Turbinen
5. Windenergie, Kontamination und die sozionatürliche Welt der Ikojts
6. »Mar y aire, nuestra vida, nuestra lucha«
7. Indigene Perspektiven auf erneuerbare Energie
Dank
Literatur
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Der Geist des Windparks: Indigene Perspektiven auf erneuerbare Energie in Mexiko
 9783839448151

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Oliver D. Liebig Der Geist des Windparks

UmweltEthnologie  | Band 3

Editorial Die Schriftenreihe UmweltEthnologie versammelt Studien, die auf ethnographischen Methoden basieren, emische Perspektiven reflektieren und zur umweltbezogenen Theoriebildung beitragen. Die Reihe geht von einem breiten Umweltbegriff aus, der sowohl die soziale, vom Menschen geschaffene, als auch die »natürliche« Umwelt inkludiert. Mit dieser großen thematischen Bandbreite bildet die Reihe die Vielfalt von kulturspezifischen Lebenswelten und Praktiken weltweit ab. Ziel der Reihe ist es auch, ethnologische Studien mit Umweltbezug zu bündeln und den Dialog mit interdisziplinären und internationalen Debatten zu fördern. Damit leisten die in der UmweltEthnologie erscheinenden Schriften einzigartige Beiträge zu drängenden umweltbezogenen Fragen der Gegenwart. Die Reihe wird herausgegeben von Eveline Dürr, Frank Heidemann, Oliver D. Liebig und Martin Sökefeld.

Oliver D. Liebig (Dr. phil.), geb. 1984, lehrt am Institut für Ethnologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er promovierte am Rachel Carson Center und forscht zu Mensch-Umwelt-Beziehungen, Infrastruktur und Energie aus kulturanthropologischer Perspektive.

Oliver D. Liebig

Der Geist des Windparks Indigene Perspektiven auf erneuerbare Energie in Mexiko

Inauguraldissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Dissertation wurde im Rahmen des Forschungsprojekts »Die Mero Ikojts und der Wind. Indigene Perspektiven auf erneuerbare Energie in Mexiko« von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert. Die Feldaufenthalte in Mexiko wurden durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), die Fakultät für Kulturwissenschaften und das Referat für Internationale Angelegenheiten der Ludwig-Maximilians-Universität München, das Rachel Carson Center und die Mesoamerika Gesellschaft Hamburg e.V. unterstützt.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Maria Arndt, Bielefeld Umschlagabbildung: Oliver D. Liebig Lektorat: Frauke Müller Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4815-7 PDF-ISBN 978-3-8394-4815-1 https://doi.org/10.14361/9783839448151 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload

Inhalt Abbildungen | 9 Abkürzungen | 11 Vorwort | 13

1. EINLEITUNG | 15 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7

Einführung und Gegenstand | 15 Erneuerbare Energien und Fortschritt | 16 Erneuerbare Energien in Mexiko | 18 Der Isthmus von Tehuantepec | 19 Die Ikojts und die Lagune | 20 Das Windpark-Projekt Parque San Dionisio | 23 Aufbau | 26

2. GEFÜGE SOZIONATÜRLICHER WELTEN UND ERNEUERBARER ENERGIEN | 29 2.1

Anthropologien der Energie | 30

2.2 2.3 2.4

Forschungen zu Energie aus ethnologischer Perspektive | 31 Energie und indigene Gruppen | 34 Erneuerbare Energie und indigene Gruppen | 35 Die Assemblage-Theorie | 36 Was ist ein Gefüge? | 39 Sozionatürliche Welten | 42

3. FELDFORSCHUNG BEI DEN IKOJTS | 47 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5 3.6

Feldzugang | 48 Forschungsteilnehmende | 51 Methoden | 54 Reziprozität | 58 Reflexion der Forschungstätigkeit | 59 Ontologie machen | 62

4. RESSOURCEN-VERFLECHTUNGEN VON WIND, FISCHEN UND TURBINEN | 69 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5

4.6

4.7

Den Wind kennen | 73 Atmosphären-Bewegungen | 78 Die Spuren des norte | 80 Entstehende Windenergie | 83 Der norte der Ikojts | 90

Trabajar con el viento – Mit dem Wind arbeiten | 94 Das Ritornell des norte | 100 Infrastrukturen von Windenergie | 104 Die Einhegung des Windes | 105 Der Wind territorialisiert die Windturbinen | 109 Die Knappheit von Land und die Knappheit von Wind | 112 Über Windenergie hinaus | 114

5. WINDENERGIE, KONTAMINATION UND DIE SOZIONATÜRLICHE WELT DER IKOJTS | 117 5.1 5.2

5.3

5.4

Turbinen-Reibungen | 118 »La sam sanndok« – Ein Fischer-Leben | 123

Die Bewegung durch die Lagunenlandschaft | 126 Fischfang als Lebensweise | 130 Sacar para la comida | 139 Die ontologische Kontinuität von el mar | 146 Eine Karte für die Welt | 149 Die Kontamination des Windparks | 152 Die Mangroven, die Ufer und die Fische | 156 Die Barra Santa Teresa als Teil der Windpark-Infrastruktur | 158 Veränderungen in der Nutzung der Lagune | 163 Im Gefüge der Windenergie am Isthmus | 166

6. »MAR Y AIRE, NUESTRA VIDA, NUESTRA LUCHA« | 169 6.1 6.2 6.3 6.4

Allianzen und Brüche | 173 Der Windpark polarisiert | 180 Windenergie und Indigenität | 186 Versammlungen | 199

6.5 6.6 6.7 6.8

Ein neuer Wind für Fortschritt und gegen den Klimawandel | 206 Saubere Solarenergie? | 209 Die Wiederaufnahme der usos y costumbres | 217 Leben mit dem Geist des Windparks | 224

7. INDIGENE PERSPEKTIVEN AUF ERNEUERBARE ENERGIE | 227 Dank | 235 Literatur | 239

Abbildungen

Abb. Umschlag

Windparks im Norden von San Dionisio. Oliver D. Liebig. November 2017. Photographie.

Abb. 1.1

Karte der Zona Huave. Eigene Erstellung auf Basis von OpenStreetMap (openstreetmap.org). Abgerufen am 15.10.2018.

Abb. 3.1

Sicht über San Dionisio in Richtung der Windparks im Norden. Oliver D. Liebig. Juli 2014. Photographie.

Abb. 4.1

Karte der ›Windressourcen‹ am Isthmus. D. Elliott, M. Schwartz, G. Scott, S. Haymes, D. Heimiller, R. George. 2003. Wind Energy Resource Atlas of Oaxaca. Oak Ridge: National Renewable Energy Laboratory. 41.

Abb. 4.2

Palmblätter im Wind über dem Dach eines Hauses in San Dionisio. Oliver D. Liebig. Juli 2014. Photographie.

Abb. 4.3

Bäume auf der Barra Santa Teresa und bei San Dionisio. Oliver D. Liebig. Mai 2013 und April 2014. Photographien.

Abb. 4.4

Windparks bei La Venta. Oliver D. Liebig. März 2014. Photographie.

Abb. 4.5

Emiliano wirft sein atarraya. Oliver D. Liebig. Juli 2014. Photographie.

Abb. 4.6

An einem anderen Tag: Diego steuert die lancha gegen den Wind und die Wellen, Enrique holt den Korkteil des Netzes ein. Oliver D. Liebig. November 2017. Photographie.

Abb. 4.7

Aufbau einer Windenergieanlage. Thomas Liebig. Oktober 2019. Zeichnung mit Bleistift auf Papier.

10 | Der Geist des Windparks

Abb. 4.8

Windturbinen auf der Barra Santa Teresa (Modell). Mareña Renovables Präsentation. Mai 2012.

Abb. 4.9

Positionierung der Turbinen auf der Barra Santa Teresa und bei Santa Maria. Mareña Renovables Präsentation. Mai 2012.

Abb. 5.1

Ernesto auf dem Weg entlang der Lagune zu seinen Viehweiden. Oliver D. Liebig. April 2014. Photographie.

Abb. 5.2

Fischer mit copo und beim Ablegen an der Playa Copalito. Oliver D. Liebig. November 2014 und März 2014. Photographien.

Abb. 5.3

Gefangene lisas in einer Kühlbox. Oliver D. Liebig. April 2014. Photographie.

Abb. 5.4

BewohnerInnen San Dionisios an den vom Fischen zurückgekehrten lanchas. Oliver D. Liebig. Februar 2015. Photographie.

Abb. 5.5

Ein Plakat, das auf einem Treffen der vier Dörfer der Ikojts zur Organisation des Widerstands gegen den Parque San Dionisio zu sehen war, verdichtet, was für die Ikojts auf dem Spiel steht. Oliver D. Liebig. März 2014. Photographie.

Abb. 6.1

Ankunft des ehemaligen Bischofs von Tehuantepec Arturo Lona Reyes. Oliver D. Liebig. Januar 2015. Photographie.

Abb. 6.2

Wohnbereich mit Küche in einem Haus in San Dionisio. Chiara Bresciani. April 2015. Photographie.

Abkürzungen

APPO

Asamblea de los Pueblos de Oaxaca (Versammlung der pueblos von Oaxaca)

CFE

Comisión Federal de Electricidad (Bundeskommission für Elektrizität)

Codigo DH

Codigo Derechos Humanos (Menschenrechtsorganisation)

CONAE

Comisión Nacional de Energía (Nationale Energiekommission)

ILO

International Labor Organisation (Internationale ArbeiterInnen Organisation)

INE

Instituto Nacional Electoral (Nationales Wahlinstitut)

PRD

Partido de la Revolución Democrática (Partei der Demokratischen Revolution)

PRI

Partido Revolucionario Institucional (Partei der Institutionalisierten Revolution)

PSD

Partido Socialdemócrata (Sozialdemokratische Partei)

SEDIC

Secretaria de Desarrollo Industrial y Comercial del Gobierno de Oaxaca (Sekretariat der Regierung von Oaxaca für industrielle und wirtschaftliche Entwicklung)

SEMARNAT

Secretaría de Medio Ambiente y Recursos Naturales (Sekretariat für Umwelt und natürliche Ressourcen)

12 | Der Geist des Windparks

UCIZONI

Unión de Comunidades de la Zona Norte del Istmo (Vereinigung der Gemeinden der nördlichen Zone des Isthmus).

USAID

United States Agency for International Development

Vorwort EVELINE DÜRR, INSTITUT FÜR ETHNOLOGIE MÜNCHEN

Die Ausbeutung natürlicher Ressourcen in Lateinamerika und der sich an der Marktlogik orientierende Neoextraktivismus haben für die indigene Bevölkerung häufig fatale Folgen. Sie werden in BefürworterInnen und GegnerInnen des Abbaus gespalten, sie werden umgesiedelt oder vertrieben und sind am Gewinn gar nicht oder meist nur minimal beteiligt. Dies wurde in zahlreichen Fallstudien bereits ausführlich beschrieben, wobei häufig a priori von einer Unvereinbarkeit der Sichtweisen »der Indigenen« einerseits und »der Industrie« andererseits ausgegangen wird. Die vorliegende Studie wählt einen anderen Weg. Um indigene Umweltbeziehungen zu verstehen sowie um das Verhältnis zwischen den verschiedenen Akteuren, der Energiegewinnung und dem Staat zu bestimmen, verwirft sie den Gedanken, von vornherein von binären Interessen auszugehen. Der Autor fragt primär danach, wie sich unterschiedliche Entitäten zueinander verhalten, und zwar im Sinne eines dynamischen Beziehungsgefüges (assemblage), das sich immer wieder neu ausrichtet. Am Beispiel der geplanten Errichtung eines enorm großen Windparks am Isthmus von Tehuantepec im mexikanischen Bundesstaat Oaxaca untersucht Oliver D. Liebig im Dorf San Dionisio del Mar (Ikojts) die Folgen dieser Ankündigung. Er legt überzeugend dar, dass antizipierte »Nutzungskonflikte« zwischen dem Staat, den Windpark-Unternehmen und den Ikojts als Erklärung für die sich abzeichnenden Konflikte zu kurz gegriffen wären. Vielmehr handelt es sich um weltbildspezifische Differenzen, die die unterschiedlichen Positionen maßgeblich begründen. Die Studie nimmt die Leserschaft mit in die Welt der Ikojts und offenbart die spezifischen Bedeutungsebenen von »el viento« (dem Wind) »el norte« (dem Nordwind) und »el mar« (dem Meer bzw. der Lagune) aus indigener Perspektive und zeigt, wie sich das Werden von Windenergie im Einzelnen vollzieht. Dabei tritt die mehrfache Verfasstheit von Wind zu Tage: zum einen als Energielieferant, der zur effektiven Nut-

14 | Der Geist des Windparks

zung spezifische Infrastrukturen benötigt, zum anderen als Garant für Fischfang und sinnstiftender Bestandteil im sozionatürlichen Gefüge der Ikojts. Durch die Analyse dieser verschiedenen Formen des Seins von Umweltphänomenen und ihrer drohenden Veränderung – also des Werdens zu etwas anderem – hat Oliver D. Liebig neue Einsichten in die Umweltbeziehungen der Ikojts gewonnen. Dabei ist es ihm sehr gut gelungen, die Verflechtungen des Windes mit dem Meer, den Fischen und der Identität der Ikojts aufzuzeigen. Im Zuge dessen diskutiert er auch die internen Auseinandersetzungen, die die Verhandlungen um die Umwidmung des Windes in erneuerbare Energie begleiten und die Heterogenität der Ikojts belegen. Der Band liefert sowohl weiterführende theoretische Überlegungen zu assemblage-Ansätzen und zur Ontologie-Debatte als auch tiefe Einblicke in die Lebenswelt der Ikojts, insbesondere mit Blick auf Mensch-Umweltverflechtungen und auf erneuerbare Energie – ein Forschungsfeld, das angesichts der gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurse sicherlich noch an Bedeutung gewinnen wird. Eveline Dürr, Dezember 2019

1. Einleitung Those who used to live out in the weather’s rain and wind, whose habitual acts brought forth long-lasting cultures out of local experiences— peasants and sailors—have had no say for a long time now, if they ever had it. Michel Serres, The Natural Contract, 31. Learning to compose will need many names, not a global one, the voices of many peoples, knowledges, and earthly practices. Isabelle Stengers, In Catastrophic Times, 50.

1.1 EINFÜHRUNG UND GEGENSTAND »Und all das hier würde nicht mehr sein. Die Lagune, die Fische, wir. Wenn der Windpark kommt, dann ist das alles vorbei.« Eduardo klingt bitter und wütend zugleich, während wir im schmalen Schatten des Leuchtturms am Ufer stehen und nach Norden blicken. Nach Norden, wo der Wind herkommt. Und nach Norden, wo mehr und mehr Windparks entstehen. Es ist heiß. Obwohl wir früh aufgebrochen sind um die Kühle des Morgens zu nutzen, sind wir bereits völlig verschwitzt. Unser Weg vom Dorf aus führte uns eineinhalb Stunden auf einer Schotterpiste durch Buschwerk und vorbei an wenigen sich an den Boden drückenden Bäumen auf eine von einer Lagune umschlossene Halbinsel. Es ist mein erster Besuch bei den Ikojts von San Dionisio del Mar. Ich dachte, dass es in der Region außergewöhnlich starken Wind geben soll, aber während des Wegs ging nicht der kleinste Windhauch. Erst jetzt regt sich eine leichte Brise. Wo der Wind denn sei, frage ich Eduardo. Oh, der werde noch kommen, antwortet er. Ein Wind, wie es keinen zweiten geben würde. Wie um seine Worte zu unterstreichen scheint der Wind ein wenig stärker zu

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werden. »Nicht dieser,« sagt Eduardo. »Nicht der aus dem Süden, nicht der vom Meer her kommende. Der von den Bergen. Der aus dem Norden.« »Und die Windparks,« frage ich Eduardo. »Wo liegen die Windparks?« Eduardo deutet an einer Landzunge vorbei auf den Horizont. Ich schaue in die Richtung seines ausgestreckten Arms. Dort, wo das Wasser der Lagune endet, ist eine zerstückelte weiße Linie zu erkennen, die sich von West nach Ost zieht. »Da sind die Windräder,« bedeutet er mir. »Und bald stehen sie in der Lagune.« Das vorliegende Buch handelt von den Auswirkungen dessen, was mir Eduardo an diesem Tag eröffnet hat. In der Studie untersuche ich mit ethnographischen Mitteln die sozialen und ökologischen Verflechtungen, die am mexikanischen Isthmus von Tehuantepec durch einen Windpark in Bewegung geraten. Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit dem Erneuerbare-Energie-Werden von Wind in der Region, der Perspektive auf Windenergie der dort siedelnden indigenen Gruppe der Ikojts, und dem Verlauf der durch den Windpark entstehenden Reibungen mit dem Windenergie-Unternehmen, dem mexikanischen Staat, sowie innerhalb der Gruppe. In diese Kapitel sind zwei Gegenstände eingewoben: erstens ein in der Ethnologie bislang weniger untersuchter, die erneuerbare Energie, sowie zweitens ein in rezenten anthropologischen Debatten ausgiebig und kontrovers diskutierter, die Ontologie; den Gegenständen lege ich die Annahme zugrunde, dass plurale und differierende Perspektiven auf erneuerbare Energien dann besser verstanden werden können, wenn die Gefüge der sozialen und natürlichen Entitäten berücksichtigt werden, die zu erneuerbarer Energie in Beziehung stehen. So bildet die Studie ein Beziehungsgeflecht ab, in dem zugleich um unterschiedliche Arten der Ressourcennutzung als auch um weltanschauungsspezifische Verfasstheiten von Naturphänomenen und erneuerbarer Energie gerungen wird.

1.2 ERNEUERBARE ENERGIEN UND FORTSCHRITT Der Klimawandel macht Fragen nach Arten der Erzeugung von Energie immer drängender. Die Katastrophe von Fukushima beschleunigt dabei nochmals den Prozess, in dessen Verlauf nach Alternativen zu Atomenergie und fossilen Primärenergieträgern wie Kohle, Erdöl und Erdgas gesucht wird. Um den damit in Zusammenhang stehenden Problemen zu begegnen wird in vielen Teilen der Welt eine ›Energiewende‹ angestrebt. Es setzen sich vielerorts mehr und mehr die Forderungen durch, bisherige Arten der Energieerzeugung durch solche zu ersetzen, die ›erneuerbare Energien‹ genannt werden. Diese erneuerbaren Energien werden dabei als »Sinnbild des Fortschritts« (Jischa 2005: 61) gezeichnet.

Einleitung | 17

Fortschritt durchläuft stets Modernisierungen, Rationalisierungen und Neuverteilungen der Verantwortlichkeiten, im Zuge dessen jeweils definiert wird, was modernisiert werden muss (Pignarre / Stengers 2011: 59). Um ein neues ›Muster‹ für die fortschrittliche Anordnung durchzusetzen, gilt es in einem Prozess der organisierten Amnesie das Vorherige abzutrennen (ebd.). Jedoch geschieht dies häufig in der zirkelschlüssigen Annahme, dass zuvor gemachte Fehler sich nicht wiederholen können, da die Dinge in jedem Fall besser werden müssen, sonst wäre es nicht fortschrittlich. Unter der Prämisse des Fortschritts ergriffene Maßnahmen haben jedoch mitunter weitreichende Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaften. Diese Auswirkungen können nicht nur unterschiedlich wahrgenommen und erlebt werden, sondern betreffen gesellschaftliche Gruppen meist nicht zu gleichen Teilen. Für bestimmte Gruppen können fortschrittliche Maßnahmen Chancen zur Verbesserung ihrer Situation bieten. Von anderen Gruppen wiederum können dieselben Maßnahmen als einschneidend erlebt werden und eine Gruppe in ihrer Existenz bedrohen. Im Namen des Fortschritts wird dies dennoch meist in Kauf genommen: ›Es ist bedauerlich, aber das ist nunmal der Preis, den wir zu zahlen haben…‹ (vgl. ebd. 55). Dem Fortschritt muss sich zugunsten des ›höheren Ziels‹ untergeordnet werden, was bedeutet, etwaige soziale und ökologische Auswirkungen als weniger wichtig zu erachten als die fortschrittlichen Maßnahmen. Durch ihre Verknüpfung mit Fortschritt steckt in der Hinwendung zu erneuerbaren Energien eine Zwangsläufigkeit, bei der man sich mit dagegen erhobenen Einwänden unmittelbar auf Seiten derer findet, denen man wirklich nicht angehören möchte: Klimawandel-SkeptikerInnen, Atomenergie-BefürworterInnen, Fortschrittsfeinden; wie jede technologische Entwicklung implizieren die auf neuen und wiederentdeckten Technologien basierenden erneuerbaren Energien allerdings tiefgreifende Veränderungen, wobei die Menschen und deren Umwelt auf ganz unterschiedliche Weise von diesen Veränderungen betroffen sind. Zur selben Zeit besteht im menschengemachten Klimawandel eine Bedrohung, die nach umfassenden Veränderungen verlangt, von denen erneuerbare Energien ein wichtiger Teil sind. Was und wem ist nun Vorzug zu geben? Sind erneuerbare Energien das geeignete weil zeitgemäße, fortschrittliche Mittel, um einigen der drängendsten Probleme unserer Zeit zu begegnen? Ist eine den sozialen und ökologischen Gegebenheiten adäquate Implementation erneuerbarer Energien überhaupt möglich? An diese Fragen anknüpfend, möchte ich mit der vorliegenden Arbeit in der Tradition ethnologischer und anthropologischer Studien erneuerbare Energie fremd werden lassen (vgl. Murray Li 2007: 3). Ich möchte sie damit nicht abwerten, sondern ihre Besonderheiten und Auswirkungen herausarbeiten, die allzu

18 | Der Geist des Windparks

rasch hinter einer zwangsläufigen, fortschrittlichen und der Moderne angehörigen Sichtweise zurücktreten. Das Beispiel der Ikojts soll hier zeigen, dass Fortschritt nicht nur Gewinner und Verlierer zu Folge hat, sondern insbesondere mit Entwürfen von Welt zusammenhängt, in denen spezifische Lebensweisen zum Tragen kommen. Fortschritt mittels erneuerbarer Energie muss sich an diesen Entwürfen messen, die zeigen, dass dieser scheinbar zwingende Verlauf auch gänzlich anders gestaltet werden kann.

1.3 ERNEUERBARE ENERGIEN IN MEXIKO Energie ist in Mexiko in der Krise. Mexiko bestreitet mehr als 40 Prozent seiner Staatseinkünfte durch den staatlichen Konzern Petróleos Mexicanos (Pemex) (Boyer 2014: 323-324), die Produktion von Rohöl jedoch ist seit 2007 um mehr als 25 Prozent zurückgegangen (ebd. 323). Zu einem fallenden Ölpreis kommen ein stetig ansteigender Bedarf an Elektrizität, Kraftstoffen und Wärme – der zweithöchste Energieverbrauch pro Kopf in Lateinamerika nach Brasilien (BP Statistical Review of World Energy 2017: 8). Nicht nur beeinflusst das drohende Szenario des »peak oil« (Energy Watch Group 2010) und der damit einhergehende drohende Verlust von Energiesicherheit die mexikanische Politik. Ereignisse wie die massiven Proteste der Bevölkerung gegen die Benzinpreiserhöhung 2017 zeigen auch, dass der Druck steigt, Antworten darauf zu finden, wie künftig die Energieversorgung in Mexiko gewährleistet werden kann. Seit mehreren Jahren treibt die mexikanische Regierung daher verstärkt Projekte zur Gewinnung von erneuerbaren Energien in verschiedenen Landesteilen voran. Neben Wasser, Sonne und Biomasse ist Wind für die erneuerbaren Energien in Mexiko zentral. Obwohl der »massive Zuwachs« von WindenergieProjekten in Mexiko eine rezente Entwicklung darstellt, gehört es bereits jetzt zu den Ländern, in denen Windenergie im großen Stil gewonnen wird (JuárezHernández / León 2014: 141-142). Im Jahr 2018 waren in ganz Mexiko 2.447 Windenergieanlagen verteilt auf 54 Windparks mit einer Leistung von 4.935 Megawatt installiert (Asociación Mexicana de Energía Eólica 2019). Der Ausbau von Windenergie betrifft in besonderem Maße die Region des Isthmus von Tehuantepec. Im dortigen La Venta organisiert in den Jahren 2001 bis 2003 die Regierung des Bundesstaates Oaxaca mehrere internationale Treffen zur Entwicklung der Windenergie. Im Zuge dieser wird der Isthmus zum »Windkorridor« erklärt und es wird damit begonnen, jegliche Hindernisse für großangelegte privatwirtschaftliche Investitionen in Windenergie zu beseitigen (Juárez-Hernández / León 2014: 143).

Einleitung | 19

1.4 DER ISTHMUS VON TEHUANTEPEC Die Region Istmo des Bundesstaates Oaxaca grenzt im Westen an die Sierra Sur und Sierra Norte, im Norden an den Bundesstaat Veracruz, im Osten an den Bundesstaat Chiapas und im Süden an den Pazifik. Der Isthmus ist mit einer Breite von 200 Kilometern die schmalste Stelle Mexikos und verbindet geographisch Nord- und Mittelamerika. Seit der Zeit der Herrschaft der Azteken (Mexicas) war der Isthmus von Tehuantepec eine strategische Zone für Handelsrouten zwischen der Region des zentralen Altiplano und dem Soconusco im heutigen Chiapas (Millán 2014: 7). Im Nachgang der spanischen Eroberung Mexikos bildete sich Tehuantepec unter der Führung von katholischer Kirche und Großgrundbesitzern als wichtiges Machtzentrum heraus. Später im Zuge des Eisenbahnbaus im 19. Jahrhundert wurde der Isthmus zu einer der Regionen Mexikos mit dem stärksten Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum (ebd. 9). Bis heute laufen wichtige Versorgungslinien durch das Gebiet. Während die beiden Eisenbahnlinien inzwischen nurmehr für den Güterverkehr genutzt werden, verbindet die transisthmische Bundesstraße Carretera Federal Número 185 die am Golf von Mexiko gelegene Hafenstadt Coatzacoalcos mit dem Industriehafen von Salina Cruz am Pazifik, wo sich seit 1979 eine Ölraffinerie sowie eine Fabrik des mexikanischen Zementproduzenten Cruz Azul befindet. Der Isthmus gliedert sich in drei geographisch und ökonomisch verschiedene Zonen (vgl. Acosta Márques 2007: 8-9): In den Ebenen leben Binnizá-Gruppen (Zapoteken), die insbesondere im Handel engagiert sind und Acker- und Feldbau sowie Viehzucht betreiben. Sie bauen Mais, Bohnen, Kürbis, Melonen, Tomaten, Chili, Kakao und Hirse an. In den Ebenen ist eine bessere Infrastruktur, Straßen und ein gutes Kommunikationsnetz vorhanden. Im Gegensatz dazu steht die Sierra, bergige und teilweise von Wald bedeckte Gebiete, in denen Kaffee und Holz produziert wird. Diese von Binnizá, Chontales, Mixes und Zoques bewohnten Gebiete sind weniger erschlossen als die Ebenen, und die Wege häufig in schlechtem Zustand. Schließlich gibt es die Lagunen an der Pazifikküste, an denen die Dörfer der Ikojts und weitere der Binnizá liegen. Die Lagunenlandschaft zieht sich bis nach Chiapas hinein und charakterisiert sich durch zahlreiche Salinen. Neben dem Feldbau ist hier der Fischfang von zentraler Bedeutung für die BewohnerInnen. Acker- und Feldbau wird von den indigenen Gruppen meist auf Flächen betrieben, die zuvor brandgerodet wurden. Die nahe den Dörfern gelegenen Wälder werden für die Gewinnung von Feuerholz genutzt. Am Isthmus kommen Kiefern-Eichen- und tropische Laubwälder vor, die von Weide- und Graslandschaf-

20 | Der Geist des Windparks

ten unterbrochen sind (Toledo 1995: 171). An den Küstenstreifen und den Lagunen wachsen Palmen und Mangroven (ebd.). In der Region herrscht subtropisches Klima. Von Mai bis September kommt es mitunter zu heftigen Regenfällen, die für ein Anschwellen der Flüsse und der Lagunen sorgen. In der restlichen Jahreszeit ist es heiß und trocken. Die Temperaturen bewegen sich zwischen 26 und 30 Grad im Jahresmittel, der Mai ist dabei der heißeste Monat.1 Während der Sommermonate werden Spitzentemperaturen von über 40 Grad gemessen. Von Oktober bis März wird es durch die speziell in dieser Region auftretenden Winde merklich kühler. Die Winde prägen die Region. Sie werden durch topographische Gegebenheiten nördlich der Lagunen begünstigt. Dort befindet sich das Gebirge Sierra Madre del Sur, wo eine schmale Lücke dazu beiträgt, dass die in Hochdruckgebieten auf der Seite des Golfs von Mexiko angestaute Luft jedes Jahr von Oktober bis März südwärts die Hänge der Bergkette herabweht. Die Winde verwandeln den Golf und die Gewässer an der Küste in eine biologische Hochleistungszone. Sie erzeugen vor der Küste Strömungen, durch die wärmere und kältere Wasserschichten in Austausch geraten, was zu einem reichen Nährstoffangebot an Plankton vor der Küste und entsprechend reichen Fisch- und Garnelenpopulationen in den Lagunen führt (Toledo 1995: 162). Dies kommt auch den BewohnerInnen der Küste zugute, für die Fischfang eine wichtige ökonomische Aktivität ist. Insbesondere betrifft dies die indigene Gruppe der Ikojts.

1.5 DIE IKOJTS UND DIE LAGUNE Die Ikojts bewohnen die an der Laguna Superior und Laguna Inferior gelegenen Dörfer San Dionisio del Mar2, San Mateo del Mar, San Francisco del Mar und Santa María del Mar, wobei letzteres zum Verwaltungsgebiet von Juchitán zählt. Die vier Dörfer und ihr Gemeindegebiet bezeichnen sie auch als die Zona Huave. Als indigene3 Gruppe steht den Ikojts laut mexikanischer Verfassung eine gewis-

1

Vgl. Klimadiagramm des Deutschen Wetterdiensts.

2

Folgend, wie auch bei den anderen Dörfern: San Dionisio.

3

Der Begriff der Indigenität ist sowohl bei den Gruppen umstritten, die diese Kategorie für sich selbst benutzen, als auch wird er in der ethnologischen Diskussion kritisch gesehen. In der vorliegenden Studie nutze ich den Begriff aus zwei Gründen: Erstens, weil die Ikojts in ihrer Eigenidentifikation diese Kategorie verwenden, und zweitens, weil in Mexiko als ›indigen‹ anerkannten Gruppen laut Verfassung besondere Rechte

Einleitung | 21

se Autonomie zu, was unter anderem das Recht auf gemeinschaftlichen Landbesitz umfasst. Die Zona Huave grenzt im Norden an Chicapa de Castro, Unión Hidalgo (beide zu Juchitán gehörig), im Osten an Niltepec, Zanatepec und Ixhuatán, im Westen an San Blas, Huilotepec und den Río4 Tehuantepec sowie im Süden an den pazifischen Ozean. Ikojts leben auch in weiteren Dörfern der Region, so in Huamuchil, das im Verwaltungsgebiet von San Dionisio liegt, sowie in Álvaro Obregón, Santa María Xadani, Unión Hidalgo und Chicapa de Castro. In San Dionisio leben nach dem Zensus von 2015 5.127, in San Mateo 14.835, in San Francisco 7.650 sowie in Santa María 771 BewohnerInnen (INEGI 2015). Eine nicht genau bezifferte Zahl von Ikojts befindet sich in der Migration. Es gibt größere Gemeinden in den mexikanischen Städten Monterrey und Cancún, sowie in den USA. Der Begriff Huave ist als Gruppen- und Sprachbezeichnung in der Fachliteratur verbreitet, die Ikojts selbst jedoch betrachten ihn als einen von den Binnizá

Abb. 1.1 Karte der Zona Huave

zustehen (vgl. Kapitel 6.3). Im vorliegenden Fall bedeutet das, Verhandlungspartner gegenüber dem Windenergie-Unternehmen zu sein. 4

Fluß

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verwendeten Terminus mit pejorativer Konnotation. 5 Sie verwenden ihn dennoch, häufig, um auf ihre Sprache zu verweisen, die Umbeyajts heißt. Als Gruppenbezeichnung bevorzugen sie jedoch Ikojts (San Dionisio) beziehungsweise Ikoots (San Mateo), was »wir« bedeutet, sowie Mareños, was ihre Zugehörigkeit zur Lagune unterstreicht. Im Umbeyajts oder Huave existieren eigene Namen für die vier Dörfer, beispielsweise heißt San Dionisio del Mar »Umalalang«. In präkolumbischer Zeit waren die Ikojts in den aztekischen Salzhandel involviert und lieferten – oft als Tributzahlungen – Garnelen, Fisch und weitere Meeresprodukte. Später übernahmen die spanischen Kolonialherren und die kirchlichen Institutionen dieses Modell, wie die Aufzeichnungen der 1529 gegründeten Diözese in Tehuantepec belegen (Millán 2004: 7). Bis heute ist der Fischfang für die Ikojts sowohl Subsistenz- als auch wichtige Einkommensquelle. San Dionisio lag zunächst am Ende der Barra Santa Teresa inmitten der Lagune. Der Großteil der BewohnerInnen zog in den 1930er Jahren von dort auf die heute bewohnte Halbinsel (Méndez Martínez 1975). Es wurde ein rancho6 errichtet, woraus das heutige San Dionisio entstand. Der auf der Barra Santa Teresa verbliebene Ort wird heute San Dionisio Pueblo Viejo7 genannt. Ziel der Umsiedlung war zum einen der Zugang zu besserem Land für den Feldbau, zum anderen eine einfachere Verbindung nach Juchitán. Der Verkehr zwischen den Dörfern um die Lagunen erfolgt heute entweder per Boot, oder durch aufwendige Fahrten um die Gewässer herum. In den Regenzeiten werden durch angestiegene Flüsse oder Hurrikans immer wieder Brücken beschädigt, was zu Folge hat, dass die BewohnerInnen weite Umwege in Kauf nehmen müssen. Die Lagune besteht aus mehreren Teilbereichen. Im Westen liegt die Laguna Superior, südlich davon, abgeteilt durch die Barra Santa Teresa, das Mar Tileme und östlich davon die Laguna Inferior. Die verschiedenen Teile sind miteinander verbunden. Es gibt mehrere kleine Inseln wie den Cerro Cristo, auf dem sich eine heilige Stätte der Ikojts befindet, und Orte wie den Strand Playa Copalito, wo die Fischer zu ihren Fangfahrten ablegen. Vom pazifischen Ozean ist die Lagune durch eine schmale Landzunge getrennt. Der Kontakt der Lagune mit dem Meer findet an der Boca Barra statt. Die Laguna Superior hat eine Fläche von 33.080

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Die von den Binnizá für die Ikojts verwendete Bezeichnung ›Huave‹ bedeutet laut León (1903: 3) »podrido por la humedad« (»die in der Feuchtigkeit verrotten«). Vgl. hierzu auch Hernández-Díaz / Lizama Quijano (1996: 112f.).

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Ranch

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Altes Dorf San Dionisio

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Hektar, die Laguna Inferior 26.120 Hektar und das Mar Tileme 5.060 Hektar (Zizumbo Villareal / Colunga-García Marin 1982: 23). In die Laguna Inferior fließt der Río Niltepec, während der Río de los Perros, der Arroyo8 Estancado, der Río Chicapa und der Arroyo San José in die Laguna Superior fließen, die dadurch den größten Anteil an Süßwasser aufweist (ebd. 26). Die gesamte Lagune ist reich an Fischen und Garnelen. Nur etwa 25 Prozent sind tiefer als fünf Meter (ebd.). Ihr Grund ist sandig und voll mit Muscheln. Die Lagune besitzt nicht nur für die Ikojts eine außerordentliche Bedeutung, sie war auch bereits zur Zeit von Hernán Cortés, der die spanische Eroberung Mexikos anführte, Objekt und Zielort von großangelegten Projekten. So soll Cortés geplant haben, die Lagune in ein maritimes Handelszentrum für den pazifischen Raum zu verwandeln, oder einen Umschlaghafen dort zu errichten (Hernández Díaz / Lizama Quijano 1996: 33). Neben dem Fischfang in der Lagune bauen die Ikojts heute Mais, Kürbis, Wassermelonen, Hirse und Sesam an. Der landwirtschaftliche Ertrag in ihrem Gebiet ist gering. Die Böden sind wenig fruchtbar und zum Teil salzig. Regenfälle treten lediglich von Mai bis September auf, ihr Ausbleiben im restlichen Jahr erschwert die landwirtschaftliche Produktion. Hinzu kommen die Nordwinde, die von Oktober bis März die Böden austrocknen und mehrere Ernten pro Jahr unmöglich machen. Während in San Dionisio und San Francisco die Landwirtschaft dennoch eine wichtige Rolle spielt, gilt dies nicht für San Mateo, wo es im Vergleich zwar mehr BewohnerInnen gibt, jedoch weitaus weniger Land zur Verfügung steht. Auch hat San Mateo lediglich einen kleinen Anteil am gesamten Ertrag des Fischfangs in den Lagunen, 90 Prozent werden von San Dionisio und San Francisco erbracht (Millán 2004: 12).

1.6 DAS WINDPARK-PROJEKT PARQUE SAN DIONISIO Im Zuge der Ölkrise der 1970er Jahre gerät Windenergie vermehrt in den Blick, als ÖkonomInnen und Regierungen nach alternativen Energiequellen zu fossilen Trägern suchen. Technologische Innovationen ermöglichen es, Windturbinen günstiger herzustellen und ihre Produktionskapazität zu erhöhen. Als 1979 einige dänische Hersteller damit beginnen, Windturbinen in Serie zu produzieren, bricht die moderne Ära der Windkraftindustrie an (Armaroli / Balzani 2011: 235). Seit

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Bach

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den 1990er Jahren zählt sie zu den am schnellsten wachsenden erneuerbaren Energien weltweit (ebd.). Auch die starken Nordwinde des Isthmus sollen in jüngster Zeit vermehrt als Energiequelle nutzbar gemacht werden. In allen Teilen der Region, über die der Wind hinwegfegt, werden derzeit Windparks gebaut oder befinden sich in Planung. Der Ausbau der Windenergie am Isthmus liegt nahezu ausschließlich in den Händen privatwirtschaftlicher Unternehmen, die sich der breiten Unterstützung der mexikanischen Regierungsinstitutionen sicher sein können. Der mexikanische Staat fördert den Ausbau erneuerbarer Energien und stellt die legislativen und institutionellen Rahmenbedingungen dazu bereit. Dazu gehört neben einer neuen auf erneuerbare Energien zugeschnittenen Gesetzgebung beispielsweise die Unterstützung durch bundesstaatliche Institutionen wie die Comisión Federal de Electricidad (CFE) und die Comisión Nacional de Energía (CONAE), aber auch durch regionale, Oaxaca-basierte, wie die Secretaria de Desarrollo Industrial y Comercial del Gobierno de Oaxaca (SEDIC). Forschende Institutionen wie das Instituto de Investigaciones Eléctricas sind ebenso an dem Prozess beteiligt, sowie lokale Gemeindepräsidenten und ‑verwalter. Geht es nach der mexikanischen Regierung, soll am Isthmus die größte regionale Konzentration von Windturbinen der Welt entstehen (Pasqualetti 2011: 911; Howe / Boyer 2015: 2; Reve 2017). Dazu beitragen soll das unter dem Namen »Parque San Dionisio« bekannt gewordene Windpark-Projekt. Das Projekt Parque San Dionisio wird von dem Unternehmen Mareña Renovables geleitet. Mareña Renovables, eine ehemalige Tochterfirma der spanischen Gruppe Preneal, ist ein Konsortium, dessen Kapital von der japanischen Mitsubishi Corporation (33,75 Prozent), dem niederländischen Pensionsfond PGGM (33,75 Prozent) und dem australischen Macquarie Mexican Infrastructure Fund (32,5 Prozent) gestellt wird (Mitsubishi 2012). Weitere Finanzierung kommt von Geschäftsbanken sowie der Interamerikanischen Entwicklungsbank. Mittlerweile hat sich PGGM aus dem Projekt zurückgezogen (Rojas 2014), das Unternehmen wurde aufgelöst und unter dem Namen Eólica del Sur9 neu gegründet. Der geplante Windpark umfasst 132 Turbinen, die in geringem Abstand entlang zweier Landzungen aufgestellt werden sollen. 102 sind auf der Barra Santa Teresa und 30 auf der Boca Barra östlich von Santa María geplant. Die Barra Santa Teresa ist eine schmale Landzunge von 27,5 Kilometern Länge, deren einziger Landzugang auf der Westseite der Lagune bei dem mehrheitlich von

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Ich benutze dennoch die Bezeichnung Mareña Renovables, da diese bei den Ikojts ungeachtet der Umbenennung und der Veränderungen weiterhin Verwendung findet.

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Binnizá bewohnten Dorf Álvaro Obregón liegt. Zusätzlich sollen drei Umspannwerke in Santa María, San Dionisio und auf der Barra gebaut und 52 Kilometer Stromleitungen von der Barra bis nach Ixtepec sowie Unterwasserkabel gelegt werden. Schließlich sollen sechs Meer- beziehungsweise Lagunenzugänge und mehrere Zufahrtsstraßen angelegt werden (Inter-American Development Bank Mexico 2011: 3-5). Einmal fertiggestellt soll der gesamte Windpark eine Leistung von 396 Megawatt erzeugen (ebd.). Es wäre nicht nur der größte Windpark Lateinamerikas, sondern auch der erste Windpark auf gemeinschaftlich von einer indigenen Gruppe besessenen Landes, dem der Ikojts von San Dionisio. Im Jahr 2012 kam es zu einem Konflikt, im Zuge dessen Ikojts und Binnizá gemeinsam Widerstand gegen das Projekt leisteten und der Beginn des Baus verhindert wurde. Keineswegs jedoch bedeutete dies das Ende des Projekts. In der Folge kam es zu mehreren Umstrukturierungen, in denen mal eine Teilrealisierung des Windparks angestrebt wurde, mal eine vollständige Durchsetzung des gesamten Projekts unter den Eingangsbedingungen. Bis heute ist der Windpark zwar nicht realisiert, aber noch im September 2018 weisen Konfrontationen zwischen den Ikojts und dem Windpark-Unternehmen auf dem Gebiet von San Francisco darauf hin, dass ein Ende des Projekts noch lange nicht abzusehen ist. Um die Wirkmächtigkeit, die der nicht gebaute Windpark hat, zu erfassen, spreche ich in der vorliegenden Arbeit vom Geist des Windparks. Die Idee dazu ist in einem Gespräch in San Dionisio mit dem italienischen Ethnologen Francesco Zanotelli entstanden. Als wir am Strand der Playa Copalito entlanggehen und auf die Barra Santa Teresa blicken, stelle ich fest, dass in diesen vielen Jahren der Kontroverse um den Windpark immer noch nichts gebaut wurde. Francesco stimmt mir zu und sagt, eigentlich sei der Windpark ein »fantasma«, ein Gespenst. Er spielt auf die berühmten Worte im Kommunistischen Manifest von Friedrich Engels an, aus dem Gespenst, das umgeht, wird im Spanischen fantasma. Fantasma wird im Deutschen sowohl mit Gespenst als auch Geist übersetzt. Dabei ist der Windpark nicht bloß ein unwirklicher Spuk, der die Ikojts aufschreckt. Vielmehr kann ein Geist sehr real sein, für die, die er heimsucht. Dem Windpark eignet eine »phantomatische Ontologie« (Schrader 2010: 278-279), eine Seinsform, die ohne bislang materiell manifest zu sein, dennoch die Prozesse am Isthmus dynamisiert. Das Geisterhafte des Windparks bezieht sich damit darauf, dass zwar noch keine baulichen Interventionen stattgefunden haben, der Geist des Windparks aber bereits seine Wirkmacht entfaltet.

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1.7 AUFBAU Das folgende Kapitel stellt kurz den Forschungsstand zu Energie aus ethnologischer und anthropologischer Perspektive vor und weist die Studie als einen Beitrag zu den als Desiderat indizierten Untersuchungen des Verhältnisses von Indigenität und erneuerbaren Energien aus. Dabei stelle ich vorliegende Arbeit mit Studien zu Energie aus ethnologischer Perspektive in Zusammenhang und diskutiere für diese Arbeit zentrale theoretische Begriffe wie ›sozionatürliche Welt‹ und ›Gefüge‹. Mit der Verwendung des Konzepts des Gefüges greife ich Impulse einer deleuzianisch inspirierten Anthropologie (Hamilton / Placas 2011; Jensen / Rödje 2010: 15) auf, die sich für die Beziehungen zwischen den Dingen und prozesshafte Verläufe interessiert. Statt danach zu fragen, was etwas ist, frage ich, »what it is turning into, or might be capable of turning into« (Bruun Jensen / Rödje 2010: 1). Das Konzept des Gefüges (Deleuze / Guattari 1992; DeLanda 2006a) erlaubt, die heterogenen Akteure und Entitäten zu erfassen, die in der Begegnung von Windenergie und der sozionatürlichen Welt der Ikojts in Austausch geraten. ›Sozionatürliche Welt‹ hebt nicht nur die enge Verwobenheit von sozialen und natürlichen Entitäten bei den Ikojts hervor, sondern impliziert auch die Anerkennung ihres spezifischen Lebensentwurfs. Im dritten Kapitel lege ich die für die Studie angewandten Methoden dar, stelle Überlegungen zur Reziprozität an und nehme eine Reflexion meiner Forscherrolle vor. In diesem Teil begründe ich auch, warum sich mit aus der Feldforschung heraus eine Fokussierung auf ontologische Aspekte ergeben hat und in welcher Weise dies als ethnographische Strategie verstanden werden kann, distinktive Arten des In-der-Welt-Seins (Alterität, vgl. Viveiros de Castro 2004) sichtbar zu machen. Das vierte Kapitel nimmt Wind als Ausgangspunkt, um zu zeigen, wie dieser in zwei unterschiedliche Konstitutionsprozesse von ›natürlichen‹ Ressourcen eingebunden ist. Ich untersuche, wie Wind Teil der Verflechtungen um Windenergie wird und analysiere seine wichtige Position, die er im Fischfang der Ikojts einnimmt. Seine spezifische Materialität prägt dabei zur selben Zeit umweltbezogene Praktiken der Ikojts und strukturiert gleichzeitig die für Windenergie nötige Infrastruktur. Umgekehrt ist die Windpark-Infrastruktur auch ein Versuch, dem Wind beizukommen, ihn zu fassen und an seine Energie zu gelangen. Konzeptuell nutze ich in diesem Kapitel Ansätze von Karen Barad (2003; 2007) und Manuel DeLanda (2006ab; 2016), um die verschiedenen Seinsformen zu erfassen, die Wind als Teil unterschiedlicher Beziehungsgeflechte in der Lage ist einzunehmen. In Abwandlung des Konzepts der »resource frontier« (Tsing 2005) zu ›RessourcenVerflechtungen‹ zeige ich, wie der spezifische Wind am Isthmus durch seine

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Eigenschaften und Fähigkeiten in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie Fischfang und Windenergie wirksam wird. Das fünfte Kapitel setzt sich mit der Konzeption von Windenergie als Kontamination durch die Ikojts auseinander. Anhand des Fischfangs zeichne ich für die Ikojts wichtige Aspekte ihrer Lebensweise nach und lege dar, wie sie die durch den Windpark induzierten Veränderungen als ein Eindringen in ihre sozionatürliche Welt erfahren. Hier zeigt sich, wie die spezifische Verfasstheit von Umwelt-Entitäten nicht nur zentral für ihre Lebensweise ist, sondern auch, wie diese Lebensweise aus Sicht der Ikojts durch die Infrastruktur des Windparks bedroht wird. Entgegen einer Sichtweise von Kontamination, in der durch Austausch stets Vielfalt entsteht (Tsing 2012), beschreibe ich, wie die Infrastrukturierung von Natur dazu führen kann, dass andere Arten und Weisen sich mit Natur in Beziehung zu setzen dadurch verdrängt werden. Theoretisch fasse ich dies, indem ich natürliche Entitäten als integralen Bestandteil sozialer Beziehungen beschreibe (Hastrup 2014a). Im sechsten Kapitel geht es um die politischen Prozesse, die durch den Windpark dynamisiert werden. Ich beschreibe, wie durch den Windpark bei den Ikojts Überlegungen entstehen, indigene Formen des Regierens wiederaufzunehmen, zu welchen Allianzen, aber auch Brüchen es kommt, und wie sich die Kontroversen durch die Gruppe der Ikojts in San Dionisio ziehen, die keineswegs eine homogene Perspektive vertreten. Auch kehrt hier der Wind wieder als ein Hoffnungsträger, der in so unterschiedlichen Zusammenhängen wie der Verbesserung der ökonomischen Situation in San Dionisio und entgegen dem Klimawandel in Stellung gebracht wird. Ausgehend von theoretischen Konzepten zu Aushandlungsprozessen um die Verfasstheit einer »gemeinsamen Welt« (Stengers 2005; Latour 2004) zeige ich, wie vor dem Hintergrund des Windparks auch für indigene Akteure Weltsichten durch kontroverse politische Debatten gekennzeichnet sind. Abschließend fasse ich die Ergebnisse der Studie zusammen und stelle Überlegungen dazu an, was indigene Sichtweisen für eine Transition zu erneuerbaren Energien bedeuten. Um in dieser Arbeit geschlechtsneutrale Formulierung zu gewährleisten, verwende ich sowohl die neutrale Form (wie zum Beispiel in Studierende) als auch ein Binnen-I (wie in BewohnerInnen). Ist eine Gruppe nicht geschlechtsneutral beschrieben, sind ausschließlich weibliche oder männliche Personen gemeint. An einigen Stellen sind in vom Fließtext getrennten Boxen Auszüge aus dem Feldtagebuch (zum Beispiel Berichte von Unternehmungen) angeführt, die der Illustration eines Sachverhalts dienen und auf die an entsprechender Stelle verwiesen wird.

2. Gefüge sozionatürlicher Welten und erneuerbarer Energien

In ›westlichen‹ Konzeptionen werden erneuerbare Energien üblicherweise einer ›Natur‹ zugehörig betrachtet, die wenig mit den Menschen gemein hat. Ich möchte dagegen eine Perspektive einnehmen, die erneuerbare Energien als Teil von Geflechten von Beziehungen betrachtet, in denen zahlreiche ›natürliche‹ und ›soziale‹ Entitäten in Austauschbeziehungen stehen. Um erneuerbare Energien in dieser Hinsicht besser zu verstehen ist es daher nötig, sie auf ihre spezifische Eingebundenheit in diese Beziehungsgeflechte hin zu untersuchen und auf diesem Weg verschiedene Verfasstheiten von erneuerbaren Energien selbst in den Blick zu nehmen (Chapman 2013). Daran anknüpfend setze ich in der vorliegenden Arbeit Windenergie dazu in Beziehung, was ich als die sozionatürliche Welt der Ikojts beschreibe. Die sozionatürliche Welt einer Gruppe setzt sich aus Umwelt, Dingen, Ideen, Philosophien und Praxisformen zusammen und ist nicht auf einen Komplex ›Kultur‹ reduzierbar (Hastrup 2014a: 1-3). In den Vordergrund tritt stattdessen, wie eine Gruppe ihre Beziehungen zu nicht-menschlichen Entitäten gestaltet und was zur Aufrechterhaltung oder Veränderung dieser Beziehungen beiträgt. Um das Verhältnis von sozionatürlicher Welt und Windenergie bei den Ikojts zu untersuchen, nutze ich das Konzept des Gefüges (assemblage). Das Konzept dient zum einen dazu, anhand der Herausbildung von Windenergie am Isthmus spezifische Verfasstheiten von erneuerbarer Energie nachzuvollziehen. Zum anderen ermöglicht es vor diesem Hintergrund zu analysieren, wie Aspekte von sozionatürlichen Welten mit dieser Windenergie in Zusammenhang stehen. Das Konzept des Gefüges ist damit die theoretische Linse, mit der ich auf die Zusammenhänge von erneuerbarer Energie und sozionatürlicher Welt blicke. Die Analyse als Gefüge soll dabei auch neue und andere Aspekte von erneuerbaren Energien sichtbar machen. Im Kontrast zu bisherigen Fallstudien beschränkt sich vorliegende Arbeit nicht auf die Beschreibung von erneuerbarer

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Energie als Bedrohung der Umwelt und anhängigen Wirtschafts- und Identitätskonzepten oder eine Analyse der Kontroversen um erneuerbare Energie als Ausdruck von Machtpolitik (vgl. Boyer 2014: 310f.). Ziel ist hier vielmehr ein differenziertes Bild zu zeichnen, in dem erneuerbare Energie als in vielschichtige Beziehungsgeflechte eingebunden beschrieben und in ihrem spezifischen Verhältnis zu Indigenität betrachtet wird. Statt Beziehungsgeflechte und erneuerbare Energien zunächst getrennt voneinander zu behandeln, richte ich die Aufmerksamkeit vielmehr auf ihr gemeinsames Werden, das heißt, wie sie sich im Prozess zueinander in Beziehung setzen und dabei wechselseitig Fähigkeiten und Potentiale, aber auch »frictions«10 und Konflikte hervorbringen.

2.1 ANTHROPOLOGIEN DER ENERGIE Energie ist ein wichtiger Bestandteil von sogenannten modernen Gesellschaften, die in stetiger Abhängigkeit zu ihr existieren. Die Beziehungen zu Energie sind dabei eng verbunden mit Werten, welche Menschen an Energie anlegen, sowie den Bildern, die sie sich von Energie und den mit ihr assoziierten Technologien machen (Strauss et al. 2013: 15). Neben kulturellen Zuschreibungen muss Energie komplexe sozio-technologische Systeme passieren, um ›erzeugt‹ oder hervorgebracht zu werden, und anschließend zu ihrem Ort der Bestimmung zu gelangen (Wilhite 2005: 1). Diese Systeme beinhalten unter anderem Maschinen, Rohre, Minen, Raffinerien, Apparate sowie Menschen, welche diese Technologien herstellen, entwickeln und managen. Energiesysteme sind dabei stets durchdrungen von Finanznetzwerken, Institutionen der Energiewirtschaft, Straßen, Regulierungsbehörden, Landnutzungsrechten und Unternehmen, die ihr angemessenes Funktionieren sicherstellen (Miller et al. 2013: 136). Energie prägt auf diese Weise menschliche Beziehungen und involviert dabei sowohl Menschen als auch nicht-menschliche Entitäten. Anthropologische Perspektiven auf Energie erlauben, Energie holistisch in spezifischen und vergleichenden Kontexten zu betrachten (Strauss et al. 2013:

10 Friction (Reibung) ist die Perspektive, die die Ethnologin Anna Tsing in ihrem gleichnamigen Werk zur Untersuchung des Aufeinandertreffens von Landnutzungspraktiken lokaler Gruppen, global engagierten Holzwirtschaftsunternehmen, NaturschützerInnen und weiteren Akteuren anlegt. Der Begriff dient ihr dazu, die in diesen Begegnungen stattfindende kulturelle Ko-Produktion zu beschreiben (vgl. Tsing 2005: 3-6).

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30), sowie politische Implikationen von Energie herauszustellen (ebd. 12). Dabei bilden beispielsweise Logiken des Ausbaus von Energie, soziale Institutionen, aufkommende neue Technologien, politische Beziehungen und kulturelle Konzeptionen von Energie mögliche Gegenstände für anthropologische Untersuchungen (Boyer 2011: 5). Eine Anthropologie der Energie fragt danach, wie Menschen Energie als eine Substanz beschreiben und diskutieren, die in ihrem täglichen Gebrauch zentral ist (Strauss et al. 2013: 14) und die heute auf die unterschiedlichste Weise erzeugt und genutzt werden kann. In Anthropologien von Energie sind entsprechend sowohl die menschlichen Erfahrungen und Nutzungsweisen von diversen Energiearten Gegenstand, als auch auf welche Weise Menschen sich auf den beständigen Energiefluss verlassen (ebd. 11). Nicht zuletzt spielt eine Rolle, wie im Zusammenhang mit Energie sozial bedeutungsvolle Welten entstehen (ebd.). Jedes Stadium im Leben von Energie, von ihrem Ressource-Werden über die politische Ökonomie ihres Managements und ihrer Allokation bis hin zu ihrer Konsumption und Entsorgung in einem Ökosystem, bietet damit zahlreiche Anknüpfungspunkte für anthropologische Perspektiven (Wilhite 2005: 1-2). Energie aus anthropologischen Perspektiven zu betrachten, kann demnach auf sehr unterschiedliche Weise erfolgen und nicht immer geht aus der Verwendung des Begriffs ›Anthropologie‹ beziehungsweise ›anthropologisch‹ klar hervor, was er umfasst oder wovon sich abgegrenzt werden soll. Für die vorliegende Studie soll daher definiert werden, dass ich mich mittels Ethnographie dem besseren Verständnis von erneuerbarer Energie in der spezifischen Sichtweise der indigenen Gruppe der Ikojts widme. Damit mache ich einerseits im engeren Sinne Ethnologie, trage aber zugleich zu anthropologischen (will heißen allgemeiner die Menschen betreffenden) Erkenntnissen von Energie bei. Forschungen zu Energie aus ethnologischer Perspektive Trotz ausführlicher Diskussionen um Klimawandel, Energiekrise und -wende und der großen Bedeutung von Energie für nahezu alle Formen moderner Macht, bemerkt der Anthropologe Dominic Boyer, dass anthropologische Beiträge zur Debatte um Energie bemerkenswert verhalten seien (2011: 5). Energie war aus dem Blick ethnologischer Perspektiven geraten und wird erst gegenwärtig erneut zum Gegenstand ethnologischer Studien. Dennoch hat Energie bereits eine längere Geschichte in Ethnologie und Anthropologie. Die Analyse des Felds der Energie beginnt 1943 mit der ersten wegweisenden Studie von Leslie A. White (1943; 1959). Er verknüpft Energie darin mit einem evolutionistischen Ansatz, wonach der Entwicklungsstand einer Zivilisa-

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tion mit der zur Verfügung stehenden Energiemenge pro Person korreliert. Die wesentlichen Entwicklungsschübe der Menschheitsgeschichte haben für White immer mit der Erschließung einer neuen Form der Energienutzung zu tun. Je mehr Energie eine Kultur erzeuge und verbrauche, desto weiter entwickelt sei sie (White 1943: 339). In Whites Ansatz ist Energie Treiber kultureller Produktion. Statt einer evolutionistischen Sichtweise von Energie wird im Zuge kulturökologischer Untersuchungen Energie als integrativer Bestandteil kultureller Produktion betrachtet. Roy Rappaport (1968; 1971a) nimmt sich Energie in den ökologischen Beziehungen von Gesellschaften zum Gegenstand. Er untersucht Ökosysteme auf ihre Energieflüsse hin und beschreibt bei den Tsembaga in Neuguinea das Verhältnis von Energieaufwand bei der Nahrungsbeschaffung, der Zucht von Schweinen sowie die Bedeutung dieses Energieeinsatzes für die symbolische Ebene im Rahmen von Ritualen. Rappaport stellt fest, dass der Energieaufwand für die Schweinezucht höher ist als der Nutzen als Nahrungsmittel, der daraus entsteht. Die dabei entstehende Differenz rechnet er als Beitrag von symbolischem Wert, der den erbrachten Energieaufwand rechtfertigt. Trotz dieser ersten Studien beklagt gegen Ende der 1970er Jahre Richard Newbold Adams, ein Schüler von Leslie A. White, dass Energie kaum Gegenstand von Studien in der Anthropologie sei (Adams 1978). Er hält Energie für eine menschliche Schicksalsfrage und fordert, sich diesem Feld verstärkt zu widmen. Adams verweist dabei bereits auf die Wichtigkeit »nonrenewable energy forms« zu reduzieren, um das ökologische Gleichgewicht aufrechtzuerhalten (ebd. 307) und plädiert für eine Diversifizierung in der Energiegewinnung. In der Folge legt Laura Nader mehrere umfassende Studien zu Energie aus anthropologischer Perspektive vor. Nader beobachtet die Verbindungen von NuklearwissenschaftlerInnen und Politik und analysiert beispielsweise die Anwendung von ExpertInnenwissen in politischen Entscheidungsprozessen zu Energieerzeugung und -verbrauch kritisch, indem sie darin angelegte Gruppendynamiken indiziert (Nader 1980; 1981; 2010). Nader beschreibt Energie dabei als einen Faktor, der politische Prozesse maßgeblich beeinflusst. Ab den späten 2000er Jahren kommt es zu einer »Renaissance« anthropologischer Studien zu Energie (Boyer 2011: 315). Dabei gerät insbesondere Öl, aber auch Gas als Energieträger in den Fokus (Love 2008; Mason / Stoilkova 2012). Der Sammelband »Crude Domination: An Anthropology of Oil« (Behrends et al. 2011) betrachtet Öl im Zusammenhang von kapitalistischer Ökonomie und Konflikt. In den Beiträgen werden an Beispielen aus allen Kontinenten die Wechselbeziehungen der Ressource Öl und autoritärer Herrschaft beschrieben. Im Vordergrund steht dabei, die Auswirkungen der Ressourcenausbeutung auf lokale Bevölkerungsgruppen zu analysieren. Andere Studien widmen sich Öl bei-

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spielsweise im Kontext von Infrastruktur und Arbeitsregime (Appel 2012). Hierbei wird beleuchtet, wie durch das Missverhältnis zwischen lokaler Förderung des Energieträgers und der Delokalisierung der Gewinnerwirtschaftung die politische Einflussnahme der ArbeiterInnen schwindet. In diesen neueren Untersuchungen zeigt sich, dass Energie nun vermehrt von verschiedenen Blickwinkeln aus betrachtet und in sowohl polit-ökonomischen als auch kulturellen Prozessen verhaftet beschrieben wird. Insbesondere zu letzterer Perspektive leistet der von Strauss et al. herausgegebene Band »Cultures of Energy« einen aktuellen Beitrag. Die Studien darin befassen sich in vergleichender Weise mit kulturellem Wissen über verschiedene Energiequellen und damit verbundene Handlungspraktiken. Von besonderem Interesse werden nun Konzeptualisierungen, welche die Wahrnehmung von und den Umgang mit Energie sowie daran anhängige soziale Beziehungen, Ökonomien und umweltbezogene Praktiken wirkmächtig beeinflussen (Chapman 2013; Newberry 2013; vgl. auch Wilhite 2005). Auch wird die Hinwendung zu erneuerbaren Energien nun Gegenstand, wie Jaume Franquesa (2018) in seiner Untersuchung zu Windenergie in Katalonien zeigt. In dieser wird der Ausbau von Windenergie als mehrschichtiger, von Machtdynamiken durchdrungener Prozess gezeichnet, der zu einer Neuordnung lokaler sozialer Beziehungen führt. Laura Watts wiederum beschreibt in ihrer Studie zu Energie auf den Orkneys, wie aus der Kombination von Gezeiten-, Strömungs- und Windenergie nicht nur mehr erneuerbare Energie produziert wird, als die Inseln verbrauchen, sondern wie dies auch mit dem Entwurf einer kohlendioxidreduzierten Zukunft zusammenhängt (Watts 2018). Energie hat damit aus anthropologischer und ethnologischer Perspektive bereits einen längeren Weg hinter sich. Heute wird sie zunehmend als ein Phänomen beschrieben, das strukturierend auf alle Bereiche einer Gesellschaft wirkt und in globale Zusammenhänge eingebettet ist (Newberry 2013: 232). Dabei ist insbesondere von Bedeutung, die asymmetrisch verteilten Kosten der Energieerzeugung in spezifischen lokalen Kontexten gegenüber der Konsumption von Energie an ganz anderen Orten herauszuarbeiten (Chapman et al. 2013: 141142). Dies wird besonders in dem häufig asymmetrisch geprägten Verhältnis von Energie und indigenen Gruppen sichtbar.

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Energie und indigene Gruppen Das Verhältnis von indigenen Gruppen und Energie ist spätestens seit den 1970er Jahren Gegenstand anthropologischer Perspektiven. Studien in diesem Feld zeigen, dass Positionen indigener Gruppen im Hinblick auf Energie zwar auch strategisch, jedoch meist prekär sind (Strauss et al. 2013: 19). Nancy Owens (1979ab) analysiert die drohenden Gefahren, die von der Energiegewinnung für indigene Gruppen ausgehen. Sie untersucht das Engagement unterschiedlicher indigener Gruppen im Kohle- und Uranabbau und benennt insbesondere, dass im Zuge der Energiegewinnung die Gemeinschaft vernachlässigt wird und letztlich nur einige Wenige profitieren. Unerlässlich erscheint Owens daher, dass indigene Gruppen selbst die Kontrolle über die Energiegewinnung auf ihrem Land übernehmen. Weitere Gegenstände in der Forschung zu Energie und indigenen Gruppen sind entsprechend Auswirkungen von KohleminenTätigkeiten (Campbell 1987), Gasförderung (Huertas Castillo 2003; Perreault 2012), Uranabbau (Robbins 1984), Atomenergie (Robbins 1980) und Ölförderung (Sawyer 2004; Jorgensen 1990; Kruse et al. 1982). Die Studien zielen im Besonderen darauf ab, die spezifisch indigenen Perspektiven auf Energien sichtbar zu machen, die sich durch die gemeinsame Erfahrung von Kolonialismus und Marginalisierung auszeichnen. Dabei geht es nicht nur um die Rechte der indigenen Gruppen in Zusammenhang mit Energie, sondern auch um die Auswirkungen von Energieförderung auf ihre Umwelt. Daran anschließend fokussiert der Sammelband »Indians & Energy« (Smith / Frehner 2010) die Felder Indigenität und Energie, indem er aufzeigt, wie sich durch die Ausbeutung von Energieressourcen indigene Naturkonzeptionen verändern. Die Beiträge des Bands gehen insbesondere auf das konfliktreiche Verhältnis der Naturwahrnehmung und Energieentwicklung ein. Sie zeigen jedoch auch, dass indigene Gruppen an der Ausbeutung von Energieressourcen auf vielfältige Weise partizipieren (zum Beispiel Frehner 2010) und legen die Herausforderungen dar, die sich für die indigenen Gruppen aus dieser Partizipation ergeben, wie beispielsweise für die Navajo, die um die Anerkennung ihrer Rechte als Arbeiter in der Uranförderung kämpfen (O’Neill 2010). Aus den Beiträgen wird auch ersichtlich, wie sehr sich einzelne Energiequellen und daran anhängige Ökonomien unterscheiden: Für den Abbau von Uran wird kontinuierlich menschliche Arbeitskraft benötigt, während Windenergie, nachdem die Windturbinen installiert sind, weitaus weniger lokale Arbeitskraft, aber ein funktionierendes Distributionsnetz und kontinuierliche Wartung durch Fachkräfte erfordert.

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In diesen Beiträgen zum Verhältnis von Energie und indigenen Gruppen werden insbesondere die mit der Energieproduktion und -konsumption verbundenen – zumeist negativen – Auswirkungen auf die indigenen Gruppen in den Vordergrund gestellt. Entgegen dazu stehen erneuerbare Energien, die, abgesehen von Wasserkraft, zunächst nicht als inhärent problematisch für diese Gruppen gesehen werden. Erneuerbare Energie und indigene Gruppen Im Gegensatz zu der immer größeren Anzahl an Studien zu Energie und indigenen Gruppen ist das Verhältnis von indigenen Gruppen und erneuerbarer Energie bislang nur in geringem Maße Gegenstand anthropologischer Perspektiven (Wilhite 2005: 2). Erneuerbare Energien befinden sich auch deshalb nicht im Fokus, weil sie trotz zunehmender Kritik immer noch überwiegend positiv konnotiert sind. Sie gelten weiterhin als fortschrittliche Technologie, die Hoffnung auf eine Lösung des »Energieproblems« (Gallagher et al. 2006) weckt und »Energiesicherheit« (Wilhite 2005: 2) herstellen soll. In diesem Sinne argumentiert auch der Ethnologe Harold Wilhite. Er erklärt, dass erneuerbare Energien sauberere Entwicklung zulassen und aufgrund ihres dezentralen Charakters in höherem Maß lokale Kontrolle und Aufsichtsführung ermöglichen (ebd.). Dennoch ist die Implementierung erneuerbarer Energien auf indigenen Territorien in der konkreten Praxis häufig umstritten und es mehren sich die Widerstände gegen entsprechende Bauvorhaben und Projekte der Energiegewinnung oder des Abbaus von Energieressourcen. Widerstände gegen erneuerbare Energien bilden sich beispielsweise dann, wenn im Zuge deren Ausbaus indigene Gruppen mit privaten Unternehmen und dem Staat konfrontiert sind. Bedingt durch asymmetrische Machtverhältnisse zwischen diesen unterschiedlichen Akteuren kommt es auch bei Projekten erneuerbarer Energien zu Menschenrechtsverletzungen und Verstößen gegen die Rechte indigener Gruppen (Finley-Brook / Curtis 2011; Pasqualetti 2011; Hermele 2012; Colbran 2011; Montefrio 2012). Dennoch verharren indigene Gruppen solchen Projekten gegenüber nicht lediglich in passiver Erwartung. Vielmehr werden sie selbst zu Akteuren im Ausbau von erneuerbaren Energien auf ihren Territorien (Penny 2005; Bargh 2012; Krupa 2012; Sikka et al. 2013; Pansera 2012; Johnson 2017; MacArthur / Matthewman 2018). Untersuchungen dazu aus dezidiert ethnologischer Perspektive existieren zu den sozialen und ökologischen Kosten von hydroelektrischer Energie für indigene Gruppen und den Profiten nicht-indigener Akteure (Colombi 2005; 2010; 2014; Millikan 2014), sowie der Suche von indigenen Gruppen nach Alternativen in der Energieerzeugung, die

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mit den »expressions of indigeneity« der Gruppen korrespondiert (Powell / Long 2010). Bislang so gut wie keine Beachtung hingegen findet Windenergie in Verknüpfung mit Indigenität, wobei die Studien von Cymne Howe (2014) und Dominic Boyer (Howe / Boyer 2015) zu Binnizá- und Ikojts-Gruppen am Isthmus von Tehuantepec Ausnahmen darstellen.11 Diese Lücke möchte ich mit der vorliegenden Studie schließen. Dabei soll die Studie nicht nur ein weiterer Beitrag zum Verhältnis von erneuerbarer Energie und indigenen Gruppen sein. Ziel ist vielmehr, erneuerbare Energie über ihre Eingebundenheit in spezifische Beziehungsgeflechte zu beschreiben und auf diesem Weg sowohl mehr über Konzeptionalisierungen von erneuerbarer Energie als auch dieser Beziehungsgeflechte selbst zu erfahren. Dafür gilt es, indigene Konzeptionalisierungen von Naturphänomenen und ihre Transformation zu erneuerbarer Energie sichtbar zu machen und damit sowohl einen neuen Blickwinkel auf die konfliktreichen Beziehungen zwischen Akteuren mit unterschiedlichen Interessen der Ressourcennutzung zu eröffnen, als auch neue Einsichten in die weltbildspezifische Verfasstheit von Naturphänomenen und erneuerbarer Energie zu liefern. Im Zuge dessen arbeite ich die ontologischen Annahmen und Bezüge heraus, die diesen Konzeptionalisierungen zu Grunde liegen. Um den heterogenen Entitäten, die in diesen Zusammenhängen miteinander in Beziehung treten, gerecht zu werden, verwende ich das Konzept des Gefüges.

2.2 DIE ASSEMBLAGE-THEORIE Whenever we study a social gathering, a community, or an institution, we pay attention to assemblages: Who is included? What kinds of status relations do they have to each other? Anna Tsing, More-than-Human Sociality, 33.

In anthropologischen und ethnologischen Feldstudien konstituieren sich komplexe und dynamische Prozesse. Abgrenzbare Gruppen von menschlichen Individuen treten dabei vermehrt in den Hintergrund. Vielmehr werden Menschen und Gruppen in ihren Beziehungen zu weiteren menschlichen und nicht-

11 Thomas Love und Anna Garwood (2011) untersuchen beispielsweise die Wind-, Solar- und Wasserenergie-Erzeugung im Norden Perus, hier jedoch in bäuerlichen und nicht in dezidiert indigenen Gemeinden.

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menschlichen Entitäten betrachtet. Eine Vielzahl an neuen Konzepten versucht diesen erweiterten Anforderungen gerecht zu werden. Dazu gehört auch das aus der Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari hervorgegangene Konzept des Gefüges (engl. assemblage, franz. Orig. agencement), das in zahlreichen Denkrichtungen aufgegriffen wird. Einige dieser Denkrichtungen versammeln sich dabei unter dem Label der ›Assemblage-Theorie‹. Zwar unterscheiden sie sich mitunter beträchtlich in ihren Annahmen, ihnen gemeinsam jedoch ist, »Wirklichkeit als verzweigtes und offenes Geflecht von heterogenen Verbindungen« (Mattissek / Wiertz 2014: 4) zu betrachten. Nach Annika Mattissek und Thilo Wiertz bietet die AssemblageTheorie einen theoretischen Rahmen an, der den Zwischenraum von symbolischen Ordnungen und ökologischen, technischen oder körperlichen Prozessen zu einem zentralen Schauplatz der Forschung werden lässt (ebd. 5).

Die Assemblage-Theorie sucht nicht nach Homogenität oder trachtet nach der Bereinigung von Ambiguitäten. Vielmehr gilt es, die »heterogenen und teilweise widersprüchlichen Logiken herauszuarbeiten, die soziale Prozesse durchziehen« (ebd. 6). Dabei wird davon ausgegangen, dass es keine unveränderlichen Identitäten oder Essenzen gibt. Um Entitäten und Gruppen näher zu bestimmen, liegt der Fokus stattdessen auf Eigenschaften und Fähigkeiten, die auf »historische Prozesse des Verknüpfens, Trennens und Ordnens« (ebd. 4) zurückgeführt werden. Damit betont die Assemblage-Theorie die relationale Konzeption von Gefügen in ihrer historischen »Gemachtheit« und zugleich die stete Möglichkeit zum Wandel (ebd. 6). Sie nimmt »materielle Lebensbedingungen, praktisches Tun, die Anordnung von Körpern und (…) dynamische ökologische Prozesse als immanente Bestandteile sozialer Wirklichkeit« (ebd.) in den Blick und erlaubt, die wechselseitige Konstitution von Entitäten in ihren Beziehungsgeflechten nachzuvollziehen. Auf diese Weise ist sie geeignet, die Grenzen von Natur und Kultur zu überwinden (Ogden 2011: 29). Ein zentraler Vertreter der Assemblage-Theorie ist Manuel DeLanda. DeLanda gehört mit einer ganzen Reihe von DenkerInnen einer theoretischen Stoßrichtung an, die unter den Begriffen ›New Realist Ontology‹ und ›Realist Social Ontology‹ sowie ›New Materialism‹ verschiedene philosophische und kritische

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Ansätze versammelt.12 Für DeLanda ist die Assemblage-Theorie Werkzeug, um Brücken zwischen den Ebenen von Personen bis hin zu großen Entitäten wie Staaten zu schlagen und dabei zahlreiche Zwischenbereiche mit der ihnen eigenen Autonomie zu berücksichtigen (DeLanda 2006b: 251). Interaktionen zwischen diesen Entitäten bringen eine »multi-scaled social reality« (ebd.) hervor. Zu dieser Realität gehören Prozesse, Praktiken, Materialien und Techniken, die in und durch spezifische Konstellationen und Verflechtungen von Entitäten entstehen (DeLanda 2006ab; vgl. auch Marcus / Saka 2006). Auf diese Verflechtungen der Entitäten blickt die Assemblage-Theorie nicht, indem sie die Entitäten als gegeben betrachtet, sondern die Prozesse in den Blick nimmt, durch die diese Entitäten zur Entstehung gelangen und die zur Aufrechterhaltung oder Modifikation dieser Entitäten beitragen (Hess / Schwertl 2013: 113). Im Zentrum der Analyse steht damit das ›Werden‹ und ›Sichtbar-Werden‹ von etwas. Der Entwurf einer Assemblage-Theorie wird jedoch auch kritisch gesehen. Paul Rabinow schlägt vor, statt von einer Theorie zu sprechen, vielmehr Gefüge als Konzept zu sehen (Rabinow 2011: 117). Mit einem Konzept kann man nach Rabinow ins Feld gehen und fragen: »Gibt es eine Resonanz damit?« Auf diese Weise, so schlägt er vor, ist es möglich, dem Ausprobieren und Experimentieren, den spezifischen historischen Bedingungen von Wissensproduktion (statt universellen Wahrheiten) und der Diversität wissenschaftlicher Praktiken (anstatt ihrer Einheitlichkeit) Aufmerksamkeit zu schenken (ebd.). Rabinow hebt damit nicht nur die Beteiligung des/der WissenschaftlerIn an der Konzeption von Gefügen hervor. Sein Argument schließt auch daran an, was bis heute durch die ›Writing Culture-Debatte‹13 in der Ethnologie und über diese hinaus nachwirkt: Es geht weniger darum, zu erklären, sondern vielmehr darum, Zugang zu schaffen – Zugang zu Prozessen, Situationen und Konstellationen sozialer und natürlicher Entitäten. Indem ich hier Rabinows Argumentation folge, verstehe ich das Konzept des Gefüges auch als ein Mittel, eine solche Art von Zugang zu verflochtenen und relationalen Wirklichkeiten zu ermöglichen.

12 Die Denkrichtungen werden in verschiedenen Debatten auch als »speculative materialism«, »speculative realism« und »Object-Oriented Ontology« betitelt (vgl. Povinelli 2016: 69). 13 Vgl. hierzu Clifford / Marcus (1986).

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2.3 WAS IST EIN GEFÜGE? Gefüge sind keine nahtlosen Ganzheiten mit gegebenen und fixierten Eigenschaften, sondern stets wandelbar und zeichnen sich durch ihre Prozesshaftigkeit und ihr Werden aus (Rabinow 2011: 122). Der Begriff des Gefüges verweist einerseits auf die Aktion des Zusammenfügens selbst, als auch auf das Ergebnis dieser Aktion: das Zusammengefügte (DeLanda 2006a: 1); Deleuze äußert sich zur Bestimmung des Begriffs in einem Dialog mit Claire Parnet wie folgt: What is an assemblage? It is a multiplicity which is made up of many heterogenous terms and which establishes liaisons, relations between them, across ages, sexes and reigns – different natures. Thus, the assemblage’s only unity is that of a cofunctioning: it is a symbiosis, a ›sympathy‹. It is never filiations which are important, but alliances, alloys; these are not successions, lines of descent, but contagions, epidemics, the wind (Deleuze / Parnet 1987: 69).

Deleuze erklärt, dass es bei einem Gefüge nicht um Abstammungen sondern um Assoziationen und Allianzen von Entitäten beziehungsweise Teilen geht. Ein Gefüge ist eine Mannigfaltigkeit aus heterogenen Entitäten, die zueinander in Beziehung stehen und dabei zusammenwirken. 14 In diesem Zusammenwirken geht es weniger um kausale Folgen, sondern es steht die Heterogenität und die Kontingenz der verschiedenen Teile als auch der Beziehungen im Vordergrund. Deleuze beschreibt das Zusammenwirken als ein sich gegenseitiges Anstecken (ebd.), ein Affizieren (Deleuze / Guattari: 1992: 349-353). Der Wind gilt ihm dabei als ein Beispiel, da dieser Wirkmacht ausüben, sich mit weiteren Entitäten verbinden und diese in Bewegung bringen kann. Was damit zählt in einer solchen Mannigfaltigkeit, sind weniger die Entitäten selbst, sondern was zwischen ihnen in den Sets von Beziehungen stattfindet (Deleuze / Parnet 1987: viii). Gefüge sind damit das Ergebnis von Verknüpfungen, die in ihrem Zusammenwirken neue Eigenschaften und Fähigkeiten ausbilden (ebd. 69). Die Entitäten eines Gefüges sind dabei ebenfalls Gefüge, die aus ihren Beziehungen zueinander hervorgebracht werden (DeLanda 2006b: 3). Auch bringt jede neue Zusammensetzung eines Gefüges ein neues Gefüge hervor, das wiederum in der Lage ist, neue Beziehungen einzugehen (Nail 2017: 23). Damit sind Gefüge immer

14 Den Begriff des Gefüges entwickeln Deleuze und Guattari gemeinsam in ihrem Werk »Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie« (1992), in dem dieser eine wichtige Denkbewegung ist.

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auch politisch: Nicht nur die Bezugnahme auf eine Konstellation von Entitäten als Gefüge, sondern gleichfalls die Art und Weise selbst, durch die ein Gefüge zur Entstehung gelangt, impliziert einen politischen Akt (ebd. 28). Der Fokus auf ihr Zusammenwirken als Gefüge lenkt den Blick auf die möglichen Fähigkeiten, die Entitäten entfalten können, wenn sie mit anderen Entitäten in Beziehung treten (Deleuze / Guattari 1992: 124; DeLanda 2011: 10). Paul Rabinow präzisiert dies wie folgt: Assemblages are composed of preexisting things that, when brought into relations with other preexisting things, open up different capacities not inherent in the original things but only come into existence in the relations established in the assemblage (2011: 123).

Rabinow hebt hervor, dass die Fähigkeiten der Entitäten in einem Gefüge keine essentialistischen Eigenschaften sind, sondern aus den Beziehungen entstehen, die die Entitäten eingehen (vgl. auch DeLanda 2015: 18-19). Werden neue Beziehungen hergestellt, verändert sich die Verfasstheit des Gefüges: es wird zu etwas Anderem, weil sich die Beziehungen ändern, die das Gefüge ausmachen; damit werden die Verfasstheiten von Gefügen durch Konfigurationen von Beziehungen zwischen unterschiedlichen Orten und Dingen bestimmt (Marcus / Saka 2006: 102). Der ontologische Status eines Gefüges ist damit einzigartig, singulär und historisch kontingent (DeLanda 2006a: 40) sowie in doppeltem Sinne relational: Er ist sowohl Ausdruck der inneren Organisation des Gefüges und seiner emergenten Eigenschaften, als auch werden Fähigkeiten erst in der Beziehung zu anderen Gefügen beziehungsweise Entitäten möglich (Mattisek / Wiertz 2014: 4; vgl. auch DeLanda 2011: 186). So unterschiedlich die Gefüge sind, so verschieden sind die möglichen Anwendungen des Konzepts in ethnologischen und anthropologischen Studien. Laura Ogden (2011) nutzt es, um die verflochtenen Beziehungen in der Krokodil-Jagd in den Everglades zu analysieren. Sie beschreibt die Lebensweisen von BewohnerInnen dieser Region, Jagdtechniken und die Interaktionen von Schlamm, Tieren, Feuer und Nacht. Anna Tsing (2015) untersucht mit dem Konzept das Sammeln von Pilzen in Japan und Oregon. Die Sammeltätigkeit stellt sie ins Verhältnis zum Wald, zu weltweiten kapitalistischen Handelsverbindungen, aber auch Migration und Historizität. Kregg Hetherington (2013) dagegen analysiert mit dem Konzept den Soja-Anbau in Paraguay. Er zeichnet die konfliktiven Beziehungen zwischen Soja-Bohnen und Bauern nach, die in der Folge die Bohnen selbst zum Akteur in politischen Aushandlungsprozessen werden lassen. Elizabeth Povinelli (2016) wiederum beschreibt damit die Ver-

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flechtungen von Macht, Governance und Topographien in Australien. Sie schildert, wie Seinsformen sowohl durch dreamings von Aborigenes-Gruppen hervorgebracht werden, als auch den Beitrag den materiengebundene Umstände wie Berge dazu leisten. Aus dem Gefüge solcher unterschiedlicher Elemente entsteht die spezifische Verfasstheit dessen, was Leben ist. Macht durchzieht dabei für Povinelli nicht nur die Beziehungen zwischen Menschen, sondern auch die zwischen belebten Dingen. Blanco et al. (2015) hingegen nutzen das Konzept zur Analyse der Lachsproduktion für den globalen Markt im chilenischen Teil Patagoniens. Sie beschreiben, wie im Zusammenspiel von Lachszuchtbecken, neuen Formen der Arbeitsorganisation und den physischen Charakteristika Patagoniens regionale Veränderungsprozesse stimuliert werden und stellen damit Überlegungen zum Zusammenspiel von Leben, Handlungsmacht und Natur an. Nicht zuletzt dient das Konzept zur Analyse von Ereignissen im Zusammenhang mit Energie. Jane Bennett (2010) wendet es zur Untersuchung des Blackouts im USamerikanischen Versorgungsnetz an, indem sie die Handlungsmacht nichtmenschlicher Akteure bei Naturereignissen wie Stürmen analysiert. Neu ist nun, das Konzept des Gefüges auch in Studien zur Produktion von Energie fruchtbar zu machen. In seiner Untersuchung zu Biokraftstoffen in Brasilien spricht Derek Newberry von »energy assemblages«. Er bezeichnet diese als gewinnbringende Perspektive für eine erneuerte Anthropologie der Energie (Newberry 2013: 233), die es ermöglicht, eigene Annahmen zu Charakteristika und zum Lauf von Energie zu denaturalisieren und in den Kontext zu setzen (ebd. 228). Ein »energy assemblage« umfasst die Arten und Weisen, in denen Systeme und Mechanismen Energie hervorbringen, bereithalten und verteilen (Lipschutz / Mulvaney 2013: 487-88).15 Der Begriff »energy assemblage« dient hier dazu, ein konkretes Gefüge zu beschreiben, in dem Energie entsteht. Daran anschließend betrachte ich erneuerbare Energie in Form von Windenergie am Isthmus von Tehuantepec als ein Gefüge von Phänomenen, Akteuren und Prozessen, die auf vielgestaltige Weise miteinander verwoben sind. Anstatt zu versuchen erneuerbare Energie zu definieren und zu fragen, was sie ist, interessiere ich mich dafür, zu was sie wird oder wozu sie fähig ist, wenn sie Teil eines Gefüges wird (vgl. Bruun Jensen / Rödje 2009: 1). Kategorien wie ›erneu-

15 Vgl. hierzu auch »The Networked Assemblage of Energy Poverty in Eastern North Carolina« von Conor Harrison und Jeff Popke (2011), die eine Untersuchung der Energiedistribution und -nutzung mit dem Begriff des »energy assemblage« vornehmen (siehe insbesondere Seite 950).

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erbare Energie‹, ›Wind‹ oder ›Natur‹ werden so destabilisiert und die Aufmerksamkeit auf das Emergieren ebendieser Kategorien gelegt (Collier / Ong 2005: 4). Statt einer Essentialisierung der jeweiligen Kategorie richte ich den Blick auf die Kondensation und Ansammlung unterschiedlicher Substanzen und Beziehungen, die bei ihrer Herausbildung beteiligt sind. Als Gefüge fasse ich sie als einzigartige historische Versammlung von Entitäten, und eben nicht als spezifische Mitglieder einer allgemeinen Kategorie (vgl. DeLanda 2016: 6).16 Erneuerbare Energie am Isthmus wird damit Teil dessen, was ich als sozionatürliche Welt der Ikojts beschreibe.

2.4 SOZIONATÜRLICHE WELTEN Die Krisen zeigen sich jedoch nicht nur im Verschwinden der Natur, sondern noch deutlicher im Verschwinden der traditionellen Mittel, die beiden Versammlungen von Natur und Gesellschaft zusammenzurufen. Bruno Latour, Das Parlament der Dinge, 87.

Natur ist fortwährend eines der zentralen Themen der Anthropologie und Ethnologie, sei es in den Studien von Mythen und Ritualen mit Bezug zur Umwelt und Subsistenztechniken, kulturökologischen Untersuchungen von Jagd und Feldbau oder neuen sozialen Umweltbewegungen (Descola / Pálsson 1996: 1). Dabei ist der Platz der Natur und ihr Verhältnis zur Gesellschaft heute so umstritten wie wenige Positionen in anthropologischen und ethnologischen Debatten (ebd.). Zusätzlich zeigt sich die widersprüchliche Situation, dass einerseits die derzeitige Epoche als das ›Anthropozän‹ beschrieben wird, zur selben Zeit aber der Anthropozentrismus in den wissenschaftlichen Disziplinen an seine Grenzen stößt. Es mehren sich die Beiträge, die über eine Anthropologie und Ethnologie jenseits von anthropos und ethnos nachdenken. Doch welchen Platz soll Natur in anthropologischen und ethnologischen Studien einnehmen? Und, mit Amiria Salmond gefragt: »[I]f anthropology is no longer the study of the anthropos, then what might it be (Salmond 2014: 162)?«

16 Zur Sichtweise von Gefügen als einzigartige historische Versammlung von Entitäten siehe auch DeLanda (2016), Kapitel 6.

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In der weiterhin anhaltenden Debatte wird der Dualismus von Natur und Kultur verteidigt, verworfen, für überwunden erklärt, erneut aufgemacht oder als obsolet bezeichnet und mit neu eingebrachten Begriffen wie beispielsweise ›Ontologie‹ versucht zu substituieren (Rappaport 1971b; Strathern 1980; Haraway 1995; Brumann 1999; Sahlins 1999; Escobar 1999; Viveiros de Castro 2015). Jede heute geschriebene Arbeit steht vor der Aufgabe, sich zu den Auseinandersetzungen zu positionieren und die eigenen Beobachtungen einzuordnen. Mit der vorliegenden Studie schließe ich mich an anthropologische Perspektiven an, die Natur als integralen Teil des sozialen Lebens verstehen (Hastrup 2014c: ix). In diesen Perspektiven wird angestrebt, die vielgestaltigen Verbindungen nachzuzeichnen, die zwischen natürlichen und sozialen Entitäten bestehen. Damit wird herausgestellt, dass Natur Gewicht für die Gesellschaft hat: »[N]ature matters to society (…) over co-species development and the sociality of non-humans, to macro-ecological changes of landscapes, weather and climate« (Hastrup 2014c: ix-x). Dies gilt selbstverständlich auch umgekehrt. Auch für natürliche Entitäten ist Gesellschaft ein ernstzunehmender und wirkmächtiger Akteur. Jedoch soll an dieser Stelle keine Sozialisierung der Natur oder eine Naturalisierung der Gesellschaft betrieben werden (Latour 2007: 36; 2008: 114). Vielmehr greife ich Impulse auf, die in anthropologischen Studien mit amerindianischen Gruppen entstanden sind (Viveiros de Castro 1998; Kohn 2013; Descola 2013). Viveiros de Castro stellt fest, dass bei amerindianischen Gruppen nicht wie in ›westlichen‹ Weltsichten eine statische Natur vielen unterschiedlichen Kulturen gegenübersteht. Stattdessen besteht eine Kontinuität auf der Seite der Kultur, die sich in unterschiedlichen Naturen artikuliert. Menschliche und nichtmenschliche Entitäten trennt nicht etwa, dass die einen kulturelle Wesen sind und die anderen nicht, sondern ihre Seinsformen aktualisieren sich lediglich in mehreren, voneinander unterscheidbaren Naturen. Dabei prägt Viveiros de Castro den Begriff des »Perspektivismus« (2004). Dieser besagt, dass die Perspektive entscheidend dafür ist, welche Welt zur Entstehung gelangt. Die Welt ist in diesem Sinne nicht schon da, sondern wird durch ein handelndes und verkörpertes Subjekt hervorgebracht. Der Perspektivismus ist damit immer ein »Multinaturalismus«, der das, was eine ›Natur‹ ausmacht, in Relation zu der jeweiligen

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Perspektive definiert.17 Damit ermöglicht der Perspektivismus so viele Welten, wie Perspektiven existieren. Viveiros de Castros Entwurf des Perspektivismus ist eng verbunden mit der spezifischen Weltsicht amerindianischer Gruppen. Ist er bereits von diesen selbst herausgefordert und wird durchaus kritisiert, ist er keinesfalls eins zu eins übertragbar auf andere Gruppen. Ausgehend von dieser Denkbewegung ist es jedoch möglich, natürliche Entitäten als in mehr als nur einer ontologischen Verfasstheit verhaftet zu beschreiben. Dabei geht es nicht darum, sich nun für die eine oder andere Sichtweise zu entscheiden. Ob es nun tatsächlich eine oder mehrere Kulturen sind, die sich zu einer oder mehreren Naturen verhalten müssen, ist an dieser Stelle nicht die entscheidende Frage. Statt die Annahme vieler Naturen als Gegen-Ontologie zur Annahme vieler Kulturen in die Beweisführung zu zwingen, statt einem Entweder-Oder der Weltsichten gilt es, die prozesshafte, nie abgeschlossene Kristallisation spezifischer ontologischer Formationen, gebildet aus unendlichen, immer wieder variierenden Entitäten, in den Blick zu nehmen (vgl. Gad et al. 2015: 83): Je nach Beziehungsgefüge und involvierten Akteuren ist es somit unterschiedlich, was zur Konstitution von Entitäten beiträgt. Dies impliziert nicht nur einen potentiell unendlichen Prozess, sondern auch potentiell unendlich viele Entitäten, die darin eine Rolle spielen. Diese Vorgehensweise stellt die trennscharfe Verteilung von Natur und Kultur in der Welt in den Hintergrund und ermöglicht, die Verfasstheit einer Entität auf ihre Eingebundenheit in einem Beziehungsgefüge zurückzuführen. Für die vorliegende Studie bedeutet dies, dass ich in der Analyse sowohl Menschen als auch natürliche – oder allgemeiner nicht-menschliche – Entitäten als soziale Akteure begreife (Latour 2001: 110). Wie die Ersteren besitzen auch die Letzteren eigene Sozialitäten, zu denen sich menschliche Akteure in Beziehung setzen, die jedoch nicht immer dem Einflussbereich der Menschen unterworfen sind (Tsing 2014: 33). ›Beziehung‹ meint dabei, dass es sich nicht um eine passive Natur handelt, auf die zum Zwecke der Ressourcennutzung zugegriffen wird. Stattdessen gehe ich von Koproduktionen oder vielmehr KoKonsitutionen sozionatürlicher Beziehungsgeflechte aus, in denen Menschen und nicht-menschliche Entitäten gemeinsam partizipieren (Bakker / Bridge 2006: 19).

17 Multinaturalismus ist dabei nicht zu verstehen als ein Relativismus, sondern ein Relationalismus (vgl. Bingham / Hinchliffe 2008: 84). Entscheidend sind die Beziehungen, die die Subjekte zueinander unterhalten.

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In diesen Beziehungsgeflechten emergieren Aspekte dessen, was ich in der vorliegenden Arbeit als sozionatürliche Welt fasse. Das Kompositum ›sozionatürliche‹ Welt dient dazu, die Beziehungen der Ikojts zu den Entitäten zu beschreiben, mit denen sie in Austausch stehen. In sozionatürlichen Welten werden die Grenzen des Sozialen und Natürlichen überschritten (Hastrup 2014a: 1). Entitäten und Zusammenhänge, die in westlicher Sicht meist dichotomisch aufgespalten werden, beschreibe ich als in mannigfaltige Austauschbeziehungen und Prozesse eingebunden, die sowohl durch ›soziale‹ wie auch ›natürliche‹ Aspekte charakterisiert sind. Soziale18 Beziehungen sind damit nicht exklusiv für den menschlichen Bereich reserviert (Viveiros de Castro 1998; Descola / Pálsson 1996), und natürliche Entitäten sind nicht reduzierbar auf ihre biologische Komposition (Latour 2008: 117). Beide Bereiche erwachsen aus einer »Vermittlungsarbeit« (ebd.), in die zahlreiche Entitäten involviert sind und im Verlauf derer Menschen und andere Lebewesen in ihren jeweiligen Gefügen spezifische Lebensweisen ausbilden (Tsing 2014: 28). Diese Lebensweisen sind weder das Ergebnis besonderer Anpassungsleistungen an eine äußerlich angesiedelte Natur oder Umwelt, noch sind die Umweltbeziehungen lediglich Ausdruck symbolischer Organisationsformen. Hinter dem Dualismus dieser beiden Bereiche eröffnet sich vielmehr ein gänzlich anderes intellektuelles Feld, in dem Prozesse und Beziehungen in den Vordergrund treten (Descola / Palsson 1996: 12). Als sozionatürliche Welt oder Welten beschreibe ich damit in Beziehung gesetzte Gefüge sozialer und natürlicher Entitäten, die in dialogischer Interaktion mit Umgebung, Ereignissen, Personen und Geschichten stetig verändert werden (Hastrup 2014a: 1;17). Der Begriff ›sozionatürlich‹, gepaart mit ›Welt‹, soll dabei für die Ikojts nicht den Eindruck erwecken, bei ihnen sei stets die Trennung zwischen sozialen und natürlichen Entitäten aufgehoben, sie ›seien so‹ oder ›hätten jene Ontologie‹. Keineswegs möchte ich in dieser Studie die Ikojts mittels des ethnologischen akademischen Diskurses in Kategorien zu stecken, die ihnen von dem mexikanischen Staat, transnationalen Unternehmen, aber auch von Nicht-Regierungsorganisationen aufgezwungen werden. Ich trete gerade nicht eine Beweisführung an, die darauf abzielt, besonders einzigartige Kosmologien zu ›entdecken‹, in denen Natur auf außergewöhnliche Weise in den sozialen Bereich eingegliedert ist. Stattdessen soll der Begriff helfen, die praktischen Beziehungen der Ikojts in den

18 Für die Erweiterung des Begriffs des Sozialen zeigt Irving Hallowell (1960: 43) für die Welt der Ojibwa, dass soziale Beziehungen die Beziehungen transzendieren, die mit menschlichen Wesen aufrechterhalten werden.

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Blick zu nehmen, durch die sie sich mit nicht-menschlichen Entitäten verbinden und gemeinsame Bereiche bewohnen (vgl. Tsing 2005: 174-175). Denn in diesen praktischen Beziehungen zeigt sich, »how worlds are concretely made, conjoined or transformed by the co-evolving relations of multiple agents; people, technologies, materials, spirits, ideas« (Bruun Jensen / Morita 2015: 82). Demzufolge erlaubt und erfordert das Konzept der sozionatürlichen Welt eine Berücksichtigung einer Vielzahl von Entitäten, die bei der Hervorbringung einer solchen Welt involviert sind. Zugleich gilt es, die Ikojts nicht lediglich als passive Empfänger von Kategorisierungen zu zeichnen, die sprichwörtlich nur in ihrer eigenen Welt leben. Sie sind vielmehr aktive Gestaltende, die ihrer Welt ihre Sichtweisen einschreiben und die in Kämpfe um Deutungshoheiten – auch untereinander – verstrickt sind. Damit soll die vorliegende Studie dazu beitragen, die kritische Haltung der Ikojts gegenüber erneuerbaren Energien ernst zu nehmen und besser zu verstehen, wie diese entsteht. Nicht zuletzt gehört dazu, ihre eigene Vielstimmigkeit abzubilden, und so zu zeigen, dass eine solche kritische Haltung keinesfalls ein Produkt einer homogenen Gruppe, sondern das Ergebnis von Diskursen und Debatten innerhalb dieser Gruppe ist, und es dabei sehr verschiedene Positionen gibt. Dem gehe ich nach, indem ich Impulse aus der Debatte aufgreife, in der unter dem Label ›Ontologie‹ derzeit über Seinsformen von sozionatürlichen Entitäten diskutiert wird. Was dies für die vorliegende Studie heißt und dass dies auch methodische Implikationen besitzt, zeige ich im folgenden Kapitel.

3. Feldforschung bei den Ikojts

Ethnologische Feldforschung ist keine objektive Erhebungsmethode, welche die Gewinnung neutraler Daten zum Ziel hat. Vielmehr ist sie eine strategische methodische Vorgehensweise, bei der die/der Forschende sich zu den an einer Forschung teilnehmenden Personen oder Gruppen in ein Verhältnis begibt, welches als Forschungskontext benannt und stetig reflektiert wird (Bernard 2011: 257-58). Die während der Feldforschung gemachten Beobachtungen und erlebten Erfahrungen zeichnet der/die Forschende auf, diese bilden als empirische Daten die Basis für die Ethnographie. In der Ethnographie müssen diese Daten dann in einen kommensurablen und integrierten Zusammenhang gebracht werden (Fuchs / Berg 1993: 42). Die beste Art herauszufinden, wie man in einer ethnologischen Forschung die richtigen Fragen stellt, ist jenseits von Literaturrecherche und Ideen für einen Entwurf ins Feld zu gehen und herauszufinden, was die Leute täglich tun (Fetterman 2009: 36). Dies bedingt, dass die Existenz des Forschungsgegenstandes zu einem Teil in den Praktiken des Forschens selbst performativ erzeugt wird (Law 2004: 14). Entscheidend für die ethnologische Forschung ist außerdem, deutlich zu machen, »wie die Daten erhoben wurden, wie man diese später aufbereitet hat und aus welchen Gründen ein bestimmtes Erhebungs- oder Auswertungsverfahren einem anderen vorgezogen wurde« (Beer 2003: 12). Der folgende Teil beschäftigt sich mit diesen Fragen. Hier lege ich dar, wie der Feldzugang vonstatten ging, mit welchen Forschungsteilnehmenden ich gearbeitet habe, welche Methoden dabei zur Anwendung kamen, wie der Aspekt der Reziprozität gestaltet wurde und wie meine Rolle als Ethnologe im Feld beschaffen war. Ich schließe mit dem Argument, dass diese Art der theoriegeleiteten Forschung verstärkt auf die spezifischen ontologischen Konzeptionen der Forschungsteilnehmenden blicken muss, die in einem intensiven Austauschprozess auch die Art der anthropologischen und ethnologischen Theoriegenerierung beeinflussen.

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3.1 FELDZUGANG Ich reise seit Juli 2010 regelmäßig nach Mexiko. Meine ersten Aufenthalte im Rahmen kürzerer studentischer Forschungen hatten den Zweck, die Entstehung von sozialen (und revolutionären) Bewegungen in Oaxaca und Chiapas zu verstehen. In Oaxaca waren das insbesondere die Nachwirkungen der Aufstände von 2006, die in der Gründung der Asamblea de los Pueblos de Oaxaca (APPO) mündeten, einem großen Zusammenschluss von indigenen, gewerkschaftlichen, studentischen und Bauern-Organisationen und Gruppen, die Wahlbetrug, Korruption und Marginalisierung anprangerten. In den folgenden Jahren verfolgte ich kontinuierlich die Entwicklungen in diesen beiden Regionen. Freunde und Bekannte aus Oaxaca informierten mich über Widerstände indigener Gruppen gegen Windparks, die am Isthmus von Tehuantepec in der Region um Juchitán gebaut werden sollten. In einem Gespräch mit Eveline Dürr, die seit mehreren Jahrzehnten ethnologische Forschungen in Mexiko durchführt, entstand die Idee, die indigenen Perspektiven auf Windenergie zum Gegenstand einer Studie zu machen. Bei meinen anschließenden Recherchen zu diesem Thema fiel mir auf, dass insbesondere zapotekische Gruppen tonangebend in diesen Widerständen waren und ihre Sichtweise entsprechende Aufmerksamkeit erhielt. Mit dem Parque San Dionisio sollte jedoch einer der größten Parks nicht auf zapotekischem, sondern auf dem Gebiet der Ikojts von San Dionisio del Mar gebaut werden. Ich entschied, die Möglichkeiten einer Forschung vor Ort bei den Ikojts auszuloten. Ziel sollte sein, die Sichtweise der Ikojts auf Windenergie zu untersuchen. Da ich zu Beginn keine persönlichen Kontakte in San Dionisio besaß, galt es, zunächst einen Feldzugang zu schaffen. Erst im Feldzugang konstituiert sich das Feld, wobei eine Verbindung von Akteuren und BeobachterInnen entsteht, die als soziale Einheit erfahren wird und die sich gegenüber Außenstehenden abgrenzt (Wolff 2013: 340). Ich nahm Kontakt zu Organisationen wie Educa und Codigo DH in Oaxaca auf, mit denen die Ikojts zusammenarbeiten. Zwei VertreterInnen dieser Organisationen in Oaxaca de Juarez machten mich mit Pablo Ortíz, meinem ersten Ansprechpartner bei den Ikojts bekannt. Pablo, der mit seiner Familie in der Stadt lebt, lud mich anschließend in sein Büro in Oaxaca ein. Pablo ist aus San Dionisio und als Mikrofinanz-Unternehmer tätig. Unser Treffen nimmt er zum Anlass, mir von der aufgrund des Windpark-Projekts neu entstandenen Situation zu berichten. Für die Ikojts, so Pablo, habe sich nun ergeben, ihr Schicksal nicht länger von anderen bestimmen zu lassen. Aber, so fügt er hinzu, auch die Ikojts selbst seien im Konflikt durch den Windpark. Ich höre

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zu und lege ihm dann mein Anliegen dar, eine ethnologische Feldforschung machen zu wollen. Ich erkläre, dass ich mich für die Kultur und das tägliche Leben der Ikojts interessiere und ihre Naturbeziehungen im Hinblick auf erneuerbare Energien analysieren möchte. Dabei betone ich, dass ich nicht die Sichtweise möglicher GegnerInnen oder BefürworterInnen des Windparks privilegieren oder den politischen Konflikt in den Vordergrund stellen, sondern stattdessen mein Augenmerk auf die Lebensweise der Ikojts legen will. Es lässt sich nicht verleugnen, dass ich wohl von Pablo durch die persönliche Empfehlung von Mitgliedern zweier den Ikojts vertrauten NGOs zumindest als Sympathisant mit den Anti-Windpark-Aktivisten eingeordnet wurde. Im späteren Verlauf der Feldforschung habe ich daher auch stets kommuniziert, dass ich nicht auf einer Seite stehe, sondern die Lebensweise der Ikojts und ihre Perspektive auf den Windpark verstehen möchte. Dennoch kam ich zunächst mit erklärten Windpark-Gegnern nach San Dionisio und hatte erwartet, dass diese Tatsache den Ablauf der Forschung zumindest verkomplizieren würde und sich beispielsweise Personen weigern würden, mit mir zu sprechen. Dies stellte sich allerdings als falsch heraus. Es fielen zwar in unregelmäßigen Abständen Kommentare darüber, mit wem ich gesprochen hatte oder gesehen worden war, aber mir schlug keine Ablehnung entgegen. Vielmehr gab es Forschungsteilnehmende wie José Gutierrez, ein Lehrer in San Dionisio, der sich positiv darüber äußerte und bemerkte, dass auf diese Weise ein realistischeres Bild von San Dionisio entstünde. Im Verlauf der Feldforschung erlaubte so meine Vorgehensweise, mit allen politischen Gruppen zu arbeiten und dies jeweils auch immer transparent zu machen. Am Ende des Treffens in Oaxaca erklärt Pablo, dass er sich freue, dass es Interesse für die Ikojts und ihre Anliegen gebe. Denn im Gegensatz zu den Binnizá, die durch ihre Widerstände gegen die Windparks bei Juchitán viel Sichtbarkeit für ihre Anliegen generiert hätten, wären die Ikojts stets im Hintertreffen. Er schlägt vor, mich nach San Dionisio mitzunehmen und den »compañeros«19 dort vorzustellen. Wir vereinbaren eine Forschungskooperation, setzen diese auf und unterzeichnen sie beide, ich in meinem eigenen Namen, er im Namen eines neu gegründeten in San Dionisio ansässigen Vereins zum Schutz der Lagune. Pablo war damit in diesem Fall der für mich und den Feldzugang entscheidende »intermediary« oder »go-between« (Fetterman 2009: 36), durch den ich die Verbindung mit San Dionisio etablierte.

19 Genossen

50 | Der Geist des Windparks

Für den Feldzugang war auch die Sicherheitslage ein Thema. Um die Windpark-Projekte gibt es bis heute zahlreiche Auseinandersetzungen, wobei es auch zu Straßensperren und gewalttätigen Aufeinandertreffen von Gruppen mit unterschiedlichen Interessen in Bezug auf die Projekte kommt. Zuvor hatte es bereits Attacken auf prominente Akteure des Widerstands gegen die Windparks gegeben, darunter auf mehrere Führungsfiguren der Binnizá aus Juchitán, aber auch aus San Dionisio und San Mateo. Bevor ich mit Pablo nach San Dionisio fuhr, zog ich daher bei NGOs, die in der Region präsent sind, Informationen über die Sicherheitslage ein. Die Situation galt als angespannt, eine Reise jedoch als möglich. Daraufhin reiste ich gemeinsam mit Pablo nach San Dionisio.

Abb. 3.1 Sicht über San Dionisio in Richtung der Windparks im Norden San Dionisio liegt am Ende der Verbindungsstraße zu Chicapa de Castro und Unión Hidalgo auf einer Halbinsel. Das nach einem Schachbrettmuster angelegte Dorf besitzt einen zentralen Platz, an dem sich die palacio20 genannten Gebäude der Gemeindeverwaltung sowie eine große Versammlungshalle befinden. Nur wenige der Straßen San Dionisios sind asphaltiert, darunter die wichtige Verbindungsstraße zur Playa Copalito. Die traditionell aus Lehmziegeln erbauten und mit Palmblättern gedeckten Häuser sind von den BewohnerInnen in der Mehrzahl durch Betonbauten ersetzt worden. In den an den Häusern gelegenen Gärten werden früchtetragende Bäume und Sträucher sowie Blumen angebaut. Um das Dorf herum liegen die Viehweiden und Felder, dazwischen gibt es Busch- und Strauchbewuchs sowie vereinzelte junge Bäume, welche die Ikojts für ihren Bedarf an Feuerholz nutzen. Die Windparks reichen im Norden bis an das Gebiet

20 Palast

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San Dionisios und die Lagune heran und sind von dem Hügel beim Dorf deutlich zu sehen (Abb. 3.1). Bei der Ankunft mit Pablo in San Dionisio stellt er mich Freunden und Verwandten vor. Ich finde Unterkunft bei der jungen Familie von Rafael und Mariana. Mariana hat als Köchin in Hotels in Cancún gearbeitet und Rafael war in den USA, wo er in der Landwirtschaft tätig war. Zur Zeit ist Mariana ama de casa21, Rafael arbeitet als Holzfäller und hilft seinem Schwager bei den copos22. Während meiner Forschung in San Dionisio wurde ihr erstes gemeinsames Kind geboren. Ich war bei ihnen in das Familienleben integriert und begleitete sie häufig bei ihren täglichen Aktivitäten, wohnte bei späteren Aufenthalten aber auch bei anderen Familien, beispielsweise bei der von Ignacio, der Bauer und Viehzüchter sowie Musiker ist, und seiner Frau Camila, die als Maisverkäuferin und ama de casa arbeitet. Die Wahl von San Dionisio als zentralen Ort der Forschung wurde auch durch die zugespitzte Lage während des Feldzugangs bekräftigt. Im Rahmen einer Fahrt nach Álvaro Obregón ergibt sich die Gelegenheit, die Barra Santa Teresa zu besuchen, an deren Landzugang sich eine ständig besetzte Barrikade befindet. Die Atmosphäre an der Barrikade ist sehr aufgeheizt. Verbogene Metallgitter, Autoreifen, ein zurückgelassener Polizeischild liegen herum, an einem verlassenen Lagerhaus halten die Verteidiger improvisierte Waffen wie Stöcke, Schilde, Wurfgeschosse und Schleudern bereit. Die BewohnerInnen des Dorfes sind angespannt, jeden Moment wird mit einem Angriff von der Polizei gerechnet. An diesem Tag bleibt es trotzdem ruhig. Dennoch bekräftigte diese Anspannung mich in der Entscheidung, die Forschung auf die Ikojts und insbesondere auf San Dionisio zu fokussieren, wo die Lage im Dorf zu diesem Zeitpunkt weniger konfliktiv erschien.

3.2 FORSCHUNGSTEILNEHMENDE Im Verlauf der Feldforschung kam ich mit zahlreichen BewohnerInnen San Dionisios in Kontakt. Bei einigen blieb es bei flüchtigen Begegnungen, mit anderen entstand intensiverer Austausch und es ergaben sich gemeinsame Unternehmungen. Ich wurde mit den Familien bekannt gemacht, teilte Alltag mit ihnen und erfuhr von Sorgen, Wünschen und Hoffnungen. Auf diese Weise

21 Hausfrau 22 Garnelenreusen

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entwickelten sich mit einigen Forschungsteilnehmenden Freundschaften, die ich durch regelmäßige Anrufe im Dorf und bei einigen durch E-Mail oder soziale Netzwerke weiter pflege. Die meisten Forschungsteilnehmenden lernte ich in San Dionisio kennen. Es kam hier darauf an, mit diversen Personen und Gruppen zu arbeiten, um die Vielfalt der Sichtweisen in die empirischen Daten einfließen zu lassen. Unterschiedliche Sichtweisen auf Windenergie sollten sichtbar und so die Heterogenität des Untersuchungsfeldes abgedeckt werden. Die Auswahl der Forschungsteilnehmenden erfolgte dabei nach dem »Schneeballprinzip«, was in diesem mir noch verhältnismäßig unbekannten Feld ermöglichte, relevante Personen zu ermitteln (Przyborski / Wohlrab-Sahr 2008: 180). Demnach wird durch eine initiale Vorstellung eine Bekanntschaft mit ersten Kontaktpersonen hergestellt, woraufhin im Anschluss über diese Personen weitere Kontakte geknüpft werden. Pablo machte mich zunächst mit José und Ximena bekannt, die mich wiederum Valeria und Miguel vorstellten. Über diese vier beziehungsweise fünf Personen knüpfte ich Kontakte zu vielen anderen BewohnerInnen San Dionisios, sowohl FischerInnen und Bauern, als auch HändlerInnen und PolitikerInnen. Durch die Mitarbeit im Fischfang hatte ich viel mit männlichen Forschungsteilnehmenden zu tun. Dazu versuchte ich, einen Ausgleich herzustellen, indem ich beispielsweise beim Fisch- oder Maisverkauf der Frauen teilnahm. Auch achtete ich bei den Interviews darauf, Frauen und Männer zu gleichen Teilen zu berücksichtigen. Nicht zuletzt führte ich gezielt einzelne Interviews und Gespräche mit jüngeren sowie älteren BewohnerInnen San Dionisios und bezog neben diesen auch BewohnerInnen benachbarter indigener Gemeinden mit ein, Ikojts aus Huamuchil (der agencia 23 von San Dionisio), San Francisco und San Mateo, sowie Binnizá aus Álvaro Obregón und Juchitán. Durch diese Vorgehensweise bedingt, kommen in diesem Buch eine Vielzahl an Personen vor, über die es für die Lesenden nun gilt, einen Überblick zu behalten. Ich führe daher die Personen, die ich zitiere, bei ihrem ersten Auftreten kurz ein und schildere die Situation, in der der Austausch stattfindet. Zu einer differenzierten Analyse gehört, Perspektivenpluralität zu gewährleisten. Zwar lag mein Fokus bereits zu Beginn auf der indigenen Perspektive, zum besseren Verständnis wollte ich dieser dennoch staatliche und unternehmerische Sichtweisen gegenüberstellen. Anfragen an das Windpark-Unternehmen blieben jedoch unbeantwortet, ebenso kam es nicht zu direkten Gesprächen mit involvierten VertreterInnen mexikanischer Regierungsinstitutionen. Glückli-

23 Kommunale Verwaltungszugehörigkeit zu einer größeren Gemeinde

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cherweise stellten BewohnerInnen San Dionisios umfangreiches Material zum Windpark-Projekt zur Verfügung, darunter Interviews mit dem damaligen Gouverneur von Oaxaca. Auch konnte ich mithilfe der Ikojts Kontakt zu einem Filmkollektiv aufnehmen, das VertreterInnen von Mareña Renovables für einen Dokumentarfilm interviewt hatte und dessen Mitglieder sich bereit erklärten, dieses Material für die vorliegende Studie zur Verfügung zu stellen. In die Analyse einbezogen wurden zusätzlich auch Dokumente und Texte, die sich auf den Windpark beziehen, wie etwa Anzeigen, Werbebroschüren und Pressemitteilungen, sowie rechtliche Aspekte des territorialen Konfliktes. An der Auswahl der PartizipantInnen zeigte sich auch, dass sich der Feldzugang durch einen »Prozesscharakter« auszeichnet und nie ganz abgeschlossen ist (Wolff 2013: 335-36). Ersichtlich wird dies während meines zweiten Aufenthalts. Durch die Empfehlungen und die Einführung durch Pablo hatte ich zu einer einflussreichen Gruppe in San Dionisio Kontakt bekommen. Antonio Castañeda León, genannt Tonio, der zu dieser Gruppe gehört, war während meines ersten Aufenthalts mit der Pflege und Betreuung seiner erkrankten Mutter beschäftigt, die sich in einem Krankenhaus in Juchitán befand und bei meinem zweiten Aufenthalt in San Dionisio stirbt. Tonio ist Schafzüchter und studierter Ingenieur und hatte während dieser Zeit nichts von meiner Ankunft im Dorf mitbekommen. Als ich von seinem Vater, Antonio Castañeda González, den ich bereits einige Zeit kenne, zum nueve día24 eingeladen werde, ist er überrascht und begegnet mir mit Misstrauen. Nicht gewohnt, dass ihm wichtige Informationen vorenthalten bleiben, hatte er Erkundigungen über mich eingezogen und konfrontiert mich bei einem Treffen der WindparkgegnerInnen, an dem ich ebenfalls teilnehme. Er erklärt, dass er mich nicht kenne und sagt mir offen, dass er mir auch nicht traue. Was ich als Europäer hier für ein Interesse habe, fragt er mich, und unterstellt mir, von den Windpark-Firmen zu kommen. Trotz seiner Jugend ist Tonio eine Instanz im Widerstand gegen den Windpark. Obwohl einige Freunde meine Verteidigung bei diesem Treffen übernehmen und versuchen Tonios Verdacht zu entkräften, nahm ich die Angelegenheit ernst. In weiteren Treffen und Gesprächen mit ihm legte ich mein Anliegen dar: besser zu verstehen, wie die Ikojts leben, was ihnen wichtig ist und wie ihre Sichtweise auf den Windpark damit zusammenhängt. Auch erzählte ich ihm von meinem Werdegang und meiner familiären Situation. Was zum Zugang zu den Ikojts jedoch

24 Bei einem Todesfall kommen nach neun Tagen Angehörige und Freunde im Haus der/des Verstorbenen zusammen. Es werden Totengebete gesprochen und es findet gemeinsame Trauerarbeit statt.

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am meisten beitrug, ist die praktische Arbeit mit ihm und anderen Ikojts. In zahlreichen Fischfang-Fahrten, in Vieh- und Feldarbeit und vielen langen und kurzen Gesprächen entstanden mit der Zeit Vertrauensverhältnisse. So auch zu Tonio, mit dem ich beim Graben eines Brunnens für eine Schafzucht zusammenarbeitete und den schließlich auch ohne mein zutun Informationen erreichten, dass ich mich mit der vida cotidiana25 auseinandersetze. Schließlich erklärte er mir, dass sich für ihn der anfänglich gehegte Verdacht gegen mich nicht erhärtet habe und er mir vertraue. Trotz seines anfangs gehegten Misstrauens wurde Tonio so im Verlauf der Forschung einer meiner wichtigsten Forschungsteilnehmer und Freunde.

3.3 METHODEN Die empirischen Daten für die vorliegende Studie habe ich zwischen 2013 und 2017 in einer insgesamt zwölf Monate umfassenden ethnographischen Feldforschung in San Dionisio del Mar erhoben. Die dabei angewandten Methoden waren Teilnehmende Beobachtung und informelle Gespräche (notiert in Feldtagebüchern) sowie methodisch generierte Gespräche (Einzelinterviews, Experteninterviews, Leitfadeninterviews und Gruppendiskussionen). Diese Kombination verschiedener, zeitlich aufeinander folgender Methoden zur Datenerhebung folgt dem Prinzip der Methodentriangulation. Dabei handelt es sich um eine Strategie, Erkenntnisse durch die Gewinnung weiterer Erkenntnisse zu begründen und abzusichern sowie unterschiedliche Datenquellen zum Zwecke des Erkenntnisfortschritts zu verknüpfen (Flick 2013: 311). Die Vorgehensweise ermöglicht den Vergleich unterschiedlich erhobener Daten, die sich wechselseitig ergänzen. Zu Beginn der Feldforschung führte ich insbesondere narrative Interviews und Gespräche mit Führungspersonen der Ikojts und politischen AktivistInnen, sowie Fischern, Bauern, Viehzüchtern und HändlerInnen aus San Dionisio. Dies ermöglichte einen ersten Eindruck zur Problematik des Windparks aus indigener Sicht. Ich traf meine GesprächspartnerInnen auf dem zentralen Platz von San Dionisio, besuchte sie zu Hause und unterhielt mich mit ihnen beim Netze flechten oder Abendessen. Meine Vorannahme, dass es bei dem Konflikt primär um Nutzungspraktiken von Wind gehen würde, wurde bereits zu diesem Zeitpunkt der Feldforschung in Frage gestellt, da die Befragten stets auf die Lagune und den Fischfang Bezug nahmen.

25 das tägliche Leben

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Über den gesamten Feldaufenthalt war Teilnehmende Beobachtung die wichtigste Methode, mittels derer ich erfasst habe, wie erneuerbare Energie beschrieben wird und welche Bezüge zu alltäglichen Handlungsabläufen sowie zur Lagune hergestellt werden. Teilnehmende Beobachtung ist die in der Ethnologie zentrale Methode.26 Sie erlaubt das Eintauchen des/der Forschenden in die Lebenskontexte der PartizipantInnen und das Einnehmen einer Binnensicht, die sich sowohl von der üblichen Außenposition von InterviewerInnen als auch von der Innensicht der untersuchten Gruppe qualitativ unterscheidet. Beispielsweise habe ich bei der Mais- und Kürbisernte mitgearbeitet, die Versorgung und den Verkauf des Viehs begleitet sowie am Fest zu Ehren des Schutzheiligen San Dionisio, an Gemeindeversammlungen und Treffen mit NGOs teilgenommen. Die wichtigste Aktivität an der ich in San Dionisio partizipiert habe, war jedoch der Fischfang, in dem sich die Kontroverse um den Windpark in besonderer Weise zeigte. Denn durch die Teilnahme an dieser Tätigkeit wurden für die Ikojts wichtige Aspekte verstehbar, die durch bloße Beschreibung nicht nachvollziehbar wären. Der Ethnologe Gerd Spittler illustriert dies für Teilnehmende Beobachtung (als Dichte Teilnahme) am Beispiel der Hirtenarbeit bei den Tuareg (Spittler 2001). Er erklärt, dass es sich bei Hirtenarbeit um eine Tätigkeit handelt, die (fast) jedeR in der Lage ist, auszuführen. Dennoch liegen für diese Arbeit keine Muster einer Beschreibung vor, die von EthnologInnen abgefragt werden könnten. Beschreibungen werden dem, was die Tätigkeit ausmacht, nicht alleinig gerecht. Vielmehr ist es entscheidend, bei der Tätigkeit mitzugehen, zu beobachten und selbst Hand anzulegen (ebd. 9). Indem ich mit den Fischern der Ikojts täglich auf die Lagune fuhr, mit ihnen auf gute Fänge hoffte und dem Risiko des Winds ausgesetzt war, wurde für mich die Wichtigkeit des Fischfangs für ihr Selbstverständnis besser verstehbar. Damit war die Dichte Teilnahme an dieser Tätigkeit auch eine geeignete Methode, die aus Sicht der Ikojts maßgeblich durch den Windpark affizierten Naturbeziehungen nachzuvollziehen und in der spezifischen Lagunenumwelt zu situieren. Zweiteres geschah auch auf das

26 Häufig umfasst die Teilnehmende Beobachtung auch den Spracherwerb. Ich habe mit dem ersten Aufenthalt in San Dionisio ebenfalls damit begonnen, Sprachunterricht in Huave zu nehmen. Es zeigte sich jedoch bald, dass obwohl Huave in San Mateo eine wichtige Rolle im Alltag spielt, seine Bedeutung für die täglichen Gespräche in San Dionisio weitaus geringer ist. Im Fischfang und bei der Feldarbeit werden zwar durchaus Begriffe aus dem Huave verwendet, der größte Teil der Konversationen findet allerdings auf Spanisch statt. Entsprechend sind meine Kenntnisse des Huave vor allem kontextbezogen auf die Tätigkeiten hin, an denen ich partizipiert habe.

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Ziel hin, der Frage nachzugehen: Wie kann ich nicht-menschliche Akteure wie den Wind ernst nehmen und mit ethnographischen Methoden Daten über sie erheben? Wie sich dem Wind nähern, und so ein umfassenderes Bild der Umwelt der Ikojts erhalten? Und, darüber hinaus: Wie die anderen in Zusammenhang mit dem Windpark wichtigen Akteure berücksichtigen, die Lagune, Fische, Mangroven und Windräder? Diesen Fragen ging ich nach, indem ich Handlungspraktiken der Ikojts in den Blick nahm, bei denen sie in Beziehungen zu diesen Entitäten standen. Dies bedeutete gemeinsam Holz zu fällen, mit dem Wurfnetz zu fischen, das Vieh zu versorgen, die Wege an den Ufern der Lagune entlang zu streifen oder die Entwicklung der Mangroven zu dokumentieren. Aber auch Fahrten zu Treffen mit anderen indigenen Gruppen des Isthmus, bei denen wir die nahegelegenen Windparks durchqueren mussten, brachten mir die Sichtweise der Ikojts auf diese Anlagen näher. FischerInnen und FischhändlerInnen der Ikojts, die ich bei der Ausübung ihrer Tätigkeit kennenlernte, interviewte ich zudem als ExpertInnen zu den Verflechtungen von Fischfang, Lagune und Windpark. Mittels ExpertInneninterviews wird Spezialwissen über institutionalisierte Zusammenhänge und Abläufe gewonnen sowie die Inanspruchnahme und Zuweisung von Deutungsmacht offenbar (Bogner / Menz 2002: 45-47). ExpertInnen sind Akteure, die an der Etablierung und Durchsetzung von Wissen, Deutungen und Repräsentationen und damit am Werden des energy assemblage beteiligt sind. Sie beeinflussen maßgeblich, wie die Ikojts Naturbeziehungen ins Verhältnis zu Windenergie stellen und die Verbindungen von Menschen, nicht-menschlichen Akteuren und der Windpark-Technologie in der Lagunenumwelt betrachten. Daran anschließend versuchte ich, mittels Diskussionsgruppen weitere Erkenntnisse zu generieren. Diskussionsgruppen werden nach der Logik der »homogenen Realgruppen« (Schirmer 2005: 95) zusammengesetzt, das heißt, sie bestehen aus Menschen, die auch im Alltag eine soziale Gruppe bilden. Es gelang mir zwar beispielsweise, eine größere Anzahl von Fischern oder eine Gruppe von im Widerstand aktiven Ikojts zu einer Gruppendiskussion zu versammeln. Die Gruppendiskussionen brachten jedoch anders als erwartet keine neuen Erkenntnisse, sondern bestätigten vielmehr die Ergebnisse der ExpertInneninterviews. Leitfadeninterviews dienten ab der Hälfte der Feldforschung schließlich dazu, die bereits ermittelten Themenaspekte in der Breite weiter zu vertiefen. Hier galt es besser zu verstehen, wie das neu aufgekommene Energie-Werden von Wind zu spezifischen Konzeptualisierungen von Natur durch die Ikojts ins Verhältnis gesetzt wird. Dadurch wurden vor allem die Bewertungs- und Ordnungssysteme hinsichtlich nicht-menschlicher Entitäten erfasst, wie beispielsweise die

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für den Windpark vorgesehenen Technologien und Baumaßnahmen, sowie auch die Beziehungen zwischen Wind, erneuerbarer Energie und Fischfang, aber auch zur Lagune, die aus Sicht der Ikojts durch die Windturbinen stark modifiziert werden würde. Bereits bei meinem ersten Interview in San Dionisio trat ein Problem auf, das mich bei nahezu allen später geführten Interviews im Dorf beschäftigen sollte und das auch mit dem Konflikt um den Windpark in Zusammenhang steht. Dreimal am Tag werden – eigentlich zu festgelegten Zeiten – über Lautsprecher Durchsagen übertragen. Es gibt mehrere Stationen, bei denen die BewohnerInnen Durchsagen in Auftrag geben können, beispielsweise welche Gerichte sie zubereitet haben und nun zum Verkauf anbieten, oder anstehende Versammlungen. Seit der Absetzung des Gemeindepräsidenten sind im gesamten Dorf immer mehr nicht genehmigte Lautsprecherstationen entstanden, die nun um Lautstärke konkurrieren, sich in einer ohrenbetäubenden Kakophonie versuchen gegenseitig zu übertönen und auch nicht mehr an einstmals festgelegte Zeiten halten. Für mich bedeutete dies, bei Interviews zumindest zu versuchen, die Kernzeiten der Durchsagen zu vermeiden oder diese nach Möglichkeit an Orte zu legen, die weit genug von einem Lautsprecher entfernt lagen. Zum Ende des Feldaufenthalts schließlich interviewte ich Ikojts, die zu ihrer eigenen Geschichte publizieren und EthnologInnen, die eine lange Forschungserfahrung in dieser Region haben. In dieser letzten Feldphase führte ich außerdem gezielt mit ausgewählten GegnerInnen und BefürworterInnen des Windpark-Projekts narrative Interviews über bestimmte Ausschnitte und Ereignisse der jüngeren Zeitgeschichte. Dabei kamen Interventionen der WindparkUnternehmen in der Region zur Sprache, sowie auch die gewaltsamen Konflikte, die es darüber in San Dionisio gegeben hatte. In Anlehnung an die Methode der oral history wurde so eine Dokumentation der subjektiven Wahrnehmung der Ereignisse sowie der sich abzeichnenden Veränderungen seit Bekanntwerden der Bauvorhaben vorgenommen, um die Dynamiken der Ereignisse aus Sicht der Akteure zu erfassen. Das Erzählen, im Gegensatz zum Beschreiben oder Argumentieren, kommt der kognitiven Aufbereitung der Erfahrung am nächsten, wodurch Sinnzusammenhänge gemäß der subjektiven Logik der Forschungsteilnehmenden bestehen bleiben (Mayring 2002: 72ff.). An einem Nachmittag besuche ich beispielsweise Don Pedro. Er ist Bauer, atarraya-Fischer27 und hat sein Leben lang stets Aufgaben für die Kirche übernommen. Es ist früher Nachmittag, wir sitzen bei brütender Hitze vor seinem Haus. Da Mai ist, ist die Windsai-

27 Wurfnetz-Fischer

58 | Der Geist des Windparks

son längst vorbei und auch kein Südwind weht an diesem Tag. Don Pedro kommt ins Erzählen. Er spricht darüber, wie schwierig das Arbeiten im monte28 ohne Wind ist. Bäume zu fällen sei nahezu unmöglich, bei dieser Hitze. Allerdings, fügt Don Pedro hinzu, sei es mit dem Wind auch unberechenbar. Ein Freund sei einmal zum Holz schlagen auf den südlich von San Dionisio gelegenen Hügel gegangen. Während er im Schatten eines drei Meter fünfzig hohen Kaktus arbeitete, habe eine besonders heftige Böe diesen zum Sturz gebracht. Der Stamm brach unter der Last des Windes und der Kaktus fiel auf ihn, wodurch er zu Tode kam. Die Gefahren des Windes, nach denen ich Don Pedro gefragt hatte, erhalten in seiner Erzählung eine eigene, subjektive Verknüpfung mit selbst erlebten Begebenheiten. Die Auswertung der Daten erfolgte mit Hilfe des Programms MAXQDA. Mit diesem Programm ist es möglich, Interviews, Feldtagebücher, sowie weitere Texte thematisch zu ordnen und mittels Begriffen zueinander in Beziehung zu setzen. Dieser Kodieren genannte Vorgang erlaubt, die empirischen Daten auf Unterschiede und Ähnlichkeiten zu kategorisieren. Beispielsweise wurde so ersichtlich, dass die Perspektive der Ikojts auf Windenergie stets mit der Lagune in Zusammenhang stand, Wind hingegen statt mit Windenergie mit dem Fischfang verknüpft war. Die programmgestützte Auswertung erlaubte, gleiche und divergierende Sichtweisen systematisch abzugleichen und miteinander zu kontrastieren.

3.4 REZIPROZITÄT Zu Beginn der Forschung vermittelten mir VertreterInnen der Ikojts, dass ihnen daran gelegen ist, ihre Situation und ihre Anliegen weltweit bekannt zu machen. Dazu gehören Vorträge, die ich zu dem Thema der Windparks aus ihrer Sicht halte. Die bei den Vorträgen entstehenden Photographien bringe ich bei meinen Besuchen in San Dionisio stets mit und erzähle, worum es bei der jeweiligen Veranstaltung ging und worüber ich gesprochen habe. Von einigen Forschungsteilnehmenden wurde gewünscht, ihnen Photographien zur Verfügung zu stellen. Zum einen ging es um Bilder, die auf der Barra Santa Teresa und in anderen Teilen des Territoriums der Ikojts entstanden sind und die die Umwelt (Bäume, Brunnen, Mangroven, etc.) zeigen. Auch von Bedeutung waren jedoch Photographien, die ich beim Fischfang, dem Warten der

28 Von Bewuchs geprägte Bereiche, oft hügelig

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Boote und der Instandhaltung der Netze von den Forschungsteilnehmenden gemacht habe. Diese habe ich ihnen in ausgedruckter, und bei einigen auch in digitaler Form zur Verfügung gestellt. Auch gesammeltes Material über die Windparks, Studien zur Lagune sowie allgemeine Artikel zu Auswirkungen von Windparks habe ich ebenfalls daran interessierten Ikojts zugänglich gemacht. In der Folge ist geplant, über Organisationen, mit denen die Ikojts arbeiten, den BewohnerInnen von San Dionisio Ergebnisse der Studie im Rahmen einer bebilderten Broschüre sowie Artikel zur Verfügung zu stellen.

3.5 REFLEXION DER FORSCHUNGSTÄTIGKEIT Bestandteil einer ethnographischen Arbeit ist die Reflexion der eigenen Forschungstätigkeit und der Positionierung im Feld. Das Feld wird so im Sinne eines sozialen Gefüges nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern erst im Forschungsprozess gemeinsam mit allen an der Forschung Beteiligten generiert. An dieser Stelle reflektiere ich meine Vorgehensweise im Feld, die zu Beginn insbesondere durch die Teilnahme an der täglichen Arbeit geprägt war. Zum Aufbau und der Entwicklung von Beziehungen hatte ich mir vorgenommen, nach ersten Interviews keine derart formalen Methoden anzuwenden, sondern zunächst praktisch mitzuarbeiten. Üblicherweise traf ich mich daher kurz vor Morgengrauen mit einem oder mehreren Forschungsteilnehmenden und wir gingen gemeinsam aufs Feld, auf die Weiden zum Vieh, zum Brennholz hacken, Mais ernten und lesen, oder fischen. Insbesondere die Partizipation bei letzterem verschaffte mir das Vertrauen zahlreicher BewohnerInnen San Dionisios. Weil mir auch bei hohem Wellengang nicht schlecht wurde, machte es schnell die Runde, bei welchen Fangfahrten ich schon dabei gewesen war: Bei der, als plötzlich Wind aufkam, oder der, wo 40 Fische mit dem ersten Netz gefangen wurden. Dass ein für die Untersuchung der Perspektiven der Ikojts wichtiger Bereich wie der Fischfang für mich zugänglich war, lag auch an in dieser Tätigkeit impliziten Genderaspekten. Fischfang wird in San Dionisio üblicherweise von Männern ausgeübt, sodass für mich hier keine Zugangsbarrieren existierten. Im Gegensatz dazu bestehen solche für Ethnologinnen sehr wohl für diesen Bereich. Zwei Ethnologinnen, mit denen ich in Kontakt stand, berichteten mir unabhängig voneinander, dass es ihnen bislang nicht gelungen war, zum Fischen mitzugehen. Bei den Ikojts gibt es ein paar fischende Frauen, es handelt sich jedoch in der Regel um eine nach Geschlechtern getrennte Arbeit. Andere Bereiche wie beispielsweise die Herstellung von Tortillas sind Sache der Frauen. Unter großer

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Belustigung der Anwesenden durfte ich bei dieser Tätigkeit zwar einige Male mithelfen, es wurde aber keine selbstverständliche Arbeit, wie es bei anderen von Männern ausgeführten Tätigkeiten der Fall war, an denen ich partizipierte. Zur Vertrauensbildung trug nicht zuletzt im weiteren Verlauf bei, dass ich Bilder meiner Familie dabei hatte, die ich bei Gesprächen mit Forschungsteilnehmenden zeigte, und dass meine Partnerin mit nach Mexiko kam und für mehrere Monate mit in San Dionisio lebte. Dieses gefestigte Vertrauensverhältnis fällt mir beim Besuch einer AktivistInnengruppe aus Mexiko-Stadt auf, die zu etwa der Hälfte meiner Zeit nach San Dionisio kommt. Sie organisiert eine Zusammenkunft des Dorfes auf dem Platz vor dem palacio. An dem Treffen, das ein Kulturprogramm umfasst, nehmen zahlreiche BewohnerInnen San Dionisios teil. Ich kenne inzwischen viele Leute, habe mit ihnen gearbeitet und gefischt oder sie zu Gesprächen und Interviews getroffen. Entsprechend begrüßen mich viele BewohnerInnen bei dieser Gelegenheit und halten einen kurzen Plausch mit mir oder laden mich zu Besuchen oder gemeinsamen Unternehmungen ein. An diesem Punkt wirkt es auf mich, dass sich meine Position im Dorf in gewissem Maße etabliert hat. Es stellt sich das Gefühl ein, akzeptiert zu sein und zu verstehen, wie Alltag und Tätigkeiten organisiert werden. Gerade zu Beginn der Feldforschung war dies nicht der Fall. Ich verstand nicht, wann wer zu seiner täglichen Arbeit aufbrach und auf welche Weise ich daran teilnehmen konnte. Verabredete ich mich, kam es häufig nicht zu den vereinbarten Treffen, da kurzfristig andere Anliegen eintraten oder die Termine einfach vergessen wurden. Auch das Vereinbaren von Unternehmungen schien mir zunächst eine lange Vorlaufzeit zu haben. Nach und nach fand ich zwar heraus, mit welchen Personen es einfacher war sich zu verabreden und auch realistischer, dass dies klappen würde. Dennoch frustrierten mich auch bis zuletzt die vielen immer wieder geplatzten Verabredungen zu Interviews oder Unternehmungen. Stattdessen schrieb ich in solchen Fällen meist Tagebuch, versuchte andere Leute zu besuchen oder begab mich auf den Platz vor dem palacio, wo sich stets Wachen der Asamblea General del Pueblo de San Dionisio del Mar29 aufhielten, mit denen ich so regelmäßige Gespräche führte. Doch war ich nicht nur mit der Abstimmung mit den BewohnerInnen des Dorfes beschäftigt. Auch externe Faktoren beeinflussten die Forschungssituation vor Ort. Durch den Konflikt um den Windpark besteht bis heute eine ständige Bedrohungslage in San Dionisio. Dies ist nicht nur etwas, was die BewohnerInnen San

29 Allgemeine Versammlung des pueblo von San Dionisio del Mar

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Dionisios als belastend erleben, es war auch für die Feldforschung prägend. Während meines Aufenthalts kam es zu mehreren gewaltsamen Auseinandersetzungen im Dorf.30 Zugleich bestand eine Bedrohungssituation durch Gruppen außerhalb des Dorfes. Mehrere Mitglieder der Dorfversammlung wurden bei An- und Abreisen in Nachbardörfer in Zusammenhang mit ihrem Engagement gegen die Windparks bedroht und tätlich angegriffen. In einem Fall kommt es zu einem Versuch, ein Auto in dem sich BewohnerInnen San Dionisios befanden, anzuzünden. Aber auch das in weiten Teilen Mexikos übliche Klima der Gewalt trug seinen Teil dazu bei. Am 01.04.2014 notiere ich beispielsweise in mein Tagebuch: »In Unión [Hidalgo] ist vergangene Woche jemand erschossen worden, im Vorbeifahren vor seinem Haus, von zwei Männern auf einem Motorrad.« Fälle dieser Art traten zwar bislang nicht in San Dionisio, wohl aber in nahegelegenen Gemeinden auf und lassen bis heute eine angespannte Grundstimmung entstehen. Von dieser angespannten Lage sind auch meine Beobachtungen der Aushandlungsprozesse um den Windpark direkt betroffen. Beispielsweise soll es einen Tag später ein Treffen mit VertreterInnen der UN in Juchitán geben, um die Anliegen der Ikojts bezüglich des Windparks zu diskutieren. Das Treffen wird jedoch auf 18 Uhr angesetzt. Zu dieser Zeit ist es bereits dunkel. Ist es dunkel in der Zona Huave, brennen nur auf den letzten Metern der Hauptstraße vor den Dörfern einige Laternen. Durch einen mehrere Monate andauernden Stromausfall funktionierten jedoch nicht einmal diese. Viele Ikojts versuchen, nächtliche Fahrten zu meiden. Sie fürchten, auf Banden oder Mitglieder von Drogenkartellen zu treffen, die in der ganzen Region des Isthmus agieren. Zu dieser Bedrohung kommt nun das erhöhte Gewaltrisiko, das durch die Auseinandersetzungen um die Windparks entstanden ist. Mehrere Ikojts, die vorgehabt haben, zu dem Treffen zu fahren, entscheiden sich aufgrund von Sicherheitsbedenken dagegen. Auch ich fahre aus diesem Grund nicht. Dass ich in der Zeit, in der ich mit den Ikojts so häufig fischen ging, kaum Interviews machte, hat auch mit der körperlich stark fordernden Arbeit in der Hitze des Tages (in der Zeit mit wenig Wind wird tagsüber gefischt) zu tun. Nach 12 bis 14 Stunden auf dem Wasser war ich oft zu erschöpft, um noch Interviews durchzuführen. Doch auch in der Zeit, in der Wind weht, ist es in San Dionisio sehr heiß. Bereits um acht Uhr morgens klettern die Temperaturen auf über 30 Grad Celsius. Viele Arbeiten legen die BewohnerInnen daher auf die Morgenstunden oder stimmen sie auf den Wind ab, der Linderung verschafft. Für das ethnographische Arbeiten bedeutet dies zweierlei: Zum einen ist es nö-

30 Vgl. Kapitel 6

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tig, sich für gemeinsame Unternehmungen frühzeitig, am besten schon am Vortag abzustimmen, weil die BewohnerInnen sonst bereits unterwegs zu ihren Tätigkeiten sind. Zum anderen schiebt sich die Dokumentationsarbeit dann häufig in den Nachmittag und Abend, wenn die Aufgaben des Tages erledigt sind. Daran zeigt sich jedoch auch die wichtige Rolle, die das körperliche Erleben der Feldforschung spielt (Dürr 2002: 236-237). Die/Der Forschende steht mit allen Sinnen im Austausch mit ihrer/seiner Umgebung und den Forschungsteilnehmenden. Es kommt zu »Resonanzen am eigenen Körper«, die subjektive Eindrücke auslösen und das einschlägige Erleben des/der Forschenden prägen (Breuer 2010: 52). Die Feldforschung ist damit eine Erfahrung, die in hohem Maße körperlich ist (Hastrup 1994: 173-176). Beispielsweise kommt zur Hitze in San Dionisio hinzu, dass es das ganze Jahr über eine Vielzahl von Mücken gibt, die nicht selten Überträger von verschiedenen Tropenfieber-Erkrankungen sind. Beim Fischfang auf der Lagune stellt das kein Problem dar, beim Fischen mit Wurfnetzen nachts sind die stetigen Attacken der Mücken beschwerlich. Beeinträchtigend sind die Mücken auch für das Schreiben des Feldtagebuchs. Die schreibende Tätigkeit zeichnet sich durch geringe Bewegung aus, was dazu führt, dass man unablässig gestochen wird. Auch bei Gesprächen und Interviews sind die Mücken ein Faktor, mit dem man umgehen muss. Bei manchen Interviews gab es so viele Mücken, dass ich mir immer wieder auf die Arme und Beine schlug, während meine GesprächspartnerInnen sich über meine fruchtlosen Abwehrversuche amüsierten. Diese Aspekte der Feldforschung blieben nicht die einzigen unerwarteten Entwicklungen, auch konzeptuell musste ich meine methodische Vorgehensweise anpassen.

3.6 ONTOLOGIE MACHEN Ontology is not given in the order of things, […] instead, ontologies are brought into being, sustained, or allowed to wither away in common, day-to-day, sociomaterial practices. Annemarie Mol, The Body Multiple: Ontology in Medical Practice, 6.

Als ich 2013 das erste Mal nach San Dionisio kam, nahm ich an, der Grund für die Ablehnung des Windparks sei im Wind selbst zu suchen. Immerhin hatten

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die Ikojts erklärt: »Somos viento«31; ich erwartete Diskussionen über Eigentümerschaft des Windes, die beispielsweise nur bestimmte Nutzungsweisen erlaubt. Auf meine dahingehenden Fragen bekam ich von den Ikojts jedoch unerwartete Antworten. Fragte ich nach erneuerbaren Energien, erzählten sie vom Fischen. Fragte ich nach dem Wind, erzählten sie von der Lagune, den Fischen und Garnelen. Als ich begann, mich nach den Fischen und Garnelen zu erkundigen, sprachen sie von den Mangroven, in denen diese laichen, und von den Strömungen, die in der Lagune entstehen. Mein einfach strukturiertes Feld bekam eine ganze Reihe weiterer Akteure hinzu, von denen ich einige nicht einmal so richtig als Akteure verstand. Warum sollte ich mich mit Laichgründen, Strömungen und Wellen beschäftigen, wenn ich doch wegen des Windparks hier war? Wäre es nicht viel naheliegender, den Wind ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, um mehr über den Lebensentwurf der Ikojts zu erfahren? Aus dieser Situation heraus entstand die Anforderung, mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren und Entitäten produktiv umzugehen. Es galt, die Beschaffenheit ihrer Beziehungen zueinander nachzuvollziehen und zugleich die Sichtweise der Ikojts auf diese Zusammenhänge besser zu verstehen. Um dies zu erreichen, ging ich der Entstehung spezifischer ontologischer Verfasstheiten nach. Die Debatte um Ontologie wird in der Ethnologie ebenso kontrovers geführt wie die um Natur und Kultur. Einerseits bietet das Konzept der Ontologie die Möglichkeit, andere als westliche Entwürfe von Welt ernst zu nehmen und aus sich heraus zu verstehen zu versuchen. In der Debatte wird daher auf die politische Implikation einer Hinwendung zur Ontologie verwiesen (Holbraad et al. 2014). Zugleich wird das Konzept der Ontologie scharf angegriffen. Dabei wird beispielsweise hinterfragt, ob der Begriff der Ontologie sich tatsächlich von dem der Kultur oder dem des Bedeutungsgewebes (Geertz 1987: 9) unterscheidet (Carrithers et al. 2010; Bessire / Bond 2014). Diejenigen, die den Begriff der Ontologie für die anthropologische Analyse fruchtbar machen möchten, betonen hingegen, dass er die Möglichkeit bietet, den privilegierten Status der Menschen (und damit des Westens) gegenüber der Umwelt und nicht-menschlichen Entitäten in Frage zu stellen (Salmond 2014: 162). Eine ontologisch betriebene Ethnologie stellt die Frage, wie die Dinge in die Welt kommen. Aufgabe ist es dabei nicht, nach den finalen Kategorien des Seins zu fragen und darauf eine letztgültige Antwort zu liefern. Stattdessen bietet jen-

31 »Wir sind der Wind«, Titel eines von den Ikojts und Binnizá in Zusammenarbeit mit NGOs produzierten Films über den Widerstand gegen den Parque San Dionisio.

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seits der theoretischen Auseinandersetzung ›Ontologie machen‹ die Möglichkeit, das eigene ethnographische Arbeiten methodisch zu leiten. Ontologie kann damit als ein ethnographisches Werkzeug begriffen werden, das zum einen singuläre und distinktive Arten des In-der-Welt-Seins indiziert und so Alterität im Feld sichtbar macht (Gad et al. 2015: 70). Dabei geht es weniger um das ›Herausfinden‹ einer starren Ontologie, in die im Rahmen ethnographischer Feldforschung gemachte Beobachtungen dann hineingepackt werden und die dann möglichst ›passen‹ sollen. Es kommt vielmehr darauf an, was in den jeweiligen ethnographischen Kontexten von Belang ist und welche Konzepte sich in der Folge aus der Ethnographie generieren. Mehr noch heißt es zuzulassen, dass es nicht bereits vorgefertigte Antworten, Kategorien und Schubladen gibt, in die diese Konzepte dann eingepasst werden können. Zugleich wird damit Ethnographie selbst ein Mittel, das Dinge, Seinsformen und Umwelten hervorbringt, die unter differenten ontologischen Vorzeichen verlaufen (vgl. Salmond 2014: 163). Der Untersuchungsrahmen ist dabei nicht mehr länger nur auf Menschen beschränkt, sondern wird beispielsweise auf alle möglichen unerwarteten Entitäten, Beziehungen und Seinsformen ausgedehnt. In der vorliegenden Arbeit ist es so nicht nur der Wind, der eine subjekthafte Rolle besitzt, sondern auch der Geist des Windparks, der die Beziehungen zwischen Ikojts, Staat, Lagune, Unternehmen, Fischen und weiteren Entitäten dynamisiert, oder auch die Lagune selbst. Wenn ich so im vorliegenden Beispiel Perspektiven der Ikojts auf erneuerbare Energie analysiere, werden spezifische Unterschiede dadurch beschreibbar, dass sie mit ihrer konkreten sozionatürlichen Welt und mit darin faktischen spezifischen Verfasstheiten in Zusammenhang stehend betrachtet werden. Etwas wie ontologische Alterität zu adressieren, ist in vorliegender Studie eine Vorgehensweise und in diesem Sinne auch Methode, um mehr über differierende Perspektiven auf erneuerbare Energie herauszufinden. Zur selben Zeit ist die Beschäftigung mit ontologischer Alterität Ergebnis des rekursiven Einlassens auf das Feld, 32 aus

32 Amiria Salmond beschreibt »rekursive« ontologische Ansätze als eine spezifische Form des ethnographischen Einlassens auf das Feld. Rekursive Ansätze kommen aus poststrukturalistischen Denkrichtungen und beziehen sich auf Eduardo Viveiros de Castros »perspektivistische Denkweise« (Viveiros de Castro 1998; 2004; 2014). Salmond zufolge grenzen sich rekursive Ansätze sowohl von Tim Ingolds »ontology of dwelling« als auch den vier in der Welt verteilten Ontologien von Philippe Descola ab. Während erstere darin begründet liegt, dass sich auf eine neue bzw. vergessene Weise mit der Welt in Beziehung gesetzt werden sollte (Ingold 2000), zielt Descola darauf ab, in ›einer Welt da draußen‹ verschiedenen Seinsweisen (»Identifikationsmo-

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dem sich heraus gezeigt hat, dass es für die Ikojts in den Auseinandersetzungen um den Windpark insbesondere um ontologische Differenzen geht. Die methodische Beschäftigung mit Alterität verleitet, das Feld und die Akteure lediglich zur Spiegelung der ›eigenen‹ Lebenswelt zu verwenden. Um dem entgegenzuwirken, greife ich das Bild des »Anti-Narcissus« auf, das Viveiros de Castro im ersten Kapitel seines Werks »Cannibal Metaphysics« zeichnet (2014: 40-43). Der Anti-Narcissus soll ›uns‹ sagen, dass wenn ›wir‹ über ›die Anderen‹ sprechen, es nicht sein kann, dass es letztlich wieder nur um ›uns‹ geht (ebd.). Die Bewegung, die er damit anstoßen möchte, soll zu einer Dekolonisierung des Denkens beitragen. Zu einem so veränderten Denken gehört eine Pluralisierung der Begrifflichkeit, die eine Gegenerzählung zu hegemonialen Narrativen bildet. Um lokale Konzepte zu beschreiben, verwende ich der vorliegenden Arbeit daher auch die entsprechende Begrifflichkeit. Statt von ›dem Wind‹ zu schreiben, beschreibe ich den ›norte‹ der Ikojts, statt von ›der Lagune‹ zu sprechen, spreche ich mit den Ikojts von ›el mar‹. Die Begriffe sind dabei nicht nur andere Worte für dieselben Dinge, sondern stehen mit anderen Entwürfen von Welt in Zusammenhang. Dies kann sowohl spezifische von den Ikojts verwendete Begriffe beinhalten, als auch in ganz Lateinamerika gebräuchliche, wie beispielsweise pueblo. Pueblo meint üblicherweise das Dorf, zugleich kann der Begriff jedoch Zugehörigkeit ausdrücken. Weniger ist damit das gemeint, was mit ›Volk‹ ins Deutsche übersetzt würde. Eher ist es ein politischer Begriff, der auch eine Klassenzugehörigkeit markiert: das ›einfache Volk‹; zur selben Zeit kann eine kleinere Siedlung gemeint sein, die nicht die Größe einer Stadt besitzt. Worauf sich pueblo im Einzelnen bezieht, und wer oder was damit gemeint ist, ist daher kontextabhängig. Für den vorliegenden Text schließt diese Pluralisierung der Begrifflichkeit ein, dass Zitate aus Gesprächen und Interviews im Fließtext in dem mexikanischen Spanisch wiedergegeben werden, das die Ikojts in San Dionisio benutzen, sowie an einigen Stellen in Huave. Die jeweilige Übersetzung findet sich in der zugehörigen Fußnote. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, auf welche Weise die Ikojts in dieser vorliegenden Ethnographie repräsentiert werden. Ist eine Rede von ›den Ikojts‹ und

di«) zuzuordnen (Descola 2013). Dagegen geht es in rekursiven Ansätzen darum, durch die Einführung fremder Konzepte die eigene Sprache zu deformieren und zu subvertieren (Salmond 2014: 165; Viveiros de Castro 2004). »Rekursiv« meint hier: »allowing ethnographic encounters with others to recursively inform their own analysis« (Salmond 2014: 169).

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›ihrer Perspektive auf den Windpark‹ überhaupt möglich, ohne Gefahr zu laufen die Gruppe zu essentialisieren und eine Homogenisierung pluralistischer Perspektiven über die Hintertür zu betreiben? Was heißt denn ›für‹, was heißt ›gegen den Windpark‹, und wer sind ›die Ikojts‹ in diesem Zusammenhang? Die Meinungen bezüglich des Windparks gehen in San Dionisio auseinander. Beispielsweise ist der ehemalige Gemeindepräsident, der eine hohe Zahlung von Mareña Renovables bekommen hat, jemand, der den Windpark dezidiert befürwortet. 33 Er erklärte öffentlich vor der Dorfversammlung San Dionisios, dem Projekt bereits grünes Licht gegeben zu haben, bevor es überhaupt zu einer allgemeinen Abstimmung gekommen war, und begründete dies mit den Vorteilen, die der Windpark für San Dionisio bringen würde. Bis auf ihn und einen weiteren ehemaligen Gemeindepräsidenten habe ich auch keine Person in San Dionisio getroffen, die sich uneingeschränkt für das Projekt ausgesprochen hätte. Vielmehr haben die Bewohnerinnen und Bewohner San Dionisios insgesamt große Bedenken, dass das Projekt negativen Einfluss haben könnte, dass der Fischfang und die Lagune davon affiziert würden. Dies schließt auch diejenigen mit ein, die von erklärten GegnerInnen des Windparks als BefürworterInnen dargestellt wurden. Allerdings ist an dieser Stelle entscheidend, dass für viele Ikojts Protest oder gar Widerstand trotzdem keine Option ist. Dabei spielt auch die Zugehörigkeit zu politischen Parteien (zum Beispiel PRI, PRD) oder verwandtschaftliche und familiäre Beziehungen eine Rolle. Dies bedeutet, auch wenn sie nicht ›für‹ oder ›gegen den Windpark‹ sind, finden sie sich auf einer Seite wieder, auf der die politischen Linien scharf gezogen und stark durch politische Zugehörigkeit und familiäre Beziehungen beeinflusst werden. Für das ethnographische Schreiben in der vorliegenden Arbeit entsteht daher der Anspruch, sowohl die Vielstimmigkeit als auch die allgemeinen Tendenzen abzubilden. Ich versuche in diesem Sinne einen Mittelweg, indem ich an einigen Stellen bewusst verallgemeinere, an anderen entsprechend differenziere. Ziel ist damit ein facettenreiches Bild zu kreieren, das voll mit Ambivalenzen und Widersprüchen, als auch Kohärenzen und Entschiedenheiten ist. Ontologie ist in diesem Sinne für alle Beteiligten Arbeit, sie muss gemacht werden (Hallowell 1960: 21). Dies ist nicht negativ zu sehen: ›Ontologie machen‹ erlaubt, dem Entstehen verschiedener Wahrheiten (und nicht lediglich

33 Ich habe keine direkten Gespräche mit ihm geführt, da er bereits vor seiner Absetzung als gewalttätig galt und im Zuge der Auseinandersetzungen eine Forschungsteilnahme seinerseits mir als ein Risiko für das Vorhaben erschien.

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Ideen und Theorien) darüber beizuwohnen, wie die Welt verfasst ist (Salmond 2014: 163). Statt also darüber zu streiten, ob ontologische Ansätze ›wirklich‹ anders seien, ob diese Arten und Weisen von Alterität ›wirklich‹ existieren, oder ob nun die Rede von einer Welt oder mehreren sein sollte, entscheide ich mich dafür, mich dieser ontologischen Offenheit hinzugeben, die Alterität zulässt, ohne dafür schon das passende Konzept und die hierfür geeignete Welt im Gepäck zu haben.

4. Ressourcen-Verflechtungen von Wind, Fischen und Turbinen The wind, in its excess, is anger that is everywhere and nowhere, that is born and reborn out of itself, that twists and turns. The wind threatens and howls but has no shape unless it encounters dust. Gaston Bachelard, Air and Dreams, 225. It is an embarrassing truism to point out how important knowledge of the weather and especially wind must have been to the making of the modern world. Michael Taussig, My Cocaine Museum, 43.

Während meines ersten Besuchs in San Dionisio spreche ich mit Eduardo Crespo über Windenergie. Er sagt: E: La verdad es, que energía renovable, energía verde no es. Y los únicos que van a aprovechar son ellos. Incluso en Ixtepec, hay un pueblo que está por acá, ellos quieren hacer su propio parque y el gobierno no les deja. O: Pero por San Dionisio eso no fuera una option? E: No, aquí no. No, no (Interview Eduardo Crespo 02.06.2013).34

34 E: »Die Wahrheit ist, dass es keine erneuerbaren Energien, keine grünen Energien sind. Und die einzigen, die davon profitieren, sie sein werden. Sogar in Ixtepec, es

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Wir sitzen im patio35 seines Hauses im Zentrum des Dorfes. Es ist später Nachmittag, in den Bäumen haben sich zanates 36 eingefunden, ihre schrillen Rufe erklingen im ganzen Dorf. Am Morgen haben wir einen Ausflug zum südwestlich von San Dionisio gelegenen Leuchtturm unternommen. Eduardo hatte mir den Übergang von der Laguna Inferior und der Laguna Superior gezeigt, wir hatten Richtung San Dionisio Pueblo Viejo geblickt und über die Barra Santa Teresa gesprochen, um die es sich bei jeder Erwähnung des Windpark-Projekts früher oder später dreht. Eduardo ist Ingenieur und lebt sowohl in San Dionisio als auch in Mexiko-Stadt. Im Zuge des Windpark-Projekts ist er einer der zentralen Akteure im Widerstand gegen den Parque San Dionisio geworden. Ich frage ihn, woran er denn festmachen würde, dass es keine erneuerbaren Energien seien. Am Wind etwa? Eduardo schüttelt den Kopf. Beim Wind, sagt er, ginge es um etwas ganz anderes. Um was, frage ich. Er antwortet: Aquí es así de que con los primeros aires, los peces salen. El nortazo37 siempre empieza con octubre. Noviembre, diciembre, enero, febrero, marzo, … ya pasa. Y aquí, con el calor que hace nos dormimos afuera. Todo el mundo se duerme afuera. Pero cuando hay norte nos tenemos que meter (Interview Eduardo Crespo 02.06.2013).38

In Eduardos Kommentar zum Wind geht es nicht um Windenergie. Jedoch beschreibt er, was für erneuerbare Energien stets konstitutiv ist. Immer im Oktober beginnt der Wind zu wehen und dauert dann bis März an. Es ist ein Phänomen am Werk, das kontinuierlich das erneuert, was als die jeweilige Quelle erneuer-

gibt ein Dorf dieses Namens hier in der Nähe, die wollen ihren eigenen Windpark errichten und die Regierung lässt sie nicht.« O: »Aber für San Dionisio wäre das keine Möglichkeit?« E: »Nein, hier nicht. Nein, nein.« 35 Innenhof 36 Dohlengrackeln (Quiscalus mexicanus) 37 »Nortazo« ist ein bei den Ikojts gebräuchlicher Ausdruck für besonders starken norte (vgl. 4.5). 38 »Hier ist es so, dass mit den ersten Winden die Fische hervorkommen. Der nortazo beginnt immer im Oktober. November, Dezember, Januar, Februar, März, … dann ist es vorbei. Und hier, mit dieser Hitze, die es hier gibt, schlafen wir draußen. Die ganze Welt schläft draußen. Aber wenn norte ist, müssen wir uns zurückziehen.«

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barer Energie bezeichnet wird. Eine Definition erneuerbarer Energie könnte daran anknüpfend beispielsweise lauten: [E]nergy sources that are continually replenished by nature and derived directly from the sun (such as thermal, photo-chemical, and photo-electric), indirectly from the sun (such as wind, hydropower, and photosynthetic energy stored in biomass), or from other natural movements and mechanisms of the environment (such as geothermal and tidal energy) (Ellabban et al. 2014: 749).

Hier erscheint die Sonne als ein Akteur, der für die Quellen erneuerbarer Energie – direkt oder indirekt – verantwortlich zeichnet. Eine Natur ist involviert, die fortwährend für eine Erneuerung der Energiequellen sorgt. Auch geben diese Quellen die in ihnen gebundene Energie nicht ganz freiwillig heraus: »Renewable energy technologies turn these natural energy sources into usable forms of energy—electricity, heat and fuels« (ebd.). Im Fortgang müssen Technologien aufgewandt werden, um die von der Natur erneuerten Energiequellen dazu zu bringen, die in ihnen befindliche Energie freizugeben. Nicht in unkontrollierter Weise soll dies geschehen, sondern die Energie soll technologisch gebändigt in einem gewünschten Zustand und auf einem bestimmten Weg geliefert werden. Wie aber können wir uns sicher sein, was für eine Natur da am Werk ist? Und wie sind die Maßnahmen beschaffen, durch die ein natürliches Phänomen ›erneuerbare Energie‹ wird? Um diesen Fragen nachzugehen, analysiere ich im Folgenden die Hervorbringung von Windenergie am Isthmus von Tehuantepec. Das dortige spezifische Gefüge bildet sich insbesondere deshalb heraus, weil Wind am Isthmus über bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten verfügt, die in dieser Weise an keinem anderen Ort auf der Welt zu finden sind. Nicht nur zeichnet er sich durch eine besonders hohe Intensität aus, er weht dazu noch zuverlässig jedes Jahr mehrere Monate lang. Der dortige Wind bringt damit besonders gute Voraussetzungen mit, Windenergie zu werden. Damit dies geschieht, müssen legislative, politische, ökonomische und infrastrukturelle Prozesse in Gang gesetzt werden, die den Wind zur Energieressource machen. In diesen Prozessen zeigt sich die Ressource Wind weniger als ein Rohmaterial, dessen Wert steigt, wenn es raffiniert wird, sondern vielmehr als eine unsichtbare Kraft, die mittels infrastruktureller, politischer, ökonomischer und legislativer Verflechtungen neukonfiguriert und in der Folge in Energie verwandelt wird. Am Isthmus entsteht so ein Gefüge aus topographischen Gegebenheiten, technischen Messungen, saisonalen Windbedingungen, aber auch Baumaßnahmen, die auf die staatliche und unternehmerische Intervention in der Region folgen.

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Zur selben Zeit weckt Windenergie in der Region unterschiedliche Erwartungen oder Befürchtungen. Aus Sicht der Ikojts fordert sie bestehende Umweltpraktiken heraus und im Zuge ihres Ausbaus kommt es zu Kontroversen um den Fischfang in der Lagune. Entgegen einer Nutzung als Energieressource ist für die Fischer der Ikojts der Wind vor allem an ihre Nutzungsweisen im Rahmen des Fischfangs geknüpft. In dieser Sichtweise gehören zum Wind ebenso die Fische und die Lagune. Am Wind zeigt sich damit, dass die verschiedenen Akteure in sehr unterschiedliche Beziehungsgeflechte verstrickt sind. Für ein besseres Verständnis von Windenergie am Isthmus ist es daher nötig zu eruieren, wie der Wind in die Gefüge aus Bergen, Wasser, Atmosphäre, indigenen Gruppen, staatlichen Institutionen, Unternehmen, Infrastrukturen, Tieren, Pflanzen und vielen weiteren mannigfaltigen Entitäten eingebunden ist. Es gilt, diesen Akteuren zu folgen (Latour 2007: 28) und methodisch die sehr unterschiedlichen Prozesse und Aspekte einzubeziehen, die zur Hervorbringung des Wind-Gefüges am Isthmus beitragen: Beobachtungen des Windes vor Ort, ebenso wie Handbücher über Windturbinen und die Dokumentation der gemeinsamen Durchführung von Praktiken wie dem Fischfang (vgl. Law / Lien 2013: 365-66). Diese methodische Pluralisierung ermöglicht, Windenergie am Isthmus durch Wind in seinen Verflechtungen mit weiteren Entitäten zu erfassen. Daran anknüpfend betrachte ich in diesem Kapitel zwei miteinander verwobene Gegenstände. Erstens, wie am Isthmus aus Wind Windenergie wird. Zweitens, wie Wind mit dem Fischfang der Ikojts zusammenhängt. So fungiert der Wind als Schnittstelle um zu zeigen, dass von der Hervorbringung von Windenergie auch differierende ontologische Verfasstheiten von natürlichen Entitäten und ihren lokalspezifischen Verflechtungen betroffen sind, in denen nicht nur unterschiedliche ökonomische Interessen verankert sind, sondern auch Asymmetrien von Machtverhältnissen. Während damit im folgenden Kapitel erneuerbare Energien dazu dienen, etwas über den kulturspezifischen Umgang mit und die Ko-Konstitution von Natur und Gesellschaft herauszufinden, wird in diesem Kapitel die Analyse des Umgangs mit Natur dazu dienen, erneuerbare Energien und ihre Verwobenheit mit anderen sozialen und natürlichen Bereichen zu eruieren. Dabei wird ersichtlich, dass die Hervorbringung von erneuerbaren Energien sich durch eine komplexe Verwobenheit mannigfaltiger Entitäten auszeichnet.

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4.1 DEN WIND KENNEN Im Februar 2014 begleite ich mehrere Ikojts aus San Dionisio zu einem Koordinationstreffen, auf dem sie sich mit anderen pueblos des Isthmus zu Strategien des Widerstands gegen die Windparks abstimmen. Es findet auf einem rancho in der Nähe von Matías Romero statt, auf dem die Indigenenorganisation UCIZONI39 ökologische Landwirtschaft betreibt. Zu dem Treffen reisen auch Ikojts aus San Mateo und San Francisco, und Binnizá aus Juchitán und Álvaro Obregón an. Auf der Fahrt dorthin fällt mir auf, wie sich die Landschaft verändert. Während um San Dionisio nach mehreren Monaten anhaltendem Wind alle grünen Blätter der Bäume und Sträucher braun gefärbt sind und der Boden staubtrocken ist, sind die Hügel des rancho satt und grün durch die Regenfälle, die hier an den Ausläufern der Sierra Madre del Sur heruntergehen. 40 Obwohl Wind weht, herrscht eine höhere Luftfeuchtigkeit als in San Dionisio. Vor dem Versammlungshaus stehen sogar Setzlinge von Kakaobäumen, die ausgepflanzt werden sollen. Auf dem Treffen hält jeder der Teilnehmer eine kurze Rede dazu, wie die Situation in den von Windpark-Projekten betroffenen Dörfern und Vororten ist. In dieser Zeit ist die Lage angespannt. Zwar ist der Widerstand gegen einige Windparks noch erfolgreich, es wird aber befürchtet, dass seitens der Regierung neue Maßnahmen ergriffen werden, die Bauprojekte dennoch zu beginnen. In den Reden der Ikojts kommt vor allem zur Sprache, dass sie sich um die Fische und die Garnelen sorgen. Von den Fischen und Garnelen, erklären sie, lebten zahllose Leute, und dass für diese vom Windpark eine große Gefahr ausgehe. Nach der Runde spreche ich mit Santiago Gómez aus San Mateo. Er brachte den Konflikt in seiner Rede so auf den Punkt: »Conocemos el mar, el viento, y la empresa no los conoce.« 41 Ich kenne Santiago von Koordinationstreffen zum Widerstand gegen den Windpark, wie dem Foro Regional in San Francisco del Mar. Er ist ein engagierter Aktivist, doch zugleich betont er stets, dass er sich in erster Linie als Fischer versteht. In Santiagos Rede erscheint Wind nicht als ein solitärer Akteur, der beispielsweise vor dem Zugriff durch das WindparkUnternehmen beschützt werden muss. Vielmehr beschreibt er Wind in enger

39 Unión de Comunidades de la Zona Norte del Istmo (Vereinigung der Gemeinden der nördlichen Zone des Isthmus). 40 Zu den Auswirkungen der Nordwinde auf das Klima an der Lagune der Ikojts siehe Zizumbo Villareal / Colunga-García Marin (1982: 35ff.). 41 »Wir kennen die Lagune, den Wind, und das Unternehmen kennt sie nicht.«

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Verbindung mit der Lagune. Ich frage ihn, was es heißt, den Wind zu kennen, und warum das Windpark-Unternehmen ihn nicht kennt. Für ihn als Fischer und Bauer, erklärt er mir, gehöre Wind zum Leben dazu, das habe er von klein auf sehen können. Um zu verstehen, was der Wind mit »el mar«42 zu tun hat, sagt er, solle ich zu den Fischern gehen. Santiagos Worte hinterlassen bei mir den Entschluss, herauszufinden, was es heißt, den Wind zu kennen. Denn bei dem Treffen beginne ich zu ahnen, dass es für die Ikojts nicht um eine Verteidigung des Windes geht, und auch nicht allein um die Lagune, die Fische, die Garnelen, die Mangroven oder die Barra Santa Teresa. Aus Sicht der Ikojts sind diese Entitäten miteinander in einer spezifischen Weise verflochten, sodass eine Veränderung in einem Teil des Gefüges stets mehrere Entitäten oder sogar das gesamte Gefüge erfasst. Wind ist in diesem Gefüge bislang verknüpft mit Fischfang. Neben diesen Verbindungen im Fischfang ist der Wind jedoch dabei, neue Verbindungen einzugehen. Er soll überall dort, wo er am stärksten weht, Windenergie werden. Wo genau aus Wind Windenergie werden soll, verdeutlicht eine der ersten Karten, die ich vom Isthmus gesehen habe und die mit »Isthmus Region of Oaxaca - Wind Resource Map« überschrieben ist. Die Karte ist Ergebnis einer Studie der US-amerikanischen Entwicklungsorganisation USAID und wurde von der Regionalregierung von Oaxaca, der mexikanischen Energiebehörde und dem US-amerikanischen Energiedepartement erstellt (Howe 2014: 389). Sie zeigt die pazifische Seite des Isthmus mit den Lagunen und weist Wind als eine Ressource aus, indem sie die Bereiche hervorhebt, die sich durch besonders starken Wind auszeichnen. Auf der Karte sind diese Bereiche auf einer Skala von eins bis sieben nach ihrem »Resource Potential« farbig markiert, wobei sich das »Potential« auf die Windstärke bezieht. Mittels des Potentials wird den Bereichen ein Nutzwert zugeordnet, den der dortige Wind für die Erzeugung von Windkraft hat. Während für die ersten fünf Stufen noch Worte zur Bewertung des Potentials gefunden werden, wird die Stärke des Windes in den roten und blauen Bereichen nicht mehr durch ein Adjektiv übersetzt. Bei fünf ist bereits »exzellentes« Potential erreicht. Die bestbewerteten Bereiche sechs und sieben sind die, die sich in unmittelbarer Nähe zu der Lagune befinden, an der die Ikojts siedeln.

42 Zur Konzeption von el mar durch die Ikojts siehe 5.2.

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Abb. 4.1 Karte der »Windressourcen« am Isthmus In der Ressourcenklassifikation der Karte wird ersichtlich, was im Zentrum des Konflikts zwischen indigenen Gruppen, Energieunternehmen und dem mexikanischen Staat steht. Denn die Ikojts, ihre Dörfer und Praktiken finden darin keine Entsprechung. Sie sind abwesend, unsichtbar. Stattdessen wird die Existenz von Wind als Energieressource als selbstverständlich angenommen. Er wird gelabelt und gezählt, zugeordnet und zu Eigentum erklärt (vgl. Tsing 2005: 29): Wind wird zu einer Ressource gemacht. Für die Ikojts wird dies zum Problem, weil in einem solchen Zugriff auf Natur nicht nur Ressourcen entstehen, sondern zugleich andere Akteure verschwinden. Die Landschaft, in der die Ressource lagert, wird als bereit zum Abtransport konzeptualisiert und sie als die BewohnerInnen dieser Landschaft sowie ihre Rechte werden unsichtbar (vgl. ebd. 44). Dies erfasst nicht nur die Legende der Karte, sondern auch die Objekte, Phänomene und Substanzen, welche darin repräsentiert werden (vgl. Lefebvre 1991: 85–86): Diese werden von ihrem Kontext isoliert (ebd.) mit dem Ziel, sie als Ressourcen von den Gefügen abzutrennen, in die sie eingebunden sind (Braun / Wainwright 2001: 54f.). In ihrer Analyse von Landnutzungspraktiken und Holzwirtschaft in Indonesien spricht Tsing von der Entstehung von »resource frontiers« (Tsing 2005: 28). »Resource frontiers« führen dazu, dass lokale Zugangs- und Lebensweisen und

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ökologische Dynamiken durch neue Nutzungsweisen – nach Tsing durch außer Kontrolle geratene kapitalistische Expansion – abgelöst werden. Die neue Ressourcennutzung führt dazu, dass vorher bestehende Praktiken verdrängt werden. In der Folge wird an solchen Ressourcen-Fronten um die richtige Art und Weise des Zugangs zu ökologischen Nischen und der Nutzung natürlicher Ressourcen gekämpft. Der Begriff der Ressourcen-Fronten ermöglicht, die Ausschließlichkeit43 von Ressourcennutzung herauszustreichen, indem er die damit einhergehende Umweltzerstörung und Unterdrückung thematisiert. Doch auch wenn sich durch Windenergie am Isthmus durchaus Ressourcen-Fronten bilden, besteht für Wind eine besondere Form der Ressourcenkonstitution. Diese ist maßgeblich durch die Verfasstheit des Windes selbst determiniert. Wind partizipiert zeitgleich in verschiedenen Gefügen und in diesen wiederum auf unterschiedliche Weise. Ihn zur Ressource zu machen, ist komplizierter und verwobener als es zunächst den Anschein macht. Er ist kein Rohstoff, der abtransportiert wird, sondern vielmehr Bewegungsenergie, die in elektrische Energie umgewandelt wird und zeitnah vor Ort verbraucht werden muss. Auch wird Wind bereits jetzt schon als Energieressource in den Windparks in der Umgebung genutzt. Für die Ikojts hingegen ist nicht Wind selbst die Zielressource, sondern der Fisch, den sie durch geschickte Wind-Nutzung fangen. Um dieser multiplen Partizipation gerecht zu werden, spreche ich von Ressourcen-Verflechtungen. Mit diesem Konzept beschreibe ich die mehrfache Eingebundenheit von Wind in unterschiedliche Nutzungsvorhaben. Zunächst sind Verflechtungen 44 Kennzeichen von jedwedem Material. Karen Barad erklärt: »[M]atter itself entails entanglements – that this is its very nature« (Barad 2007: 160); nach Barad wird die Substanz, woraus Welt besteht – »matter« – durch zahllose miteinander in Beziehung stehende Entitäten gebildet. In diesen Prozessen der Verflechtung werden jedoch nicht lediglich zuvor separate Entitäten zusammengebracht. Nach Barad bringen die Verflechtungen Entitäten überhaupt erst hervor: »To be entangled is not simply to be intertwined with another, as in the joining of separate entities, but to lack an independent, self-contained existence« (ebd. ix). Es ist also nicht so, dass Entitäten zunächst unverbunden sind und dann durch einen Fügungsprozess zueinander in Beziehung kommen.

43 Zu den Ausschlussbeziehungen von Windenergie am Isthmus siehe Kapitel 5. 44 Es gibt in jüngerer Zeit zahlreiche Versuche, Verflechtungen zu denken. Neben Barad sind Beispiele hierfür Nicholas Thomas (1991), Annemarie Mol (2002), Manuel DeLanda (2006a; 2016), Tim Ingold (2007b) und Bruno Latour (2007).

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Vielmehr ist bereits ihr Vorhandensein daran geknüpft, dass sie zueinander in Beziehung stehen. Verflechtungen sind damit sowohl für die spezifische Verfasstheit einer Entität verantwortlich, als auch an der Entstehung ihrer Existenz beteiligt. Ändern sich diese Verflechtungen, ändert sich nicht nur das, was die Entität ausmacht, es führt dazu, dass ihre Existenzweise in der vorherigen Form nicht mehr gegeben ist und sich eine neue Existenzweise herausbildet. Der Begriff der Ressourcen-Verflechtungen hebt damit die spezifischen Beziehungen hervor, durch die eine Ressource zur Entstehung gelangt. Die Verflechtungen von Wind erfassen zu wollen wirft Fragen auf. Warum sollte Wind, der doch eigentlich alles diffundiert, mit etwas verknüpft oder verbunden sein? Welcher Art ist seine Verbindung mit anderen Entitäten? Zur Beantwortung dieser Fragen lohnt sich ein (windgeleiteter) Blick in die Debatten um einen neuen Materialismus. In diesen geht es um den Versuch, durch einen Rückgriff auf philosophische Theorien und naturwissenschaftliche Positionen neu darüber nachzudenken, wie die Dinge in die Welt kommen (Folkers 2013: 16). Dabei wird die spezifische »Ereignishaftigkeit und Potenzialität der Materie« (ebd.) betont. Wind jedoch hat keinen guten Stand in den daraus entstehenden Studien zur Materie. Die in den Debatten zentrale Frage »how matter comes to matter?«45 lässt ihn bislang außen vor. Wind, so scheint es, ist nicht Material genug, um Gegenstand der Untersuchung zu werden. Wenngleich er nicht das Pech hat substanzlos zu sein, verschwindet er hinter Auseinandersetzungen zu Körper und Geschlecht (Braidotti 2014; Haraway 1995) oder Steinen, Bergen und Flüssen (Povinelli 1995; 2016). So beschreibt Povinelli in ihrem Werk »Geontologies. A Requiem to late Liberalism« (2016) zwar Winde in ihrem Verhältnis zu den Dreamings von Aborigines-Gruppen in Australien (121f.), dem Wind in seiner Materialität ist jedoch nur ein geringer Teil der Analyse gewidmet. Auch Michael Hathaway (2013) analysiert Winde, jedoch eher als metaphorische Bezugnahme für soziale Veränderungen. Die dem Wind eigene Wirkmacht bleibt dabei außen vor. Wind aber diffundiert nicht nur, er affiziert. Dinge, Pflanzen, Wasser oder Steine können durch ihn in Bewegung geraten. Seine Ereignishaftigkeit liegt gerade darin begründet, eine nicht-materiengebundene Existenz zu haben. Mittels dieser ist es ihm möglich, sich ständig neu mit anderen Entitäten zu verbinden. Die Verbindungen von Wind sind flüchtiger Art oder schaffen über die Zeit besondere Merkmale in der Landschaft. In der Untersuchung dieser Verbindun-

45 Titel der New Materialism Conference 2017 in Paris; siehe auch Barad (2003).

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gen wird ein Phänomen ersichtlich, das auf einzigartige Weise unterschiedlichste Wirkungen hervorbringt. Im Wind am Isthmus zeigt sich, dass er mehrfach in Konstitutionsprozesse von Ressourcen involviert ist. Je nach Beziehungsgeflecht ist es jedoch spezifisch, was ihn dabei ausmacht. Je nachdem in welchen Gefügen der Wind partizipiert, wendet er nicht nur jeweils unterschiedliche Fähigkeiten an. Es ändert sich auch seine Verfasstheit. In diesem Sinne hat ein bestimmter Wind die Fähigkeit, im Fischfang der Ikojts auf der Lagune nützlich zu sein. Der Wind jedoch, der die Fähigkeit exerziert als Quelle für erneuerbare Energien nutzbar gemacht werden zu können, ist ein anderer Wind als der der Ikojts. Natürlich ist Wind auch durch seine Verflechtungen nicht vollkommen erfassbar. Im Gegenteil: Wind entkommt ja gerade jedem Versuch, ihn gänzlich zu fassen. In seinen Verflechtungen wird er aber zu einer bezeichneten Entität, die bestimmte Charakteristika und Potentiale aufweist, und die in der Lage ist, in unterschiedlichen Ereignissen und Prozessen zu partizipieren. Verflechtungen sind damit kein Meta-Begriff, um den Wind zu binden, und auch kein Ersatz für eine Definition von Wind. Sie sind vielmehr Werkzeug, um herauszufinden, was die Prozesse und Dynamiken – einschließlich den Wind – vor Ort auszeichnet. Santiagos Rat folgend, begebe ich mich also auf die Spuren des Winds und vollziehe die Verbindungen nach, die er am Isthmus eingeht.

4.2 ATMOSPHÄREN-BEWEGUNGEN Wind besteht aus mehreren Substanzen, die in Bewegung geraten sind. Diese Substanzen sind ein Gemisch von Gasen, das wir als Luft kennen und das die Erdatmosphäre bildet. Die Atmosphäre besteht zu 78 Prozent aus Stickstoff, zu 21 Prozent aus Sauerstoff, zu 0,96 Prozent aus Argon und zu 0,4 Prozent aus anderen Gasen und Elementen (Adey 2014: 7). Heizt die Sonne die Erde auf, beginnen sich diese Massen an Luft zu bewegen und es kommt zu Winden. Wind ist damit Luft in Bewegung relativ zur Erdoberfläche (Frost / Aspliden 2009: 467) – Atmosphärenbewegung. Den Bewegungsaspekt von Wind hebt der Wissenschaftsphilosoph Gaston Bachelard ebenfalls hervor. Er beschreibt die dem Wind inhärente Bewegung: »With violent air, we can grasp elemental fury, which is entirely motion and nothing but motion« (Bachelard 2011: 225). Bachelard betont die Wirkmacht, welche durch die Bewegung des Winds entsteht. Auch der Ethnologe Tim Ingold verweist auf die Bewegung, die den Wind ausmacht. Er verwendet die Bezeichnung »Wehen« (»blowing«), um seine körperliche Existenz zu beschreiben: »It

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is not that [winds] have agency; they are agency. The wind (…) is its blowing, not a thing that blows« (Ingold 2007a: 31). Für Ingold haben nicht die Winde eine Wirkungsmacht, vielmehr ist ihre ontologische Verfasstheit durch ihr Wehen begründet: Wind, so Ingold, ist Wehen, Winde selbst sind Wirkungsmacht. Ihr Wehen und ihre Bewegung bedingt, dass Winde eine volatile, flüchtige Existenz haben. Sie kommen auf und ebben häufig ebenso rasch wieder ab. Wind sammelt sich nirgends an. Er entsteht und vergeht im selben Moment. Seine Kraft und Intensität ist spürbar, aber nicht greifbar. Er kann durch technische Artefakte, die ihm widerstehen, gelenkt oder aufgehalten werden. Dennoch ist es nicht möglich, ihn in seiner Gänze zu fassen, zu messen, zu zählen oder zu umgrenzen. Wind ist immer schon gewesen, vorbei, wenn er einen umspielt hat, oder wenn seine Kraft ermittelt wurde. Er besitzt keinen klaren Anfang und kein klares Ende. Methodisch ist diese Existenz eine Herausforderung. In einer ethnologischen Feldforschung stellt sich die Frage, wie Wind dokumentiert werden kann. Wind ist beispielsweise auf einer Photographie des Himmels nicht sichtbar. Es ist nötig, auf Menschen oder Dinge zu blicken, auf die der Wind einwirkt: Die flüchtige Existenz Abb. 4.2 Palmblätter im Wind über dem von Wind zeigt sich in den Dach eines Hauses in San Dionisio Objekten, die er auf seinem Weg passiert. Es ist das Aufeinandertreffen von Wind und anderen Entitäten, das Wind erfahrbar macht und das die einzige Möglichkeit darstellt, ihn sichtbar zu machen. Selbst um ihn zu messen, also seine Stärke festzustellen, um diese Daten anschließend in ein Feldtagebuch einzutragen, wird ein Messinstrument benötigt. Es muss daher stets ein Objekt vorhanden sein, das sich zu Wind in Stellung bringt, das von ihm affiziert und bewegt wird. In diesem Sinne ist Wind nur erfahrbar durch die Entitäten, mit denen er in Beziehung tritt. Wenn Wind jedoch auf diese Weise geprägt ist durch Flüchtigkeit, wie etabliert und perpetuiert sich dann seine Existenzweise? Genauer, wie gelangt ein spezifischer Wind wie der norte, wie ihn die Ikojts nennen, zur Existenz und wird zu einem wirkmächtigen Akteur?

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4.3 DIE SPUREN DES NORTE Wind am Isthmus gestaltet die Landschaft und wirkt in vielen Beziehungen ihrer BewohnerInnen. Am Isthmus weht immer Wind. Nicht immer kommt er aus dem Norden. Von Mai bis September gibt es einen leichten Südwind, der vom Meer landeinwärts bläst. Er weht nicht so stetig wie der Nordwind und erreicht bei weitem nicht dessen Intensität. In dieser Zeit lässt der Regen die Wasser der Lagune und die Flüsse anschwellen und die Vegetation blüht auf. Die Zahl der Moskitos nimmt sprunghaft zu. Die Temperaturen steigen auf fast 40 Grad Celsius. Arbeiten wie Holzfällen, die Versorgung des Viehs oder die Vorbereitung der Felder werden durch die Hitze mühsam. Die Menschen am Isthmus ersehnen dann die kräftigen und kontinuierlichen Nordwinde, die gemäßigtere Temperaturen und weniger Mühsal versprechen. Nach der Regenzeit beginnt die Saison des Nordwinds. Jedes Jahr von Oktober bis März hält er die Region im Griff. Wie bei vielen Winden weltweit, beispielsweise beim Mistral in der französischen Provence und dem Mittelmeerraum, den kalifornischen Santa Ana Winden oder dem Föhn an den Alpen, haben sich für den Nordwind lokale Bezeichnungen etabliert. Während in wissenschaftlichen Publikationen Namen wie »Tehuantepecer« (Hurd 1929; Parmenter 1970; Roden 1961) oder »tehuanos« (Alvarez et al. 1989; Trasviña et al. 1995) genannt werden, sprechen die Ikojts meist vom »norte« (vgl. auch Lavín et al. 1992). Der norte erreicht Geschwindigkeiten von 72 Kilometer pro Stunde mit Böen bis zu 108 Kilometer pro Stunde und mehr (Romero-Centeno et al. 2003: 2629). Er ist ein aktiver Gestalter der Lagunenumwelt, markiert für die Ikojts den Lauf des Jahres und erfährt symbolische Bezugnahmen in Ritualen (Castaneira 2008b: 53). Dass der norte verlässlich jedes Jahr entsteht, hängt mit der spezifischen Topographie des Isthmus von Tehuantepec zusammen. Blickt man auf eine Karte dieser Region, fällt eine Einkerbung in der Kordillere der Sierra Madre del Sur auf. Die Sierra Madre del Sur besitzt eine Höhe von 2000 Metern über dem Meeresspiegel. An einer 40 Kilometer breiten Stelle klafft eine Lücke mit einer Absenkung von 250 Metern (Romero-Centeno et al. 2003: 2628). Hier durchschneidet der Chivela Pass die Kordillere. Durch Hochdruckgebiete, die sich im Sommer über den Großen Ebenen Nordamerikas formieren und südöstlich bis zur Bucht von Campeche ziehen, bildet sich ein Druckunterschied zwischen dem Golf von Mexiko und dem Golf von Tehuantepec (Espinoza Tenorio 2013: 4; Romero-Centeno et al. 2003: 2628-29). Wird der Druck auf der Nordseite zu stark, strömt ein Teil der überschüssigen Luft durch den Chivela Pass und wie ein Sturzbach die Abhänge südwärts hinunter (Hurd 1929: 192). Ist norte, stehen

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die Wolken hoch und kommen wie gigantische, tiefblaue Decken von Norden über San Dionisio und die Lagune. Deren Wasser wird dann aufgewühlt und Wellen branden an die Strände. Der Wind treibt feine Sandkörner über die Landschaft, die sich in die Haut im Gesicht bohren. Die Wirkmacht des norte bedingt, dass Praktiken und Prozesse an ihm ausgerichtet werden. Er trocknet die flachen Teile der Lagune und den Boden aus, weswegen Ernten in der Zona Huave nur einmal pro Jahr möglich sind. Zugleich sorgt für den Austausch von Nährstoffen in der Lagune, die Temperaturen ändern sich über und unter Wasser und stoßen biologische Prozesse an, die den Artenreichtum der Lagune fördern (Castaneira 2008b: 53) und die damit entscheidend für den Fischfang der Ikojts sind. Fische und Garnelen nehmen den norte zum Anlass, durch die Lagune zu migrieren. Feldbau und Fischfang haben die Ikojts entprechend auf ihn ausgerichtet, um damit erfolgreich zu sein. Elizabeth Povinelli beschreibt dies so: »Once the multiplicity of entities are oriented to each other as a set of entangled substances (…), this entanglement exerts a localizing force« (Povinelli 2016: 102). Zum Beginn der Saison des norte gehen die Ikojts an Engstellen in der Lagune auf Garnelenfang. Wird wiederum der Mais nicht rechtzeitig geerntet, fährt der Wind in die Ähren und knickt sie um. Die Ikojts bauen daher zapalote chico an, eine Maissorte, die niedrig wächst und dem norte besser widersteht. In diesem Sinne gehören für die Ikojts zum norte nicht nur die bewegten Luftmassen. Es sind vielmehr Orientierungen zahlreicher heterogener Entitäten aufeinander, die den norte ausmachen und von der Wirkung und Kraft zeugen, die er vor Ort in der Lage ist auszuüben. Durch sein wiederholtes und stetiges Auftreten wird er Teil der Umgebung am Isthmus. Cymne Howe und Dominic Boyer sprechen in diesem Zusammenhang auch vom »material life« (2015: 1) des Windes: Wind becomes contoured by objects in its path – mountains and hills, cliffs and stands of forest, buildings and creatures. It also willfully exercises its force upon these things, carving, cracking, and pressuring – leaving ventifactual imprints (ebd. 2).

Der norte treibt große Mengen von Sedimenten über und unter Wasser an die Landzungen und bringt damit maßgeblich die Topographie der Lagunenlandschaft hervor (Cromwell 1984: 2; vgl. auch Castaneira 2008b: 49). Auf der Barra bei San Mateo entstehen Wanderdünen, angetrieben durch den Wind. Er schreibt sich auch in die Bäume ein, die am Isthmus nach Süden gebeugt wachsen (Abb. 4.3). Sie sind durch ihn geformt: Ihr Prozess des Wachsens und der kontinuierlich wehende Wind haben gemeinsam ihre Gestalt hervorgebracht. Wind, nach

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Ingold, »mingles with substance as it blows through the land, leaving traces of its passing in tracks or trails« (Ingold 2007a: 33). Es sind die Spuren des norte, die zur spezifischen Erscheinung der Landschaft des Isthmus beigetragen haben und zu dem dessen BewohnerInnen in Beziehung stehen. 46 Am norte werden damit zwei dem Wind eigene konträre Aspekte sichtbar: Einerseits die Winde im Allgemeinen charakterisierende flüchtige Existenz, die sich dann andererseits jedoch verstetigt, indem sie sich in der Landschaft materialisiert.

Abb. 4.3 Bäume auf der Barra Santa Teresa und bei San Dionisio Wie jeder andere Wind kann der norte nicht klar umgrenzt werden. Es ist nicht ausgemacht, was zu ihm gehört, wie weit er reicht und welcher Art seine Interaktionen mit anderen Entitäten sind. Was seine spezifische Existenz jedoch ausmacht, sind die Orientierungen der Entitäten aufeinander, sowie ihre Verflechtungen untereinander. Sie stehen zueinander in der Pflicht, spezifische Verbindungen zu vollziehen und das Phänomen emergieren zu lassen, das von den Ikojts »norte« genannt wird. »Norte« ist damit eine Aussage über ein Set einander verpflichteter Orientierungen (vgl. Povinelli 2016: 100), das für die Ikojts auf seine ganz spezifische Weise eine eigene Existenz im Gefüge der sozionatürlichen Entitäten an der Lagune hat. Die Beziehung der Ikojts zum norte hat zunächst nichts damit zu tun, Wind als Ressource für erneuerbare Energien zu sehen. Die hervorstechende Eigenschaft des Winds am Isthmus jedoch, zuverlässig jedes Jahr aufzutreten und mit außerordentlicher Kraft zu wehen, beginnt für Akteure von Bedeutung zu wer46 Auch Sarah Strauss beschreibt in ihrer Studie zu Föhn im schweizerischen Dorf Leukerbad Wind als Teil der Landschaft. Sie erklärt: »Wind is part of the landscape, an oxymoronic moveable fixture of the environment, here and gone, and back again. It permeates rather than surrounds« (Strauss 2007: 179). Zu Wind als Teil der Landschaft vgl. ferner Ingold (2007a: 33).

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den, für die Wind zu Windenergie werden soll. Wie sich Wind diese Fähigkeit aneignet, möchte ich nun näher betrachten.

4.4 ENTSTEHENDE WINDENERGIE Mariana meint zur zunehmenden Windenergie am Isthmus: Bueno… eso de los eólicos, ¿no? De eso quieren aprovecharse, del norte. Del viento, de… de según que el viento es el que lleva la energía hacia ellos, porque aquí, hay demasiado viento, que en otros lugares (Interview Mariana 06.02.2015).47

Wir sitzen vor dem Haus von Marianas Eltern am westlichen Rand von San Dionisio. Für Marianas Vater ist es wichtig, zwar im Dorf, aber möglichst nah an der Lagune zu wohnen, weil die Wege zum Fischfang so kürzer sind. Mariana, die einige Jahre in Cancún gearbeitet hat, erzählt davon, wie sehr sie in dieser Zeit das Leben in San Dionisio vermisst hat. Ich hake nach und frage, was genau sie meint. Den Fisch, antwortet sie, und natürlich die Familie. Was sei mit dem Wind, frage ich sie. Ach, der Wind, antwortet Mariana. Darüber denke sie eigentlich nicht nach. Der Wind sei etwas sehr Normales, in San Dionisio. Vom Wind gebe es genug. Zweifellos hat Mariana Recht, wenn sie sagt, dass es am Isthmus reichlich Wind gibt. Aber genügt das reichliche Vorhandensein schon, um eine gute Energieressource abzugeben? Eigentlich ist Wind mit seiner flüchtigen Existenz doch für eine Nutzung als Energieressource ungeeignet. Für eine Energieressource ist entscheidend, dass sie zuverlässig verfügbar ist. Wind scheint im Allgemeinen diese Eigenschaft nicht für sich geltend machen zu können. Die hervorstechende Eigenschaft von Wind ist seine Variabilität in geographischer und zeitlicher Hinsicht (Hau 2006: 454). Die Spuren des Windes am Isthmus zeichnen diesen jedoch als einen besonderen Wind aus. Bäume, die in Windrichtung gebeugt wachsen, werden in Studien zu Windenergie als »qualitativer Indikator« für lokale Windressourcen gewertet (ebd. 474). Solche Indikatoren weisen auf einen intensiven und stetigen

47 »Gut, das mit den Windparks, oder? Sie wollen den norte ausnutzen. Den Wind, den… es ist wohl der Wind, der für sie die Energie dabei hat, weil hier gibt es reichlich Wind, im Vergleich zu anderen Orten.«

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Wind hin. Um einen solchen Wind zu erfassen, werden zwei Parameter herangezogen: die Häufigkeit, mit der Wind pro Jahr auftritt, und die Dauer, für die er weht (Aspliden / Frost 2009: 481); der Wind am Isthmus erzielt hierbei hervorragende Werte, was ihn auf seinem Weg begünstigt, Windenergie zu werden. Als stetiger und zuverlässig auftretender Wind besitzt er die geeignete Wesensart dafür. Dennoch war die Herausbildung von Wind als Energieressource am Isthmus lange kein zwangsläufiger Prozess. Zwar zitiert eine Studie den ehemaligen Hauptverantwortlichen für erneuerbare Energien in Oaxaca, dass wenn nicht in Verbindung mit dem Wind, es überhaupt keine Entwicklung am Isthmus gäbe (Howe 2014: 386). Tatsächlich aber führt erst die Diversifizierung der Energiegewinnung durch den mexikanischen Staat zu Beginn des 21. Jahrhunderts dazu, dass die Region unter diesen Gesichtspunkten betrachtet wird. Eine wichtige Maßnahme ist dabei eine Gesetzesreform, welche die Produktion von erneuerbaren Energien in Mexiko neu regelt und dabei insbesondere eine Liberalisierung des Energiemarkts vornimmt. Entsprechend setzt im Zuge der Reform am Isthmus von Tehuantepec ein Windenergie-Boom ein. Der dortige Nordwind wird nun als »potential in the air« (vgl. Howe 2011: 8) beschrieben, aus dem in großem Stil erneuerbare Energie werden soll. Daran anknüpfend nehme ich die Reform zum Anlass, folgende Fragen zu stellen: Was stößt Wind eigentlich zu, wenn er Energieressource am Isthmus wird? Und was bringt er bereits mit, das diese Entwicklung begünstigt? Ich sitze im Bus von Juchitán in Richtung La Venta, einem municipio von Juchitán. Entlang der Bundesstraße reiht sich ein Windpark an den anderen. Bei mir entsteht der Eindruck in einem Industriegebiet zu sein, das ausschließlich für die Produktion von Windenergie besteht. In engem Abstand ziehen sich die Windturbinen bis zum Horizont. Unter den ihnen sind Felder zu erkennen. Vereinzelt weiden Kühe, Bauern fahren auf Fahrrädern an den Zäunen entlang, welche die einzelnen Windparks begrenzen. Wind gilt der mexikanischen Regierung als Schlüsselindikator unter den erneuerbaren Energieträgern. Sie erklärt ihn mit 71.000 Megawatt zur leistungsfähigsten Energiequelle, weit vor Wasserkraft mit 53.000 Megawatt und Geothermie mit 40.000 Megawatt (Secretaría de Energía 2012: 79). Windenergie, so die Hoffnung der mexikanischen Regierung, könnte siebeneinhalb Prozent des zukünftigen Strombedarfs ganz Mexikos decken (Huacuz 2005: 2088). Diese Ansicht deckt sich mit internationalen Perspektiven. Beispielsweise wertet die deutsche Bundesagentur für Außenwirtschaft bereits seit längerem die Windkraft als »Zukunftsindustrie Mexikos« (Bindernagel 2008: 211).

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Ein besonders großes Potential für die Windenergiegewinnung wird dem Bundesstaat Oaxaca zugeschrieben. Schätzungen des US-amerikanischen National Renewable Energy Laboratory (NREL) gehen von 44.000 Megawatt auf einer Fläche von 8.800 Quadratkilometern aus (Elliot et al. 2004: 138).48 Den Isthmus von Tehuantepec beschreibt das mexikanische Wirtschaftsministerium in einer Broschüre zu erneuerbaren Energien wie folgt: »[I]t is the location of most of Mexico’s wind parks. (…) Due to the excellent wind conditions, it is estimated that this region has a potential of more than 40,000 MW (Secretaría de Economía 2013: 14).«

Abb. 4.4 Windparks bei La Venta Die Entwicklung von Windenergie am Isthmus beginnt im Jahr 1994. In diesem Jahr werden in La Venta erstmalig sieben Windturbinen zur industriellen Nutzung aufgestellt. Jede der von dem dänischen Unternehmen Vestas hergestellte Turbine hat eine Kapazität von 225 Kilowatt (Juárez-Hernández / León 2014: 48 Das NREL produziert Karten von »Windressourcen« weltweit und stellt diese online unter http://www.nrel.gov/wind/international_wind_resources.html.many zur Verfügung. Atlanten, die Windressourcen ausweisen, sind bislang entweder noch nicht verfügbar, oder nicht so umfassend, wie diejenigen für Europa (vgl. z. B. der European Wind Atlas) oder für die USA (vgl. Frost / Aspliden 2009: 478). Inzwischen gibt eine Kooperation der Weltbank und der University of Denmark einen »Global Wind Atlas« heraus. Siehe hierfür https://globalwindatlas.info. Eine Vermessung der globalen Windressourcen, die auf statistischen und subjektiven Analysen basiert, stammt von Elliott et al. (1981). Siehe hierzu auch Frost / Aspliden (2009: 479).

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143). In den folgenden Jahren nimmt die Zahl von Projekten stetig zu. Auf Initiative der Regierung von Oaxaca werden in den Jahren 2000 bis 2004 Treffen mit Vertretern großer Windenergie-Unternehmen abgehalten, um die Entwicklung von Windkraft am Isthmus anzustoßen. Dabei bezeichnet die Regierung die Region als »Corredor Eólico del Istmo de Tehuantepec« (ebd.), als den Windkorridor des Isthmus von Tehuantepec, und beginnt behördliche Hürden für die Windenergie-Unternehmen zu beseitigen. War der Energiesektor bisher von staatlichen Unternehmen wie Pemex und der Comisión Federal de Electricidad (CFE), welche die Elektrizitätsversorgung umsetzt, dominiert, kommt es in den Jahren 2008 und 2013 zu legislativen Prozessen auf mexikanischer Bundesebene.49 Gesetzgebende Verfahren spielen eine herausragende Rolle in EnergieGefügen (Newberry 2013: 233). Auch die Begegnung von Gesetz und Wind am Isthmus ist ein entscheidender Moment. Untersuchungen der Reform der Gesetzgebung zu Energie schreiben dieser zu, den Ausbau von erneuerbaren Energien in Mexiko überhaupt erst zu ermöglichen (Alpizar-Castro / RodríguezMonroy 2016: 730). Im Gegensatz zur vorigen Gesetzeslage, die für eine Integration von erneuerbaren Energien nicht die nötige Flexibilität geboten hätte, würde durch die Reform der Weg für die Erzeugung und anschließende Verteilung des Stroms bereitet (ebd.). In dem reformierten Energiegesetz wird Wind noch vor allen anderen Energieträgern an erster Stelle genannt und dabei seine Fähigkeit betont, Energie werden zu können:50 Artículo 30. II. Energías renovables. Aquellas reguladas por esta Ley, cuya fuente reside en fenómenos de la naturaleza, procesos o materiales susceptibles de ser transforma-

49 Die Gesetzgebung wurde 2008 und 2013 reformiert. Siehe hierzu Secretaría de Servicios Parlamentarios 2013. 50 Artikel 30. II. Erneuerbare Energien. Die von diesem Gesetz regulierten, deren Quelle auf Phänomene der Natur zurückzuführen ist, Prozesse oder Materialien, fähig in nutzbare Energie für die Menschheit transformiert zu werden, die sich natürlich regenerieren, die kontinuierlich oder periodisch vorkommen und verfügbar sind, wozu folgende zählen: a) Der Wind b) Die Sonnenstrahlen, in all ihren Formen c) Die Bewegung des Wassers in natürlichen oder künstlichen Flussläufen

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dos en energía aprovechable por la humanidad, que se regeneran naturalmente, por lo que se encuentran disponibles de forma continua o periódica, y que se enumeran a continuación: a) El viento; b) La radiación solar, en todas sus formas; c) El movimiento del agua en cauces naturales o artificiales;

Und in einem folgenden Artikel heißt es:51 Artículo 40. El aprovechamiento de los cuerpos de agua, los bioenergéticos, el viento y los recursos geotérmicos, así como la explotación de minerales asociados a los yacimientos geotérmicos, para la producción de energía eléctrica, se sujetará y llevará a cabo de conformidad con las disposiciones jurídicas aplicables en la materia.

Das Gesetz setzt einen Akzent im Werden von Wind zur Energieressource. Wind wird von dem Gesetz zur Energieressource gemacht, oder in seiner Konzeption als Ressource für erneuerbare Energie ›entdeckt‹. Indem er dem Gesetz begegnet, gewinnt der Wind die Fähigkeit Energieressource werden zu können neu hinzu. Nach Manuel DeLanda können die Eigenschaften, die eine Entität definieren, von den Fähigkeiten der Entität unterschieden werden. Bei Fähigkeiten handelt es sich um Potentiale, für die nicht vorhergesagt werden kann, wann sie zur Ausübung kommen, da dies von dem In-Beziehung-Treten der Entität mit weiteren Entitäten abhängt (DeLanda 2006a: 10-12). Diese ›nach außen‹ gerichteten Beziehungen eines Gefüges bezeichnet DeLanda als »relations of exteriority«. »Relations of exteriority« eines Gefüges implizieren, dass ein Teil eines Gefüges herausgelöst und Teil eines anderen Gefüges werden kann, wobei sich auch die Interaktionen ändern, und damit das, wozu das Gefüge fähig ist (DeLanda 2006a: 10). Im Gegensatz zu Eigenschaften können Fähigkeiten damit unausgeführt sein, wenn sich keine geeigneten Entitäten finden, die sich für eine Verbindung

51 Artikel 40. Die Nutzbarmachung des Wassers, der Bioenergie, des Windes und der geothermischen Ressourcen, sowie die Ausbeutung von mit geothermischen Vorkommen in Verbindung stehenden Mineralien, zum Zweck der Produktion von elektrischer Energie, wird empfohlen und gemäß der rechtlichen Dispositionen, welche die Materie verlangt, durchgeführt werden.

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eignen. Zur Ausführung kommen die Fähigkeiten von Entitäten dann, wenn sich ein dafür geeignetes Gefüge bildet. Für den Wind am Isthmus bedeutet dies, dass wenn er sich mit den richtigen Entitäten verbinden kann, er das Potential besitzt, Windenergie zu werden. Dafür muss er sich auf seine Fähigkeiten besinnen. Er ist ein zuverlässiger und stetiger Wind, und diese Qualität macht er geltend. Daran anschließend ändert der Wind nicht nur einfach seine Repräsentation, sondern vollzieht einen ontologischen Akt: Er wandelt sich, er gewinnt die Fähigkeit hinzu Windenergie zu werden, und dies macht ihn zu etwas anderem. Im Sinne Barads tritt er in neue Beziehungen ein und erfährt dabei eine Rekonfiguration (vgl. Barad 2003: 818). Am Isthmus trifft der ontologische Akt deshalb auf fruchtbaren Boden, weil der dortige Wind durch das verlässliche Auftreten und sein konstantes Wehen bereits die geeigneten Eigenschaften mitbringt. Denn das Energie-Werden von Wind geschieht nicht von selbst und ist nicht selbstverständlich. Es ist eine Anstrengung nötig, damit aus Wind eine Ressource wird. Die Anstrengung muss jedoch nicht nur von einem Gesetz aufgebracht werden, sondern auch vom Wind. Die Reform macht lediglich für den Wind den Weg frei, seine Fähigkeit zur Entfaltung zu bringen, Windenergie zu werden. Es klappt nur, wenn beide an einem Strang ziehen. Seine Fähigkeit, Windenergie zu werden, rührt für den Wind damit weniger von seinen Eigenschaften als von den Fähigkeiten her, die er in seiner Beziehung mit dem Gesetz entwickelt. Selbstverständlich ist die Gesetzgebung nicht das einzige Ereignis, was Wind auf dem Weg zur Energieressource am Isthmus zustößt. Möglicherweise ist die Gesetzgebung nicht einmal das wichtigste Ereignis in diesem Prozess. Beispielsweise wurde bereits mit dem Bau des ersten Windrads in der Region der Grundstein dafür gelegt. Oder, losgelöst von der Region, haben die Windräder im Mittleren Westen der USA im 19. Jahrhundert oder, nochmals früher, die in Holland im 16. Jahrhundert an der Hervorbringung des Windes als Energieressource am Isthmus mitgearbeitet. Im Zuge der Gesetzgebung ändern sich jedoch die Ressourcen-Verflechtungen, in die der Wind eingebunden ist. Wind kann nun als Energiequelle nutzbar gemacht werden. Der bislang staatlich kontrollierte Energiesektor erfährt einen Liberalisierungsschub. In der Folge entsteht ein neuer Markt, auf dem privatwirtschaftliche Unternehmen zunehmend Einfluss gewinnen (McAfee /

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Shapiro 2010: 581).52 Dies zieht Handlungen von ökonomischen Akteuren nach sich, die diese neue Fähigkeit des Windes adressieren. Nun sollen bis zum Jahre 2024 nicht mehr als 65 Prozent der nationalen Energieerzeugung aus fossilen Quellen stammen (Secretaría de Servicios Parlamentarios 2013: Artikel 1 II Seite 11; siehe auch Lozano Cardona 2013: 24). Bis 2050 soll dieser Wert auf 50 Prozent gesenkt werden und durch die Nutzung erneuerbarer Quellen53 ausgeglichen werden (ebd.). Die Regierung schafft zahlreiche Anreize für Investitionen und die zuvor nahezu ausschließlich auf fossile Energieträger fokussierte Energiegewinnung beginnt sich zu diversifizieren. Mit dem veränderten Wind setzt ein Boom an Windenergie-Projekten in der Region des Isthmus ein. Dort finden sich durch den neuen Wind die Landschaft, die Windturbinen, die Verträge, Unternehmen, der mexikanische Staat und die lokale Bevölkerung in einem völlig veränderten Gefüge wieder, in dem zahlreiche Beziehungen neu gestaltet werden müssen. Die Unternehmen entdecken in der Region eine »Bonanza« (Howe 2014: 389) für Windenergie, die sich in der Region zunehmend als feste Größe etabliert (ebd. 385-386). Allein im November 2004 erwirbt die spanische Gruppe Preneal – vormaliger Eigner des WindparkProjekts Parque San Dionisio – das Nutzungsrecht für 1.643 Hektar (circa 16,5 Millionen Quadratmeter) kommunalen Landes (ebd. 400). Die meisten von den Windpark-Unternehmen konzipierten Pachtverträge besitzen eine Laufzeit von 20 oder 30 Jahren, mit einer automatischen Laufzeitverlängerung auf bis zu 60 Jahre. Im Jahr 2013 sind Anlagen mit 1.269 Megawatt installiert, die pro Jahr circa 4.660 Gigawattstunden Energie erzeugen (Juárez-Hernández / León 2014: 145) und jedes Jahr kommen neue Anlagen hinzu. Im Zuge der Reform ist der Isthmus mit dem Wind als Energieressource nicht mehr derselbe Isthmus, der mexikanische Energiemix ist nicht mehr derselbe Energiemix, der Wind ist nicht mehr derselbe vor und nach der Gesetzgebung (vgl. Latour 1996: 106). *** Der Wind am Isthmus bringt durch sein zuverlässiges Auftreten und sein konstantes Wehen bereits gute Voraussetzungen dafür, erneuerbare Energie zu wer-

52 Wie im Fall des Parque San Dionisio durch Mareña Renovables, werden Windparks am Isthmus heute nahezu ausschließlich von privaten Unternehmen geplant, gebaut und betrieben (Juárez-Hernández / León 2014: 142). 53 Es ist noch weitgehend unklar, welche Rolle Atomenergie im neuen Energiemix Mexikos spielen wird.

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den. Entscheidend ist dann seine Verbindung mit der Gesetzesreform. Die Gesetzesreform trägt ihren Teil dazu bei, am Isthmus aus Wind einen Rohstoff für erneuerbare Energie und ihn damit zur erschließbaren Ressource zu machen. Mit der Reform wird so ein anderer Wind geschaffen, und damit ein neues, verändertes Gefüge am Isthmus hervorgebracht. Dem Wind ist es darin möglich, zu Windenergie zu werden und der Isthmus wird dabei zur WindenergieLandschaft. Die Reform der Gesetzgebung zu Energie ist damit eine Maßnahme, welche die Verfassung des Winds am Isthmus entscheidend verändert, und zugleich hat der Wind an der Gesetzgebung mitgeschrieben: Seine schiere Kraft, gepaart mit dem zuverlässigen jährlichen Auftreten, weisen ihn als wichtigen Akteur im gesamten Ensemble erneuerbarer Energieträger in Mexiko aus. Um in diesen neuen Geflechten von Beziehungen nun Windenergie zu erzeugen, müssen infrastrukturelle Maßnahmen ergriffen werden: Es müssen Windparks gebaut werden; gegen diese Windparks gibt es jedoch breiten Widerstand. Insbesondere das Projekt von Mareña Renovables steht in der Kritik. Indigene Gruppen wie die Ikojts und zivilgesellschaftliche Organisationen werfen dem Projekt massive Verstöße gegen nationales und internationales Recht, unter anderem gegen mehrere Artikel des von Mexiko ratifizierten »Übereinkommens über Eingeborene und in Stämmen lebende Völker in unabhängigen Ländern« der Internationalen ArbeiterInnen Organisation (ILO) vor (vgl. auch Howe 2014: 391). Daran zeigt sich, dass mit dem Wind als Energieressource neue Dynamiken im Gefüge am Isthmus in Gang kommen, wovon die darin bestehenden Akteursbeziehungen erfasst werden. Bevor ich daher die den Windparks zugehörigen infrastrukturellen Maßnahmen analysiere, möchte ich den Wind in seinem bisherigen lokalspezifischen Beziehungsgeflecht betrachten. Denn dieser ist neben seiner Fähigkeit Energieressource zu werden eine wichtige Entität im Fischfang der Ikojts.

4.5 DER NORTE DER IKOJTS Auf einer langen Autofahrt an den Isthmus spreche ich mit Pablo über das Leben in San Dionisio, den Fischfang und den Wind. Pablo erklärt, dass Mareña Renovables nicht verstehen würde, was der Wind der Ikojts ist. Er beschwert sich: »Mareña Renovables simplemente creo que entra pensando que el viento es

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suyo. ¿No? No hace ninguna relación con nosotros« 54 (Gespräch Pablo 01.06.2013). Der Wind aber, so Pablo, gehöre niemandem. Pablos Kritik richtet sich gegen die Haltung des Windpark-Unternehmens in Bezug auf den Wind. Allerdings kritisiert er nicht nur die mögliche Aneignung des Winds durch Mareña Renovables. Für Pablo gibt es auch eine Verbindung des Winds mit den Ikojts, die durch das Unternehmen ignoriert wird. Hier bestehen nach seiner Auffassung Unterschiede in der Sichtweise von Wind. Der Wind ist bei den Ikojts keineswegs eine natürliche Ressource, die durch technologische und bürokratische Arrangements »befreit« werden muss (vgl. Tsing 2015: 28). Doch auch die Ikojts nutzen den Wind. Für sie ist Wind Teil eines Gefüges sozialer und natürlicher Entitäten, in dem sie mittels Fischfang ihre Subsistenz sicherstellen. Ihr Verhältnis zu Wind ist damit mehr durch eine spannungsvolle Austauschbeziehung geprägt. Die in dieser Beziehung bestehenden Ressourcen-Verflechtungen entwerfen einen Wind, der dem Wind als Ressource erneuerbarer Energien entgegensteht. Lokale Bezeichnungen für Winde verweisen auf deren besondere Stellung vor Ort (Strauss 2007: 166). Solchen Winden eignet eine spezifische Identität, was durch ihren besonderen Namen ausgedrückt wird. Die Ikojts haben mehrere Bezeichnungen, mit denen sie auf Wind Bezug nehmen. Während auf Huave »ñupyupyup« Luft allgemein, ob in Bewegung oder nicht, bedeutet, und »nchierrek« die Brise aus dem Süden vom Meer her meint, ist »iend« der norte (vgl. Salminen 2016: 313; siehe auch Stairs Kreger / Scharfe de Stairs 1981). In San Dionisio hat der spanische Begriff den aus dem Huave heute weitgehend ersetzt. Norte bezieht sich dabei auf die geographische Richtung, aus der die starken Winde die nordwärts von San Dionisio gelegenen Bergketten nach Süd herabwehen. Auch ich verwende die Bezeichnung norte um hervorzuheben, dass es nicht nur um eine andere Begrifflichkeit für den Wind geht, sondern dieser eine eigenständige Verfasstheit im Gefüge am Isthmus besitzt. An einem Nachmittag sitze ich mit Miguel Rodríguez, einem Schafzüchter und Händler aus San Dionisio vor seinem Haus. Wir lesen Mais und der Wind weht uns ständig neuen Staub und kleine Steine in die Schalen, in denen wir die gesäuberten Maiskörner sammeln. Für Miguel ist der Wind durch seine Unendlichkeit geprägt. Er erklärt:

54 »Mareña Renovables glaubt einfach, hereinkommen zu können im Gedanken, der Wind sei ihrer. Oder? Sie setzen sich mit uns in keiner Weise in Beziehung.«

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El norte se va y nunca regresa; es como los días, se va y nunca regresa. Es parte de todo el mundo, del sur [der Südwind, Anm.], da vuelta y va al pueblo. Es dueño de todo, viento, tierra, agua, naturaleza. Viento, tierra, agua, la vida. Siembra maíz, agua, la vida, alimentación de todo el pueblo (Gespräch Miguel 01.03.2014).55

Miguels Beschreibung zeigt Wind als etwas, das sich durch Bewegung, Wandel und Vergänglichkeit, aber auch fortwährende Präsenz und Kontinuität auszeichnet. Er stellt den norte mit alldem in Zusammenhang, was Leben ist. Er streicht über die Lagune und das Land der Ikojts hinweg. Er kehrt nicht zurück, er kommt wieder als ein neuer Wind, von Süden, dann wieder aus dem Norden. Die Ikojts säen Mais und fischen, und der Wind ist bei ihnen als ein »dueño«, als ein wirkmächtiges Wesen, das seine Kraft ausübt. In Oaxaca findet sich bei vielen indigenen Gruppen diese Sichtweise auf bestimmte lokal gebundene Phänomene und Orte. Diese ›gehören‹ einem dueño, zu dem spezifische Beziehungen unterhalten werden müssen. Beispielsweise ist die Durchführung von Ritualen oder die Beigabe von Opfern erforderlich, oder es sollten Bereiche gemieden oder vor Betreten um Erlaubnis des dueño gebeten werden (Barabas 2008: 122-23). Da dueños empfindliche, heilige Entitäten sind, können sie, wenn sie von den Menschen nicht berücksichtigt oder mit ihnen in Zusammenhang stehende Tabus missachtet werden, als Konsequenz Krankheiten und Katastrophen schicken. Bei den Ikojts verbündet sich in einem Mythos der dueño des Winds mit Montiok, einem mächtigen König aus San Dionisio Pueblo Viejo, Vorfahre der Ikojts und Erschaffer der Lagune. 56 Montiok, erzählen sie sich, hat sich den Wind für seine Vorhaben zunutze gemacht. An einem Abend treffe ich einige Fischer, die vom Fischen zurückkommen. Wir setzen uns gemeinsam auf ein paar Steine am Weg, der zur Playa Copalito führt. Der norte weht uns Staub ins Gesicht. Während wir uns die Augen reiben, beschreibt einer der Fischer, wie Montiok durch die Fortbewegung mit dem Wind zu einer List befähigt war, die San Dionisio die Kirchenglocken beschert hat: Er nutzte die Fortbewegungsweise mit dem Wind auf den Wolken, um unbemerkt von den BewohnerInnen eines

55 »Der norte geht fort und kehrt niemals zurück; er ist wie die Tage, die vergehen und niemals zurückkehren. Er ist Teil der ganzen Welt, des Südwinds [sur, Anm.], er weht zurück und über das Dorf. Er ist dueño von allem, Wind, Erde, Wasser, Natur. Wind, Erde, Wasser, das Leben. Säe Mais, Wasser, das Leben, die Ernährung des ganzen Dorfes.« 56 Zum Mythos des Montiok bei den Ikojts siehe Castaneira (2008b: 71-75).

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benachbarten Dorfes auf deren Hauptplatz vor der Kirche zu landen.57 Durch die dem Wind geschuldete Schnelligkeit bemerkten die BewohnerInnen seine Anwesenheit erst, als er sich mit den Kirchenglocken aus ihrer Kirche bereits wieder auf die Wolken schwang. Noch bevor sie ihn auf dem Dorfplatz stellen und ihm die Kirchenglocken wieder abnehmen konnten, reiste Montiok, getragen auf den vom Wind angetriebenen Wolken, zurück nach San Dionisio. Dort verbrachte er die Glocken in die Kirche, wo sie sich bis heute befinden. Diese Aktion, so schließt er, ist nur durch die Zusammenarbeit von Montiok und dem dueño des Windes geglückt. Abgesehen von dieser besonderen Stellung ist der norte zugleich etwas sehr Alltägliches in der Windsaison. Mariana beschreibt dies wie folgt: Yo siento que es, el viento de mi pueblo nada más. Pero… pues, ahora sí que, en sí no sabemos de dónde exactamente viene ese viento. Pero pues… de ahí. No sé de quién es el viento. Bueno, para mí es de mi pueblo. O sea, todos, ¿no? [um] Eh, el viento pasa, pero… ahora sí que no, no… no tiene algún dueño (Interview Mariana 06.02.2015).58

In der Beschreibung von Mariana ändert sich die Bedeutung des Begriffs dueño. Sie benutzt ihn im Sinne von ›BesitzerIn‹ und legt dar, wie sich das Besitzverhältnis zum norte gestaltet. Für Mariana gehört der norte zu San Dionisio dazu, auch wenn nicht ganz klar ist, woher er kommt. Er hat keine oder keinen BesitzerIn im eigentlichen Sinne, durch sein wiederkehrendes Wehen jedoch eine spezifische Zugehörigkeit zu den BewohnerInnen San Dionisios etabliert.

57 Auch weitere für die Ikojts wichtige mythische Entitäten reisen mit Naturphänomenen: »[E]ntidades anímicas que se mueven a través de él controlando el clima; identificadas con el rayo, el relámpago, las nubes, la serpiente, los vientos del norte y del sur y la fertilidad marina (Castaneira 2008a: 5).« Übersetzung: »Belebte Entitäten, die sich durch eine Einflussnahme auf das Klima fortbewegen, sind der Blitz, das Wetterleuchten, die Wolken, die Schlange, die Winde des Nordens und des Südens und die meeresbezogene Fruchtbarkeit.« 58 »Ich habe das Gefühl, dass der Wind von meinem pueblo ist, sonst nichts. Aber… also, es ist so, dass wir nicht wissen, woher genau dieser Wind kommt. Aber, also… von dort. Ich weiß nicht, wem der Wind gehört. Gut, für mich ist er von meinem pueblo. Oder von allen, nicht [um]? Eh, der Wind weht vorüber, aber… jetzt dass er irgendeinen Besitzer hat, nein.«

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Mit seinem wiederkehrenden Wehen verbindet er sich nicht nur mit den Ikojts. Auch das den norte umspannende erweiterte Beziehungsgeflecht spielt für die Ikojts eine wichtige Rolle, was im Besonderen im Fischfang sichtbar wird. Ein erfolgreiches Verhältnis zum norte verschafft den Ikojts Fisch für den täglichen Bedarf. Diese Einbindung des norte in ihre Fischfangtätigkeit bezeichnen die Ikojts als ihre »Arbeit mit dem Wind«. Trabajar con el viento – Mit dem Wind arbeiten Eines Nachmittags, nach fast einer Woche anhaltendem norte, spreche ich mit Eduardo über die Kraft des Windes. Wir sitzen auf dem Platz vor dem Haus seiner Mutter. Der norte hat schon zahllose Eimer und Schalen umgeweht, und auch Wäsche von der Leine geworfen. Manchmal gibt es böenartige Stöße, dann wieder weht er kontinuierlich mit großer Intensität. Eduardo sagt mir, ich solle einmal versuchen, mich mit meinem ganzen Gewicht in den Wind zu legen. Der norte würde mich tragen, so stark sei er, und er könne das tagelang tun. Als ich es etwas unsicher versuche, scheint der Wind nochmals an Kraft zuzunehmen. Ich breite meine Arme aus und lehne mich nordwärts. Willis Edwin Hurd, ein Meteorologe, schreibt über den norte: »The gale may be of very brief duration, lasting only a few hours, or, with some intermission of intensity, may continue for several days« (Hurd 1929: 193). An diesem Tag lässt er nicht mehr nach. Ich kann meinen Körper vom Wind tragen lassen und habe feinen Sand in den Augen. Meine Haare sind voller Staub und die Lippen fühlen sich trocken an. Später an diesem Tag reißt noch die Stromleitung zum Dorf unter den Böen, sodass San Dionisio wochenlang ohne Elektrizität bleibt. Das ist der norte, kommentiert Eduardo am Abend beim Lichtschein einer gegen den Wind abgeschirmten Kerze. Und: »Morgen wird es viel Fisch geben.« Zu Beginn der Windsaison im November 2014 ging ich oft mit Emiliano Martínez fischen. Emiliano fischt häufig auf der Ostseite von San Dionisio Richtung Huamuchil. Er ist Experte für den Fischfang mit atarraya und einer der wenigen in San Dionisio, die fast ausschließlich von dieser Art des Fischfangs leben. Er geht mehrmals am Tag, morgens vor Sonnenaufgang, nachmittags und nach Einbruch der Dunkelheit. Tagsüber ist es weit weniger beschwerlich als nachts. Nachts gibt es zahlreiche Mücken und die eigene Sicht ist eingeschränkt. Wenn der Mond scheint, sieht man besser, allerdings wird man auch von den Fischen gesehen, die sich bei Reflexionen des Mondlichts im Netz zurückziehen – ein Problem, das auch am Tag mit Sonnenlicht auftritt. Diese Beobachtung ist deshalb wichtig, weil die Ikojts daran festmachen, dass von anderen technologischen Artefakten ähnliche Affekte zu erwarten sind, beispielsweise von Refle-

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xionen des Sonnenlichts in den Windturbinen. Den Strapazen zum Trotz gehen viele Ikojts nachts fischen, um einen höheren Ertrag zu erzielen. Wie alle Ikojts stimmt Emiliano sein Fischen nicht nur auf Tag und Nacht, sondern auch auf den Wind ab. Dies ist nötig, um ertragreiche Fänge zu machen. In einer Unternehmung, die ich mit ihm gemacht habe, zeigt sich, wie Fischfang und Wind zusammenhängen (Box 4.1). Dass Wind und Fischfang zusammenhängen, bestätigt auch Mateo Robles. Ich treffe ihn zu einem Interview, das ich mit ihm einige Tage zuvor vereinbart habe, wenn Wind ist um 16 Uhr, wenn kein Wind ist um 10 Uhr. Er ist Fischer aus San Dionisio, besitzt eine lancha und leitet zwei equipos 59 von Fischern. Mateo gilt im Dorf als ein erfolgreicher Fischer, der oft große Fänge macht. Vor seinem Haus sitzend erklärt er die Vorteile, die Wind für den Fischfang bringt: Pues es bueno, el aire es bueno, bonito ensucia el agua… pues, hay, hay, aire, pues… hay aire. Porque no sólo nosotros necesitamos el aire, hay muchos tro… que trabajan con el aire también. Como… por ejemplo, que trabajan… con los changuitos60. Los copo que trabajan, los Pueblo Nuevo, allá en la Bocabarra, es con el, con el aire trabajan también. Allí hay corriente, hay camarón, hay… sí (Interview Mateo 29.11.2014).61

59 Teams 60 Spezielle Garnelenreusen, die ebenfalls copo genannt und an den Engstellen zwischen den Inseln in durch den Wind hervorgerufene Strömungen gelegt werden. 61 »Also das ist gut, der Wind ist gut, weil er ganz wunderbar das Wasser verschmutzt… also, es gibt, gibt, Wind, so… es gibt Wind. Weil, nicht nur wir benötigen den Wind, es gibt viele die… die auch mit dem Wind arbeiten. Wie… zum Beispiel die, die mit den changuitos [Erklärung Fußnote 60] arbeiten. Die die copos auslegen, in Pueblo Nuevo, dort an der Bocabarra, das sind die, die auch mit dem Wind arbeiten. Dort gibt es Strömungen, Garnelen, ja.«

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Box 4.1 Atarraya-Fischen mit Emiliano Feldtagebuch 28.10.2014, S. 164 Gehe zum atarraya-Fischen mit Emiliano. Wir brechen um 5 Uhr morgens auf und nehmen kleine Steine mit, um uns der Hunde zu erwehren, die auf dem Weg zur carretera im Dorf immer alle anbellen oder anfallen, die vorbeikommen. Wir haben Körbe dabei und fahren mit Fahrrädern. Der Weg führt auf der Straße nach Huamuchil entlang, ca. 5 Kilometer weit, dann zwischen corrales (Weideflächen oder Felder) durch zum Meer, nordöstlich der Salina Lodo. Die corrales sind mit Stacheldraht abgeteilt, sodass wir die Räder immer wieder unter den Zäunen hindurch schieben müssen. Die Lagune liegt im Morgendämmerlicht am Ende der Weidefläche. Zwei Fischer stehen in Ufernähe im Wasser. Emiliano grüßt die beiden und erkundigt sich, ob sie schon etwas gefangen haben. Sie berichten von mäßigem Erfolg. Die Sonne geht langsam auf, wir beginnen ein Stück den Strand herunter zu fischen. Ausgerechnet an diesem Morgen weht kein Wind, das Meer ist spiegelglatt. Emiliano erklärt, dass wenn kein Wind weht, man nichts fängt, und so ist es auch. So oft wir auch werfen, wir fangen nur ein paar kleinere Fische und ein wenig camarón. Das atarraya-Werfen gelingt mir schlechter als das letzte Mal, oft öffnet es sich einfach nicht. Emiliano korrigiert mich und zeigt mir die richtige Haltung der Arme, der Hände und des Körpers. Wo wir nicht herumgestapft sind, ist das Wasser klar, sodass der schlammige Grund zu sehen ist. Schließlich ziehen Abb. 4.5 Emiliano wirft sein atarraya wir eine AbaloneMuschel und ein paar kleinere Fische heraus. Es sei entscheidend, dass Wind die Sedimente verwirble, sodass die Fische am Ufer nach Nahrung suchen, sagt Emiliano. Kein Wind, keine Fische, so einfach sei das.

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Die Fänge, so Mateo, sind immer dann ertragreich, wenn durch den Wind Sedimente in der Lagune aufgewirbelt werden. Fische und Garnelen finden dann im aufgewühlten Untergrund in Ufernähe ein reichhaltiges Nahrungsangebot aus Kleintieren. Auf ihrer Suche nach Nährstoffen im aufgewühlten Wasser jedoch »sehen sie die Netze nicht« und geraten so in die Fänge. Um unter dem Einfluss des norte erfolgreich fischen zu können, müssen die Ikojts genau um seine Besonderheiten wissen. Einige Tage später besuche ich Rodrigo López Castañeda, Fischer und Musiker aus San Dionisio und ein Bruder von Mariana, zum Interview. Wir sitzen auf der Veranda seines Hauses und unterhalten uns über den norte, der seit zwei Tagen aufgehört hat, und darüber dass man jetzt gut Fischen gehen könne. Rodrigo erzählt von einer Fangfahrt in der Lagune:62 Hubo una vez, hubo nortazo, cruzamos aquí la Bocana, fuimos en la Covacha de… Pueblo Viejo [uhum]. San, San Dionisio, Pueblo Viejo [uhum], en la Covacha acá al lado, un rancho. Hubo un nortazo, platiqué con mis primos, les dije, »mira, a lo mejor, de casualidad ¿no hay camarón por allá? Vamos a meter manga de camarón, vamos... vamos a buscarlo. Hay norte ahí, pero vamos a cruzar. Está duro,« dice, »pero vamos a cruzar si… si crece más el viento, lo dejamos ahí la lancha, venimos ahí, por el pueblo, eh… Pueblo Viejo, cruzamos na más la Bocana.« Así. Órale, pues, nos fuimos. Y llegamos ahí. No, mero… ahí está el camarón ese día mero flotó el camarón. Dos días agarramos camarón [um]. Pero para eso

62 »Es gab einmal, es gab nortazo, wir überquerten hier die Bocana, wir fuhren in die Bucht von… Pueblo Viejo [uhum]. San, San Dionisio, Pueblo Viejo [uhum], in der Bucht hier nebenan, ein rancho. Es gab einen nortazo, ich sprach mit meinen Cousins, sagte ihnen, ›schau, in bestem Falle, zufällig, meint ihr, dass es dort Garnelen gibt? Lasst uns das Garnelen-Netz auswerfen, lasst uns… lasst uns sie suchen. Es gibt norte dort, aber wir werden schon rüberkommen.‹ ›Es ist ist nicht einfach‹, sagt er, ›aber wir werden rüberkommen wenn… wenn der Wind zunimmt, lassen wir die lancha dort, dann kommen wir dort entlang, beim Dorf, eh… Pueblo Viejo, überqueren wir problemlos die Bocana.‹ So. Auf geht’s, dann, gingen wir los. Und wir kamen dorthin. Nein, wirklich… dort ist die Garnele an diesem Tag trieb die Garnele wirklich herum. Zwei Tage schnappten wir uns Garnelen [um]. Aber da war es schon einige Zeit, dass der yolo [Gelbflossen-Umber, Anm.] verschwunden war [uhum]. Zwei Tage gab es Garnelen, ja, schön. Wir machten einen guten Schnitt und dann… ließ der norte nach.«

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ya tiene rato que el yolo63 desapareció [uhum]. Dos días hubo camarón, sí, bonito. Cobramos y ya… calmó el norte (Interview Rodrigo 15.12.2014).

Rodrigos Schilderung der Fangfahrt legt offen, dass sich die Fische, Garnelen, Strömungen und der norte durch ein komplexes Zusammenwirken auszeichnen. In diesem Zusammenwirken sticht der Einfluss des norte heraus. Aufgrund des norte ist es nicht einfach, mit den Booten zu navigieren. Durch ihn haben aber auch die Garnelen begonnen zu migrieren, was einen reichen Fang verspricht. Doch der immer stärker werdende norte gefährdet das Unternehmen. Auf der Lagune sind Wellen entstanden und Strömungen drohen, die Boote kentern zu lassen. Möglicherweise muss ob dieser Gefahr eine Fangfahrt abgebrochen werden. Aber sie haben dennoch Erfolg und fangen zwei Tage in Folge eine Menge Garnelen. Dass sie nur Garnelen fangen, ist jedoch ungewöhnlich. Bei starkem norte fangen sie sonst zu dieser Jahreszeit viel yolo. Rodrigo fährt in seiner Erzählung fort:64 Y nos venimos aquí, en el embarcadero. Ahí está una hamaca y me acosté y lo dije, »mira ahora ya… ya pasó… ahora el camarón. Ahora de quién do, dónde vamos a ir ahora?« Lo dije pues, »ya… viene ahorita, lo dije. Y el yolo. Yolo no

63 Gelbflossen-Umber, vgl. S. 127 64 »Und wir kamen hierher, zum Anlegeplatz. Dort ist eine Hängematte und ich legte mich darauf und sagte, ›schau, jetzt, jetzt ist es vorbei… jetzt die Garnelen. Jetzt von wem, w, wo gehen wir jetzt hin.‹ Ich sagte das, und schon, kommt jetzt, sagte ich. Und der yolo. Es gibt keinen yolo, keinen. Sagte, ›aber Cousin,‹ sagt er, sagte mir ein Kumpel, ›aber zuerst,‹ sagt er, ›der yolo ist verschwunden.‹ ›Ay…,‹ sagte ich zu ihm, ›man muss den Glauben an Gott bewahren… Gott ist der Erste, sag nicht wie, nein, nein, nein…,‹ sagte ich zu ihm, ›wenn du Gott vertraust, wirst du gewinnen. Das ist immer das Erste.‹ So sagte ich ihm, ›Gott hört uns, er sieht uns. Gott ist überall.‹ Auf dieser Seite sagte ich ihm, ›schau, man muss nur glauben. Man muss sich aufmachen und suchen.‹ Wir warfen eine andere Klasse von Netz aus, es war… bereits windstill. Plötzlich kam ein norte auf. Heftig war der nortazo… als er plötzlich wieder nachließ. Ganz sanft war der norte dann. Aber es gab immer noch Wellen… Wir gingen dort hoch. Ungefähr zu dieser Zeit. In einem Wurf fingen wir ausschließlich yolo zatzu, großen yolo. Ah, su mecha. Ab da fing es an. Ich sagte: ›Siehst du? Er ist gibt ihn.‹ Mensch, es war ein… Dienstag, glaube ich. Ja, Dienstag. Mittwoch, nein. Montag, fingen wir etwas, am Dienstag nichts. Am Mittwoch, glaube ich, in der selben Woche. Ah, nein, von da an füllten wir unsere Taschen, wir füllten sie in der selben Woche.«

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hay… no hay yolo.« Dice, »pero primo,« dice, me dijo un tío, »pero primo,« dice, »el yolo desapareció.« »Ay…,« le dije, »hay que tener fe en Dios… Dios es lo primero, no digas que cómo, no, no, no... no,« le dije, »si tú tienes fe en Dios vas a ganar. Siempre eso es lo primero.« Lo dije, »Dios nos está escuchando, nos está viendo. Dios está en todas partes.« Por ese lado le dije, »mira, hay que tener fe. Hay que ir a buscar.« Metimos otro tipo de manga, ya fui… En las calmas. De repente salía un norte. Roció el nortazo… cuando, volvió a calmar. Suave estuvo el norte. Pero si hay ola todavía… Nos fuimos por allá arriba. Como a estas horas. Va… Encontramos un lance, a… puro yolo zatzu, yolo viejo. Ah, su mecha. De ahí, ahí empezó. Lo dije, »¿viste? Hay.« Híjole, fue eso un… martes, parece. Sí, martes. Miércoles, no. Lunes, agarramos, el martes nada. El Miércoles, parece, de la misma semana. Ah, no, ahí sí llenamos la hachazo, lo llenamos, de la misma semana (Interview Rodrigo 15.12.2014).

In Rodrigos Erzählung prägt der norte das Beziehungsgeflecht, indem er die Handlungen und Bewegungen der Akteure entscheidend dynamisiert. 65 Wie beim atarraya-Fischfang mit Emiliano, sind die vom norte in Bewegung gebrachten Sedimente dabei von großer Wichtigkeit. Durch sie werden die Garnelen und Fische zur Nahrungssuche veranlasst, aber auch in ihrer Sicht beeinträchtigt. Während die Verwirbelung der Sedimente in der Unternehmung mit Emiliano nicht stattfindet, gelingen Rodrigo mit Hilfe des norte ertragreiche Fänge. Rodrigos Fangfahrt wird deshalb erfolgreich, weil der norte entsprechende Berücksichtigung durch ihn und die anderen Fischer findet und sie das Glück haben, dass er zur richtigen Zeit auftritt. Die Garnelen und Fische werden durch die Sedimente gebunden, sie machen einen guten Fang und können viel Fisch nach Hause bringen. Die Wirkung, die der norte auf das Gefüge von Fischern, Fischen, Lagune, Strömungen und Sedimenten hat, ist das, was Gilles Deleuze und Félix Guattari als »Ritornell« beschreiben.

65 Die Biologen Daniel Zizumbo Villareal und Patricia Colunga García-Marín beschreiben in ihrer Studie zu den Naturbeziehungen der Ikojts ebenfalls den Einfluss, den der norte darauf hat, wie oft diese ihre Netze auswerfen: »Cuando no hay Norte, se tiran las redes hasta ocho veces, pero si hay mucho viento sólo dos o tres veces. El viento entorpece esta actividad (…) (1982: 175).« Übersetzung: »Wenn es keinen norte gibt, werfen sie die Netze bis zu acht Mal aus, aber wenn es viel Wind gibt, nur zwei oder drei Mal. Der Wind erschwert diese Aktivität (…).«

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Das Ritornell des norte Deleuze und Guattari interessieren sich dafür, wie wiederholte Vorgänge ein Territorium hervorbringen und markieren können. Um derartige Vorgänge zu beschreiben, benutzen sie den Begriff des Ritornells. Ein Beispiel von Deleuze und Guattari für ein Ritornell ist der Gesang der Vögel, der im Wald Grenzen markiert. Der Gesang verleiht der Landschaft dabei ein spezifisches Motiv. Ritornelle sind damit wiederholte Figuren in Verflechtungen heterogener Entitäten, die ein Territorium markieren: Das Ritornell bewegt sich auf das territoriale Gefüge zu, läßt sich dort nieder oder verschwindet. Ganz allgemein bezeichnet man als Ritornell jedes Ensemble von Ausdrucksmaterien, das ein Territorium absteckt und das sich in territorialen Motiven und Landschaften entwickelt (Deleuze / Guattari 1992: 440, Hervorhebung im Original).

Das Ritornell zeichnet seine Fähigkeit aus, Entitäten in einem Bereich zu ›binden‹ – an ein Territorium. Mark Bonta und John Protevi explizieren den Begriff des Ritornells: »The refrain66 [Ritornell, Anm. O. L.] not only creates and holds the territory, but also becomes the motif or repeatable theme of a landscape« (Bonta / Protevi 2006: 133). Durch das Ritornell erhält die Landschaft ein solches Motiv oder wiederholbares Thema, sie wird markiert. Diesen Vorgang des Markierens nennen Deleuze und Guattari »territorialisieren«. Dabei handelt es sich um einen »Akt, ein Handeln, das auf Milieus und Rhythmen einwirkt« (Deleuze / Guattari 1992: 429) und so aus Aspekten oder Teilen von Milieus ein Territorium bildet. Territorialisieren meint damit zum einen die Markierung eines Territoriums durch einen Akteur, zum anderen verweist der Begriff auf die Bindung von Akteuren an bestimmte Milieus. Laura Ogden greift diese Gedanken in ihrer anthropologischen Studie zu Verflechtungen um die Krokodil-Jagd in den Everglades auf. Sie streicht heraus, dass Ritornelle viele Formen annehmen können, wie Sounds, Bilder oder Gesten (Ogden 2011: 45). Beispielsweise ist es der Schrei des Krokodils, mittels dessen es sein Territorium absteckt, es sich jedoch auch selbst territorialisiert: Der Schrei indiziert die Position des Krokodils für einen Jäger. Zum anderen kann das Krokodil von einem Jäger mit Feuer gebunden werden, durch das es paraly-

66 Brian Massumi übersetzt für die englischsprachige Ausgabe von »Tausend Plateaus« Ritornell mit refrain.

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siert wird. Ritornelle sind damit nicht statisch oder fixiert, sondern zeichnen sich durch ihre Veränderlichkeit und ihr stetiges Werden aus (ebd.). Entsprechend können die Spuren des Ritornells sowohl flüchtiger Art sein als auch sich verstetigen. Der norte am Isthmus bildet ein Ritornell, das sich in der Lagunenlandschaft verstetigt. Sie wird zur Wind-Landschaft, in der Tiere und Menschen territorialisiert werden. Das Ritornell des norte besteht darin, dass er mit seiner Kraft auf die Beziehungen von Fischern, Lagune, Sedimenten, Garnelen und Fischen einwirkt. Weht er nicht, bleiben die Fänge aus, weil keine Sedimente aufgewirbelt werden. Weht er zu stark, gerät die Unternehmung in Gefahr, weil das Kentern der Boote droht. Um in diesem Beziehungsgeflecht erfolgreich zu fischen, arbeiten die Ikojts mit dem Wind. Mit dem Wind zu arbeiten bedeutet, die Veränderungen, die der norte in der Lagune evoziert, erfolgreich für den Fischfang zu nutzen. So territorialisiert der norte nicht nur die Garnelen und Fische. Auch die Ikojts, die um die Auswirkung des norte auf das Gefüge der Entitäten wissen, werden veranlasst, die Gelegenheit zu nutzen, die das durch den norte veränderte Gefüge darstellt und stimmen ihre Fangpraktiken darauf ab. Auf diese Weise territorialisiert der norte ebenfalls die Fischer, die den Garnelen und Fischen auf der Spur sind. Doch zugleich ermöglicht der norte den Fischfang nicht nur oder macht ihn produktiv, er stellt auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für die Fischer dar. Beim Robalera-Fischfang wird dies besonders deutlich. Robalera-Fischfang (Box 4.2), benannt nach dem robalo (Seebarsch, Dicentrarchus labrax), ist eine Fangtechnik, bei der die Ikojts Netze mit großen Maschen an durch den norte hervorgerufenen Strömungen entlang auslegen und über Nacht im Wasser belassen. Die Fangtechnik gilt als gefährlich, weil die Robalera-Fischer immer dann ihre Netze auswerfen, wenn viel Wind weht und es starke Strömungen in der Lagune gibt. Am nächsten Tag fahren sie trotz des starken Wellengangs hinaus und holen die Netze ein. Strömungen und Sedimente sorgen dabei häufig für reiche Fänge. Weil sie sich bei diesen Bedingungen in die Lagune wagen, genießen Robalera-Fischer viel Respekt. Box 4.2 Robalera-Fischen mit Carlos, Francisco, Cristian, Enrique Feldtagebuch 25.10.2014, S. 152 Ich stehe um 5 Uhr auf und mache mich fertig, um zum Robalera-Fischen zu gehen. Schwimmweste, lange Ärmel, Regenjacke, huaraches (offene Sandalen). Die Sonne geht auf, während ich zum Strand laufe. Die Fischer sind schon da und bereiten die lancha zum Ablegen vor. Es geht ein starker norte

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und auf der Lagune bilden sich hohe Wellen. Carlos verteilt Nylons an alle. Ein Nylon ist eine dicke, steife, durchsichtige Plastikplane, in die sich die Fischer einwickeln können. Bei der Fahrt zu den Fanggründen dient Abb. 4.6 An einem anderen Tag: Diego steuert die sie als Spritzschutz, lancha gegen den Wind und die Wellen, Enrique beim Einholen der holt den Korkteil des Netzes ein. Netze wird sie mit einem Riemen um den Körper geschlagen und verhindert, dass Wasser, Schlick und Steine auf die Kleidung geraten. Ich packe mit an und es geht los. Die lancha springt von Welle zu Welle, Carlos steuert, Rodrigo, Cristian und Enrico nehmen im Mittelteil des Bootes Platz, ich stehe vorne im Bug und halte mich an einem Strick fest. Es geht gegen den Wind, Richtung Norden, wo die Netze treiben. Bereits vorher war ich von Tonio und von den Fischern gewarnt worden, dass Vielen schlecht wird. Aber ich merke gar nichts. Beim Fahren gegen die Wellen schlägt der Bug der lancha mit einem trockenen Geräusch von Welle zu Welle, hinten heult der Außenbordmotor. Richtung La Venta, erkennbar an den zahlreichen Windrädern, liegen die Netze in Windrichtung von Nord nach Süd im Wasser, jeweils mit Anker. Cosme und die Jungs ziehen ein bis zwei Netze ein, holen die Fische heraus und werfen die Netze wieder aus. Dazu beratschlagen sich kurz die beiden Älteren, der motorista und der, der das Netz einholt bzw. die Fische aus dem Netz herauslöst. An einem neuen Punkt werden die Netze so ausgeworfen, dass sie z. B. eine Bucht in Windrichtung von Nord nach Süd sperren. Wir holen pagre, robalo, pejesapo, lisa und mojarra heraus. Es werden acht Netze gecheckt und wieder ausgeworfen. Der Wind erzeugt so hohen Wellengang, sodass wir alle trotz des Nylons, in das wir uns geschlagen haben, komplett durchnässt sind. Am Strand wird der Fisch aufgeteilt, etwa 18 kg gehen in den Verkauf und werden von der Kooperative registriert, die Fischer nehmen sich einen Teil, etwa zwei bzw. drei Fische, je nach Größe, und schenken mir auch zwei.

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Ebbt der norte ab, verändert sich die Lagune erneut. Die Strömungen lassen nach, die Sedimente sind jedoch weiter in Aufruhr. Für die Ikojts ist es dann einfacher zu fischen, weil die Gefahr des Kenterns geringer ist. Kommt kein norte mehr auf, legen sich die Sedimente am Grund der Lagune ab und die Strömungen lassen nach. So rasch wie der norte Garnelen und Fische, Fischer und Sedimente territorialisiert hat, so rasch geht dieser Moment vorüber. Die Territorialisierung, die der norte vornimmt, ist damit im ständigen Werden begriffen. Deleuze und Guattari bemerken hierzu: »Das territoriale Gefüge geht unaufhörlich in andere Gefüge über« (Deleuze / Guattari 1992: 443). Die Ikojts stehen damit vor der Herausforderung, sich immer wieder neu dem Ritornell des norte zu stellen. Ihre Beziehungen zum norte und der Lagune, und die Beziehung des norte zu ihnen, zur Lagune, den Sedimenten und den Fischen, erfordert von ihnen eine Praxis, die diesen Verflechtungen Rechnung trägt. *** Statt Wind lediglich im Prozess des Energie-Ressource-Werdens zu betrachten, habe ich das Augenmerk darauf gelegt, in welche mannigfaltigen Verflechtungen er eingebunden ist. Der norte konstituiert durch seine Verflechtungen Ressourcen mit, die ohne ihn nicht auf diese Weise zugänglich wären. Der expressiven Wirkung, die der norte auf das Ensemble aus Fischern, Sedimenten, Lagune, Fischen und Garnelen hat, müssen die Ikojts durch ihre Arbeit mit dem Wind begegnen. Mit dem norte zu arbeiten heißt, sich das Wissen um die in dieser spezifischen Weise verflochtenen Ressourcen zunutze zu machen und so den täglichen Bedarf an Fisch sicherzustellen. Ihr Wissen um die richtige Umgangsweise mit dem Ritornell des norte erlaubt den Ikojts, in der Lagune erfolgreich zu fischen und ertragreiche Fänge zu erzielen, eben mit dem Wind zu fischen und den norte so zum Teil ihrer sozionatürlichen Welt zu machen. Dazu trägt ebenso die Rolle bei, die der norte in den Erzählungen einnimmt. Ihre Konzeption des norte ist ein alternativer Entwurf dieser Entität, die sich durch ihre Eingebundenheit in ein spezifisches Geflecht von Beziehungen an der Lagune auszeichnet. Diese Eingebundenheit zeigt auf, was bei der Transformation von Wind in Windenergie unberücksichtigt bleibt. Denn die Ikojts erinnern damit daran, dass ein Energie-Werden des Winds am Isthmus nicht losgelöst davon zu denken ist, welche Rolle dieser als norte in solchen anderen Ressourcen-Verflechtungen spielt. Mit dem Wind zu arbeiten gestaltet sich bei der Hervorbringung von Windenergie gänzlich anders. Windenergie steht dabei insbesondere mit infrastruktu-

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rellen Interventionen in Zusammenhang. Wie sich dies im Fall des Parque San Dionisio realisieren soll, analysiere ich im folgenden Teil.

4.6 INFRASTRUKTUREN VON WINDENERGIE Ich fahre mit Marco Pérez in einer camioneta67 die sandige Piste am Landzugang zur Barra Santa Teresa bei Álvaro Obregón entlang. Im Rückspiegel ist die Barrikade zu sehen, die wir gerade passiert haben, und das aus roten Ziegeln errichtete dachlose Lagerhaus. Links und rechts von der schmalen Piste glitzert das Wasser der Lagune in der Sonne. Wir passieren eine Saline, vor der Berge weißen Salzes aufgetürmt sind. Kurz hinter der Saline hält Marco an. Marco ist Binnizá und Bauer aus Álvaro Obregón. Ich habe ihn bei einem Besuch an der Barrikade kennengelernt. Hier vorn, berichtet er und deutet auf eine kleine nordwärts gelegene Bucht, käme er nach der Feldarbeit oft zum Fischen her. Und dort, fügt er hinzu, soll die erste der 102 Windturbinen aufgestellt werden. Als wir weiterfahren kommen wir an niedrigen, vom Wind geformten Bäumen vorbei. Hier wäre dann die nächste, sagt Marco, und hier die nächste. Reiher stehen in den flachen Wassern der Lagune und picken nach Krebsen und Fischen. Die Piste schlängelt sich zwischen Sandverwehungen und Vegetation hindurch. Marco erzählt, dass es sogar Süßwasser auf der Barra geben würde, einige Fischer aus dem Dorf hätten einen Brunnen gegraben. Aber was wäre dann, fragt er, wenn die ganze Barra voll mit Turbinen wäre? Wie für Marco sind für die Ikojts insbesondere die technischen Installationen, die im Zuge des Windpark-Projekts vorgenommen werden sollen, Ziel ihrer Kritik. Um dies besser zu verstehen gilt es zu untersuchen, wie diese Installationen beschaffen sind und auf welche Weise sie in die Lagunenumwelt integriert werden sollen. Im folgenden Teil zeige ich daher, wie durch die infrastrukturelle Begegnung von Wind und Turbine aus Wind Energie wird. Wind wird dafür durch Windturbinen eingehegt, gleichzeitig bestimmt der Wind, wo die Turbinen aufgestellt werden. Dabei kommt es zu einer Verknappung von Wind, die durch das Gefüge von Wind, Infrastruktur und den Zugang zu Land bedingt ist, und bei der die Verfasstheit von Wind – seine volatile Existenz – eine entscheidende Rolle spielt.

67 Auto mit rückseitiger offener Ladefläche, Pickup

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Die Einhegung des Windes Wind unterscheidet sich von anderen Energiequellen dadurch, dass er sich seiner Einhegung widersetzt. Die Bewegungsqualität, die ihn ausmacht, verhindert, dass von ihm Besitz ergriffen wird: Unlike other so-called ›resources‹ – such as water, land, or oil – wind evades enclosure; it is nothing if it is not movement, and thus it is a force that is not easily made into a propertied thing. It is elementally loose: a force that can only ever be captured, never contained (Howe / Boyer 2015: 8).

Diese flüchtige Existenz macht Wind zu einer Entität, die dem Zugriff auf vielfältige Weise widersteht. Karen Bakker und Gavin Bridge benutzen einen Begriff, der für den Wind sehr zutreffend erscheint, den der »unkooperativen Ressource« (2006: 18). Unkooperative Ressourcen lassen sich nicht einfach so ansammeln, transportieren und kommodifizieren. Auch ist bereits der Zugang zu ihnen Beschränkungen unterworfen. Diese Beschränkungen können sowohl durch staatliche Regulierungen entstehen, als auch in der Materialität des Phänomens oder der Substanz selbst begründet liegen. Um trotzdem die Energie des Winds für ihre Zwecke nutzbar zu machen, haben Menschen Technologien entwickelt. Diese Technologien zielen darauf ab, die Bewegungsenergie der strömenden Luftmassen zu binden. Segel beispielsweise ermöglichen Booten und Schiffen, Windkraft für ihren Vortrieb zu verwenden. Während dabei die Objekte selbst bewegt werden, werden in fixierten Artefakten insbesondere Mechanismen bewegt. Windräder dienen dazu, Maschinen anzutreiben und so beispielsweise Körner zu mahlen oder Wasser aus der Erde zu pumpen. Nun wird allerdings die Energie des Windes selbst zum Ziel: »Das technische (und ökonomische) Ziel der Windkraftnutzung ist es, einen möglichst großen Anteil der im Wind enthaltenen Leistung aus diesem zu entziehen« (Kaltschmitt et al. 2013: 457). Für Wind gilt dies in besonderem Maße: Soll Wind Energie werden, steht man vor der Herausforderung, seiner volatilen Existenz Rechnung zu tragen. Wie aber kann dies gelingen? Wie kommt man an einen möglichst großen Anteil seiner Bewegungsenergie heran? Wie den Wind einhegen, einfangen, damit er zu erneuerbarer Energie werden kann? Um an die Bewegungsenergie des Windes zu gelangen, muss eine dem Wind adäquate Infrastruktur geschaffen werden. ›Infrastruktur‹ bezeichnet die spezifischen institutionellen, materiellen und sozialen Bedingungen, durch die das Funktionieren einer bestimmten Technologie ermöglicht und sichergestellt wird

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(Collier / Ong 2003: 423). Die Infrastruktur muss dem Wind dort begegnen, wo er seine Kraft entfaltet. Dies sind Windparks, in denen Generatoren, Maschinen, Rohre, Leitungen, Transformer- und Verteilungsstationen versammelt werden (Miller et al. 2013: 136). Indem sich diese Infrastruktur dem Wind anpasst und eine Begegnungsmöglichkeit schafft, stellt sie die für die Transformation von Wind in Energie nötige Verbindung her. Infrastruktur schafft damit die Bedingungen für das Funktionieren einer Technologie: Infrastructure inscribes the space and form of limited, finite, and localizable relationships and effects that occupy a certain space and that concretely link—or distinguish and divide—various objects, spaces, techniques, individuals, and social groups. An infrastructure allows these elements to come into communication but does not necessarily organize them in terms of a common structural or logical principle. Technologies and infrastructures shape spatial forms, but they also shape problems (Collier / Ong 2003: 423).

Nach den Ethnologen Stephen Collier und Aihwa Ong sind Infrastrukturen zum einen Verbindungen, über die Austausch generiert wird, und zugleich können sie trennende Eigenschaften haben. Infrastrukturen sorgen einerseits für Austausch und erlauben Transformationen, können andererseits jedoch auch Probleme hervorrufen, indem sie beispielsweise Auswirkungen haben, die über den Zweck für den sie errichtet wurden hinaus gehen. In der Infrastruktur des Windparks steht zunächst der transformative Effekt im Vordergrund: Am Anfang ist Wind, am Ende Strom da. Die derzeit zur Transformation der Bewegungsenergie von Wind in Strom verwendete Infrastruktur sind Windturbinen. Windturbinen sind »rotierende Windenergiekonverter« (Kaltschmitt et al. 2013: 460), die der »technische[n] Nutzbarmachung der in den bewegten Luftmassen enthaltenen Energie« (ebd.) dienen. Windturbinen widersetzen sich dem Wind, entziehen ihm dadurch Kraft und leiten sie zum Boden ab (Brittan 2001: 171). Der erste Kontaktpunkt zwischen Wind und Windturbine befindet sich am Rotorblatt (Abb. 4.7 a). Es formt mit (in der Regel) zwei weiteren Blättern den Rotor und steht am Anfang der Wirkkette einer Windenergieanlage (Kaltschmitt et al. 2013: 474). Der Rotor »wandelt die im Wind enthaltene kinetische Energie in eine rotatorische Drehbewegung« (ebd.) und »damit in eine mechanische Leistung an der Rotorwelle« (ebd. 453) um. Die durch den Wind erzeugte Rotation bewegt einen Triebstrang (b), mittels dessen ein daran angeschlossener Generator (c) die mechanische Energie der Drehbewegung in elektrische Energie transformiert (ebd. 488).

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Der Rotor ist an einem Turm (d) angebracht. Ziel hierbei ist es, dem Wind auf halbem Weg entgegenzukommen, ihn also dort anzutreffen, wo er am stärksten weht. Dies ist der Fall in einer Höhe von etwa 100 Metern (Huenges et al.

a

c

b

d

e

g f Abb. 4.7 Aufbau einer Windenergieanlage 2013: 52). Im Turm sind außerdem die Kabel für die Stromübertragung und eine Steigleiter oder ein Aufzug untergebracht (e) (Kaltschmitt et al. 2013: 496). Der Turm steht in einem Fundament (f), das ihn im Boden verankert. Die Größe des Fundaments hängt von den zu erwartenden Belastungen durch Wind und Wetterphänomene, der Anlagengröße und den lokalen Bodenverhältnissen ab (ebd.

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498). Für die Installation von Windturbinen wird eine Baugrube ausgehoben, in die auf einen Ankerkäfig aus Metall ein Betonfundament gegossen wird (ebd.). Ist der Untergrund weniger tragfähig, werden zusätzlich Pfähle in den Boden gerammt, die dem Fundament mehr Halt geben sollen (ebd.). Die Windturbinen werden untereinander verkabelt und bilden zusammen einen Windpark. Größere Windparks im mehrfachen Megawattbereich besitzen ein eigenes Umspannwerk (g), von dem der erzeugte Strom in das Hochspannungsnetz eingespeist wird (ebd. 502). Diese Form der kontrollierten Begegnung von Wind und Windturbinen erlaubt, die Energie der bewegten Luftmassen zu transformieren. Indem die Windturbinen eine technische Verbindung zu Wind herstellen, sich ihm also widersetzen und er durch sie an den Boden gebunden wird, erreichen sie seine Einhegung: Wind wird territorialisiert; wie bereits in der Territorialisierung der Garnelen und Fische durch den Wind, entstehen Verbindungen von Entitäten, die neue Fähigkeiten ermöglichen. Die Windturbinen arbeiten damit ebenfalls mit Wind, jedoch in anderer Weise als im Fischfang. Sie sind infrastrukturelle Mittel, derer sich bedient wird, um auf die im Wind enthaltene Bewegungsenergie zuzugreifen. Auch die Ikojts ziehen für die Einhegung und Umwandlung von Wind eine Parallele. Den Fang der Garnelen mit Wurfnetz oder copo bezeichnen sie als »cosecha«68. Eine solche cosecha findet nun auch statt, wenn der Wind territorialisiert wird. Mateo erklärt: ¿El viento? [ajá]. Pues, anteriormente pues no… no lo cosechan el viento, pues. Así como, como antes, no lo cosechan el viento. Ahorita pues ya hubo ese ventilador, pues la cosechan el viento. Antes… no, no hay ése [uhum]. No ha ese ventilador de que digamos, pues eso, se, ése, aerogeneradores. No había, no cosechan nada. Ahorita no, empezó a llegar por aquí esos aerogeneradores, ahorita ya cosechan el aire (Interview Mateo 29.11.2014).69

68 Ernte 69 »Der Wind? [Ja]. Also, früher nicht… früher haben sie den Wind nicht geerntet, so. So wie, wie früher, sie haben die Wind nicht geerntet. Jetzt also gibt es schon diese Ventilatoren, also jetzt ernten sie den Wind. Früher… hat es das nicht gegeben [uhum]. Es hat diesen Ventilator, sagen wir, diesen, diese Windgeneratoren nicht gegeben. Es gab sie nicht, sie haben nichts geerntet. Jetzt nicht, sie begannen hierher zu kommen mit ihren Windgeneratoren, jetzt ernten sie schon den Wind.«

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So wie die Ikojts mit ihren Netzen Garnelen ernten, wird aus ihrer Sicht nun Wind mit den Windturbinen geerntet. ›Ernten‹ bezieht sich dabei auf das Festsetzen von etwas durch ein technisches Artefakt. Für die Garnelen und Fische leisten dies Netze, während für die Einhegung von Wind Windturbinen erforderlich sind. Die Bindung von Wind an das Land ist dabei kein einseitiger Vorgang. Zur selben Zeit besteht eine reziproke Bewegung, bei der der Wind die Windturbinen territorialisiert. Der Wind territorialisiert die Windturbinen Der Wind territorialisiert die Windturbinen dadurch, dass er in bestimmten Bereichen besonders stark auftritt. Die Bereiche unterscheiden sich dabei darin, auf welche Weise infrastrukturelle Begegnung von Wind und Windturbinen möglich ist. Windturbinen können nicht überall aufgestellt werden, und bestimmte Standorte bieten bessere Bedingungen für die Installation und den anschließenden Betrieb. Für Windturbinen an Land sind die Umweltgegebenheiten entscheidend: Apart from differences in elevation in the terrain, the topographical environment of a wind turbine is characterised by the »roughness« of the earth’s surface and by the presence of »obstacles«. The roughness of the earth’s surface is brought about by evenly or randomly distributed surface characteristics, primarily by the type of vegetation (forests, meadows etc.) or by the differences caused by land and water (Hau 2006: 471).

Insbesondere die Topographie ist ausschlaggebend dafür, wie stark der Wind seine Kraft zur Entfaltung bringen kann. Denn nicht nur Windturbinen, auch Erhöhungen im Gelände, Bauwerke und Vegetation können sich dem Wind widersetzen. Gibt es Hindernisse, wird er eher abgebremst, während die Absenz von Hindernissen ihm die Möglichkeit bietet, seine volle Kraft zu entfalten und hohe Geschwindigkeiten zu erreichen. Hindernisfreiheit ist damit ein entscheidender Aspekt für die Wahl des Standorts von Windturbinen (Hau 2006: 452), auch »Micrositing« genannt (Kaltschmitt et al. 2013: 512). Beim Micrositing soll erreicht werden, die potentiellen Energieerträge jeder einzelnen Anlage zu maximieren (ebd.). In der Lagune am Isthmus kommen mehrere dieser Aspekte zusammen. Durch die barrierefreien Wasserflächen ist es dem Wind möglich, nochmals an Intensität zuzunehmen, bevor er auf die Barra Santa Teresa trifft. Damit ist die

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Landzunge aus Sicht des Micrositing der vielversprechendste Standort für einen Windpark. Die Barra Santa Teresa ist eine von Mangroven umgebene Sandbank. Sie trennt das Mar Tileme von der Laguna Superior. Ihr geringer Durchmesser von knapp 500 Metern an der breitesten Stelle gepaart mit der sandigen Beschaffenheit des Bodens erlaubt zwar nur eine Reihe an Windturbinen. Die Barra bietet jedoch die einzigartige Möglichkeit, die volle Intensität des Windes anzutreffen, ohne sich jedoch tatsächlich ›off shore‹ zu befinden. Sie bildet die Basis, um einen einzigartigen Windpark zu errichten, der der volatilen Existenz des Windes auf größtmögliche Weise entgegenkommt. In den Plänen von Mareña Renovables gestaltet sich die Anordnung der Windturbinen wie in Abbildung 4.8 und 4.9 zu sehen. Es handelt sich um eine dichte Positionierung in einer Reihe fast entlang der ganzen Barra, sowie weiteren an der Landzunge bei Santa María. Der Wind kann ungehindert über die Lagune hinwegfegen und dann mit ganzer Kraft auf die Turbinen an der Barra treffen. Dort können die Turbinen die ihm eigene Bewegungsenergie umwandeln, wodurch der Wind zu Windenergie wird. Die dichte Positionierung der Windturbinen hat das Ziel, so viel Bewegungsenergie des Winds wie möglich zu transformieren. Je mehr Turbinen dem Wind dort begegnen, wo er am stärksten weht, desto mehr Energie wird erzeugt. Für den Windpark an der Barra Santa Teresa zeigt sich das anhand zweier Aspekte. Erstens kann der Wind durch die hindernisfreie Wasserfläche der Lagune seine größte Geschwindigkeit erreichen. Zweitens ist eine Installation der Windturbinen auf dem schmalen Landstreifen der Barra technisch einfacher (und damit kostengünstiger), weil diese Topographie praktisch bereits die Basis für die Windturbinen bereithält. Auf diese Weise ist Wind gemeinsam mit der Barra maßgeblich an der Lokalisierung des Windparks beteiligt. Zur selben Zeit jedoch handelt es sich bei der Barra um ein fragiles Ökosystem aus Mangroven und nährstoffreichen Sedimenten, in dem Garnelenlarven heranwachsen und Fische ihre Eier ablegen. Für die Ikojts ist dieser Aspekt der Barra Santa Teresa von großer Wichtigkeit. Sie fischen in den dortigen kleinen Buchten und nutzen die Barra beispielsweise als Ausgangspunkt für Fangfahrten oder Ruhepausen. Pablo erklärt dazu:

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Abb. 4.8 Windturbinen auf der Barra Santa Teresa (Modell)

Abb. 4.9 Positionierung der Turbinen auf der Barra Santa Teresa und bei Santa María

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Y empiezo a ubicar, la Barra Santa Teresa, y empiezo a ver ya, ahora sí la afectación, antes de, pensar en la afectación ecológica, en la afectación de la alimentación de la gente. Porque esa barra, pues es donde, eh, la mayoría de los pescadores, eh, descansan. Y aterrizan su pesca, tanto de la, de la laguna superior, como de la inferior (Interview Pablo 09.01.2015).70

An dem geplanten Windpark auf der Barra Santa Teresa und dem daraus entstehenden Konflikt zwischen den Ikojts und Mareña Renovables zeigt sich daher, dass Fragen von Windenergie trotz des ständig erneuerten Winds auch Landfragen sind. Die Knappheit von Land und die Knappheit von Wind Wind ist unendlich im Wortsinn. Weder hat er einen Anfang, noch ein Ende. Sein Wehen, durch die Sonneneinwirkung auf die Erde stetig erneuert, lässt ihn damit als eine unerschöpfliche natürliche Ressource erscheinen und so prädestiniert für eine Nutzung als erneuerbare Energie. Jedoch übersieht eine solche Objektivierung von Natur als Ressource, sowie im weiteren Prozess als Ware, dass derartige ›natürliche‹ Phänomene oder Substanzen eigenen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind (Castree 2003: 273). Denn auf natürlichen Phänomenen basierende ›Waren‹ zeichnen sich insbesondere durch die Verflechtungen mit anderen Entitäten aus und besitzen jeweils entscheidende qualitative Differenzen, sodass eine einfache Klassifizierung als Natur nicht ausreicht, um sie zu zählen und abtransportieren zu können (ebd. 275). Stattdessen ist es die spezifische Materialität der natürlichen Phänomene oder Substanzen selbst, die bei ihrem Zur-Ware-Werden wirksam wird (ebd. 277). Beispielsweise kann der Zugang zu Ressourcen erneuerbarer Energien sowohl von den landschaftlichen Gegebenheiten verweigert werden, als auch durch die Phänomene und Substanzen selbst, indem sie sich einer Erschließung entziehen. Statt daher die Phänomene als natürliche Ressourcen zu objektivieren und damit lediglich unter ihrem ökonomischen Aspekt zu sehen, müssen sie in ihren sozionatürlichen Beziehungen betrachtet werden (vgl. auch ebd. 282). Dem folgend weist der Wind am

70 »Und ich begann, die Lage der Barra Santa Teresa in den Blick zu nehmen, und begann zu sehen, jetzt die Auswirkungen, bevor man an die ökologischen Auswirkungen denkt, an die Auswirkungen der Versorgung der Leute zu denken. Weil diese Barra, also dort ist, eh, die Mehrheit der Fischer, eh, sich ausruht. Und ihren Fang anlandet, genauso die von, von der Laguna Superior, wie die von der Inferior.«

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Isthmus Aspekte dessen auf, was mit dem Begriff der »stranded resource[s]« (Chapman 2013: 101) beschrieben wird. Daran anknüpfend beschäftigt sich der letzte Teil dieses Kapitels mit der Frage, wie ein Phänomen, das wie der Wind stetig erneuert wird, knapp werden kann. Dafür gilt es, zunächst zu klären in welcher Weise der Wind gestrandet ist. Der Begriff der »stranded resource« verweist auf die Eingebundenheit von Energieressourcen in die sie hervorbringenden Verflechtungen. Er trifft auf Ressourcen zu, die zu Energie werden könnten, aber geologisch, geographisch oder politisch nicht zugänglich sind (ebd.). Für diese Zugangsverweigerung spielen zum einen polit-ökonomische Prozesse und Machtverhältnisse eine Rolle. Ein jedoch ebenso wichtiger Aspekt sind infrastrukturelle Zugänge, sowie die Eingebundenheit der Phänomenen oder Substanzen selbst, auf denen die Ressourcen von erneuerbarer Energien basieren (ebd. 102-103). Seit der Erschließung von Wind als Energieressource nehmen die WindRessourcen am Isthmus zunächst einmal zu. Dies geschieht nicht dadurch, dass es plötzlich mehr Wind gibt, sondern durch die verbesserten Technologien und die Entwicklungen im Energiesektor. Mit effizienteren Anlagen ist es nun möglich, mehr und günstigere Windenergie zu erzeugen. Windenergie am Isthmus wird damit wirtschaftlicher. Zugleich erlauben es die politischen Entwicklungen in Mexiko nun, den Ausbau von Windenergie voranzubringen. 71 Der immer besser als Windenergie nutzbare Wind lässt somit zunächst nicht an eine mögliche Knappheit am Isthmus denken, zudem Wind als erneuerbare Ressource nicht in dem Sinne wie beispielsweise Öl ›verbraucht‹ wird. Jedoch ist in ebendieser Konzeption von Wind seine konsequente Verknappung bereits enthalten.

71 Der Geograph Gavin Bridge behauptet, dass heute die paradoxe Situation besteht, dass obwohl mehr und mehr Ressourcen benötigt werden, sie nicht knapper werden (2009: 1228). Er erklärt sogar, dass die Verfügbarkeit von Ressourcen zugenommen hat, indem die »resource frontier« durch Exploration und Entdeckung ›neuer‹ Ressourcen einfach verschoben, die bekannten Reserven stetig erweitert und damit einer drohenden Knappheit entgegengewirkt wurde (ebd. 1230). Bridge verdeutlicht dies anhand der Suche nach neuen Ölquellen und legt dar, wie diese Suche beispielsweise in der Zeit von 1930 bis 1960 zur Entdeckung gigantischer Ölfelder wie beispielsweise Ghawar in Saudi Arabien und Burgan in Kuwait geführt hat und damit die bekannten Reserven massiv aufgestockt wurden (ebd.). Dieser Trend setzte sich noch bis in die 1950er Jahre fort, als für jedes Barrel Öl, das verbraucht wurde, sieben neue Barrel gefunden wurden (ebd.).

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Die lokalspezifische Knappheit von Wind entsteht durch die Verschränkung seiner Materialität und den infrastrukturellen Erfordernissen, die mit dem Ziel ihn in Windenergie zu transformieren, angestrengt werden. Möchte man ihn als Energie nutzen, zeigt er sich widerspenstig. Um ihm beizukommen, muss er über einen Umweg erschlossen werden: über das Land, über dem er vorkommt; denn auch wenn Wind über einem bestimmtem Gebiet vorkommt, lagert er sich dort nicht an. Windressourcen können nicht gesammelt und abtransportiert werden wie Kohle oder Öl, sondern sind nur in ihrer Verbindung mit weiteren Entitäten erschließbar. Um zur Ressource für erneuerbare Energie zu werden, muss Wind »infrastrukturiert« (Ballestero 2019) werden: er muss mittels technischer Artefakte erschlossen, an den Grund gebunden und seine Bewegungsenergie in elektrische Energie transformiert werden. Wie sich am Beispiel der Barra Santa Teresa zeigt, ist damit die Windressource nicht trennbar von dem Land (und auch dem Wasser), über dem der Wind weht. Statt also tatsächlich unendlich im Wortsinn zu sein, ist Wind als Energieressource lediglich »virtuell unendlich«72, denn als solche ist der Wind am Isthmus gestrandet. Die reziproke Territorialisierung von Wind und Windturbinen auf der Barra Santa Teresa zeigt somit, dass der virtuell unendliche Wind dann knapp ist, wenn er Energieressource werden soll. In diesem Sinne ist Wind selbst ist zwar nicht knapp, wohl aber der Zugang zu Land, der Voraussetzung für seine Transformation in Windenergie ist. Der Wind am Isthmus wird so zu einem exklusiven Wind – ›rar‹ –, der nur durch infrastrukturelle Einhegung an Land zu Windenergie werden kann. Land auf der Barra Santa Teresa jedoch ist endlich, selbst für den in seiner Konzeptualisierung als Ressource erneuerbarer Energie unendlich vorhandenen Wind. Wind wird damit, obwohl er ständig wieder entsteht, zum knappen Gut am Isthmus.

4.7 ÜBER WINDENERGIE HINAUS Die Perspektive der Ikojts auf Wind betont die Relationalität von erneuerbaren Energien zu Entitäten und Praktiken in dem kulturspezifischen Gefüge, in dem sie hervorgebracht werden. In den Verflechtungen des Winds am Isthmus zeigt sich, dass es für seine Energie-Werdung nicht ausreicht, die geeignete infrastrukturelle Einhegung zu finden, dass Wind nicht einfach nur vorgefunden und in Energie transformiert werden kann. Damit aus dem spezifischen Wind Wind-

72 »virtually limitless« (Chapman 2013: 103)

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energie wird, muss er sowohl geeignete Voraussetzungen mitbringen, als auch in legislativen, politischen, ökonomischen und infrastrukturellen Prozessen durch neue Verbindungen neue Fähigkeiten entwickeln. Bei seiner Energie-Werdung müssen entsprechend Aspekte berücksichtigt werden, die über ein Verständnis des Winds als reines Naturphänomen hinausgehen und Windenergie in einem komplexen Gefüge von Infrastrukturen, Orten, Naturen und Beziehungen verorten. Denn das Beziehungsgeflecht, in das Wind eingebunden ist, zeigt eben auch, dass er neben seinem Werden zu Windenergie bei den Ikojts als norte in den Austauschbeziehungen von zahlreichen heterogenen Entitäten und Prozessen, Luftmassen ebenso wie Fischen und Garnelen, die in der Lagune mit ihm schwimmen, sowie Erzählungen und Praktiken der Fischer emergiert. In der sozionatürlichen Welt der Ikojts nimmt der norte damit eine herausragende Position ein. Ihre dynamische Nutzungsweise des norte setzt seiner EnergieWerdung eine auf ein sozionatürliches Beziehungsgeflecht heterogener Entitäten abgestimmte Praxis entgegen, die einen ganz anderen Wind entwirft: keine gestrandete Ressource, sondern unendlich im Fischfang; entgegen einer Reduktion auf einen ›natürlichen‹ Lieferanten von erneuerbarer Energie, zeichnet sich der norte für die Ikojts dadurch aus, dass er durch seine spezifische Existenz eine Vielzahl an Beziehungen erst hervorbringt. Am Beispiel der Windenergie am Isthmus zeigen sich damit erneuerbare Energien als Gefüge von Phänomenen, Akteuren und Prozessen, die auf mannigfaltige Weise miteinander verflochten sind. In den Vordergrund treten dabei die Phänomene und Substanzen selbst, mit ihren spezifischen Fähigkeiten, die sie aus dem Zusammenwirken mit weiteren Entitäten im energy assemblage hervorbringen. Dabei zeigt sich auch, dass die Phänomene, auf denen die erneuerbaren Energien am Isthmus basieren, für die indigenen Gruppen in konkurrierende ontologische Zusammenhänge eingebettet sind. Für erneuerbare Energien ergibt sich so eine andere Karte als die ihrer in der Landschaft verteilten Potentiale. Statt als passive natürliche Phänomene auf ihre Entdeckung harrend, sind sie komplexe, mehr-als-natürliche Phänomene, die in vielgestaltige Beziehungsgeflechte integriert sind. Statt auf ihren Abbau wartend, zeichnen sie sich durch ontologische Gleichzeitigkeit in verschiedenen Projekten aus. Statt unendlich vorhanden zu sein, ist ihre Erschließung an weitere Entitäten im Gefüge geknüpft. Zum besseren Verständnis von erneuerbaren Energien ist es daher unumgänglich, die Phänomene und Substanzen, auf denen sie basieren, und davon ausgehend weitere Beziehungsgeflechte, wie deren Eingebundenheit in infrastrukturelle und politische Prozesse zu berücksichtigen. Nicht allein spielen die

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Nutzungspraktiken von Energie und deren kulturelle und politische Bedeutung eine Rolle, sondern insbesondere die Phänomene und Substanzen selbst und in ihren Verflechtungen mit sozialen und natürlichen Entitäten. Der Wind am Isthmus legt diese Verwobenheit von erneuerbaren Energien mit anderen sozialen und natürlichen Bereichen offen. In diesem Gefüge der Windenergie am Isthmus sticht aus Sicht der Ikojts die infrastrukturelle Einhegung des Winds auf der Barra Santa Teresa heraus. Bei dieser zeichnet sich ein Aspekt erneuerbarer Energien ab, der entgegen einer Konzeptualisierung von diesen als ›grüne Ressource‹ steht. Denn auch Infrastrukturen von erneuerbaren Energien verändern die Nutzungsweisen der Umwelt und mit großer Wahrscheinlichkeit kehren die zuvor bestandenen Nutzungsweisen nie mehr wieder (Smil 2008: 313). Infrastrukturen erneuerbarer Energien besitzen auf diese Weise einen ausschließenden Effekt, den ich im folgenden Kapitel untersuchen möchte.

5. Windenergie, Kontamination und die sozionatürliche Welt der Ikojts

Windenergie zählt zu den erneuerbaren und damit ›grünen‹ und ›sauberen‹ Energien. Sie wird jedoch nicht überall auf die gleiche Weise gesehen und ist auch hierzulande vermehrt Kritik ausgesetzt. Hiesige Debatten setzen beispielsweise ästhetische, auf die Landschaft bezogene Einwände,73 Gefahren für Vogelpopulationen oder, bei Windparks zu Wasser, für die maritime Fauna wie Schweinswale auseinander.74 Dagegen erheben die Ikojts gegen Windenergie am Isthmus von Tehuantepec einen anderen Einwand. Für sie spielen keineswegs ästhetische Überlegungen eine Rolle. Ihre Perspektiven auf den Windpark sind daher nicht genügend erfasst, wenn man den Konflikt als einen Ressourcenkonflikt verhandelt, der ihre ablehnende Einstellung gegenüber Windenergie begründet. Vielmehr sehen sie in Windenergie eine Bedrohung ihrer Subsistenz und Lebensweise. Um diese Perspektive besser zu verstehen gilt es nachzuvollziehen, an welchen Punkten es zu den Reibungen um Windenergie kommt. Im Fall der Ikojts betreffen sie die Praxis des Fischfangs und ihre Beziehungen zur Lagunenlandschaft, die sie durch den Parque San Dionisio bedroht sehen. Daran anknüpfend arbeite ich im folgenden Kapitel das komplexe Zusammenspiel von Handlungen und Einstellungen der Ikojts in Bezug auf Windenergie heraus. Dafür analysiere ich, in welcher Weise der Windpark aus Sicht der Ikojts unvereinbar wird mit Aspekten ihrer sozionatürlichen Welt. Hier lege ich den Fokus auf die Veränderungen, welche die Windpark-Infrastruktur in dem Gefüge der sozialen und natürlichen Entitäten für die Ikojts erzeugen würde.

73 Zur Diskussion von Windenergie und Landschaftsästhetik vgl. Schöbel (2012). 74 Zu Auswirkungen von Offshore-Windparks auf Meeressäuger, Fische und Vögel vgl. Köller et al. (2006).

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Das, was die Ikojts als die »contaminación«75 des Windparks beschreiben, erfasse ich jenseits möglicher materieller Verunreinigungen, und nehme vielmehr ausgehend von der Windpark-Infrastruktur in den Blick, welche Beziehungsgeflechte aus Sicht der Ikojts von dem Windpark betroffen wären. Es geht darum, besser zu verstehen, wie sich diese Beziehungsgeflechte für die Ikojts qualitativ verändern würden, wenn der Parque San Dionisio auf der Barra Santa Teresa gebaut werden würde. Während damit im vorangegangenen Kapitel die Analyse des Umgangs mit Natur dazu gedient hat, Windenergie und ihre Verwobenheit mit anderen sozialen und natürlichen Bereichen zu eruieren, dient Windenergie in diesem Kapitel dazu, den kulturspezifischen Umgang mit und die KoKonstitution von Natur und Gesellschaft besser zu verstehen.

5.1 TURBINEN-REIBUNGEN Windturbinen sind die sichtbarsten Zeichen dafür, dass an bestimmten Orten aus Wind Energie gemacht wird. Je nach Perspektive machen Windturbinen dabei etwas anderes aus. Edith Ávila, Leiterin der Abteilung Regierungsbeziehungen von Mareña Renovables, beschreibt den Charakter der Windturbinen des Parque San Dionisio folgendermaßen: [E]stos aerogeneradores, son de una capacidad superior a la mayoría de los parques que están instalados en la zona de la Venta y la Ventosa de Oaxaca. Son turbinas de capacidad de tres megas, la altura que van a tener los aerogeneradores, es también más alta que los que hay en la zona, en algunos de los parques de la zona de la Venta y la Ventosa. Que además son parques de la primera generación de instalaciones eólicas en el Istmo, son torres de ochenta metros y… las, las aspas de los aerogeneradores tienen una extensión de 45 metros. A diferencia también de otros parques, ubicados en el Istmo, en este parque los aerogeneradores van a estar conectados de manera lineal. Eso significa uno detrás de otro, de manera consecutiva, pero guardando una distancia suficiente, como para que la vida de las comunidades no se vea alterada por la instalación del par, de los aerogeneradores. Va a haber una distancia de 200 metros entre uno y otro. Y eso va a permitir que la gente que

75 Wörtlich: Kontamination

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acostumbra a transitar sobre la Barra Santa Teresa pueda hacerlo, como lo hacía anteriormente (Interview Edith Januar 2014).76

In der Klassifikation von Edith sind die Windturbinen zunächst eine technische Angelegenheit, die eine bestimmte Größe haben und eine bestimmte Menge an Strom erzeugen können. Sie haben darüber hinaus eine lokale Geschichte, die zeigt, dass sie am Isthmus mit der Zeit größer werden. An ihrer Geschichte ist ersichtlich, dass sie nicht immer auf die gleiche Weise aufgestellt werden, was damit zu tun hat, dass die in der Nähe lebenden BewohnerInnen berücksichtigt werden müssen. In ihrer Beschreibung äußert die Mitarbeiterin von Mareña Renovables zwar auf unbestimmte Weise die Vermutung, dass Windturbinen etwas verändern, dort, wo sie aufgestellt werden. Jedoch stellt die Veränderung keinen derartigen Einschnitt dar, als dass man sich nicht daran gewöhnen könne. Wenn man nur einige Male daran vorbeigekommen sei, zum Beispiel zum Fischen, würde man feststellen, dass es mit dem Windpark auf der Barra Santa Teresa gar nicht so anders sei. Es ändere sich so gesehen eigentlich nichts, wenn der Windpark in die Lagune gebaut würde. Die Ikojts jedoch sehen den Windpark auf ganz andere Weise. Sie äußern ihre Besorgnis um die Lagune, ihre Erfahrungen mit dem WindparkUnternehmen und ihren Ärger über die involvierten PolitikerInnen. Sie bringen ihre Befürchtungen mit den Worten auf den Punkt: »Modifican todo«77; entgegen

76 »Die Windturbinen haben eine höhere Kapazität als die der meisten anderen Parks, die in der Zone von La Venta und La Ventosa in Oaxaca installiert sind. Es sind Turbinen mit einer Kapazität von drei Megas [Megawatt], die Höhe, die die Windturbinen haben werden, ist ebenfalls höher als die, die es in der Zone gibt, mit Ausnahme von einigen wenigen Parks in der Zone von La Venta und La Ventosa. Die sind darüber hinaus Parks der ersten Generation von Windenergie-Installationen am Isthmus, es sind Türme von 80 Metern und… die, die Rotorblätter der Windturbinen haben eine Extension von 45 Metern. Auch im Unterschied zu anderen Parks, die sich am Isthmus befinden, werden bei diesem Park [dem Parque San Dionisio] die Windturbinen in einer Linie verbunden. Dies bedeutet, einer nach dem anderen, auf konsekutive Weise, aber dabei eine ausreichende Distanz wahrend, damit das Leben der Gemeinden nicht durch die Installation des Par, durch die Windturbinen verändert wird. Es wird jeweils einen Abstand von 200 Metern zwischen dem Einen und dem Folgenden geben. Und das wird erlauben, dass die Leute sich daran gewöhnen, auf der Barra Santa Teresa zu verkehren, so wie sie es zuvor gemacht haben.« 77 »Sie ändern alles«, bezogen auf die Windturbinen auf der Barra Santa Teresa.

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der Annahme von Mareña Renovables bringt der Park eine tiefgreifende Veränderung mit sich. Mateo Robles wird dabei ganz konkret. Er erklärt, dass der Windpark den Fischfang in der Lagune beenden wird: »Con los ventiladores, se acaba el pescador«78 (Interview Mateo 29.11.2014). Für Mateo ist sehr klar, wie es dazu kommen wird. Zunächst benennt er offensichtliche Interventionen, die mit den Windturbinen zu tun haben. Damit die Rotoren rund laufen, werden sie mit Öl geschmiert. In den bereits angelegten benachbarten Windparks indizieren die Ikojts dieses Schmieröl, das an den metallweißen Rotoren und Torsi herunterläuft. Mateo benennt dies so: En el momento en que tú quieras… eh… cambiar la situación, por ejemplo eso, van a producir, energía a través del aire, dicen no contamina. Pues no necesito ser un, gran experto pa saber si contamina o no. Si vamos por La Venta. No sé si has ido y ves los ventiladores que el, chorredero de, aceite que está haciendo. Yo pregunto, ese aceite, ¿no contamina? Contamina, ¿no? Y mucho… Quiero pensar (ebd.).79

Selbst wenn es nur wenig Öl von jedem Rotor wäre, wäre es bei so vielen Turbinen eine Menge, sagt Mateo. Er beschreibt weiter, dass es nicht nur zusammen mit aufgewirbeltem Staub daran kleben bleibt, sondern herabtropft und in den Boden einsickert. Diese Eindrücke sind durch den Austausch von Erfahrungen der Ikojts mit den Binnizá beispielsweise aus La Venta und La Ventosa entstanden. Im Falle der bei den Binnizá aufgestellten Turbinen betrifft das Schmieröl vielerorts Felder, auf denen Mais und Kürbis, Wassermelonen und Hirse sowie Sesam angebaut wird. Auf der Barra Santa Teresa jedoch sei es die Lagune, in die das Öl laufen würde: Ahora, si se va a parar allá, en el mar… el aceite igual lo va a tirar. Y yo considero, quiero pensar, que ese ventilador para trabajar, trabaja con aceite, por

78 »Mit den Ventilatoren hört der Fischer auf zu sein.« 79 »In dem Moment, wenn du… eh… die Situation ändern möchtest, zum Beispiel so, sie wollen Energie mit dem Wind produzieren, und sagen, das kontaminiert nicht. Aber du brauchst kein großer Experte sein, um zu wissen, ob das kontaminiert oder nicht. Wenn wir nach La Venta gehen. Ich weiß nicht, ob du dort warst und die Ventilatoren gesehen hast, die einen Batzen von Öl herablaufen lassen. Ich frage, dieses Öl kontaminiert nicht? Kontaminiert nicht? Aber sicher, denke ich.«

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eso tira. ¿Y todo su, desecho de aceite que… que hace ése… ventilador dónde va, pues? Al mar, pues (ebd.).80

Das Schmieröl in der Lagune, so die Ikojts, würde Tiere und Pflanzen schädigen, die davon krank werden und sterben würden. An einem Nachmittag bin ich zum Interview mit Alejandro Pineda verabredet. Alejandro wohnt am Rand San Dionisios im Nordwesten nahe der Lagune. Sein Haus ist groß, im Gegensatz zu vielen anderen Häusern im Dorf ist es jedoch aus Lehmziegeln erbaut. Alejandro zieht diese Bauweise der aus Beton vor, weil diese Häuser sich nicht so stark erhitzen. Als ich ihn aufsuche, ist er nicht da. Seine Tochter berichtet mir, dass er noch beim Fischen sei. Ich beschließe ihm entgegenzugehen und bin noch nicht weit gekommen, als er mir auf dem Fußweg zur Lagune entgegenkommt. Er hat einen Korb umgehängt, in dem sich ein atarraya und Garnelen befinden, die er gefangen hat. Wir begrüßen uns und gehen gemeinsam zurück. Ich erkundige mich, ob er mit dem Fang zufrieden ist. Es reiche für das Essen, sagt er. Alejandro ist Bauer und atarraya-Fischer. Was ihn vor allem an dem Windpark stört ist, dass die vielen Windturbinen sich auf die Fische auswirken würden. Ich frage ihn, wie diese Auswirkungen aussehen würden. Er beschreibt, dass an den Windturbinen nachts rote Signalleuchten blinken. Immer wenn er des Nachts beim Fischen ist, könne er das bei den Windparks im Norden sehen. Tagsüber komme es zu Reflexionen des Sonnenlichts in den Rotorblättern. Er erwartet, dass diese Illuminationen die Fische und Garnelen irritieren. Die Ikojts wissen aus ihrer Erfahrung mit dem atarraya-Fischfang, dass bereits kleine Reflexionen des Sonnenlichts den Tieren Gefahr signalisieren, woraufhin diese fliehen. Alejandro Pineda beschreibt es so: »Sí, tienen, le, tiene miedo a la luz, el pescado. Y por eso, ponen esos ventiladores, híjole, así va a estar la luz«81 (Interview Alejandro 28.01.2015). Schließlich erzeugt die Bewegung der Rotorblätter einen sirrenden Sound und dazu Vibrationen, die an die Basen weitergeben werden. Auch diese beiden Phänomene, sagt Alejandro, vertreiben die Fische.

80 »Jetzt, wenn es dorthin geht, in die Lagune… das Öl wird in jedem Fall herunterlaufen. Und ich glaube, denke ich, dass dieser Ventilator, um zu arbeiten, er arbeitet mit Öl, deshalb läuft es herunter. Und all dieser Abfall von Öl, was… was macht dieser… Ventilator, wohin wird das gehen? In die Lagune natürlich.« 81 »Ja, sie haben, ihnen, sie haben Angst vor dem Licht, die Fische. Und deshalb, wenn sie die Ventilatoren aufstellen, Alter, was das für ein Licht sein wird.«

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Mateo und Alejandro benennen Aspekte von Windenergie, die auf den ersten Blick nicht offensichtlich sind. Keineswegs stören sie oder andere Ikojts sich an der in hiesigen Debatten oft in Feld geführte »Verspargelung« einer »Landschaft« (Krauß 2008: 453). Vielmehr ist es die Interaktion von Materie – Substanzen, Sound, Licht und Vibrationen – mit der Lagunenumwelt, die im Zentrum der Kritik am Windpark liegt. An dieser Stelle könnte die Analyse abbrechen und benennen, dass es klar ist, worin die Kontamination des Windparks für die Ikojts besteht. Es könnte erklärt werden, dass Windenergie doch nicht so sauber ist, zumindest wenn die technischen Komponenten nicht ordentlich gewartet oder eingestellt werden, und dass die Befürchtungen der Ikojts sich eben genau darauf beziehen. Was aber wäre, wenn die Befürchtungen der Ikojts weiter reichen als lediglich Schmieröl am falschen Ort (vgl. Douglas 1966: 36)? Um dies zu beantworten gilt es zu verstehen, welcher Art die Veränderungen sind, die die contaminación des Windparks beinhaltet. Was wird für die Ikojts durch den Windpark verändert? Wie stellt sich die Kontamination zwischen dem Windpark und dem Fischfang und der Lagune der Ikojts dar? In einem Gespräch mit Mateo hake ich nach. Ob nicht die Bedenken der Ikojts ausgeräumt werden können, wenn darauf geachtet wird, dass die Lagune keinen Schaden nimmt. Mateo hört aufmerksam zu. Er antwortet, dass meine Überlegungen gut klängen, aber ich den Kern des Problems damit nicht erfassen würde. Die Kontamination der Windenergie würde bleiben. Anna Tsing benutzt »contamination« um darzulegen wie sich Ökosysteme wandeln. Sie entwirft den Begriff der »contaminated diversity« (Tsing 2012), nach dem es bei jeglicher Begegnung von Entitäten zu Kontamination kommt. Jede Begegnung verändert in dieser Perspektive die Entitäten, weil sie stets Austauschprozesse nach sich zieht. Jeder Austausch zwischen Entitäten kontaminiert und was dabei entsteht ist Diversität. Indem der Windpark Beziehungen zwischen Wind und Generatoren herstellt, schafft er die Möglichkeit, auf der Barra Santa Teresa erneuerbare Energie zu produzieren, eine Option, die es so vorher nicht gab. Kontamination ist in dieser Sichtweise Voraussetzung für Veränderung und Vielfalt. Jedoch zieht nicht jede Begegnung von Entitäten Vielfalt nach sich. Ganz im Gegenteil können neu entstehende Beziehungen dazu führen, dass andere bestehende Beziehungen nicht mehr möglich sind. Auf Kontamination folgt in diesem Fall keine Diversität, sondern der Ausschluss von Dingen und Seinsformen. Ausgeschlossen werden dabei nicht nur die Dinge und Seinsformen selbst, sondern auch ihre Beziehungen untereinander, sowie die Praktiken, die auf sie ausgerichtet sind. Aus Sicht der Ikojts schließt der Windpark Beziehungen aus,

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indem er ihren Fischfang bedroht und damit ihr Verhältnis zur Lagune infrage stellt. Statt somit zur Entstehung von Vielfalt beizutragen, kann Kontamination einschneidende Veränderungen nach sich ziehen, die bestimmte Beziehungen nicht mehr erlauben. Diese Art der Kontamination fasse ich als Ausschlussbeziehungen. Ich beschreibe mit dem Begriff Verbindungen sozionatürlicher Entitäten, die bestimmte Interaktionsmöglichkeiten zugunsten anderer Interaktionsmöglichkeiten verhindern oder deren Rückgang evozieren. Der Ausschluss von Beziehungen kann dabei sowohl spezifische Praktiken betreffen als auch unvereinbar mit Konzeptionen natürlicher und sozialer Entitäten sein. Der Begriff dient damit dazu, die von den Ikojts erwarteten Auswirkungen des Windparks auf das Gefüge sozionatürlicher Entitäten und Praktiken zu beschreiben. Aus Sicht der Ikojts gehen die Ausschlussbeziehungen insbesondere von der Infrastruktur des Windparks aus. Für sie bedingt die Infrastruktur eine völlige Veränderung der Lagune – diese wird zu etwas Anderem, wenn der Windpark hineingebaut wird. Statt eines einfachen Bauvorhabens steht demnach für die Ikojts der ontologische Status der Lagune und der zu ihr gehörigen sozialen und natürlichen Entitäten auf dem Spiel. Dies stellt die Ikojts deshalb vor ein Problem, weil das die Lagune umspannende Gefüge von großer Wichtigkeit für sie ist. Wie dies aussehen kann, zeigt sich in besonderem Maße am Fischfang der Ikojts in der Lagune.

5.2 »LA SAM SANNDOK«: EIN FISCHER-LEBEN Tonio fragt mich, was die häufigste Tätigkeit in San Dionisio ist, zu der ich mitgehe. Ich antworte, dass ich oft beim Fischen dabei bin. Vor zwei Tagen beim Maisverkauf habe ich mit Tonio ein Gespräch über die politische Lage in San Dionisio geführt. Wir haben im Anschluss ein Interview vereinbart, in dem ich ihn nach dem Verhältnis von Windenergie und Fischfang frage. Als ich unterwegs zu seinem Haus am palacio vorbeikomme, grüßen mich die Wachen, die davor auf einem Mäuerchen sitzen. Ich erkundige mich nach den Gerüchten, laut denen PRI-Anhänger den palacio stürmen wollten, aber sie winken ab. Alles sei ruhig, versichern sie. Tonio sieht mich von seinem Haus aus und kommt herüber. Die Wachen, erklärt er, seien nicht nur für die Sicherheit des palacio da. Sie würden auch die Lagune beschützen, sodass der Fischfang und das Leben in San Dionisio gewährleistet seien. Wir gehen zusammen zu seinem Haus und beginnen mit dem Interview. Ich frage ihn, wie er die Wichtigkeit des Fischfangs in San Dionisio einschätzen würde. Er antwortet: »Pues

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mira… lo que te puedo comentar es lo que yo he vivido. La pesca… ha significado la base, para San Dionisio«82 (Interview Tonio 18.12.2014). Das Interview mit Tonio findet zu einem Zeitpunkt statt, bis zu dem ich intensiv mit den Ikojts fischen gegangen bin. Ich habe mit ihnen Tage auf der Lagune und in den Buchten an ihren Ausläufern verbracht und zahlreiche Gespräche über den Fischfang geführt. Wie Tonio beschreiben viele Ikojts den Fischfang als »base«, »futuro«, oder »futuro para los hijos«. 83 Fischfang beschreiben die Ikojts dabei stets als etwas Grundlegendes für ihre Lebensweise, das sich nicht nur aus einer Tradition heraus ergibt, sondern in die Zukunft gerichtet ist. Gehen die Ikojts fischen, sagen sie: »La sam sanndok« (»Ya me voy a pescar«84, meine Übersetzung). Dabei bildet das Wort »ndok« (Huave für atarraya bzw. Wurfnetz) die Bezeichnung für »Fischen gehen«, wobei damit neuere Fischfangtechniken wie lancha-Fischen oder die Überprüfung der copos genauso gemeint sein können. »Ndok« wird heute von den Ikojts synonym für »fischen gehen« gebraucht. In Zusammenhang mit dem Fischfang ist nun immer wieder vom Windpark die Rede. An einem Nachmittag spreche ich mit dem Vater von Tonio, Antonio Castañeda González, über das Leben in San Dionisio. Ich besuche ihn in seinem Haus, das neben dem von Tonio liegt. Zwei seiner Enkel laufen mir entgegen und begrüßen mich stürmisch. Antonio ist ein ernsthafter, ruhiger Mann. Er ist etwas über 60 Jahre alt, hat vier Söhne und eine Tochter und war Grundschullehrer. Wir treffen uns häufig zu längeren Gesprächen über die Situation und Geschichte der Ikojts, was sich im Fischfang getan hat und wie sich die Zukunft für die Ikojts entwickelt. Antonio hat gefischt, seit er denken kann, vor allem mit Wurfnetz. Auch heute geht er noch ab und an zum Fischen. An diesem Nachmittag kommen wir auf die Veränderungen zu sprechen, die mit dem Windpark einhergehen werden. Antonio sagt: Puede cambiar bastante, porque, la gente ya no va a pescar. El agua va a estar contaminada. Los pozos igual. Los arroyos igual. Va a contaminar mucho. Entonces, eh… ya la gente, pienso yo de que ya no va, va a ir a pescar. Porque esos productos están contaminados. Sí. Están contaminados, ya, ya… ya comería la gente también

82 »Schau… was ich dir sagen kann ist, was ich gelebt habe. Der Fischfang… hat die Basis bedeutet, für San Dionisio.« 83 »Basis«, »Zukunft« oder »Zukunft für die Söhne und Töchter«. 84 »Ich gehe jetzt fischen.«

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puro, cosas eh… envasadas, ¿no? Y enlatadas. Como en otros lugares, ahí van y… ya… viene de otro, teniendo el mar aquí cerca. No, ahí ya traen, pescado de otro lado como, como, como aquí, por ejemplo, nosotros, a veces no… no compramos para comer lo que están pescando ahorita aquí, que es más nutritivo, ¿no? A veces va y vienen, se, se exporta el producto, se va. Y ahí viene enlatado. Y nosotros mismos lo compramos, ¿um? Y cosas de que lo que más, lo fresco, lo más nutritivo es que saliendo del mar, no lo queremos comprar. Ahora en lata lo compramos. Qué, qué, qué nos puede… ayudar eso bastante, no… Y, y… pues… pienso yo de que, por ese lado, va este, la gente va a cambiar bastante [uhum]. Hasta el pueblo (Interview Antonio Castañeda González 30.01.2015).85

Antonio entwirft ein Szenario, wie das Leben der Ikojts in San Dionisio nicht sein sollte. In seiner Schilderung erfassen die durch Windenergie zu erwartenden Veränderungen nicht nur die Praxis des Fischfangs, sondern haben in der Folge Auswirkungen auf die Lebensweise in San Dionisio. Das durch den Fischfang geprägte Leben ist in diesem Szenario akut gefährdet. Wenn die Leute aufhören zu fischen und beginnen eingedoste Produkte zu konsumieren, wie das an Orten gemacht wird, die nicht an der Lagune liegen, dann ändern sich die Leute, dann wird das Leben in San Dionisio ein anderes. Antonios und Tonios Überlegungen aufgreifend zeige ich in den folgenden Abschnitten, welche zentrale Stellung der Fischfang bei den Ikojts einnimmt. Ich schildere Fangfahrten der Ikojts und wie sie den Fischfang organisieren, wie sie

85 »Es kann sich komplett verändern, weil, die Leute nicht mehr fischen gehen. Das Wasser wird kontaminiert sein. Auch die Brunnen. Auch die Bäche. Er [der Windpark, Anm.] wird viel kontaminieren. Dann, eh… werden die Leute, glaube ich, nicht mehr fischen gehen. Weil diese Produkte kontaminiert sind. Ja. Sie sind kontaminiert, und schon, schon würden die Leute nurmehr verpackte Sachen essen. Oder? Eingedoste Sachen. Wie an anderen Orten, dorthin gehen sie und… es kommt von woanders, die das Meer hier in der Nähe haben. Von dort bringen sie es, Fisch von der anderen Seite wie, wie, wie hier, zum Beispiel, manchmal, kaufen wir nichts zu essen, um das zu essen, was sie hier fischen, was nahrhafter ist. Oder? Manche gehen und kommen, und sie exportieren Produkte. Und dort kommt es dann eingedost an. Und wir selbst kaufen das dann. Um. Und die frischesten Dinge und das Nahrhafteste ist doch direkt aus der Lagune, das brauchen wir nicht zu kaufen. Jetzt sollen wir es in Dosen kaufen. Was, was, was kann… uns das helfen, nein… Und, und… also… ich denke, dass wir, auf diese Weise, dass die Leute sich sehr ändern werden [uhum]. Bis hin zum pueblo.«

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sich durch die Lagunenlandschaft bewegen, mit Widrigkeiten beim Fang fertig werden und wie Aspekte ihres Entwurfes von Welt damit in Zusammenhang stehen. Die Bewegung durch die Lagunenlandschaft Die Lagunenlandschaft86 der Ikojts ist durch sie auf ihren Wegen zum Fischfang, zur Feldarbeit und zum Vieh systematisch erschlossen. Sie durchmessen und durchstreifen die Lagunenlandschaft, sie passieren sie, sie bewegen sich hindurch. Den Großteil ihrer Wege legen die Ikojts dabei zu Fuß zurück. Im April 2014 begleite ich Ernesto Juán bei der Versorgung seines Viehs. Ernesto ist Bauer und Viehzüchter. Ich esse oft mit ihm und seiner Frau Sofía Ortíz bei ihnen zu Hause. Wie viele andere Ikojts in San Dionisio geht Ernesto das ganze Jahr über jeden Tag den Weg zu den Weideflächen. Der Weg führt ihn stets an der Lagune entlang und er benötigt für Hin- und Rückweg je zwei Stunden. Doch nicht nur zu den Weiden und Feldern, auch zu den Fanggründen der Ikojts sind die Wege oft weit. Für die Ikojts ist fischen gehen daher durchaus wörtlich zu verstehen. Dies zeigt Abb. 5.1 Ernesto auf dem Weg entlang der Lagune zu seinen Viehweiden 86 Peter Wynn Kirby merkt an, dass es sich bei ›Landschaft‹ um ein europäisch geprägtes Konzept handelt und empfehlen stattdessen, ›Ort‹ den Vorzug zu geben. Er verweist jedoch zugleich darauf, dass »when immersed in the phenomenological flow of experience, moving through interpenetrating domains, there is no need for a theoretical ›bridge‹ between place and landscape« (2009: 11). Die Perspektive der Ikojts soll hier dem Konzept der Landschaft in einer eurozentristischen Lesweise andere kulturspezifische Aspekte hinzufügen.

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sich beispielsweise daran, wie sie den Fang mit Wurfnetzen in ihre täglichen Tätigkeiten integrieren. Wurfnetze oder atarrayas sind die älteste Fangtechnik, die von den Ikojts noch heute genutzt wird.87 Zu jeder Tageszeit kann man atarraya-Fischer in den Ausläufern der Lagune und auf ihrem Weg dorthin mit ihren Wurfnetzen antreffen. Sie spielen bei den Ikojts unter anderem deshalb eine große Rolle, weil mit ihnen mit geringem technischen und ökonomischen Aufwand gefischt werden kann. Die Ikojts lernen bereits als Kinder das Flechten der Netze. Früher benutzten sie Baumwollschnüre und Steine als Gewichte am unteren Teil des Netzes. Einmal mit Wasser vollgesaugt, werden diese Netze sehr schwer und reißen durch Steine und Muscheln leicht ein. Heute sind verschiedene Synthetikschnüre und Bleigewichte in Gebrauch, mit denen sie widerstandsfähigere und leichtere Netze für unterschiedliche Einsatzzwecke herstellen. Es gibt Netze aus dünnen Nylonfäden mit großen Maschen, die für den Fang von Garnelen verwendet werden, oder enger gewobene aus Stofffäden, die für kleinere Fische dienen. Atarrayas werden zu Fuß oder von einem Boot in Ufernähe eingesetzt, sodass sich die flachen Lagunen um San Dionisio mit ihren Garnelen- und Kleinfischbeständen hervorragend für diese Art des Fischfangs eignen. Bei den Garnelen fangen die Ikojts insbesondere Penaeus vannanei, Penaeus californiensis und Penaeus styloristris (Zizumbo Villarreal / Colunga-García 1982: 169). Die von ihnen hauptsächlich gefangenen Fische sind lisa (die Großkopfmeeräsche, Mugil cephalus), lepe (die weiße Meeräsche, Mugil curema) und yolo beziehungsweise roncador (der Gelbflossen-Umber, Umbrina roncador). Doch nicht nur der geringe technische Aufwand ist ein Grund für die Anwendung dieser Fangtechnik. Da atarraya-Fischer oft mehr als zwei Stunden zu Fuß unterwegs sind, bis sie an dem Ort angelangt sind, wo sie mit dem Fang beginnen, wird der atarraya-Fischfang von den Ikojts häufig mit anderen Tätigkeiten kombiniert. Sie organisieren ihre täglichen Wege so, dass sie morgens oder abends an den Ufern der Lagune entlangführen. Es ist Ende Januar. Ich treffe Alejandro Pineda erneut zum Interview bei ihm zu Hause. Wir tauschen uns über den Tag aus und stellen fest, dass der Wind noch sehr stark weht. Anschließend berichtet er von seiner Arbeit als Bauer und Fischer. Er erzählt, dass wenn er zur Arbeit mit dem Vieh oder auf dem Feld

87 Wurfnetze sind weltweit verbreitet und eine sehr alte Technik des Fischfangs. Fischfang mit geworfenen Netzen wird bereits in griechischer Mythologie und in der Bibel erwähnt. Vgl. »Oppians Gedicht von der Fischerei« in Keydell 1937; Lukas 5,1-11; Johannes 21,3-7.

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aufbricht, er immer einen Korb und das Wurfnetz mitnimmt. Er wirft es einfach mit auf den Ochsenkarren. Dann auf dem Rückweg läuft er am Strand entlang und fängt auf dem ganzen Weg zurück Fisch. Dabei geht immer genug für den nächsten Tag ins Netz, manchmal auch etwas für den Verkauf: Nosotros fíjate que, los que trabajamos por este lado, cuando… cuando vamos al tra… al trabajo, a la chamba, salimos temprano, con la carreta. Ya ves que la carreta aquí, se acostumbra la carreta. En la carreta echamos el canasto y la atarraya. De regreso tenemos que venir echando atarraya, agarrar para la comida, para el día de mañana (Interview Alejandro Pineda 28.01.2015).88

Wie Alejandro integrieren viele Ikojts den Fischfang in ihre Wege zu weiteren täglichen Tätigkeiten. Es gilt, Feldarbeit und Viehzucht zu erledigen und zugleich genug für eine Mahlzeit für sich und die Familie nach Hause zu bringen. Auf ihren Wegen sind damit nicht nur mehrere Tätigkeiten kombiniert, es ist auch eine Art und Weise, sich mit der Lagunenumwelt in Beziehung zu setzen. Bewegung ist eine zentrale Komponente sozialen Lebens (Kirby 2009: 4). Mittels Bewegung stellen Lebewesen Verbindungen mit ihrer Umgebung her (ebd. 15). Bewegung erlaubt ihnen, Beziehungen zu sie umgebenden sozialen und natürlichen Entitäten zu konstituieren und aufrechtzuerhalten. In ihrer Bewegung bringen die Ikojts sowohl die Lagunenlandschaft mit hervor, als auch verorten sie sich darin. Mit ihren Tätigkeiten an Orten wie den Feldern und Weiden, sowie auf den Wegen dorthin, erneuern sie die Beziehungen zu ihrer Umgebung. Die Wege, die sie dabei zurücklegen, sind dabei sowohl Ansammlungen vorangegangener Ausflüge, in denen tägliche Aufgaben verrichtet wurden, als auch Aktualisierungen ihrer Beziehungen zu ihrer Umgebung. Dies ist auch bei anderen jagenden und fischenden Gruppen zu beobachten. 89 Der Ethnologe Claudio Aporta beschreibt am Beispiel von Inuit-Gruppen im arktischen Kanada,

88 »Ich sage dir, wir, die hier auf dieser Seite arbeiten, wenn… wenn wir an die Ar… an die Arbeit gehen, auf die chamba [Arbeit, kolloquial], dann gehen wir früh, mit dem Ochsenkarren. Dort siehst du den Karren, da steht sie. Auf den Karren werfen wir den Korb und das atarraya. Auf dem Rückweg müssen wir atarraya-werfend zurückkommen, um uns etwas fürs Essen zu schnappen, für den nächsten Tag.« 89 Vgl. beispielsweise für zu den Algonkin gehörende Gruppen zwischen Ontario und Québec Oetelaar / Meyer (2006: 358ff.) sowie Ingold (2000: 189-208) für Beispiele bei den Yolngu, einer Aborigines-Gruppe in Nord-Australien, und den Western Apache in Arizona.

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dass Wege stets mit individuellen und kollektiven Erinnerungen voriger Unternehmungen, als auch mit verschiedenartigen Umwelteindrücken und Ortsbenennungen verflochten sind (Aporta 2009: 132). Bewegung, so zeigt Aporta für die von ihm analysierten Gruppen, ist dabei für Praktiken wie die Jagd und den Fischfang zentral und damit ein wichtiger Aspekt der Lebensweise einer jagenden und fischenden Gruppe insgesamt. Bewegung impliziert auch immer ein Risiko. Nicht nur besteht dieses im Fall der Ikojts darin, beispielsweise keinen Fang zu machen. In bestimmten Bereichen der Lagunenlandschaft lauern auch Gefahren. Deutlich wird dies an den Bereichen, die die Ikojts beim Fischfang nicht überschreiten. Leonardo Crespo, Bauer aus San Dionisio, erklärt dazu in einem Gespräch, Richtung Boca Barra zeigend: »Aquí éste lugar de San Mateo hasta aquí es el último rinconcito del mundo. Ni un cerro, nada, sur, que termina la tierra.«90 Leonardo erzählt, dass die Ikojts nicht auf das offene Meer hinausfahren, sondern sich immer nur der Grenze annähern, die an der Boca Barra, der Schwelle zum Ozean, liegt. Für diesen Bereich gelten daher besondere Regeln. Es gibt dort zu bestimmten Zeiten viele Garnelen, jedoch auch starke Strömungen. Die Ikojts vermeiden es, dort rote Kleidung zu tragen. Das Meer wird sonst erzürnt und kann sie aus der Lagune herausziehen. Alicia M. Barabas beschreibt in ihrer Studie (2008) zu den indigenen Gruppen Oaxacas, wie Territorium, Kosmovision und natürliche Entitäten verwoben sind. Oft lauern an den Grenzen des Territoriums besondere Gefahren. Hier können dueños erscheinen, die einem Schaden zufügen können (vgl. 4.5). An den Grenzen zeigt sich, dass Tabus eingesetzt werden, um die Gruppe nach innen zu schützen (Barabas 2008: 135). Im Fall der Ikojts agiert das offene Meer wie ein dueño, das einen hinausziehen kann, wenn man es verärgert. Während ihnen die Lagune vertraut ist, gehört das Meer zu einem gefährlichen Äußeren, dem sie sich lieber nicht aussetzen. Die Lagune dagegen ist nicht ein ›wildes Außen‹, sondern ein dynamisches Gefüge von miteinander in Beziehung stehenden Entitäten, die sowohl Teil des Dorfes sind, als auch gemeinsam mit Fischern aus anderen umliegenden Dörfern geteilt werden. Dies zeigt auch, dass Aspekte dieses ›wilden Außen‹ nicht nur mit konkreten Bereichen zu tun haben, sondern zugleich in den Personen selbst angelegt sind und entsprechend mit ihnen reisen (Descola / Palsson 1996: 10).

90 »Hier dieser Ort von San Mateo bis hier ist das letzte Stückchen der Welt. Nicht ein Berg, nichts, südlich davon, da endet die Erde.«

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Auf diese Weise verwebt die Bewegung der Ikojts durch die Lagunenlandschaft Umwelt, Territorium und Kosmovision und erlaubt ihnen, fortwährend die Beziehungen zwischen ihnen und den sie umgebenden Entitäten zu erneuern. Fischfang ist dabei nicht nur eine Subsistenzpraxis, sondern prägt maßgeblich die Lebensweise in San Dionisio. Fischfang als Lebensweise Der Fischfang der Ikojts wird im Jahr 1968 mit der Gründung der ersten Kooperative in der Region institutionalisiert. Zu dieser kommen weitere dazu, die in den 1990er Jahren durch die Organisation Unión Regional de Cooperativas Pesqueras91, auch Las siete huaves 92 genannt, vernetzt werden (Millán 2014: 11). Doch bereits lange vor seiner Einbindung in ein Kooperativen-System ist Fischfang für die Subsistenz der Ikojts eine zentrale Praxis. Die älteste Erwähnung findet sich im Jahr 1542 bei Alonso Maldonado: »[Q]ue de cincuenta en cincuenta días dé el pueblo de Guazontlan93 ochenta cargas de pescado, puesto en las minas (zitiert nach González de Cossío 1952: 373).« 94 Während die wenigen Studien und Berichte aus dem 19. Jahrhundert den Fischfang der Ikojts zumindest erwähnen,95 stammt die erste umfassendere Analyse des 20. Jahrhunderts von Frederick Starr (1901), der den Fischfang mit dem Alter-Ego-Konzept in Zusammenhang stellt. In der Folge mehren sich die Beschreibungen des Fischfangs der Ikojts. In seiner Studie des Isthmus von Tehuantepec beschreibt Miguel Covarrubias (1946: 58-66) die Ikojts als vom Fischfang abhängig (ebd. 59), den sie mit Einbaum-Kanus in der Lagune durchführen (ebd. 63), sowie als engagiert im Handel mit Fisch und Meeresfrüchten (ebd. 59). Während Richard Diebold kritisiert,

91 Regionale Vereinigung der Fischereikooperativen 92 Die sieben Huave 93 »Guazontlan« bzw. »Huazontlan« und »Guazontecas« waren Bezeichnungen, die von den Spaniern und wahrscheinlich auch von den Azteken und Binnizá für die Dörfer der Ikojts bzw. sie als Gruppe verwendet wurden. Sie werden u. a. im »Catálogo de la Colleción de Antigüedades Huavis« von Nicolás León (1901: 4) erwähnt. 94 »Dass fünfzig in fünfzig Tagen von dem pueblo Guazontlan achtzig Ladungen an Fisch, gebracht an die Minen.« 95 Siehe Barnard (1852), Bancroft (1886) und Löschmann (1895). Letzterer Bericht gehört zusammen mit Boedler (1982) bisher zu den einzigen deutschsprachigen Schriften über die Ikojts.

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dass einfachste Techniken wie Haken oder Reusen von den Ikojts nicht genutzt würden und er ihnen daher eine unzureichende Beherrschung des Fischfangs attestiert (1969: 483), widmet der Ethnologe Italo Signorini in seiner umfassenden Studie dem Fischfang der Ikojts ein eigenes Kapitel und beschreibt ihn als den Umweltbedingungen hervorragend angepasst (Signorini 1979: 77). Signorini bezeichnet den Fischfang als die ökonomische Hauptaktivität der Ikojts und legt dar, dass die von ihnen eingesetzten Netze und Harpunen häufig zu großartigen Fängen führen (ebd. 75-76). Der Ethnologe Hans-Rudolf Frey untersucht dagegen in seiner Studie (1982) die Einbindung des Fischfangs der Ikojts in die kapitalistische Produktionsweise und die damit einhergehende Modernisierung, beispielsweise durch lanchas mit Außenbordmotor. Daniel Zizumbo Villareal und Patricia Colunga García-Marín (1982) wiederum zeigen in ihrer ethnobiologischen Arbeit die komplexe Verwobenheit von physikalischen chemischen Gegebenheiten im Fischfang auf der Lagune der Ikojts. Sie analysieren die meteorologischen und klimatischen Bedingungen, die für Wachstum und Migration der Garnelen und Fische entscheidend sind, und legen dar, auf welche Weise Nährstoffe in die Lagune gelangen, wie sich die verschiedenen Fangtechniken je nach zu fangenden Fischen unterscheiden und schildern auch das Sammeln von Schildkröteneiern als Teil der Fischfangpraxis. Auch Jorge Hernández Díaz und Jesús Lizama Quijano nehmen in ihrer Untersuchung (1996) ausführlich Bezug auf den Fischfang. Sie zeichnen die Ikojts als die einzige Gruppe Oaxacas, deren ökonomische Hauptaktivität mit dem Fischfang verknüpft ist (Hernández Díaz / Lizama Quijano 1996: 29). In jüngerer Zeit haben die Ikojts begonnen, selbst ihre Geschichte zu schreiben. Hervorzuheben ist dabei die Monographie »Interpretación histórica del pueblo de San Dionisio del Mar, Oaxaca« (1985) des in San Dionisio ansässigen Lehrers Severino Rodríguez Altamirano, sowie die »Apuntes de Historia de San Francisco del Mar« (2013) von Celso Gómez Parada, ebenfalls Lehrer in San Francisco. Beide widmen sich in ihren Werken dem Fischfang der Ikojts. Fischfang ist ein »active point of engagement« (Fienup-Riordan 2000: 57) zwischen Menschen und ihrer Umwelt. Beim Fischfang geht es nicht nur um den Fang, Mitglieder fischender Gemeinschaften gehen aufgrund des Versuchs Fisch zu bekommen zahlreiche Beziehungen zu Fischen, ihrer Umgebung und anderen Menschen ein (vgl. Todd 2014: 224). Fischfang ist auf diese Weise mitkonstitutiv für eine Vielzahl an Beziehungen. Nicht zuletzt ist der gefangene Fisch eng mit nahezu jedem Aspekt des Gemeindelebens verknüpft (vgl. ebd. 225). Der Fischfang der Ikojts findet in einem Gefüge statt, das geprägt ist durch die tägliche Auseinandersetzung mit Wind, der Lagune, den Fischen und Garnelen, Strömungen, Wegen und Fanggründen. Solche Gefüge versammeln nicht

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nur Lebensweisen, vielmehr bringen Gefüge Lebensweisen hervor, indem sie Effekte erzeugen, die die beteiligten menschlichen und nicht-menschlichen Akteure beeinflussen (vgl. Tsing 2015: 23). Ein solches Hervorbringen erläutert Tsing am Beispiel von Sammlern, für die die Suche nach einem speziellen Pilz eine Lebensweise ist (Tsing 2015). Lebensweisen sind demnach emergente Effekte von Verflechtungen in einem Gefüge sozialer und natürlicher Entitäten (ebd. 23; vgl. auch Bingham 2006: 487). Um daran anknüpfend das Entstehen von Lebensweisen nachzuvollziehen ist es nötig darauf zu blicken, wie die verschiedenen Akteure und Entitäten in diesen Gefügen miteinander verflochten sind. Deutlich wird dies anhand einer Fangfahrt, zu der ich Fischer der Ikojts begleitet habe. Ich bin um 16 Uhr zum Fischen mit Otilio verabredet.96 Als ich an das Haus der Familie komme, erwartet er mich bereits. Wir unterhalten uns ein bisschen und er fragt mich, ob ich ein Nylon habe, was ich verneine, woraufhin er mir seines leiht. Otilio selbst wird nicht mit Fischen gehen, er schickt seinen Sohn, der ebenfalls Otilio heißt und 17 Jahre alt ist. Zusammen mit ihm bildet Juan das Team, er ist 20 Jahre alt, verheiratet und hat zwei Kinder. Er erzählt, dass er fischt, seitdem er elf Jahre alt ist. Encargado und motorista, Verantwortlicher und Bootsführer, ist Luís. Otilio holt Eis und füllt es in eine große Kühlbox. Er besorgt auch noch einen Benzinschlauch und Tortillas, dann fahren wir mit einem triciclo97 zur Playa Copalito. Auf dem Weg treffen wir auf immer mehr Fischer, die sich ebenfalls zum Strand aufmachen. Sie haben Eis dabei, Netze auf ihren Pickups oder Lastenrädern. Auf den patios vor den Häusern, an denen wir vorbeikommen, herrscht geschäftiges Treiben. Alle müssen noch letzte Dinge erledigen, Getränke und Tortillas besorgen, bevor es zur Ablegestelle geht. An der Playa Copalito sind bereits viele Fischer versammelt, die ihre Netze aufschießen und ordnen. Die Männer gehen umher, begrüßen und unterhalten sich und machen Scherze. In unmittelbarer Nähe zum Strand befindet sich ein Militärposten. Die Soldaten hängen herum, zum Teil in Hängematten, einer spachtelt eine Wand. Bei den Fischerhäusern stehen zwei Männer in einer winzigen Betonhütte, die aus großen Benzinfässern mit einem Schlauch und dem Mund Sprit heraussaugen und durch einen großen Stahltrichter in Benzinkanister laufen lassen. Otilio lässt für etwa 250 Pesos Benzin zapfen, das wir mit dem triciclo zur lancha zurückfahren.

96 Fischen mit lancha und Wind, Feldtagebucheintrag, 12.03.2014. 97 Dreirädriges Lastenrad

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An der lancha angekommen warten wir auf einem camarones-Fischernetz98 sitzend darauf, dass die Besatzung der zweiten lancha vollzählig ist. Wir trinken Cola aus Drei-Liter-Flaschen, teilen süßes Gebäck und reden. Juan achtet darauf, dass jeder etwas angeboten bekommt. Als die Sonne bereits tief am Himmel steht, beginnen einzelne Boote abzulegen. Ich beobachte und photographiere das Ablegen der Boote und die letzten Vorbereitungen der Fischer an Land. Im Hintergrund beginnen die Soldaten Fußball zu spielen. Als wir komplett sind, geht es aufs Boot, es wird abgelegt, ich werde angewiesen auf der vorderen Bank Platz zu nehmen. Wir fahren an Männern vorbei, die nach camarones bei den in der Nähe des Strands ausgelegten Reusen tauchen. Sie rufen und grüßen zu den Booten herüber und wünschen einen guten Fang. Die Fischer auf den Booten rufen zurück, dann geht es in hohem Tempo auf die Lagune. Der Bug der lancha hebt sich und springt über die Wellen. Wasser spritzt in das Boot, es ist warm und salzig. Niemand außer mir trägt eine Schwimmweste. An den Ufern ist karge Vegetation zu erkennen, die zum Ende der Windsaison kaum mehr grüne Blätter aufweist. Die zahlreichen Inseln liegen wie große braune Dünen in einer Wüste aus Wasser. Einzelne Pelikane segeln vorbei. Juan erklärt mir die Namen der Inseln, beispielsweise des Cerro Mono, eines einzeln stehenden Felsens inmitten der Lagune. Außerdem indiziert er, welche Dörfer und Städte wo um die Lagune liegen. Es sind die Lichter von Salina Cruz zu sehen, Juchitán liegt weiter ab im Dunkeln, Playa Vicente ist zu erkennen, die Barra Santa Teresa und wo San Dionisio Pueblo Viejo liegt. Luís sucht eine Stelle in der Lagune, an der viele Fische gesichtet wurden. Wie atarraya-Fischer müssen auch lancha-Fischer oft große Distanzen in und an der Lagune zurücklegen und benötigen bis zu zwei Stunden bis zu dem geeigneten Punkt, an dem sie ihre Netze auswerfen (vgl. auch Zizumbo Villareal / Colunga García-Marín 1982: 175). Luís erklärt mir später, dass sie die Stellen, an denen sie das Netz auswerfen, immer wechseln. Sie orientieren sich daran, wo zuvor viele Fische gefangen wurden, schätzen die Strömungen und Bewegungen der Fische ein, greifen auf ihre Erfahrungen aus vorigen Fahrten zurück und wählen dann die Stelle für den nächsten Wurf. Sie wissen, dass sich zwischen den Inseln Kanäle befinden, die starke, mit durch den Wind hervorgerufene Strömungen aufweisen. Zugleich suchen die Fische bei der Nahrungsaufnahme solche Bereiche gern auf.

98 Garnelennetz

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Abb. 5.2 Fischer mit copo und beim Ablegen an der Playa Copalito Fische sind hochmobile Akteure, die alles daran setzen, den mittels der Netze gestellten Fallen zu entkommen. Fischfang ist daher nicht einfach die Beschaffung von Fisch, sondern umfasst auch das Antizipieren, Warten, Hoffen, Abwägen und Sich-Vorstellen der Bewegungen der Fische und Garnelen (Nuttall 2010: 25). Jede Fangfahrt impliziert zu einem gewissen Grad Unsicherheit, ob das Unternehmen Erfolg hat, das heißt, ob genug Fische gefangen werden. Die Unsicherheit entsteht, weil im Fischfang mit Wasser, Wind, Jahreszeiten und Netzen eine Vielzahl unterschiedlicher Entitäten miteinander in Beziehung treten, sodass es auch mit einem hohem Maß an Erfahrung nicht möglich ist, die zu erwartenden Interaktionen vorherzusagen. Im Fischfang mit lancha spielt dazu eine Rolle, dass Benzin für die Außenbordmotoren benötigt wird. Dieses ist kostspielig und muss durch den Fang gedeckt sein. Erst wenn dies gewährleistet ist, beginnt sich die Unternehmung zu lohnen. Die beiden lanchas werden längsseits nebeneinander gelegt. Die chalanes99 verknüpfen die Enden der Netze und beginnen mit dem Auswerfen. Dabei fahren die lanchas voneinander weg und beschreiben miteinander verzahnte Halbkreise, die zur Mitte hin in den jeweils anderen hineinragen. Das Netz ist oben mit Kork oder Plastikschwimmern, unten mit Blei versehen. Das Blei sinkt rasch ab, während die Schwimmer an der Wasseroberfläche bleiben. So fächert das Netz auf. Es ist 200 Meter lang, sieben Meter breit und besitzt Maschen von zehn oder acht Zentimetern (Zizumbo Villareal / Colunga García-Marín 1982: 174). Wenn das Netz vollständig ausgeworfen ist, warten die Fischer etwa 20 Minuten. Anfangs stoßen sie einige Male mit Holzstangen auf den Boden der lancha, sodass ein dumpfes Geräusch erklingt. Damit sollen die Fische aufgescheucht und in die Netze getrieben werden.

99 Helfer

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Als die Netze im Wasser liegen wird es dunkel. Alle packen ihren mitgebrachten Proviant aus, essen Tacos, trinken Cola und unterhalten sich. Juan erzählt von einem Antrag, den ein befreundeter Garnelenfischer einer jungen Frau aus einem Nachbardorf gemacht hat, und der Feier, die es im Anschluss gab. Dann wird das Netz eingeholt, Luís leuchtet mit einer gelben Lampe und steuert auf dem Motor sitzend. Es ist Wellengang und die lancha schaukelt, sodass er immer die Bewegungen mit dem Motor ausgleichen muss. Die chalanes ziehen das Netz mit den Händen an Bord. Juan holt die obere Hälfte ein, dort wo Korkschwimmer an einem Seil am Netz befestigt sind, ich die untere Hälfte, wo Bleigewichte das ausgeworfene Netz beschweren. Otilio steht in der Mitte und holt die Fische aus dem Netz. Wenn Krebse darin sind, erschlagen die beiden diese mit einem Stock und pulen sie dann heraus. Dabei wird das Netz immer etwas beschädigt. Die gefangenen Fische werfen sie in den vorderen Bootsteil. Es sind vor allem lisa und yolo. Als das Netz komplett eingeholt ist, sucht Luís einen neuen Fangplatz. Wir fahren weit in die Lagune hinein. Die Lichter von Xadani sind jetzt ganz nah zu sehen. Die Fischer zeigen mir, wo die Barra Santa Teresa beginnt. Dann nehmen die Boote erneut ihre Formation ein und die Fischer werfen die Netze ein weiteres Mal aus. Anschließend bleibt wieder Zeit für Gespräche. Wie schon am Strand, kommen Möwen vorbei und schnappen nach den ins Wasser geworfenen Krebsteilen. Luís erzählt von dem Problem mit den eólicos100, dass die Lagune durch das Öl verschmutzt würde, dass die Geräusche der Rotoren die Fische vertreiben würde, und dass ganze Bereiche abgesperrt werden würden und sie so keinen Zugang zur Lagune mehr hätten. Die Lagune, sagt er, wäre eine andere, mit den eólicos. Wir schaukeln noch einen Moment in den Wellen, dann schaltet Luís die Lampe ein und wir beginnen wieder damit, das Netz einzuholen. Ein Risiko für die Ikojts beim Fischfang ist der Wind, der in der Windsaison jederzeit aufkommen kann. Dieser kann nicht nur die Unternehmung scheitern lassen, indem er die Fischer zwingt mit möglicherweise zu geringem Fang an Land zurückzukehren. Er stellt auch eine nicht zu unterschätzende Gefahr für Leib und Leben der Fischer auf ihren schmalen lanchas in der Lagune dar. Zu Überlegungen über den Erfolg einer Fangfahrt tritt die Besorgnis des NachHause- oder Zurück-an-Land-Kommens (vgl. Nuttall 2010: 25). Beim Einholen des Netzes fängt der Wind an zu wehen, erst unmerklich, dann pfeift er hell durch die Maschen. Das Boot beginnt plötzlich heftig zu schwanken und wird von den Wellen hin und her geworfen. Ich sitze auf der

100 Mit »eólicos« nehmen die Ikojts auf die Windparks Bezug.

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vorderen Bank, halte mich mit beiden Händen fest und beobachte die chalanes, die immer schneller das Netz einziehen und die Fische nicht mehr herauslösen. Stattdessen legen sie sie zusammen mit dem Netz etwas beiseite. Luís steuert gegen die Wellen, der Außenbordmotor verliert dennoch immer wieder Wasserkontakt, wenn das Boot auf die Kämme gehoben wird. Die Sicht ist viel schlechter. Konnte man zuvor noch die umliegenden Inseln erkennen, sind diese nun hinter grauen Schleiern verschwunden, nur der Mond scheint noch hell. Als das Netz eingeholt ist, bedeutet Luís mir mich mit meinem Nylon in der Mitte der lancha klein zu machen. Er und die chalanes wickeln sich ebenfalls in Nylons, dann geht es Richtung Strand. Ich sehe kaum noch etwas, die Wellen schlagen sehr hoch und das Boot schwankt und springt. Alle sind völlig durchnässt. Als ich mich nach einiger Zeit umdrehe, kommen die Lichter der Playa Copalito in Sicht und das Boot wird merklich ruhiger. Wir landen an und beginnen sofort die im Netz verbliebenen Fische herauszuarbeiten. Dafür, dass sie nur zweimal die Netze auswerfen konnten, sind sie zufrieden. Sie haben viele lisas gefangen, eine große Kiste wird vollgemacht und sofort auf eine wartende camioneta gebracht. Je zwei große lisa behalten sie zurück, und auch ich bekomme zwei geschenkt. Wir laufen zum Dorf und trinken dabei Cola. Beim gemeinsamen Nachhauseweg scherzen die Fischer darüber, ob mir nicht doch schlecht geworden sei. Für viele sei es am Anfang so, dass sie sich übergeben müssten, und dann auf dem Wasser zu nichts zu gebrauchen seien. Aber denen bliebe ja immer noch das atarraya, meint Juan. Sie selbst würden nicht einmal mehr bei starkem Wellen- Abb. 5.3 Gefangene lisas in einer Kühlbox gang umfallen, als hätten ihre Füße Kleber an den Sohlen. Das lerne man, sagt er. Die Fangfahrt zeigt den Fischfang als eine immersive Tätigkeit (Pálsson 1994: 901), bei der die Ikojts in mannigfaltige Beziehungsgeflechte eingebunden sind.101 Im Rahmen des Fischfangs setzen sich die Ikojts aktiv mit ihrer Umge-

101 Ingold (1992: 39) benutzt den Begriff »enmeshed« zur Beschreibung der Eingebundenheit von Menschen in ihre Umwelt.

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bung auseinander. Sie stellen kontinuierlich neue Beziehungen zu ihrer Umgebung und den darin befindlichen Entitäten her und aktualisieren bestehende, was ihre Lebensweise prägt (vgl. Ingold 2000: 57). Am nächsten Tag hole ich die lisas bei Otilio ab. Er erzählt mir, dass sie einige ihrer zurückbehaltenen Fische bereits verkauft haben. Gerade gebe es nicht so viel Fisch, daher ist er sehr gefragt und sie würden immer wieder angesprochen, ob sie nicht welchen zu verkaufen hätten. Als ich später mit den Fischen durchs Dorf laufe, erregen diese viel Aufmerksamkeit, mehrere Dorfbewohnerinnen kommen an die Straße und fragen, wo ich die Fische bekommen habe. Auch nachdem er gefangen wurde hört Fisch nicht auf, weitere Beziehungen hervorzubringen oder zu aktualisieren. Die Frauen, deren Aufgabe es ist, Fischer am Strand vor den Fahrten mit Cola und Zigaretten versorgen, bekommen dafür etwas vom Fang, vorzugsweise die größten camarones. Einen anderen Teil kaufen HändlerInnen in San Dionisio, die den Fisch dann im Dorf weiterverkaufen. Da es keinen Markt gibt, annoncieren die HändlerInnen über die im ganzen Dorf verteilten Lautsprecher, welche Art von Fisch zu welchem Preis zum Verkauf steht. Dies führt häufig zu spektakulären Szenen, besonders in der windarmen Zeit, in der es wenig Fisch gibt. Fisch ist so begehrt, dass sich die BewohnerInnen eiligst auf den Weg machen, um diesen zu erstehen. Wird Fisch annonciert, kommt es mitunter zu tumultartigen Begegnungen vor dem entsprechenden Haus. Von allen Seiten laufen amas de casa zu Fuß herbei, andere kommen mit mototaxis102 und alle drängen sich um die vordersten Plätze. Von ihrem Fang behalten die Fischer stets selbst ein paar Fische zurück, die sie mit der Familie essen oder an NachbarInnen oder FreundInnen verkaufen. Auch verschenken sie immer Fisch an diejenigen, die abends oder morgens beim Anlanden der lanchas an die Playa Copalito kommen (Abb. 5.4). Ein anderer Teil des Fischs wird an HändlerInnen der Binnizá verkauft, Abb. 5.4 BewohnerInnen San Dionisios an den die diesen auf dem Markt vom Fischen zurückgekehrten lanchas 102 Dreirädrige Motorroller mit einer Sitzbank für Fahrgäste

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in Juchitán weiterverkaufen. Wenn die Fischer zurückkommen, warten die HändlerInnen bereits mit ihren camionetas am Strand. Sie haben Eis geladen und schichten den gefangenen Fisch direkt am Strand von den Booten auf ihre Transportautos. Dieser Handel ist von großer ökonomischer und kultureller Bedeutung für die Ikojts. 103 Hernández Díaz und Lizama Quijano schreiben dazu: [L]os habitantes de las comunidades mareñas mantienen una economía que los liga muy de cerca con el exterior. El aprovechamiento de los recursos marítimos: camarones, huevos de tortuga y una gran variedad de pescados, lisa, curvina, pargo, mojarra, bagre, huachinango, entre otros, mantienen los lazos comerciales muy estrechos entre huaves y zapotecos (1996: 114).104

Nicht zuletzt ist damit Fisch für die Beziehungen der Ikojts zu ihnen benachbarten Gruppen seit langer Zeit die zentrale Schnittstelle, durch die sie mit diesen verbunden sind. ***

103 Die Handelsbeziehungen sind sehr alt. Quellen belegen sie bis mindestens ab dem 17. Jahrhundert (Rosales Carranza 1983: 22), vermutlich besteht jedoch bereits seit dem 16. Jahrhundert oder noch früher kommerzieller Austausch zwischen Ikojts und Binnizá (vgl. Torres de Laguna (1973). Vornehmlich ging es dabei um Meerestiere, die gegen Mais verkauft wurden, der auf den salzigen, trockenen Böden der Ikojts nicht in ausreichender Menge wächst. Frederick Starr (1901: 66) erwähnt zu Beginn des 20. Jahrhunderts zapotekische Händler aus San Blas, Tehuantepec und Juchitán, die regelmäßige Besuche in den Dörfern der Ikojts machen und dabei Mais, Heu, Tortillas, chico zapote und Stoffe bringen. Neben Fisch und Garnelen erwerben sie auch Schildkröteneier. Zum Handel mit Fisch zwischen Ikojts und Binnizá siehe auch Pineda (1986). 104 »Die Bewohner der Mareño-Gemeinden besitzen eine Ökonomie, die sie sehr mit außerhalb verbindet. Sie machen sich die Ressourcen des Meeres zunutze: Garnelen, Schildkröteneier und eine große Anzahl an Fischarten, unter anderem lisa, curvina [Roter Trommler, Sciaenops ocellatus], pargo [Gemeine Meerbrasse, Pagrus pagrus], mojarra [Barschverwandte, Eugerres mexicanus], bagre [Welse], huachinango [Nördlicher Schnapper, Lutjanus campechanus] halten die sehr engen Handelsbeziehungen zwischen Huaves und Zapoteken aufrecht.«

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Die zahlreichen Interaktionen im Fischfang-Gefüge tragen zur Hervorbringung von Aspekten der spezifischen Lebensweise der Ikojts bei. Fischfang ist in dieser mitkonstitutiv dafür, wie die Welt der Ikojts gemacht ist: Die Ikojts werden mit Wind und Wellen, Fischen und Strömungen, Sedimenten und Netzen, und unterhalten durch Handel und der Weitergabe von Fisch weitere Beziehungen. Als Effekt dieser zahlreichen Interaktionen entstehen entscheidende Aspekte der an den Fischfang geknüpften Lebensweise der Ikojts. Ihre sozionatürliche Welt und der Blick darauf bringen sich wechselweise hervor. Am Fischfang der Ikojts in der Lagune wird jedoch nicht nur ersichtlich, wie die Gruppe ihre sozionatürlichen Beziehungen gestaltet. Daran zeigt sich auch, wie für diese Beziehungen Windenergie zur Bedrohung wird. Dies liegt darin begründet, dass in der sozionatürlichen Welt der Ikojts die Lagunenumwelt einen anderen ontologischen Status besitzt, der mit einer Konzeptualisierung als Teil des Windpark-Projekts im Widerstreit steht. Ihre Auseinandersetzung mit den durch den Windpark induzierten Veränderungen wirft damit auch Fragen nach der ontologischen Verfasstheit sozionatürlicher Gefüge auf. Sacar para la comida Im Juni 2013 führe ich ein Interview mit Don López, einem Bauern und Fischer. Es findet auf dem Hauptplatz in San Dionisio statt. Die Stimmung im Dorf ist aufgeheizt, der Gemeindepräsident abgesetzt und es sollen bald Wahlen stattfinden. Don López erklärt mir eindringlich, dass man nicht viel zu wissen brauche, um zu verstehen, warum die Ikojts gegen den Windpark protestieren. Es genüge, el mar zu begreifen. Dort, so sagt er, entstehe alles, was für die Ikojts wichtig ist. Trotz seines besonderen Status ist el mar aktuell jedoch gefährdet, dafür gibt es für Don López keinen Zweifel. Der Windpark bedroht el mar. So sieht es auch die Asamblea. Nicht nur organisiert sie in zahlreichen Versammlungen den Widerstand gegen den Windpark, aus ihr geht auch ein Verein hervor, der sich dem Schutz der Lagune verschrieben hat: Mungier Ndyck, die HüterInnen der Lagune; ich bin noch nicht lange in San Dionisio und es ist eines meiner ersten Interviews dort. Ich bin verwundert darüber, dass Don López statt über den Wind und seine Eigentümerschaft über die Lagune und den Fischfang spricht. Ging es nicht um einen Konflikt um Windenergie? Stattdessen konfrontiert mich Don López mit einem für die Ikojts viel drängenderen Aspekt: ihrer Beziehung zur Lagune, die sie el mar nennen. An el mar knüpfen die Ikojts heute sowohl ihre Geschichte als auch ihr Schicksal. Dabei, so deutet es sich an, umfasst el mar noch weitaus mehr als nur die Lagune allein.

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Für die Ikojts ist Wasser in seinen verschiedenen Erscheinungsformen ein Zentrum der Reflexion, um das sich sowohl ihre Ökonomie als auch ihre Mythologie gruppiert (Millán 2004: 15-16). Es verbindet die santos105, die Winde und naguales 106 (ebd. 16). Zugang zum Wasser und damit verbundener Fischfang war in allen Siedlungsgebieten der Ikojts von zentraler Bedeutung.107 Die Siedlungen, so erzählen sie in ihrem Gründungsmythos, lagen immer am Meer, an Flüssen, Seen oder Lagunen. Nach dem Mythos sind sie von Peru aus kommend an der Küste entlang, zum Teil mit Booten, bis in ihr heutiges Gebiet an der Lagune am Isthmus von Tehuantepec gelangt. Dabei hielten sie stetigen Kontakt zum Meer, das sie versorgte und ihre Reise ermöglichte. 108 In einer Siedlung beim heutigen Jalapa del Marqués, deren Ruinen heute unter einem Stausee liegen, war die Möglichkeit Fischfang in den Flüssen und Becken zu betreiben der Grund, dass sie sich dort niederließen. Auch ihre Eigenbezeichnung ›Mareños‹ verweist auf die herausragende Beziehung, die sie zum Wasser haben.109

105 Schutzheilige 106 Naguales sind Wesen, die oft in Tiergestalt auftreten und deren Schicksal mit einem bestimmten Menschen verknüpft ist. Sie sind in ganz Mesoamerika bekannt. Vgl. hierzu Dürr (2011). 107 Der Umwelt-Ökonom Alejandro Toledo erklärt zu den Ikojts: »En todo el panorama ecológico y cultural de México, difícilmente podrá encontrarse un ejemplo más dramático de la extraordinaria capacidad de adaptación de un grupo humano a las condiciones adversas de su ambiente, como es el caso de los mareños (1995: 166).« Übersetzung: »Im gesamten ökologischen und kulturellen Panorama Mexikos gibt es kaum ein dramatischeres Beispiel von außergewöhnlicherer Anpassungsfähigkeit einer menschlichen Gruppe an die widrigen Bedingungen ihrer Umwelt, wie im Fall der Mareños.« 108 Siehe hierzu Alejandro Castaneira (2008a 37ff.): »Probablemente los huaves se movieran caminando y/o navegando en tramos de aguas someras, lagos, bahías y estuarios, desde algún lugar en la costa del Pacífico entre Ecuador y Centroamérica, hacia la costa de Chiapas y el Istmo Sur.« Übersetzung: »Möglicherweise kamen die Huaves zu Fuß und/oder per Boot in Abschnitten im flachen Wasser, Seen, Buchten und Flussmündungen von einem Ort an der Küste des Pazifiks zwischen Ecuador und Zentralamerika bis zur Küste des heutigen Chiapas und südlichen Isthmus.« 109 Vgl. hierzu Hernández-Díaz und Lizama Quijano (1996: 113). Sie beschreiben den Terminus »mareño« als eine Referenz auf das die Ikojts umgebende Ökosystem sowie auf ihre zentrale ökonomische Aktivität.

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Die Bezeichnung ›ndyck‹, die der Verein der HüterInnen der Lagune in seinem Namen trägt, ist das Huave-Wort der Ikojts aus San Dionisio für die Lagune, welches jedoch in San Dionisio immer weniger in Gebrauch ist.110 Sprechen die Ikojts über die Lagune, sagen sie el mar111 und verwenden auch gelegentlich die Bezeichnung mar muerto112, womit sie die Lagune vom pazifischen Ozean abgrenzen, den sie mar vivo113 nennen. Nach der oral history der Ikojts wurde die Lagune durch Montiok geschaffen.114 Er hatte auf die Erde gespuckt, was die Lagune entstehen ließ. Tonio beschreibt die Beziehungen der Ikojts zu el mar folgendermaßen: Entonces… entonces yo te digo, qué significa el mar, para nosotros, qué significa la pesca para nosotros, al menos para mí, significa una esperanza de vida, una alternativa de trabajo. Porque cuando no voy a la escuela me meto ahí y saco para... mi refresco. Esperanza de vida, alternativa de trabajo, eh… qué te puedo decir… (Interview Tonio 18.12.2014).115

Tonio spricht von Hoffnungen die an el mar geknüpft sind. Gleichzeitig charakterisiert er es als einen Arbeitsort, und als etwas, das Verlässlichkeit und Sicherheit bietet. Von entscheidender Wichtigkeit ist dabei, dass el mar den Ikojts ermöglicht, ihre Grundbedürfnisse zu sichern, weil es von Garnelen und Fischen bewohnt ist. Diese gehören zu el mar genauso dazu wie die Mangroven, die für deren Heranwachsen nötig sind, der Wind, der Strömungen erzeugt und die Wünsche und Hoffnungen der Fischer, die den Fischen nachstellen. Die Bemerkung von Tonio verweist auf eine stark an el mar geknüpften Subsistenz der Ikojts, welche die Wichtigkeit dieser Beziehung für sie unterstreicht. El mar hält stets nahezu bedingungslos Garnelen und Fische bereit. In ihrer

110 Im Huave der anderen Dörfer der Ikojts weicht die Aussprache und Schreibweise leicht ab, z. B. »ndec« bzw. »nendoc« in San Mateo. 111 das Meer 112 totes Meer 113 lebendiges Meer 114 Siehe 4.5 115 »Also… Also sage ich dir, was bedeutet el mar, für uns, was bedeutet der Fischfang für uns, wenigstens für mich, bedeutet er eine Hoffnung fürs Leben, eine Arbeitsmöglichkeit. Weil wenn ich nicht zur Schule gehe, begebe ich ich dorthin und hole für… meine Erfrischung heraus. Hoffnung fürs Leben, Arbeitsmöglichkeit, eh… was kann ich dir sagen…«

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Beziehung zu el mar ist entscheidend, dass auf el mar Verlass ist, oder anders gesagt: Die Ikojts haben einen Vertrag mit el mar. Donna Haraway beschreibt eine solche Vertrags-Konzeption in Anlehnung an die Theorie von Michel Serres als reziproke Anpassung (»reciprocal adjustment«), bei der sich unterschiedliche Entitäten zusammenfinden, um einen reibungslosen Ablauf zu gewährleisten (Haraway 2008: 381). Als Beispiel nennt sie das Straffziehen der Segel bei einem Segelboot (ebd.). Hier müssen die Seile aufeinander abgestimmt werden, um das Segel gleichmäßig nach dem Wind auszurichten. Wind und Segel werden so aufeinander ausgerichtet. Im Sinne des lateinischen con-trahere sind damit mehrere unterschiedliche Entitäten gemeinsam in etwas versammelt, was Haraway »naturalcultural contractual arrangements« (ebd. 266-267) nennt. Der Vertrag der Ikojts mit el mar wird in einer Praxis deutlich, die die Ikojts als »sacar para la comida« (wörtlich: für das Essen herausholen) bezeichnen. Sacar para la comida bezieht sich zum einen auf den täglichen Fang mit atarrayas an den Stränden der Lagune, meint aber des Weiteren auch Fangfahrten mit der lancha, die die Kosten der Unternehmung decken. Mateo Robles benennt dies so: »Cuando quieren comer pescado ya levantan su atarraya, su manga, se van a pescar« 116 (Interview Mateo 29.11.2014). Egal wieviel jemand verdient und auch wenn er oder sie keine lancha besitzt, kann jedeR einfach an den Strand gehen und mit seinem oder ihrem atarraya fischen, sagt Mateo. Es genüge immer für wenigstens eine Mahlzeit. In den Beziehungen der Ikojts zu el mar tritt dieses als eine gebende Entität auf. Sofía beschreibt dies folgendermaßen: »Nosotros nos llamamos gente pobre. Pero tenemos aquí casa, el mar nos da comida, el aire nos da vida«117 (Gespräch Sofía 02.03.2014). Sofía ist Händlerin in San Dionisio, sie verkauft in ihrem Laden vor ihrem Haus Hühner und Gemüse und ist aktiv im Widerstand gegen die Windparks engagiert. Mit Sofía führe ich viele lange Gespräche, meistens wenn ich bei ihr zum Essen bin. Sie wird nicht müde zu betonen, dass el mar für sie da ist, in guten wie in schlechten Zeiten. Stets verknüpft sie ihre Schilderungen damit, dass es große Armut in San Dionisio gebe und el mar helfen würde, die schlimmste Armut zu lindern. Auch Pablo beschreibt el mar als großzügig:

116 »Wenn sie Fisch essen möchten, nehmen sie einfach ihr atarraya, ihr Netz, und gehen fischen.« 117 »Wir nennen uns arme Leute. Aber wir haben hier ein Haus, el mar gibt uns zu essen, die Luft gibt uns Leben.«

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Todavía el mar es bondadoso, aunque sea por… Ha sido bondadoso. Todavía no han sentido en extremo la escasez del alimento. Hoy se escasea, dos, tres meses, de repente, uy, mucho pescado. Pero yo pienso que gracias a la barra. La barra alimenta a ese mar. Pienso que… que la lucha, política que hay en la comunidad [de San Dionisio] ha impedido, a lo mejor, ha impedido, una visión común de la de, del cuidado de nuestro territorio, de nuestro mar (Interview Pablo 09.01.2015).118

Und der lancha-Fischer Otilio erklärt: »Pues el mar, pues como da, bueno, de todo tipo de pescado, todo producto del mar [um]. Camarón…« 119 (Interview Otilio 02.04.2014, meine Hervorhebung). Alle drei sagen von el mar, dass es gibt. Es hält stets Nahrung bereit, wodurch der Blick auf el mar immer schon den Fisch mitdenkt. Es besitzt die Eigenschaft, entgegen den Unsicherheiten des Lebens ein verlässlicher Partner zu sein, der den Ikojts zur Seite steht.120 Diese Sichtweise zeigt die Wichtigkeit der Beziehung der Ikojts zu el mar. Es ist auf diese Weise damit verschränkt, was Marilyn Strathern mit folgenden Worten beschreibt: »[W]hen you see a pig you see the food that the land has grown« (Strathern 2000: 59). El mar bringt stets Garnelen und Fisch hervor und ist auf diese Weise die für die Ikojts wichtigste gebende Entität in ihrer Umwelt. Nurit Bird-David (1990) benutzt den Begriff des »giving environment«, um die Beziehungen von Jäger- und Sammler-Gruppen121 zu ihrer Umwelt zu be-

118 »El mar ist immer noch großzügig, obwohl es wegen… Es ist großzügig gewesen. Sie haben noch keine extremen Mangel von Nahrung gefühlt. Heute bleibt es ein, zwei Wochen aus, dann plötzlich, uy, viel Fisch. Aber ich glaube dank der Barra. Die Barra ernährt diese Lagune. Ich glaube, dass… dass der politische Kampf, den es in der Gemeinde [San Dionisio] gibt, eine, wahrscheinlich, gemeinsame Vision von, des Schutzes unseres Territoriums, unseres mar verhindert hat.« 119 »Na el mar, wie soll ich sagen, gibt, gut, alle Arten von Fisch, all die Produkte von el mar [um]. Garnelen…« 120 Vgl. hierzu auch Castaneira (2008b: 79). 121 Ich fasse hier den Begriff der Jäger und Sammler weiter und schließe auch den Fischfang der Ikojts und ihre Sammeltätigkeiten von Muscheln und Schildkröteneiern mit ein. Damit knüpfe ich an Studien an, die Fischer als »Maritime HunterGatherers« bezeichnen, wie beispielsweise Delfin-Quezada, der für Mesoamerika Fischer ebenfalls als Jäger beschreibt (Delfin-Quezada 1996: 14). Siehe auch Yesner et al. (1980).

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schreiben. Danach empfangen diese Gruppen nicht nur Gaben von sie umgebenden Entitäten, es finden sich ebenfalls gebende Beziehungen innerhalb der jeweiligen Gruppe. Für die Ikojts trifft dies nicht ohne weiteres zu. Fisch wird innerhalb des Dorfes und mit anderen Gruppen gehandelt, und ist nicht in ein System der Gabe integriert. Jedoch ist es immer möglich, einen Fisch oder ein wenig Garnelen von den abends oder frühmorgens zurückkehrenden Fischern an der Playa Copalito geschenkt zu bekommen. El mar weist damit Aspekte einer gebenden Umwelt auf, in der Tiere und Pflanzen eine versorgende beziehungsweise ernährende Rolle122 innehaben. Diese ernährende Rolle erfüllt el mar, weil es mit den Ikojts ›teilt‹ und damit für sie sorgt: Es versammelt stets Fische und Garnelen, stellt sie zu allen Zeiten zur Verfügung und ist ihnen damit ein verlässlicher Partner bei der Grundsicherung ihres Fortbestands. Das Vertrauen der Ikojts in el mar weist die Beziehung der Ikojts zu ihm als eine Beziehung aus, die es zu einem Teil ihres Kollektivs macht. In dieser Beziehung sind die Ikojts durch ihre Tätigkeit des Fischfangs mit el mar verbunden. Castaneira bezeichnet dieses Verhältnis als den »vínculo del pescador huave con las lagunas«123: El pescador recolector huave tiene un vínculo con las lagunas que es la extensión de su propia percepción. Es capaz de definir la presencia del camarón porque conoce su ciclo, sabe que crece durante el periodo de lluvias y busca alimento cuando el sol se oculta (Castaneira 2008b: 79).124

Es handelt sich um eine soziale Beziehung zu einer gebenden Entität in der Umwelt der Ikojts, die verlässlich Nahrung bereithält und durch die mittels sacar para la comida den Ikojts der Fortbestand garantiert wird. Sacar para la comida beinhaltet damit die spezifische Sicht der Ikojts auf das Gefüge aus sozialen und natürlichen Entitäten, das sie el mar nennen. Darin verstehen sich die Ikojts als Teil von el mar und el mar ist Teil von ihnen. Der Fischfang der Ikojts zeigt damit ihre Kapazität, sich nicht blindlings an die Natur anzupassen, sondern auf Anforderungen der Natur vielmehr mit einer

122 Ingold (2000: 69) verwendet hier den Begriff der »nurturing role«. 123 Verbindung des Huave-Fischers mit den Lagunen 124 »Der Huave Fischer-Sammler hat eine Verbindung zu den Lagunen, die Extension seiner eigenen Wahrnehmung ist. Er ist in der Lage, die Präsenz der Garnelen vorherzusagen, weil er ihren Zyklus kennt, er weiß, dass sie in der Regenzeit heranwachsen und dann auf Nahrungssuche gehen, wenn sich die Sonne verdunkelt.«

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Einbindung dieser zu reagieren. Die Art und Weise der Einbindung ist durch soziale Beziehungen geprägt, auf Basis derer gegenwärtige und zukünftige Chancen und Möglichkeiten abgeglichen werden und sich die Gruppe fortwährend selbst verortet (vgl. Hastrup 2014b: 229). Statt eine Entität wie el mar zu einem Teil einer ›außerhalb‹ verorteten ›Natur‹ zu machen, betrachten die Ikojts el mar vielmehr als integraler Bestandteil ihres Kollektivs und erweitern es damit. Zugleich bleibt el mar als eigenständige Entität bestehen, die sich zur selben Zeit in ihren Beziehungen zu Wind, Wasser, Mangroven und Fischen entfaltet, als auch in Beziehung zu den Fischfangpraktiken und Wissensformen der Ikojts. Gemeinsam mit el mar bilden die Ikojts ein Kollektiv, das nichts anderes ist als die in der Welt der Ikojts verwobenen sozionatürlichen Entitäten. Ihr Kollektiv hat damit sowohl für Menschen als auch für Nicht-Menschen, die alle in verschiedene Beziehungen und Prozesse involviert sind, Platz. Wie jeder Vertrag verpflichtet der Vertrag der Ikojts mit el mar diese zur Reziprozität. Daher beschützen die Ikojts dafür im Gegenzug el mar. Dies zeigt sich nicht nur in ihrem Widerstand gegen den Windpark. Auch der Umstand, dass es sakrale Orte mitten in der Lagune gibt, weist auf die Verpflichtungsleistungen der Ikojts gegenüber el mar hin.125 Dieses ist damit abhängig von seiner Beziehung zu den Ikojts, wie auf der anderen Seite Abhängigkeiten von el mar bei den Ikojts bestehen.126 Der Fischfang der Ikojts in el mar weist damit Aspekte dessen auf, was Paul Nadasdy mit »a long-term relationship of reciprocal exchange« beschreibt.127 Für Don López ist es diese wechselseitige Abhängigkeit, die er meinte, als er mich in dem Interview auf die besondere Beziehung der Ikojts zu el mar hingewiesen hat, eine Beziehung, die mit ihnen, ihrer Geschichte und ihrem Schicksal eng verwoben ist.

125 Vgl. »Eine Karte für die Welt«, S. 149ff. 126 Eine solche Beziehung zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten ist kein Einzelfall. Der Ethnologe Werner Krauß (2008) beschreibt dies anhand der Kontroversen um Windparks, Naturschützende, LandwirtInnen, Ringelgänse und PolitikerInnen an der Nordseeküste. Siehe insbesondere Seite 444ff. 127 Nadasdy schildert am Beispiel von Jäger-Gruppen der Kluane First Nation am südwestlichen Yukon, dass die bejagten Tiere sich den Jägern als Gabe zur Verfügung stellen. Er argumentiert dabei, dass der Blick auf diese besonderen MenschTier-Beziehungen durch die Weigerung verstellt wurde, diese Beziehungen sowohl als metaphorisch zu begreifen als auch wörtlich ernst zu nehmen.

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Die ontologische Kontinuität von el mar Die Ikojts ordnen ihre Beziehungen zu den sie umgebenden Entitäten, indem sie el mar und das Land zueinander in Beziehung setzen. Ihre Sichtweise von el mar als Teil und Austragungsort sozialer Aktivitäten geht von einer Kontinuität aus, indem sie nicht-menschliche Entitäten als in ganz ähnliche Beziehungsgeflechte eingebunden betrachtet. Im Besonderen zeigt sich dies in Analogien, welche die Ikojts in Entitäten an Land und in der Lagune ausmachen.128 Nicolás, atarraya-Fischer und Musiker sowie der Vater von Mariana, berichtet davon, wie die Ikojts pejesapo (Schildfisch, Sicyases sanguineus) fangen. Er erklärt, man müsse ihn dort aufsuchen wo er sein Haus habe. Die Häuser dieser Fische befinden sich an steinigen Teilen des Ufers. Es sind Hohlräume in den Felsen, die sie bewohnen. Um sie zu fangen, stecken die Ikojts Holzstangen in den Eingang der Hohlräume. Der pejesapo schnappt nach dem Ende der Stange und beißt sich fest. Dann ziehen die Ikojts die Stange samt Fisch heraus. Als Nicolás mir dies erzählt, messe ich dieser Geschichte noch keine weitere Bedeutung bei. Bei einer Fahrt nach Huamuchil mit Alejandro ändert sich jedoch meine Perspektive. Huamuchil liegt wenige Kilometer östlich von San Dionisio, dessen agencia es ist, ebenfalls an der Lagune und hat etwa 1000 Einwohner. Es hat wenig geregnet und Alejandro möchte Heu für sein Vieh kaufen. Wir fahren gemeinsam mit Ignacio in dessen camioneta, die Kinder von Ignacios Tochter kommen ebenfalls mit. In Huamuchil zähle ich circa 120 lanchas am embarcadero129, zuzüglich 20 cayucos130. Am Strand sind Fischer mit der Instandhaltung ihrer Netze und Boote beschäftigt. Alejandro und ich gehen den Strand entlang. Wir beobachten zwei zurückkehrende lanchas. Im Sand liegen angespülte Seesterne, Rochen und die Haut von einem pejesapo. Dann sagt er: »Todo que hay en la tierra también hay en el mar.« Ich blicke ihn an und er fährt fort. »Víbora

128 Analogien dieser Art sind auch bei anderen Gruppen bekannt. Hviding (1996) beschreibt sie beispielsweise für die BewohnerInnen der Marovo Lagune auf den Solomon Inseln. 129 Anlegeplatz 130 Ruderkanus, bei den Ikojts oft aus Einbäumen; inzwischen gibt es diese vermehrt aus Fiberglas.

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hay en la tierra, y también en el mar. Caballo hay en la tierra, y también en el mar. Árboles, amardillos, cerros, …«131 Später sitze ich mit Alejandro vor seinem Haus in San Dionisio. Er greift unser Gespräch aus Huamuchil wieder auf. Die Haut des pejesapo habe ihn daran erinnert, dass alles mehrmals da sei. Der pejesapo habe sein Haus in el mar verlassen und sei zum Sterben an Land gekommen. Vorher habe er im Wasser gejagt und wenn er erschöpft war, in seinem Haus geschlafen. In Alejandro und Nicolás’ Bemerkungen zeigt sich eine Analogie von Pflanzen, Tieren und Dingen, die zwischen der Lagune und dem Land besteht. Philippe Descola beschreibt in seinem Werk »Jenseits von Natur und Kultur« den Analogismus als einen von vier Identifikationsmodi, die er als Vorgehensweisen sich zur Welt in Beziehung zu setzen definiert (Descola 2013: 189-190). Der Analogismus verschränkt das Kontinuierliche mit dem Diskontinuierlichen (ebd. 303) und findet sich an vielen Orten in Mesoamerika (ebd. 310f.). Beispielsweise zeigt sich dies in den indigenen Konzepten von Alter Ego und Nagualismus in Mexiko, hier insbesondere in Oaxaca, in denen analogistische Prinzipien bestehen (Dürr 2011). Im Analogismus findet sich ein »dichtes Netz von Entsprechungen und wechselseitigen Determinationen«, das Menschen, Pflanzen, Tiere, Beziehungen zwischen Mitgliedern der Familie, Nahrungsmittel, Krankheiten, Orte und viele weitere Bereiche miteinander verknüpft (Descola 2013: 323). Für Descola ist diese Sichtweise eine Möglichkeit, mittels der Identifikation von Ähnlichkeiten die Unterschiede in der Welt verstehbar zu machen (ebd. 302). Die Analogie, die von den Ikojts in den Dingen ausgemacht wird, sagt dabei etwas über die Beziehungen aus, die zu ihnen bestehen. Denn es geht im Analogismus weniger um Ähnlichkeiten in den Dingen selbst, sondern um Ähnlichkeiten in den Beziehungen, die zu den Dingen unterhalten werden (ebd. 307). Der pejesapo hat den Ikojts ähnliche Vorhaben, wie beispielsweise zu jagen. Wenn er davon erschöpft ist, muss er sich ausruhen, was er zu Hause tut, denn auch er bewohnt ein eigenes Haus. Die Beziehungen, die Alejandro und Nicolás an diesem Bewohner von el mar festmachen, sind denen derer, die an Land leben, ähnlich. Zwar könnte man hier einwenden, dass überall auf der Welt Analogien »zwischen Teilen des menschlichen Körpers, Teilen der Pflanzen und der Tiere und den Elementen der anorganischen Umgebung gezogen« werden und »im Wortschatz bezeugt« sind (ebd. 324). Eine analogische Perspektive zeichnet sich

131 »Alles was es an Land gibt, gibt es auch in el mar. Schlangen gibt es an Land, und auch in el mar. Pferde gibt es an Land, und auch in el mar. Bäume, Gürteltiere, Berge, …«

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jedoch dadurch aus, »diese verstreuten Bedeutungsketten in geordneten und interdependenten Ensembles systematisiert« zu haben, und zwar um ganz praktische Probleme wie zum Beispiel den Umgang mit Schicksal und Missgeschicken oder gute Regierungsformen zu lösen (ebd.). Die Analogie ist in diesem Sinne eine Folgerung, die dann möglich ist zu ziehen, wenn ein spezifischer Blick auf die Ähnlichkeiten zwischen den Dingen gerichtet wird (ebd. 302). Der Unterschied wird für einen Moment aufgehoben, um im selben Moment in der Beziehung zu den Dingen einen neuen Unterschied ins Leben zu rufen (ebd.). Fische bewohnen demnach ebenso Häuser, sie tun dies aber im Wasser. Wenn sie das Wasser verlassen, dann um zu sterben. Das Verhältnis von Lagune und Land zeichnet sich aus Sicht der Ikojts jedoch nicht nur durch Analogien aus. Auch Materialien des Übergangs zwischen Wasser und Land markieren eine spezifische Kontinuität. Sichtbar wird dies am Salz, welches die Ikojts in jahrhundertealten Salinen in den flachen Ausläufern der Lagune gewinnen. Salz ist für die Ikojts nicht nur deshalb von großer Wichtigkeit, weil es eine zur Konservierung von Fisch bis heute nützliche Zutat ist, sondern weil über das Salz die Kontinuität der Beziehung zwischen el mar und der Gemeinschaft gewährleistet wird. Charles C. Cheney, der in San Mateo geforscht hat, beschreibt diese Kontinuität folgendermaßen: »Salt is considered sacred not because it comes from the sea and is edible, like fish, but because it is an integral part of the sea which also provides fish« (Cheney 1979: 61). Salz ist damit ein Marker der Kontinuität von Land und el mar, indem es durch seinen Übergang und sein erneutes InVerbindung-Treten mit dem trocknenden Fisch die Beziehungen zwischen den beiden Bereichen aufrechterhält. Hier zeigt sich, dass Land und el mar sich nicht nur dadurch auszeichnen, Ähnlichkeiten in Entitäten, Phänomenen und Komposition aufzuweisen. Zur selben Zeit besteht für el mar im Verhältnis zum Land eine ontologische Kontinuität. Nach Deleuze ist eine solche Sichtweise mit dem verknüpft, was er »Kontinuität der unendlichen Variation« nennt (Deleuze 2000: 37): Obwohl die Entitäten einander nicht benachbart sind, sind sie dennoch ganz einem Kontinuum zugehörig (ebd. 37-38). Das Kontinuum, welches die Ikojts zwischen el mar und dem Land ausmachen, drückt sich in der Analogie der Beziehungen aus, die die beide Bereiche bevölkernden Entitäten in der Lage sind einzugehen. Diese Analogie besteht in diesem Sinne nicht allein aufgrund ihrer räumlichen Nähe, sondern ist durch ihre ontologische Verfasstheit begründet. Fische und Ikojts bewohnen Häuser, gehen auf die Jagd und ruhen sich aus, Bäume und Berge existieren sowohl an Land als auch im Wasser. Die dabei entstehende topographische Positionierung ist damit lediglich ein ontologisches Attribut, das die Entitä-

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ten dazu bringt, »einen für seine Identität geeigneten Ort im physischen wie sozialen Raum« einzunehmen (Descola 2013: 316). Eine Karte für die Welt Für die Ikojts ist el mar nicht nur als existenzielle Basis von Bedeutung, es ist auch in einen kosmologischen Rahmen integriert. In ihren Bewegungen durch die Lagunenlandschaft entsteht für die Ikojts eine Karte, die sowohl ein Abbild der Welt als auch ein Entwurf von Welt ist. Gemeint ist hier keine physische Karte, sondern vielmehr die Karte als Methode, Prozesse und Ereignisse zu strukturieren und Beziehungen hervorzubringen. Eines Nachts bin ich wieder mit Luís und zwei chalanes auf der Lagune. Es ist windstill und dunkel. Luís hält einen Scheinwerfer, der über den Außenbordmotor der lancha betrieben wird, und eine kleinere Lampe. Obwohl ich schon einige Male zum Fischen mitgefahren bin, fällt es mir schwer, mich zu orientieren. Die Lagune ist gesäumt von kleinen und größeren Inseln. Wie weit wir aber schon in die Lagune hineingefahren sind, wo Xadani liegt und die Barra Santa Teresa beginnt, kann ich nicht genau sagen. Auch wo die Netze ausgeworfen werden, und nach welchen Kriterien das entschieden wird, erschließt sich mir oft nicht. Und dann gibt es Tage, da fahren die Fischer frühmorgens hinaus, und Tage, an denen sich kein einziger Fischer morgens am embarcadero einfindet, sich am Spätnachmittag jedoch rege Betriebsamkeit einstellt. Ich frage Luís, woran sie diese verschiedenen Entscheidungen festmachen. Er lächelt und antwortet lediglich: »Conocemos el mar y el norte.«132 Mir fällt Santiago ein, der sich bereits ganz ähnlich auf dem Koordinationstreffen bei Matías Romero geäußert hat. Ich möchte mehr wissen und frage Luís, wie dieses Kennen entsteht. Er antwortet, dass sie jeden Tag den norte und el mar betrachten, diese ihnen mitteilten, was zu erwarten sei. Dann entscheiden sie, ob sie auf die Lagune fahren. Jede Fahrt, jeder Tag oder jede Nacht, die sie mehr auf der Lagune verbringen, würde zum Kennen beitragen. Auf der Lagune seien es dann die Wellen, die Strömungen und die Erfahrungen aus vorangegangenen Fahrten, die ihnen sagten wo und wann die Netze ausgeworfen werden müssen. Um den Wind zu berücksichtigen verlassen sie sich auf die Wolken, die sich bei aufkommendem norte bei den Berghängen bilden würden. Außerdem sei die Windvorhersage im Fernsehen sehr nützlich und meist ebenso präzise wie ihre Einschätzungen.

132 »Wir kennen el mar und den norte.«

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An einem anderen Tag treffe ich erneut Emiliano zum atarraya-Fischen. Es ist ein windiger Morgen und Emiliano drängt mich zur Eile. Heute bräuchten wir nicht weit zu fahren, sagt er bereits auf dem Rad sitzend. Lediglich bis zu Salina Lodo, dort müsse es heute Garnelen geben. Wir radeln an der Saline vorbei und gelangen ans Ufer der Lagune. Emiliano springt sofort ins Wasser und wirft sein atarraya. Gleich im ersten Netz zappeln zahlreiche Garnelen. Auch die weiteren Würfe bringen Erfolg und der Korb füllt sich. Ober und unterhalb des Fangplatzes finden sich weitere Fischer ein. Andere, erzählt Emiliano seien bereits in der Früh vor Sonnenaufgang mit cayucos in Richtung Barra Santa Teresa aufgebrochen. Deleuze und Guattari benutzen das Konzept der Karte, um Verflechtungsprozesse von heterogenen Entitäten zu beschreiben (Deleuze / Guattari 1992: 2324). Sie erklären, dass eine Karte offen ist, »in all ihren Dimensionen verbunden, zerlegt und umgekehrt werden« und »ständig neue Veränderungen aufnehmen« kann (ebd. 24). Karten zu zeichnen ist ein offener Prozess, in dessen Verlauf Beziehungen in einem Gefüge heterogener Entitäten hervorgebracht, akzentuiert, zurückgestellt und aufgelöst werden können. Der Vorgang des ›Karte-Zeichnens‹ oder ›Karte-Machens‹ ist in diesem Sinne ein Sich-In-Beziehung-Setzen, bei dem Verbindungen zwischen Entitäten geknüpft werden. Eine Karte ist damit nicht nur ein Abbild der Welt, sondern auch ein Entwurf von Welt, zu deren Hervorbringung sie einen Beitrag leistet. Deleuze und Guattari benennen diesen Aspekt als »Performanz« der Karte (ebd.). In dem Entwurf von Welt der Ikojts hat el mar eine besondere Stellung. In ihrer Karte ist die Existenz der Ikojts unverbrüchlich mit der von el mar verflochten.133 Deutlich wird dies an der Einordnung, die José Gutierrez in einem Interview vornimmt.

133 Castaneira (2008b: 79) weist ebenfalls auf diesen Aspekt hin. Ausgehend von der Fruchtbarkeit der Lagune beschreibt er, wie mehrere unterschiedliche, miteinander verflochtene Entitäten konstitutiv für die sozionatürliche Welt der Ikojts sind: »El tema de la fertilidad lagunar es para los Huaves una cuestión de primera necesidad, está vinculado al conocimiento del espacio, del movimiento de las estrellas que revelan la hora y orientación durante la noche, del conocimiento de los ciclos de otros depredadores como en el pasado el lagarto (ahora extinto en la zona) que fue un aliado de los pescadores. Los ciclos anuales de las temporadas de vientos y lluvia conformaron el ritmo de su ciclo ritual en función de la base material de la producción lagunar.« Übersetzung: »Das Thema der Fruchtbarkeit der Lagune ist für die Huave eine Frage des Grundbedürfnisses, sie ist verknüpft mit dem Wissen über den

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José ist Lehrer an der secundaria134 in San Dionisio und aktiv im Widerstand gegen den Windpark. Ich treffe ihn zum Interview bei ihm zu Hause. Ximena, seine Frau, steht an einer Feuerstelle vor dem Haus und grillt Fisch. Wir setzen uns an den im Garten des Hauses aufgestellten Tisch und essen gemeinsam. Anschließend beginnen wir mit dem Interview. Für José ist es ein Anliegen, die enge Bindung von el mar und den Ikojts zu betonen, um den Argumenten der Ikojts gegen den Windpark ein entsprechend hohes Gewicht zu verleihen. Dabei geht er als Lehrer, wie auch beispielsweise die HändlerInnen, nur noch selten selbst fischen. Dennoch besteht für ihn eine außerordentliche Bindung zu el mar: »La razón de ser de nosotros pues es el mar. El mar es el que nos da todo. Entonces somos como los aves marinas, aquí nacemos, y empezamos de (unverstdl.), vamos para el mar, y, órale«135 (Interview José 01.06.2013). Er erklärt, dass der Grund dafür, dass die Ikojts sind, el mar ist. El mar gibt ihnen alles und ist so die Voraussetzung für ihre Existenz. Wie die Seevögel, sagt José, werden sie bei ihm geboren, und für alles, was sie brauchen, müssen sie nur zu el mar gehen. Für ihn ist der Platz der Ikojts in der Welt in und bei el mar. Die besondere Stellung von el mar für den Entwurf von Welt der Ikojts zeigt sich auch daran, dass der Cerro Cristo, der für die Ikojts wichtigste heilige Ort, inmitten der Lagune liegt. Der Cerro Cristo ist eine Insel, auf der es klingende Steine und eine Höhle gibt. In dieser haben die Ikojts eine Stätte zur Heiligenverehrung angelegt.136 Orte dieser Art werden häufig von indigenen Gruppen in Oaxaca gewählt, was mit Konzeptualisierungen von Territorium, aber auch mit der Weiterführung religiöser Praktiken aus präkolumbischer Zeit zu tun hat (Barabas 2008: 131-132). Während der Semana Santa137 suchen die Ikojts den

Raum, der Bewegung der Sterne, die die Zeit anzeigen und in der Nacht Orientierung verleihen, dem Wissen über den Zyklus anderer Raubtiere wie früher dem des Alligators (heute ausgestorben in der Region), der ein Alliierter der Fischer war. Ihr ritueller Kalender war auf die jährlichen Zyklen der Wind- und Regensaison und die ertragreichen Zeiten der Lagune abgestimmt.« 134 Sekundarschule 135 »Der Grund unseres Seins ist natürlich el mar. El mar ist es, das uns alles gibt. So sind wir wie die Seevögel, hier werden wir geboren, und fangen an (unverstdl.), wir gehen zu el mar, und, auf.« 136 Zur Bedeutung des Cerro Cristo in der mayordomía (rituelle Feste) bei den Ikojts siehe Hernández-Díaz / Lizama Quijano (1996: 70ff.) sowie Frey (1982b). 137 Karwoche

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Cerro Cristo auf. Sie beten und führen Andachten durch, bieten Opfergaben dar und halten einen Gottesdienst ab. In diesen Aspekten zeigt sich, dass die Ikojts fortwährend eine Karte der Lagunenlandschaft mit ihren Entitäten und Phänomenen zeichnen und aktualisieren. Die Karte ist ihre Methode, die es ihnen ermöglicht, die Beziehungen zu den sie umgebenden sozialen und natürlichen Entitäten zu knüpfen und zu gestalten. Ihre Vorgehensweise dabei ist die Bewegung, das Durchmessen von el mar, bei dem sie unterschiedlichen Entitäten begegnen, auf diese reagieren und versuchen, die Begegnungen zu ihrem Nutzen zu gestalten. Veränderungen können in die Karte integriert werden, wie die Wetterberichte und Windvorhersagen im Fernsehen, mit denen die eigenen Beobachtungen abgeglichen werden. Die Karte ermöglicht den Ikojts sowohl die Welt zu entwerfen und zu ordnen, als auch sich in dieser Welt zu verorten. Aktuell ist die Karte der Ikojts jedoch gefährdet. Denn trotzdem sie stetig durch die Ikojts aktualisiert und in dem Gefüge von sozialen und natürlichen Entitäten hervorgebracht wird, droht der Windpark sie zu übermalen und damit zu zerstören.138 Diese Bedrohung wird von den Ikojts auf die Infrastruktur des Windparks zurückgeführt, die auf der Barra Santa Teresa entstehen soll.

5.3 DIE KONTAMINATION DES WINDPARKS Selbst wenn man das Schmieröl und die Lichtreflexionen dazuzählt, ist Kontamination nicht das, was üblicherweise mit einem Windpark verknüpft wird. Um dennoch jegliche Zweifel gegenüber dem Parque San Dionisio auszuräumen, haben Mareña Renovables und staatliche Institutionen Studien in Auftrag gegeben.139 Diese Studien haben zum Ziel, die Umweltverträglichkeit des Parque San Dionisio nachzuweisen. In einem Statement (Mareña Renovables 2014) nimmt das Windpark-Unternehmen Bezug auf eine der Studien: To ensure that the project would not have any impact on the fishing communities of the Ikojts, studies were conducted by QV Gestion Ambiental on the possible

138 Zum Übermalen und der Zerstörung von Karten vgl. Deleuze / Guattari (1992: 2526). 139 Zum Beispiel die Studie »Manifestación de Impacto Ambiental Modalidad Particular, Sector Eléctrico. ›Parque Eólico San Dionisio del Mar‹« (2009) der Regierungsinstitution Secretaría de Medio Ambiente y Recursos Naturales (SEMARNAT).

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impact of noise and vibrations on aquatic fauna of the Istmo Lagoon. The study found that there will be no impact on marine wildlife.

Weiter heißt es: »The area where the project is located is not considered an environmental area at risk by the appropriate Mexican authorities (ebd.).« Zu diesem Zeitpunkt im August 2014 ist der Konflikt um den Windpark längst eskaliert. Der Gemeindepräsident von San Dionisio ist durch die Asamblea General del Pueblo de San Dionisio del Mar abgesetzt, der Gemeindepalast besetzt und die Asamblea verhindert neue Wahlen. Die Ergebnisse der Studien, welche die Umweltverträglichkeit des Windpark-Projekts nachweisen sollen, können die Bedenken der Ikojts nicht zerstreuen. Sie nennen den Windpark: »el parque eólico que contamina«140. Die »contaminación«, von der die Ikojts sprechen, erscheint nicht als etwas, das sich durch Studien oder entsprechende umweltschützende Maßnahmen einfach aus dem Weg räumen ließe. Vielmehr zeichnen die Ikojts ihre Welt als bedroht durch die Kontamination des Windparks (vgl. Abb. 5.5). Die Auffassung des Windparks als eine existenzielle Bedrohung gründet nicht darauf, dass die Ikojts die Ergebnisse der Studien nicht begreifen oder grundlegende Zweifel an dem biologischen Gutachten haben, auf das sich Mareña Renovables bezieht. Es ist vor allem die besondere Lage des Parque San Dionisio, die bei den Ikojts Unbehagen weckt. Verantwortlich dafür sind die Windturbinen, die auf der Barra Santa Teresa aufgestellt werden sollen. Hierbei geht es den Ikojts nicht nur um mögliche Verunreinigungen, die durch die Turbinen hervorgerufen werden. Vielmehr geht die Bedrohung von dem Eindringen der Windturbinen selbst in die Lagune aus. Dieses Eindringen bedroht die sozionatürliche Welt der Ikojts, da sich im Zuge dessen das Gefüge der sozialen und natürlichen Entitäten in der Lagune verändern würde. Entsprechend materialisiert sich für die Ikojts die Kontamination des Windparks auf zweifache Weise. Zum einen stellen die Windturbinen in den fragilen Mangroven an der Barra Santa Teresa eine konkrete Bedrohung des Habitats der Garnelen und Fische und damit des Fischfangs dar. Damit einhergehend ändert sich »alles« für die Ikojts, was nichts weniger bedeutet, als dass der ontologische Status von el mar auf dem Spiel steht, das mit einem Windpark auf der Barra zu etwas Anderem werden würde.

140 »Der Windpark, der kontaminiert.«

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Abb. 5.5 Ein Plakat, das auf einem Treffen der vier Dörfer der Ikojts zur Organisation des Widerstands gegen den Parque San Dionisio zu sehen war, verdichtet, was für die Ikojts auf dem Spiel steht. Durch ihre besondere Lage und als Basis für die Turbinen wird die Barra Santa Teresa selbst zu einem wichtigen Teil der Windpark-Infrastruktur. Infrastrukturen sind durch ihre Verbindungen der sozialen und natürlichen Welt gekennzeichnet (Harvey et al. 2017: 158-160). Sie besitzen sowohl einen verbindenden Aspekt als auch selbst eine spezifische Verfasstheit. Infrastrukturen sind dafür verantwortlich, dass es zu Austausch- und Interaktionsprozessen zwischen Objekten kommt. Damit sind Infrastrukturen Objekte, die eine Funktionsbasis für weitere Objekte begründen (Larkin 2013: 329). Dies verweist zum einen darauf, dass Infrastrukturen Voraussetzungen schaffen, damit spezifische Interaktionen möglich sind: In diesem Fall sind es die Windturbinen, die Voraussetzung dafür sind, dass aus Wind Energie werden kann. Des Weiteren haben Infrastrukturen nach Brian Larkin einen relationalen Charakter: »their particular ontology lies in the fact that they are things and also the relation between things« (ebd., Hervorhebung im Original); im Sinne des Konzepts des Gefüges ergibt sich der ontologische Status von Infrastrukturen jedoch nicht durch eine ihnen innewohnende Verfasstheit, sondern durch die Beziehungen, die diese eingehen. Infrastrukturen

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sind damit nicht lediglich gebaute Technologie, sondern Teil eines Geflechts von Beziehungen, in dem unterschiedliche Entitäten miteinander interagieren. Für die Turbinen auf der Barra heißt das, dass die Infrastruktur demzufolge nicht erst ab dem Windrad beginnt, sondern der Wind und auch die Barra selbst Teil des infrastrukturellen Gefüges werden. Andrew Barry bezeichnet solche Gefüge technischer und natürlicher Entitäten als »more-than-human infrastructure of the earth in and on which the infrastructure is assembled« (Barry 2017: 188). Barry verweist darauf, dass die Beziehungen von Infrastrukturen über ihre technischen Komponenten hinausgehen. Er betont damit einen oft vernachlässigten Aspekt in der Analyse von Infrastrukturen.141 Denn mit einer Infrastruktur stehen zahlreiche menschliche und nicht-menschliche Entitäten in Austauschbeziehung. So verbindet eine Stromleitung nicht nur ein Windrad mit einer Transformerstation, die Leitung ist beispielsweise auch mit dem sie umgebenden Erdreich verbunden. 142 In »more-than-human infrastructures« sind natürliche Entitäten integraler Bestandteil. Ashley Carse erklärt in seiner Studie zu Natur als Infrastruktur, dass bei solchen Infrastrukturen der Fokus auf der Funktion, Leistung oder dem Dienst liegt, den ein System in der Lage ist zu erbringen (Carse 2012: 542). Entscheidend ist nach Carse weniger, woraus Infrastrukturen oder ihre einzelnen Komponenten ›gemacht‹ sind, sondern vielmehr welche Funktion sie ermöglichen oder welchen Dienst sie leisten (ebd.). Carse analysiert dies am Beispiel des Panamakanals, bei dem aus Wasserläufen und Seen eine Infrastruktur geschaffen wird, die zu einem großen Teil natürliche Entitäten einbindet (vgl. auch Carse 2014). Im Fall der Barra Santa Teresa besteht der Dienst darin, eine Basis für die in Reihe verbundenen Turbinen bereitzuhalten. Das Konzept des Gefüges macht jedoch sichtbar, dass Infrastrukturen nicht nur Beziehungen zwischen Entitäten schaffen beziehungsweise ermöglichen. Infrastrukturen können auch dazu führen, dass Beziehungen ausgeschlossen werden, sprich, nicht mehr möglich sind, weil (bereits) andere Beziehungen eingegangen wurden. Infrastrukturen schaffen durch ihre Beziehungen demnach

141 Vgl. auch Bruun Jensen (2017). 142 Darüber hinaus hat Infrastruktur nicht eine zwangsläufige Richtung, in der sie in der Lage ist, Verbindungen einzugehen. Vielmehr entstehen zahlreiche, mitunter kontingente Verbindungen, die bei der Errichtung weder intendiert noch vorhergesehen wurden. Beispielsweise korrodieren Metallteile, die sich mit Luft- und Wassermolekülen verbunden haben, oder Vögel brüten auf Masten von Stromleitungen.

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nicht nur Potentiale, sondern schränken auch Potentiale ein oder verhindern sie ganz. Dies sind Ausschlussbeziehungen, die mit Infrastrukturen einhergehen. Ausschlussbeziehungen von Infrastrukturen haben den Effekt, bestimmte Nutzungsweisen und Praktiken nicht mehr zu ermöglichen oder sogar aktiv zu verhindern. Carse beschreibt dies folgendermaßen: As a landscape becomes infrastructure for one system of production, rather than another, a different group of environmental services (purposefully selected from a multiplicity of possibilities) becomes relevant. In a peculiar inversion, the landform may then be reverse engineered to meet the demands for the prioritized service(s) (Carse 2012: 540, meine Hervorhebung).

Wird eine Landschaft oder natürliche Entität Teil einer Infrastruktur, verschiebt sich die Funktion oder der Dienst, die sie in der Lage ist zu erbringen. Es wird eine andere Funktion priorisiert und die natürlichen Entitäten Teil eines anderen Gefüges. Auswirkungen hätte das Infrastruktur-Werden der Barra Santa Teresa aus Sicht der Ikojts zunächst einmal auf die Fische, Garnelen und Mangroven. Die Mangroven, die Ufer und die Fische Die Lagune ist trotz der großen Anzahl an Fischern um sie herum immer noch relativ reich an Fisch. Das liegt nicht nur an den Fischfangtechniken der Ikojts, die dazu beitragen, die Lagune zu schützen (Espinosa Tenorio et al. 2013: 3). An ihren Ufern in den zeitweise überfluteten Bereichen wachsen Mangroven in verschiedenen Arten und Größen (zum Beispiel Rhizophora mangle, Laguncularia racemosa, Conocarpus erectus, vgl. Castaneira 2008b: 49). Mangroven existieren nicht als einzelne Bäume oder Büsche, sondern sie sind ein Gefüge von zahlreichen Pflanzen, die sich zwischen Wasser und Land verteilen.143 Sie geben dem Land an den Ufern halt und bieten Rückzugsräume für Garnelen und Fische, die zur Nahrungsaufnahme in die Mangroven kommen und deren Laichgründe

143 Der Ethnologe Arturo Escobar beschreibt Mangroven als Gefüge relationaler Entitäten: »The mangrove forest involves many relational entities involving what we might call minerals, mollusks, nutrients, algae, microorganisms, birds, plant, and insects – an entire assemblage of underwater, surface, and areal life« (2016: 17). Zur Bedeutung von Mangroven für Küsten und Garnelen siehe ferner Macintosh (1996) sowie Primavera (1998).

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sie auch sind. Mangroven sind daher ein wichtiger Baustein im Reproduktionszyklus dieser Tiere, was die Ikojts sich für ihren Fischfang zunutze machen.144 Aus Sicht der Ikojts würde der Bau der Windturbinen auf der Barra Santa Teresa mit einer Zerstörung von Mangroven einhergehen. Problematisch ist dies, weil damit die Fische und Garnelen gefährdet sind. Mateo erklärt hierzu: Porque el… los aerogeneradores, dice que va a perjudicar el pescado. Lo va a correr [uhum]. La corriente del mar, dice que va a jalar los aerogeneradores, por la energía [uhum]. Y… pues muchos… biólogos dijeron que, el aerogenerador es, es malo. Es malo para que esté pegado a la orilla del mar. Porque per, va a perjudicar el mar, pues (Interview Mateo 29.11.2014).145

Die Fische würden die Lagune verlassen, sagt Mateo, und zwar deshalb, weil die Turbinen zu nahe an oder vielmehr in el mar stünden. Das vertreibt nicht nur die Fische, sondern schädigt el mar. Diese Ansicht teilt die Mehrheit der IkojtsFischer. Bei dieser Erkenntnis stützen sich die Ikojts auch darauf, dass sie im Bereich der bereits nahe an die Lagune herangebauten Windparks zwischen Xadani und Unión Hidalgo keine Fische mehr fangen: Pues digo yo que es la verdad, porque… ya, se está viendo, pues. Ya no hay pescado por ahí. No, no acerca el pescado por ahí [uhum]. Anteriormente acerca el pescado por ahí [uhum]. Y todo esos comederos de pescado, nosotros sabemos dónde, como… tipo… tipo conchal. Tipo conchero, tipo donde, donde el pescado

144 Vgl. hierzu Castaneira (2008a: 24): »[L]os huaves son más comparables con los grupos ›que explotaban el manglar y el estuario‹ en el Guayas, que con los puneños, ›navegantes, mercaderes y corsarios‹.« Übersetzung: »Die Huaves sind eher mit Gruppen vergleichbar, die ›die Mangroven und Flussmündungen‹ in den Guayas [die Guayanas, Anm.] ausgebeutet haben, als mit den Puneños [BewohnerInnen Punos am Titicaca-See], ›Seefahrern, Händlern und Korsaren‹.« 145 »Weil der… die Windturbinen, sagt man, dass sie den Fisch in Mitleidenschaft ziehen werden. Sie werden ihn vertreiben [uhum]. Die Strömung von el mar, wird die Windturbinen hineinziehen, sagt man, wegen der Energie [uhum]. Und… also viele… Biologen sagten, dass, die Windturbine, schlecht ist. Sie ist schlecht, wenn sie ans Ufer geklebt wird. Weil sie also el mar in Mitleidenschaft ziehen wird.«

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llega a co, Ya no llegan ahí. Ya no se ven, pues [uhum]. Sí. Por ésa, por esa causa, dicen (Interview Mateo 29.11.2014).146

Für Mateo sind die Windturbinen dafür verantwortlich, dass bereits jetzt die Fische den oberen Teil der Lagune meiden. Dieses Verhalten der Fische ist für ihn direkt darauf zurückzuführen, dass es Windparks nahe an der Lagune gibt. Auf diese Weise wirft die bereits bestehende Windpark-Infrastruktur in der Region für die Ikojts ihre Schatten voraus. Etwas völlig anderes jedoch käme aus ihrer Sicht in Gang, wenn der Windpark auf der Barra Santa Teresa und damit in die Lagune gebaut würde. Die Barra Santa Teresa als Teil der Windpark-Infrastruktur Auf den Windpark angesprochen erklärt Miguel, der Schafzüchter und Händler, dass Wind wie die Lagune und das Land zu San Dionisio gehören. Diese seien nun jedoch bedroht: »Pero las empresas destruyen todo que es agua, tierra y viento« 147 (Gespräch Miguel 01.03.2014). Wo nun wird das, was Miguel den Windpark-Unternehmen zuschreibt, wirksam? Oder, mit Karen Barad gefragt: Wie werden diese Differenzen gemacht, was wird ausgeschlossen, und wie haben diese Ausschlüsse Gewicht (»how different differences get made, what gets excluded, and how those exclusions matter« (Barad 2007: 30))? Um diese Fragen zu beantworten ist es nötig, auf das Verhältnis von el mar und der Windpark-Infrastruktur zu blicken. Die Infrastruktur greift hier auf eine Weise ein, die einen Unterschied dafür macht, wie sich die Ikojts zu el mar in Beziehung setzen. Indem die Windpark-Infrastruktur in el mar eindringt und dabei Ausschlussbeziehungen hervorbringt, bedroht sie den ontologischen Status von el mar. Dies wird daran ersichtlich, wie sich das Gefüge von el mar durch die Windpark-Infrastruktur verändern würde. Im Fall des Parque San Dionisio beginnen die Veränderungen bereits ab der Bauphase. Edith von Mareña Renovables spricht von »restricciones tempora-

146 »Also, ich sage es ist die Wahrheit, weil… man sieht es bereits. Es gibt keinen Fisch mehr dort. Nein, es nähert sich der Fisch nicht mehr dort [uhum]. Früher kamen die Fische dorthin [uhum]. Und alle die Nahrungsgründe der Fische, wir wissen, wo sie sind, wie… ähnlich… ähnlich wie eine Ohrmuschel. Ähnlich wie eine Muschel, wo, wo die Fische hinkommen, um zu ess – sie kommen nicht mehr. Man sieht sie nicht mehr [uhum]. Ja. Aufgrund dieser Sache, sagt man.« 147 »Aber die Unternehmen zerstören alles, was Wasser, Erde und Wind ist.«

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les«148 in einem Sperrbereich für die Zeit, wenn die Zementfundamente für die Turbinen gelegt werden: [V]a a haber, eh, restricciones, temporales, de acuerdo al tramo y al proceso de construcción. Eso significa, te voy a poner un ejemplo, que cuando se estén haciendo las cimentaciones para un grupo de turbinas, va a ser un área restringida, porque las cimentaciones son, de diez metros de profundidad. En ese momento va a estar restringido (Interview Edith Januar 2014).149

Edith benennt Aspekte dessen, wie eine Windkraftanlage an ihrem Bestimmungsort errichtet wird. Dafür müssen mehrere Baumaßnahmen durchgeführt werden (vgl. Kaltschmitt et al. 515-16). Zunächst wird ein Fundament aus Zement erstellt. Danach werden die Turmsektionen mit einem Kran gehoben und aufeinander montiert, wobei die unterste Turmsektion direkt mit dem Fundament verschraubt wird. Der Kran muss, wie auch die Anlagenkomponenten, an den Aufstellort der Turbine gebracht werden und dort operieren können. Auf die Turbine wird schließlich ein Maschinenhaus montiert und zuletzt eine Nabe mit Rotorblätter angebracht. Für die Baumaßnahmen sowie den anschließenden Betrieb wird auf und um die Barra Santa Teresa ein Sperrbereich gesetzt. Die Barra Santa Teresa und der umliegende Bereich der Lagune sind dann kein Fanggrund mehr, es wird stattdessen ihre Funktion für den Windpark priorisiert. Als Infrastruktur ist die Barra nun für das ordentliche Funktionieren des Windparks mitverantwortlich. Dies bleibt nicht auf die Bauphase beschränkt. Die Ikojts berichten, Mareña Renovables habe für den fertiggestellten Windpark eine Schutzzone ausgewiesen, die weit bis in die Lagune hineinragt. Bei einem Treffen mit Mareña Renovables, erzählt José, wurde ihm und anderen VertreterInnen der Dorfversammlung eine Karte präsentiert. Darauf waren die Barra Santa Teresa und die Bereiche herum in der Lagune markiert. Dort, so habe die Firma gesagt, würde niemand mehr fischen, erklärt mir José, denn da sei dann der Windpark. Weder, so erzählt er weiter, könnten sie wie zuvor an Land zu den Fanggründen gehen, weil

148 »temporäre Einschränkungen« 149 »Es wird, eh, temporäre Einschränkungen, in Abhängigkeit vom Bauprozess geben. Das bedeutet, ich werde dir ein Beispiel geben, dass wenn die Zementfundamente für eine Gruppe von Turbinen gelegt werden, wird dies ein Sperrbereich sein, weil die Zementfundamente zehn Meter tief sind. In diesem Moment wird es gesperrt sein.«

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dann dort alles abgezäunt sein werde, noch könnten sie dann wie zuvor in der Lagune fischen. Manuel DeLanda benutzt zur Beschreibung von Veränderungen in Gefügen den Begriff »relations of exteriority«. Nach Manuel DeLanda besitzen Gefüge keine organische Einheit (»organic unity«, DeLanda 2006a: 9), sondern werden durch die Beziehungen hervorgebracht, welche den ein Gefüge konstituierenden Entitäten äußerlich sind (ebd. DeLanda 2006a: 10-12). Es kommt in einem Gefüge also weniger auf die Entitäten selbst an, sondern darauf, was zwischen ihnen für Beziehungen möglich sind (Deleuze / Parnet 1987: viii). Indem Entitäten eines Gefüges bestehende Beziehungen aufrechterhalten, können sie daran arbeiten, die Identität des Gefüges zu stabilisieren (DeLanda 2006a: 12). Sie können jedoch auch das Gefüge verändern und zu einem anderen Gefüge machen, indem sie neue Beziehungen eingehen (ebd.). Wird eine Entität Teil eines anderen Gefüges, sind ihr andere Handlungen möglich als ihr als Teil des bisherigen Gefüges möglich waren: »These relations imply, first of all, that a component part of an assemblage may be detached from it and plugged into a different assemblage in which its interactions are different« (ebd. 10). Indem die Barra Santa Teresa herausgelöst wird aus dem Gefüge des Fischfangs der Ikojts und als Windpark-Infrastruktur Teil des Windenergie-Gefüges wird, sind ihr andere Interaktionen möglich. Sie bildet die Basis für die Windturbinen und erlaubt diesen, dem Wind dort zu begegnen, wo er am Stärksten weht. Durch Teil-Werden dieses anderen Gefüges eröffnen sich jedoch nicht nur neue Möglichkeiten. Denn eine Veränderung der Beziehungen zwischen den Entitäten kann das gesamte Gefüge ändern. Tonio benennt dies folgendermaßen: Yo no me veo. Porque se… se ocuparía de manera inapropiada. Y, de que nos pongan la energía gratis acá y que el ventilador se instale ahí, pues tampoco es la alternativa. Si lo quieren poner acá, ahí están los cerritos, que lo instalen ahí. Que lo llenen, si quieren ahí. En esos cerros [uhum]. Pero aquí en el mar no. Porque es nuestra… fuente de vida… (Interview Tonio 18.12.2014).150

150 »Ich sehe das nicht. Weil es… es würde den Platz auf auf unangemessene Weise besetzen. Und, selbst wenn sie uns die Energie umsonst geben und die Windräder dort installieren würden, ist das auch keine Alternative. Wenn sie das hier aufstellen wollen, dort hinten sind Hügel, sollen sie es doch dorthin bauen. Sollen sie es da vollmachen, wenn sie mögen. Die ganzen Hügel. Aber hier, in el mar, nein. Weil das unsere… Quelle des Lebens ist.«

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Für Tonio besetzen die Windturbinen die Barra auf unangebrachte Weise. Sie wären ein Eingriff in das Gefüge von Fischen, Garnelen, Mangroven und Fischfang. Dieser Eingriff zeigt sich einerseits in den materiellen Einsprüchen wie Schmieröl, Zäunen und Lichtreflexionen, welche die Ikojts als Kontamination beschreiben. Zugleich wird Kontamination insbesondere aber durch die Infrastrukturierung der Barra Santa Teresa erzeugt, denn dies würde die Reproduktionsschemata und Nahrungssuche der Garnelen und Fische affizieren. Das Eindringen der Windturbinen würde damit eine ihrer zentralen Beziehungen gefährden: die des sacar para la comida; die Produktion von Windenergie in der Lagune hätte damit Auswirkungen auf die auf das Gefüge der Entitäten abgestimmten Beziehungen der Ikojts zur Folge. Denn die Barra Santa Teresa als Teil der Windpark-Infrastruktur kann zwar Teil des Windenergie-Gefüges werden, sie wäre aber dann nicht mehr Teil des Fischfangs – der Fischfang in el mar wäre damit ein anderer. Die Politikwissenschaftlerin Jane Bennett erklärt dazu: »A particular element can be so contingently well placed in an assemblage that its power to alter the direction or function of the whole is unusually great« (Bennett 2010: 42). Im Sinne Bennetts würde durch die Windturbinen die Verfasstheit von el mar affiziert, für das deren Eindringen eine Neukonfiguration zu Folge hätte. Diese Neukonfiguration wäre dabei jedoch für die Ikojts ausschließlich (im Sinne von: ›etwas ausschließen‹) für ihre Beziehung des sacar para la comida in el mar. Barad (2007: 59) bezeichnet einen solchen Vorgang als den konstitutiven Effekt von Ausschlüssen (»the constitutive effect of exclusions«, vgl. ebd. 239). Nach Barad entsteht die ontologische Konstitution von Gefügen aus den Beziehungen der Entitäten zueinander. Dies bedeutet zugleich, dass der Ausschluss von Beziehungen in Gefügen unmittelbar Auswirkungen auf deren Verfasstheit hat. Für die Ikojts heißt das, dass der Ausschluss der Beziehung des sacar para la comida sich unmittelbar auf den Status von el mar auswirkt: Das Gefüge, aus dem el mar gemacht ist, würde durch die Infrastrukturierung der Barra zu etwas Anderem werden, womit für die Ikojts entscheidende Aspekte der ontologischen Konstitution von el mar in Frage gestellt wären. *** Die Kontamination des Windparks entsteht aus Sicht der Ikojts entlang der Reibungsflächen zwischen dem Windpark, dem Fischfang und el mar. Letzteres hält Fische, Garnelen und Krebse bereit und besitzt dadurch große Relevanz für die tägliche Beschaffung von Nahrungsmitteln. Dabei ist el mar keineswegs eine passive natürliche Entität, auf die lediglich zum Zwecke einer Ressourcenaus-

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beutung zugegriffen wird. El mar ist vielmehr ein wichtiger Teil der sozionatürlichen Welt der Ikojts. Daran anschließend ist die Kontamination, von der die Ikojts in Bezug auf den Windpark sprechen, nicht binär zu betrachten und in Opposition zu etwas ›Sauberem‹ zu sehen, sondern entfaltet sich vielmehr entlang dieser Reibungsflächen. Sie betrifft maßgeblich die ontologische Verfasstheit des Gefüges von el mar, das sich wandelt, wenn bestimmte ihm zugehörige Entitäten wie die Barra Santa Teresa andere Beziehungen eingehen. Es entsteht ein neues Gefüge, mit neuen Nutzungsmöglichkeiten und Fähigkeiten, aber eben auch Ausschlussbeziehungen. Es sind nicht einfach die Mangroven und es ist nicht einfach der Fischfang, der durch den Windpark bedroht ist, sondern es steht der ontologische Status von el mar auf dem Spiel: als frei passierbarer Bereich, als gebende Entität, als Teil des Kollektivs der Ikojts; das Infrastruktur-Werden der Barra Santa Teresa ist somit nicht losgelöst zu denken von el mar und dessen ontologischem Status in den sozionatürlichen Beziehungsgeflechten der Ikojts. Die Kontamination, welche der Windpark hervorrufen würde, ist in diesem Sinne für die Ikojts etwas, was das gesamte sozionatürliche Beziehungsgeflecht durchzieht, in dem sie engagiert sind. Zu ihr werden erwartete Veränderungen gezählt, die für sie ontologische Verfasstheiten sozionatürlicher Entitäten in Frage stellen. Auch Vorhaben, die Auswirkungen des Windparks abzumildern, machen daher keinen Unterschied für die Ikojts. Denn der Windpark ändert für sie alles und er ist damit eine Bedrohung ihrer sozionatürlichen Welt.

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Veränderungen in der Nutzung der Lagune Die Lagune gilt zwar aus Sicht der mexikanischen Regierung als Staatseigentum (Brockmann 2004: 84), die Ikojts haben jedoch eine eigene Ansicht, wem sie gehört. Keineswegs ist es ›ihre‹ Lagune, vielmehr teilen sie sie sich gemeinsam mit zahlreichen Fischer-Gruppen, die an ihrem Ufer leben. Bei einem Gespräch über die atarraya-Fischer frage ich Emiliano, wie viele Leute um San Dionisio herum fischen (Gespräch Emiliano 27.10.2014). Emiliano schätzt, dass etwa 80 Leute bei der Salina Lodo fischen, nochmal 80 an dem Stück oberhalb, 80 auf der anderen Seite des cerro151 und vorn an der Playa San Martín noch einmal so viele. Die Ikojts aus San Dionisio Pueblo Viejo und San Mateo gehen oft in die garnelenreichen Gebiete an der Barra Santa Teresa. Auf der anderen Seite der Lagune fischen sowohl Ikojts aus San Mateo, als auch Binnizá aus Álvaro Obregón. Ich frage Emiliano, ob es nicht zu Konflikten an den Fanggründen kommt. Er verneint entschieden. Fischen sei frei, erklärt er, jeder könne da fischen, wo er wolle. Mit Pablo komme ich bei einer anderen Gelegenheit erneut auf das Thema zu sprechen. Er benennt dies so: Compartir el mar es parte de nuestra cultura. No hemos sido egoístas en la parte del mar. Salvo, en el caso de Chiapas, que abusaron en un momento dado, que se vinieron todos los pescadores de Paredón, y quisieron invadir todo lo que es este mar. Entonces, sí se les puso un alto. Pero lo que es Oaxaca, la gente se mete y pesca donde quiere, libre. Nosotros compartimos ese mar. Nunca hemos dicho, »aquí es nuestro«. Siempre lo hemos compartido. Y yo creo que fue el éxito de la lucha también (Interview Pablo 09.01.2015).152

Wie Emiliano verweist Pablo darauf, dass es bei el mar nicht um Exklusivität geht. Die gemeinsame Nutzung im Fischfang ist im Gegenteil in der Konzeption

151 Berg, Hügel 152 »El mar zu teilen ist Teil unserer Kultur. Wir sind keine Egoisten in Bezug auf el mar gewesen. Außer, im Fall von Chiapas, die dies einmal missbraucht haben, als alle Fischer von Paredón gekommen waren und in el mar einfallen wollten. Damals hatten wir gesagt: Stopp. Aber für alle aus Oaxaca gilt, dass die Leute hineingehen und fischen wo sie möchten, frei. Wir teilen el mar. Niemals haben wir gesagt, ›das hier ist unser.‹ Wir haben es immer geteilt. Und ich glaube, dass das auch zu dem Erfolg des Kampfes beigetragen hat.«

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von el mar durch die Ikojts angelegt. Pablos Erzählung ist dabei nicht frei von Widersprüchen. Immerhin berichtet er, dass als einmal zahlreiche Fischer aus Chiapas kamen, diese schon zurückgewiesen wurden. Jedoch handelt es sich aus seiner Sicht dabei um eine Ausnahmesituation. Die Beobachtungen während der Feldforschung in San Dionisio legen nahe, dass in den alltäglichen Nutzungsweisen der gemeinsame Aspekt überwiegt. Zahlreiche Fischer teilen sich die Lagune im Fischfang, der sich durch neue Technologien wie lanchas mit Außenbordmotor und zuletzt vor einigen Jahren durch die copos immer wieder gewandelt hat. Hermilo, ein Lehrer aus San Dionisio, besingt diesen Wandel in einem Lied (Box 5.1153). Box 5.1 Lied »Me voy a pescar« Text und Musik: Hermilo Gómez Ya las cosas han cambiado en mi San Pancho del Mar Las canoas han cambiado por las lanchas de pescar Que viven los cooperativistas y el comité de administración Que con la fe de sindicalistas reciben todo el camarón En las mañanas frescas de brisas allá en mi pequeño malecón Me voy, me voy, me voy a pescar a bordo de mi lanchita con mi buena lamparita Me voy, me voy, me voy a pescar a bordo de mi lanchita con mi buena lamparita

153 Ich gehe fischen Die Dinge haben sich gewandelt in meinem San Pancho del Mar Die Kanus haben sich gewandelt jetzt gibt es die Fischer-lancha Es leben die Kooperativistas und das Verwaltungskomitee Mit dem Glauben der Gewerkschafter bekommen alle Garnelen Am Morgen erfrischt die Brise, dort an meiner kleinen Hafenmole Ich gehe, gehe, gehe fischen, an Bord meiner kleinen lancha mit meinem kleinen guten Lämpchen

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In Hermilos Lied zeigt sich, dass die Ikojts Veränderungen wie neue Technologien durchaus in ihre Konzeptualisierung von el mar integrieren. Allerdings werden auch diese Veränderungen nicht nur positiv gesehen. Alejandro Pineda, der selbst keine lancha besitzt und ausschließlich mit atarraya fischt, bemerkt: Pues yo creo que… los mismos… los… los mismos pescadores… por los ruidos que hacen, los motores. Ya ves que, por acá pasa uno, al rato viene el otro. Unos van, y otros vienen, así. Y ruido, ruido, lo, que el pescado pues, se está retirando. Porque anteriormente no, no había… no había lancha, no había motores, puro cayuco, los pescados mira, ahí. Así iban… Un chingo. No hay ruido, no hay nada… Pues… no se van los pescados, ahí queda. Con la vara, tira la manga y levantan y se va. Nada más una tirada y vámonos. Y ahorita, cuando empezaron los de la lancha, como que se arriscaron, el pescado (Interview Alejandro 28.01.2015).154

Trotz seiner Kritik hat Alejandro, der das Aufkommen der Motoren Ende der 1970er Jahre als Jugendlicher erlebt hat, akzeptiert, dass ein Teil der Fischer sich dieser neuen Technik zuwendet, obwohl sie möglicherweise Auswirkungen auf die Lagune hat. Die Einbindung neuer Technologien wird von den Ikojts nicht kategorisch abgelehnt. Sichtweisen wie die von Hermilo und Alejandro zeigen, dass es jedoch Unterschiede gibt, welche Erwartungen daran geknüpft sind. Während Hermilo darauf hofft, dass die lanchas bessere Garnelen-Fänge ermöglichen, ist Alejandros Haltung weitaus kritischer, was die möglichen Vorteile anbelangt. In beiden Szenarien sind die Ikojts jedoch selbst aktiv involviert, haben einen gewissen Einfluss auf die Prozesse und Fischfang findet, wenngleich auf bestimmte Weise verändert, weiter statt. Dies zeigt, dass Veränderungen des Gefüges von el mar für die Ikojts mit der Karte zu vereinbaren sein müssen, die sie von el mar haben. Das bedeutet nicht

154 »Also, ich glaube, dass… dieselben… die… dieselben Fischer… mit dem Lärm, den die Motoren machen. Du siehst, hier kommt der eine vorbei, kurz darauf der andere. Die einen kommen, die anderen gehen, so. Und Lärm, Lärm, der, dass der Fisch also, sich zurückzieht. Weil es das früher nicht gegeben hat… es gab keine lancha, es gab keine Motoren, es gab nur cayucos, und die Fische, schau, da. So bewegten sie sich. Und wie. Es gibt keinen Lärm, es gibt gar nichts… Also… hauen die Fische nicht ab, sie bleiben da. Mit der Stange wirft man das Netz und hebt es hoch und weg ist er. Nicht mehr als ein Wurf und pack’mas. Und heute, als das mit den lanchas anfing, sind die Fische verärgert.«

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nur, dass es um ihre Beteiligung an den Prozessen geht, die in el mar vonstatten gehen. Es muss für sie auch gewährleistet sein, dass die für sie zentralen Beziehungen zu el mar weiterhin möglich sind, aufrechtzuerhalten. Damit macht es für die Ikojts einen Unterschied, ob sich Technologien im Fischfang wandeln, oder eine Veränderung durch die Windpark-Infrastruktur die Verfasstheit von el mar betreffen würde.

5.4 IM GEFÜGE DER WINDENERGIE AM ISTHMUS Windenergie stellt sich als ein komplexes Gefüge dar, in dem je nach Sichtweise sehr unterschiedliche Akteure versammelt sein und in Austauschbeziehungen geraten können. In der Perspektive der Ikojts gewinnt Windenergie zahlreiche Aspekte hinzu, die sonst nicht mit ihr verknüpft werden. So tritt der Fischfang und dessen zentrale Stellung, die er für die Lebensweise der Ikojts einnimmt, durch den Windpark verstärkt zutage. Diese Lebensweise ist für die Ikojts an ein Gefüge sozionatürlicher Entitäten gebunden, das ihnen Fortbestand ermöglicht und daher beschützt werden muss. Indem Windenergie droht dieses Gefüge zu verändern, geraten ontologische Verfasstheiten von Entitäten wie el mar für die Ikojts in Gefahr. Dabei entstehen Reibungen zwischen Windenergie und Aspekten ihrer sozionatürlichen Welt, welche die Ikojts als Kontamination betrachten. Die Konzeption als Kontamination dient ihnen dazu, die zu erwartenden umfassenden Veränderungen des Gefüges der Lagune zu erfassen und zugleich Aspekte ihrer sozionatürlichen Welt zu betonen, die für sie vor diesem Hintergrund besonders wichtig werden. Auf diese Weise zeigt die Perspektive der Ikojts Windenergie in ihren mannigfaltigen Verflechtungen mit weiteren Entitäten und damit in einem anderen Zusammenhang als sie bislang betrachtet wurde. In dieser Sichtweise sind in der Windenergie soziale und natürliche Bereiche auf vielfältige Weise miteinander verflochten. Für die Analyse dieser Verflechtungen erlaubt das Konzept des Gefüges, die zu Windenergie gehörigen Infrastrukturen nicht nur auf ihren produzierenden und verbindenden Aspekt hin zu betrachten, sondern auch die mit ihnen einhergehenden Ausschlussbeziehungen hervorzuheben. Diese hängen nicht nur von den ›natürlichen‹ Energieträgern ab, sondern davon, auf welche Weise diese Energieträger Teil anderer Gefüge sind. Die erwarteten Veränderungen als Kontamination zu betrachten ist auf diese Weise auch ein Gegenentwurf zu einer simplifizierend als ›grün‹ und ›sauber‹ konzipierten erneuerbaren Energie. Am Beispiel von Windenergie bei den Ikojts zeigt sich somit, dass erneuerbare Energien, je nach Gefüge, in dem sie hervorgebracht werden, gänzlich

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anders verfasst sein können. Was erneuerbare Energie ist, oder vielmehr, zu was sie wird, ist damit stets ein Produkt der lokalspezifischen Verflechtungen. In Aushandlungsprozessen um erneuerbare Energien geht es entsprechend auch um ontologische Fragen. Denn in der Kontroverse um den Windpark wird nicht nur eine mögliche Kontamination der Lagune auseinandergesetzt, sondern vielmehr, wie sozionatürlichen Entitäten verfasst sind und sein dürfen, sprich, welcher Platz sozionatürlichen Entitäten zuzugestehen ist, deren Existenz mit dem Ausbau von Windenergie am Isthmus konkurriert. Es handelt sich um einen Kampf um die Anerkennung ontologischer Alterität, wie ich im Folgekapitel erläutern werde.

6. »Mar y aire, nuestra vida, nuestra lucha«155 Cosmopolitics von Windenergie

Im November 2017 treffe ich Pablo in Oaxaca. Wir haben uns länger nicht gesehen, ich war zurück in München und als ich wieder in San Dionisio war, befand er sich auf Reisen. Pablo erzählt von internationalen Treffen indigener Organisationen, an denen er als einer von wenigen Delegierten aus Oaxaca teilgenommen hat. Wir kommen auf den Windpark zu sprechen, von dem gerade berichtet wird, dass er nun nicht gebaut werden soll. O: Pero la cuestión es, también, bueno, parece que ya no, ya no es necesario, ¿no? Porque tuvieron éxito ustedes. Tenían éxito porque se retiró la empresa. P: De hecho… de hecho, para nosotros es un éxito, es un éxito, contar… Creo que el tema de hoy es contar las historias, ¿no? (…) Mira, Oliver, ha sido… para nosotros… hemos pasado crisis muy, muy terribles. Crisis que te tocó vivir cuando tú estabas acá. O: Sí, sí eso ví. P: Por eso he relegado un poco de la Asamblea, por la forma cómo concebíamos las cosas, y no entrar en el tema de los partidos políticos [uhum], nos miraron mal. Hubieron políticos al interior de la Asamblea, que mal informaban al pueblo de

155 »Meer und Wind, unser Leben, unser Kampf«

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nuestra forma de pensar. Pues nosotros, hacíamos el trabajo sucio, supuestamente (Interview Pablo 15.11.2017).156

Pablo hat eine besondere Geschichte. Er wächst bis zu seinem sechsten Lebensjahr in San Dionisio auf, als ein französischer Missionar in das Dorf kommt. Sein Name ist Frances Roberto Dillón. Er bietet der Familie an, Pablo in ein Internat in einem anderen Bundesstaat Mexikos zu bringen, wo er eine Schulbildung erhalten würde. Er und ein weiteres Kind aus San Dionisio werden daraufhin dorthin gebracht und erwerben so die Möglichkeit zum Studium. Pablo studiert Jura und spezialisiert sich im Anschluss auf Micro- und genossenschaftliche Finanzierungsmodelle, was er unter anderem in Zusammenarbeit mit Bankiers der deutschen Raiffeisenbank in Mexiko erlernt. Obwohl er nicht mehr in San Dionisio, sondern in Oaxaca lebt, verliert er nie den Kontakt ins Dorf, auch nicht, als seine Eltern nach Ixhuatán, ein von Ikojts und Binnizá bewohntes Nachbardorf, ziehen. Für Pablo sind die Aufstände in Oaxaca 2006 der Moment, der zu seiner Politisierung führt. Aber erst im Zuge des Widerstands von San Dionisio gegen den Windpark schlägt sich diese Politisierung in konkretem Aktivismus nieder. Während des Widerstands wird er zu einer zentralen Figur, indem er nicht nur in der über- und außerparteilichen Organisation der Proteste eine wichtige Rolle spielt, sondern auch Kontakte zu anderen involvierten Gemeinden sowie Nicht-Regierungsorganisationen und Medienakteuren in Oaxaca bei ihm zusammenlaufen. Pablo versteht sich dennoch als Aktivist, nicht als Politiker. Politiker ist ein Begriff, den er und viele andere Ikojts abwertend verwenden. Politiker sind die, die sich korrumpieren lassen, ihren eigenen Vorteil

156 O: »Aber die Frage ist, auch, gut, es scheint nicht mehr, nicht mehr nötig zu sein, oder? Weil ihr Erfolg hattet. Ihr hattet Erfolg, weil sich das Unternehmen zurückgezogen hat.« P: »Tatsächlich…tatsächlich, für uns ist es ein Erfolg, es ist ein Erfolg, zu erzählen… Ich glaube, das Thema heute ist, Geschichten zu erzählen, oder? Schau, Oliver, es ist… für uns… wir sind durch eine sehr, sehr schlimme Krise gegangen. Eine Krise, die du miterlebt hast, in der Zeit, in der du hier warst.« O: »Ja, das habe ich gesehen.« P: »Deshalb habe ich mich ein wenig von der Asamblea zurückgezogen, aufgrund der Art und Weise, wie wir die Dinge erfasst haben, und um nicht in das Thema der politischen Parteien einzusteigen [uhum], sie haben uns schlecht angesehen. Es gab Politiker in der Asamblea, die einen schlechten Einfluss auf die Denkweise des pueblo hatten. Und wir haben vor allem die Drecksarbeit gemacht.«

»Mar y aire, nuestra vida, nuestra lucha« | 171

suchen und »el pueblo« hintergehen. Ich bin nicht sicher, ob Pablo von sich sagen würde, dass er Politik macht. Sicher ist, dass Pablo eine zentrale Figur im Widerstand gegen den Windpark geworden ist. In dem Gespräch, das wir an diesem Tag führen, weist Pablo auf einen Aspekt hin, der für das Verständnis der Kontroverse um Windenergie entscheidend ist. Er macht Politiker als Verantwortliche aus, von denen er sagt, dass sie die Ikojts schlecht informiert und auf diese Weise ihr Denken beeinflusst haben. Die Politiker, von denen Pablo spricht, sind jedoch nicht nur fernab in Oaxaca oder Mexiko-Stadt zu suchen, sondern befinden sich im selben Dorf wie das pueblo. Pablos Bemerkung zeigt, dass sich die Perspektive der Ikojts durch Widersprüche und Ambivalenzen auszeichnet. Es gibt bei ihnen unterschiedliche Ansichten in Bezug auf den Windpark. Dies wiederum impliziert jedoch nicht, dass die einen erklären, der Windpark kontaminiere, und die anderen dem widersprechen. So sehr darüber breite Einigkeit besteht, dass der Windpark die Lagune affizieren würde, so sehr gibt es in San Dionisio und den anderen Dörfern Kontroversen darüber, in welcher Weise das Projekt hätte verfasst sein müssen, damit es dennoch akzeptiert hätte werden können, oder dass es eben auf keinen Fall realisiert werden dürfe. Der Konflikt gestaltet sich damit keinesfalls derart, dass es Auseinandersetzungen zwischen den Ikojts auf der einen und dem WindparkUnternehmen und dem Staat auf der anderen Seite gibt. Vielmehr durchziehen die Auseinandersetzungen diese Gruppen auf verschiedenen Ebenen. Sie sind ein ›Ringen‹ in zahlreichen Versammlungen darum, wie und woraus die gemeinsame Welt gemacht sein soll. Ein solches Ringen beschreibt Isabelle Stengers mit dem Begriff »cosmopolitics« (Stengers 2002: 248). In cosmopolitics geht es nicht darum, eine Gemeinsamkeit hinter den Differenzen auszumachen, die diese Differenzen reduziert. Vielmehr handelt es sich um Aushandlungsprozesse, während derer konkret und verknüpft, aber auch asymmetrisch und immer stückhaft an der Hervorbringung von Welt beziehungsweise Welten gearbeitet wird (ebd. 249). »Cosmos« fasst Stengers dabei wie folgt: »cosmos refers to the unknown constituted by these multiple, divergent worlds, and to the articulations of which they could eventually be capable« (Stengers 2005: 995). Natur, Welt oder Kosmos sind nicht einfach da, sondern stehen zur Debatte (Latour 2004: 453), denn keineswegs ist klar, woraus sie jeweils bestehen und was Teil von ihnen sein soll. In cosmopolitics ist damit die Annahme enthalten, dass eine gemeinsame Welt gemacht werden muss, gebaut, zusammengenagelt werden muss (ebd. 455). Darin sind die Aushandlungsprozesse zu sehen, durch die diese Welt langsam komponiert wird (ebd. 457).

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Stengers’ Begriff hilft auf diese Weise dabei, das Gefüge der Entitäten als ein umkämpftes Terrain zu beschreiben, in dem die beteiligten Akteure nicht nur dafür streiten, dass ihre Stimmen gehört werden, sondern auch, wer eine Stimme hat und was als Stimme zählt beziehungsweise wer überhaupt in der Lage ist, eine Stimme zu bekommen (Stengers 2005: 996; vgl. auch Cruikshank 2007; Povinelli 1995). Cosmopolitics ist damit die Frage danach, wie ein Problem fundamental definiert werden kann – auch für die Gruppe, die eine vermeintlich ›andere‹ Sichtweise in die Diskussion einbringt (Latour 2004: 457). Im folgenden Kapitel geht es dennoch nicht darum, auf ein Beispiel ein Konzept anzuwenden, das cosmopolitics heißt. Vielmehr gilt es, ausgehend von dem Impuls der cosmopolitics danach zu fragen, was in den umkämpften Domänen um den Windpark versammelt wird, auf welche Weise dies geschieht und was in diesem Prozess dynamisiert wird. Dies geschieht auch aus dem Interesse, diesen Impuls auf eine neue, veränderte Weise fruchtbar zu machen. In ethnographischen Beispielen wird häufig dargestellt, wie indigene Akteure ihre Weltsicht gegenüber anderen, oft hegemonialen Akteuren behaupten. Anliegen ist es dabei herauszuarbeiten, dass nicht nur die dominante, meist westliche Weltsicht Gültigkeit besitzt, sondern die indigenen Weisen Welten hervorzubringen ebenfalls einen wahrhaftigen Zugang darstellen (zum Beispiel Cadena 2010). Jedoch erscheinen die indigenen Akteure dabei mitunter als homogene Gruppe, in der grundlegende Einigkeit über diesen Zugang besteht. Im Zuge dessen gerät in den Hintergrund, dass Welten und Weltsichten indigener Gruppen sich durch Aushandlungsprozesse und politische Auseinandersetzungen auszeichnen, in denen durchaus darum gerungen wird, wie diese Welten verfasst sind und sein sollen. Cosmopolitics verlaufen jedoch nicht nur entlang von dem Anschein nach getrennten Akteuren und Akteursgruppen, sondern durchziehen diese auf unterschiedlichen Ebenen. Am Beispiel der Ikojts und ihrer Perspektive auf den Windpark zeigt sich, dass nicht gesetzt ist, was eine Gruppe ausmachen muss und was eine Gemeinschaft konstituiert, sondern dass dies umkämpfte Bereiche sind, in denen Bewegung stattfindet und die fortwährend ausgehandelt werden. Indem ich diese Aushandlungsprozesse nachzeichne, setze ich sowohl einer Homogenisierung (und damit einer Essentialisierung) der Ikojts etwas entgegen, als auch füge ich der Debatte um cosmopolitics einen bisher wenig beachteten Aspekt hinzu. Daran anknüpfend beschäftigt sich das folgende Kapitel damit, wie der Geist des Windparks im Windenergie-Gefüge am Isthmus bestehende Beziehungen akzentuiert und neue Beziehungen hervorbringt. Dafür analysiere ich sowohl, welche politischen Positionen in der Auseinandersetzung um den Windpark durch die Ikojts besetzt werden, als auch, wie diese Positionen für die Ikojts

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selbst zu umkämpften Feldern werden. In diesen Prozessen zeigt sich, wie der kulturspezifische Umgang mit Natur und Technologie im Feld der erneuerbaren Energien politisiert und innerhalb von Gefügen sozialer und natürlicher Entitäten neu definiert wird.

6.1 ALLIANZEN UND BRÜCHE Der Status als indigene Gruppe beinhaltet gemeinschaftlichen Landbesitz und macht die Ikojts zu direkten Verhandlungspartnern für das WindparkUnternehmen. Trotz dieser starken Verhandlungsposition besteht zwischen diesen Akteuren eine asymmetrische Machtbeziehung. Um dieser zu begegnen, begeben sich die Ikojts in verschiedene Allianzen und versuchen so, ihre Position zu verbessern. An den Allianzen wird ersichtlich, dass trotz des asymmetrischen Verhältnisses zwischen den indigenen Gruppen und dem Unternehmen erstere durchaus in der Lage sind, den Verlauf des Konflikts entscheidend zu beeinflussen. Zur selben Zeit bestehen zwischen den Dörfern der Ikojts Differenzen, wie sich im Konflikt mit Santa María zeigt. Dieses Verhältnis ist durch Brüche gezeichnet, mittels derer Santa María zur Zurückweisung des Windparks gebracht werden soll. Eine zentrale Allianz der Ikojts im Widerstand gegen den Windpark ist die mit den Binnizá aus Álvaro Obregón. Die Beziehungen der Ikojts zu ihren NachbarInnen der Binnizá, der am Isthmus zahlenmäßig größten indigenen Gruppe, waren stets ambivalent. Bis heute gibt es Gebietsstreitigkeiten von San Dionisio mit dem zu Unión Hidalgo gehörigen Chicapa de Castro, im Rahmen derer es mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen gab. Zugleich sind die Ikojts mit Binnizá-Gruppen seit ihrer Besiedelung des Isthmus durch den Handel mit Fisch, Garnelen und Salz verbunden, wobei dieser stets von der dominierenden Rolle der Binnizá geprägt war (Zeitlin 1989: 31; 1978: 152).157 Auch heute noch ist der Handel von großer ökonomischer und kultureller Bedeutung für die Ikojts (Hernández-Díaz / Lizama Quijano 1996: 114).

157 HändlerInnen der Ikojts, die sich von den zapotekischen ZwischenhändlerInnen emanzipiert haben, gibt es heute mehr als früher. Aus San Francisco verkaufen einige HändlerInnen beispielsweise an Kooperativen in San Francisco de Ixhuatán, wo der Fisch auch verpackt wird (Brockmann 2004: 95). Fischer aus San Mateo bieten ihren Fang Restaurants in La Ventosa und Salina Cruz an (ebd.).

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Das Bündnis von Binnizá und Ikojts verhindert im Januar 2013 durch eine Blockade am Eingang der Barra Santa Teresa den Baubeginn des Windparks. Diese Allianz verändert den Verlauf des Konflikts entscheidend. Sie ermöglicht die Kontrolle über den bei Álvaro Obregón gelegenen Landzugang zur Barra. Gemeinsam errichten die beiden Gruppen dort eine Barrikade und erlauben MitarbeiterInnen des Unternehmens und Regierungsangehörigen nicht mehr, auf das Gebiet vorzudringen. Bis dahin war die Verbindung der beiden Dörfer nicht von großer Nähe geprägt. Nicht nur liegt Álvaro Obregón auf der anderen Seite der Lagune, auch der Handel der Ikojts aus San Dionisio fand – im Gegensatz zu San Mateo – direkt mit Juchitán statt. Tonio charakterisiert die Beziehung so: »Siempre se ha presentado en Álvaro Obregón, con nuestra gente no se ha pegado fuerte«158 (Interview Tonio 18.12.2014). Der Windpark verändert dies nun, wobei die gemeinsame Sorge um el mar die treibende Kraft ist. Pablo erklärt, auf el mar Bezug nehmend: »Y yo creo que fue el éxito de la lucha también [uhum]. Nunca antes el cuerpo ikojts, y el pueblo zapoteca, se había hermanado en una lucha. Nunca«159 (Interview Pablo 09.01.2015). Für ihn hat der Widerstand deshalb Erfolg, weil el mar die Ikojts und die Binnizá zusammengebracht hat. Auch weitere Unterstützung hat mit der Sorge um die Lagune zu tun. Aus Salina Cruz kommende Fischer begründen auf Treffen mit den Ikojts die Teilnahme am Widerstand damit, dass sie nicht wissen, was mit den Baumaßnahmen einhergehen würde: »No sabemos que va a pasar, al final va a pasar que abren un canal. Adiós camarón de la laguna!«160 Damit beziehen sie sich auf Pläne, im Zuge des Baus des Parque San Dionisio einen Tiefseehafen in der Lagune anzulegen, der sowohl in der Konstruktionsphase als auch der späteren Wartung des Parks genutzt werden soll. Dafür müsste an der Boca Barra, der Verbindung von Lagune und Ozean, ein dauerhaft geöffneter Zugang geschaffen werden. Die Fischer befürchten, dass die Garnelen über diese Öffnung die Lagune verlassen und sie dadurch die neben den Fischen wichtigste Beute verlieren würden.

158 »Es hat sich immer so dargestellt, dass Álvaro Obregón mit unseren Leuten nicht unbedingt eine sehr enge Beziehung gehabt hat.« 159 »Und ich glaube, dass das auch für den Erfolg des Kampfes gesorgt hat [uhum]. Niemals zuvor hatte der Körper der Ikojts und das Volk der Zapoteken sich in einem Kampf verbrüdert. Niemals.« 160 »Wir wissen nicht, was passieren wird, am Ende werden sie einen Kanal eröffnen. Adiós, Garnelen der Lagune!«

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Im Zuge dieser Prozesse organisiert die Asamblea nicht nur Bündnisse mit Binnizá-Gruppen. Sie schließt auch Allianzen mit Nicht-Regierungsorganisationen. Dazu gehören beispielsweise Menschenrechtsgruppen wie Codigo DH, Bildungsorganisationen wie Educa, UCIZONI, ein Verband indigener Gruppen am Isthmus, und auch Umweltorganisationen aus Mexiko-Stadt.161 Die Organisationen unterstützen die Ikojts dabei, den Widerstand zu planen und zu managen. Sie stellen Kommunikationsmittel bereit und prangern Verstöße gegen die Rechte der Ikojts in der Öffentlichkeit an. Mittels dieser Allianzen gelingt es den Ikojts, Mareña Renovables zurückzudrängen. Pablo bewertet dies folgendermaßen: Hace algunos meses, las empresas eólicas prosperan en el Istmo de Tehuantepec, se ampararon para no pagar los impuestos correspondientes que por ley corresponde. Los presidentes municipales viven engañados, por el gobernador. Y firmaron un convenio para el, ex, exención de impuestos a todas las empresas eólicas. La gente, encabronadísima. Los pueblos, del Istmo. (…) Las empresas eólicas prometieron muchas cosas y no cumplían. Dentro de ellos, las obras sociales, no están cumpliendo. Hoy, creo que hay mucha más gente que nos da la razón, a San Dionisio del Mar, de que… ahora ya es único, no, en el Istmo de Tehuantepec, que fue el úni, la única comunidad, que gracias a las alianzas de los pueblos y organizaciones del país, logró echar a una empresa, extranjera (Interview Pablo 15.11.2017).162

161 Carruthers (1996) weist auf einen Mitte der 1990er Jahre beginnenden Prozess hin, als in Mexiko Umweltorganisationen insbesondere aus dem urbanen MittelklasseMilieu beginnen, Allianzen mit Indigenenorganisationen zu bilden. 162 »Vor einigen Monaten prosperierten die Windenergie-Unternehmen am Isthmus von Tehuantepec, schützten sich und bezahlten keine Steuern, zu denen sie gesetzlich verpflichtet wären. Die Gemeindepräsidenten sind durch den Gouverneur hintergangen worden. Und sie haben ein Abkommen zur Freistellung der WindenergieUnternehmen von ihren steuerlichen Pflichten unterzeichnet. Die Leute, außer sich. Die pueblos des Isthmus. (…) Die Windenergie-Unternehmen haben viele Dinge versprochen und nicht gehalten. Heute, glaube ich, dass uns viele Leute Recht geben, San Dionisio del Mar, dass… es ist das einzige, nein, am Isthmus von Tehuantepec ist es die einzige Gemeinde, die es mithilfe der Allianzen der pueblos und Organisationen des Landes geschafft hat, ein ausländisches Unternehmen hinauszuwerfen.«

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Für Pablo hat Mareña Renovables, wie auch andere Unternehmen, die pueblos am Isthmus getäuscht, indem sie ihnen falsche Versprechungen wie soziale Unterstützung zugesagt haben, die sie später dann nicht erfüllen. Obwohl sich die Leute darüber ärgern, hat es bisher niemand gewagt, ihnen etwas entgegenzusetzen. Erst den Ikojts, in ihrer Allianz mit ihren eigenen Dörfern, den Binnizá und weiteren Organisationen ist es gelungen, ein Windpark-Unternehmen zurückzuweisen. Entsprechend missfällig nimmt das Windpark-Unternehmen diese Allianzen auf. Mareña Renovables zweifelt die Legitimität von Organisationen an, die den Widerstand unterstützen, und wirft ihnen vor, eine Medienkampagne gegen sie zu fahren (»campaña negativa«163, Interview Edith Januar 2014). Was Mareña Renovables als »campaña negativa« bezeichnet, ist beispielsweise die Zusammenarbeit mit einem Kollektiv von Filmemachenden, welche die Asamblea initiiert. Im Rahmen dieser Zusammenarbeit produzieren Ikojts aus San Dionisio und San Mateo, sowie Binnizá aus Álvaro Obregón einen Polit-Dokumentarfilm mit dem Namen »Somos Viento«164. In diesem kommen die GegnerInnen des Windparks ausführlich zu Wort, deren Perspektive im Zuge der Verbreitung des Films durch öffentliche Vorführungen sowie über soziale Netzwerke global sichtbar wird. Die Einschätzung von Mareña Renovables deckt sich an dieser Stelle durchaus mit der von im Widerstand organisierten Ikojts. Beide sagen, dass das Projekt insbesondere durch geschickte Nutzung der Kommunikationsmedien gestoppt worden sei, weil auf diese Weise die entsprechende öffentliche Sichtbarkeit erzeugt wurde. In diese Vorgehensweise reiht sich ein Coup ein, der der Asamblea am 29.01.2015, dem dritten Jahrestag des Beginns des Widerstands, gelingt. Zur Veranstaltung kommen Ikojts aus allen vier Dörfern, Binnizá aus Álvaro Obregón und Juchitán, VetreterInnen von Codigo DH, Educa und UCIZONI, sowie Mitglieder der International Peace Brigade. Educa filmt das gesamte Event und produziert medienwirksam nutzbare Bilder. Von herausragender Bedeutung ist jedoch, dass die Asamblea den ehemaligen Bischof von Tehuantepec, Arturo Lona Reyes, als Unterstützer gewinnen konnte. Er nimmt nicht nur an einem Umzug und späteren Versammlungen teil, sondern hält eine Messe in der Kirche von San Dionisio, während derer er sich direkt auf den Widerstand der Ikojts gegen den Windpark bezieht.

163 Negativkampagne 164 »Wir sind der Wind.«

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Die Ankunft des Bischofs ist ein Ereignis, dass sich viele nicht entgehen lassen möchten. Am Ortseingang von San Dionisio sammeln sich bereits Stunden vor seiner Ankunft zahlreiche BewohnerInnen aus San Dionisio. Sie sind festlich gekleidet. Die mototaxis sind geschmückt und mehrere Musikgruppen haben ihre Instrumente mitgebracht. Als der Bischof ankommt und aus dem Auto steigt, wird er unter großem Jubel willkommen geheißen. Sofía und Camila flankieren ihn, bis er zusammen mit Pablo in ein festlich hergerichtetes mototaxi steigt. Die Menge folgt dem Bischof in einer Prozession vom Ortseingang bis zu Kirche, begleitet von Musik. In der anschließenden Messe nimmt er Bezug auf den Widerstand gegen den Windpark. Er erklärt, San Dionisio bestehe aus Männern und Frauen, die nicht müde würden für ihre Rechte zu kämpfen.

Abb. 6.1 Ankunft des ehemaligen Bischofs von Tehuantepec Arturo Lona Reyes. Die Veranstaltung erzeugt breite Resonanz und lässt die Asamblea ihren Willen zum Widerstand öffentlich bekräftigen. Besonders wirksam ist dabei die Verknüpfung mit dem Gottesdienst. Durch die Messe des 90-jährigen Geistlichen wird nicht nur die Veranstaltung, sondern der Widerstand insgesamt kirchlich und symbolisch abgesegnet. Es gibt jedoch auch Ikojts aus San Dionisio, die sich nicht im AsambleaWiderstand organisieren. Diese suchen eher die Nähe von Parteien, allen voran der PRI. Sie versuchen die Parteien als Plattform zu nutzen, um vor dem Hintergrund des Windpark-Projekts auf Missstände im Dorf aufmerksam zu machen. Beispielsweise bringen sie den Ausbau und die Renovierung von Schulen ins Gespräch. Hier funktioniert die Debatte um den Windpark als Impulsgeber für

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Verbesserungswünsche und Forderungen nach politischer Teilhabe. Zugleich spitzt sich die Lage zu und es bilden sich Verbindungen der PRI zu bewaffneten Gruppen, die mit gewalttätigen Angriffen auf Windpark-GegnerInnen in Zusammenhang stehen sollen (Navarro 2013). Während diese verschiedenen Allianzen gebildet werden, kommt es mit BefürworterInnen des Windparks zum Bruch. Zunächst erfasst dies die Beziehungen zwischen San Mateo und Santa María, zwischen denen seit Initiation des Parque San Dionisio ein offener Konflikt über das Projekt besteht. Santa María befürwortet den Bau der auf ihrem Gemeindegebiet vorgesehenen Turbinen, San Mateo, San Dionisio und Álvaro Obregón sind dagegen. 165 Der Konflikt zwischen San Mateo und Santa María eskaliert. San Mateo verweigert BewohnerInnen Santa Marías die Durchfahrt, sodass diese mit lanchas nach San Dionisio übersetzen und von dort einmal um die Lagune herumfahren müssen, um beispielsweise nach Juchitán zu gelangen. Auch werden die über das Gebiet von San Mateo nach Santa María laufenden Stromleitungen gekappt. Santa María, dass dem Windpark-Unternehmen Zugang verschaffen wollte, verliert nun selbst Zu- und Ausgänge. Um die Beziehungen zu verbessern, setzt die Asamblea von San Dionisio im Juni 2017 ein Treffen auf der Barra Santa Teresa an. Es werden Santa María, San Mateo, Álvaro Obregón und weitere Dörfer eingeladen. Mitglieder der Asamblea versuchen auf dem Treffen zwischen San Mateo und Santa María zu vermitteln. Sie fordern Santa María auf, den Windpark zurückzuweisen. Dann würden sie mit San Mateo verhandeln, um die Blockade aufzuheben. Doch weder dieses noch ein weiteres Treffen bringt das gewünschte Ergebnis. Die Schuld daran wird weniger den Ikojts aus Santa María zugeschrieben. Vielmehr wird es in der Asamblea von San Dionisio als strategische Viktimisierung Santa Marías aufgenommen, mit der die Regierung versucht, einen Keil zwischen die Ikojts zu treiben und die öffentliche Meinung zu beeinflussen. Pablo schildert seine Sicht auf den Bruch mit Santa María folgendermaßen: Hoy, la nación ikojts, antes de que existiera la división política entre, por San Mateo, Tehuantepec, Juchitán, éramos una sola nación ikojts. El gobierno nos ha dividido, de manera administrativa, a conveniencia del gobierno, para dividir, nuestra nación. El hoy, fuera de la parte administrativa, tenemos que entender que

165 Es wäre für die vorliegende Arbeit bereichernd gewesen, auch Sichtweisen von Ikojts aus Santa María miteinzubeziehen. Leider ließ jedoch die durch den Konflikt angespannte Sicherheitslage bei meinen Feldaufenthalten Fahrten dorthin nicht zu.

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somos una sola nación. San Francisco, San Dionisio del Mar, San Mateo del Mar, y un hermano incómodo… el hermano incómodo se llama Santa María del Mar. Porque pertenece al distrito de Juchitán. Le llamo ahora, hermano incómodo. Porque es hermano, es nuestra lengua. Incómodo, porque… hoy está dirigido, más por los zapotecas. Hasta se sienten zapotecas. Ése es nuestro hermano incómodo (Interview Pablo 15.11.2017).166

In Pablos Schilderung zeigt sich, wie der Windpark bestehende Reibungen verstärkt. Keineswegs handelt es sich daher bei den Ikojts um eine homogene Gruppe mit den gleichen Ansichten.167 Vielmehr sind sie selbst in politische Aushandlungsprozesse verstrickt, während derer Allianzen und Brüche entstehen. Diese Allianzen und Brüche sind Beziehungen, die den Verlauf des Konflikts entscheidend beeinflussen, indem sie das Gefüge der Gruppen und Entitäten verändern. Wie DeLanda erklärt, wird ein Gefüge durch die Beziehungen der Entitäten untereinander hervorgebracht (DeLanda 2006a: 4-5). Allianzen und Brüche sind damit ein paradigmatischer Fall dessen, was DeLanda »relations of exteriority« nennt (DeLanda 2006a: 36): die Konstitution von Eigenschaften und Fähigkeiten einer Entität oder eines Gefüges von Entitäten durch die Beziehungen, die ihnen äußerlich sind. Mit jeder neuen Allianz (und mit jedem Abbruch von Beziehungen) geht entsprechend auch eine Veränderung des Gefüges einher. Was heißt dies für das ›Und‹ zwischen den Allianzen und den Brüchen? Nach Viveiros de Castro ist ›Und‹ eine Nullverbindung, deren Funktion es ist, der Absenz von Beziehungen etwas entgegenzusetzen, jedoch ohne eine spezifische Beziehung herauszugreifen (Viveiros de Castro 2003). ›Und‹ deckt alle

166 »Heute ist die Nation der Ikojts, vor der politischen Spaltung zwischen, von San Mateo, Tehuantepec, Juchitán, waren wir eine einzige Nation der Ikojts. Die Regierung hat uns gespalten, auf administrative Weise, nach Belieben der Regierung, um unsere Nation zu spalten. Heute, wäre es von administrativer Seite her, müssen wir verstehen, dass wir eine einzige Nation sind. San Francisco, San Dionisio del Mar, San Mateo del Mar, und ein unbequemer Bruder… der unbequeme Bruder heißt Santa María del Mar. Weil er zum Distrikt von Juchitán gehört. Ich nenne ihn gerade unbequemen Bruder. Weil er ein Bruder ist, es ist unsere Sprache. Unbequem, weil… er heute dirigiert wird, von den Zapoteken. Bis hin dazu, dass sie sich als Zapoteken fühlen. Es ist unser unbequemer Bruder.« 167 Dies gilt ebenso für Windpark-GegnerInnen und BefürworterInnen in Juchitán, wo die Kräfteverhältnisse derzeit zugunsten Letzterer liegen, was Pablo auch zu seiner Charakterisierung der Ikojts aus Santa María als »zapotekisiert« veranlasst.

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denkbaren Beziehungen ab. Jedoch fällt eine Beziehung dabei dennoch heraus: die der Identität (ebd.). Viveiros de Castro erklärt: »A relation can be contrived, then, between ›and‹, the minimal relator, and ›is‹, the maximal substantializer« (ebd.). Die Allianzen, welche die Ikojts in der Auseinandersetzung um den Windpark eingehen, gehen in diesem Sinne ebenso mit Brüchen einher. Statt von Allianzen und Brüchen zu sprechen, könnte an dieser Stelle stehen: Allianzen sind Brüche. Dies jedoch gilt für die Auseinandersetzungen der Ikojts um den Windpark nur eingeschränkt. Weder hätte es zu Brüchen mit Santa María kommen müssen, noch zu Bündnissen mit Nicht-Regierungsorganisationen. Und umgekehrt stellt es sich nochmal anders dar, denn keinesfalls sind Brüche Allianzen. Dennoch zeigt Viveiros de Castros Hinweis auf das ›Und‹, dass es nicht nur eine Vielzahl an möglichen Verbindungen zwischen den Allianzen und den Brüchen gibt, zu denen es im Verlauf der Auseinandersetzungen um den Windpark kommt. Es ist auch ein Hinweis darauf, dass diese möglichen Verbindungen weiter Gegenstand politischer Auseinandersetzungen sind, denn es besteht weiterhin die Möglichkeit, der Kontroverse um den Windpark einen anderen Verlauf zu geben. Dies wird an den Zerwürfnissen über den Windpark innerhalb von San Dionisio deutlich.

6.2 DER WINDPARK POLARISIERT Der Wind hat eine immense Kraft am Isthmus. Immer wieder knicken Windturbinen unter dem Einwirken des Windes um. Manchmal erzeugt der Wind auch so starke Reibungen in den Turbinen, dass diese zu brennen beginnen (Manzo 2014). Im Windenergie-Gefüge am Isthmus scheint Wind Reibung immer bereits mit zu bedingen. Dabei bleibt es nicht lediglich bei materiellen Belastungsproben. Auch zwischen den Ikojts kommt es zu Auseinandersetzungen im Zuge des Konflikts um den Windpark. Am 05.12.2014 existiert seit etwa einer Woche eine Blockade außerhalb des Dorfs auf der Straße Richtung Chicapa de Castro. Es soll verhindert werden, dass das Instituto Nacional Electoral (INE) Urnen und Wahlunterlagen bringt. An der Blockade nehmen Leute von der Asamblea und der PSD beziehungswei-

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se PRD168 teil, wobei die Zugehörigkeiten fließend sind. Am Freitagnachmittag sammelt die PRI AnhängerInnen am Dorfeingang und versucht die aus Huamuchil kommenden Urnen in Empfang zu nehmen. Eine Gruppe vom palacio kommt zum Dorfeingang, weil es Gerüchte gibt, die PRI würde Leute, die von der Blockade zurückkehren, nicht durchlassen. Dabei geraten die PRI-Leute zwischen beide Gruppen. Zuvor soll ein Auto, dass von der Barrikade kam, mit Steinen beworfen worden sein. Mariana und mindestens zehn weitere Personen werden dabei verletzt. Sie bekommt einen Stein ins Gesicht und einen in den Bauch, sie ist schwanger. Im Anschluss daran brechen Straßenkämpfe zwischen den Gruppen aus, die etwa zwei Stunden andauern. Dabei setzen beide Seiten Steine und FeuerwerksRaketen ein. Einer der PRI-Leute schießt aus seinem Haus mit einem Gewehr mehrfach auf die Leute der Asamblea. Er trifft Rodrigo in den Fuß und das Bein, sowie einen seiner eigenen Leute. Eine Kugel bleibt in Rodrigos Fuß stecken, noch in der Nacht kommt die Ambulanz aus Juchitán, eskortiert von der policía estatal169. Ebenfalls noch in der Nacht veröffentlicht die Asamblea ein comunicado 170 , in der sie die von Regierung und Windpark-Unternehmen gesteuerte Gewalt anprangert. Während der Kämpfe halte ich mich in Oswaldos Haus auf, der von der PRI ist. Oswaldo ist bestürzt über die Ereignisse, im Gegensatz zu den meisten anderen, die ich am nächsten Tag spreche. Viele sind euphorisch, erfreut, als hätte sich eine aufgestaute Spannung endlich entladen. Sofía sagt dazu, dass wenn sie jetzt auch noch traurig wären, die ohnehin schon schlimmen Ereignisse noch schlimmer würden. In den folgenden Tagen wird viel darüber gesprochen, wer wie wo gekämpft hat und wo war, als gekämpft wurde. Wie in vielen Teilen Mexikos besteht auch in San Dionisio ein tiefgehendes Misstrauen den politischen Parteien gegenüber. Die BewohnerInnen berichten (unabhängig von ihrer politischen Zugehörigkeit), dass egal wie die Wahlen ausgehen, der Gemeindepräsident stets von der PRI gestellt wird, und zwar ganz gleich welche Partei auf oppositioneller Seite angetreten war. Bislang wurde dies wenn auch nicht allseits akzeptiert, dennoch aber ohne größere Widerstände erduldet. Nun jedoch treten im Zuge der Auseinandersetzungen um den Wind-

168 Zeitweise organisierte sich die Partido de la Revolución Democrática (PRD) in San Dionisio als Partido Socialdemócrata (PSD) und machte das dann wieder rückgängig. 169 Landespolizei Oaxacas, oft »estatales« genannt; 170 Mitteilung, Kommuniqué

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park die Konflikte um diese Machtposition und den daran geknüpften Einfluss (sowie auch die damit verbundenen finanziellen Mittel) offen zutage. Am nächsten Tag kommt Eduardo nach San Dionisio. Er erkennt politisches Kapital in der Situation. In einem Telefonat mit Codigo DH beschreibt er die Verwundeten als Opfer einer von der Regierung und transnationalen Unternehmen gelenkten PRI-Front, die dem pueblo nach dem Leben trachtet, um den Widerstand gegen den Windpark zu brechen. Er verwendet so geschickt den Jargon, dass ich die Pressemitteilung der NGO bereits vor meinem geistigen Auge sehen kann. Codigo DH organisiert anschließend eine Überführung der Verwundeten nach Oaxaca ins Krankenhaus. In den folgenden Tagen rücken 500 estatales nach San Dionisio ein, die mehrmals am Tag mit bewaffneten Konvois durch das Dorf patrouillieren, woraufhin das öffentliche Leben in großen Teilen zum Erliegen kommt. Diese gewalttätige Konfrontation ist einer von mehreren Höhepunkten des Konflikts, der sich innerhalb San Dionisios abspielt. Keineswegs ist es ein Konflikt, der erst durch die Kontroverse um den Windpark entstanden ist. Es bestehen Rivalitäten zwischen verschiedenen Gruppen, die weitaus länger zurückreichen. Wenn von Zugehörigkeiten zu der einen oder der anderen Seite gesprochen werden kann, dann eher entlang von Parteien, was in San Dionisio insbesondere durch Familienzugehörigkeit bestimmt wird. Jedoch gilt auch dies nicht uneingeschränkt. Mehrere Ikojts berichten davon, dass sich durch das WindparkProjekt Zerwürfnisse in den Familien ergeben haben. Dabei zeichnen sie ein friedliches und vereintes Dorf vor dem Konflikt, in das durch das Projekt Zwietracht und Gewalt getragen wurde. Erst durch das Projekt, so erklären Ikojts unterschiedlichster politischer Zugehörigkeit, hätten sie festgestellt, wie es um den »cacicazgo«171 steht. Der Windpark dynamisiert die Beziehungen der Ikojts sowohl zu anderen sozialen und natürlichen Entitäten, als auch ihre Beziehungen untereinander. Er tritt als nicht-menschlicher Akteur in Erscheinung, der das Gefüge am Isthmus verändert. Nicht-menschliche Akteure wie Tiere, Pflanzen, Mineralien oder Artefakte können katalysierend auf eine Situation, Öffentlichkeit oder ein Gefüge wirken (Bennett 2010: 107). Der Windpark funktioniert als ein solcher Katalysator, durch den bestehende Differenzen offen zutage treten. Seine katalytische Funktion besteht darin, die bei den Ikojts schwelenden Konflikte zuzuspitzen. Nach Jane Bennett haben solche nicht-menschlichen Akteure Einfluss auf politische Prozesse. In Anlehnung an Jacques Rancière bezeichnet sie die durch

171 Vetternwirtschaft

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nicht-menschliche Akteure evozierten Veränderungen als politisch in dem Sinne, dass sie einen bestimmten Effekt erzeugen (ebd. 106-107). Nicht-menschliche Akteure sind laut Bennett entscheidend dafür, dass Beziehungen in einem Gefüge mobilisiert werden (ebd. 107). Sie vollziehen politische Akte, die beispielsweise Unterbrechungen von Beziehungen in einem Gefüge provozieren können und damit das radikal verändern, was die Leute in der Lage sind zu sehen (ebd.). Dabei ist das Windpark-Projekt nicht nur ein Katalysator für politische Prozesse, sondern greift massiv in das Leben in San Dionisio ein, und dies, ohne bislang gebaut zu sein. Tonio beschreibt dies, in Bezug auf die Auseinandersetzungen um den Windpark folgendermaßen: Pues, estamos viendo que las cosas han cambiado y mucho. Y nosotros decimos, »no pues…« Ante las situaciones que se viven, cuando dices, »es que es por el pleito del pueblo, pues…« no sé si ha sido mucha coincidencia… que suele suceder que… todo lo que se relaciona con las acciones que se hacen… (Interview Tonio 18.12.2014).172

Für Tonio stellen sich die durch den Windpark in Gang gesetzten Ereignisse nicht mehr als Zufall dar. Er stellt eine gravierende Veränderung des pueblos fest, bei der das gewaltsame Aufeinandertreffen nur der jüngste Höhepunkt war. Die Veränderung beschreiben er und andere Ikojts als die Spaltung des Dorfes. An diesem Punkt geht die Wirkung des Windparks darüber hinaus, bereits bestehende Konflikte zu katalysieren. Der Windpark selbst wird nun zu einem Teil der politischen Prozesse in San Dionisio und bildet jetzt eine Facette des komplexen Gesamtbildes der Kontroversen, die das Dorf erfasst haben. Er führt zu eigenen Konflikten, die mit den Fischen und Fischern, den Mangroven und el mar zusammenhängen und akzentuiert Zerwürfnisse und Konflikte, die vor ihm existiert haben. Es werden durch den Windpark in diesem Sinne sowohl bereits bestehende Bruchlinien verstärkt, als auch neue erzeugt. Ein Grund dafür ist, dass der Windpark eine spezifische Technologie ist, die an ihrem vorgesehenen Einsatzort in besonderem Maße polarisiert.

172 »Also, wir sehen gerade, dass sich die Dinge ändern und zwar sehr. Und wir sagen, ›also nein…‹ Vor dem Hintergrund der erlebten Situationen, wenn du sagst, ›das ist aufgrund dem Zerwürfnisses des pueblo, also… ich weiß nicht, ob es viel mit Zufall zu tun hat… dass man gewohnt ist, dass alles sich mit den Aktionen verknüpft, die gemacht werden.«

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Nach Andrew Barry (2001: 8) besteht zwischen Politik und Technologie keine Opposition, vielmehr sind die mittels Technologie entworfenen Techniken, Apparate oder Artefakte selbst Gegenstand politischer Prozesse – sie werden politisch (vgl. auch Bennett 107). Dies schließt nicht nur ein, dass sie als Instrumente in Konflikten zwischen politischen Parteien oder Interessengruppen benutzt werden (Barry 2001: 9). Es heißt auch, dass Techniken, Apparate und Artefakte untrennbar damit verbunden sind, was den Menschen ausmacht (ebd.). Technologien sind in diesem Sinne Teil sozialer Beziehungen. Werden Technologien neu in spezifische Gefüge eingebracht, fordern sie entsprechend die darin bestehenden Beziehungen heraus. Dies kann zu Kontroversen führen, die nach Barry Kontroversen um spezifische Technologien und damit Formen der politischen Kontroverse sind, was wiederum neue Objekte und Verortungen des politischen Prozesses eröffnet (ebd.). Am augenscheinlichsten ist dies an dem zu sehen, woran sich die Reibungen an denen für den Windpark unumgänglichen technischen Artefakten entzündet: den Windturbinen; Langdon Winner (1980) erklärt, dass technische Artefakte selbst politische Eigenschaften haben. Indem ein technisches Gerät oder eine Anlage in einer spezifischen Gemeinschaft platziert wird, wird zugleich ein politischer Gegenstand dort positioniert (ebd. 123). Winner spricht dabei von »inherently political technologies«, die er als menschengemachte Systeme beschreibt, die bestimmte Arten von politischen Beziehungen voraussetzen oder mit diesen in hohem Maße kompatibel sind (ebd.). Einigkeit und Spaltung von gesellschaftlichen Gruppen wird nicht nur durch politische Institutionen und Praktiken gesetzt, sondern weniger offensichtlich in den »tangible arrangements of steel and concrete, wires and transistors, nuts and bolts« (ebd. 128). Winner zeigt, wie politische Artefakte die Macht haben, soziale Beziehungen zu determinieren. Jedoch lässt er dabei außer Acht, dass die Macht solcher Artefakte insbesondere darin besteht, wie sie mit anderen Dingen und Entitäten verbunden werden (Joerges 1999: 5). Damit liegt die Macht der Dinge nicht in ihnen selbst, sondern in den Zusammenschlüssen, zu denen sie sich hinreißen lassen (ebd.), in den Verbindungen, die sie eingehen. Die Macht der Dinge ist das Produkt dessen, wie sie zusammengefügt und verteilt werden (ebd.). Die Art und Weise wie die Windturbinen zu dem Gefüge am Isthmus in Verbindung gebracht werden sollen, lässt sowohl die Beziehungen der Ikojts untereinander als auch zu Entitäten wie el mar zum Gegenstand politischer Prozesse werden. Diese Prozesse verlaufen dabei konfliktiv, was sich in den zahlreichen gewalttätigen Konfrontationen in San Dionisio zeigt, wie auch daran, dass der Windpark von den Ikojts für eine Spaltung des Dorfes verantwortlich gemacht wird. Damit wird der Windpark zu einer Entität, zu der sich die Akteure im

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politischen Prozess verhalten müssen und die zahlreiche Beziehungen im Gefüge dynamisiert. Im politischen Prozess um den Windpark deutet sich dabei an, dass sich die von allen Seiten empfundene Spaltung des Dorfes verfestigen wird. Adriana Sánchez Riviera, eine ehemalige Fischerin und heute Fischhändlerin, sowie ama de casa und Ehefrau von Diego Ramírez García, ist auf Seite der PRI, sieht den Windpark jedoch ob seiner Auswirkungen auf el mar kritisch. In Bezug auf die Auseinandersetzungen erklärt sie in einem Interview: Pues va a seguir… el pleito sigue. Nunca van a, van a estar tranquilos ahí [uhum]. Pues, el pueblo no va a dejar que entre el… el eólico. Pero, el pueblo es igual que, ¿cómo te voy a decir? No es que porque el pueblo, el pueblo nada más. El pueblo son este… está en contra de, del partido también [uhum]. Pues no, no se ve… cómo va a seguir, cómo… ¿Quién sabe cómo va a andar, más adelante? sí… Así es… Así está, Oliver, ese pleito no va a acabar. Con esa gente, no va a acabar ese pleito. Dirás tú, también… me da no sé qué, porque… por qué no se ponen a pensar… No… Por qué no se ponen a pensar de sus hijos, ¿no? Pues sí, ésa gente (Interview Adriana 10.12.2014).173

Und auch Guadalupe Jiménez García, Fischhändlerin und ama de casa, die Ehefrau von Mateo Robles, erklärt: Pues quién sabe qué, qué va a pasar más adelante con… con la vida. Y más con este pleito que se traen ahorita, creo que también, yo pienso que tiene que ver con eso. Porque… Por el pleito que están aquí en el pueblo [uhum]. Yo creo que tiene

173 »Also es wird weitergehen… der Streit geht weiter. Sie werden nie, werden dort nie Ruhe geben [uhum]. Also, das pueblo wird nicht erlauben, dass das Windparkprojekt hereinkommt. Aber, das pueblo ist genauso wie, wie sage ich es dir? Es ist nicht so, dass weil es nur das pueblo ist. Das pueblo sind die… es ist auch gegen die Partei [uhum]. Also, nein sie sehen… wie wird es weitergehen, wie… Wer weiß schon, wie es in Zukunft sein wird? Ja, so ist es. So ist es, Oliver, dieser Streit wird nicht aufhören. Mit diesen Leuten, wird der Streit nicht aufhören. Das würdest du auch sagen. Für mich ist das, ich weiß nicht, weil… weil sie nicht nachdenken. Nein… Weil sie nicht an ihre Kinder denken. Oder? Also ja, diese Leute.«

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que ver con… con los pescadores, pues, con… con el ambiente… digo, a lo mejor es… hasta con Dios tiene que ver (Interview Guadalupe 06.12.2014).174

Sowohl Guadalupe als auch Adriana beschreiben die politische Auseinandersetzung als einen Status quo, mit dem sich arrangiert werden muss. Sie sehen nicht, wie in näherer Zukunft die Differenzen beseitigt werden könnten. Warum dies so ist, deutet sich in der Begründung an, die Guadalupe als entscheidend für die Verhärtungen in der Auseinandersetzung benennt: Der Konflikt hat die Fischer und die Umwelt erfasst. Welche Rolle diese Verknüpfung von Fischern und Windpark für die Ikojts in der Auseinandersetzung spielt, untersuche ich im folgenden Teil.

6.3 WINDENERGIE UND INDIGENITÄT Indigenous politics may exceed politics as we know them. Marisol de la Cadena, Indigenous Cosmopolitics in the Andes, 335.

Ikojts im Widerstand gegen den Windpark, aber auch diejenigen, die sich von politischen Auseinandersetzungen eher fern halten, betonen vor dem Hintergrund des Windpark-Projekts vermehrt ihre Identifikation als Fischer. Zugleich erfährt diese Identifikation eine weitere Verknüpfung: Fischer und Ikojts sein wird von ihnen mit Indigenität in Zusammenhang gebracht. Die Kategorie der Indigenität erlaubt den Ikojts nicht nur, der durch den Windpark veränderten Situation einen Sinn zu geben. Auch macht sie die Beziehungen zu el mar und dem norte zum Gegenstand politischer Prozesse. Der Windpark zeigt für das Konzept der Indigenität der Ikojts, dass das, was eine Gruppe ausmacht, nicht einfach die Sprache, ethnische Zugehörigkeit oder eine gemeinsame Geschichte ist. Vielmehr ist es ein weitaus offenerer und vielschichtiger Prozess, der sich durch Bewegung auszeichnet und in dem der Wind-

174 »Also wer weiß, was, was in Zukunft passieren wird im… im Leben. Und noch mehr mit diesem Zerwürfnis, das hineingetragen wurde, glaube ich auch, ich glaube, dass es damit zu tun hat. Weil… weil dieser Streit jetzt hier im Dorf ist [uhum]. Ich glaube, dass es mit… mit den Fischern zu tun hat, also, … mit der Umwelt… sage ich, am Ende ist… hat es mit Gott zu tun.«

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park eine neue Dynamik erzeugt, bei der sich die Ikojts mit Aspekten ihres Selbstverständnisses neu auseinandersetzen. Zweifellos besteht für die Ikojts sowohl seit Langem ein alltäglicher Umgang mit Indigenität als auch eine Auseinandersetzung mit diesem Konzept. Bereits während der mexikanischen Revolution wurden Indigene entweder durch Zuschreibung einer Klasse als campesinos175 oder mittels Ethnizität als indígenas176 identifiziert (Hindley 1996: 226). Als solche wurden sie Ziel staatlicher Programme und Ideologien, die darauf abzielten, diese ›rückständigen‹ Gruppen zu ›entwickeln‹ (Knight 1990; Dietz 1995). Diese später als ›Indigenismo‹177 bekannt gewordenen Programme sollten Indigene zu einem Teil der mexikanischen Mehrheitsgesellschaft machen. Unter anderem wurden im Zuge dessen die indigenen Sprachen unterdrückt, wogegen sich heute überall in Mexiko Bewegungen indigener Gruppen gebildet haben, die sich (heute wiederum zum Teil mit staatlicher Unterstützung) dafür einsetzen, ihre Sprache (wieder) zu erlernen und weiterzugeben (Anaya Muñoz 2004: 11). Auf einem Treffen zur Koordination des Widerstands gegen den Windpark erklären Sprecher der Asamblea: »Somos huaves e indígenas, por eso no permitimos elecciones extraordinarias.« Und einer der Sätze, die ich in meiner Zeit in San Dionisio häufig gehört habe, ist: »Ser Ikojts es ser pescador«178; wie kommen diese Identifikationen zustande und welche Rolle spielt der Windpark dabei? In den vom mexikanischen Staat 1994 und 2001 vollzogenen Verfassungsreformen wird die mexikanische Nation als multi-ethnisch und pluri-kulturell definiert, und der indigenen Bevölkerung besondere Rechte wie beispielsweise gemeinschaftlicher Landbesitz zugesprochen (Degen 2008: 84-89). Diese Rechte sind unmittelbar an die Anerkennung von Indigenität geknüpft. 179 Indigenität stellt auch zwischen den Ikojts und dem Windpark-Unternehmen den ersten Kontakt her. Wie einleitend benannt, sind die Ikojts als Gruppe durch den ge-

175 Bauern 176 Indigene 177 Unter diesen Begriff fallen insbesondere Programme, die durch das 1948 gegründete Instituto Nacional Indigenista (INI) aufgelegt wurden. Zum Indigenismo siehe Korbaek / Sámano-Rentería (2007). 178 »Ikojts sein ist Fischer sein.« 179 Dies gilt nicht nur für Mexiko. In vielen Ländern Lateinamerikas stehen bestimmte Rechte der Selbstbestimmung und des gemeinschaftlichen Landbesitzes mit der Anerkennung von Indigenität in Zusammenhang (Paulson 2012: 265).

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meinschaftlichen Landbesitz notwendigerweise Vertragspartner für das Windpark-Projekt. In Oaxaca sieht das indigenen Gruppen zugestandene Recht auf gemeinschaftlichen Landbesitz vor, dass alle Entscheidungen, welche dieses Land betreffen, durch eine beschlussfähige Versammlung der comuneros180 in Mehrheitsabstimmung getroffen werden müssen. Im Fall des Parque San Dionisio setzt sich der ehemalige Gemeindepräsident jedoch mit dem Wissen von Mareña Renovables darüber hinweg und unterzeichnet einen Vertrag mit dem Unternehmen, in dem er dem Bau des Windparks zustimmt. 181 Obwohl dieser Vertrag ohne die nötigen Befugnisse unterzeichnet wird, sieht es lange so aus, als würde der Bau des Windparks dennoch begonnen. Mareña Renovables und staatliche Akteure bestehen auf der Legitimität des Vertrags und die von Mareña Renovables gerufene Polizei versucht, den besetzten Baugrund zu räumen. Erst die gemeinsamen Blockaden von San Dionisio und Álvaro Obregón, sowie das Urteil eines regionalen Gerichts erreichen eine Aussetzung des Bauvorhabens. Außerordentliche Wahlen sind seitdem zu einer Chiffre für den Windpark geworden. Dahinter steht die Annahme, dass nach der Durchführung dieser Wahlen erneut ein Vertrag geschlossen wird, der, obwohl illegitim aufgrund der Bedingungen, unter denen er zustande kam, den Weg frei machen würde für das Projekt. Dagegen, sowie gegen den Windpark im Allgemeinen, positionieren

180 Mitglieder der Gemeinde 181 Sergio Juárez-Hernández und Gabriel León schreiben in ihrer Analyse zur Windenergie am Isthmus: »En el Reporte de Manejo Ambiental y Social de dicho proyecto se afirma que se realizó un proceso de consulta entre los grupos indígenas conforme a las leyes mexicanas y los principios del banco, que no hay oposición al proyecto de parte de estos grupos y que se aprobaron acuerdos sobre el usufructo de las tierras respetando la propiedad y derechos sobre las mismas. Del otro lado, comuneros indígenas de San Dionisio del Mar denunciaron que no hubo tal consulta, como tampoco acuerdos para el uso de 1.643 ha de sus tierras comunales hasta por 30 años para el proyecto« (2014: 149). Übersetzung: »In dem Bericht von Manejo Ambiental y Social behauptet besagtes Projekt, dass man einen Konsultationsprozess bei den indigenen Gruppen laut der mexikanischen Gesetzgebung und den Prinzipien der Bank vorgenommen hat, dass es keine Opposition gegenüber dem Projekt von Seiten dieser Gruppen gibt und dass die Übereinkommen über die Nutzung des Landes das Eigentum und die Rechte darüber respektieren. Auf der anderen Seite, prangern indigene comuneros aus San Dionisio del Mar an, dass es keine Konsultation gegeben habe, ebensowenig wie Übereinkünfte für die Nutzung von 1.643 Hektar ihres kommunalen Landes für die 30-jährige Laufzeit des Projekts.«

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sich BewohnerInnen von San Dionisio nun auf eine Weise, bei der sie sich als indigene Gruppe ins Spiel bringen. Indigenität ist ein umstrittenes Konzept in der anthropologischen Theorie und wird auch von Gruppen kritisch gesehen, die es als Selbstbezeichnung verwenden (Cadena / Starn 2007: 3f.). 182 ›Indigen‹ wird häufig in pejorativer Weise gebraucht und geht mit Assoziationen von Unterentwicklung und Exklusion einher. Auch wird Indigenität ob ihrer Essentialisierung und der Fixierung von Gruppen auf eine statische, überzeitliche Identität und der darin angelegte Bezug zu einem Territorium durchaus als problematisch angesehen (Béteille 1998: 190191). Trotz dieser Aspekte verweist ›indigen‹ auf Zusammenhänge, die andere Begriffe wie beispielsweise ›lokal‹ oder ›ethnisch‹ nicht einschließen. Indigen zu sein ist nicht nur häufig verknüpft mit Erfahrungen von Marginalisierung, sondern wird von Gruppen durchaus angeeignet und selbst strategisch benutzt. Tania Murray Li definiert den Begriff folgendermaßen: »[I]ndigeneity (…) is the permanent attachment of a group of people to a fixed area of land in a way that marks them as culturally distinct (Murray Li 2010: 385).« Nach Murray Li kann das Konzept der Indigenität einer Gruppe Distinktion ermöglichen und die Beziehungen zu einem Gebiet betonen. Als analytische Kategorie wird Indigenität insbesondere dann bemüht, wenn es darum geht, die Bedrohungsszenarien zu beschreiben, die durch Großprojekte wie beispielsweise Dämme, Abholzung, Minen oder Plantagen für die Lebensweisen spezifischer Gruppen entstehen (ebd.). Der Begriff der Indigenität wird damit nicht von nur EthnologInnen und Institutionen verwendet, die auf der Suche nach einer Kategorisierung sind.

182 Die EthnologInnen Eveline Dürr und Henry Kammler (2019: 81-84) problematisieren die Begriffe ›indigen‹ sowie ›Indigenität‹ in Mesoamerika, indem sie auf die historische Verwendung im Rahmen kolonialistischer Klassifikation hinweisen. Sie beschreiben dazu den Bedeutungswandel des Begriffs, den er durch die jüngere positive Besetzung durch intellektuelle, kosmopolitische Akteure erfährt und weisen darauf hin, dass indigene Akteure sich nicht mehr auf eine einzige solche Identität festlegen lassen (möchten), wodurch zunehmend eine Loslösung der Kategorie von einer sozialen Schicht oder Lebensweise entsteht. Zur Entstehung des Konzepts der Indigenität siehe außerdem Niezen (2003), sowie zu einer ausführlichen Diskussion des Begriffs siehe Béteille (1998) und Hale (2006).

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Indigenität ist etwas, das Gruppen sowohl durch Zuschreibung erfahren, als auch aktiv selbst besetzen.183 Um dem Aspekt der Essentialisierung entgegenzuwirken, die durch die Verwendung dieses Begriffs entstehen kann, greift Murray Li in Anlehnung an Stuart Hall den Begriff der »Positionierung« auf. Damit beschreibt sie einen Vorgang, bei dem Gruppen oder Einzelpersonen mittels Identifikation als Indigene ihrer gegenwärtigen Situation Sinn zuschreiben, Verbündete und GegnerInnen lokalisieren und sich entsprechend organisieren (Murray Li 2007: 24). Eine solche Positionierung ist keinesfalls eine Essenz, sondern ein instabiler Referenzpunkt (Hall 1990: 225-26). Dabei ist die Positionierung als Indigene nicht nur strategisch in dem Sinne, dass versucht wird, den eigenen Interessen größtmögliche Geltung zu verschaffen. Zentral für eine solche Positionierung ist vielmehr das Gefüge von Ideen, Lebensweisen, Praktiken, sozialen und natürlichen Entitäten, in dem diese vorgenommen wird. Das Konzept der Indigenität erlaubt, die in verschiedenen Gefügen verflochtenen Beziehungen zum Gegenstand zu machen (Cadena 2010: 354). Im Fall der Ikojts geht es darum, auf Prozesse hinzuweisen, die durch den Windpark angestoßen werden und das Gefüge der sozionatürlichen Entitäten im Fischfang betreffen. Die Ikojts machen diese Prozesse öffentlich (Latour 2005), weil sie die ontologische Differenz dieser Entitäten bedroht sehen (vgl. Cadena 2010: 342). Damit ist die Auseinandersetzung um den Windpark sowohl ein Aushandlungsprozess dessen, was überhaupt als Teil politischer Prozesse betrachtet werden kann (vgl. Bingham / Hinchliffe 2008: 84) und hat zugleich Auswirkungen darauf, wie Indigenität für die Ikojts verfasst ist. Bei den Ikojts war die Positionierung als Indigene lange verknüpft mit Rückständigkeit. Diego Ramírez García sagt, dass man leicht hereingelegt wurde als Indigener: Anteriormente la gente no sabía leer, aunque quisiera leer, pero no puede [uhum]. Por eso te digo tú, que la gente antes, dicen que, »no, son indígenas, son indios,

183 Zur strategischen Besetzung von Positionen wie Gemeinschaft oder Indigenität auch als anthropologische Kategorie erklärt Tania Murray Li (2010: 399): »At times, anthropologists have promoted strong concepts of community, indigeneity, race, or cultural difference, especially when these appeared to have strategic value in advancing an agenda they support.«

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son… no saben nada esos…« Antes. Pero ahorita ya creo que… eso ya está cambiando (Interview Diego 02.12.2014).184

Mit Diego gehe ich häufig zum robalera-Fischfang. Er ist einer der jüngeren Fischer, der bereits mehrere lanchas besitzt und von Beginn an diese risikoreiche Fangtechnik anwendet. Bei unseren Gesprächen stellt er stets viele Fragen, er möchte wissen, wie die Dinge in Europa im Vergleich zu San Dionisio gemacht werden. Aus Diegos Sicht ändert sich das Bild der Ikojts als Indigene heute. Es gibt mehr und mehr gebildete Leute in San Dionisio, die in der Lage sind, anders aufzutreten: Nos, nos ven así indígenas, ¿no? Porque somos dicen de… de Oaxaca [um], y los de Oaxaca son… ahora sí… no tienen estudios, no, no, no… Son ignorantes, no… Porque como te digo, anteriormente la gente aquí era más cerrada. No, no iban a la escuela [uhum]. Pues no tienen nada de letra no, no tienen estudio, no saben nada [uhum]. Ni… ni te pueden dar a, leer el este… así como tal, antes. Pues ahorita, gracias a Dios, de que le digo, de que la gente ya está despierta, pues ya se da cuenta. Y uno lo está viviendo. Por eso la gente, »no, son indígenas, esos no saben nada…« (…) La verdad que no es cierto. La verdad que no, pues. Pero así nos trataban antes, ¿no? Antes. Cuando vivía mi papá… [uhum]. Con su papá de él, antes, a, bueno, aquella generación, estoy hablando como de 50 años atrás. Esa generación, pero ahorita ya es diferente. Ahorita te digo, aquí ahorita la gente ya está abierta. Ahorita ya hay maestros [uhum]. Hay licenciados, hay abogado, hay… de todo ahorita. (…) Ahorita sí, te digo de que, en mi caso pues, no estudié mucho, ná más terminé la secundaria. Pero de repente… agarro un libro y me pongo a leer. Me pongo a recordar, de lo que ya… Pues claro, ya… mi mente está despejada, mi mente… es…

184 »Früher konnten die Leute nicht lesen, auch wenn sie gewollt hätten, sie konnte es nicht [uhum]. Deshalb sage ich dir, dass die Leute früher gesagt haben, ›nein, das sind indígenas, sind indios, sind… die wissen gar nichts. Früher. Aber heute glaube ich, ändert sich das bereits.«

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lo poco que ya estudié, y lo poco, lo que estoy viendo, pues… Ahí va, ahí… ahora sí, de que lo voy entendiendo más (Interview Diego 02.12.2014).185

Dass sich die Situation für die Ikojts auf diese Weise ändert, hat auch mit dem Windpark-Projekt zu tun. Diego erklärt: Pero fíjate que mucha gente lo analizó. Como te digo, ahorita ya hay un poco gente despierta. No como antes. Anteriormente era… gente indígena, era… ruda, era… analfabeta, pues. Fácil los engañaba uno [um]. Pero ahorita ya como te digo. Ya hay preparación. Ya, ya tenemos aquí licenciados, maestros, pues ya… ya han abierto. Y… dijeron de que sí, dejemos otra vez que entre la España186, ya valió el

185 »Sie sehen uns so als indígenas, oder? Weil wir aus… aus Oaxaca sind, sagen sie [um], und die aus Oaxaca sind… jetzt ja… die haben nicht studiert, nein, nein, nein… Die sind Ignoranten, nein… Weil, wie sag ich’s dir, früher waren die Leute hier verschlossener. Sie gingen nicht auf die Schule [uhum]. Deshalb konnten sie nicht lesen, hatten keine Ausbildung, wussten nichts [uhum]. Sie konnten keine Zeile lesen… so war das, früher. Aber heute, Gottseidank, sage ich dir, sind die Leute aufgewacht, jetzt wissen sie, wie es läuft. Und sie leben so. Deshalb die Leute, ›nein, das sind indígenas, die wissen gar nichts…‹ (…) Die Wahrheit ist, dass es nicht stimmt. Es stimmt nicht, so. Aber so haben sie uns früher behandelt. Oder? Früher. Als mein Vater lebte… [uhum]. Mit seinem Vater, früher, in Ordnung, die damalige Generation, ich rede von vor 50 Jahren. Diese Generation, aber heute ist es anders. Heute, sage ich dir, sind die Leute hier offen. Heute gibt es Lehrer [uhum]. Es gibt Akademiker, Anwälte, es gibt… alles heute. (…) Heute schon, sage ich dir, dass, in meinem Fall, ich war nicht lange auf der Schule, ich habe nicht mehr als die secundaria abgeschlossen. Aber manchmal… schnappe ich mir ein Buch und lese. Ich erinnere mich, was es schon… Und klar, mein Verstand ist frei, mein Verstand… ist… mit dem bisschen, was ich gelernt habe, und dem bisschen, was ich sehe, also… Das geht, das… jetzt schon, ich bin dabei, mehr zu verstehen.« 186 Die Ikojts verwenden immer wieder auch »la España« als Bezeichnung für Mareña Renovables. Dies geht auf Preneal zurück, ein spanisches Unternehmen und der vorige Eigner des Projekts.

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río. Y va a volver a repetir como fue antes. Así es que no va, vamos a permitir eso. Estamos bien como estamos (Interview Diego 02.12.2014).187

Diego gilt in San Dionisio als »einer von der PRI«, obwohl er nie ein Amt für die Partei bekleidet hat und keine Führungsrolle in ihr einnimmt. Er und seine Frau Adriana machen jedoch keinen Hehl aus ihrer Unterstützung für die Partei. Keinesfalls jedoch sehen sie im Windpark eine Option, vielmehr ebenso wie im Widerstand organisierte Ikojts eine Gefahr für el mar. Das Projekt, erklären beide, soll auf keinen Fall umgesetzt werden. Jedoch halten sie die politischen Führungsfiguren der PRI San Dionisios für unverdächtig, ein solches Vorhaben gegen den Willen der BewohnerInnen durchzusetzen. Bei dem Konflikt, so erklärt mir Diego immer wieder, geht es immer weniger um den Windpark als vielmehr immer mehr um die parteipolitische Vormachtstellung im Dorf. Obwohl er nicht zu den im Widerstand Aktiven zählt, wertet Diego es als Erfolg, dass die BewohnerInnen San Dionisios in der Lage waren, einem Unternehmen wie Mareña Renovables die Grenzen aufzuzeigen: Por eso te digo de que... eso es lo que no quisimos aquí. No... Por eso te digo de que... No, no, no, ahora sí no benefi, no va a beneficiar a nosotros los ventiladores. Nos viene a chingar acá. Como indígenas que somos, piensan que ahorita los vamos a jugar, le vamos a invertir un billete y este y lo otro (Interview Diego 02.12.2014).188

187 »Aber stell dir vor, dass es viele Leute analysiert haben. Wie sage ich es dir, heute gibt es ein paar aufgeweckte Leute. Nicht wie früher. Früher waren… indigene Leute, waren… roh, waren… Analphabeten. Sie wurden leicht von jemandem hereingelegt. Aber heute, wie ich dir gesagt habe, sind sie vorbereitet. Wir haben hier Akademiker, Lehrer, also ist es… es ist schon offener. Und… sie sagten, dass, lassen wir ein weiteres Mal zu, dass Spanien [Mareña Renovables, siehe Fußnote 186] hereinkommt, geht alles den Bach runter. Es wird sich wiederholen wie früher. Daher wird nicht, werden wir das nicht zulassen. Wir sind gut, so wie wir sind.« 188 »Deshalb sage ich dir, dass… das ist das, was wir hier nicht wollten. Nein… Deshalb sage ich dir, dass… Nein, nein, nein, jetzt werden sie nicht von uns profitieren mit ihren Ventilatoren. Sie kamen, um uns hier zu verarschen. Wie wir Indigene so sind, haben sie gedacht, dass sie ein leichtes Spiel haben, wir investieren ein paar Scheinchen und gut ist.«

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Das Unternehmen habe gedacht, weil sie Indigene seien, habe es ein leichtes Spiel mit ihnen. Doch sie hätten es herausgeworfen, weil sie eben nicht mehr rückständige Indigene seien, sondern »despierto«189. Diegos Beschreibungen zeigen, dass die Ikojts sich in der politischen Auseinandersetzung mit dem Windpark-Unternehmen neu als Indigene positionieren. Damit streifen sie für sich nicht nur die Konnotation von indigen als rückständig ab, es entsteht für sie ein verändertes Konzept von Indigen-Sein, das auch Erfolgreich-Sein im politischen Kampf bedeutet. Für diese Art des Indigen-Seins ist entscheidend, dass die Positionierung als Indigene für die Ikojts mit dem Fischer-Sein verbunden ist. Denn statt Indigenität mit Landbesitz und Territorialität zusammenzubringen, stellen die Ikojts spezifische Beziehungen in den Vordergrund, die an die Tätigkeit des Fischfangs geknüpft sind. Fischer-Sein ist hier für die Ikojts nicht nur eine strategische Positionierung, sondern zentral für die Lebensweise der BewohnerInnen von San Dionisio. Don López erklärt: Somos los Ikojts. Nosotros estamos a esta orilla del mar muerte. Pero si de aquí nacimos, aquí crecimos. Nuestros abuelos, nuestros antepasados, los vis abuelos. Paterno, paterno. Que hemos visto el mar que tenemos nos ha dado, nos da mantenido (Interview Don López 01.06.2013).190

An der Beschreibung von Don López zeigt sich, welch ein enger Bezug von Fischfang, el mar und dem indigenen Selbstverständnis für die Ikojts besteht. Darin zeigt sich die Auffassung einer Einheit von Menschen, Ort (der Lagune) und Tätigkeit (Fischfang), als auch weiterer nicht-menschlicher Entitäten, wie den Fischen und Mangroven. Ihre Positionierung als Indigene und Fischer ist auf diese Weise durch die engen Verflechtungen von Land, gemeinschaftlichem Recht daran, der Lagune und Fischfangpraktiken gekennzeichnet. Damit zielt diese Positionierung darauf ab, sozionatürlichen Entitäten einen Platz in der Auseinandersetzung um den Windpark zu verschaffen. In der Auseinandersetzung geht es damit nicht lediglich um die Marginalisierung einer indigenen

189 aufgewacht 190 »Wir sind die Ikojts. Wir sind am Ufer des mar muerte [wörtlich: totes Meer]. Weil von hier kommen wir, wir werden hier geboren, hier wachsen wir auf. Unsere Großeltern, unsere Vorfahren und deren Vorfahren, väterliche, väterliche. Wir haben el mar und wir haben gesehen, was es uns gegeben hat, es gibt uns die Existenzgrundlage.«

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Gruppe, sie ist vielmehr ein Kampf um die Anerkennung von der spezifischen Verfasstheit dieser Entitäten und ihrer Eingebundenheit in den für die Ikojts zentralen Beziehungsgeflechten. Indigenität, oder das Zu-indigenen-FischernWerden ist damit für die Ikojts im selben Moment Ausdruck ihrer sozionatürlichen Beziehungen als auch historisch-politische Artikulation ihrer sozionatürlichen Welt (vgl. auch Cadena 2010: 347). Dies bedeutet jedoch weder, dass die Ikojts als indigene Gruppe einen ›authentischeren‹ oder ›natürlicheren‹ Zugang zu ihrer ›Umwelt‹ besitzen, für den die Praxis des Fischfangs den Beweis erbringt. Noch bedeutet es, dass ihre Beweggründe für eine solche Positionierung rein politische sind und in ihrer Lebensweise problemlos durch eine andere auf entsprechend verfügbare Ressourcen ausgerichtete Praxis ersetzbar wäre.191 Vielmehr zeigt die Verknüpfung der Positionierung als Indigene mit der Identifikation als Fischer, welche Beziehungen zu sozionatürlichen Entitäten in der Auseinandersetzung um den Windpark besonders wichtig werden. Die Positionierung als Indigene ist für die Ikojts dabei nicht nur eine defensive Maßnahme im Hinblick auf den Fischfang und el mar. In einigen politischen Prozessen nehmen BewohnerInnen San Dionisios insbesondere deshalb Teil, weil sie sich als Indigene gegen den Windpark positioniert haben. Beispielsweise fahren im März 2014 13 Mitglieder der Asamblea zum Congreso Nacional Indígena192 nach Álvaro Obregón und partizipieren in weiteren Veranstaltungen, die sich explizit an ›Indigene‹ richten. In der Positionierung als Indigene geht es für die Ikojts darum, was Latour in Anlehnung an Stengers mit »to alter what it means ›to belong‹ or ›to pertain‹« (Latour 2004: 454) beschreibt. Sie zielen nicht nur darauf ab, sich selbst als Gruppe Sichtbarkeit zu verschaffen, sondern versuchen zugleich den politischen Prozess so umzugestalten, dass Sichtbarkeit für spezifische Beziehungen zu sozialen und natürlichen Entitäten überhaupt möglich wird. In den politischen Prozessen wird so an dem Kosmos gearbeitet, den die Ikojts gemeinsam mit diesen Entitäten bewohnen (vgl. ebd. 451). Jedoch ist wie eingangs genannt Indigenität nicht nur ein Konzept, das von den Ikojts selbst gewählt wird. Es wird auch von anderen Akteuren an sie herangetragen. Auf der Veranstaltung zum Jahrestag gegen den Widerstand nennt der Bischof die Ikojts ein »pueblo indígena y humilde«. Jonathan, Binnizá aus Juchi-

191 Zur Kritik an der Reduktion von den Kämpfen indigener Gruppen als »mere resource conflicts« siehe Coombes et al. (2012: 813). 192 Nationaler Kongress der Indigenen

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tán und einer der Anführer des dortigen Widerstands gegen die Windparks, greift dies auf, als er darlegt, worum es aus seiner Sicht in dem Widerstand gegen den Windpark geht: »Un pueblo que está abrazada por el mar que alimenta el Istmo…, que ama a la laguna, pero confronta con el desplazamiento de la sociedad indígena.«193 Für Jonathan ist entscheidend, dass die Ikojts von el mar umschlossen sind, zu dem sie in besonderer Beziehung stehen. Zugleich zielt er in seiner Rede darauf ab, die Konnotation von indigenen Gruppen als marginalisiert in politisches Kapital zu verwandeln, und dieses gegen den Windpark in Stellung zu bringen. Hier werden die Ikojts für Jonathan zu benachteiligten und ausgegrenzten Indigenen, um ein politisches Argument machen zu können. Nicht zuletzt kommt die Kategorie Indigenität vom Windpark-Unternehmen. In einem Gespräch mit Miguel, Ernesto und Joel, einem Lehramtsstudenten aus San Dionisio, kommen wir auf den Strom zu sprechen, der im Dorf verbraucht wird. Strom ist immer wieder Thema in San Dionisio. Nicht nur fällt er häufig aus, weil der Wind die Oberleitungen beschädigt. Der Preis steigt auch immer weiter an. In der Runde sind sie sich uneinig darüber, woher der Strom kommt. Miguel erklärt, er sei aus Wasserkraft aus Tuxtla Gutiérrez in Chiapas. Joel und Ernesto meinen, er käme von der Talsperre bei Jalapa de Marques in Oaxaca. Auf den Strompreis bezugnehmend erzählt Miguel von frühen Verhandlungen mit dem Windpark-Unternehmen. Damals hätten sie die Forderung gestellt, für die 30 Jahre, für die das Unternehmen Flächen für die Turbinen pachten möchte, keinen Strom mehr zu bezahlen. Dem hätte jedoch das Unternehmen eine Absage erteilt: »no venimos a apoyar a los pueblos indígenas, venimos a hacer negocio.« 194 In Miguels Schilderung der Unternehmenshaltung schwingt sicherlich die Absicht mit, Mareña Renovables schlecht aussehen zu lassen. Dennoch ist es fraglich, ob es allen Ikojts in San Dionisio zusagt, als eine Gruppierung klassifiziert zu werden, die Hilfe benötigt. Daran zeigt sich, dass Indigenität ein umkämpftes Feld ist, in dem es den Akteuren nicht immer möglich ist, alle Konsequenzen ihrer Handlungen im Vorhinein abzuschätzen. Schließlich sind die Ikojts auch deshalb weltweit bekannt geworden, weil sie sich im Konflikt um den Windpark explizit als indigene Gruppe positioniert haben. In der Folge bekommen sie Aufmerksamkeit von beispielsweise Medien oder zivilgesellschaftlichen Akteuren. Pablo erklärt:

193 »Ein pueblo, dass von el mar umarmt wird, welches den Isthmus ernährt…, dass die Lagune liebt, aber die Verdrängung der indigenen Gesellschaft konfrontieren muss.« 194 »Wir sind nicht hier hergekommen, um den pueblos indígenas zu helfen, wir sind hergekommen, um Geschäfte zu machen.«

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Hoy tenemos voz. Fuimos invitados a la universidad jesuita, con nuestra voz. Y yo les dije, »hace unos meses, con el pretexto de meter un dragado, llegaron a San Dionisio del Mar a tantearnos para ver si estábamos dormidos.« No pudieron. No pudieron. Fueron rechazados otra vez (Interview Pablo 15.11.2017).195

Durch den Windpark ist für die Ikojts eine veränderte Situation eingetreten, die sie auf eine Weise in der Lage zu nutzen waren, sich eine Stimme zu verschaffen. Dies ist umso bemerkenswerter, weil die Ikojts aus San Dionisio bislang nicht in sozialen Kämpfen politisch in Erscheinung getreten sind. Sie beschreiben sich, beispielsweise im Vergleich zu San Mateo, als ruhiger und zurückhaltender, sowie bislang weniger streitsam in der Verteidigung ihrer »tradiciones« 196 . Während beispielsweise in San Mateo eine Lebensweise nach außen getragen wird, in der ihre Sprache Huave oder Rituale einen wichtigen Platz einnehmen, treten die Ikojts aus San Dionisio hierin weniger offensiv auf.197 Im Widerstand gegen den Windpark wird die Positionierung als Indigene jedoch nun Quelle eines neu erwachsenden Selbstbewusstseins, bei dem auch Aspekte dieser Traditionen durch die Ikojts in den Vordergrund gerückt und speziell als ›indigen‹ ausgewiesen werden. *** Der Windpark dynamisiert die Auseinandersetzung der Ikojts mit dem eigenen Selbstverständnis und führt dazu, dass Indigenität von den Ikojts als strategische

195 »Heute haben wir eine Stimme. Wir wurden an die jesuitische Universität eingeladen, mit unserer Stimme. Und ich habe ihnen gesagt, ›vor einigen Monaten, unter dem Vorwand etwas ausbaggern zu wollen, kamen sie nach San Dionisio del Mar um zu sondieren, um zu sehen, ob wir schlafen.‹ Sie konnten nicht. Sie konnten nicht, sie wurden ums weitere Mal herausgeworfen.« 196 Traditionen 197 Nach der oral history der Ikojts wurden sie in kriegerischen Auseinandersetzungen von aus Westen und Norden kommenden Binnizá bis an die heutigen Siedlungsplätze an der Lagune zurückgedrängt. Während die BewohnerInnen San Franciscos die Flucht ergriffen und deshalb bis an die Ostseite der Lagune getrieben wurden, leistete San Mateo den größten Widerstand und musste nur bis an die Westseite weichen. San Dionisio hielt immerhin soweit stand, dass es nun in der Mitte zwischen diesen beiden Dörfern gelegen ist. Scherzhaft bezeichnen sie sich heute daher auch als ›mitteltapfer‹.

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Positionierung vorgenommen und dabei mit auf sozionatürliche Entitäten ausgerichtete Praktiken wie dem Fischfang verknüpft wird. Indem sie zu indigenen Fischern werden, nehmen die Ikojts Bezug auf die durch den Windpark dynamisierten Prozesse. Ihre Konzeption von Indigenität beinhaltet dabei zugleich eine enge Beziehung zur Lagune. Außerdem entwerfen sie entgegen einer Sichtweise von indigen als rückständig eine positive Form der Indigenität, in der sie selbst Entscheidungen treffen und ihr Schicksal in die Hand nehmen. Dabei ist ihre Positionierung als Indigene nicht etwas, das lediglich zum Vorschein kommt, weil ein Großprojekt ›von außen‹ eine geschlossene Gemeinschaft bedroht. Sie ist ein strategisch besetzter Platz, durch den versucht wird, im Konstruktionsprozess und dem Ringen um die gemeinsame Welt entsprechend der zur Verfügung stehenden Mittel bestimmte Interessen zu verfolgen. Die Positionierung eröffnet für die Ikojts eine andere Art von politischem Prozess, der sich durch Pluralität auszeichnet. Nicht weil er durch Körper hervorgebracht wird, die durch Ethnizität markiert sind und sie auf dieser Basis ihre Rechte einfordern, sondern weil dadurch sozionatürliche Entitäten und die Beziehungen, die zu ihnen bestehen sowie die Praktiken, die auf sie ausgerichtet sind, Teil der Aushandlungsprozesse werden (vgl. Cadena 2010: 342). Im Konflikt um den Windpark geht es jedoch nicht nur um identitätspolitische Positionierungen. Es wird auch darum gestritten, wer in den Entscheidungsprozessen beteiligt werden und auf welche Weise dies geschehen soll. Eine Form, in der dies ausgehandelt wird, sind Versammlungen.

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6.4 VERSAMMLUNGEN They have a part so give them a part. Let them speak! The nonhuman animal, the rock, the river, the beach, the wind, and soil: let them be heard, be represented and representable in the governance of the earth. They have language too. They are agents too. Wee need a parliament of things so that the full range of actant Logos can make its part be heard. Elizabeth A. Povinelli, Geontologies, 131.

Die Versammlung um den Windpark ist ein Gefüge, in dem Fische mit Mangroven, Fischer mit Strömungen, Windturbinen mit el mar, der norte mit der Barra Santa Teresa, das Windpark-Unternehmen mit der Polizei und Barrikaden-Teile mit Bauarbeitern in Beziehung treten. In solchen Gefügen bilden Gruppen von Entitäten Koalitionen, was ihnen erlaubt, bestimmte Ziele zu verfolgen, auf die sich eine jeweilige Koalition geeinigt hat (DeLanda 2006a: 36). In den dabei stattfindenden Aushandlungsprozessen sind alle an der Versammlung teilnehmenden menschlichen und nicht-menschlichen Akteure miteinander verbunden und versuchen ihre Argumente geltend zu machen. Im Verlauf der Auseinandersetzungen um den Windpark berufen die Ikojts zahlreiche Versammlungen ein. Es gibt Treffen der vier Dörfer San Dionisio, San Mateo, Santa María und San Francisco, des eigenen Dorfes, der Pueblos del Istmo198, in der cámera de diputados199 in Mexiko-Stadt, mit Nicht-Regierungsorganisationen, mit BiologInnen und EthnologInnen. Aus diesen Versammlungen heraus treffen sie politische Entscheidungen, wie beispielsweise die Besetzung des Gemeindepalastes und die anschließende Absetzung des Gemeindepräsidenten, oder die Aussetzung der Bauarbeiten auf der Barra Santa Teresa zu Beginn des Jahres 2013. Die Versammlungen der Ikojts sind Neuordnungen dessen, was beziehungsweise wer in diesen Treffen versammelt wird. Sie sind nicht nur keine exklusiv menschliche Angelegenheit mehr, es gibt auch keine endliche Liste von Entitäten, die, wenn sie ausreichend berücksichtigt werden, alles nötige abdecken (vgl. Latour 2004: 454). Stattdessen erweitert sich in den Versammlungen die »Liste

198 ›Völker‹ des Isthmus, siehe Diskussion des Begriffs pueblo Seite 65. 199 Abgeordnetenhaus

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der am Handeln beteiligten nicht-menschlichen Wesen« (Latour 2001: 114). Diese nehmen ebenso wie die menschlichen Akteure an der Versammlung teil, sprechen, handeln und assoziieren sich mit anderen Akteuren. Keineswegs besteht dieses neue Kollektiv dabei allein aus der Asamblea General del Pueblo de San Dionisio del Mar. Vielmehr ist die Asamblea Teil einer größeren Versammlung, in der nun nicht mehr nur die Ikojts und ihre Stellvertreter oder die im Widerstand Organisierten, sondern auch BefürworterInnen des Windparks, Regierungsangehörige, el mar, der Wind, die Mangroven, Fische, Garnelen, die Barra Santa Teresa und der Windpark versammelt werden. Und nicht zuletzt sind die, die nicht im Widerstand organisiert sind, ebenfalls versammelt, denn auch sie nehmen in den Auseinandersetzungen teil. Wie sich jedoch zeigt, verlaufen diese Versammlungen keineswegs konfliktfrei oder gar harmonisch. Die Asamblea besitzt weder eine einheitliche Position, noch sind alle BewohnerInnen San Dionisios damit einverstanden, dass überhaupt eine solche Zusammenkunft stattfindet. Dies zeigt sich daran, dass el mar und der Windpark darin als »Konfliktstoffe« (Latour 2001: 83) auftauchen. Sie und mit ihnen verbundene Akteure sind »Störenfriede«, deren Handeln sich insbesondere durch Widerspenstigkeit auszeichnet (ebd. 115). Als diese Störenfriede legen sie nicht nur politische Verbindungen offen, sie partizipieren selbst in den politischen Auseinandersetzungen. Ich treffe Gustavo Gutierrez Juán, Fischer und ehemaliger comisariado200, zum Interview. Gustavo ist einer der wenigen BewohnerInnen San Dionisios, die den Windpark trotz seiner erwarteten Auswirkungen befürworten. Er hat zur Asamblea eine eindeutige Haltung: Lo que pasa que la gente necia, no puedes… no puedes ahora sí, convencerlo. Porque, si la gente… ¿cómo pudiéramos decir? Si, se imaginara la gente, de lo que uno, puede pasar, más adelante. El gobierno, qué sé yo. Yo creo que no permitiría el gobierno hacer cosas malas. Debe de ser una cosa buena, para que ayude a la comunidad [uhum]. Pero ellos no, pensaron no, que eso no va a servir, y, que, bueno… le pusieron peros, y ahí quedó. Sí. Pues San Dionisio no ha podido salir adelante por un grupo de… un grupo de personas que se le llama ›Asamblea del Pueblo‹. Eso es lo que está, está tropezando, lo que está, provocando todos los movimientos que ha habido en San Dionisio. Sí… Porque yo ya lo viví, y es por eso que lo puedo decir nuevamente. Ya lo viví. Yo fui Presidente de Comisariado de Bienes Comunales, y en mi… y en mi periodo, hicieron muchas cosas, contra

200 Kommissar, eine Stellung in der Gemeindeverwaltung.

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mí. No me dejaron trabajar, casi, al mes, al día, están, cuando yo quiero hacer reuniones, se ponen ellos en contra. No quieren escuchar. Nunca llegaron a escuchar, para ver qué es lo que se puede tratar (Interview Gustavo 12.11.2017).201

Gustavo hält die Asamblea für keine gute Idee, weil von ihr lediglich Opposition zu erwarten sei. Stattdessen wünscht er sich eigene Versammlungen, die jedoch nicht zustande kommen. Für ihn stellt es sich so dar, dass es ihm nicht gelingt, die Leute in der Auseinandersetzung um den Windpark von seinem eigenen Standpunkt zu überzeugen. Aus seiner Sicht werden durch die Asamblea Zusammenstöße erzeugt, zwischen den Ikojts und dem Unternehmen sowie der Regierung, aber auch zwischen den Ikojts untereinander. Ob er will oder nicht, auch Gustavo partizipiert damit in der Versammlung, die durch den Windpark zustande gekommen ist – seine Position in der Versammlung nimmt er jedoch durch Nicht-Teilnahme ein. Auf der anderen Seite kommt es auch nicht zu den Versammlungen, die sich andere Akteure wünschen. José, der von Beginn an im Widerstand gegen den Windpark engagiert war, erklärt, dass sie bereits 2009 vergeblich vom damaligen comisariado die Einberufung einer Versammlung gefordert haben, um über die eólicos informiert zu werden. Diese kam jedoch nie zustande, bis dann am 21.01.2012 doch eine Versammlung einberufen wird. In dieser verkündet der Gemeindepräsident Miguel López Castellanos, dass er den Vertrag mit Mareña Renovables, der eine Änderung der Bodennutzung beinhaltet, bereits unterzeichnet und dafür 14 Millionen Pesos in bar sowie das Versprechen über mehr

201 »Wie es ist, die starrköpfigen Leute, kannst du nicht… überzeugen. Weil, wenn die Leute… wie könnten wir sagen? Ja, wenn die Leute sich vorstellen, dass jemand kommen würde, irgendwann. Die Regierung, was weiß ich. Ich glaube, dass die Regierung keine schlechten Dinge erlauben würde. Es müssen gute Sachen sein, damit der Gemeinschaft geholfen wird [uhum]. Aber sie nicht, sie denken nicht, sagen, dass das nichts bringen wird, und, gut… eine Gruppe von Personen, die sich ›Asamblea del Pueblo‹ nennt. Das ist, was da, was da zusammenstößt, was diese ganzen Bewegungen, die es in San Dionisio gegeben hat, provoziert. Ja… weil ich das ja schon erlebt habe, und ich es deshalb aufs Neue sagen kann. Ich habe es schon erlebt. Ich war Präsident des comisariado de bienes comunales, und in meiner… und zu meiner Zeit, haben sie viele Dinge gegen mich unternommen. Sie haben mich nicht meine Arbeit machen lassen, beinahe, über den Monat, den Tag, waren sie, wenn ich Treffen angesetzt habe, haben sie sich dagegen gestellt. Sie wollen nicht hören. Sie kamen nie, um zu hören, um zu sehen, um was es sich handeln könnte.«

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als drei Millionen Pesos im Gegenzug für Mitarbeit von BewohnerInnen bei Bauarbeiten erhalten hat.202 Die Empörung der BewohnerInnen San Dionisios ist gewaltig. Doch nicht nur schlägt sie in Wut über diese offensichtliche Bereicherung um, sondern auch in Sorge darüber, was dies – gesetzt den Fall, man könne den Windpark nicht abwenden – nun für el mar bedeuten würde. In zahlreichen Versammlungen, in denen die Ikojts sich über das weitere Handeln beratschlagen, ist nun der Einfluss des Windparks auf el mar Gegenstand. Pablo erklärt dazu: Al interior de la Asamblea, creo que el tema de defender el mar, es la razón de ser de lo que existe la Asamblea hasta ahora. Si bien no lo decimos de, en voz alta todos los días, pero defen, la defensa del mar ha sido el… el hilo que nos une a todos (Interview Pablo 15.11.2017).203

Pablo spricht von einem Faden, der die unterschiedlichen in der Asamblea versammelten Entitäten verknüpft. Dieser Faden ist durch die Verteidigung von el mar entstanden. Für Pablo ist el mar der Grund, warum die Opposition gegen den Windpark erfolgreich war: »Si ves a la Asamblea del Pueblo fortalecida hoy, es porque así está en la mente, ahora la defensa del mar«204 (Interview Pablo 15.11.2017). Mit dieser Ansicht steht Pablo nicht allein. El mar ist ständig präsent, sowohl auf den Treffen mit den anderen Dörfern der Ikojts oder mit NichtRegierungsorganisationen, als auch in den alltäglichen Gesprächen in San Dionisio. Gleiches gilt für die Mangroven. Pablo erklärt:

202 14 Millionen Pesos entsprechen zum Zeitpunkt der Zahlung circa 821.000 Euro, drei Millionen Pesos sind 175.930 Euro. Die Zahlen variieren in den Erzählungen, die ich während meiner Zeit in San Dionisio gehört habe kaum. Auch die Journalistin der Zeitung »La Jornada« Rosa Rojas weist diese Zahlen aus (2012: 24). Bis heute (Stand August 2019) hat der ehemalige Gemeindepräsident weder dem Unternehmen noch der Verwaltung des Dorfes etwas zurückgezahlt. 203 »Innerhalb der Asamblea, glaube ich, dass das Thema el mar zu verteidigen der Grund ist, weshalb die Asamblea bis heute existiert. Wenn wir es auch nicht jeden Tag laut sagen, war dennoch die Verteidigung von el mar der… der Faden, der uns alle vereint hat.« 204 »Wenn du die Asamblea del Pueblo heute erstarken siehst, ist das weil der Gedanke der Verteidigung von el mar da ist.«

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Cuando le dijo a Gabino Cué, »no somos 20 borrachitos, somos…« Con ese documento, concursé en un este… en un proyecto, en un proyecto que se hizo a nivel… sureste. Guerrero, Oaxaca y Chiapas. Se hizo un, un Congreso del Sureste, donde participaban ambientalistas, organizaciones, que tuvieran un proyecto, en defensa de la biodiversidad. Participaron muchos organismos. Y yo hice un proyecto, presenté, donde yo dije, »yo no, yo no cultivé árboles, yo no cultivé… peces. Pero en la lucha donde yo participé, en San Dionisio del Mar, el solo hecho de defender, ese territorio, defendimos miles, cientos de hectáreas de manglar, que no fueron devastadas.« Y para mí, ése, aún cuando yo no lo sembré, el solamente de defenderlo, es un éxito y es un triunfo. Estoy cuidando el manglar. Estoy cuidando el camarón, estoy cuidando el, los peces. Para que no fuera destruido por una empresa (Interview Pablo 15.11.2017).205

In Pablos Beschreibung sind die Mangroven, die Garnelen und die Fische gemeinsam versammelt. Sie werden von den Ikojts beschützt, die sie gegen den Windpark verteidigen. Und auch der Wind wartet nicht lediglich darauf, als erneuerbare Energie ausgebeutet zu werden, sondern er hat wie el mar ebenfalls eine Stimme in der Versammlung. Diese zeigt sich in den politischen Forderungen der Nicht-Regierungsorganisationen, die beispielsweise nun ebenfalls in Flugblättern, Filmen und selbst herausgegebenen Zeitungen nun erklären »Somos viento« 206 , und damit eine Verbindung zwischen all denjenigen schaffen wollen, die sich gegen die Windpark-Unternehmen positionieren.

205 »Als ich zu Gabino Cué gesagt habe, ›wir sind nicht zwanzig Trunkenbolde, wir sind…‹ Mit diesem Dokument, habe ich in einem… in einem Projekt, einem Projekt, dass im Südosten gemacht wurde, Guerrero, Oaxaca und Chiapas. Es gab einen Kongress des Südostens, an dem Umweltaktivisten teilgenommen haben, Organisationen, die ein Projekt zur Verteidigung der Biodiversität hatten. Es haben viele Organisationen teilgenommen. Und ich habe ein Projekt gemacht, präsentiert, in dem ich sage, ›ich pflanze keine Bäume, ich züchte keine… Fische. Aber in dem Kampf, an dem ich teilnehme, in San Dionisio del Mar, mit allein der Tatsache, dieses Territorium zu verteidigen, verteidigen wir tausende, hunderte Hektar Mangroven, die nicht vernichtet wurden.‹ Und für mich, diese, auch wenn ich sie nicht gesät habe, die bloße Verteidigung, ist ein Erfolg und ist ein Triumph. Ich schütze die Mangroven. Ich schütze die Garnelen, ich schütze den, die Fische. Damit sie nicht von einem Unternehmen zerstört werden.« 206 »Wir sind der Wind«

204 | Der Geist des Windparks

Anders jedoch verhält es sich für den Windpark. Aus Sicht von Mareña Renovables ist dessen Teilnahme an der Versammlung nicht adäquat möglich: El proyecto ha tenido hasta, hace un par de meses una campaña negativa, principalmente por dos organizaciones, de dos particulares, que dicen hablar a nombre de todo el pueblo istmeño, o a nombre de todo el pueblo indígena. Mira, te digo que son organizaciones que tienen menos de 100 integrantes. Y te digo que estamos ubicados en comunidades que suman alrededor de 9000 habitantes, entonces, no son representativas, son muy mediáticas. Y es muy fácil tener éxito, en los medios, cuando tú tienes conectividad (Interview Edith Januar 2014).207

Edith kritisiert die Position, die dem Windpark durch die GegnerInnen des Projekts zugewiesen wird. Aus dieser heraus kann er sich nicht mehr in der angemessenen Weise äußern. Seine Teilnahme an der Versammlung erfolgt stumm. Akteure, denen stattdessen der Vorzug gegeben wird, sind el mar und die Mangroven, die aus Sicht von Mareña Renovables jedoch sich überhaupt nicht durch den Windpark in Gefahr befinden. Die Schilderung von Mareña Renovables zeigt, dass nicht nur der Windpark, sondern auch el mar und die anderen nicht-menschlichen Entitäten durchaus Sprecher sind, die angezweifelt werden können (vgl. Latour 2001: 124). Ihre Teilnahme und Legitimität sind nicht automatisch gewährleistet. Sie müssen sich ebenso wie die menschlichen Teilnehmenden stetig rechtfertigen und um ihre Position in der Versammlung ringen. Der Status der versammelten Entitäten wird somit fortwährend herausgefordert. Schließlich wird auch die Asamblea stetig in Frage gestellt. Dies geschieht nicht nur durch das Windpark-Unternehmen oder andere BefürworterInnen des Windparks, sondern auch durch diejenigen, die darin zentrale Akteure sind. Pablo beispielsweise spricht davon, dass die Asamblea sie verraten habe (vgl. Interview Pablo 15.11.2017). Sie, das sind seine engeren politischen Weggefähr-

207 »Das Projekt hat bis jetzt, seit ein paar Monaten eine Negativkampagne gehabt, hauptsächlich von Seiten zweier Organisationen, zweier Privatleute, die sagen, dass sie im Namen des gesamten Volkes des Isthmus sprechen, oder im Namen des gesamten pueblo indígena. Schau, ich sage dir, das sind Organisationen, die haben weniger als 100 Mitglieder. Und ich sage dir, dass wir uns in Gemeinden befinden, die um die 9000 Einwohner haben, das heißt, sie sind nicht repräsentativ, sie sind vor allem medienaffin. Und es ist sehr einfach Erfolg zu haben, in den Medien, wenn du diese Verbindung hast.«

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ten, Ikojts aus San Dionisio, die sich in dem Verein Mungier Ndyck engagieren. Pablo bezieht seinen Vorwurf darauf, dass Teilnehmende der Asamblea Überlegungen anstellen, doch wieder Wahlen in San Dionisio durchführen zu wollen. Ihm und vielen anderen in San Dionisio gilt dies bereits als Vorstufe des Windparks. BefürworterInnen dieses Vorstoßes wiederum erhoffen sich durch die erneute Öffnung für Parteien Verbesserungen für San Dionisio, weil dann wieder öffentliche Zuwendungen abgerufen werden können. Pablo und seine MitstreiterInnen lehnen dies strikt ab. Für sie sind die Parteien die Wurzel allen Übels, die aus der Asamblea ferngehalten werden muss. Dennoch sieht er die Notwendigkeit, sich weiter an der Asamblea zu beteiligen: Sofía dijo, »Ya, ya no. Nada con estos traidores.« »Sí«, le dije, »pero si no decimos nada, ellos van a hacer lo que quieren. Y ése y no es, en contra de nosotros [uhum]. Nosotros por orgullo, tenemos que participar, pero tenemos que hacerlo, antes, no cuando ya sea muy tarde (Interview Pablo 15.11.2017).«208

Um der Versammlung die gewünschte Ausrichtung zu geben, ist es für Pablo unumgänglich, daran teilzunehmen. Nur wenn er sich weiter an der Versammlung beteiligt, kann aus seiner Sicht deren Verlauf beeinflusst und der Schutz der sozionatürlichen Entitäten gewährleistet werden. *** Die politische Auseinandersetzung um den Windpark bringt die unterschiedlichen Ansichten darüber zum Ausdruck, ob el mar oder der Windpark mitversammelt werden können. Während sich einige Akteure weigern, diesen Entitäten einen solchen Status zuzugestehen, wenden sich die anderen gegen deren Eliminierung aus der Diskussion (vgl. Latour 2004: 458). Aus der Perspektive der GegnerInnen des Windparks bildet der Windpark den Kontrast zu all dem, woraus sie fordern die gemeinsame Welt zu konstruieren. Die Existenz als selbstbestimmte indigene FischerInnen ist für sie nur in einer Welt möglich, in der kein Windpark gebaut wird. BefürworterInnen sind zwischen ihrer Sorge um el mar und der Hoffnung auf eine Verbesserung der Situation San Dionisios hin- und

208 »Sofía hat gesagt, ›nein, nicht mehr. Nicht mehr mit diesen Verrätern.‹ ›Ja,‹ habe ich zu ihr gesagt, ›aber wenn wir nichts mehr sagen, werden sie machen was sie wollen. Und das ist dann etwas gegen uns [uhum]. Wir, aus Stolz schon, müssen teilnehmen, müssen etwas machen, vorher, nicht wenn es schon zu spät ist.‹«

206 | Der Geist des Windparks

hergerissen, während das Windpark-Unternehmen anzweifelt, ob dem Windpark überhaupt eine angemessene Chance der Partizipation in der Versammlung gegeben wird. Dies zeigt: Bereits das Hereinnehmen dieser Entitäten ist ein politischer Akt, der die Auseinandersetzung prägt. Die Kämpfe darum, ob und auf welche Weise diese Entitäten Teil der Versammlung sein dürfen, sind damit ein Ringen um Pluralität und Offenheit der durch den Windpark angestoßenen Prozesse. Dabei wird von Seiten der Ikojts nicht nur ›nach außen‹, also auf das Windpark-Unternehmen und die Regierung hin gerichtet, um Pluralität gekämpft. Auch ›nach innen‹ müssen sich die verschiedenen Positionen der Ikojts miteinander messen und sind entsprechend umstritten. In den Auseinandersetzungen um den Windpark findet somit eine fortwährende Versammlung der Akteure und Entitäten statt, in der sowohl um deren jeweilige Gewichtung gerungen wird, als auch darum, ob die jeweiligen Akteure und Entitäten überhaupt das Recht haben, an der Versammlung teilzunehmen. Es handelt sich um einen fortwährenden Aushandlungsprozess dessen, welche Entitäten in der Hervorbringung der gemeinsamen Welt auf welche Weise beteiligt werden sollen.

6.5 EIN NEUER WIND FÜR FORTSCHRITT UND GEGEN DEN KLIMAWANDEL Der Wind ist in seinem Erneuerbare-Energie-Werden Teil anderer Gefüge geworden und im Zuge dessen neue Beziehungen eingegangen. Er ist dabei nicht nur ein anderer Wind geworden, sondern verändert auch die Region des Isthmus. Durch seine neue Verfasstheit sehen einige Akteure in ihm neue Potentiale und Nutzungsweisen. Daran sind Erwartungen geknüpft, wie der veränderte Wind Verbesserungen für so unterschiedliche Bereiche wie die prekäre Situation in San Dionisio oder den Klimawandel erbringen kann. Gegen Letzteren kämpft der Wind aus Sicht der staatlichen mexikanischen Energiebehörde jetzt an vorderster Front. Sie sieht im Wind: An opportunity to reduce emissions without compromising national economic development; an opportunity to contribute to climate change mitigation; an opportunity to attract investment to Mexico; an opportunity to develop local capabilities; an opportunity for technological development; an opportunity to increase the nation’s global competitiveness (Santa Rita Feregrino: 2007: 32-33).

Nach Ansicht der Energiebehörde soll dem Klimawandel zuallererst mit dem Ausbau von Windenergie begegnet werden. Der Wind am Isthmus beflügelt

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dafür die größten Hoffnungen und das dortige größte und ambitionierteste Windpark-Projekt Parque San Dionisio ist für lokale und regionale Regierungsinstitutionen dabei das geeignete Mittel. Gabino Cué, zu dieser Zeit Gouverneur von Oaxaca, erklärt in einem Interview für einen regionalen Fernsehsender zum Projekt: Con este proyecto se convierte, se convertiré en el estado de América Latina que más aporta con este tipo de inversiones al cambio climático, porque estamos contribuyendo a la energía limpia (Interview Gabino Cué 30.09.2012).209

Mareña Renovables greift diesen Aspekt auf und beschreibt das Projekt als herausragende Maßnahme zur Reduktion von Kohlendioxid: Los beneficios ambientales son muy amplios. Voy a empezar por los beneficios globales. La instalación de este parque está ayudando a la reducción de emisiones de carbono de manera importante. El dato exacto no lo tengo ahorita, pero hay una re, una aportación importante de bonos de carbono. En cuanto al beneficio nacional y local, sigue siendo importante, porque con la instalación de este parque, el porcentaje nacional de energía verde que se está ge, produciendo, se incrementa, considerablemente (Interview Edith Januar 2014).210

Denn der neue Wind ist nun Teil des Erneuerbare-Energien-Gefüges und hat damit eine Fähigkeit hinzugewonnen. Nicht nur ist er Ressource für erneuerbare Energie geworden, als Teil des Erneuerbare-Energien-Gefüges erhält er nun die Fähigkeit, sich auf globaler, regionaler und lokaler Ebene dem Klimawandel entgegenzustellen. Er wird für staatliche Akteure und Windpark-Unternehmen Ausdruck für Forderungen nach ›grüner‹ und ›sauberer‹ Energie und ist zugleich das Mittel, diese in der Region des Isthmus umzusetzen.

209 »Mit diesem Projekt verwandelt sich, wird er sich in den Bundesstaat in Lateinamerika verwandeln, der am meisten zu dieser Art von Investitionen gegen den Klimawandel beisteuert, weil wir zur sauberen Energie beitragen.« 210 »Der Gewinn für die Umwelt ist sehr weitreichend. Ich werde mit dem globalen Gewinn anfangen. Die Installation dieses Parks hilft dabei, die Kohlendioxidemissionen maßgeblich zu senken. Ich habe die exakten Daten gerade nicht, aber es gibt einen wichtigen Anteil an CO2-Zertifikaten. Der nationale und lokale Gewinn ist ebenfalls wichtig, weil mit der Installation dieses Parks der nationale Prozentsatz grüner Energie, die produziert wird, beträchtlich ansteigen wird.«

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Auch bei den Ikojts gibt es durchaus Hoffnungen, die mit Windenergie verbunden werden. Diejenigen bei den Ikojts, die Windenergie nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstehen, hoffen auf Fortschritt, der damit nach San Dionisio gebracht werden könnte. Gustavo erwartet beispielsweise: Porque, porque no quisieron que el viento nos diera el recurso [um]. El viento está pasando diario. Diario pasa el viento. Y no sabemos que ahí está el dinero que iba a pasar acá. Sí. Y pues, la gente piensa que, pues, era un error, de meter el eólico. Y que al rato va a acabar con todo. Pero si el viento años con años. Año tras año lo tenemos. No es que nada más un ratito. Año tras año lo tenemos. Y ahorita, pues qué pena. España, dice no, pues no lo quiere, no lo necesitan, me voy [um]. Y ahorita se fue para otro lugar (Interview Gustavo 12.11.2017).211

Gustavo knüpft Hoffnungen an den Parque San Dionisio. Er hält es daher für einen Fehler, dem Unternehmen eine Absage zu erteilen. Stattdessen sieht er eine einmalige Chance darin, den Wind, den sie seit ewigen Zeiten haben, auf neue Weise zu nutzen. Der Wind ist in Gustavos Schilderung ein Akteur, dessen neue Nutzung Verbesserungen für die Situation der Ikojts bringen könnte. Gustavo hat dabei insbesondere die durch den Windpark entstehenden finanziellen Mittel im Blick, die, so erklärt er, zum Beispiel für eine Verbesserung der Schulen eingesetzt werden könnten. Einer, der den Windpark bis heute vehement befürwortet, ist Francisco Javier. Ich treffe ihn zum Interview in seinem Haus in San Dionisio (Interview Francisco 13.11.2017). Er war Gemeindepräsident von San Dionisio in den Jahren 1993 bis 1996. In diese Zeit fiel der Anschluss an das Stromnetz der Playa Copalito und der Ausbau der Straße über Punto Estero nach Chicapa. Francisco ist der Einzige mit dem ich in San Dionisio gesprochen habe, der nicht nur den Windpark uneingeschränkt befürwortet, sondern auch anzweifelt, ob er wirklich kontaminieren würde. Der Windpark bringe Vorteile für San Dionisio,

211 »Weil, weil sie nicht wollten, dass der Wind uns Geldmittel verschafft [um]. Der Wind weht jeden Tag. Täglich weht der Wind. Und wir wissen nicht, wie viel Geld hier durchgeht. Ja. Und, also, die Leute denken, dass, also, es ein Fehler war, den Windpark hineinzulassen. Und dass es dann bald mit allem vorbei sein wird. Aber wenn mit all den Jahren, all die Jahre, die wir ihn haben. Es ist nicht nur eine kurze Zeit. Jahre um Jahre haben wir ihn. Und jetzt, also wie schrecklich. España sagt nein, also wenn ihr nicht wollt, wenn ihr es nicht braucht, dann gehe ich [um]. Und jetzt sind sie weg.«

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erklärt Francisco, weil er eine Alternative bietet. Das Geld, das durch ihn hereinkäme, könne für den Fortschritt und die Entwicklung des Dorfes genutzt werden. Er kritisiert die Fischer, die el mar nicht schützen würden, wenn es nicht um die eólicos gehen würde, denn sie würden Plastik und andere Abfälle einfach hineinwerfen. Francisco stellt sich vor, den Windpark zehn Jahre auf Probe auf der Barra Santa Teresa zu installieren. Sollte er die Lagune affizieren, sollte der weitere Betrieb untersagt werden. Außerdem soll das Windpark-Unternehmen verpflichtet werden für Umweltschäden zu haften, etwaige entstandene Schäden auszugleichen, sowie junge Leute aus San Dionisio zum Studium nach Kanada, Brasilien und in die USA zu schicken. In den Überlegungen von Francisco und Gustavo kommt zum Ausdruck, wie die neue Verfasstheit des Winds am Isthmus politisch verhandelt wird. Beide sehen in dem neu erschlossenen Wind eine Chance, die Situation der Ikojts zu verbessern. Durch den neuen Wind sollen sich neue Möglichkeiten für die Ikojts eröffnen, sollen Fortschritt und Entwicklung nach San Dionisio gebracht werden. War er bislang als norte Teil der Fischfang-Praxis der Ikojts, hat der Wind durch sein Teil-Werden des Erneuerbare-Energien-Gefüges neue Fähigkeiten hinzugewonnen. Er eröffnet nun neue, andere Nutzungsweisen, die ihm erlauben, sowohl einen Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel zu leisten, als auch die konkrete Situation der Ikojts zu verbessern. Allerdings zeigt die politische Lage in San Dionisio, dass diese neuen Nutzungsweisen weiterhin anhaltend blockiert sind. Dies ist mit ein Grund dafür, dass die Ikojts beginnen, nach Alternativen zu Windenergie zu suchen.

6.6 SAUBERE SOLARENERGIE? Die Auseinandersetzungen um den Windpark befördern die Suche nach anderen Formen der Energieproduktion auf dem Gebiet der Ikojts. Eine, die von ihnen selbst vermehrt diskutiert wird, ist Solarenergie. Solarenergie wird mittels Photovoltaikanlagen gewonnen, die überall dort aufgestellt werden können, wo genug Sonne scheint. Zu Windenergie bildet sie für die Ikojts deshalb einen Kontrast, weil sie diese Art der Energieerzeugung nicht mit Kontamination verknüpfen. Dies ist ein Effekt, der sich durch den Windpark eingestellt hat: Jede neue Form der Energieerzeugung muss sich daran messen, ob sie Kontamination mitbringt. Im Folgenden zeichne ich Überlegungen der Ikojts zur Solarenergie nach und zeige auf, wie sie diese mit Windenergie kontrastieren. Oswaldo Raúl Ortíz ist Lehrer und ehemaliger Fischer aus San Dionisio. Mit ihm führe ich lange Gespräche über das Leben in San Dionisio. Bei einem mehr-

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stündigen Interview kommen wir auf erneuerbare Energien zu sprechen. Er erklärt: Hay muchas formas de energía renovable. No básicamente es el viento, ¿no? Quizás si se hiciera un, proyecto de... energía solar, no sé cuánto saldría. Yo le, a veces le digo a mi sobrino… O qué tanto afecta también eso, también no sé. Porque yo sé que reciben así como unos páneles así… Reciben la energía del sol y bueno, ya, puedes alimentar tu casa (Interview Oswaldo 11.12.2014).212

Oswaldo benennt Solarenergie als potentielle geeignete andere Form der Energieerzeugung, die in der Region möglich wäre. In der Zona Huave scheint die Sonne selbst in der Regenzeit fast täglich. Dennoch gibt es bislang keine größeren Vorhaben, Solarenergie am Isthmus zu etablieren.213 Juan Carlos Flores, ein Delegierter der Asamblea, hat diese Form der Energieerzeugung bereits in Juchitán gesehen: Hay un tipo de energía que es solar. Que no sé cómo se genera. Hay técnicos especial, porque en Juchitán he visto, por todo en las noches. Yo creo que carga en el día, en la noche hay lu, hay luz [uhum], por todo la… la carretera, ¿no (Interview Juan Carlos 11.04.2014)?214

Obwohl in San Dionisio niemand ein Solarpanel besitzt, sehen einige Solarenergie als die beste Lösung an, auf ihrem Gebiet Energie zu erzeugen, ohne dass

212 »Es gibt viele Arten von erneuerbarer Energie. Es ist nicht nur der Wind, oder? Vielleicht könnte man ein, Solarenergie-Projekt, ich weiß nicht, was das kosten würde. Ich, manchmal sage ich meinem Cousin… Oder wie sehr das auch affizieren würde, weiß ich auch nicht. Weil ich weiß, dass sie ein paar solcher Panele bekommen haben… Sie kriegen Energie von der Sonne und gut, schon kannst du dein Haus versorgen.« 213 Die Solarenergie soll in Mexiko insbesondere in der Sonora-Wüste und im Bundesstaat Baja California ausgebaut werden. Das Erneuerbare-Energien-Unternehmen Acciona plant beispielsweise einen Solarpark mit einer Kapazität von 200 Megawatt (Reve 2015). 214 »Es gibt eine Art der Energie, die heißt Solar. Ich weiß nicht, wie sie erzeugt wird. Es gibt spezielle Techniken, weil ich es in Juchitán gesehen habe, vor allem in der Nacht. Ich glaube, sie lädt am Tag, in der Nacht gibt es Li, gibt es Licht [uhum], auf der… der Autobahn, oder?«

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Kontamination entsteht. Auch José plädiert für Solarenergie statt Windenergie. Er erklärt: Entonces, pero que, para mí, para mí en este… eh, la situación… de celdas solares, pues, yo lo veo muy, muy, mucho mejor que las eólicas. Yo sí lo veo. Mucho mejor…¿Por qué? Porque no, no impacta tanto en el ámbito terrestre. Porque no vas a destruir, este árboles. Sobre todo, no vas a destruir, como en nuestro caso, tenemos ecosistemas muy importantes, eh, en nuestro, alrededor, ¿no? Entonces, yo creo que, es una buena opción para los páneles solares. Y para mí, pues es, es lo mejor, pues (Interview José 20.01.2015).215

Solarenergie ist für José deshalb eine gute Option, weil sie schonend in das Ökosystem eingeführt werden könnte. Es müssten keine Mangroven zerstört und kein tiefgehenden Fundamente gesetzt werden, was wichtig für den Erhalt von el mar ist. Im Kontrast dazu steht Windenergie, weil diese umfassende Eingriffe in die Umwelt mit sich bringt: Tenemos que volver los ojos en otra forma de energía. Energía solar, ¿no? Energía, no sé… Yo creo que yo, yo al menos lo veo la energía solar un poquito más, más noble, ¿no? A través de celdas solares, sin derribar árboles, sin, sin, escarbar tanta la, la Madre Tierra. Hacer tantas perforaciones a la tierra, y… Pues así está (Interview José 20.01.2015).216

Die Solarpanele hingegen kämen aus Josés Sicht ohne diesen Eingriff aus. Er kennt derartige Anlagen von einem rancho in der Nähe von San Dionisio Pueblo

215 »Dann, aber dass, für mich ist… eh, die Situation… der Solarzellen, also, ich sehe das viel, viel, sehr viel besser als die Windparks. Ich sehe das so. Viel besser… Warum? Weil sie keine solchen Auswirkungen auf die Landschaft haben. Weil du keine Bäume zerstören wirst. Vor allem, wirst du keine, wie in unserem Fall, wir haben sehr wichtige Ökosysteme, eh, in unserer Umwelt, oder? Daher glaube ich, dass die Solarpanele eine gute Option sind. Und für mich, also, sind sie das Beste.« 216 »Wir müssen unseren Blick zurück auf andere Arten von Energie richten. Solarenergie, oder? Energie, ich weiß nicht… Ich glaube, zumindest sehe ich die Solarenergie ein bisschen, bisschen edler, oder? Mit den Solarzellen, ohne Bäume niederzureißen, ohne, ohne so sehr in der Madre Tierra [Mutter Erde] herumzustochern. So viele Löcher in die Erde zu treiben, und… Also so ist das.«

212 | Der Geist des Windparks

Viejo auf der Barra Santa Teresa. Die dort lebende Familie besitzt einen Kollektor auf dem Dach und eine Batterie im Haus. Keineswegs stehen alle wie José der Solarenergie unvoreingenommen gegenüber. Die Ikojts sind durch die Erfahrungen mit dem Windpark vorsichtig geworden. Wie beim Windpark stellen sie Überlegungen dazu an, ob eine Beeinflussung der sozionatürlichen Beziehungsgeflechte zu erwarten ist. Juan Carlos erklärt: Y, y eso no sabemos qué material utilizan. ¿No? Porque, no, no utiliza, este… los hélices, no… Más este… no sé si es más química o… o materiales que, que ocupan aceite y todo eso (Interview Juan Carlos 11.04.2014).217

Die alternative Energie muss sich für die Ikojts in jedem Fall daran messen, keine Kontamination mit sich zu bringen, wie es der Windpark tun würde. Tonio fügt auf die Frage nach einer Kontamination von Solarenergie hinzu: »Pues no sabría decirte. No creo, yo creo que no. Yo no sé, por eso digo que… digo yo que no. Por eso que, se ve como otra alternativa también«218 (Interview Tonio 18.12.2014). An den Beschreibungen von Juan Carlos und Tonio zeigt sich, dass Unsicherheit besteht, ob die Solarenergie kontaminiert oder nicht.219 Dies illustriert die Wichtigkeit dieses Aspekts von erneuerbaren Energien, der für die Ikojts maßgeblich durch den Windpark entstanden ist: Erneuerbare Energien sind für sie nicht mehr automatisch ›grüne‹ oder ›saubere‹ Alternativen, vielmehr rückt ihre Eingebundenheit in die Umwelt ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Diesen Überlegungen zum Trotz werden von José, Eduardo und weiteren Mitgliedern

217 »Und, und da wissen wir nicht, welches Material sie nutzen. Oder? Weil, sie nutzen nicht die Schrauben [Windräder], nein… Eher diese… ich weiß nicht, ob es Chemie ist, oder… oder Materialien, die Öl und so weiter verwenden.« 218 »Also, das kann ich dir nicht sagen. Ich glaube nicht, nein. Ich wüsste nicht weshalb, deshalb sage ich… sage ich nein. Darum könnten sie auch als eine andere Alternative angesehen werden.« 219 Studien legen nahe, dass die Überlegungen der Ikojts zur Kontamination von Solarenergie nicht unbegründet sind (vgl. beispielsweise Hee-Jong Yang et al. 2017 sowie Tsoutsos et al. 2005). Zwar ist das Risiko gering, dass während des Betriebs Schadstoffe in die Umwelt gelangen können. Allerdings sind in den Panelen potentiell umweltbelastende Materialien verbaut, was durch die in San Dionisio ungeklärte Entsorgungssituation nach deren Lebenszyklus beträchtliche Auswirkungen zu Folge haben könnte.

»Mar y aire, nuestra vida, nuestra lucha« | 213

des Vereins Mungier Ndyck bereits die nötigen Maßnahmen ausgelotet, Projekte zum Ausbau der Solarenergie in San Dionisio zu fördern. Jedoch versprechen sich nicht alle Ikojts in San Dionisio davon Erfolg. Oswaldo fragt sich, ob die Photovoltaik-Zellen genug Leistung bringen: Pues… pues sí, ése sí va a beneficiar de manera directo a la gente, porque va a tener sus páneles, en, su domicilio, ¿no? No, no, bueno, es que uno no sabe, le digo, también tendrá su, situación negativa, no sé. Porque en una comunidad donde trabajé, con esa energía trabajaban. La clínica. Solar. No más tenían unos acumuladores ahí, parece que ahí, como que recarga las, los acumuladores y ya da energía. Sí. Yo creo que sí… Pero pues… tiene también qué capacidad puede aguantar, ¿no? La energía. Que mientras más capacidad necesitas para, una empresa para... para una industria, algo más grande, pues necesitas también una forma de, de, de generar la enerí, energía más grande. Ése es el detalle pues (Interview Oswaldo 11.12.2014).220

Auch Tonio sorgt sich um die Leistung. Denn elektrische Energie in Form von Strom ist aus den Haushalten in San Dionisio nicht mehr wegzudenken. Tonio zählt auf, wofür sie alles genutzt wird: Ahorita llegan otras alternativas, la energía solar. Que ahorita ya están los páneles solares, para iluminación y todo lo demás. Pero pues nuestra… nuestra gente… ha sentido, que la energía ha sido indispensable, en nuestra vida cotidiana. Un ventilador, por el exceso de calor que hay acá. Un ventilador, dice, »sin ventilador yo no duermo.« Ahí está mi ventilador. Televisión. Refrigerador… La lavadora, antes, ni siquiera lavadora se ocupaba. Raro los que tenemos un microonda en casa. La plancha. Pero yo considero… para un pescador, la plancha no es necesaria. Pa-

220 »Also… also ja, wenn das den Leuten direkt etwas bringt, weil sie dann Panele auf ihrem Wohnhaus haben, oder? Nein, nein, gut, das weiß man nicht, ich sage, dass das auch seine, negative Seite haben kann, ich weiß nicht. Weil in einer Gemeinde, in der ich gearbeitet habe, hatten sie auch diese Energie. Die Klinik. Solar. Sie hatten nicht mehr als ein paar Akkus, es scheint, wie das geladen, die Akkus und schon geben sie Energie. Aber währenddessen wieviel mehr Kapazität benötigst du für eine Firma, für… für eine Industrie, etwas Größeres, also brauchst du eine größere Art der Energieerzeugung. Das ist das Detail.«

214 | Der Geist des Windparks

ra un pescador, es que el refri es necesario… Dice, ¿por qué? Porque necesita congelar los pescados (Interview Tonio 18.12.2014).221

Die Nutzung und die Anzahl von Geräten, die Strom benötigen, hat in den vergangenen Jahrzehnten bei den Ikojts stetig zugenommen. Strom dient nun nicht mehr nur von den Ikojts als essentiell betrachteten Dingen wie dem Kühlen von Fisch, sondern auch dem Betrieb von Ventilatoren, Fernsehern, Computern und dem Laden von Mobiltelefonen. Für die benötigte Energieversorgung all dieser Geräte bestehen Zweifel, ob die Sonnenenergie ausreichen würde. Gustavo meint dazu: Pero, pues, no es suficiente, dicen. No es suficiente, porque… la energía solar, pues lo ocupa nada más una sola persona. Sí. No puede compartir con dos, tres personas. En cambio la luz, le… la energía eléctrica, si el vecino qué va a ser, y no tiene, puede meterle un cable y ahorita ocupo por allá. En cambio la energía solar no se puede. No… no le da vida. No le da vida (Interview Gustavo 12.11.2017).222

221 »Jetzt kommen andere Alternativen, die Solarenergie. Jetzt gibt es schon Solarpanels, um Licht zu machen und noch mehr darüber hinaus. Aber unsere Leute… unsere Leute… finden, dass die Energie unverzichtbar ist in unserem täglichen Leben. Ein Ventilator, wegen der extremen Hitze, die es hier gibt. Ein Ventilator, sagt er, ›ohne Ventilator schlafe ich nicht‹. Hier ist mein Ventilator. Fernseher. Kühlschrank… Die Waschmaschine, früher, wurde nicht einmal eine Waschmaschine benutzt. Selten haben wir eine Mikrowelle im Haus. Ein Bügeleisen. Aber ich denke… für einen Fischer ist ein Bügeleisen nicht nötig. Für einen Fischer ist ein Kühlschrank nötig… Du fragst warum? Weil er die Fische kühlen muss.« 222 »Aber, also, es ist nicht genug, sagen sie. Es ist nicht genug, weil… die Solarenergie, wird von nicht mehr als einer einzigen Person benutzt. Ja. Die können sich nicht zwei, drei Personen teilen. Im Gegenzug der Strom, … die elektrische Energie, wenn der Nachbar keinen Strom hat, kann man ein Kabel rüberlegen und er nimmt den Strom von da. Dagegen reicht die Solarenergie nicht aus. Sie… ist nicht genug. Sie ist nicht genug.«

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Gustavo trennt »la luz«223, den Strom aus der Leitung, von dem aus Photovoltaik-Anlagen erzeugten Strom. Aus seiner Sicht reicht er nicht aus, um mehr als eine Person zu versorgen. Um dies zu gewährleisten, wäre eine Erzeugung in größerem Ausmaß nötig. Ob ein groß angelegtes Solarenergie-Projekt eine Option darstellen würde, dazu möchte er sich nicht äußern.

Abb. 6.2 Wohnbereich mit Küche in einem Haus in San Dionisio Die Diskussionen um Solarenergie bei den Ikojts haben bislang noch kein Ergebnis gebracht. Weder besteht von unternehmerischer Seite ein konkretes Projektvorhaben, noch haben BewohnerInnen San Dionisios bereits dahingehende Schritte in die Wege geleitet. Für die meisten Ikojts geht es bei ihren Überlegungen dazu eher um die Deckung ihres täglichen Strombedarfs, als um die Initiation eines großen Energieprojekts. Ob der Windpark sie dahingehend hat vorsichtig werden lassen, oder dem Anderes zugrunde liegt, muss an dieser Stelle offen bleiben. Sicher ist, dass der Windpark ebenfalls wieder vor dem Hintergrund der Erwägungen zu Energieverbrauch und ‑erzeugung durch die Diskussionen geistert:

223 Wörtlich: »das Licht«, gemeint ist Strom.

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Eh, este… un proyecto eólico, sería bien, pero que no fuera, ni cercano al pueblo, ni cerca del mar, ¿no? En este caso, nosotros tenemos un lindero con Chicapa, Unión Hidalgo [uhum]. Por allá con, en, en Ixtepec, San Francisco del Mar. Que tal vez por ahí fuera, ¿no? Por toda esa vía, ¿no? Por ahí. Lejos, son como unos… 18, 15 kilómetros (Interview Juan Carlos 11.04.2014).224

Aus Sicht von Juan Carlos wäre es sogar in Ordnung, den Windpark zu bauen, solange er nicht in die Nähe von el mar kommt. In nordöstlicher Richtung bei den Hügeln wäre genug Platz und es entstünde auch keine Gefahr für die Lagune. *** Der Windpark ist Impulsgeber für Debatten um erneuerbare Energien, in denen grundlegende Sichtweisen der Ikojts auf Formen der Energieerzeugung und des -verbrauchs verhandelt werden. In diese Debatten wird Solarenergie als Alternative zu Windenergie eingebracht, wobei noch weitgehend unklar ist, ob sie den Bedürfnissen der Ikojts entspricht oder insgesamt auf Akzeptanz stößt. Auch geht es weniger darum, den Windpark gleichwertig in Leistung durch beispielsweise Solarenergie zu ersetzen. Die Überlegungen der Ikojts gehen eher in Richtung Energieautonomie: Sie fragen sich, was sie eigentlich an Energie benötigen und wie diesem Bedürfnis begegnet werden könnte. Die verschiedenen Ansichten zeigen jedoch auch, dass Solarenergie für die Ikojts nicht die einfache, umfassende Lösung bietet. Weder ist sie aus Sicht der Ikojts eine zuverlässige, ausreichende Art der Energieerzeugung, noch können sie im Moment die möglichen Auswirkungen auf die Umwelt abschätzen. Insbesondere letzterer Aspekt ist, aufgrund der endlichen Lebensdauer der Panels und Batterien bei gleichzeitiger ungeklärter Entsorgungslösung nicht zu unterschätzen. Dass sich aber bei den Ikojts weitere Debatten zu erneuerbaren Energien entwickeln, ist ein direkter Effekt der Prozesse, die durch den Windpark angestoßen werden. Daran zeigt sich, dass die Debatten weder im Hinblick auf Windenergie abgeschlossen sind, noch es ausgemacht ist, dass Solarenergie die geeignete Alternative dazu ist.

224 »Eh, dieses… ein Windpark-Projekt wäre gut, aber weit weg, nicht in der Nähe des Dorfes, nicht in der Nähe von el mar, oder? In diesem Fall, wir haben eine Grenze mit Chicapa, Unión Hidalgo [uhum]. Dort, mit, in Ixtepec, bei San Francisco del Mar. Vielleicht wäre es dort, oder? Den ganzen Weg entlang, oder? Dort. Weit, das sind ungefähr… 18, 15 Kilometer.«

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6.7 DIE WIEDERAUFNAHME DER USOS Y COSTUMBRES Nach der Verfassung des Bundesstaates von Oaxaca ist es indigenen Gruppen möglich, sich für eine Regierungsform zu entscheiden, die usos y costumbres oder sistema normativo genannt wird.225 Usos y costumbres sind eine traditionelle Methode, lokale Anführer auszuwählen (Eisenstadt 2011: 48). Dabei werden die Regierungsautoritäten eines municipios 226 in asambleas comunitarias 227 durch nicht geheime individuelle oder kollektive Abstimmungen bestimmt. Usos y costumbres gibt es an zahlreichen Orten in Mexiko, sowie in anderen lateinamerikanischen Ländern (ebd. 104). Oaxaca ist jedoch dahingehend einzigartig, als dass dort usos y costumbres nicht nur weit verbreitet und in die Verfassung integriert sind, sondern auch beständig über lange Zeiträume in hunderten Gemeinden praktiziert wurden (ebd.). Die Ikojts erwägen im Zuge der Auseinandersetzungen um den Windpark, das System der usos y costumbres wiederaufzunehmen. Die Wiederaufnahme ist ein Versuch, mit einer dezidiert indigenen Organisationsform aktuellen Problemen zu begegnen. Jedoch sehen einige Ikojts diese Organisationsform als etwas an, das in die Vergangenheit gehört. Oswaldo erklärt: Para mí es como, usos y costumbres es algo como… O sea, el pueblo ya, ya cruzó por esa etapa, pues. Es algo histórico, ¿no? Cómo vamos a retroceder algo cuando ya… un tiempo fue así. La asamblea y todo lo demás, ya quedó en la historia, pues. Tiene un proceso histórico y ahora de repente te, saltas otra vez aquí. Es como volver a empezar, pues… (Interview Oswaldo 11.12.2014).228

225 Siehe Artikel 16 der Verfassung des Bundesstaats Oaxaca. Es wird argumentiert, dass usos y costumbres in Oaxaca legalisiert wurden, um durch die zapatistische Bewegung inspirierten Aufständen zuvorzukommen (vgl. Anaya Muñoz 2004: 418). Jedoch besteht auch die Lesart, dass usos y costumbres eine Möglichkeit für die PRI darstellen, ihre monopolistische Rolle in den ruralen Gebieten Oaxacas aufrechtzuerhalten. Vgl. ebd. sowie Eisenstadt (2011: 106). 226 Kommunale Verwaltungseinheit 227 Gemeindeversammlungen 228 »Für mich ist es wie, usos y costumbres ist etwas wie… Oder so, das pueblo ist schon durch diese Etappe hindurchgegangen. Es ist etwas Historisches, oder? Wie können wir uns zurückbewegen, wenn es schonmal… eine Zeit gab, die so war. Die asamblea und all das, ist in der Geschichte geblieben. Es gibt einen historischen

218 | Der Geist des Windparks

Doch auch Oswaldo, obwohl er selbst Mitglied der PRI ist, betrachtet das Aufkommen der Parteien inklusive der, der er selbst angehört, als negativ und benennt vorteilhafte Aspekte von usos y costumbres: Siempre los usos y costumbres, es acuerdo de la asamblea y no hay, marcha atrás. Lo que dice la asamblea, es lo que se lleva a cabo. Hasta dónde yo sé… pues así es. De hecho, pues… ya después entraron los partidos, ahí fue cuándo, se echó a perder todo (Interview Oswaldo 11.12.2014).229

Usos y costumbres werden bei den Ikojts als Lösungsansatz für die durch den Windpark zugespitzte politische Spaltung des Dorfes diskutiert. Für Pablo, José und Eduardo geht es bei einer Einführung von usos y costumbres um nichts weniger als den Frieden in San Dionisio wieder einkehren zu lassen. Pablo benennt dies so: »Retomar sistemas normativas internas y la gobernabilidad indígena es retomar la paz en San Dionisio« (Gespräch Pablo 08.01.2015). Mittels der usos y costumbres soll dem Konflikt im Dorf begegnet werden, der sich entlang der Parteien entzündet hat. Die Einführung dieser Organisationsform ist für sie geeignet, den Parteien die Macht zu nehmen und das pueblo wieder in die Entscheidungsprozesse einzubeziehen. Tatsächlich sind usos y costumbres eine Möglichkeit, den Einfluss politischer Parteien zurückzudrängen. In dem Moment, in dem sich ein municipio für usos y costumbres entscheidet, sind die politischen Parteien aus dem Wahlprozess ausgeschlossen (Recondo 2001: 97). Doch auch hier besteht weiterhin die Gefahr der Manipulation durch mächtige Gruppen: Usos y costumbres sind keineswegs statisch, wie man bei dem Bezug auf ›Tradition‹ denken könnte. Vielmehr steht gerade diese konstante Referenz auf Tradition oder Gewohnheiten im Mittelpunkt eines permanenten Aushandlungsprozesses und ist auf diese Weise ständiger Veränderung unterworfen (ebd. 101). Usos y costumbres können daher sehr flexibel gehandhabt werden und zeichnen sich entsprechend durch große Unterschiede in der Art der Ausübung aus (ebd. 98). Es gelingt auch in den usos y costumbres Gruppen und Einzelpersonen, Formen der politischen Kontrolle

Prozess und jetzt auf einmal kommt das wieder auf. Es ist wieder, wie von vorne anzufangen, also…« 229 »In den usos y costumbres ist es immer das Einvernehmen der asamblea, dahinter kann man nicht zurück. Was die asamblea sagt, ist das, was gemacht wird. So wie ich es weiß… also so ist es. Tatsächlich, also… nachdem die Parteien hereingekommen sind, von da an ging alles verloren.«

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auszuüben, die asambleas zu manipulieren und auf diese Weise ihren Verbleib an der Macht zu sichern (ebd. 104). Dennoch behalten die usos y costumbres für die Ikojts Attraktivität. Dies speist sich vor allem aus dem tiefen Misstrauen gegenüber den politischen Parteien gleich welcher Couleur, das sich durch die Auseinandersetzung um den Windpark noch verschärft hat. In einer Gruppendiskussion mit Mitgliedern von Mungier Ndyck (07.12.2014) besteht Eduardo darauf, dass usos y costumbres nicht eine Rückkehr zu »salvaje«-Methoden230 ist, auch hätte es in San Dionisio nie die Todesstrafe gegeben, was immer wieder gegen die usos y costumbres ins Feld geführt werden würde. Vielmehr belebten usos y costumbres gute Werte wie Gemeinschaft wieder, die durch die Parteien verloren gegangen sind. Als Gegenentwurf zum Parteiensystem, sind usos y costumbres weder gänzlich demokratisch noch gänzlich autoritär (Recondo 2001: 104). Sie werden vielmehr durch politischen Ziele und Strategien von Gruppen in der asamblea geprägt. Daher kommt es bei den usos y costumbres darauf an, welches Gleichgewicht zwischen diesen Gruppen hergestellt wird (ebd.). Entgegen eines idealisierten Bildes einer Gemeindedemokratie, gibt es in dieser Organisationsform genauso Kämpfe um Macht und Einfluss (ebd.). Es ist daher nicht erstaunlich, dass insbesondere diejenigen auf eine Einführung von usos y costumbres drängen, die bereits in der asamblea starke Machtpositionen innehaben und zugleich aber die Nähe der politischen Parteien meiden. In San Dionisio sind dies insbesondere die Mitglieder und das Umfeld von Mungier Ndyck. Dieser Gruppe jedoch lediglich Machtpolitik zu unterstellen, wäre ebenso verkürzt. In San Dionisio ist die Forderung nach usos y costumbres besonderer Ausdruck einer tiefreichenden Enttäuschung über die Partei-Politik und die verkrusteten Strukturen, die sich in jahrzehntelanger PRI-Herrschaft herausgebildet haben. Ob die prinzipielle Öffnung, die die usos y costumbres bieten können, umgesetzt werden kann, hängt davon ab, auf welche Weise sie in einer Gemeinde gestaltet werden (Recondo 2001: 111). Usos y costumbres können sowohl zur Berücksichtigung verschiedener Akteure und Bedürfnisse eingesetzt werden, als auch Mittel der politischen Unterdrückung und des Machtmissbrauchs sein. Entsprechend skeptisch stehen auch einige der Einführung von usos y costumbres gegenüber. Oswaldo glaubt nicht an die von einigen erhofften Veränderungen:

230 ›wilde‹ oder ›unzivilisierte‹ Methoden

220 | Der Geist des Windparks

Van a adaptar nada más la idea del partido, a usos y costumbres. Y al final va a ser lo mismo, nada más cambia de nombre, pero… la estrategia va a ser la misma, para elecciones, para todo, para… Va a haber peleas, no va a dejar, pues. No porque se va a cambiar a usos y costumbres, »no, es que ya está tranquilo todo ahorita,« no… Sino que, los grupos… por decirlo así, todos van a la asamblea, pero… van a ver subgrupos dentro de la asamblea, pues. Y esos subgrupos son los que van a marcar el, camino… para perfilar a los candidatos. No va a haber cambios (Interview Oswaldo 11.12.2014).231

Oswaldo erwartet sich keinen Wandel von der Einführung der usos y costumbres. Er glaubt, dass die Parteien einfach in der asamblea fortbestehen würden. Den Konflikten in San Dionisio würde damit aus seiner Sicht nicht neu begegnet. Was Oswaldo anspricht, sind die ambivalenten Aspekte von usos y costumbres. Auf der einen Seite ist diese Organisationsform eine Möglichkeit lokalen Regierungsweisen höhere Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Auf der anderen Seite werden insbesondere Frauen und Gemeindemitglieder, die sich in der Migration befinden, häufig von den politischen Entscheidungen ausgeschlossen (Eisenstadt 2011: 106). Individuelle Rechte von Gemeindemitgliedern werden so häufig beschnitten (Sánchez 2003: 120). Die Forderungen nach der Einführung von usos y costumbres in San Dionisio geht häufig einher mit der Klage darüber, dass ein früher existierendes Gemeinschaftsleben verschwunden sei. Dies weist auf einen Aspekt hin, bei dem usos y costumbres über eine politische Organisationsform hinausgehen. Gustavo berichtet davon, wie in der Gemeinschaft zusammengearbeitet wurde, als es noch usos y costumbres gab: Yo todavía alcancé ver el usos y costumbres cuando vivía mis abuelos. Decían, »mira, ya tocó la campana. Yo estoy ocupado, pero vaya corriendo a ver qué…«

231 »Sie werden einfach die Idee der Partei auf die usos y costumbres anwenden. Und am Ende wird es dasselbe sein, lediglich der Name ändert sich, aber… die Strategie wird dieselbe sein, für Wahlen, für alles, für… Es wird Streitigkeiten geben, es wird nicht aufhören, also. Nur weil man zu den usos y costumbres wechselt, heißt das nicht, ›nein, jetzt ist alles in Ordnung‹, nein… Vielmehr, die Gruppen… um es so zu sagen, alle gehen zur asamblea, aber… es wird Untergruppen innerhalb der asamblea geben. Und diese Untergruppen sind die, die den Weg markieren werden… um die Kandidaten zu profilieren. Es wird keine Veränderungen geben.«

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Ya se va la abuelita, si no, pues ya, lo acompañamos, ya nos vamos, a escuchar. Y a término, que ya dicen, »no, sabes qué, se tienen que reunir tal hora. Vamos a limpiar, la línea de la Mojonera,« que antes no, no había Comisariado. No había Comisariado, el pueblo nombra como para ir a limpiar la área donde le corresponde, el casco donde le corresponde al pueblo. Tiene que salir una brigada, de cuántas personas van hoy, cuántos van a ir otro día, así, así se nombra. Y todo mundo van de acuerdo (Interview Gustavo 12.11.2017).232

Mit usos y costumbres gehen Aufgaben einher, die tequio genannt werden. Tequio ist eine kurzzeitige freiwillige Arbeit für die Gemeinde, bei der ein spezifisches Vorhaben umgesetzt wird, wie beispielsweise eine Straße zu pflastern, eine Schule zu bauen (Eisenstadt 2011: 109), oder, wie im Fall von San Dionisio besonders wichtig, Brunnen auszuheben. Wenn tequio von der Gemeinde entsprechend unterstützt wird, erzeugt es großen Nutzen für diese (ebd. 110). In San Dionisio wird tequio kaum mehr praktiziert. Zwar erzählen viele Ikojts noch davon, wie sie ohne Bezahlung beim Bau von Häusern oder Straßenabschnitten gearbeitet haben. Heute würden alle jedoch Geld für diese Arbeiten wollen. Während viele dies einerseits bedauern und auf den Rückgang von Gemeinschaft durch das Verschwinden des tequio hinweisen, sind die meisten dennoch selbst nicht bereit, unbezahlte Arbeiten für die Gemeinschaft zu verrichten. Jüngere Ikojts adaptieren dennoch Formen des tequio, beispielsweise im Rahmen von Projekten, für die sie sich zusammenschließen. Tonio hat mit einer Gruppe von jungen Leuten ein Projekt zur Schafzucht initiiert. Dafür graben sie gemeinsam einen Brunnen. Die politische Kontroverse um den Windpark ist auch hierbei ein Thema. Tonio erklärt:

232 »Ich habe es noch erlebt, als es usos y costumbres gab, als meine Großeltern noch lebten. Sie sagten, ›schau, die Glocke hat geläutet. Ich bin beschäftigt, aber ich werde hinlaufen und nachsehen, was es gibt…‹ Und schon lief meine Großmutter, genau, und wird liefen mit, um zu hören, was es gibt. Und wenn es vorbei war, sagten sie, ›weißt du, dass es ein Treffen um diese und diese Zeit gibt. Wir werden Unterholz schlagen, bei der Bahnstrecke an der Mojonera,‹ früher gab es auch keinen comisariado. Es gab keinen comisariado, das pueblo ernannte jemanden, der dann einen Bereich vom Unterholz befreien mussten, wo das nötig war, wo das pueblo es für nötig hielt. Es musste eine Brigade los, wie viele gehen heute, wie viele gehen an einem anderen Tag, so, so wurde bestimmt. Und alle waren einverstanden.«

222 | Der Geist des Windparks

Entonces, por eso yo le dije a los compañeros, los once que estamos, »dentro del equipo de trabajo, nada de que yo soy Asamblea, yo soy priísta, soy perredista. Nada. Fuera de, la cuestión de nuestro trabajo, ahora sí, el que quiera que agarre su, su (?). Pero dentro, no quiero que se toque ese tema. ¿Sale?« Les digo. Sobre entendido. Seis de, de once que somos, son priístas. Están trabajando conmigo los chavos. Y dentro ¿eh? No se toca tema de que, »es que tú echaste piedra a la gente del PRI, es que…« Tampoco yo no toco el tema de Asamblea. Tampoco yo… Nada. Como les digo a ellos, nuestra cuestión de colores, es fuera del grupo. Dentro del grupo es, lo único que nos acarrea entre todos es, la dinámica de trabajo, ¿cómo vamos a coordinar? Por eso yo te digo, qué quiero a largo plazo, que ya tengamos una red de grupos de trabajo, con los jóvenes [uhum]. Que los jóvenes marcamos una [sí], nueva generación. Una nueva generación. Que no se metan en desmadre de política (Interview Tonio 18.12.2014).233

Für Tonio soll das gemeinsame Arbeiten in Form des tequio nicht nur die jeweilige Aufgabe bewältigen. Es ist auch ein Versuch, den politischen Konflikt in San Dionisio zu überwinden. Zugleich wird jedoch hier der tequio von dem allgemeinen Dienst an der Gemeinde abgelöst und zur Bündelung von Kräften für das Projekt einer heterogenen Gruppe im Dorf eingesetzt. Erhalten bleibt der unentgeltliche Aspekt des tequio, gerichtet ist er aber nicht mehr auf ein Anliegen aller, sondern auf den Anschub des Projekts der Gruppe. Zu den usos y costumbres gehört auch das cargo-System, eine ÄmterHierarchie, in deren Rahmen Arbeit für die Gemeinschaft getätigt wird und

233 »Dann, deshalb habe ich meinen Genossen gesagt, die elf, die wir sind, ›im ArbeitsTeam, nichts davon wie ich bin von der Asamblea, ich bin von der PRI, ich bin von der PRD. Nichts. Raus mit, dieser Frage aus unserer Arbeit, jetzt ja, wer will der schnappt sich seinen, seinen (?). Aber innerhalb, will ich nicht, dass dieses Thema aufkommt. Verstanden?‹ Das habe ich ihnen gesagt. Klar und deutlich. Sechs von den elf, die wir sind, sind von der PRI. Die Jungs arbeiten mit mir. Und innerhalb, hm? Das Thema wird nicht berührt, ›es ist so, dass du Steine auf die PRI-Leute geworfen hast, es ist so, dass…‹ Ich berühre auch kein Thema der Asamblea. Mache ich auch nicht. Nichts. Wie ich ihnen sage, unsere Frage der Farbe [politische Zugehörigkeit, Anm. O.L.] bleibt außerhalb der Gruppe. Innerhalb der Gruppe ist das einzige, was uns umtreibt, die Dynamik der Arbeit. Wie koordinieren wir uns? Deshalb sage ich dir, was ich auf lange Frist möchte, ist, ein Netz von Arbeitsgruppen, mit den jüngeren Leuten [uhum]. Auf dass wir Jungen eine neue Generation bilden. Und die sich nicht in das Durcheinander der Politik begibt.«

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deren Durchlaufen für bestimmte Positionen qualifiziert (Eisenstadt 2011: 109). Cargos sind öffentliche Positionen, die alle Gemeinschaftsmitglieder (in der Regel nur die männlichen) ausfüllen müssen (ebd.). Positionen können beispielsweise Botenjunge, Dorfpolizist, Kirchenbeauftragter, mayordomo 234 und Bürgermeister sein (ebd. 110). Die Verantwortlichkeiten nehmen mit dem Erreichen eines höheren Alters zu (ebd.). Usos y costumbres bestärken cargos, weil sie die Erfahrung der Personen anerkennen, die ihr Leben lang Dienste für die Gemeinschaft übernommen haben (ebd. 109). In einer Gruppendiskussion mit Eduardo, Maestro Antonio, José und Ignacio (07.12.2014) erklären sie, dass sie usos y costumbres für gut halten, weil dann jeder seinen Dienst für die Kirche und die Gemeinschaft getan hat. Antonio meint außerdem: Analizarlos, conjuntamente con, la Autoridad Municipal que, se va a tener posteriormente, ojalá se logre esto de, de usos y costumbres. Ya no va a haber partidos políticos. Pues… conjuntamente con la Autoridad, porque recursos hay. Hay recursos para poder, ahora sí… rescatar, una… una cultura (Interview Maestro Antonio 30.01.2015).235

Für ihn ist die Wiederaufnahme der usos y costumbres ein Mittel, den Einfluss politischer Parteien zurückzudrängen. Darüber hinaus sind sie eine Möglichkeit, verlorengegangene kulturelle Praktiken wie indigene Formen des Regierens wiederzubeleben. Die Forderung nach den usos y costumbres in San Dionisio ist eine Weiterführung dessen, was der Windpark in Bezug auf das indigene Selbstverständnis der Ikojts angestoßen hat. Es gilt, wie Diego es in Bezug auf die Positionierung als Indigene oben beschreibt, sich nicht mehr länger hereinlegen zu lassen. Für diejenigen, die die Einführung der usos y costumbres fordern, sollen diese ein Werkzeug in einem politischen Aushandlungsprozess um die Anerkennung ihrer Rechte sein. Ob es jedoch überhaupt zu einer Einführung der usos y costumbres

234 Ausrichter und Sponsor des Festes zu Ehren des Heiligen des Dorfes, in San Dionisio von Dionysius Areopagita, dem ersten Bischof von Athen. 235 »Wenn man es von der Gemeindeautorität her analysiert, die es dann geben wird, kann man nur hoffen, dass es glückt, die usos y costumbres einzuführen. Dann wird es keine politischen Parteien mehr geben. Also… gemeinsam mit der Autorität, weil es die Mittel gibt. Es gibt die Mittel für die Macht, jetzt gibt es sie… eine… eine Kultur wiederzufinden.«

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in San Dionisio kommt, und wenn ja, welcher Weg dann eingeschlagen werden wird, ist bislang noch nicht entschieden.

6.8 LEBEN MIT DEM GEIST DES WINDPARKS Die Kontroverse um den Windpark bildet ab, wie der kulturspezifische Umgang mit Natur und Technologie politisiert und innerhalb von Gefügen sozialer und natürlicher Entitäten neu definiert wird. Für die sozionatürliche Welt der Ikojts stellt der Windpark einen Einspruch dar, der zu ontologischen Konflikten führt. Gegenstand dieser Konflikte ist, ob der Windpark Teil der sozionatürlichen Welt der Ikojts werden darf, und wenn, welche Konsequenzen dies für die weiteren beteiligten Akteure und Entitäten hätte. Die Perspektive der Ikojts auf den Windpark ist dabei durch unterschiedliche Ansichten, Widersprüche und Ambivalenzen gekennzeichnet. In ihr zeigt sich das Gefüge der Entitäten als ein umkämpftes Terrain, in dem darum gerungen wird, wer überhaupt und auf welche Weise in den Aushandlungsprozessen um Windenergie beteiligt werden soll. In diesen Aushandlungsprozessen treten die Ikojts als eine heterogene Gruppe auf, die in politische Auseinandersetzungen verwickelt und von diesen selbst durchzogen ist. Dies weist das, woraus ihre Welt gemacht ist und was ihre Gemeinschaft konstituiert, als umkämpfte Bereiche aus und legt offen, dass cosmopolitics ebenso innerhalb von indigenen Gruppen stattfinden, die eben keinen anderen, privilegierteren Zugang zu Welt besitzen. Vielmehr müssen sie ebenso auf stückhafte, verknüpfte Weise an der Hervorbringung einer gemeinsamen Welt arbeiten, bei der keineswegs klar ist, ob oder wie erneuerbare Energien davon ein Teil sein sollen. Erneuerbare Energien treten auf diese Weise als Akteur in Erscheinung, durch den die die indigenen Gruppen durchziehenden politischen Prozesse zur selben Zeit katalysiert als auch dynamisiert werden. In diesen Prozessen werden neue Positionierungen sowohl der Mitglieder innerhalb dieser Gruppen, als auch der Gruppen nach außen erforderlich. Zugleich wird um die Art der Teilhabe von für die Gruppe zentralen nicht-menschlichen Entitäten gerungen. In ihrer spezifischen Konzeption durch die Ikojts kämpfen die Lagune, der Wind und die Mangroven darum, eine Stimme in den politischen Prozessen zu bekommen, in denen die Windenergie, jedoch weniger die Umweltbeziehungen der indigenen Gruppe einen Platz haben. Die durch den Geist des Windparks bei den Ikojts hervorgebrachte Kontroverse ist auf diese Weise ein Aushandlungsprozess, in dem auseinandergesetzt wird, was überhaupt auf dem Spiel steht. Ausgehandelt wird, welchen Platz

»Mar y aire, nuestra vida, nuestra lucha« | 225

sozionatürliche Entitäten im Zuge des Ausbaus von erneuerbaren Energien einnehmen dürfen. Mit verhandelt wird dabei nicht weniger als die ontologische Verfasstheit dieser Entitäten, von denen einige für die Ikojts von zentraler Bedeutung sind, aber auch die Verfasstheit von erneuerbarer Energie und der richtige Umgang mit dem Klimawandel. Es ist nicht weniger als eine Aushandlung dessen, in welcher Welt wer auf welche Weise leben darf. Dass dies in San Dionisio keineswegs abschließend beantwortet ist, wird in jüngeren Entwicklungen vor Ort ersichtlich. Im Juni und Juli 2018 ist eine veränderte Situation in San Dionisio entstanden. Eine neue Gemeinderegierung der PRI hat nun die Zügel in San Dionisio in der Hand und der Windpark erscheint wieder als eine Option. Die Auseinandersetzungen im Dorf haben nochmals zugenommen, es gibt mehrere Verletzte. Auf der Facebook-Seite der Asamblea werden comunicados veröffentlicht, die ein Ende der gewalttätigen Konfrontation fordern. Der Geist des Windparks, so scheint es, ist wirkmächtiger und el mar bedrohter und der norte näher daran Windenergie zu werden als je zuvor.

7. Indigene Perspektiven auf erneuerbare Energie

Die Erkenntnisse dieser Studie sind ein Beitrag zum Feld der erneuerbaren Energie aus ethnologischer Sicht. Ich habe Windenergie in ihrem Verhältnis zu einer indigenen sozionatürlichen Welt analysiert und zeige damit, was mit erneuerbaren Energien verknüpft sein kann, sowie welche divergierenden Perspektiven auf erneuerbare Energie angelegt werden können. Dabei stellte sich heraus, dass in indigenen sozionatürlichen Welten das, was erneuerbare Energien ausmacht, gänzlich anders verfasst und damit auch zu anderem fähig sein kann. Am Beispiel der Ikojts am Isthmus von Tehuantepec habe ich ihre Perspektive auf Windenergie beschrieben. Die theoretische Linse des Gefüges hat dabei dazu gedient, die heterogenen Akteure und Entitäten zu erfassen, die in der Begegnung von Windenergie und der sozionatürlichen Welt der Ikojts in Austausch geraten. Damit habe ich die Beziehungen zwischen Akteuren und Entitäten nachgezeichnet, die sowohl für Aspekte der Konstitution der sozionatürlichen Welt der Ikojts als auch für Windenergie am Isthmus maßgeblich sind. Wind am Isthmus, so zeigte sich, ist in zwei unterschiedliche Konstitutionsprozesse von ›natürlichen‹ Ressourcen eingebunden. Um aus diesem Wind Windenergie zu machen, muss ihm mittels infrastruktureller, politischer, ökonomischer und legislativer Maßnahmen neu begegnet werden. Zugleich ist der Wind als norte bei den Ikojts wichtiger Bestandteil im Gefüge des Fischfangs. Auf diese Weise hat sich Windenergie als mit Akteuren wie dem Wind und dem norte, el mar, Fischen, Mangroven und Strömungen gebunden dargestellt. Durch die Windenergie erwarten die Ikojts einschneidende Veränderungen für ihre an die Lagune und den Fischfang geknüpfte Lebensweise. Für sie droht die mit dem Windpark einhergehende Infrastrukturierung von Natur, andere Arten und Weisen sich mit Entitäten in ihrer Umwelt in Beziehung zu setzen zu verdrängen. Diese durch Windenergie eingebrachten Veränderungen werden von den Ikojts daher als ein Eindringen in ihre sozionatürliche Welt beschrieben, was zu der

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lokalspezifischen Sichtweise von Windenergie als contaminación führt. Im weiteren Verlauf dynamisiert diese Sichtweise von Windenergie die politischen Prozesse vor Ort. Es entsteht das Vorhaben, indigene Formen des Regierens wiederaufzunehmen, es werden durch Bündnisse und Zerwürfnisse die Beziehungen zu umliegenden indigenen Gruppen neu definiert und es kommt zu Überlegungen, mittels Solarenergie alternative Arten der Erneuerbare-EnergieErzeugung vor Ort zu etablieren. In diesen Prozessen hat sich Windenergie als Gegenstand politischer Kämpfe um ontologische Verfasstheiten gezeigt. Diese Kämpfe werden nicht nur mit Akteuren wie dem mexikanischen Staat oder transnationalen Unternehmen geführt, sondern ziehen sich ebenso durch die Gruppe der Ikojts in San Dionisio. Auch wurde ersichtlich, dass sich die Ikojts in ihrer Positionierung als Indigene eben nicht durch Homogenität auszeichnen. Die gemeinsame Welt, an der hier gebaut wird, stellt sich damit sowohl innerhalb der Ikojts als auch zwischen den verschiedenen indigenen Gruppen, dem mexikanischen Staat und dem Windenergie-Unternehmen als umstritten und umkämpft dar. Methodisch hat in der Studie Ontologie als ein ethnographisches Werkzeug gedient, mittels dessen ich der spezifischen Art des In-der-Welt-Seins der Ikojts und den mit ihnen in Beziehungen stehenden Entitäten nachgegangen bin. Die Unterschiede in ihrer Perspektive auf erneuerbare Energie habe ich beschreibbar gemacht, indem ich sie mit ihrer konkreten sozionatürlichen Welt und mit darin faktischen spezifischen Verfasstheiten in Zusammenhang stehend betrachtet habe. Diese Auseinandersetzung mit ontologischer Alterität war dabei auch ein Ergebnis des rekursiven Einlassens auf das Feld und der daraus erwachsenen Anforderung, mit einer Vielzahl von unterschiedlichen Akteuren und Entitäten produktiv umzugehen und ihre Verflechtungen sichtbar zu machen. Nicht zuletzt folge ich mit der Veröffentlichung dieser Ergebnisse Forderungen aus dem Feld, die Geschichte der Ikojts und der Windenergie zu erzählen. Einem Selbstverständnis der Ethnographin oder des Ethnographen als ZuhörerIn und anschließend ErzählerIn von Geschichten folgend (Tsing: 2005: 271), zeigt die Geschichte, die ich gemeinsam mit den Ikojts hier erzähle, erneuerbare Energien nicht nur in einem anderen Licht als gewohnt. Sie greift auch das Anliegen auf, das mehrere BewohnerInnen San Dionisios äußerten: Durch die Erzählung ihrer Geschichte dazu beizutragen, die Sichtweise der Ikojts auf erneuerbare Energie mit den darin enthaltenen Ambivalenzen und Widersprüchen (»imagen completo«236, wie José sich äußerte) darzulegen.

236 Vollständiges Bild

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Die hier untersuchte Perspektive der Ikojts auf erneuerbare Energien fordert auf diese Weise eine allgemein gültige Konzeption von erneuerbarer Energie heraus. Anstelle einer ›modern‹ geprägten Erzählung von erneuerbaren Energien als fortschrittlich und deshalb einzig logische Folge, zeigt ihre Perspektive erneuerbare Energie als kulturspezifisch abhängig. In den Vordergrund tritt die Verflochtenheit von erneuerbarer Energie und ihre Eingebundenheit in relationale lokalspezifische Gefüge. Es ist damit nicht mehr offensichtlich, was erneuerbare Energien ausmacht, sondern es wird vielmehr nötig zu fragen, was an die Produktion erneuerbarer Energie geknüpft ist. Vor der ernsthaften und ernstzunehmenden Bedrohung, die der Klimawandel darstellt, könnte das Aufbäumen der GegnerInnen der Windparks am Isthmus dennoch wie ein selbstbezogener und reaktionärer Reflex wirken. Müssten sie nicht schnellstmöglich dem Ausbau von erneuerbaren Energien zustimmen, um zu bewahren, was sie zu schützen vorgeben? Müsste nicht alles daran gesetzt werden, den Ausbau dieser fortschrittlichen Technologien statt zu verzögern zu beschleunigen? Fortschritt hat, auch wenn er einem universell gültigen Ziel wie der Bekämpfung des Klimawandels dient, einen Preis, bei dem nicht von vornherein feststeht, wer ihn zahlen muss und womit dies geschehen soll. Eine erneute ›Hinwendung‹ oder Transition zu erneuerbaren Energien darf daher nicht als ein Prozess begriffen werden, der, weil fortschrittlich, unbedingt auf genau diese Weise geschehen muss, wie es im Moment der Fall ist. Vielmehr ist eine kritische Reflexion dessen nötig, wie aus fortschrittlichen Ideen gespeiste Prozesse verlaufen, welche Auswirkungen sie haben und wie sie auch anders gestaltet werden können. Dabei sollten auch die Verläufe in den Blick genommen werden, die wie erneuerbare Energien selbst schon »Ergebnis einer kritischen Reflexion der wissenschaftlich-technisch-ökonomischen Entwicklung sind« (Strasser 2015: 279). Für erneuerbare Energien bedeutet dies, sie nicht automatisch als intrinsisch demokratische, egalitäre und kommunitäre Technologien zu fassen (vgl. Winner 1980: 135), sondern vielmehr die mit ihnen einhergehenden Konsequenzen für soziale und natürliche Gefüge in den Entscheidungsprozessen mit zu berücksichtigen. Denn wie das Beispiel der Ikojts zeigt, hängen diese Konsequenzen sowohl von den zugehörigen Infrastrukturen als auch den Institutionen ab, die die erneuerbaren Energien umsetzen. Indem die Ikojts sich weigern, diesen Preis zu zahlen, machen sie die in der Hinwendung zu erneuerbaren Energien angelegte Zwangsläufigkeit sichtbar und hinterfragen zugleich die Idee eines »wahren Fortschritts«, der den Interessen der Allgemeinheit dient (vgl. Pignarre / Stengers 2011: 55).

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Dieses In-Frage-Stellen der Ikojts legt dabei zugleich offen, dass die heute bestehenden ökologischen Probleme nicht mit denselben Methoden gelöst werden können, mit denen sie erzeugt wurden (Strasser 2015: 176). Das bedeutet nicht, dass es nun gilt, sich gleichsam von technologischen Lösungsansätzen zu verabschieden. Vielmehr ist es nötig, ökologische Probleme mit technischen, sozialen und politischen Bereichen als verflochten zu betrachten und bei Versuchen der Verbesserung auch Fragen der Verteilung, Gerechtigkeit sowie der Kontrolle und des Zugangs zu Produktionsmitteln mit einzuschließen. Entscheidend ist dabei, lokalspezifischen Entitäten oder Konzepten mit der nötigen Ernsthaftigkeit zu begegnen und zwar auch oder gerade dann diese Entitäten oder Konzepte als wahrhaftig zu akzeptieren, wenn sie über den üblichen und allgemein anerkannten Rahmen hinausreichen. Denn entgegen einer einzigen Erzählung von Fortschritt, die für nur eine Geschichte von der Welt Platz lässt (Bingham 2008: 111), erinnern die Ikojts, dass es ontologische Alternativen gibt, die sich in anderen Beziehungen, anderen Seinsformen und anderen Arten und Weisen Realität zu begreifen manifestieren (vgl. Salmond 2014: 163). Statt einer Beschleunigung schlägt Isabelle Stengers daher vor, die politischen Prozesse, in denen solche Aushandlungen stattfinden, zu verlangsamen (Stengers 2005: 994): »[T]he idea is precisely to slow down the construction of this common world, to create a space for hesitation regarding what it means to say ›good‹ (ebd. 995).« Mit der Forderung nach Verlangsamung geht es Stengers darum darauf hinzuweisen, dass in den Aushandlungsprozessen Entitäten berücksichtigt werden, die sonst keinerlei Möglichkeit haben, Teil dieser Prozesse zu werden. Das Zögern soll Raum dafür schaffen, dass herausgefunden werden kann, was »gut« ist und welche Art der Teilhabe für wen erstrebenswert. Die von Stengers’ propagierte Vorgehensweise erlaubt beispielsweise Entitäten wie el mar oder dem Wind, Teil von politischen Prozessen zu werden. Dass diese Entitäten im vorliegenden Beispiel überhaupt als politische Angelegenheiten verhandelt werden, ist entsprechend eine Errungenschaft dieser Auseinandersetzung, die damit jedoch keinesfalls abgeschlossen ist. Statt einem vorbestimmten Prozess zu folgen, erlaubt die Verlangsamung Offenheit zu wahren, um überhaupt aushandeln zu können, wer für diesen Fortschritt welchen Preis zu zahlen hat. Eine in diesem Sinne erweiterte und aktualisierte Fortschrittsidee zielt entsprechend darauf ab, Fortschritt sowohl als offen zu betrachten als auch spezifische Sichtweisen derer einzubeziehen, die durch Kolonisierung und Marginalisierung bislang kaum von solchen Entwicklungen profitiert haben. Erst dann besteht die Chance, dass überhaupt andere Arten und Weisen des kollektiven Fortschritts gefunden werden können (Bingham 2008: 111). Mit einer solchen Verlangsamung fordert Stengers nicht weniger als eine vollständige Veränderung der poli-

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tischen Prozesse, in denen derartige Entscheidungen gefällt werden (vgl. auch Cadena 2010: 343). In diesem Sinne benötigen erneuerbare Energien die Stimmen Vieler, Menschen und nicht-menschlicher Entitäten. Denjenigen, die wie die Ikojts und die mit ihnen in Beziehung stehenden Entitäten bisher nicht oder kaum gehört wurden, gilt es nun eine gleichberechtigte Teilhabe an den Aushandlungsprozessen um erneuerbare Energien zu ermöglichen. Dafür ist es notwendig, ihre Sichtweisen ernst zu nehmen und die Herausbildung dieser Sichtweisen nachzuvollziehen. Eine derartige Ausweitung der kritischen Reflexion kann den Verlauf des Fortschritts verändern. Die Kontroverse um den Windpark bei den Ikojts, aber auch der Klimawandel zwingen dazu. *** Im November 2017 bin ich erneut in San Dionisio. Ich berichte FreundInnen und Bekannten von der Auswertung des empirischen Materials und erfahre von ihnen von den jüngsten Entwicklungen im Dorf. Die Dynamiken um den Windpark haben die anfällige Stromversorgung, die gestiegene Energienutzung in San Dionisio sowie die damit einhergehenden Probleme im täglichen Leben im Dorf zum Thema gemacht. Aktuell, so berichten sie, gibt es verstärkt Überlegungen zu Solarenergie als neue Form der Energieerzeugung vor Ort. Andere erzählen von Veränderungen, die den Fischfang als Lebensweise betreffen. Die Perspektive der jüngeren Generation auf den Fischfang unterscheidet sich zunehmend von der der Älteren. Beim Widerstand gegen den Windpark haben sich noch viele jüngere BewohnerInnen San Dionisios angeschlossen und den Fischfang und die Lagune verteidigt. Zunehmend aber sehen viele jüngere und Ikojts mittleren Alters statt in der Aufnahme der Tätigkeit des Fischfangs, in der (Arbeits-)Migration eine bessere Option. Ein Ereignis dominiert in diesen Tagen alles: die Erdbeben im September 2017, die große Auswirkungen am gesamten Isthmus hatten. In San Dionisio wurden zahlreiche Gebäude zerstört und der Widerstand gegen den Windpark trat in den Hintergrund. Nun beginnen jedoch zahlreiche vom Erdbeben betroffene BewohnerInnen Zusammenhänge zwischen dieser Naturkatastrophe und den durch den Windpark hervorgerufenen Umweltkonflikten herzustellen. Bei einem Treffen mit Pablo während dieses Aufenthalts zeichnet dieser ein düsteres Bild. Er sagt im Hinblick auf den Windpark: Conozco los lineamientos jurídicos, cómo se manejan en el país. Y sé, que Mareña Renovable, ahora Eólica del Sur, tiene facultades para poder ceder, en renta, en

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con, la concesión que tiene a su nombre, a otra membresía, cualquier. Lo puede hacer. Hay... entonces, este… creo que el tema, el tema de… de la empresa eólica, en el territorio ikojts es eh… ellos nunca van a renunciar (Interview Pablo 15.11.2017).237

Für Pablo ist das Thema des Windparks nicht vorbei. Ob sich nun der Name des Unternehmens oder des Projektes ändert, spielt für ihn keine Rolle. Der Windpark schwebt drohend über dem Gebiet der indigenen Gruppe, was Pablo nichts Gutes für die Zukunft der Ikojts erwarten lässt. Tatsächlich ist die Regierungsseite, was Windenergie am Isthmus anbelangt, nicht untätig. José Zorrilla, der Sekretär für Tourismus und wirtschaftliche Entwicklung in Oaxaca, erklärt, dass ein »Instituto Oaxaqueño de las Energías Renovables«238 geschaffen werden soll, welches zum Ziel hat, den Bau von Windparks in der Region zu erleichtern (Biihioxo 2014). Auch Mareña Renovables lässt vom Wind nicht ab und verspricht, die Investition nicht aus Oaxaca abzuziehen, sondern stattdessen einen anderen Ort für die Installation seines Windparks zu suchen (ebd.). Wie dies aussehen könnte, zeigt sich in den jüngsten Auseinandersetzungen auf dem Gebiet von San Francisco del Mar, wo seit September 2018 ebenfalls versucht wird, mit dem Bau eines Windparks zu beginnen und bei Konfrontationen auf dem Baugrund mehrere Häuser niederbrannten (Orozco 2018). Und auch die Barra Santa Teresa ist wieder im Gespräch. Während dieses Besuchs im Dorf wird mir klar, dass der Geist des Windparks in zahlreichen weiteren Geschichten über Gemeinschaft und Wind, erneuerbare Energien und Konflikt weiter wirkmächtig ist. In einem meiner letzten Interviews in San Dionisio frage ich Mariana nach ihrer Meinung zu Windenergie. Sie sagt: Pues ahora sí que quieren sacar beneficio del, de San Dionisio, ¿no? De nosotros. Porque aquí como no hay ninguna empresa, ningún, otro tipo de… cosas que venga, a, a querer pasar por eso, ¿no? Porque, es lo que hacen las empresas. Como

237 »Ich kenne die rechtlichen Grundlagen, wie sie es in diesem Land machen. Und ich weiß, dass Mareña Renovable, jetzt Eólica del Sur, in der Lage ist, das zu erzwingen, die Pacht, mit… mit der Konzession, die es auf seinen Namen hat, auf eine andere Mitgliedschaft, was auch immer. Es kann es machen. Es gibt… dann, also… ich glaube, dieses Thema, das Thema des Windpark-Unternehmens, auf dem Gebiet der Ikojts ist, eh… sie werden es niemals sein lassen.« 238 Institut Oaxacas für erneuerbare Energien

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aquí, como te digo, la gente es muy tímida, muy… ahora sí, como dicen, ¿no? Indígena, no… no ve más allá de lo que le dicen, »ah, está bien,« y ya. No investigan por qué. Qué tanto interés tienen esas empresas de venir acá. Y no saben, como dicen, qué nos pueden perjudicar. Entonces, yo me im, ahora sí que no… Para mí que, todas las empresas que vienen, es por un beneficio, para ellos, para nosotros no. Nosotros vamos a seguir igual, o peor. Pero ellos no, ellos siempre van a estar mejor, y avanzando, con más cosas.239

Mariana sieht die Zukunft eher düster. Von Windenergie erwartet sie sich keine positiven Impulse für die Ikojts. Während die Unternehmen Profite machen, bleibt es für die indigenen Gruppen gleich oder verschlechtert sich. Was Mariana anspricht, berührt Aspekte, die Nancy Owens (1979a) bereits in den späten 1970er Jahren in ihren Untersuchungen zur Energiegewinnung bei indigenen Gruppen in den USA diskutiert. Die Fragen, die Owens in Bezug auf Kohle bei den Crow oder Uran bei den Navajo stellt, sind nicht nur heute immer noch aktuell, sondern gelten auch für erneuerbare Energien. Ihr geht es um die Grundlagen, die nötig sind, damit indigene Gruppen an der Energiegewinnung angemessen beteiligt werden. Sie beantwortet dies damit, dass für diese Gruppen von Bedeutung ist, dass sowohl ihre langfristigen als auch kurzfristigen Bedürfnisse adressiert werden (ebd. 4). Dies gelingt dann, wenn die Kontrolle der indigenen Gruppen über die Ereignisse und Prozesse, die auf ihrem Land passieren, maximiert wird, was insbesondere ökonomische als auch rechtliche Souveränität einschließt (ebd.). Rechtliche Aspekte umfassen dabei die Möglichkeit der indigenen Gruppen, die Aktivitäten und Geschäfte auf ihrem Land zu regulieren. Dies bedeutet jedoch, anders als im Fall der Ikojts, dass die Rechte nicht nur zuerkannt, sondern auch respektiert werden müssen – sowohl von staatlichen

239 »Also jetzt wollen sie Profit aus San Dionisio herausholen, oder? Von uns. Weil hier gibt es kein Unternehmen, keine andere Art von Sache, die kommt, die damit etwas anfangen kann, oder? Weil es das ist, was die Unternehmen machen. Weil hier, wie sage ich es dir, die Leute sehr schüchtern sind, sehr… jetzt ja, wie sagen sie? Indigene, die nicht weiter nachfragen und sagen, ›ah, das ist in Ordnung,‹ und zack. Sie versuchen nicht herauszufinden, warum. Welches Interesse die Unternehmen haben, die hierher kommen. Und die wissen nicht, wie sie sagen, dass sie uns schaden könnten. Daher sage ich jetzt nein. Für mich kommen all diese Unternehmen wegen Profit, Profit für sie, nicht für uns. Uns geht so wie vorher, oder schlechter. Aber ihnen nicht, sie werden es immer besser haben, vorankommen mit ihren Angelegenheiten.«

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Institutionen als auch wirtschaftlichen Akteuren und nicht zuletzt den eigenen politischen VertreterInnen. Auch gehört eine finanzielle Kontrolle dazu, die erlaubt, Kapital für Investitionen zu generieren und dass die indigenen Gruppen die aus der Nutzung der Ressourcen erzeugten Gewinne selbst in ihrem Sinne einsetzen können (ebd.). Nicht zuletzt ist eine Kontrolle der Verwaltung und des Managements erforderlich, indem Mitglieder der indigenen Gruppe befähigt werden, die Geschäfte mit Energie zu führen und ihr Wissen in Ausbildungsprogrammen weiterzugeben (ebd.). Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass eine stabile und diversifizierte Basis entsteht, die die vielgestaltigen Bedürfnisse der Gruppen adressiert. Zusammen klingen diese Forderungen wie ein Energie-Utopia, in dem alle zufrieden von der unendlich erneuerten Energie leben und jedweden Bedürfnissen entsprochen wird. Mit großer Sicherheit wird der Versuch einer solchen Umsetzung auf ganz andere Realitäten und damit auch andere Probleme und Konflikte treffen. Dennoch: Die Frage, wie indigene Gruppen bei der Produktion erneuerbarer Energien angemessen Teil haben können, muss gemeinsam mit Überlegungen zur Übergabe der Kontrolle der entsprechenden Technologien an diese Gruppen gestellt werden. Für Windenergie bei den Ikojts am Isthmus von Tehuantepec steht eine Antwort darauf noch aus.

Dank

Es müssten an dieser Stelle alle Ikojts genannt werden, denn ohne sie wäre diese Arbeit nicht zustande gekommen. Da dies nicht möglich ist, bedanke ich mich im Besonderen bei diesen, bei denen ich in San Dionisio gewohnt und mit denen ich besonders viel gearbeitet habe und die mir Freunde und Freundinnen geworden sind. Allen voran gilt mein Dank Pablo Ortíz, der mein Forschungsvorhaben nicht nur durch seine eigene scharfsinnige Analyse der Lage der Ikojts bereicherte, sondern diesem gegenüber stets ein aufmerksamer Kritiker war. Besonders bedanken möchte ich mich auch bei José Gutierrez und seiner Frau Ximena, die mich gleich zu Beginn herzlich willkommen hießen und mit denen ein kontinuierlicher Austausch und lebhafte Diskussionen über das Leben in San Dionisio entstanden. Auch gilt mein Dank Sofía Ortíz und Ernesto, bei denen ich nicht nur mehr über Bedeutung des Widerstands gegen den Windpark für die Ikojts lernen konnte, sondern auch in zahllosen Gesprächen mehr über das Leben im Dorf und die auf el mar-basierende Küche. Valeria und Miguel danke ich im Besonderen für ihre Vernetzungskompetenz. Zu jedem meiner Anliegen wussten sie eineN geeigneteN AnsprechpartnerIn und unterstützten mich dann anschließend weiter, indem sie mich diesem oder dieser vorstellten. Bei Mariana und Rafael sowie bei Camila und Ignacio Sánchez möchte ich mich für vieles bedanken, allen voran für die Unterkunft, umso mehr, als nach dem Erdbeben für viele BewohnerInnen San Dionisios bereits die Beherbergung ihrer selbst schwierig geworden war. Alle vier waren mit ihrer freundlichen, gewinnbringenden Art wundervolle und hilfsbereite Anker. Diego Ramírez und seiner Frau Adriana danke ich für die zahlreichen Fangfahrten und die vielen freundschaftlichen Gespräche und Fachsimpeleien über Fischfang. Bei Emiliano Martínez möchte ich mich besonders für seine Geduld mit meinen bescheidenen Fortschritten beim atarraya-Fischfang bedanken. Der Kontakt zu den Ikojts wäre nicht ohne das Netzwerk von Teresa Avila zustande gekommen, die mich mit Marcos Arturo Leyva Madrid von Educa in

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Verbindung gebracht hat. Ihr gilt mein Dank, ebenso wie Josef Drexler und Ulrich Demmer für die Gutachten, die sie meinen Bewerbungen um Finanzierungsmöglichkeiten beilegten. Die Dissertation wurde durch Mittel der Deutschen Forschungsgemeinschaft, des Deutschen Akademischen Austauschdiensts sowie der Ludwig-Maximilians-Universität München unterstützt. Besonders hervorzuheben ist hierbei außerdem die Mesoamerikagesellschaft Hamburg und bei dieser insbesondere Lars Frühsorge, die in einer entscheidenden Phase eine Reise nach Mexiko ermöglichte. Nicht zuletzt möchte ich dem Rachel Carson Center und seinem Direktor Christof Mauch für ebensolche Unterstützung im Rahmen des Promotionsprogramms »Environment and Society« danken. Das Promotionsprogramm lebt von seinen Mitgliedern, die mich auf unterschiedliche Weise mit ihren kritischen Perspektiven in An- und Abwesenheit stets begleitet haben (allen voran Amir Zelinger). Ihnen gilt mein Dank ebenso wie dem Koordinator Rob Emmet und der Koordinatorin Katie Ritson für ihr Engagement für die DoktorandInnen in diesem Programm. Mein besonderer Dank gilt Eveline Dürr für die fachliche und persönliche Unterstützung in allen Phasen der Promotion. Sowohl ihr fachlicher Rat als auch ihr offenes Ohr in kritischen Phasen im Feld waren zu jeder Zeit außerordentlich hilfreich. Ebenso gilt mein Dank Bernhard Gill für seine kritischen Anmerkungen und den Blick ›von außen‹ auf die Ethnologie. Bei der Aufarbeitung der Daten war Judit Suarez Perez eine große Hilfe, die mit Akribie, Sachverstand und muttersprachlicher Sicherheit Transkriptionen der entstandenen Interviews anfertigte. Auch sei an dieser Stelle Saskia Walther gedankt, von der ich wertvolle methodische Tipps für die Feldforschung bekommen habe. Bei Jeannine-Madeleine Fischer bedanke ich mich für das im gemeinsamen Kolloquium entstandene Feedback. Für die intensiven Diskussionen, die wohlwollende Lektüre und anschließende konstruktive Kritik dieses Texts möchte ich mich bei Saskia Brill, Lisa Rail und Sergej Gordon besonders bedanken. Frauke Müller danke ich herzlich für das präzise Lektorat und ihre Freude am Erlernen neuer Begriffe und Henry Kammler für seine ethnologisch geerdeten und regionalspezifisch versierten Anmerkungen. Veit Braun möchte ich für vieles danken. An dieser Stelle sei genannt der kritische Diskurs der ontologischen Ansätze, die ständige Bereitschaft zum Perspektivwechsel und zur Genauigkeit, das gemeinsame Seminar, die zahllosen Diskussionen beim Mittagessen und den allmorgendlichen Tee, den er schweigend kredenzt hat. Konstantin Biehl danke ich für die intensiven fachlichen Diskussionen, die Ratschläge während der Feldforschung und schließlich die ausführlichen Kom-

Dank | 237

mentare zu allen Teilen des Texts. Vor allem aber danke ich ihm für die humorvolle Begleitung der ganzen Zeit der Promotion. Meinem Bruder Manuel Liebig danke ich für die detaillierte Lektüre und die ausführlichen Kommentare des Manuskripts sowie die konstruktiven Verbesserungsvorschläge. Meinem Vater Thomas Liebig danke ich für seine geduldige Zuhörerschaft, seine bedachtsamen Einwürfe und die Illustration der Windenergieanlage. Meiner Mutter Greti Liebig danke ich für ihre warmherzige Unterstützung, ihren steten Glauben an mich und die immerwährende aufmunternde und motivierende Bestärkung. Schließlich bedanke ich mich bei Annalena Roters, die nicht nur meine erste Leserin, sondern auch mit mir bei den Ikojts war und mich durch die gesamte Zeit mit allen Höhen und Tiefen begleitet hat. Der größte Dank gebührt jedoch den Ikojts von San Dionisio. Ihnen, sowie meiner Mutter, Greti Liebig, ist diese Arbeit gewidmet.

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