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German Pages 382 [384] Year 2017
Nick Lane
Der Funke des Lebens
Energie und Evolution Aus dem Englischen von Monika Niehaus, Martina Wiese und Jorunn Wissmann
Für Ana Meine Inspiration und Gefährtin auf dieser wundersamen Reise
Englische Originalausgabe: THE VITAL QUESTION: Why is Life the Way it is? Copyright © 2015 by Nick Lane
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Der Konrad Theiss Verlag ist ein Imprint der WBG. © 2017 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Martin Vollnhals, Neustadt a. d. Donau Einbandabbildung: © fotolia / anigoweb Einbandgestaltung: Stefan Schmid Design, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-8062-3484-8
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3521-0 eBook (epub): 978-3-8062-3522-7
Inhalt Einführung: Warum ist das Leben so, wie es ist?
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Teil I: Das Problem 1 Was ist Leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2 Was bedeutet leben? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 Teil II: Der Ursprung des Lebens 3 Energie und der Ursprung des Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4 Die Entstehung der Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 Teil III: Komplexität 5 Der Ursprung komplexer Zellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 6 Sexualität und die Ursprünge des Todes . . . . . . . . . . . . . . 221 Teil IV: Vorhersagen 7 Die Kraft und die Herrlichkeit Epilog: Aus der Tiefe . . . . . . . . . .
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Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Bildnachweis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
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Einführung: Warum ist das Leben so, wie es ist?
I
m tiefsten Inneren der Biologie klafft ein schwarzes Loch. Geradeheraus gesagt: Wir wissen nicht, warum das Leben ausgerechnet so ist, wie es ist. Alle komplexen Lebensformen der Erde haben einen gemeinsamen Urahnen, eine Zelle, die in dem langen Zeitraum von vier Milliarden Jahren bei einem einzigen Ereignis aus bakteriellen Vorstufen entstand. War das einfach nur ein irrer Zufall, oder schlugen andere „Experimente“ in der Evolution der Komplexität fehl? Wir wissen es nicht. Allerdings wissen wir, dass dieser gemeinsame Vorfahr bereits eine sehr komplexe Zelle war. Sie war mehr oder weniger genauso ausgefeilt wie eine von unseren Zellen, und diese Komplexität gab sie an Sie und mich und all ihre Nachfahren weiter, vom Baum bis zur Biene. Schauen Sie sich einmal eine Ihrer eigenen Zellen unter dem Mikroskop an und versuchen Sie, diese von der Zelle eines Pilzes zu unterscheiden. Beide sind praktisch identisch. Ich führe eindeutig ein ganz anderes Leben als ein Pilz – warum also ähneln sich unsere Zellen so sehr? Tatsächlich gleichen sie sich nicht nur im Aussehen. Alle komplexen Lebensformen haben erstaunlich viele Merkmale gemeinsam, vom Geschlecht über den programmierten Zelltod bis hin zum Altern, die allesamt bei Bakterien keine Entsprechung besitzen. In der Wissenschaft herrscht Uneinigkeit darüber, weshalb ein einziger Vorfahr so viele einzigartige Merkmale in sich vereinte und weshalb sich offensichtlich keines davon unabhän7
Einführung
gig auch bei den Bakterien entwickelte. Wenn all diese Merkmale infolge der natürlichen Selektion entstanden, bei der ja jeder Entwicklungsschritt einen kleinen Vorteil mit sich bringt, warum entwickelten sich dann nicht bei anderer Gelegenheit vergleichbare Merkmale bei den verschiedenen Bakteriengruppen? Diese Fragen werfen ein Licht auf den besonderen Entwicklungsweg, den das Leben auf der Erde genommen hat. Es entstand etwa 500 Millionen Jahre nach Entstehung der Erde, vor rund vier Milliarden Jahren. Dann blieb es jedoch mehr als zwei Milliarden Jahre lang, fast die Hälfte des Alters unseres Planeten, in seiner Komplexität auf der Stufe der Bakterien stehen. Bakterien sind bis heute morphologisch (nicht jedoch biochemisch) einfach gestrickt, also seit vier Milliarden Jahren. Dagegen leiten sich alle morphologisch komplexen Organismen – alle Pflanzen, Tiere, Pilze, Algen und einzelligen „Protisten“, wie die Amöben – von jenem einzelnen Urahn ab, der vor etwa 1,5–2 Milliarden Jahren existierte. Dieser Urahn war eindeutig eine „moderne“ Zelle mit ausgefeilter innerer Struktur und nie dagewesener molekularer Dynamik, angetrieben durch eine komplizierte Nanomaschinerie, für die wiederum Tausende neuer, bei Bakterien weitgehend unbekannter Gene codierten. Evolutionäre Zwischenstufen oder „Missing Links“, die Aufschluss darüber geben könnten, wie oder warum diese komplexen Merkmale entstanden, haben nicht überdauert. So bleibt einfach eine unerklärliche Lücke zwischen der morphologischen Einfachheit der Bakterien und der überwältigenden Komplexität aller anderen Lebewesen. Eben ein evolutionäres schwarzes Loch. Alljährlich fließen Milliarden von Euro in die biomedizinische Forschung, die unvorstellbar komplizierten Fragestellungen nachgeht, um herauszufinden, warum wir krank werden. Wir haben detaillierteste Kenntnisse über die Beziehungen zwischen Genen und Proteinen und darüber, wie vernetzte Regelkreise einander beeinflussen. Wir konstruieren ausgefeilte mathematische Modelle und entwickeln Computersimulationen, mit denen wir unsere Prognosen überprüfen. Aber wir wissen nicht, wie sich die einzelnen Teile entwickelten! Wie können wir darauf hoffen, Krankheiten zu verstehen, wenn wir keine Ahnung haben, warum Zellen gerade so arbeiten, wie sie arbei8
Warum ist das Leben so, wie es ist?
ten? Wir können eine Gesellschaft nicht verstehen, wenn wir ihre Geschichte nicht kennen, und genauso wenig können wir die Abläufe in der Zelle verstehen, wenn wir nicht wissen, wie ihre Evolution verlaufen ist. Das ist nicht nur von praktischer Bedeutung, sondern berührt auch die große Frage, warum es uns Menschen überhaupt gibt. Welche Gesetze ließen das Universum entstehen, die Sterne, die Sonne, die Erde und das Leben? Werden dieselben Gesetze an anderer Stelle im Universum ebenfalls Leben hervorbringen? Wären außerirdische Lebensformen den irdischen vergleichbar? Genau solche metaphysischen Fragen sind es, die uns erst zum Menschen machen. Rund 350 Jahre nach der Entdeckung der Zellen wissen wir immer noch nicht, warum das Leben auf der Erde so ist, wie es ist. Vielleicht ist Ihnen bisher noch gar nicht aufgefallen, dass wir es nicht wissen. Das ist nicht Ihr Fehler. Lehrbücher und Fachjournale wimmeln nur so von Informationen, versäumen es aber oft, Antworten auf diese einfachen „Kinderfragen“ zu finden. Das Internet überschwemmt uns schier mit ununterscheidbaren Fakten, vermischt mit variablen Anteilen von echtem Blödsinn. Doch das Problem liegt nicht nur im Zuviel an Informationen. Nur wenige Biologen sind sich des schwarzen Lochs im Innersten der Biologie klar bewusst. Die überwiegende Mehrheit erforscht große Organismen, bestimmte Pflanzen- oder Tiergruppen. Eher wenige befassen sich mit Mikroben und noch weniger mit der Evolution der Zellen. Außerdem gibt es Bedenken im Hinblick auf Kreationismus und Verfechter des Intelligent Design – wenn wir zugeben, dass wir nicht alle Antworten kennen, öffnet das womöglich jenen Tür und Tor, die abstreiten, dass wir überhaupt etwas darüber wissen, wie Evolution vonstattengeht. Aber das tun wir natürlich. Wir wissen sogar ziemlich viel darüber. Hypothesen über den Ursprung des Lebens und die Anfangszeit der Evolution der Zellen müssen unendlich viele Tatsachen erklären, dabei streng mit dem bisherigen Wissensstand konform gehen und überdies unerwartete Zusammenhänge vorhersagen, die sich empirisch überprüfen lassen. Wir wissen recht viel über die natürliche Selektion und einiges über die eher zufälligen Abläufe, die Genome gestalten. All diese Fakten lassen sich mit der Evolution der Zellen 9
Einführung
vereinbaren. Aber eben diese strengen Vorgaben der Fakten werfen das Problem überhaupt erst auf. Wir wissen nicht, warum das Leben ausgerechnet diese und keine andere Entwicklung genommen hat. Wissenschaftler sind neugierige Menschen, und wenn dieses Problem so offenkundig wäre, wie ich es hier darstelle, wäre es weithin bekannt. Tatsächlich aber liegt es keineswegs auf der Hand. Die verschiedenen miteinander konkurrierenden Antworten sind esoterisch und verschleiern die Frage eigentlich nur noch mehr. Problematisch ist außerdem, dass Hinweise zur Lösung aus etlichen unterschiedlichen Fachrichtungen kommen, von der Biochemie und Geologie über Phylogenetik, Ökologie und Chemie bis hin zur Kosmologie. Kaum jemand ist auf all diesen Gebieten bewandert. Zudem stecken wir heute mitten in einer Genom-Revolution. Wir verfügen über Tausende kompletter Genomsequenzen, Codes mit Millionen oder Milliarden von Codons, die allzu oft widersprüchliche Signale aus der fernen Vergangenheit vermitteln. Die Interpretation dieser Daten setzt straffes Wissen auf den Gebieten Logik, Datenverarbeitung und Statistik voraus; biologische Kenntnisse sind nur das Sahnehäubchen. Darum kursieren bis heute massenhaft Argumente. Und immer, wenn sich der Argumentenebel lichtet, erscheint eine zunehmend surreale Landschaft. Die alten, tröstlichen Ansichten haben sich in Luft aufgelöst. Heute stehen wir vor einem nüchternen neuen Bild, das zugleich real und beunruhigend ist – aus Sicht des Forschers, der ein signifikantes neues Problem finden will, das er lösen kann, ist es sogar äußerst spannend! Die größten Fragen in der Biologie sind noch immer nicht beantwortet. Mit diesem Buch will ich mich an einen ersten Versuch wagen. In welchem Zusammenhang stehen Bakterien und komplexe Lebensformen? Die Anfänge dieser Frage gehen bis zur Entdeckung der Mikroorganismen durch den niederländischen Mikroskopiker Antoni van Leeuwenhoek in den 1670er-Jahren zurück. Seine Menagerie von „kleinen Tierchen“ (animalcula), die unter dem Mikroskop gediehen, erschien zunächst unglaublich, wurde aber schon bald durch den ebenso genialen Robert Hooke bestätigt. Leeuwenhoek entdeckte auch die Bakterien und schrieb in einem berühmten Auf10
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satz von 1677 über sie. Sie waren „unglaublich klein, in meinen Augen so klein, dass ich schätzte, dass 100 von ihnen aneinandergelegt nicht die Länge eines groben Sandkorns erreichen würden; und entsprechend dieser Schätzung könnten zehnmal Hunderttausend von ihnen nicht das Ausmaß eines Kornes solchen groben Sandes erreichen.“ Viele zweifelten an, dass Leeuwenhoek mit seinen einfachen (also mit nur einer Linse ausgestatteten) Mikroskopen Bakterien gesehen haben könnte, doch heute ist dies unumstritten. Zwei Fakten stechen besonders heraus. Er fand überall Bakterien – im Regenwasser wie im Meer, nicht nur auf seinen eigenen Zähnen. Und er unterschied intuitiv diese „äußerst winzigen Tierchen“ und die „gigantischen Ungeheuer“ – mikroskopisch kleine Protisten! – mit ihrem faszinierenden Verhalten und „kleinen Füßchen“ (Cilien). Er bemerkte sogar, dass einige größere Zellen aus mehreren kleinen „Kügelchen“ bestanden, die er (wenn auch mit anderen Worten) mit den Bakterien verglich. Unter diesen Kügelchen erblickte Leeuwenhoek mit ziem licher Sicherheit auch den Zellkern (Nukleus), der bei allen komplexen Zellen die Gene in sich birgt. Und auf diesem Stand blieb die Sache dann für Jahrhunderte. Der berühmte Systematiker Carl von Linné fasste 50 Jahre nach Leeuwenhoek alle Mikroben einfach in der Gattung Chaos („Unordnung“) in der Klasse Vermes („Gewürm“) zusammen. Im 19. Jahrhundert nahm Ernst Haeckel, der große deutsche Evolutionsforscher und Zeitgenosse Darwins, die deutliche Unterscheidung erneut vor und stellte die Bakterien abseits der anderen Mikroben. Begrifflich aber gab es bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts kaum Fortschritte. Die biochemische Vereinheitlichung brachte dann die Lösung. Aufgrund ihrer enormen metabolischen Vielseitigkeit hatten die Bakterien bis dahin als nicht kategorisierbar gegolten. Sie können überall wachsen, auf Beton, in Batteriesäure und Gasen. Wenn diese so vollkommen unterschiedlichen Lebensweisen nichts gemeinsam hatten, wie sollte man Bakterien dann wohl klassifizieren? Und wie sollte man sie verstehen, wenn sie nicht klassifiziert waren? So wie das Periodensystem der Elemente Ordnung und Kohärenz in die Chemie brachte, so brachte die Biochemie Ordnung in die Evolution 11
Einführung
der Zellen. Albert Kluyver, ebenfalls Niederländer, wies nach, dass hinter der außerordentlichen Vielfalt der Lebewesen durchaus ähnliche biochemische Prozesse steckten. So unterschiedliche Vorgänge wie Atmung, Gärung und Fotosynthese hatten allesamt eine gemeinsame Grundlage, eine konzeptuelle Integrität, der zufolge alle Lebewesen von einem gemeinsamen Urahnen abstammten. Was für Bakterien galt, so Kluyver, das galt auch für Elefanten. Auf biochemischer Ebene besteht kaum ein Unterschied zwischen Bakterien und komplexen Zellen. Bakterien sind um ein Vielfaches vielseitiger, aber die grundlegenden lebenserhaltenden Prozesse sind ähnlich. Kluyvers Schüler Cornelis van Niel kam mit Roger Stanier dem Erkennen des Unterschieds wohl am nächsten: Ihnen zufolge sind Bakterien, wie Atome, nicht weiter teilbar, sondern bilden die kleinste Funktionseinheit. Viele Bakterien können genauso Sauerstoff atmen, wie wir es tun, aber dazu braucht es das gesamte Bakterium. Anders als bei unseren Zellen gibt es keine Atmungsorganellen. Bakterien teilen sich zwar, wenn sie sich vermehren, aber funktionell sind sie nicht teilbar. Dann folgte die erste der drei großen Umwälzungen, die unser Bild vom Leben im vergangenen halben Jahrhundert auf den Kopf stellten. Diese erste Revolution wurde im „Summer of Love“ 1967 von Lynn Margulis losgetreten. Komplexe Zellen entwickelten sich, so Margulis, nicht durch herkömmliche natürliche Selektion, sondern durch eine wahre Kooperationsorgie, bei der Zellen derart eng miteinander interagierten, dass sie sogar ins Innere ihrer Partner vordrangen. Eine Symbiose ist eine langfristige Interaktion zwischen zwei oder mehr Spezies, meist eine Art Handel mit „Waren“ oder „Dienstleistungen“. Im Falle der Mikroben sind die Waren die Substanzen des Lebens, Substrate des Stoffwechsels, Treibstoffe des zellulären Lebens. Margulis verwendete den Begriff Endosymbiose – dieselbe Art Handel, aber nun so intensiv, dass einige der kollaborierenden Zellen physisch im Inneren ihrer Wirtszelle leben, wie die Händler im Tempel. Vergleichbare Ideen waren schon um die Jahrhundertwende formuliert worden, und ihnen erging es in gewisser Weise ähnlich wie der Lehre von der Plattentektonik. Es „sieht so 12
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aus“, als seien Afrika und Südamerika einst aus einem Stück gewesen und später auseinandergedriftet, doch diese kindliche Vorstellung wurde lange als absurd verlacht. Ebenso verhält es sich mit einigen Strukturen im Inneren komplexer Zellen: Sie „sehen so aus“ wie Bakterien und scheinen sich sogar unabhängig zu entwickeln und zu teilen. Vielleicht war die Erklärung ja tatsächlich so einfach – es sind Bakterien! Wie die Plattentektonik war auch diese Theorie ihrer Zeit voraus. Erst im Zeitalter der Molekularbiologie, in den 1960er-Jahren, ließen sich dazu starke Argumente erbringen. Margulis tat dies am Beispiel zweier spezialisierter Strukturen im Zellinneren – den Mitochon drien, Orten der Atmung, in denen Nährstoffe mit Sauerstoff verbrannt werden und Energie frei wird, und den Chloroplasten, den Fotosynthesekraftwerken in Pflanzen, die Sonnenenergie in chemische Energie umwandeln. Beide Organellen („Miniaturorgane“) verfügen noch über winzige eigene Genome mit jeweils einer Handvoll Gene. Diese codieren für höchstens ein paar Dutzend Proteine, welche bei der Atmung oder Fotosynthese beteiligt sind. Die exakten Sequenzen dieser Gene verrieten es schließlich: Mitochondrien und Chloroplasten leiten sich tatsächlich von Bakterien ab. Ich verwende bewusst das Wort „ableiten“, denn es sind keine Bakterien mehr. Sie haben ihre Unabhängigkeit eingebüßt, denn die Mehrheit der für ihre Existenz benötigten Gene (mindestens 1500) befinden sich im Zellkern, dem genetischen „Steuerungszentrum“ der Zelle. Margulis hatte recht mit den Mitochondrien und Chloroplasten; in den 1980er-Jahren hegten daran nur noch wenige Zweifel. Doch sie wollte auf mehr hinaus: Für Margulis setzte sich die gesamte komplexe oder „eukaryotische“ (mit einem echten Zellkern ausgestattete) Zelle aus etlichen Symbiosen zusammen. Ihrer Ansicht nach leiteten sich viele andere Bestandteile komplexer Zellen, insbesondere die Cilien (Leeuwenhoeks „Füßchen“), ebenfalls von Bakterien ab, in diesem Fall von Spirochäten. Es gab eine lange Reihe von Zusammenschlüssen, wie Margulis nun in ihrer Endosymbiontentheorie formulierte. Nicht nur einzelne Zellen, sondern die ganze Welt war ein großes Netzwerk bakterieller Kollaboration – die „Gaia-Hypothese“, 13
Einführung
eine Idee, die Margulis zusammen mit James Lovelock aufbrachte. Dieses Gaia-Konzept hat inzwischen in der förmlicheren Gestalt der „Erdsystemwissenschaft“ (unter Abzug von Lovelocks ursprünglicher Teleologie) eine Renaissance erlebt; die Vorstellung von komplexen eukaryotischen Zellen als Ensemble von Bakterien hat dagegen deutlich weniger Anhänger. Die meisten Zellstrukturen sehen nicht so aus, als leiteten sie sich von Bakterien ab, und auch die Gene geben darauf keine Hinweise. Margulis hatte also in manchen Dingen recht und in manchen Dingen mit ziemlicher Sicherheit unrecht. Doch die missionarische Energie dieser Frau, ihre Ablehnung der darwinschen Konkurrenz und ihr Hang zu Verschwörungstheorien bewirkten, dass sie, als sie 2011 viel zu früh durch einen Schlaganfall starb, ein zwiespältiges Erbe hinterließ. Für manche war sie eine feministische Heldin, für andere ein wandelndes Pulverfass. Vieles von dem, was von ihr blieb, hatte mit Wissenschaft nur noch entfernt zu tun. Revolution Nummer zwei war die phylogenetische Revolution – die Lehre von der Abstammung der Gene. Diese Möglichkeit war von Francis Crick bereits 1958 vorweggenommen worden, als er mit typischer Gelassenheit schrieb: „Die Biologen sollten sich darüber im Klaren sein, dass es über kurz oder lang eine Fachrichtung namens ‚Protein-Taxonomie‘ geben wird – die Erforschung der Aminosäurensequenzen von Organismen und der Vergleich derselben bei unterschiedlichen Arten. Diese Sequenzen dürften wohl den Phänotyp eines Organismus am exaktesten wiedergeben, und es ist anzunehmen, dass in ihnen ungeheure Informationsmengen zur Evolution verborgen sind.“ Und siehe, so geschah es. Heute dreht sich in der Biologie sehr viel um die in den Sequenzen von Proteinen und Genen verborgenen Informationen. Wir vergleichen heute nicht mehr die Aminosäuresequenzen direkt, sondern die „Buchstaben“-Abfolgen in der DNA (die für Proteine codiert), die noch genauere Daten liefern. Doch bei aller Weitsicht machte sich weder Crick noch sonstwer eine Vorstellung davon, welche Geheimnisse die Gene tatsächlich enthüllen sollten. Diese Revolution wurde von Carl Woese ausgefochten. Er hatte seine Arbeit in den 1960er-Jahren in aller Stille aufgenommen, und sie sollte erst ein Jahrzehnt später Früchte tragen. Woese wählte ein 14
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einziges Gen zum Vergleich zwischen Arten aus. Dieses Gen musste natürlich bei allen Spezies vorliegen, und es musste überdies demselben Zweck dienen. Dieser Zweck musste von so grundlegender Wichtigkeit für die Zelle sein, dass schon leichte Veränderungen in seiner Funktion durch die natürliche Selektion bestraft würden. Wenn die meisten Veränderungen eliminiert sind, muss das, was geblieben ist, relativ stabil sein – es muss sich extrem langsam weiterentwickeln und über riesige Zeitspannen hinweg nur geringfügig verändern. Das ist notwendig, wenn man die Unterschiede, die buchstäblich über Jahrmilliarden hinweg zwischen den Arten heranwachsen, vergleichen und einen umfassenden, bis an den Anfang des Lebens zurückreichenden Stammbaum konstruieren will. Etwas in dieser Größenordnung hatte Woese im Sinn. Mit Blick auf all diese Anforderungen wandte er sich schließlich einer grundlegenden Eigenschaft aller Zellen zu: der Fähigkeit, Proteine zu synthetisieren. Proteine werden in erstaunlichen, in allen Zellen anzutreffenden Nanomaschinen zusammengebaut, den Ribosomen. Abgesehen von der DNA-Doppelhelix ist wohl nichts symbolträchtiger für das Informationszeitalter der Biologie als das Ribosom. Seine Struktur steht außerdem für einen Widerspruch, den der menschliche Geist kaum erfassen kann – die Größenverhältnisse. Das Ribosom ist unvorstellbar winzig. Schon Zellen sind mikroskopisch klein; über die meiste Zeit unseres Daseins auf Erden hinweg hatten wir keinen blassen Schimmer von ihrer Existenz. In einer einzigen menschlichen Leberzelle gibt es 13 Millionen Ribosomen. Doch diese sind nicht nur unvorstellbar klein, sondern dabei auch noch massive, hochkomplizierte Superkon struktionen. Sie bestehen aus zahllosen substanziellen Untereinheiten, beweglichen Maschinenteilen, die präziser arbeiten als ein automatisches Fertigungsband. Das ist nicht übertrieben! Sie lesen den „TickerStreifen“ mit dem Code für ein Protein ein und übersetzen seine Sequenz exakt, Buchstabe für Buchstabe, in das Protein selbst. Dazu ziehen sie alle benötigten Bauteile (Aminosäuren) heran und fügen sie in einer langen Kette zusammen. Die Reihenfolge der Aminosäuren ist durch das Codeskript festgelegt. Ribosomen haben eine Fehlerrate von etwa einem Buchstaben unter 10 000; diese ist weitaus geringer als bei 15
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unseren anspruchsvollen heutigen Herstellungsprozessen. Sie arbeiten überdies mit einer Geschwindigkeit von etwa zehn Aminosäuren pro Sekunde und stellen komplette Proteine mit Ketten aus Hunderten von Aminosäuren in weniger als einer Minute her. Woese wählte eine Untereinheit des Ribosoms, sozusagen ein einzelnes Teil der Maschine, aus und verglich dessen Sequenz bei verschiedenen Arten, von Bakterien wie Escherichia coli (E. coli) über Hefen bis hin zum Menschen. Seine Ergebnisse waren eine echte Offenbarung und stellten unser Weltbild auf den Kopf. Er konnte ohne Schwierigkeiten zwischen den Bakterien und komplexen Eukaryoten unterscheiden und legte den phylogenetischen Baum der genetischen Verwandtschaft innerhalb und zwischen diesen Hauptgruppen offen. Die einzige Überraschung war, wie gering die Unterschiede zwischen Pflanzen, Tieren und Pilzen waren, jenen Gruppen, mit deren Erforschung die meisten Biologen den größten Teil ihres Arbeitslebens verbringen. Was jedoch niemand geahnt hatte, war die Existenz einer dritten Domäne des Lebens. Einige dieser einfachen Zellen waren schon seit Jahrhunderten bekannt gewesen, aber fälschlich den Bakterien zugeordnet worden. Sie sehen aus wie Bakterien – wirklich genau wie Bakterien: Sie sind genauso winzig, und auch ihnen fehlt eine erkennbare Struktur. Doch der Unterschied in ihren Ribosomen war wie das Grinsen von Alices Grinsekatze – er verriet, dass da noch etwas anderes sein musste, was bisher verborgen geblieben war: Diese neue Gruppe hatte vielleicht nicht die Komplexität der Eukaryoten, aber ihre Gene und Proteine unterschieden sich in geradezu schockierendem Ausmaß von denen der Bakterien. Diese zweite Gruppe einfacher Zellen erhielt den Namen Archaea, da man annahm, dass sie älter sind als die Bakterien. Das trifft vermutlich nicht zu; heute ist man der Ansicht, dass beide Gruppen gleich alt sind. Doch auf der Ebene ihrer Gene und biochemischen Eigenschaften ist die Kluft zwischen Bakterien und Archaeen genauso groß wie zwischen Bakterien und Eukaryoten (also uns). Fast buchstäblich. Bei Woeses berühmtem phylogenetischem Baum mit den „drei Domänen“ des Lebendigen sind Archaeen und Eukaryoten „Schwestergruppen“, die einen nicht allzu weit in der Vergangenheit lebenden gemeinsamen Vorfahren haben. 16
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In mancher Hinsicht haben Archaeen und Eukaryoten durchaus viel gemeinsam, besonders was den Informationsfluss angeht (also wie sie ihre Gene auslesen und in Proteine übersetzen). Im Grunde verfügen Archaeen über einige ausgefeilte molekulare Maschinerien, die denen der Eukaryoten ähneln, auch wenn sie aus weniger Teilen bestehen. Sie bilden sozusagen eine Vorstufe für die eukaryotische Komplexität. Woese lehnte die Vorstellung von einer tiefen morphologischen Kluft zwischen Bakterien und Eukaryoten ab und postulierte stattdessen drei gleichrangige Domänen, von denen jede große evolutionäre Bereiche erobert hatte und keine den Vorrang gegenüber den anderen beiden verdiente. Vor allem aber missbilligte er den althergebrachten Begriff „Prokaryot“ (wörtlich „vor dem Zellkern“, was auf Archaeen und Bakterien zutreffen würde), denn sein phylogenetischer Baum lieferte keine genetische Grundlage für diese Unterscheidung. Ganz im Gegenteil reichten alle drei Domänen in seiner Darstellung weit in die Vergangenheit zurück, wo sie sich aus einem rätselhaften gemeinsamen Vorfahren „herauskristallisiert“ hatten. Im höheren Lebensalter äußerte sich Woese fast mystisch über jene evolutionären Frühstadien und forderte eine holistischere Betrachtungsweise des Lebens. Das wirkt seltsam, basierte doch die von ihm losgetretene Revolution auf einer gänzlich reduktionistischen Analyse eines einzigen Gens. Es besteht kein Zweifel darüber, dass Bakterien, Archaeen und Eukaryoten grundlegend unterschiedliche Gruppen sind und Woeses Revolution real war, doch seine Empfehlung einer holistischen Sicht, die Organismen als Ganzes und komplette Genome berücksichtigt, bringt aktuell die dritte zelluläre Revolution auf den Weg – die seine eigene wieder aufhebt. Diese dritte Revolution ist noch im Gange. Ihre Argumente sind ein wenig subtiler, aber sie hat es ganz besonders in sich. Ihre Wurzeln liegen in den ersten beiden Revolutionen, insbesondere in der Frage: Wie sind wir miteinander verwandt? Woeses phylogenetischer Baum zeigt die Divergenz eines grundlegend wichtigen Gens in den drei Domänen des Lebendigen. Margulis dagegen präsentierte Gene unterschiedlicher Arten, die bei der Verschmelzung und Übernahme im Zuge der Endosymbiose zusammenfanden. Als 17
Einführung
Baum gezeichnet, ist dies ein Zusammenwachsen, keine Gabelung von Zweigen – das Gegenteil von dem, was Woese darstellte. Sie können nicht beide recht haben! Zugleich haben beide nicht ganz unrecht. Die Wahrheit liegt, wie so oft in der Wissenschaft, irgendwo dazwischen. Aber das bedeutet keineswegs, dass sie ein Kompromiss ist. Die Antwort, die sich gerade herausbildet, ist aufregender als alles andere. Wir wissen, dass sich Mitochondrien und Chloroplasten tatsächlich via Endosymbiose aus Bakterien ableiten, während sich die anderen Bestandteile komplexer Zellen vermutlich auf herkömmlichem Wege entwickelten. Die Frage ist nun: Wann war das genau? Chloroplasten findet man nur in Algen und Pflanzen, sie wurden also höchstwahrscheinlich von einem Vorfahren nur dieser beiden Gruppen erworben. Somit wären sie eine relativ späte Errungenschaft. Mitochondrien dagegen findet man bei allen Eukaryoten (einen Hintergrundaspekt dazu werden wir in Kapitel 1 beleuchten), sie müssen also früher aufgenommen worden sein. Aber wie früh, oder anders gefragt: Was für eine Zelle war es, die die Mitochondrien aufnahm? Die herkömmliche Lehrbuchmeinung besagt, dass es sich um eine relativ hoch entwickelte Zelle handelte, wie eine Amöbe, eine räuberische Lebensform, die sich fortbewegen, ihre Form verändern und andere Zellen per Phagozytose „fressen“ kann. Heute wissen wir, dass das nicht stimmt. In den letzten Jahren ergaben Vergleiche zahlreicher Gene bei einer repräsentativeren Auswahl von Spezies eindeutig, dass jene erste Wirtszelle ein Archaeon war, eine Zelle aus der Domäne Archaea. Alle Archaeen sind Prokaryoten. Sie haben per definitionem keinen Zellkern, pflanzen sich nicht geschlechtlich fort und zeigen auch sonst keine Merkmale komplexer Lebensformen, auch keine Phagozytose. Morphologisch muss die Ausstattung der Wirtszelle praktisch gleich null gewesen sein. Irgendwie legte sie sich dann die Bakterien zu, aus denen die Mitochondrien entstanden. Erst danach entwickelte sie all ihre komplexen Merkmale. Wenn dies zutrifft, war der einzigartige Ursprung der komplexen Lebensformen vielleicht auf die Einverleibung der Mitochondrien angewiesen. Diese lösten ihn auf irgendeine Weise aus. 18
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Diese radikale Vermutung – komplexe Lebewesen entstanden aus einer singulären Endosymbiose zwischen einer Archaeon-Wirtszelle und den Bakterien, die zu Mitochondrien wurden – wurde 1998 von dem genial intuitiv und frei denkenden Evolutionsbiologen William Martin vorgebracht; sie fußte auf dem außergewöhnlichen Mosaik von Genen in eukaryotischen Zellen, das Martin zum größten Teil selbst ermittelt hatte. Nehmen wir eine einzelne biochemische Reaktionskette, beispielsweise die Gärung. Archaea vollführen sie auf die eine Weise, Bakterien auf eine andere; die daran beteiligten Gene sind nicht dieselben. Eukaryoten haben ein paar Gene von Bakterien und ein paar andere von Archaeen übernommen und diese zu einer eng geknüpften Reaktionskette zusammengefügt. Eine solche komplizierte Fusion von Genen findet sich nicht nur bei der Gärung, sondern bei praktisch allen biochemischen Reaktionen in komplexen Zellen. Unfassbar! Martin hat sich mit all dem sehr eingehend beschäftigt. Warum übernahm die Wirtszelle so viele Gene von ihren Endosymbionten, und warum verankerte sie diese so fest in ihrem eigenen Genmaterial und ersetzte dabei viele vorhandene Gene? Ihre Antwort darauf formulierten Bill Martin und Miklós Müller in der „Wasserstoff-Hypothese“ (hydrogen hypothesis). Ihrer Ansicht nach war die Wirtszelle ein Archaeon, das zwei einfache Gase zum Leben brauchte, Wasserstoff und Kohlendioxid. Der Endosymbiont (das zukünftige Mitochondrium) war ein vielseitiges Bakterium (der Normalfall unter Bakterien), das seine Wirtszelle mit dem von ihr zum Wachstum benötigten Wasserstoff versorgte. Die Einzelheiten dieser Beziehung, Schritt für Schritt logisch dargelegt, erklären, warum eine Zelle, die anfangs von einfachen Gasen lebte, schließlich organische Substanzen (Nahrung) aufnimmt, um ihre Endosymbionten zu ernähren. Doch es ist nicht dieser Punkt, der uns interessiert. Entscheidend ist Martins Folgerung, nach der komplexe Lebensformen durch eine singuläre Endosymbiose zwischen nur zwei Zellen entstanden. Seiner Ansicht nach war die Wirtszelle ein Archaeon, dem die üppige Komplexität eukaryotischer Zellen fehlte. Seiner Ansicht nach gab es nie eine einfache Zwischenform eukaryotischer Zellen ohne Mitochondrien; die Aneig19
Einführung
nung der Mitochondrien und der Ursprung der komplexen Lebensformen war ein und dasselbe Ereignis. Und seiner Ansicht nach entwickelten sich all die ausgefeilten Merkmale komplexer Zellen, vom Nukleus über Sex bis hin zur Phagozytose, nach der Aufnahme der Mitochondrien, im Zusammenhang mit dieser einzigartigen Endosymbiose. Dies ist eine der großartigsten Erkenntnisse in der Evolutionsbiologie, und sie verdient viel größere Bekanntheit. So wäre es auch, würde sie nicht so leicht mit Lynn Margulis’ Endosymbiontentheorie verwechselt (die, wie wir noch erfahren werden, keine dieser Ansichten teilt). All diese konkreten Folgerungen wurden in den letzten 20 Jahren durch die Genomforschung ganz und gar gestützt. Ein Monument der Macht biochemischer Logik. Gäbe es einen Nobelpreis für Biologie, niemand hätte ihn mehr verdient als Bill Martin. Und so schließt sich der Kreis. Wir wissen ungeheuer viel, aber wir wissen immer noch nicht, warum das Leben so ist, wie es ist. Wir wissen, dass komplexe Zellen durch ein einziges Ereignis in vier Milliarden Jahren der Evolution entstanden, durch eine singuläre Endosymbiose zwischen einem Archaeon und einem Bakterium (Abbildung 1). Wir wissen auch, dass sich die Merkmale komplexer Lebensformen erst nach dieser Vereinigung entwickelten, doch wir wissen bis heute nicht, warum diese besonderen Eigenschaften bei den Eukaryoten entstanden, offensichtlich aber weder bei den Bakterien noch bei den Archaeen. Wir wissen nicht, was die Bakterien und Archaeen daran hindert – warum sie also morphologisch schlicht bleiben, obwohl sie doch biochemisch und genetisch so unterschiedlich sind, so vielseitig in ihren Fähigkeiten und sogar von Gasen und Gestein leben können. Allerdings steht uns nun ein radikal verändertes Denkgerüst zur Verfügung, vor dessen Hintergrund wir diesen Fragen nachgehen können. Ein zusammengesetzter Stammbaum, der komplette Genome berücksichtigt, wie ihn Bill Martin 1998 abgebildet hat. Gezeigt sind die drei Domänen Bacteria, Archaea und Eukaryota. Eukaryoten entstanden als genetische Chimären aus einer Archaeen-Wirtszelle und einem bakteriellen Endosymbionten. Aus der Wirtszelle entwickelten sich schließlich die morphologisch komplexen eukaryotischen Zellen, 20
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Abbildung 1: Phylogenetischer Baum mit Darstellung des chimärenhaften Ursprungs komplexer Zellen
aus dem Endosymbionten die Mitochondrien. Eine Gruppe von Eukaryoten nahm später einen zweiten bakteriellen Endosymbionten auf, aus dem sich die Chloroplasten der Algen und Pflanzen entwickelten. Meiner Ansicht nach ist der merkwürdige Mechanismus der biologischen Energiegewinnung innerhalb der Zellen der Schlüssel, denn er erlegt den Zellen tief greifende, aber wenig beachtete physikalische Einschränkungen auf. Im Grunde dient allen lebenden Zellen ein Strom von Protonen (positiv geladenen Wasserstoffatomen) als Antrieb, wobei eine Art Elektrizität – Protizität – entsteht, mit Protonen statt Elektronen. Die Energie, die wir aus dem Verbrennen von Nähr21
Einführung
stoffen bei der Atmung gewinnen, dient dazu, Protonen durch eine Membran zu pumpen, sodass sie sich auf einer Seite der Membran anreichern. Strömen die Protonen aus diesem Reservoir wieder zurück, kann das genauso als Antrieb dienen wie bei einer Turbine in einem Staudamm. Die Nutzung von Protonengradienten über Mem branen als Antrieb für Zellen war eine völlig unerwartete Entdeckung. Dieses Konzept wurde 1961 erstmals postuliert und in den nachfolgenden drei Jahrzehnten von einem der unkonventionellsten Wissenschaftler des 20. Jahrhunderts, Peter Mitchell, weiterentwickelt. Man bezeichnete es auch als die wohl abwegigste Idee in der Biologie seit Darwin und die einzige, die mit den Ideen von Einstein, Heisenberg und Schrödinger in der Physik vergleichbar sei. Auf Ebene der Proteine wissen wir heute genau, wie der Protonenantrieb funktioniert. Wir wissen auch, dass Protonengradienten bei allen Lebewesen der Erde eine Rolle spielen – der Protonenantrieb ist genauso ein integraler Bestandteil des Lebens wie der universelle genetische Code. Allerdings wissen wir praktisch nichts darüber, wie oder warum sich dieser abwegig erscheinende Mechanismus der Energiegewinnung ursprünglich entwickelte. Im Kern der heutigen Biologie stehen also, wie mir scheint, zwei große unbeantwortete Fragen: Warum entwickelte sich das Leben in der erstaunlichen Weise, wie es das tat, und warum nutzen die Zellen einen so merkwürdigen Antrieb? In diesem Buch möchte ich versuchen, diese Fragen zu beantworten, die in meinen Augen miteinander in engem Zusammenhang stehen. Ich hoffe, Sie davon zu überzeugen, dass Energie für die Evolution eine zentrale Rolle spielt und wir die Eigenschaften des Lebendigen nur verstehen können, wenn wir die Energie in die Gleichung mit aufnehmen. Ich möchte Ihnen demonstrieren, dass dieser Zusammenhang zwischen Energie und Leben von Anfang an bestand – dass die grundlegenden Merkmale des Lebens zwangsläufig aus dem Nicht-Gleichgewicht auf einem ruhelosen Planeten entstand. Ich möchte Ihnen zeigen, dass der Ursprung des Lebens durch strömende Energie angetrieben wurde, dass Protonengradienten für das Entstehen von Zellen eine zentrale Rolle spielten und dass ihre Nutzung der Struktur von Bakterien und Archaeen Grenzen setzt. Ich 22
Warum ist das Leben so, wie es ist?
möchte demonstrieren, dass diese Einschränkungen die spätere Evolution der Zellen bestimmten und dafür sorgten, dass die Bakterien und Archaeen bei aller biochemischen Virtuosität doch auf ewig eine einfache Morphologie behalten werden. Ich möchte beweisen, dass ein einzigartiges Ereignis, eine Endosymbiose, bei der ein Bakterium in ein Archaeon aufgenommen wurde, diese Einschränkungen aufhob und die Evolution weitaus komplexerer Zellen ermöglichte. Ich möchte Ihnen darlegen, dass das keine einfache Sache war – dass die intime Beziehung zwischen Zellen, von denen eine in der anderen lebt, erklärt, weshalb morphologisch komplexe Organismen nur ein einziges Mal entstanden. Ich hoffe überdies, Sie davon zu überzeugen, dass diese intime Beziehung sogar einige Merkmale komplexer Zellen bedingt. Diese Merkmale sind unter anderem der Nukleus, Sex, zweierlei Geschlechter und sogar die Unterscheidung zwischen der unsterblichen Keimbahn und dem sterblichen Körper – die Ursprünge einer begrenzten Lebensdauer und des genetisch vorherbestimmten Todes. Zu guter Letzt möchte ich Sie davon überzeugen, dass uns die Betrachtung unter energetischen Gesichtspunkten Vorhersagen bezüglich einiger Aspekte unserer eigenen Biologie gestattet, insbesondere dem evolutionär bedingten Tauschgeschäft von Fruchtbarkeit und Fitness in jungen Jahren gegen Alterung und Krankheit im höheren Lebensalter. Mir gefällt der Gedanke, dass diese Erkenntnisse uns womöglich zu besserer Gesundheit oder zumindest zu einem besseren Verständnis derselben verhelfen. Mancher mag es nicht schätzen, auf diese Weise für die Wissenschaft zu sprechen, aber genau dies ist in der Biologie eine gute Tradition, die bis auf Darwin selbst zurückgeht; er bezeichnete sein Buch Die Entstehung der Arten als „one long argument“ („eine lange Beweisführung“). Mit einem Buch lässt sich immer noch am besten darlegen, welchen Zusammenhang man im großen Ganzen der Wissenschaft zwischen bestimmten Fakten sieht – eine Hypothese, die der Gestalt der Dinge einen Sinn zu geben versucht. Peter Medawar beschrieb eine Hypothese als imaginären Sprung ins Unbekannte. Hat man den Sprung einmal gewagt, wird eine Hypothese zum Versuch, eine für Menschen verständliche Geschichte zu erzählen. Eine wissenschaft 23
Einführung
liche Hypothese muss Thesen aufstellen, die überprüfbar sind. In der Wissenschaft gibt es keine größere Beleidigung als zu sagen, ein Argument sei „noch nicht einmal falsch“, will sagen: Es ist so unwissenschaftlich, dass es sich sogar jeder Widerlegung entzieht. In diesem Buch also werde ich eine Hypothese aufstellen – eine zusammenhängende Geschichte erzählen –, die Energie und Evolution verknüpft. Das werde ich so detailliert tun, dass ich durchaus widerlegt werden könnte, und zugleich werde ich so verständlich und spannend schreiben, wie ich kann. Diese Geschichte basiert zum Teil auf meiner eigenen Forschung (die Originalartikel sind im Literaturverzeichnis aufgeführt) und zum Teil auf der Forschung anderer. Ich habe äußerst fruchtbar mit Bill Martin in Düsseldorf zusammengearbeitet, der, wie ich feststellen musste, ein verblüffendes Talent dafür besitzt, richtig zu liegen, mit Andrew Pomiankowski, einem mathematisch denkenden Evolutionsgenetiker und traumhaften Kollegen am University College London, sowie mit einigen äußerst versierten Doktoranden. Es war und ist mir eine Ehre und riesige Freude, und wir stehen erst ganz am Anfang eines langen Weges. Ich habe mich bemüht, dieses Buch kurz und prägnant zu schreiben und mich mit Exkursen und interessanten, aber vielleicht etwas abwegigen Geschichten zurückzuhalten. Das Buch ist eine Beweisführung, so knapp und so detailliert wie nötig. Es mangelt nicht an Metaphern und (wie ich hoffe) unterhaltsamen Einzelheiten; andernfalls fände sich wohl kein allgemein interessierter Leser für ein Buch über die Biochemie des Lebens. Nur wenige können sich ohne Weiteres die fremde submikroskopische Landschaft aus gigantischen, miteinander in Wechselwirkung befindlichen Molekülen vorstellen, also den eigentlichen Schauplatz des Lebens. Entscheidend aber ist die Wissenschaft, und so habe ich das Buch auch geschrieben. Es ist eine gute, altmodische Tugend, die Dinge beim Namen zu nennen – auf den Punkt und ohne großes Drumherum. Sie wären schnell genervt, wenn ich alle paar Seiten erwähnen würde, dass, sagen wir, ein Spaten ein Grabwerkzeug ist, mit dem man Gruben oder Gräber aushebt. Zwar ist es weniger hilfreich, ein Mitochondrium Mitochondrium zu nennen, doch ist es ebenso holprig, etwas zu schreiben wie „alle gro24
Warum ist das Leben so, wie es ist?
ßen, komplexen Zellen wie die unseren enthalten Miniaturkraftwerke, die vor langer Zeit aus freilebenden Bakterien entstanden und heute praktisch alle Energie liefern, die wir benötigen“. Ich könnte stattdessen einfach schreiben: „Alle Eukaryoten besitzen Mitochon drien.“ Das ist eindeutiger und knackiger. Wenn man gegen ein paar Fachbegriffe nichts einzuwenden hat – sie vermitteln einfach mehr Informationen, und das so pointiert, dass sich in diesem Fall sofort die Frage stellt: Wie kam es dazu? Das führt direkt an die Grenze zum Unbekannten, dorthin, wo die Wissenschaft am interessantesten ist. Ich habe also einerseits versucht, nicht mehr Fachsprache zu verwenden als nötig, hoffe aber, dass Sie mit ein paar wiederkehrenden Fachbegriffen vertraut werden. Für alle Fälle habe ich am Ende ein Glossar mit den wichtigsten Begriffen angehängt. Wenn dies hin und wieder konsultiert wird, ist dieses Buch hoffentlich für jeden mit Interesse am Thema zugänglich. Und ich hoffe wirklich, dass das Thema Sie interessiert! So merkwürdig sie erscheinen mag, diese schöne neue Welt – sie ist durch und durch aufregend: die Ideen, die Möglichkeiten, die beginnende Erkenntnis über unseren Platz in diesem schier unendlichen Universum. Ich skizziere eine neue und größtenteils noch nicht kartierte Landschaft, einen Blick aufs Ganze, vom Ursprung des Lebens bis zu unserer Gesundheit und Sterblichkeit. Diese enorme Bandbreite wird dankenswerterweise von ein paar einfachen Ideen überspannt, die etwas mit Protonengradienten über Membranen zu tun haben. In meinen Augen sind die besten Biologiebücher seit Darwin Beweisführungen, und dieses Buch soll diese Tradition möglichst fortführen. Ich werde darlegen, dass die Energie der Evolution des Lebens Grenzen gesetzt hat, dass dieselben Kräfte überall im Universum wirken sollten und dass die Verknüpfung von Energie und Evolution die Grundlage für eine Biologie sein könnte, die bessere Vorhersagen erlaubt. So würde sie uns helfen zu verstehen, warum das Leben so ist, wie es ist – nicht nur auf der Erde, sondern wo auch immer es im Universum vorkommen mag.
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Teil I: Das Problem
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U
nverwandt, Tag und Nacht, durchforsten die Radioteleskope prüfend die Weiten des Weltalls. Ganze 42 von ihnen stehen verstreut zwischen den Büschen der Sierra Nordkaliforniens. Ihre weißen Schüsseln ähneln blassen Gesichtern, die gemeinsam voller Hoffnung irgendeinen Punkt hinter dem Horizont anvisieren – wie außerirdische Invasoren, die sich versammelt haben, um möglichst bald den Heimweg anzutreten. Der Widerspruch ist stimmig. Die Teleskope gehören SETI (Search for Extraterrestrial Intelligence), einer Organisation, die sich der Fahndung nach außerirdischer Intelligenz verschrieben hat. Seit einem halben Jahrhundert sucht sie das All ergebnislos nach Lebenszeichen ab. Selbst die Hauptakteure sind nicht allzu optimistisch, was ihre Erfolgschancen betrifft; doch als die Fördermittel vor einigen Jahren zu versiegen drohten, war das Allen Telescope Array nach einem Appell an die Öffentlichkeit schon bald wieder einsatzbereit. In meinen Augen symbolisiert diese Unternehmung überdeutlich, wie unsicher sich der Mensch über seinen Platz im Universum ist, ja sogar, auf welch tönernen Füßen die Wissenschaft als solche steht: völlig unverständliche Science-Fiction-Technologie, die Allwissenheit suggeriert, aber mit einem Traum im Fokus, der so naiv ist, dass er geradezu jeglicher wissenschaftlichen Grundlage entbehrt – dem Traum, dass wir nicht allein sind. 26
1 Was ist Leben?
Selbst wenn das Array niemals Leben entdecken sollte, ist es nach wie vor von Wert. Wir können zwar nicht andersherum durch diese Teleskope blicken, doch eben darin liegt ihr eigentliches Potenzial. Nach was genau suchen wir da draußen? Sollte es irgendwo im Universum Leben geben, das uns so sehr ähnelt, dass es auch Radiowellen nutzt? Glauben wir, dass Leben anderswo auch auf Kohlenstoff basieren müsste? Würde es Wasser benötigen? Sauerstoff? Im Grunde sind dies keine Fragen über die Bausteine des Lebens irgendwo anders im All – es sind Fragen über das Leben auf der Erde, über die Gründe, warum das Leben so ist, wie wir es kennen. Jene Teleskope sind Spiegel, die ihre Fragen zurück auf die irdischen Biologen werfen. Das Problem besteht darin, dass es in der Wissenschaft stets um Vorhersagen geht. Die drängendsten Fragen in der Physik lauten: Warum sind die physikalischen Gesetze so und nicht anders – welche Grundprinzipien sagen die bekannten Eigenschaften des Universums voraus? Die Biologie macht weniger starke Vorhersagen und kennt keine der Physik vergleichbaren Gesetze, und dennoch ist die Vorhersagekraft der Evolutionsbiologie beschämend schwach. Wir wissen eine Menge über die molekularen Mechanismen der Evolution und über die Geschichte des Lebens auf unserem Planeten, aber viel weniger darüber, welche Teile dieser Geschichte dem Zufall zu verdanken sind – mit Entwicklungen, die auf anderen Planeten ganz anders hätten verlaufen können – und welche Teile physikalischen Gesetzen oder Beschränkungen unterliegen. Das liegt durchaus nicht an mangelndem Engagement. Auf diesem Terrain betätigen sich ergraute Nobelpreisträger und andere Lichtgestalten der Biologie. Doch trotz all ihrer Bildung und Intelligenz können sie sich nicht einmal ansatzweise auf einen gemeinsamen Nenner einigen. Vor 40 Jahren, als die Molekularbiologie noch in den Kinderschuhen steckte, schrieb der französische Biologe Jacques Monod sein berühmtes Buch Zufall und Notwendigkeit. Darin stellt er die düstere Behauptung auf, der Ursprung des irdischen Lebens sei ein verrückter Zufall gewesen und wir seien allein in einem leeren Universum. Die letzten Zeilen seines Buches sind geradezu poetisch, eine Mischung aus Naturwissenschaft und Metaphysik: 27
Teil I: Das Problem
Der Alte Bund ist zerbrochen; der Mensch weiß endlich, daß er in der teilnahmslosen Unermeßlichkeit des Universums allein ist, aus dem er zufällig hervortrat. Nicht nur sein Los, auch seine Pflicht steht nirgendwo geschrieben. Es ist an ihm, zwischen dem Reich und der Finsternis zu wählen.
Mittlerweile gibt es auch die gegenteilige Behauptung: Leben sei das zwangsläufige Resultat kosmischer Chemie. Es entstehe im Handumdrehen, nahezu überall. Was geschieht als Nächstes, nachdem auf einem Planeten Leben erblüht ist? Auch hierüber gibt es keinen Konsens. Möglicherweise muss das Leben konstruktionsbedingt, von welchem Ausgangspunkt auch immer, konvergente Wege einschlagen, die zu ähnlichen Zielen führen. Aufgrund der Schwerkraft sind Tiere, die fliegen können, wahrscheinlich leicht und besitzen so etwas wie Flügel. Allgemeiner gesagt: Vielleicht muss Leben aus Zellen bestehen und sich aus kleinen Einheiten zusammensetzen, die ihr Inneres von der Außenwelt abgrenzen. Falls solche Beschränkungen dominieren, sieht Leben anderswo möglicherweise ganz ähnlich aus wie auf der Erde. Andererseits könnte auch die Kontingenz regieren – die Beschaffenheit von Leben ist abhängig von den zufälligen Überlebenden globaler Katastrophen wie dem Asteroideneinschlag, der die Dinosaurier auslöschte. Drehen wir die Zeit einmal 500 Millionen Jahre zurück bis ins Kambrium, für das die fossilen Belege eine explosionsartige Zunahme von Tierarten dokumentieren, und starten die Uhr von Neuem. Wäre diese Parallelwelt unserer eigenen ähnlich? Oder würden auf den Hügeln riesige landbewohnende Tinten fische umherkrabbeln? Teleskope richten wir unter anderem deswegen ins All, weil der Stichprobenumfang hier auf der Erde gleich eins ist. Rein statistisch betrachtet könnten wir also nicht sagen, was – wenn überhaupt – die Evolution von Leben auf der Erde eingeschränkt hat. Doch wenn das wirklich der Fall wäre, hätte dieses oder irgendein anderes Buch keinerlei Grundlage. Die Gesetze der Physik gelten für das gesamte Universum, genau wie die Eigenschaften und Fülle der Elemente und somit auch die Plausibilität der Chemie. Irdisches Leben besitzt viele 28
1 Was ist Leben?
merkwürdige Eigenschaften, die schon seit Jahrhunderten den brillantesten Biologen Kopfzerbrechen bereiten – beispielsweise Sexualität und Altern. Könnten wir anhand von Grundprinzipien – der chemischen Zusammensetzung des Universums – vorhersagen, warum sich solche Eigenschaften entwickelt haben, warum Leben so und nicht anders ist, dann hätten wir wieder Zugang zur Welt der statistischen Wahrscheinlichkeit. Das Leben auf der Erde ist eigentlich keine einzelne Stichprobe, sondern praktisch gesehen eine unendliche Vielfalt von Organismen, die sich über einen unbegrenzten Zeitraum hinweg entwickeln. Die Evolutionstheorie sagt jedoch nicht anhand von Grundprinzipien voraus, warum sich das irdische Leben so und nicht anders entwickelt hat. Damit will ich nicht sagen, die Evolutionstheorie sei falsch – was sie auch nicht ist –, sondern lediglich, dass sie keine Vorhersagen macht. In diesem Buch werde ich darlegen, dass die Evolution tatsächlich starken Beschränkungen unterliegt – energetischen Beschränkungen. Und diese Beschränkungen erlauben, einige der fundamentalsten Eigenschaften des Lebens anhand von Grundprinzipien vorauszusagen. Bevor wir uns diesen Beschränkungen zuwenden, müssen wir darüber nachdenken, warum die Evolutionsbiologie keine Vorhersagen macht und warum diese energetischen Beschränkungen großenteils unentdeckt geblieben sind, ja, warum wir praktisch gar nicht bemerkt haben, dass es ein entsprechendes Problem gibt. Erst in den letzten Jahren hat sich ganz deutlich gezeigt – und auch nur denjenigen, die die Ergebnisse der Evolutionsbiologie verfolgen –, dass im tiefsten Inneren der Biologie eine gravierende und verstörende Lücke klafft. Für diesen bedauerlichen Sachverhalt ist gewissermaßen die DNA verantwortlich. Ironischerweise begann die moderne Ära der Molekularbiologie und der gesamten damit einhergehenden großartigen DNA-Technologie wohl mit einem Physiker, genauer gesagt mit der Publikation von Erwin Schrödingers Buch What is Life? (deutsch: Was ist Leben?) im Jahr 1944. Schrödinger traf darin zwei zentrale Aussagen: Erstens entziehe sich Leben auf irgendeine Weise der allgemeinen Tendenz des Zerfalls, der Zunahme an Entropie (Unordnung), die im Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik formuliert 29
Teil I: Das Problem
wird. Zweitens liege das Geheimnis, wie Leben jeweils der Entropie entgehe, in den Genen. Laut Schrödinger ist das genetische Material ein „aperiodischer“ Kristall, der keine sich strikt wiederholende Struktur aufweist und demzufolge als eine „Codeschrift“ fungieren könnte – angeblich taucht dieser Begriff hier erstmalig in der biologischen Literatur auf. Schrödinger vermutete, so wie die meisten Biologen seiner Zeit, der betreffende Quasikristall müsse ein Protein sein; doch bereits innerhalb eines hektischen Jahrzehnts hatten Crick und Watson herausgefunden, dass die DNA selbst eine Kristallstruktur besaß. In ihrem zweiten Artikel in Nature von 1953 schrieben sie: „Daher ist die präzise Abfolge der Basen vermutlich der Code, der die genetische Information trägt.“ Dieser Satz ist das Fundament der modernen Biologie. Heute ist Biologie gleichbedeutend mit Information, Genomsequenzen werden in silico dargestellt, und Leben definiert man als Informationstransfer. Genome sind das Tor zu einem Zauberreich. Die Überfülle an Codematerial, bei uns Menschen drei Milliarden Buchstaben, liest sich wie ein experimenteller Roman, eine hin und wieder zusammenhängende Geschichte in kurzen Kapiteln, unterbrochen von Blöcken mit repetitivem Text, Versen, leeren Seiten, Bewusstseinsströmen – und einer merkwürdigen Interpunktion. Nur ein winziger Teil unseres Genoms, weniger als zwei Prozent, codiert für Proteine. Ein größerer Teil ist regulatorisch. Und die Funktionen des Rests geben gern Anlass zu unbeherrschten Auseinandersetzungen zwischen ansonsten höflichen Wissenschaftlern.1 Das spielt aber hier keine Rolle. Unbestritten ist, dass Genome Zehntausende Gene und damit eine Unmenge an komplexer Genregulation umfassen können; damit sind sie in der Lage, alles Nötige zu spezifizieren, um eine Raupe in einen Schmetterling zu verwandeln oder ein Kind in einen Erwachsenen. Vergleicht man die Genome von Tieren, Pflanzen, Pilzen und einzelligen Amöben, so stellt man fest, dass dabei immer die gleichen Prozesse wirksam sind. Wir finden Varianten der gleichen Gene, die gleichen regulatorischen Elemente, die gleichen egoistischen Replikatoren (etwa Viren) und die gleichen Abschnitte mit repetitivem Nonsens in Genomen völlig verschiedener Größen und 30
1 Was ist Leben?
Typen. Zwiebeln, Weizen und Amöben haben mehr Gene und mehr DNA als wir. Die Genomgrößen bei Amphibien wie Fröschen und Salamandern erstrecken sich über zwei Größenordnungen, wobei manche Salamandergenome 40-mal umfangreicher sind als die des Menschen und manche Froschgenome weniger als ein Drittel unseres Genoms betragen. Wollten wir die baulichen Beschränkungen für Genome in einem Schlagwort zusammenfassen, so müssten wir sagen: „Alles ist erlaubt.“ Das ist wichtig. Wenn Genome Informationen sind und Genomgröße und ‑struktur keinen grundlegenden Beschränkungen unterliegen, dann gibt es auch keine Beschränkungen für die Informationen. Das heißt nicht, dass für Genome überhaupt keine Beschränkungen gelten. Offensichtlich gibt es welche. Zu den Kräften, die auf Genome einwirken, gehören die natürliche Selektion ebenso wie Zufallsfaktoren – die zufällige Duplikation von Genen, Chromosomen oder ganzen Genomen, Inversionen, Deletionen sowie das Einwandern parasitischer DNA. Wie sich all das auswirkt, hängt von Faktoren wie der jeweiligen Nische, Konkurrenz zwischen Arten und Populationsgröße ab. Aus unserer Sicht sind all diese Faktoren unvorhersagbar. Sie sind Teil der Umwelt. Für eine präzise spezifizierte Umwelt sind wir vielleicht in der Lage, die Genomgröße einer bestimmten Spezies vorauszusagen. Es leben jedoch unendlich viele Arten in einer unendlichen Vielfalt von Mikroumwelten, vom Inneren anderer Zellen über Großstädte bis hin zur Tiefsee mit ihrem extrem hohen Druck. Statt „alles ist erlaubt“ sollten wir eher sagen: „Alles ist möglich.“ Wir sollten erwarten, dass die Vielfalt der Genome die Fülle von Faktoren abbildet, die in diesen unterschiedlichen Umwelten auf sie einwirken. Genome sagen nicht die Zukunft voraus, sondern erzählen von der Vergangenheit: Sie spiegeln die Erfordernisse der Geschichte wider. Denken wir noch einmal über fremde Welten nach. Wenn Leben gleich Information ist und Information keine Einschränkungen kennt, dann können wir nicht voraussagen, wie Leben auf einem anderen Planeten wohl aussehen würde, abgesehen davon, dass es nicht gegen die Gesetze der Physik verstoßen wird. Sobald irgendeine Form von Erbmaterial – DNA oder etwas anderes – entstanden ist, 31
Teil I: Das Problem
unterliegt der Verlauf der Evolution keinen Beschränkungen durch Infomationen mehr und lässt sich ausgehend von Grundprinzipien nicht mehr vorhersagen. Was sich tatsächlich entwickeln wird, hängt bis ins Kleinste von der Beschaffenheit der Umwelt ab, den Zufällen der Geschichte und dem Einfallsreichtum der Selektion. Doch zurück zur Erde. Was die ungeheure Vielfalt des Lebens in unserer heutigen Zeit angeht, ist diese Aussage schlüssig; doch auf den größten Teil der langen Erdgeschichte trifft sie einfach nicht zu. Für Milliarden von Jahren scheint Leben Einschränkungen unterworfen gewesen zu sein, die sich nicht leicht anhand von Genomen, Geschichte oder Umwelt erklären lassen. Bis vor Kurzem noch war sein ungewöhnlicher Werdegang auf unserem Planeten alles andere als schlüssig, und selbst jetzt gibt es noch viel Lärm um die Details. Ich möchte die sich nun abzeichnende Sichtweise im Folgenden skizzieren und sie älteren Versionen gegenüberstellen, die uns heute falsch erscheinen.
Eine kurze Geschichte des Lebens: die ersten zwei Milliarden Jahre Unser Planet ist rund viereinhalb Milliarden Jahre alt. In seiner Frühgeschichte litt er etwa 700 Millionen Jahre lang unter einem heftigen Asteroidenbeschuss, während sich das noch junge Sonnensystem formierte. Bei einem heftigen frühen Einschlag eines Objekts von Marsgröße bildete sich vermutlich der Mond. Im Unterschied zur Erde, deren aktive Geologie die Erdkruste fortwährend in Bewegung hält, legt die unberührte Oberfläche des Mondes in seinen Kratern noch Zeugnis von diesem frühen Bombardement ab; datieren ließ es sich mithilfe von Gestein, das Apollo-Astronauten von ihrer Reise mitbrachten. Auch wenn es auf der Erde kein vergleichbar altes Gestein gibt, finden sich immer noch einige Hinweise auf die Beschaffenheit des jungen Planeten. Insbesondere die Zusammensetzung von Zirkonen (winzige Kristalle aus Zirkonium-Silikat, die kleiner als Sandkörner sind und sich in zahlreichen Gesteinen finden) lässt darauf schließen, dass es schon viel früher als vermutet Ozeane gab. Aufgrund der 32
1 Was ist Leben?
Urandatierung wissen wir, dass sich einige dieser verblüffend robusten Kristalle vor 4 bis 4,4 Milliarden Jahren bildeten und sich später als detritische Körner in Sedimentgestein ablagerten. Zirkonkristalle sind wie winzige Käfige, die chemische Verunreinigungen einschließen und so die Umwelt widerspiegeln, in der sie sich bildeten. Die chemische Zusammensetzung früher Zirkone legt nahe, dass sie bei relativ niedrigen Temperaturen und in wasserhaltiger Umgebung entstanden. Weit entfernt von den Bildern einer vulkanischen Hölle mit Meeren aus kochender Lava, in denen Künstler ihre Vorstellung vom Erdzeitalter des „Hadaikums“ (von „Hades“) lebhaft zum Ausdruck brachten, verweisen die Zirkonkristalle auf eine friedlichere Wasserwelt mit begrenzter Landfläche. Entsprechend kann auch die alte Idee von einer Uratmosphäre voller Gase wie Methan, Wasserstoff und Ammoniak, die zu organischen Molekülen reagieren, vor der eingehenden Untersuchung der Zirkone nicht bestehen. Spurenelemente wie Cer (auch Cerium genannt) sind in Zirkonkristallen meist in oxidierter Form eingeschlossen. Der hohe Gehalt an Cer in den frühesten Zirkonen lässt vermuten, dass in der Atmosphäre aus Vulkanen ausgestoßene oxidierte Gase vorherrschten, insbesondere Kohlendioxid, Wasserdampf, Stickstoff und Schwefeldioxid. Dieses Gemisch unterscheidet sich in seiner Zusammensetzung gar nicht so sehr von unserer heutigen Luft, abgesehen davon, dass damals noch der Sauerstoff fehlte, der erst viel später – nach dem Auftreten der Fotosynthese – reichlich vorhanden war. Wenn man die Beschaffenheit einer lange versunkenen Welt aus einigen versprengten Zirkonkristallen herausliest, misst man diesen paar Körnchen schon eine Menge Gewicht bei, aber das ist immer noch besser, als überhaupt keine Indizien zu haben. Jene Zeugnisse beschwören jedenfalls ein schlüssiges Bild von einem Planeten herauf, der dem heutigen verblüffend ähnlich war. Mag sein, dass gelegentliche Asteroideneinschläge die Meere teilweise verdunsten ließen, aber die in der Tiefsee lebenden Bakterien blieben davon wahrscheinlich unbeeindruckt – falls sie sich überhaupt schon entwickelt hatten. 33
Teil I: Das Problem
Die frühesten Belege für Leben sind ähnlich dünn; sie stützen sich auf einige der ältesten bekannten Gesteinsformationen in Isua und Akilia im Südwesten Grönlands, die etwa 3,8 Milliarden Jahre alt sind (siehe Zeitleiste in Abbildung 2). Diese Belege liegen nicht als Fossilien oder komplexe, aus lebenden Zellen gewonnene Moleküle („Biomarker“) vor, sondern lediglich als nicht zufällige Anordnung von Kohlenstoffatomen in Grafiten. Kohlenstoff liegt in zwei stabilen Formen oder „Isotopen“ vor, die geringfügig unterschiedliche Massen aufweisen.2 Enzyme (Proteine, die als Katalysator für Reaktionen in lebenden Zellen dienen) zeigen eine schwache Präferenz für die leichtere Form, 12C, die sich darum in organischer Materie eher ansammelt. Man kann sich Kohlenstoffatome als winzige Pingpongbälle vorstellen – die etwas kleineren Bälle springen ein wenig schneller umher, was die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sie auf Enzyme prallen und in organische Kohlenstoffverbindungen umgewandelt werden. Umgekehrt lagert sich die schwerere Form 13C, die nur 1,1 Prozent des gesamten Kohlenstoffs ausmacht, mit höherer Wahrscheinlichkeit in den Ozeanen ab und kann sich ihrerseits ansammeln, wenn Carbonat in Sedimentgesteinen wie Kalkstein ausfällt. Diese winzigen Unterschiede sind so beständig, dass man sie oft als Anzeiger für Leben wertet. Nicht nur Kohlenstoff, sondern auch andere Elemente wie Eisen, Schwefel und Stickstoff werden auf ähnliche Weise von lebenden Zellen aufgeteilt. Eine solche Isotopenfraktionierung ist in den Grafiteinschlüssen von Isua und Akilia dokumentiert. Jeder einzelne Aspekt dieser Forschungen, vom Alter des Gesteins bis zur Existenz der kleinen Kohlenstoffkörner, die auf Leben hinweisen sollen, wird immer wieder angezweifelt. Zudem hat sich he rausgestellt, dass die Isotopenfraktionierung keineswegs auf lebende Materie beschränkt ist, sondern – wenn auch abgeschwächt – durch geologische Prozesse in hydrothermalen Schloten imitiert werden kann. Selbst wenn die Gesteine auf Grönland tatsächlich so alt sind, wie sie scheinen, und wirklich fraktionierten Kohlenstoff enthalten, wäre dies also noch kein Nachweis von Leben. Das wirkt vielleicht entmutigend, doch andererseits ist wohl auch nicht mehr zu erwarten. Ich werde darlegen, dass die Unterscheidung zwischen einem 34
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„lebenden Planeten“ – also einem geologisch aktiven – und einer lebenden Zelle nur eine Frage der Definition ist. Es gibt keine scharfe Trennlinie zwischen den beiden. Die Geochemie geht nahtlos in die Biochemie über. So betrachtet, ist es durchaus stimmig, dass in die-
Abbildung 2: Zeitleiste des Lebens Die Zeitleiste zeigt die ungefähre Datierung einiger Schlüsselereignisse in der frühen Evolution. Viele dieser Daten sind unsicher und umstritten, aber die meisten Indizien sprechen dafür, dass sich Bakterien und Archaeen rund 1,5 bis 2 Milliarden Jahre vor den Eukaryoten entwickelten.
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Teil I: Das Problem
sen alten Gesteinen nicht zwischen Geologie und Biologie zu unterscheiden ist. Wir haben es mit einem lebenden Planeten zu tun, der Leben hervorbringt, und die beiden lassen sich nicht trennen, ohne ein Kontinuum zu unterbrechen. Wenn wir einige Hundert Millionen Jahre weitergehen, werden die Indizien für Leben greifbarer – so solide und erforschbar wie die uralten Felsformationen Australiens und Südafrikas. Aus dieser Zeit gibt es Mikrofossilien, die bereits ganz ähnlich wie Zellen aussehen; der Versuch, sie modernen Taxa zuzuweisen, ist jedoch eine undankbare Aufgabe. Viele dieser winzigen Fossilien sind mit Kohlenstoff ausgekleidet, der erneut verdächtige Isotopensignaturen enthält – dieses Mal jedoch etwas konsistenter und ausgeprägter, was eher auf einen geordneten Stoffwechsel als auf zufällige hydrothermale Prozesse schließen lässt. Und es gibt Strukturen, die Stromatolithen ähneln, jenen kuppelförmigen Kathedralen bakteriellen Lebens, in denen sich Zellen Schicht um Schicht anlagern; die unteren Schichten mineralisieren, versteinern und bilden schließlich markant laminierte Gesteinsformen von etwa einem Meter Höhe. Neben diesen Fossilien gibt es 3,2 Milliarden Jahre alte ausgedehnte geologische Gebilde, die sich über Hunderte Quadratkilometer erstrecken und mehrere Dutzend Meter tief sind. Dabei handelt es sich insbesondere um gebänderte Eisensteine und kohlenstoffreiche Schiefer. In unserer Vorstellung gehören Bakterien und Minerale gemeinhin zu verschiedenen Kategorien – belebt versus unbelebt –, doch tatsächlich wurden zahlreiche Sedimentgesteine in ungeheurem Ausmaß erst durch bakterielle Prozesse gebildet. Bei gebänderten Eisensteinen – mit ihren wunderschönen roten und schwarzen Streifen – entziehen Bakterien dem in den Ozeanen gelösten Eisen Elektronen (Fe2+; dieses „zweiwertige“ Eisen kommt in Abwesenheit von Sauerstoff sehr häufig vor). Zurück bleibt das unlösliche Gerippe in Form von Rost und sinkt in die Tiefe. Warum diese eisenreichen Gesteine gestreift sind, bleibt rätselhaft, doch auch hier verraten Isotopensignaturen die Hand der Biologie. Diese riesigen Ablagerungen verweisen nicht nur auf Leben, sondern auch auf Fotosynthese – nicht die uns vertraute Form der Foto36
1 Was ist Leben?
synthese, die sich um uns herum in den grünen Blättern der Pflanzen und den Algen vollzieht, sondern einen einfacheren Vorläufer. Bei allen Formen der Fotosynthese werden einem unwilligen Donator mithilfe von Lichtenergie Elektronen entzogen. Dann werden die Elektronen mit Kohlendioxid zusammengebracht, sodass organische Moleküle entstehen. Die verschiedenen Formen der Fotosynthese unterscheiden sich nach den jeweiligen Quellen der Elektronen. Diese sind außerordentlich vielfältig; meist aber sind es gelöstes (zweiwertiges) Eisen, Schwefelwasserstoff oder Wasser. In allen Fällen werden Elektronen auf Kohlendioxid übertragen und übrig bleibt Abfall: rostige Eisenablagerungen beziehungsweise elementarer Schwefel oder Sauerstoff. Die bei Weitem härteste Nuss, die es dabei zu knacken gilt, ist Wasser. Vor bis zu 3,2 Milliarden Jahren entzog Leben fast allen anderen Stoffen Elektronen. Wie der Biochemiker Albert Szent-Györgyi bemerkte, ist Leben nichts weiter als ein Elektron, das nach einem Ruheplatz sucht. Wann denn nun der letzte Schritt erfolgte, um auch Wasser Elektronen entziehen zu können, ist umstritten. Einige behaupten, er hätte schon früh in der Evolution stattgefunden; die meisten Indizien sprechen jedoch mittlerweile dafür, dass die „oxygene“ Fotosynthese vor 2,9 bis 2,4 Milliarden Jahren aufkam, also nicht allzu lange vor einer unheilvollen Periode globaler Umwälzungen, der Midlifecrisis der Erde. Auf weltweite Vereisungen, auch „Schneeball Erde“ genannt, folgte vor rund 2,2 Milliarden Jahren die verbreitete Oxidation irdischen Gesteins, die als eindeutiges Zeichen für Sauerstoff in der Luft rostige „Red Beds“ hinterließ – die „Große Sauerstoffkatastrophe“. Selbst die globalen Vereisungen weisen auf einen Anstieg des atmosphärischen Sauerstoffs hin. Durch die Oxidierung von Methan entzog Sauerstoff der Luft ein wirksames Treibhausgas, was die globale Eiszeit auslöste.3 Mit der Evolution der oxygenen Fotosynthese war der Werkzeugkasten des biologischen Stoffwechsels im Wesentlichen komplett. Unser Kurztrip durch fast zwei Milliarden Jahre Erdgeschichte – dreimal länger als die gesamte Entwicklungsgeschichte der Tiere – ist wahrscheinlich nicht in allen Einzelheiten korrekt. Dennoch lohnt es 37
Teil I: Das Problem
sich, einen Moment innezuhalten und zu überlegen, was dieser Überblick über unsere Welt aussagt. Erstens entstand Leben bereits sehr früh, vermutlich vor 3,5 bis 4 Milliarden Jahren, wenn nicht noch eher, in einer Wasserwelt, die unserer heutigen nicht unähnlich war. Zweitens hatten spätestens vor 3,5 bis 3,2 Milliarden Jahren Bakterien schon die meisten Stoffwechselformen erfunden, darunter mehrere Formen der Atmung und der Fotosynthese. Eine Milliarde Jahre lang war die Welt eine Brutstätte für Bakterien, die einen biochemischen Erfindungsreichtum zur Schau stellten, über den man nur staunen kann.4 Die Isotopenfraktionierung legt nahe, dass alle wichtigen Nährstoffzyklen – mit Kohlenstoff, Stickstoff, Schwefel, Eisen und so fort – bereits vor über 2,5 Milliarden Jahren existierten. Doch erst mit der Verbreitung des Sauerstoffs vor 2,4 Milliarden Jahren verwandelte das Leben die Erde so sehr, dass man diese von Bakterien wimmelnde Welt aus dem All als lebenden Planeten hätte ausmachen können. Erst da begann sich in der Atmosphäre eine reaktionsfreudige Mischung aus Gasen wie Sauerstoff und Methan anzusammeln, für deren fortwährenden Nachschub lebende Zellen sorgen. So offenbart sich der biologische Einfluss auf die ganze Erde.
Die Sache mit den Genen und der Umwelt Man weiß schon lange, dass die Große Sauerstoffkatastrophe ein Schlüsselmoment in der Geschichte unseres lebenden Planeten war; die Einschätzung ihres Stellenwerts hat sich in den letzten Jahren jedoch radikal gewandelt, und die neue Sichtweise ist für meine hier vorgebrachte Argumentation von entscheidender Bedeutung. Nach der alten Auffassung ist Sauerstoff der zentrale Umweltfaktor für Leben. Sauerstoff lege nicht fest, was sich evolutionär entwickele, sondern erlaube eine Evolution von weitaus größerer Komplexität – er lasse die Dämme brechen. Beispielsweise sei die Lebensweise von Tieren dadurch gekennzeichnet, dass sie sich umherbewegten, Beute jagten oder selbst gejagt würden. Offenkundig erfordere das eine Menge Energie, und darum könne man sich leicht vorstellen, dass Tiere ohne Sauerstoff nicht lebensfähig wären, der fast eine Zehner38
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potenz mehr Energie zur Verfügung stelle als andere Formen der Atmung.5 Diese Aussage ist so banal, dass es kaum lohnt, sie zu widerlegen. Genau das ist ein Teil des Problems – es reizt einen nicht, weiter darüber nachzudenken. Wir können es als gegeben hinnehmen, dass Tiere Sauerstoff benötigen (auch wenn das nicht immer stimmt) und darüber verfügen; somit ist Sauerstoff ein gemeinsamer Nenner. Die eigentlichen Probleme der Evolutionsbiologie sind demnach die Eigenschaften und das Verhalten von Tieren oder Pflanzen. Oder so scheint es zumindest zu sein. Diese Sichtweise stützt implizit die in Lehrbüchern vertretene Erdgeschichte. Wir gingen im Allgemeinen davon aus, dass Sauerstoff etwas Gesundes und Gutes sei, aber aus Sicht der Biochemie der Urzeit sei er in Wahrheit alles andere als das, nämlich giftig und reaktionsfreudig. Laut den Lehrbüchern übte dieses gefährliche Gas mit steigendem Pegel einen starken Selektionsdruck auf die gesamte mikrobielle Welt aus. Es kursieren krasse Geschichten über ihre endgültige Massenvernichtung – so sprach Lynn Margulis vom „Sauerstoff-Holocaust“. Dass in der fossilen Überlieferung keinerlei Spuren von dieser Katastrophe zu finden seien, müsse uns nicht allzu sehr beunruhigen (wie man uns versichert): Diese Lebewesen seien außerordentlich klein gewesen und das alles sei ja schon sehr, sehr lange her. Der Sauerstoff habe neue Beziehungen zwischen Zellen erzwungen – Symbiosen und Endosymbiosen, bei denen die Zellen das Werkzeug zum Überleben untereinander und ineinander austauschten. Über Hunderte von Jahrmillionen hinweg habe die Komplexität nach und nach zugenommen, da die Zellen nicht nur gelernt hätten, mit dem Sauerstoff umzugehen, sondern auch, von seiner Reaktionsfähigkeit zu profitieren: Sie entwickelten die aerobe Atmung, was ihnen weitaus größere Kräfte verlieh. Diese geräumigen, komplexen aeroben Zellen verpackten ihre DNA in einem speziellen Kompartiment namens Zellkern, dem sie ihre Bezeichnung „Eukaryoten“ verdankten – wörtlich „echter Kern“. Ich wiederhole: So steht es in den Lehrbüchern geschrieben. Und ich werde darlegen, dass diese Geschichte falsch ist. Heute bestehen alle komplexen Lebensformen – alle Pflanzen, Tiere, Algen, Pilze und Protisten (große Zellen wie Amöben) – aus 39
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diesen eukaryotischen Zellen. Wie es weiter heißt, erlangten die Eukaryoten in einer Milliarde Jahren immer mehr Dominanz, in einer Periode, die ironischerweise als the boring billion („die langweilige Milliarde“) bezeichnet wird, da aus dieser Zeit nur wenige Fossilbelege existieren. Dennoch gibt es zwischen 1,6 und 1,2 Milliarden Jahre alte Fossilien von Einzellern, die Eukaryoten bereits sehr stark ähneln; einige davon passen sogar wunderbar in moderne Taxa wie Rotalgen und Pilze. Daran schloss sich vor etwa 750 bis 600 Millionen Jahren eine weitere Periode planetarer Unruhe mit globalen Eiszeiten an. Bald darauf stiegen die Sauerstoffpegel rapide auf ein nahezu modernes Niveau – und in der fossilen Überlieferung tauchten plötzlich die ersten Fossilien von Tieren auf. Die ältesten großen Fossilien mit bis zu einem Meter Durchmesser bilden eine mysteriöse Gruppe symmetrischer Formen, die Farnwedeln ähneln. Die meisten Paläontologen halten sie für filtrierende Tiere, auch wenn einige glauben, dass es sich bloß um Flechten handelt – die Rede ist von der Ediacara-Fauna oder, etwas liebevoller, den Vendobionten. So plötzlich, wie sie gekommen waren, verschwanden dann die meisten dieser Formen bei einem spezifischen Massenaussterben und wurden zu Beginn des Kambriums vor 541 Millionen Jahren – einem unter Biologen ebenso symbolträchtigen Datum, wie es unter Historikern die Jahre 1066 oder 1492 sind – durch das explosionsartige Auftreten besser spezifizierbarer Tiere ersetzt. Riesenhaft und frei beweglich, mit komplexen Augen und schreckenerregender Ausstattung stürmten diese grimmigen Prädatoren und ihre schauerliche gepanzerte Beute auf die evolutionäre Bühne, Zähne und Klauen blutigrot – Darwin in modernem Gewand. Wie viel von diesem Szenario ist in Wirklichkeit falsch? Dem Anschein nach wirkt es plausibel. Doch meiner Meinung nach ist der Subtext nicht stimmig; und das gilt, je mehr wir in Erfahrung bringen, auch für eine Fülle der Details. Der Subtext betrifft das Wechselspiel zwischen Genen und Umwelt. Das gesamte Szenario dreht sich um Sauerstoff, vorgeblich die zentrale ökologische Variable, die genetischen Wandel ermöglichte und Innovationen Tür und Tor öffnete. 40
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Der Sauerstoffpegel stieg zweimal an, bei der Großen Sauerstoffkatastrophe vor 2,4 Milliarden Jahren und erneut gegen Ende der schier endlosen präkambrischen Zeit vor 600 Millionen Jahren (Abbildung 2). Jedes Mal, so sagt man, habe die Zunahme an Sauerstoff Strukturund Funktionsbeschränkungen aufgehoben. Nach der Großen Sauerstoffkatastrophe mit ihren neuen Bedrohungen und Möglichkeiten fand in einer Reihe von Endosymbiosen ein reger Austausch zwischen Zellen statt, der allmählich zur Komplexität echter eukaryo tischer Zellen führte. Als der Sauerstoffpegel vor der kambrischen Explosion ein zweites Mal anstieg, seien die physischen Beschränkungen wie von Zauberhand endgültig beiseitegewischt worden und erstmalig sei tierisches Leben entstanden. Niemand behauptet, der Sauerstoff habe diesen Wandel konkret bewirkt; vielmehr habe er die Landschaft der Selektion verändert. Über die großartigen Panoramen dieser schrankenlosen neuen Landschaft hinweg hätten sich Genome mit ihrem nun endlich uneingeschränkten Informationsgehalt frei ausgebreitet. Das Leben sei voll erblüht und habe jede denkbare Nische auf alle möglichen Weisen besetzt. Diese Auffassung der Evolution lässt sich im Lichte des dialektischen Materialismus betrachten, getreu den Grundsätzen einiger führender Evolutionsbiologen aus der Epoche des Neodarwinismus und der sich daraus entwickelten Synthetischen Theorie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die einander durchdringenden Gegensätze sind die genetischen und die äußeren Einflüsse, auch bekannt als „Anlage“ und „Umwelt“. In der Biologie geht es vor allem um Gene, und bei ihrem Verhalten geht es vor allem um Umwelteinflüsse. Was noch? Nun, in der Biologie geht es nicht nur um genetische und äußere Einflüsse, sondern auch um Zellen und die Beschränkungen ihrer physikalischen Struktur, die, wie wir sehen werden, eher wenig mit Genen oder äußerer Umwelt direkt zu tun haben. Die Vorhersagen, die sich aus diesen unterschiedlichen Weltsichten ergeben, sind verblüffend verschieden. Gehen wir von der ersten Möglichkeit aus und interpretieren Evolution im Hinblick auf Gene und Umwelt. Das geringe Vorkommen von Sauerstoff auf der jungen Erde ist eine bedeutende umweltbe41
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dingte Einschränkung. Fügt man Sauerstoff hinzu, nimmt die Evolution Fahrt auf. Alles Leben, das Sauerstoff ausgesetzt ist, wird auf die eine oder andere Weise davon beeinflusst und muss sich anpassen. Einige Zellen sind glücklicherweise so ausgestattet, dass sie mit aeroben Bedingungen besser zurechtkommen, und vermehren sich stark; andere sterben. Aber es gibt viele verschiedene Mikroumwelten. Ein Mehr an Sauerstoff macht nicht einfach aus der ganzen Welt ein eindimensionales sauerstoffgetränktes Ökosystem – es oxidiert Minerale an Land und gelöste Stoffe in den Ozeanen, und das schafft auch mehr anaerobe Nischen. Die Verfügbarkeit von Nitraten, Nitriten, Sulfaten, Sulfiten und derlei nimmt zu. Da sie alle bei der Zellatmung anstelle von Sauerstoff genutzt werden können, gedeiht die anaerobe Atmung auch in einer aeroben Welt. All dies addiert sich zu zahlreichen verschiedenen Existenzformen, die die neue Welt ermöglicht. Stellen wir uns eine zufällige Mischung aus Zellen in einer gegebenen Umwelt vor. Manche Zellen, etwa Amöben, überleben, indem sie sich andere Zellen physisch einverleiben, was wir als Phagozytose bezeichnen. Andere betreiben Fotosynthese. Wieder andere, zum Beispiel Pilze, nehmen Nährstoffe von extern auf – über Osmotrophie. Unter der Annahme, dass die Zellstruktur keine unüberwindbaren Hindernisse errichtet, würden wir voraussagen, dass diese unterschiedlichen Zelltypen von mehreren verschiedenen bakteriellen Vorfahren abstammen. Eine Urzelle kam zufällig ein bisschen besser mit einer primitiven Form der Phagozytose zurecht, eine andere mit einer einfachen Form von Osmotrophie und wieder eine andere mit der Fotosynthese. Mit der Zeit spezialisierten sich ihre Nachkommen immer mehr und passten sich besser an diese besondere Lebensweise an. Etwas technischer ausgedrückt: Hätte ein steigender Sauerstoff pegel das Aufblühen neuer Lebensformen ermöglicht, so wäre eine polyphyletische Radiation zu erwarten gewesen, bei der sich nicht verwandte Zellen oder Organismen (aus verschiedenen Phyla oder Stämmen) schnell anpassen und viele neue Spezies hervorbringen, die freie Nischen besetzen. Genau dieses Muster ist zu beobachten – 42
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manchmal. Bei der kambrischen Explosion fächerten sich Dutzende unterschiedliche Tierstämme auf, von Schwämmen und Stachelhäutern bis zu Gliederfüßern und Würmern. Diese bedeutenden Radiationen im Tierreich wurden durch entsprechende Radiationen bei Algen und Pilzen sowie bei Protisten wie Wimpertierchen begleitet. Die Ökologie wurde sehr viel komplexer und das wiederum beförderte weitere Umwälzungen. Ob nun speziell die steigende Sauerstoffflut die kambrische Explosion auslöste oder auch nicht – laut allgemeinem Konsens waren es tatsächlich neuartige Umweltbedingungen, die einen Wandel der Selektion bewirkten. Irgendetwas geschah und veränderte die Welt für immer. Was würden wir demgegenüber erwarten, wenn strukturelle Einschränkungen das Geschehen dominierten? Solange die Beschränkung nicht überwunden ist, sollte sich in Reaktion auf neue Umweltbedingungen kaum etwas ändern. Wir würden lange Perioden des Stillstands erwarten, unbeeinflusst von ökologischem Wandel, und nur hin und wieder monophyletische Radiationen. Anders gesagt: Wenn in einem seltenen Fall eine bestimmte Gruppe die ihr eigenen strukturellen Beschränkungen überwindet, wird nur sie sich auffächern, um freie Nischen zu besetzen (wenn auch vielleicht verzögert, bis eine veränderte Umwelt dies zulässt). Natürlich ist auch das zu beobachten. Die kambrische Explosion erlebte die Radiation verschiedener Tiergruppen – aber nicht den mehrfachen Ursprung von Tieren. Alle Tiergruppen gehen auf einen gemeinsamen Vorfahren zurück, genau wie alle Pflanzen. Eine komplexe vielzellige Entwicklung mit einer Trennung von Keimbahn und Soma (Körper) ist schwierig. Die hier wirkenden Beschränkungen haben teilweise mit den Anforderungen an ein präzises Entwicklungsprogramm zu tun, das das Schicksal der einzelnen Zellen streng kontrolliert. Auf einer weiter gefassten Ebene jedoch ist eine vielzellige Entwicklung in gewissem Maße durchaus häufig zu beobachten, etwa in Gruppen wie Algen, Pilzen und Schleimpilzen mit ihren sage und schreibe 30 voneinander unabhängigen Ursprüngen von Vielzelligkeit. Es gibt jedoch einen Bereich, in dem die Einschränkungen der physikalischen Struktur – oder Zellstruktur – so stark zu dominieren scheinen, dass 43
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ihnen alles andere untergeordnet ist: die Entstehung eukaryotischer Zellen (großer komplexer Zellen) aus Bakterien in den Nachwehen der Großen Sauerstoffkatastrophe.
Das schwarze Loch im tiefsten Inneren der Biologie Falls komplexe eukaryotische Zellen tatsächlich in Reaktion auf die Zunahme von atmosphärischem Sauerstoff entstanden wären, so wäre eine polyphyletische Radiation zu erwarten gewesen, mit verschiedenartigen Bakteriengruppen, die unabhängig voneinander komplexere Zelltypen hervorgebracht hätten. Man würde erwarten, dass fotosynthetische Bakterien größere und komplexere Algen hätten entstehen lassen, Osmotrophie betreibende Bakterien Pilze, bewegliche prädatorische Bakterien Phagozyten und so weiter. Erfolgen könnte eine solche Evolution größerer Komplexität aufgrund von standardmäßigen Genmutationen, Genaustausch und natürlicher Selektion oder auch mithilfe der Verschmelzungen und Aufnahmen bei der Endosymbiose, wie Lynn Margulis sie in ihrer bekannten seriellen Endosymbiontentheorie dargelegt hat. Wie auch immer – ohne die Existenz grundlegender Beschränkungen für die Zellstruktur hätte der steigende Sauerstoffpegel zu einer größeren Komplexität führen müssen, unabhängig davon, wie genau diese entstanden wäre. Man hätte davon ausgehen müssen, dass der Sauerstoff die Beschränkungen bei sämtlichen Zellen aufgehoben und eine polyphyletische Radiation in Gang gesetzt hätte, bei der alle möglichen Arten von Bakterien unabhängig voneinander komplexer geworden wären. Doch das ist offensichtlich nicht der Fall. Lassen Sie mich das ein wenig genauer erläutern, denn dieser Punkt ist entscheidend. Würden komplexe Zellen über „standardmäßige“ natürliche Selektion entstehen, wobei Genmutationen Variationen hervorbringen, auf die die natürliche Selektion einwirkt, dann wäre eine bunte Mischung innerer Strukturen zu erwarten, so abwechslungsreich wie die äußere Erscheinung von Zellen. Eukaryotische Zellen weisen in ihrer Größe und Gestalt eine wunderbare Vielfalt auf, von riesigen blattartigen Algenzellen über spindeldürre Neu44
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ronen bis hin zu strahlenförmigen Amöben. Hätten Eukaryoten ihre Komplexität überwiegend durch Anpassungen an verschiedene Lebensweisen in divergenten Populationen erworben, so sollte sich diese lange Entwicklungsgeschichte auch in unterschiedlichen inne-
M N
C
M
ER A
N
B
N M M
N
C
G
V
C
F
D
Abbildung 3: Die Komplexität der Eukaryoten Vier verschiedene eukaryotische Zellen weisen eine äquivalente morphologische Kom plexität auf. A: Tierzelle (Plasmazelle) mit einem großen zentralen Zellkern (N), ausge dehnten inneren, mit Ribosomen besetzten Membranen (endoplasmatisches Retikulum, ER) und Mitochondrien (M). B: das einzellige Augentierchen Euglena, das in vielen Tüm peln vorkommt, mit einem zentralen Zellkern (N), Chloroplasten (C) und Mitochondrien (M). C: von einer Zellwand umschlossene Pflanzenzelle, mit einer Vakuole (V), Chloro plasten (C), einem Zellkern (N) und Mitochondrien (M). D: Zoospore eines Chytridpilzes, der für das Aussterben von 150 Froscharten mitverantwortlich gemacht wird; zu sehen sind der Zellkern (N), Mitochondrien (M), das Flagellum (F) und Gammakörper (G) mit unbekannter Funktion.
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ren Strukturen niederschlagen. Doch wenn wir ins Innere schauen (was wir gleich tun werden), stellen wir fest, dass alle Eukaryoten im Grunde aus ein und denselben Komponenten bestehen. Die meisten von uns könnten eine Pflanzenzelle, eine Nierenzelle und einen Protisten aus dem Dorfteich unter dem Elektronenmikroskop nicht voneinander unterscheiden – sie sehen sich alle bemerkenswert ähnlich. Versuchen Sie es doch einmal (Abbildung 3). Würde ein steigender Sauerstoffpegel Komplexitätsbeschränkungen beseitigen, dann sollten wir aufgrund der „standardmäßigen“ natürlichen Selektion vorhersagen, dass die Anpassung an unterschiedliche Lebensweisen in verschiedenen Populationen zu einer polyphyletischen Radiation führt. Doch wir sehen etwas anderes. Ab Ende der 1960er-Jahre vertrat Lynn Margulis die Auffassung, diese Sichtweise sei ohnehin falsch – eukaryotische Zellen seien nicht über standardmäßige natürliche Selektion entstanden, sondern aufgrund einer Abfolge von Endosymbiosen, wobei eine Reihe von Bakterien so eng kooperiert hätte, dass einige Zellen in das Innere anderer Zellen gelangt seien. Solche Theorien haben ihre Wurzeln im frühen 20. Jahrhundert, bei Richard Altmann, Konstantin Me reschkowski, Paul Portier, Ivan Wallin und anderen. Sie behaupteten, alle komplexen Zellen seien infolge der Symbiose einfacher Zellen entstanden. Ihre Ideen gerieten nicht in Vergessenheit, wurden aber verlacht als „zu fantastisch, um sie derzeit in Gesellschaft höflicher Biologen zu erwähnen“. Als dann in den 1960er-Jahren die molekularbiologische Revolution angebrochen war, befand sich Margulis auf sichererem, wenn auch nach wie vor kontroversem Boden. Mittlerweile wissen wir, dass mindestens zwei Komponenten eukaryotischer Zellen von endosymbiotischen Bakterien abstammen: Mitochondrien (die Kraftwerke in komplexen Zellen), die aus α-Proteobakterien hervorgegangen sind, und Chloroplasten (der Fotosyntheseapparat der Pflanzen), die aus Cyanobakterien entstanden. Von nahezu allen anderen spezialisierten „Organellen“ eukaryotischer Zellen wurde irgendwann ebenfalls behauptet, sie seien Endosymbionten, darunter der Zellkern selbst, die Flimmerhärchen und Geißeln (Fortsätze, die mit rhythmischen, oft wellenartigen 46
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Formveränderungen die Fortbewegung von Zellen bewirken) sowie Peroxisomen (Entgiftungsapparate). Demnach bestehen Eukaryoten laut der seriellen Endosymbiontentheorie aus einer Ansammlung von Bakterien, die sich über Hunderte Millionen Jahre nach der Großen Sauerstoffkatastrophe in einem gemeinschaftlichen Unternehmen zusammenschlossen. Das ist eine romantische Vorstellung – aber die serielle Endosymbiontentheorie macht ebenfalls eine implizite Vorhersage, die zu derjenigen der standardmäßigen Selektion äquivalent ist. Träfe sie zu, so wären polyphyletische Ursprünge zu erwarten – eine bunte Mischung innerer Strukturen, so vielfältig wie das äußere Erscheinungsbild der Zellen. Bei allen Abfolgen von Endosymbiosen, bei denen die Symbiose auf irgendeiner Art von metabolischem Tauschhandel in einer spezifischen Umwelt beruht, würden wir damit rechnen, je nach Umwelt ganz verschiedene Formen der Zellinteraktion vorzufinden. Würden diese Zellen später zu Organellen komplexer eukaryotischer Zellen umfunktioniert, sollten einige Eukaryoten laut der Hypothese eine bestimmte Menge von Komponenten beinhalten, andere hingegen eine andere. Zu erwarten wären alle möglichen Zwischenformen und isolierten Varianten, die in obskuren Schlupfwinkeln wie stehendem Morast lauern. Bis zu ihrem verfrühten Tod nach einem Schlaganfall im Jahr 2011 hielt Margulis unbeirrt an ihrer Meinung fest, dass Eukaryoten ein reichhaltiges und vielfältiges Ensemble aus Endosymbiosen darstellen. Für sie war die Endosymbiose eine Daseinsform, ein zu wenig erforschter „femininer“ Weg der Evolution, mit dem die Kooperation – oder „Vernetzung“, wie sie es nannte – über den unangenehm maskulinen Wettkampf zwischen Jägern und Gejagten triumphierte. In ihrer Verehrung der „wirklichen“ lebenden Zellen kehrte Margulis jedoch der eher trockenen, informationsverarbeitenden Disziplin der Phylogenetik den Rücken zu, die Gensequenzen und ganze Genome untersucht und uns genau zu sagen vermag, welche Verwandtschaftsbeziehungen zwischen verschiedenen Eukaryoten bestehen. Doch genau diese erzählt uns eine ganz andere – und letztlich sehr viel überzeugendere – Geschichte. 47
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Dreh- und Angelpunkt dieser Geschichte ist eine große, mindestens 1000 Mitglieder umfassende Artengruppe einfacher einzelliger Eukaryoten ohne Mitochondrien. Diese Gruppe hielt man einst für ein primitives evolutionäres „Missing Link“ zwischen Bakterien und komplexeren Eukaryoten – also genau die Art von Zwischenform, die die serielle Endosymbiontentheorie voraussagte. Zu der Gruppe gehören die fiesen Darmparasiten der Gattung Giardia, die laut dem britischen Wissenschaftsjournalisten Ed Yong einer bösartigen Träne ähneln (Abbildung 4). Die Parasiten machen ihrem Aussehen alle Ehre, indem sie üblen Durchfall verursachen. Sie besitzen nicht nur einen Zellkern, sondern zwei und sind daher unzweifelhaft Eukaryoten; andere archetypische Merkmale fehlen jedoch, insbesondere Mitochondrien. Mitte der 1980er-Jahre behauptete der revolutionäre Biologe Tom Cavalier-Smith, Giardia und andere relativ einfache Eukaryoten seien vermutlich Überlebende aus der frühesten Periode der eukaryotischen Evolution, noch vor dem Erwerb von Mitochondrien. CavalierSmith akzeptierte zwar, dass Mitochondrien tatsächlich aus bakteriellen Endosymbionten hervorgegangen sind, hatte aber für Margulis’ serielle Endosymbiontentheorie wenig übrig. Stattdessen stellte er sich (und tut es immer noch) die frühesten Eukaryoten als primitive Phagozyten, ähnlich modernen Amöben, vor, die sich vom Verschlingen anderer Zellen ernährten. Die Zellen, die Mitochondrien entwickelten, so seine These, hatten bereits einen Zellkern, ein dynamisches inneres Skelett, das ihnen half, ihre Form zu verändern und sich fortzubewegen, eine Proteinmaschinerie zum Transport im Zell inneren, spezialisierte Kompartimente für innere Verdauung und so weiter. Der Erwerb von Mitochondrien sei natürlich hilfreich gewesen – diese hätten die primitiven Zellen auf Touren gebracht. Dennoch verändere das Frisieren eines Autos nicht seine Struktur – zuerst sei da immer noch das Automobil, bereits ausgestattet mit Motor, Getriebe, Bremsen und allem, was zu einem Auto zwingend dazugehört. Es auf Touren zu bringen, ändere nichts außer der Motorleistung. So sei es auch bei Cavalier-Smiths primitiven Phagozyten: Alles sei bereits vorhanden gewesen außer Mitochondrien, die die Zellen 48
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A
B N
N ER F V
Abbildung 4: Die Archaezoen – das sagenumwobene (aber falsche) Missing Link A: Ein alter und irreführender Baum des Lebens, beruhend auf ribosomaler RNA, mit den drei Domänen der Bakterien, Archaeen und Eukaryoten. Balken 1 markiert die vermeint liche frühe Evolution des Zellkerns, Balken 2 die mutmaßliche spätere Entwicklung von Mitochondrien. Die drei zwischen den Balken abzweigenden Gruppen bilden die Archae zoen, angeblich primitive Eukaryoten, die noch keine Mitochondrien erworben hatten, wie Giardia (B). Mittlerweile wissen wir, dass die Archaezoen keineswegs primitive Euka ryoten sind, sondern von komplexeren Vorläufern abstammen, die bereits Mitochondrien besaßen – in Wahrheit gehören sie zum Hauptteil des eukaryotischen Baumabschnitts (N = Zellkern, ER = endoplasmatisches Retikulum, V = Vakuolen, F = Flagellen).
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lediglich mit mehr Energie versorgt hätten. Falls jemals eine Lehrbuchmeinung über den Ursprung von Eukaryoten existiert hat, die bis heute gilt – dies ist sie. Cavalier-Smith nannte diese frühen Eukaryoten „Archaezoen“ – was so viel wie „alte Tiere“ bedeutet –, um ihr evolutionär vermeintlich hohes Alter hervorzuheben (Abbildung 4). Da mehrere von ihnen Parasiten sind, die Krankheiten hervorrufen, haben ihre Biochemie und Genome das Interesse der medizinischen Forschung geweckt und zu entsprechenden Fördermaßnahmen angeregt. Das wiederum heißt, dass wir heute sehr viel über sie wissen. Im Verlauf der letzten 20 Jahre haben uns ihre Genomsequenzen und detaillierte biochemische Analyse verraten, dass keines der Archaezoen ein echtes Missing Link ist, was bedeutet, dass sie keine echten evolutionären Zwischenformen sind. Vielmehr stammen sie alle von komplexeren Eukaryoten ab, die zuvor schon mit allem Drum und Dran ausgestattet waren – insbesondere mit Mitochondrien. Im Verlauf der Spezialisierung auf das Leben in einfacher strukturierten Nischen verloren sie ihre anfängliche Komplexität. Alle besitzen nach wie vor Strukturen, die, wie man heute weiß, durch reduktive Evolution aus Mitochondrien hervorgegangen sind – entweder Hydrogenosome oder Mitosome. Diese Strukturen haben zwar noch eine Doppelmembran wie die Mitochondrien, weisen ansonsten aber keine große Ähnlichkeit mehr mit ihnen auf; das führte zu der irrigen Annahme, dass Archaezoen nie Mitochondrien besessen hätten. Die Kombination der molekularen und phylogenetischen Daten zeigt jedoch, dass sich Hydrogenosome und Mitosome tatsächlich aus Mitochondrien entwickelt haben und nicht aus einem anderen bakteriellen Endosymbionten (wie von Margulis behauptet). Demzufolge besitzen alle Eukaryoten auf irgendeine oder andere Art und Weise Mitochondrien. Das erlaubt den Schluss, dass auch der letzte gemeinsame Vorläufer der Eukaryoten bereits über Mitochondrien verfügte, wie Bill Martin 1998 vorausgesagt hatte (siehe Einführung). Die Tatsache, dass alle Eukaryoten Mitochondrien haben, erscheint vielleicht trivial, doch in Zusammenhang mit der Weiterentwicklung von Genomsequenzen in der mikrobiellen Welt hat die50
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ses Wissen unser Verständnis von der eukaryotischen Evolution auf den Kopf gestellt. Heute wissen wir, dass alle Eukaryoten von einem gemeinsamen Vorfahren abstammen, der sich in den vier Milliarden Jahren irdischen Lebens per definitionem genau einmal entwickelte. Diesen Punkt kann man nicht oft genug wiederholen, denn er ist entscheidend. Alle Pflanzen, Tiere, Algen, Pilze und Protisten haben einen gemeinsamen Vorfahren – die Eukaryoten sind monophyletisch. Das bedeutet, dass sich Pflanzen nicht aus einer bestimmten Bakterienform entwickelt haben und Tiere oder Pilze aus jeweils anderen. Vielmehr ist eine Population morphologisch komplexer eukaryotischer Zellen bei einer einzigen Gelegenheit entstanden, und alle Pflanzen, Tiere, Algen und Pilze stammen von dieser Gründerpopulation ab. Jeder gemeinsame Vorfahr ist per definitionem eine singuläre Entität – keine einzelne Zelle, sondern eine einzelne Population aus im Wesentlichen identischen Zellen. Das heißt nicht, dass die Entstehung komplexer Zellen ein seltenes Ereignis gewesen sein muss. Im Prinzip hätten komplexe Zellen bei zahlreichen Gelegenheiten entstehen können, wobei sich letztlich nur eine einzige Gruppe durchgesetzt hätte – der ganze Rest wäre aus irgendwelchen Gründen ausgestorben. Ich werde darlegen, dass dies nicht der Fall war, aber zunächst müssen wir die Eigenschaften von Eukaryoten etwas genauer beleuchten. Aus dem gemeinsamen Vorfahren aller Eukaryoten gingen rasch fünf „Supergruppen“ mit unterschiedlichen zellulären Morphologien hervor; die meisten geben auch klassisch ausgebildeten Biologen Rätsel auf. Diese Supergruppen tragen Bezeichnungen wie Unikonta (zu denen die Tiere und Pilze gehören), Excavata, Chromalveolata und Plantae (Landpflanzen und Moose). Die Namen spielen keine große Rolle, aber zwei Dinge sind wichtig: Erstens besteht sehr viel mehr genetische Variation innerhalb jeder einzelnen dieser Supergruppen als zwischen den Vorläufern der jeweiligen Gruppen (Abbildung 5). Das weist auf eine explosionsartige frühe Radiation hin – genauer gesagt, eine monophyletische Radiation, die eine Befreiung von strukturellen Einschränkungen nahelegt. Zweitens war der gemeinsame Vor51
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fahr bereits eine verblüffend komplexe Zelle. Durch den Vergleich von Merkmalen, die bei allen Supergruppen häufig vorkommen, lassen sich die mutmaßlichen Eigenschaften des gemeinsamen Vorläufers rekonstruieren. Jedes Merkmal, das im Grunde sämtliche Spezies aller Supergruppen aufweisen, haben diese wahrscheinlich von jenem Vorläufer geerbt, während diejenigen Merkmale, die nur in einer oder zwei Gruppen auftreten, vermutlich später und nur in dieser Gruppe erworben wurden. Chloroplasten sind ein gutes Beispiel für Letzteres: Sie finden sich nur bei Plantae und Chromalveolata und sind das Resultat bekannter Endosymbiosen. Demnach waren sie kein Bestandteil des eukaryotischen gemeinsamen Vorfahren. Was verrät uns nun die Phylogenetik darüber, welche Bestandteile dieser gemeinsame Vorfahr besaß? Die schockierende Nachricht: Er besaß bereits fast alle anderen. Schauen wir uns einige Komponenten an. Wir wissen, dass der gemeinsame Vorfahr einen Zellkern hatte, der seine DNA enthielt. Der Zellkern besitzt eine außerordentlich komplexe Struktur, die wiederum bei praktisch allen Eukaryoten erhalten geblieben ist. Er wird von einer Doppelmembran umschlossen oder eher von mehreren abgeflachten Aussackungen, die wie eine Doppelmembran aussehen, tatsächlich aber in andere Zellmembranen übergehen. Die Kernmembran ist mit kompliziert gebauten Proteinporen bedeckt und mit einer elastischen Matrix ausgekleidet; weitere Strukturen innerhalb des Zellkerns, etwa der Nukleolus, sind ebenfalls bei allen Eukaryoten erhalten geblieben. Zu betonen ist, dass Dutzende von Kernproteinen in diesen Komplexen noch bei sämtlichen Supergruppen vorhanden sind, ebenso wie die Histonproteine, die die DNA umhüllen. Alle Eukaryoten haben gestreckte Chromosomen, an deren Enden „Telomere“ sitzen, die verhindern, dass die Enden wie die Spitzen von Schnürsenkeln ausfransen. Eukaryoten besitzen „gestückelte Gene“, wobei sich kurze DNA-Abschnitte, die für Proteine codieren, mit langen nicht codierenden Bereichen, sogenannten Introns, abwechseln. Diese Introns werden mithilfe einer Maschinerie herausgeschnitten (Spleißen), die sämtliche Eukaryoten nutzen. Sogar die Position der Introns ist häufig erhalten geblieben – bei praktisch allen Eukaryoten gibt es beim selben Gen Einfügungen an derselben Position. 52
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Abbildung 5: Die „Supergruppen“ der Eukaryoten Stammbaum der Eukaryoten, der auf Tausenden gemeinsamen Genen basiert und die fünf „Supergruppen“ zeigt, wie sie Eugene Koonin 2010 beschrieben hat. Die Zahlen be ziehen sich auf die Anzahl der Gene, die jede einzelne Supergruppe mit LECA („last eukaryotic common ancestor“) teilt, dem letzten eukaryotischen gemeinsamen Vorfahren. Alle Gruppen haben unabhängig voneinander viele andere Gene verloren oder hinzuge wonnen. Die größte Variation ist zwischen einzelligen Protisten zu beobachten. Die Tiere gehören zu den Metazoa oder Vielzellern (fast ganz unten). Bemerkenswerterweise ist die Variation innerhalb der einzelnen Supergruppen sehr viel größer als zwischen den Vorläufern dieser Gruppen, was dafür spricht, dass schon früh eine explosionsartige Ra diation erfolgt ist. Mir gefällt das symbolische schwarze Loch in der Mitte: LECA hatte bereits alle gemeinsamen eukaryotischen Merkmale entwickelt, doch die Phylogenetik verrät uns kaum etwas darüber, wie sich diese ihrerseits aus Bakterien oder Archaeen entwickelt haben – ein schwarzes Loch der Evolution.
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Außerhalb des Zellkerns bietet sich das gleiche Bild. Abgesehen von den einfacheren Archaezoen (die offenkundig weit über die fünf Supergruppen verstreut sind, was ebenfalls verdeutlicht, dass sie ihre frühere Komplexität unabhängig voneinander eingebüßt haben), weisen sämtliche Eukaryoten im Grunde die gleiche Zellmaschinerie auf. Alle besitzen komplexe innere Membranstrukturen wie das endoplasmatische Retikulum und den Golgi-Apparat, die auf die Faltung und den Export von Proteinen spezialisiert sind. Alle besitzen ein dynamisches inneres Cytoskelett, das nach Bedarf alle möglichen Formen annehmen kann. Alle besitzen Motorproteine, die Objekte auf Cytoskelett-Gleisen quer durch die Zelle hin- und zurücktransportieren. Alle besitzen Mitochondrien, Lysosomen, Peroxisomen, eine Import-Export-Maschinerie und gemeinsame Signalsysteme. Die Liste lässt sich noch weiter fortführen. Alle Eukaryoten durchlaufen eine Teilung durch Mitose, bei der Chromosomen mithilfe eines allen gemeinsamen Sortiments von Enzymen auf einer Spindel aus Mikrotubuli (Proteinfilamenten) getrennt werden. Alle vermehren sich geschlechtlich; ihr Lebenszyklus umfasst die Meiose (Reduktionsteilung), bei der die Gameten, also Spermie und Eizelle, gebildet werden, gefolgt von der Verschmelzung derselben. Die wenigen Eukaryoten, die ihre Geschlechtlichkeit verlieren, sterben meist rasch (also „schon“ nach mehreren Millionen Jahren) aus. Vieles hiervon hat uns die mikroskopische Struktur von Zellen schon vor langer Zeit verraten, doch die neue Ära der Phylogenomik beleuchtet zwei Aspekte besonders anschaulich. Erstens sind die strukturellen Parallelen keine oberflächlichen Ähnlichkeiten – äußere Erscheinungen, die den Betrachter hinters Licht führen. Vielmehr legen auch die detaillierten Gensequenzen in Millionen und Milliarden Buchstaben der DNA Zeugnis von ihnen ab, und das versetzt uns in die Lage, einen verzweigten Stammbaum ihrer Vorfahren mit nie dagewesener Präzision zu berechnen. Zweitens bedeutet die Entwicklung der Hochdurchsatz-Gensequenzierung, dass eine Stichprobenerhebung der natürlichen Welt keine mühsamen Versuche mehr erfordert, Zellkulturen anzulegen oder mikroskopische Schnittpräparate herzustellen. Das neue Verfahren ist genauso 54
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schnell und verlässlich wie Shotgun Sequencing. Wir haben mehrere unerwartete neue Gruppen entdeckt, darunter eukaryotische Extremophile, die mit hohen Konzentrationen toxischer Metalle oder hohen Temperaturen zurechtkommen, sowie winzige, aber perfekt geformte Zellen namens Picoeukaryoten, so klein wie Bakterien, aber dennoch mit einem Zellkern im Miniformat und Zwergmitochondrien. Dies alles hat uns ein sehr viel klareres Bild von der Vielfalt der Eukaryoten beschert. All diese neuen Eukaryoten fügen sich bestens in die fünf etablierten Supergruppen ein – sie eröffnen keine neuartigen phylogenetischen Ausblicke. Und inmitten dieser enormen Vielfalt offenbart sich die unwiderlegbare Tatsache, wie verflixt ähnlich sich eukaryotische Zellen sind. Wir finden eben nicht alle möglichen Zwischenformen und nicht verwandten Varianten. Die Vorhersage der seriellen Endosymbiontentheorie, dass es aber so sein sollte, ist falsch. Das stellt uns vor ein weiteres Problem. Der atemberaubende Erfolg der Phylogenetik und die Anwendung der Informationstheorie auf die Biologie macht uns schnell blind für ihre Grenzen. Das Problem besteht darin, dass wir beim Ursprung der Eukaryoten gewissermaßen vor einem phylogenetischen „Ereignishorizont“ stehen. All diese Genome führen zurück zum letzten gemeinsamen Vorfahren der Eukaryoten, der im Grunde sämtliche Merkmale in sich vereinigte. Doch woher kamen all diese Komponenten? Es hat geradezu den Anschein, als sei dieser Vorfahr wie Athene in voller Rüstung dem Haupt des Zeus entsprungen. Wir wissen kaum etwas über Merkmale, die sich vor dem gemeinsamen Vorläufer entwickelten – genau genommen über keines von ihnen. Wie und warum entstand der Zellkern? Woher kam die Geschlechtlichkeit? Warum treten praktisch alle Eukaryoten in zwei Geschlechtern auf? Woher stammen die aufwendigen inneren Membranen? Wie wurde das Cytoskelett so dynamisch und flexibel? Warum halbiert die Teilung der Geschlechtszellen („Meiose“) die Zahl der Chromosomen, indem sie sie erst verdoppelt? Warum altern wir, bekommen Krebs und sterben? Trotz all ihrer Genialität vermag uns die Phylogenetik nur wenig über diese zentralen Fragen der Biologie zu verraten. Nahezu keines der beteiligten Gene 55
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Abbildung 6: Das schwarze Loch im tiefsten Inneren der Biologie Die unten abgebildete Zelle ist Naegleria, die vermutlich ähnlich groß und komplex ist wie LECA. Sie besitzt Zellkern (N), endoplasmatisches Retikulum (ER), Golgi-Komplex (GI), Mitochondrien (Mi), Nahrungsvakuole (Fv), Phagosomen (Ps) und Peroxisomen (P). Oben sieht man ein relativ komplexes Bakterium, Planctomycetes. Das Größenverhältnis zwischen den beiden Zellen ist etwa maßstabsgetreu. Ich will nicht behaupten, dass die Eukaryoten von Planctomycetes abstammen (was sie definitiv nicht tun), sondern nur die Kluft zwischen einem relativ komplexen Bakterium und einem repräsentativen ein zelligen Eukaryoten verdeutlichen. Überlebende evolutionäre Zwischenformen, die Licht ins Dunkel bringen könnten, gibt es nicht (dafür stehen die Totenköpfe).
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(die für sogenannte eukaryotische „Signaturproteine“ codieren) findet sich in Prokaryoten. Und umgekehrt lassen Bakterien praktisch keine Neigung erkennen, irgendeines dieser komplexen eukaryotischen Merkmale zu entwickeln. Man kennt keine evolutionären Zwischenformen zwischen dem morphologisch simplen Zustand aller Prokaryoten und dem verwirrend komplexen gemeinsamen Vorfahren der Eukaryoten (Abbildung 6). All diese Attribute komplexen Lebens entwickelten sich in einem phylogenetischen Nichts, einem schwarzen Loch im tiefsten Inneren der Biologie.
Die fehlenden Schritte zur Komplexität Die Evolutionstheorie macht eine simple Vorhersage: Komplexe Merkmale entwickeln sich über eine Abfolge kleiner Schritte, wobei jeder neue Schritt einen kleinen Vorteil gegenüber dem letzten bietet. Die Selektion der bestangepassten Merkmale ist gleichbedeutend mit dem Verlust der am schlechtesten angepassten Merkmale. Die Selektion eliminiert also kontinuierlich Zwischenformen. Im Laufe der Zeit nähern sich die Merkmale den Gipfeln einer adaptiven Landschaft an, und darum sehen wir anscheinend vollkommene Augen, nicht aber die weniger perfekten, die unterwegs auf der Strecke geblieben sind. Wie Darwin in Die Entstehung der Arten hervorhob, sagt die natürliche Selektion in der Tat voraus, dass Zwischenformen verloren gehen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht allzu verwunderlich, dass es keine überlebenden Zwischenformen zwischen Bakterien und Eukaryoten gibt. Viel verblüffender ist, dass ein und dieselben Merkmale nicht immer und immer wieder neu entstehen – wie zum Beispiel Augen. Wir sehen zwar nicht die historischen Schritte in der Evolution von Augen, aber wir sehen sehr wohl ein ökologisches Spektrum. Von einem rudimentären lichtempfindlichen Fleck auf irgendeinem frühen wurmähnlichen Lebewesen sind Augen unabhängig voneinander bei Dutzenden von Gelegenheiten entstanden. Genau das sagt die natürliche Selektion voraus. Jeder kleine Schritt bietet einen kleinen Vorteil in einer ganz bestimmten Umwelt, wobei die 57
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ganz bestimmte Art des Vorteils von dieser ganz bestimmten Art der Umwelt abhängt. Morphologisch unterschiedliche Augentypen entwickeln sich in verschiedenen Umwelten, so divergent wie die Facettenaugen von Fliegen und die Spiegelaugen von Kammmuscheln oder so konvergent wie die Linsenaugen von Menschen und Tintenfischen, die sich so sehr ähneln. Jede denkbare Zwischenform, von Lochblenden bis zu akkommodierenden Linsen, kommt bei der einen oder anderen Spezies vor. Wir finden sogar Miniaturaugen, komplett mit „Linse“ und „Netzhaut“, bei einigen einzelligen Protisten. Kurz gesagt: Die Evolutionstheorie sagt voraus, dass es multiple – polyphyletische – Ursprünge von Merkmalen gibt, wobei jeder kleine Schritt gegenüber dem vorigen einen kleinen Vorteil bietet. Theoretisch trifft dies auf alle Merkmale zu, und tatsächlich sehen wir im Allgemeinen genau das. So hat sich der aktive Flug in mindestens sechs verschiedenen Fällen bei Fledermäusen, Vögeln, Flugsauriern und mehreren Insekten entwickelt; Vielzelligkeit, wie erwähnt, etwa 30-mal; verschiedene Formen der Endothermie (Warmblütigkeit) bei mehreren Gruppen einschließlich Säugetieren und Vögeln, aber auch bei einigen Fischen, Insekten und Pflanzen.6 Selbst phänomenales Bewusstsein scheint mehr oder weniger unabhängig voneinander bei Vögeln und Säugetieren entstanden zu sein. Wie bei den Augen ist festzustellen, dass unzählige unterschiedliche Formen die verschiedenen Umwelten, in denen sie sich entwickelt haben, widerspiegeln. Gewiss gibt es physikalische Einschränkungen, aber sie sind nicht stark genug, um multiple Ursprünge auszuschließen. Wie sieht es nun mit der Sexualität oder dem Zellkern oder der Phagozytose aus? Hier müsste die gleiche Argumentation greifen. Wenn sich jedes dieser Merkmale durch natürliche Selektion ausgeprägt hat – was zweifellos der Fall war – und alle adaptiven Schritte mit einem kleinen Vorteil einhergingen – was sie zweifellos getan haben –, dann sollten wir multiple Ursprünge von eukaryotischen Merkmalen bei Bakterien entdecken. Doch das tun wir nicht. Es grenzt schon an einen evolutionären „Skandal“, aber bei Bakterien sind bestenfalls Ansätze von eukaryotischen Merkmalen zu erkennen. 58
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Nehmen wir die Sexualität. Man könnte argumentieren, dass Bakterien eine Form von Konjugation praktizieren, die dem Geschlechtsverkehr äquivalent ist, indem sie durch „lateralen“ Gentransfer DNA von einer Spenderzelle auf eine Empfängerzelle übertragen. Bakterien besitzen die vollständige Ausrüstung, um DNA zu rekombinieren; das versetzt sie in die Lage, neue und vielfältige Chromosomen herzustellen, was gemeinhin als entscheidender Vorteil der geschlechtlichen Fortpflanzung gilt. Die Unterschiede sind jedoch riesig. Die sexuelle Fortpflanzung beinhaltet die Verschmelzung von zwei Gameten mit jeweils der Hälfte der normalen Genmenge, gefolgt von wechselseitiger Rekombination im gesamten Genom. Der laterale Gentransfer ist in diesem Sinne weder wechselseitig noch systematisch, sondern Stückwerk. Im Grunde praktizieren Eukaryoten den „totalen Sex“, Bakterien hingegen nur einen halbherzigen Abklatsch davon. Offenkundig muss es für Eukaryoten in irgendeiner Weise vorteilhaft sein, dem totalen Sex zu frönen. In diesem Fall jedoch wäre zu erwarten, dass zumindest einige Bakterienarten etwas Ähnliches betreiben, auch wenn die Mechanismen im Detail andere wären. Soweit wir wissen, hat aber niemals eine etwas Derartiges getan. Gleiches gilt für den Zellkern und die Phagozytose – und mehr oder weniger für alle eukaryotischen Merkmale. Die ersten Schritte dorthin sind nicht das Problem. Wir kennen Bakterien mit aufgefalteten inneren Membranen, andere ohne Zellwand und mit einem einigermaßen dynamischen Cytoskelett, wieder andere mit gestreckten Chromosomen oder mit mehrfachen Kopien ihres Genoms oder von riesenhafter Zellgröße – dies alles sind Anfänge eukaryotischer Komplexität. Doch letztlich machen Bakterien immer vor der barocken strukturellen Vielfalt der Eukaryoten halt und vereinen kaum einmal mehrere komplexe Merkmale in ein und derselben Zelle. Die einfachste Erklärung für die tief greifenden Unterschiede zwischen Bakterien und Eukaryoten ist Konkurrenz. Sobald die ersten echten Eukaryoten entstanden seien, so die Argumentation, hätten sie dank ihrer Wettbewerbsfähigkeit gleich die Nische der morphologischen Komplexität dominiert. Nichts habe gegen sie bestehen kön59
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nen. Mit sämtlichen Bakterien, die „versucht“ hätten, in diese eukaryotische Nische vorzudringen, hätten die hoch entwickelten Zellen, die dort bereits hausten, kurzen Prozess gemacht. So seien die Bakterien, um im Bild zu bleiben, von Konkurrenten verdrängt und ausgelöscht worden. Wir alle sind vertraut mit dem Massenaussterben der Dinosaurier und anderer großen Pflanzen und Tiere, und darum erscheint uns diese Erklärung völlig plausibel. Die kleinen, pelzigen Vorfahren moderner Säugetiere wurden über Jahrmillionen von den Dinosauriern in Schach gehalten, und erst nach dem Untergang der Dinosaurier kam es zur Ausbreitung der modernen Gruppen. Einige gute Gründe sprechen jedoch gegen diese bequeme, aber trügerische Vorstellung. Mikroben lassen sich nicht mit großen Tieren gleichsetzen – ihre Populationen sind um ein Vielfaches größer, und über den lateralen Gentransfer reichen sie nützliche Gene (etwa für Resistenzen gegen Antibiotika) weiter, was sie sehr viel besser vor dem Aussterben schützt. Es gibt keinerlei Hinweis auf ein Aussterben von Mikroorganismen, nicht einmal in den Nachwehen der Großen Sauerstoffkatastrophe. Spuren vom sogenannten „Sauerstoff-Holocaust“, der angeblich die meisten anaeroben Zellen auslöschte, lassen sich nirgendwo finden; weder die Phylogenetik noch die Geochemie liefern irgendwelche Beweise, dass ein solches Aussterben jemals stattgefunden hat. Ganz im Gegenteil – die Anaerobier gediehen prächtig. Noch bedeutsamer ist: Sehr starke Indizien sprechen dafür, dass die Zwischenformen keineswegs von höher entwickelten Eukaryoten verdrängt und ausgelöscht wurden. Sie existieren immer noch. Wir haben bereits mit ihnen Bekanntschaft gemacht – es sind die „Archaezoen“, jene große Gruppe primitiver Eukaryoten, die man fälschlich für ein Missing Link gehalten hat. Sie sind keine echten evolutionären, sondern wahre ökologische Zwischenformen. Sie besetzen die gleiche Nische. Eine evolutionäre Zwischenform ist ein Missing Link – ein Fisch mit Beinen, wie Tiktaalik, oder ein Dinosaurier mit Federn und Flügeln, wie Archaeopteryx. Eine ökologische Zwischenform ist kein echtes Missing Link, sondern ein Beweis dafür, dass es sich in einer bestimmten Nische, einer speziellen Form der Existenz, 60
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leben lässt. Ein Gleithörnchen ist nicht eng mit anderen fliegenden Wirbeltieren wie Fledermäusen oder Vögeln verwandt, sondern demonstriert, dass ein Gleitflug zwischen Bäumen auch ohne voll ausgebildete Flügel möglich ist. Das heißt: Es ist nicht illusorisch, darüber nachzudenken, dass das aktive Fliegen so seinen Anfang genommen haben könnte. Und genau darum sind die Archaezoen so bedeutsam – sie sind ökologische Zwischenformen, die beweisen, dass eine bestimmte Form der Existenz möglich ist. Wie erwähnt, gibt es mindestens 1000 verschiedene Arten von Archaezoen. Diese Zellen sind echte Eukaryoten, die sich an ihre „Zwischennische“ angepasst haben, indem sie einfacher wurden, und nicht etwa Bakterien, die ein wenig komplexer geworden sind – das sei noch einmal ganz deutlich gesagt. In einer Nische lässt sich leben. In zahlreichen Fällen ist sie von morphologisch einfachen Zellen besetzt worden, die dort gedeihen. Diese einfachen Zellen wurden nicht von höher entwickelten Eukaryoten, die bereits existierten und dieselbe Nische besetzt hatten, verdrängt und ausgelöscht. Ganz im Gegenteil: Sie vermehrten sich, eben weil sie einfacher wurden. Statistisch ausgedrückt beträgt die Wahrscheinlichkeit, dass in 1000 Fällen unter sonst gleichen Umständen nur einfache Eukaryoten (statt komplexen Bakterien) diese Nische besetzten, etwa 1:10300 – ein Wert, den auch Zaphod Beeblebrox‘ Unendlicher Unwahrscheinlichkeitsdrive nicht besser hätte generieren können. Selbst wenn wir von einer sehr viel zurückhaltenderen Schätzung ausgehen und annehmen, dass sich Archaezoen in 20 Fällen unabhängig entwickelt und dabei jedes Mal durch die Produktion zahlreicher Tochterspezies weit verbreitet hätten, liegt die Wahrscheinlichkeit immer noch bei 1:1 Million. Entweder wäre dies ein unvorstellbar verrückter Zufall oder die Umstände wären nicht sonst gleich gewesen. Die plausibelste Erklärung lautet, dass irgendetwas an der Struktur der Eukaryoten diesen erleichterte, die Zwischennische zu besetzen, während umgekehrt irgendetwas an der Struktur der Bakterien ihnen die Evolution zu einer größeren morphologischen Komplexität verwehrte. Das erscheint gar nicht so abwegig. Eigentlich stimmt es mit allem anderen, was wir wissen, überein. In diesem Kapitel habe ich immer 61
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von Bakterien gesprochen, doch wie wir in der Einführung erfahren haben, gibt es genau genommen zwei große Gruppen oder Domänen von Zellen, denen ein Zellkern fehlt und die darum als „Prokaryoten“ bezeichnet werden (wörtlich „vor dem Kern“). Diese beiden sind die Bakterien und die „Archaeen“, nicht zu verwechseln mit den Archaezoen, also den einfachen eukaryotischen Zellen, mit denen wir uns soeben befasst haben. Für die verwirrende wissenschaftliche Terminologie kann ich mich nur entschuldigen. Manchmal scheinen dort Alchemisten am Werk zu sein, die alles daransetzen, sich unverständlich auszudrücken. Behalten Sie bitte im Gedächtnis, dass Archaeen und Bakterien Prokaryoten ohne Zellkern sind, wohingegen die Archaezoen primitive Eukaryoten sind, die einen Zellkern besitzen. Eigentlich bezeichnet man die Archaeen zuweilen auch als Archaebakterien oder „alte Bakterien“, im Gegensatz zu Eubakterien oder „echten Bakterien“; demzufolge darf man beide Gruppen mit Fug und Recht Bakterien nennen. Der Einfachheit halber verwende ich die Bezeichnung Bakterien im weiteren Sinne für beide Gruppen – es sei denn, ich muss wichtige Unterschiede zwischen den zwei Domänen erläutern.7 Der entscheidende Punkt ist: Die beiden Domänen der Bakterien und Archaeen sind genetisch und biochemisch extrem verschieden, lassen sich von ihrer Morphologie her jedoch kaum unterscheiden. Beide Typen sind kleine einfache Zellen, denen ein Zellkern und alle anderen eukaryotischen Merkmale, die komplexes Leben definieren, fehlen. Dass beide Gruppen trotz ihrer außerordentlichen genetischen Vielfalt und ihres biochemischen Erfindungsreichtums keine komplexe Morphologie entwickelt haben, vermittelt den Eindruck, als verhindere eine innere physikalische Einschränkung bei den Prokaryoten die Entwicklung von Komplexität, während diese Einschränkung bei den Eukaryoten im Laufe der Evolution auf irgendeine Weise aufgehoben wurde. In Kapitel 5 werde ich darlegen, dass ein seltenes Ereignis die Einschränkung beseitigt hat – die singuläre Endosymbiose zwischen zwei Prokaryoten, die wir in der Einführung erörtert haben. Fürs Erste genügt es festzuhalten, dass irgendeine strukturelle Beschrän62
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kung gleichermaßen auf die beiden großen Domänen der Prokaryoten, die Bakterien und Archaeen, eingewirkt haben muss. Diese zwang beide Gruppen über einen unglaublichen Zeitraum von vier Milliarden Jahren hinweg, eine einfache Morphologie beizubehalten. Nur den Eukaryoten gelang es schließlich, in das Reich der Komplexität vorzustoßen, und das taten sie mihilfe einer explosionsartigen monophyletischen Radiation, die auf der Überwindung jener strukturellen Beschränkungen beruhte, wie auch immer diese ausgesehen haben mögen. Und das scheint nur ein einziges Mal geschehen zu sein – alle Eukaryoten sind miteinander verwandt.
Die falsche Frage So sieht also unsere kurze Geschichte des Lebens aus einer neuen Perspektive aus. Ich will sie kurz zusammenfassen: Die junge Erde unterschied sich nicht dramatisch von unserer heutigen Welt. Es war eine Wasserwelt mit gemäßigtem Klima, in der vulkanische Gase wie Kohlendioxid und Stickstoff vorherrschten. Unserem jungen Planeten fehlte Sauerstoff, aber er war auch nicht reich an Gasen, die der organischen Chemie förderlich sind, wie Wasserstoff, Methan und Ammoniak. Damit sind verstaubte alte Vorstellungen von einer Ursuppe vom Tisch; dennoch entstand Leben ausgesprochen früh, vielleicht vor vier Milliarden Jahren. Allem Anschein nach trieb etwas anderes die Entstehung von Leben an; darauf kommen wir noch zurück. Bald übernahmen Bakterien die Weltherrschaft. Sie besiedelten jeden Zentimeter, jede metabolische Nische; über zwei Milliarden Jahre lang gestalteten sie den Globus um, lagerten Gestein und Minerale in ungeheurem Ausmaß an und gaben Ozeanen, Atmosphäre und Kontinenten ein neues Gesicht. Sie krempelten das Klima durch globale Eiszeiten um; sie oxidierten die Welt, indem sie Meere und Luft mit reaktionsfreudigem Sauerstoff füllten. Doch während dieser unglaublich langen Zeitspanne verwandelten sich weder die Bakterien noch die Archaeen zu etwas anderem – sie hielten stur an ihrer Struktur und ihrer Lebensform fest. Endlose vier Milliarden Jahre lang und den extremen Wandlungen in Umwelt und Ökologie zum Trotz ver63
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änderten Bakterien ihre Gene und ihre Biochemie, aber nie ihre Gestalt. Zu keinem Zeitpunkt entwickelten sie komplexere Lebensformen, etwa von der Art, wie wir sie auf einem anderen Planeten zu entdecken hoffen – intelligente Aliens. Mit einer Ausnahme. Bei einer einzigen Gelegenheit sind hier auf der Erde aus Bakterien Eukaryoten hervorgegangen. Nichts in der fossilen Überlieferung oder der Phylogenetik spricht dafür, dass komplexes Leben mehrmals entstanden ist, aber nur eine Gruppe, die uns vertrauten modernen Eukaryoten, überlebt hat. Vielmehr legt die monophyletische Radiation der Eukaryoten nahe, dass ihr einzigartiger Ursprung durch innere physikalische Einschränkungen bestimmt wurde, die wenig oder gar nichts mit ökologischen Umwälzungen wie der Großen Sauerstoffkatastrophe zu tun hatten. In Teil III untersuchen wir, worin diese Einschränkungen bestanden haben könnten. Zunächst wollen wir nur festhalten, dass jede ernst zu nehmende Erklärung darlegen muss, warum die Evolution komplexen Lebens nur einmal erfolgt ist. Unsere Erklärung muss so überzeugend sein, dass sie glaubwürdig ist, aber nicht so überzeugend, dass wir uns anschließend fragen, warum das Ganze nicht auch bei zahlreichen anderen Gelegenheiten passiert ist. Jeder Versuch, ein singuläres Ereignis zu erklären, lässt die Möglichkeit offen, dass es sich doch nur um einen verrückten Zufall gehandelt hat. Wie können wir das eine oder andere beweisen? Das Ereignis selbst bietet vielleicht keine ausreichenden Anhaltspunkte, aber eventuell bergen seine Nachwehen irgendwelche entscheidenden Hinweise, die gewisse Rückschlüsse auf das zulassen, was vorgefallen ist. Sobald die Eukaryoten ihre bakteriellen Fesseln abgeworfen hatten, wurde ihre Morphologie ungeheuer komplex und vielfältig. Beim Erwerb dieser Komplexität schlugen sie jedoch keine leicht vorhersehbaren Wege ein. Sie entwickelten eine ganze Reihe von Merkmalen, von Geschlechtlichkeit und Altern bis zu Artenbildung, die allesamt nie bei Bakterien oder Archaeen zu beobachten gewesen sind. Die ersten Eukaryoten vereinigten alle diese singulären Merkmale in einem gemeinsamen Vorfahren, der keine ähnlich gearteten Verwandten besaß. Man weiß von keinerlei evolutionären 64
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Zwischenformen zwischen der morphologischen Schlichtheit der Bakterien und jenem ungeheuer komplexen eukaryotischen gemeinsamen Vorfahren, die darauf schließen lassen könnten, wie sich die Geschichte zugetragen hat. Wie aufregend: Die größten Rätsel der Biologie sind noch ungelöst! Offenbaren die besagten Merkmale ein Muster, das uns einen Hinweis auf ihre Entstehung geben könnte? Ich glaube, ja. Dieses Rätsel verweist wieder auf die Frage, die wir zu Beginn des Kapitels gestellt haben: Was lässt sich anhand von Grundprinzipien über die Entwicklungsgeschichte und Eigenschaften des Lebens vorhersagen? Ich habe vermutet, dass Leben Beschränkungen unterliegt, die man mit Genomen, Historie oder Umwelt nicht leicht erklären kann. Nach meiner Argumentation ließe sich diese unergründliche Geschichte nicht im Mindesten voraussagen, wenn wir Leben lediglich als Information auffassen würden. Warum ist schon so früh Leben entstanden? Warum stagnierte seine morphologische Struktur für Milliarden Jahre? Warum blieben Bakterien und Archaeen unbeeindruckt von weltweiten Umwälzungen der Umwelt und Ökologie? Warum sind alle komplexen Lebewesen monophyletisch und bei nur einem einzelnen Ereignis in vier Milliarden Jahren entstanden? Warum bringen Prokaryoten nicht fortwährend oder zumindest gelegentlich Zellen und Organismen von größerer Komplexität hervor? Warum entwickeln Bakterien oder Archaeen keine einzelnen eukaryotischen Merkmale wie Sexualität, Zellkern oder Phagozytose? Warum haben sich all diese Merkmale bei den Eukaryoten angesammelt? Wenn Leben mit Informationen gleichzusetzen ist, dann sind diese Rätsel nahezu unlösbar. Ich glaube, dass sich diese Geschichte allein auf der Basis von Informationen nicht aufklären oder wissenschaftlich vorhersagen ließe. Man müsste die skurrilen Eigenschaften von Leben den Zufällen der Geschichte zuschreiben, den „Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks“. Wir hätten keine Chance, die Merkmale von Leben auf anderen Planeten vorauszusagen. Doch die DNA, jenes betörende Code-Skript, das scheinbar die Antwort auf alle Fragen verheißt, hat uns Schrödingers zweiten zentralen Grund65
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satz vergessen lassen – dass Leben sich der Entropie, der Tendenz des Zerfalls entzieht. In Was ist Leben? bemerkt Schrödinger, wenn er seine Schrift an Kollegen aus der Physik gerichtet hätte, dann hätte er in seiner Argumentation nicht von Entropie, sondern von freier Energie gesprochen. Das Wort „frei“ hat hier eine spezielle Bedeutung, auf die wir im nächsten Kapitel zurückkommen werden. Für den Augenblick genügt es festzuhalten, dass Energie genau das ist, was in diesem Kapitel und auch in Schrödingers Buch nicht berücksichtigt wurde. Dessen griffiger Titel stellt grundsätzlich die verkehrte Frage. Wenn wir Energie ins Spiel bringen, ergibt sich eine Frage, die viel aufschlussreicher ist: Was bedeutet leben? Schrödinger trifft jedoch keine Schuld – das konnte er nicht ahnen. Zu seiner Zeit wusste man kaum etwas über die biologische EnergieWährung. Nun wissen wir bis ins Kleinste, wie sie funktioniert, bis hinunter auf die Ebene der Atome. Es hat sich erwiesen, dass die detaillierten Mechanismen der Energiegewinnung bei lebenden Organismen so universell erhalten wurden wie der genetische Code selbst, und diese Mechanismen erlegen den Zellen grundlegende strukturelle Beschränkungen auf. Wir haben jedoch keine Ahnung, wie sie entstanden sind und inwiefern die biologische Energie die Geschichte des Lebens eingeschränkt hat. Darum geht es in diesem Buch.
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s ist ein kaltblütiger Killer mit berechnender, über Millionen von Generationen hinweg verfeinerter Tücke. Es kann die ausgefeilte Maschinerie der Immunabwehr eines Organismus lahmlegen und ganz unauffällig, wie ein Doppelagent, mit seiner Umgebung verschmelzen. Es kann Proteine auf der Zelloberfläche erkennen und daran binden, so als würde es dorthin gehören, und so Einlass ins Allerheiligste bekommen. Es kann sich zielsicher im Zellkern einnisten und in die DNA seiner Wirtszelle einfügen. Manchmal bleibt es dort jahrelang versteckt, vollkommen unsichtbar. Bei anderen Gelegenheiten reißt es unverzüglich die Kontrolle an sich, sabotiert die biochemi66
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sche Maschinerie der Wirtszelle und lässt Tausende von Kopien von sich selbst herstellen. Diese versieht es mit einer tarnenden Hülle aus Lipiden und Proteinen, transportiert sie an die Zelloberfläche und lässt sie dort aufplatzen, nur um einen neuen Zyklus hinterlistiger Zerstörung zu beginnen. Es kann einen Menschen Zelle für Zelle töten, es kann bei verheerenden Seuchenzügen Mensch um Mensch töten oder über Nacht komplette, sich über Hunderte von Kilometern erstreckende Algenblüten auflösen. Dennoch stufen es die meisten Biologen nicht einmal als lebendig ein. Dem Virus selbst ist das völlig egal. Warum sollte ein Virus nicht lebendig sein? Weil es keinen eigenen aktiven Stoffwechsel hat; es bezieht seine Energie komplett von seinem Wirt. Damit stellt sich die Frage: Ist Stoffwechselaktivität ein notwendiges Attribut des Lebens? Oberflächlich gesehen natürlich, aber warum eigentlich genau? Viren benutzen ihre unmittelbare Umgebung, um Kopien von sich selbst herzustellen. Genauso machen wir es allerdings auch – wir essen andere Tiere oder Pflanzen, und wir atmen Sauerstoff. Sind wir, beispielsweise durch eine Plastiktüte über unserem Kopf, von unserer Umwelt abgeschnitten, sterben wir innerhalb von Minuten. Man könnte sagen, dass wir in unserer Umwelt parasitieren – wie Viren. Pflanzen machen es ebenso. Sie brauchen uns fast so sehr wie wir sie. Damit sie per Fotosynthese ihre eigene organische Materie produzieren (also wachsen) können, brauchen Pflanzen Sonnenlicht, Wasser und Kohlendioxid (CO2). Trockene Wüsten und dunkle Höhlen unterbinden das Wachstum, ebenso wie ein Mangel an CO2. Und Pflanzen leiden eben deshalb keinen Mangel an diesem Gas, weil Tiere (und Pilze und verschiedene Bakterien) ständig organische Materie abbauen, diese verdauen, verbrennen und schließlich als CO2 wieder in die Atmosphäre entlassen. Unsere darüber hinaus gehenden Bemühungen, sämtliche fossilen Brennstoffe auf dieser Erde zu verheizen, mögen für den Planeten furchtbare Folgen haben, doch die Pflanzen können dafür durchaus dankbar sein. Für sie bedeutet CO2 mehr Wachstum. Pflanzen parasitieren also, wie wir, in ihrer Umwelt. So gesehen besteht der Unterschied zwischen Pflanzen, Tieren und Viren in kaum mehr als der Freigebigkeit ihrer Umwelt. Im Inneren 67
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unserer Zellen genießen Viren ein Dasein wie in Abrahams Schoß, in einer Welt, die keine Wünsche offenlässt. Sie können es sich nur leisten, so reduziert zu sein – Peter Medawar bezeichnete Viren einmal als eine „in Protein gewickelte schlechte Nachricht“ –, weil ihre unmittelbare Umgebung so reichhaltig ist. Das andere Extrem bilden Pflanzen, die nur sehr geringe Ansprüche an ihre unmittelbare Umwelt stellen. Sie wachsen fast überall, vorausgesetzt, es gibt Licht, Wasser und Luft. Diese Fast-Bedürfnislosigkeit erfordert jedoch ein kompliziertes Innenleben. Biochemisch gesehen können Pflanzen alles, was sie zum Wachsen brauchen, selbst herstellen, sie greifen es buchstäblich aus der Luft.8 Wir Menschen stehen irgendwo dazwischen. Außer den allgemeinen Ansprüchen an unsere Nahrung brauchen wir auch spezifische Vitamine, ohne die wir scheußliche Krankheiten wie etwa Skorbut entwickeln. Vitamine sind Verbindungen, die wir nicht selbst aus einfachen Ausgangssubstanzen bilden können, weil wir nicht mehr wie unsere Vorfahren die biochemische Ausstattung dafür haben, diese aus dem Nichts zu synthetisieren. Ohne die Hilfe von außen durch die Vitamine wären wir so verloren wie ein Virus ohne Wirt. Wir brauchen also alle die Unterstützung unserer Umwelt, die Frage ist nur: wie viel? Viren sind im Vergleich zu bestimmten DNAParasiten (wie Retrotransposons oder „springenden Genen“ und dergleichen) sogar extrem weit entwickelt, denn diese verlassen niemals die Sicherheit ihres Wirts, kopieren sich aber in kompletten Genomen. Plasmide – typische kleine, unabhängige DNA-Ringe, Träger einer Handvoll Gene – können direkt (über eine dünne Verbindungsröhre) von einem Bakterium in ein anderes übergehen und müssen sich daher nicht gegen die Außenwelt schützen. Sind Retrotransposons, Plasmide und Viren lebendig? Sie alle zeigen eine Art „zweckmäßige“ Raffinesse, eine Fähigkeit, Nutzen aus ihrer unmittelbaren biologischen Umwelt zu ziehen, um sich selbst zu vervielfältigen. Im Grunde besteht zwischen lebendig und nicht lebendig ein Kontinuum; es ist zwecklos, irgendwo eine Trennlinie ziehen zu wollen. Die meisten Definitionen des Lebens konzentrieren sich auf den lebenden Organismus und lassen außer Acht, wie das Leben in seiner Umwelt parasitiert. Nehmen wir etwa die „Arbeitsdefinition“ der 68
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NASA für Leben: Leben ist demnach „ein sich selbst erhaltendes chemisches System, das zur Evolution im darwinschen Sinne befähigt ist“. Schließt das Viren mit ein? Vermutlich nicht, doch das hängt davon ab, wie man den schwammigen Begriff „sich selbst erhaltend“ auslegt. So oder so wird die Abhängigkeit des Lebens von seiner Umwelt nicht exakt hervorgehoben. Die Umwelt erscheint ihrem Wesen nach beim Leben „außen vor“ zu sein, doch wir werden erfahren, dass das keineswegs so ist. Beide gehen stets Hand in Hand. Was passiert, wenn Leben von seiner bevorzugten Umwelt abgeschnitten wird? Wir sterben natürlich: Entweder wir leben, oder wir sind tot. Doch das trifft nicht immer zu. Werden Viren von den Ressourcen einer Wirtszelle abgeschnitten, zerfallen oder „sterben“ sie nicht sofort. Viren sind gegen die Übel dieser Welt relativ unempfindlich. In jedem Milliliter Meerwasser sind zehnmal mehr Viren, die auf ihre Chance warten, als Bakterien. Viren sind ähnlich widerstandsfähig und haltbar wie Bakteriensporen, die in einer Art Ruhezustand viele Jahre lang überdauern können. Sporen harren im Permafrost, ja selbst im Weltall über Jahrtausende ohne jeglichen Stoffwechsel aus. Und nicht nur sie allein: Samen und sogar Tiere wie die Bärtierchen können extreme Bedingungen wie totale Austrocknung, Strahlung, die die für den Menschen tödliche Dosis um das Zehntausendfache übersteigt, enormen Druck am Meeresgrund und sogar das Vakuum im Weltall überstehen – ohne Nahrung und Wasser. Warum fallen Viren, Sporen und Bärtierchen nicht dem allgemeinen Zerfall anheim, wie ihn der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik gebietet? Am Ende tun sie das vielleicht – etwa wenn sie vom direkten Aufprall kosmischer Strahlung zerfetzt oder von einem Bus zermalmt werden –, doch ansonsten sind sie in ihrem unbelebten Zustand fast völlig stabil. Das gibt uns wichtigen Aufschluss über den Unterschied zwischen Leben und Lebendigsein. Sporen sind nicht im technischen Sinne lebendig, auch wenn manche Biologen sie als lebendig einstufen, weil sie das Potenzial zum Weiterleben haben. Sie können wieder zum Leben erwachen, also sind sie nicht tot. Ich sehe nicht ein, warum man Viren da anders betrachten sollte: Auch sie nehmen ihre Selbstvervielfältigung wieder auf, so69
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bald sie sich wieder in passenden Umweltverhältnissen befinden. Desgleichen die Bärtierchen. Beim Leben geht es um Struktur (teils vorgegeben von den Genen und der Evolution), aber das Lebendig sein – das Wachsen und Sichvermehren – definiert sich genauso auch über die Umwelt, über das Wechselspiel von Struktur und Umwelt. Wir wissen ungeheuer viel darüber, wie Gene für die physischen Bestandteile von Zellen codieren, aber weit weniger darüber, inwieweit die physikalischen Einschränkungen die Struktur und Evolution von Zellen vorgeben.
Energie, Entropie und Struktur Der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik besagt, dass die Entropie – „Unordnung“ – zunehmen muss, darum erscheint es auf den ersten Blick so merkwürdig, dass eine Spore oder ein Virus so stabil ist. Entropie ist, im Gegensatz zum Leben, streng definiert und lässt sich messen (um Ihre Frage zu beantworten: Die entsprechende Einheit lautet Joule pro Kelvin pro Mol). Man nehme eine Spore, schlage sie in tausend Stücke, zermahle sie in all ihre molekularen Bestandteile und messe dann die Veränderung der Entropie. Natürlich muss diese angestiegen sein! Was zuvor ein hübsch geordnetes System gewesen war, fähig, wieder zum Wachstum zu erwachen, sobald die Bedingungen geeignet sind, ist nun ein wirrer, nicht funktionaler Haufen von Einzelteilen – was der Definition ausgeprägter Entropie entspricht. Aber nein! Sorgfältigen Messungen des Bioenergetikers Edwin H. Battley zufolge verändert sich das Ausmaß der Entropie dadurch kaum. Warum? Weil nicht nur die Spore zählt, sondern auch ihre Umgebung, und die hat ebenfalls ihr Maß an Unordnung. Eine Spore besteht aus interagierenden Einzelteilen, die genau zusammenpassen. Ölige (Lipid-)Membranen halten Wasser auf natürlichem Wege durch die zwischen Molekülen wirkenden physikalischen Kräfte von sich ab. Ein Gemisch öliger Lipide, das man mit Wasser verschüttelt, wird sich darum spontan als dünne Doppelschicht absetzen, als biologische Membran, die einen Hohlraum mit wässrigem Inhalt einschließt, denn dies ist der stabilste Zustand 70
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(Abbildung 7). Aus ähnlichen Gründen entsteht aus einem Ölfleck auf dem Meer ein dünner Ölteppich, der womöglich über viele Quadratkilometer Leben zerstört. Öl und Wasser lassen sich nicht mischen, heißt es – die physikalischen Anziehungs- und Abstoßungskräfte sorgen in diesem Fall dafür, dass sie lieber jeweils unter sich bleiben. Proteine verhalten sich ganz ähnlich: Solche mit ausgeprägter elektrischer Ladung lösen sich in Wasser, elektrisch ungeladene dagegen interagieren besser mit Ölen. Sie sind hydrophob, wörtlich „Wasser hassend“. Wenn sich ölige Moleküle zusammenfinden und elektrisch geladene Proteine sich in Wasser lösen, wird Energie frei: Es entsteht ein physikalisch stabiler, energetisch günstiger, „komfort abler“ Status. Energie wird in Form von Wärme freigesetzt. Wärme ist die Bewegung von Molekülen, ihr chaotisches Hin und Her. Entropie. Die freigesetzte Wärme bei der Phasenbildung von Öl und Wasser erhöht also die Entropie. Was die Gesamtentropie angeht und unter Berücksichtigung all dieser physikalischen Wechselwirkungen stellt eine geordnete ölige Membran, die eine Zelle umgibt, einen Zustand mit höherer Entropie dar als eine zufällige Mischung aus eigentlich nicht mischbaren Molekülen, auch wenn sie ordentlicher aussieht.9 Zermahlt man eine Spore, steigt die Gesamtentropie kaum an, weil zwar die zerlegte Spore selbst ungeordneter ist, aber ihre Bestandteile nun einen energetisch höheren Zustand innehaben als zuvor – Öle und Wasser sind vermischt, unvermischbare Proteine zusammengepresst. Dieser physikalisch „unkomfortable“ Zustand kostet Energie. Wenn ein physikalisch komfortabler Zustand Energie in Form von Wärme in die Umgebung freisetzt, tut ein physikalisch unkomfortabler Zustand das Gegenteil. Der Umgebung muss Energie entzogen werden, was sie abkühlt und ihre Entropie verringert. Autoren von Horrorgeschichten beschreiben diesen Effekt oft recht gut – fast wörtlich. Poltergeister, Schreckgespenster und auch die „Dementoren“ bei Harry Potter lassen ihre unmittelbare Umgebung erkalten oder sogar einfrieren und saugen die Energie aus ihr heraus, die sie für ihre widernatürliche Existenz benötigen. Betrachtet man all dies am Beispiel der Spore, verändert sich die Gesamtentropie kaum. Auf molekularer Ebene minimiert die Poly71
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Abbildung 7: Aufbau einer Lipidmembran Das Flüssig-Mosaik-Modell im Original, so wie es Singer und Nicholson 1972 abgebildet haben. Proteine schwimmen in einem Meer aus Lipiden, manche darin eingebettet, an dere sich quer durch die gesamte Membran erstreckend. Die Lipide selbst bestehen aus hydrophilen („Wasser liebenden“) Köpfen, typischerweise Glycerinphosphat, und hydro phoben („Wasser hassenden“) Schwänzen, bei Bakterien und Eukaryoten meist Fettsäu ren. Die Membran besteht aus einer Doppelschicht, wobei die nach außen weisenden hydrophilen Köpfe mit dem wässrigen Medium im Zellinneren und zwischen den Zellen interagieren und die nach innen zeigenden hydrophoben Schwänze miteinander. Dieser Zustand ist energetisch günstig und physikalisch „komfortabel“: Trotz ihres geordneten Aussehens erhöht die Bildung von Lipiddoppelschichten die Gesamtentropie, indem sie Wärmeenergie in die Umgebung freisetzt.
merstruktur den Energieaufwand; die überschüssige Energie wird als Wärme in die Umgebung freigesetzt und erhöht deren Entropie. Proteine falten sich von Natur aus in die am wenigsten energieaufwendige Form. Ihre hydrophoben Teile werden dabei in der Tiefe verborgen, mit großem Abstand zum Wasser an der Oberfläche. Elektrische Ladungen ziehen sich an oder stoßen einander ab: Positive Ladungen werden durch ausgleichende negative Ladungen an Ort und Stelle 72
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g ehalten, was die dreidimensionale Struktur des Proteins stabilisiert. Proteine falten sich also spontan in bestimmte Formen, was allerdings nicht immer hilfreich ist. Prionen sind ganz normale Proteine, die sich spontan zu halbkristallinen Strukturen falten und dann als Schablone für weitere neu gefaltete Prionen dienen. Die Gesamtentropie verändert sich dabei kaum. Es kann pro Protein mehrere Möglichkeiten der stabilen Faltung geben, wobei jeweils nur eine für die Zelle brauchbar ist; bezüglich der Entropie aber besteht zwischen ihnen kaum ein Unterschied. Am meisten überrascht vielleicht, dass im Hinblick auf die Gesamtentropie sogar zwischen einer ungeordneten Suppe aus einzelnen Aminosäuren (den Bausteinen der Proteine) und einem wunderschön gefalteten Protein nur ein geringer Unterschied besteht. Das Entfalten des Proteins versetzt dieses wieder in einen Zustand, der der Aminosäurensuppe näherkommt, dabei nimmt seine Entropie zu. Doch zugleich werden die hydrophoben Aminosäuren dem Wasser ausgesetzt, und dieser physikalisch unkomfortable Zustand entzieht der Umgebung Energie, vermindert wieder deren Entropie, kühlt sie ab – man könnte von einem „Poltergeist-Effekt“ sprechen. Die Vorstellung vom Leben als Zustand mit geringer Entropie – weil es stärker organisiert ist als eine Suppe – ist nicht ganz zutreffend. Die Ordnung und Organisation des Lebens wird durch die erhöhte Unordnung der Umgebung mehr als ausgeglichen. Worauf bezog sich also Erwin Schrödinger, als er sagte, ein lebender Organismus entziehe seiner Umwelt fortwährend negative Entropie (womit er Ordnung meinte)? Nun, auch wenn eine Suppe aus Aminosäuren dieselbe Entropie aufweist wie ein vollkommen gefaltetes Protein, ist die Existenz des Proteins doch in zweierlei Hinsicht weniger wahrscheinlich, und deshalb kostet es Energie. Erstens werden sich die Aminosäuren in der Suppe nicht spontan zu einer Kette zusammenfinden. Proteine sind Moleküle aus zu Ketten verbundenen Aminosäuren, doch die Aminosäuren sind an sich nicht reaktiv. Damit sie sich verbinden, müssen lebende Zellen sie zunächst aktivieren; erst dann werden sie chemisch reaktiv und bilden eine Kette. Dabei wird in etwa dieselbe Energiemenge frei, die zunächst für ihre Aktivierung aufgewandt werden musste, also bleibt 73
Teil I: Das Problem
die Gesamtentropie etwa dieselbe. Die bei der Faltung des Proteins freigesetzte Energie geht als Wärme verloren und steigert somit die Entropie der Umgebung. Es besteht somit eine energetische Barriere zwischen zwei gleich stabilen Zuständen. Diese sorgt einerseits dafür, dass die Bildung von Proteinen nicht ohne Weiteres erfolgt, andererseits ist aber auch deren Abbau erschwert. Es braucht einigen Aufwand (und Verdauungsenzyme), um Proteine wieder in ihre Bestandteile zu zerlegen. Akzeptieren wir also, dass die Neigung organischer Moleküle, miteinander zu interagieren und größere Strukturen – ob nun Proteine, DNA oder Membranen – auszubilden, nicht rätselhafter ist als die Neigung sich abkühlender Lava, zu großen Kristallen zu erstarren. Wenn genügend reaktive Bausteine vorhanden sind, so stellen diese größeren Strukturen einfach den stabilsten Zustand dar. Die eigentliche Frage ist: Woher kommen all die reaktiven Bausteine? Das bringt uns zum zweiten Problem. Auf eine Brühe aus Aminosäuren, geschweige denn aus aktivierten Aminosäuren, wird man in unserer heutigen Umwelt kaum stoßen. Ließe man sie einfach he rumstehen, würde sie über kurz oder lang mit dem Luftsauerstoff reagieren und sich in eine Mischung einfacherer Gase zurückverwandeln – Kohlendioxid, Stick- und Schwefeloxide sowie Wasserdampf. Es erfordert also zunächst Energie, diese Aminosäuren zu bilden, und diese Energie wird frei, wenn sie sich wieder zersetzen. So können wir Hunger einige Zeit überleben, indem wir das Protein in unseren Muskeln abbauen und als Energielieferant benutzen. Diese Energie stammt nicht aus den Proteinen selbst, sondern aus dem Verbrennen ihrer Bausteine, der Aminosäuren. Samen, Sporen und Viren sind daher in unserer heutigen, sauerstoffreichen Welt nicht vollkommen stabil. Ihre Bestandteile reagieren im Lauf der Zeit allmählich mit dem Sauerstoff – sie oxidieren –, und das hebt letztlich ihre Struktur und Funktion auf, sodass sie auch unter günstigen Bedingungen nicht wieder zum Leben erwachen können. Samen sterben irgendwann. Verändert man jedoch die Atmosphäre und hält den Sauerstoff fern, sind sie unendlich lange haltbar.10 Da Organismen in der sauerstoffreichen globalen Umwelt „aus dem Gleich gewicht“ geraten sind, neigen sie dazu, zu oxidieren, wenn dies nicht 74
2 Was bedeutet leben?
aktiv verhindert wird. (Im folgenden Kapitel werden wir erfahren, dass dies nicht immer so war.) Unter normalen Umständen (also in Gegenwart von Sauerstoff) kostet es somit Energie, Aminosäuren und andere biologische Bausteine, wie Nukleotide, aus einfachen Molekülen wie Kohlendioxid und Wasserstoff herzustellen. Und es kostet Energie, sie zu langen Ketten zusammenzufügen, zu Polymeren wie den Proteinen und der DNA, selbst wenn die Entropie dadurch kaum eine Änderung erfährt. Genau das macht Lebendigsein aus: neue Komponenten herzustellen und sie alle miteinander zu verbinden, zu wachsen und sich zu vermehren. Wachstum bedeutet auch, Material aktiv in die Zelle und aus der Zelle heraus zu transportieren. All das erfordert einen ständigen Energiefluss – von Schrödinger „freie Energie“ genannt. Dabei dachte er an eine berühmte Gleichung, die Entropie und Wärme mit freier Energie verknüpft. Diese lautet schlicht und einfach: ΔG = ΔH – TΔS Was bedeutet das? Der griechische Buchstabe Δ (Delta) steht für eine Veränderung. ΔG ist die Veränderung der freien Enthalpie oder GibbsEnergie (benannt nach dem zurückgezogen arbeitenden US-amerikanischen Physiker J. Willard Gibbs). Dies ist die Energie, die „frei“ ist, um mechanische Arbeit wie Muskelkontraktionen oder sonstige Abläufe in der Zelle anzutreiben. ΔH ist die Veränderung der Wärme, die an die Umgebung abgegeben wird, diese erwärmt und so deren Entropie steigert. Eine Reaktion, bei der Wärme an die Umgebung abgegeben wird, muss das System selbst abkühlen, weil sich dort nun weniger Energie befindet als vor der Reaktion. Wird also vom System Wärme an die Umgebung abgegeben, hat der Wert ΔH, der sich auf das System bezieht, ein negatives Vorzeichen. T ist die Temperatur. Sie spielt nur im Zusammenhang eine Rolle. Die Freisetzung einer bestimmten Wärmemenge in eine kalte Umgebung hat eine größere Wirkung auf die Umgebung, als wenn exakt dieselbe Wärmemenge in eine warme Umgebung abgegeben würde – der relative Input ist in diesem Fall geringer. ΔS schließlich ist die Veränderung der Entropie 75
Teil I: Das Problem
im System. Der Wert hat ein negatives Vorzeichen, wenn die Entropie im System abnimmt, es also geordneter wird, und ein positives, wenn die Entropie zunimmt und das System chaotischer wird. Damit überhaupt eine Reaktion spontan erfolgt, muss die GibbsEnergie ΔG negativ sein. Dasselbe gilt für die Gesamtheit aller Reak tionen, die das Leben ausmachen. Dazu muss entweder die Entropie im System zunehmen (das System wird weniger geordnet), oder das System verliert Energie in Form von Wärme, oder beides. Die lokale Entropie kann also zurückgehen – das System kann an Ordnung gewinnen –, solange ΔH noch negativer ist, also viel Wärme an die Umgebung abgegeben wird. Unterm Strich gilt, dass als Voraussetzung für Wachstum und Vermehrung – für das Lebendigsein! – irgendeine Reaktion ständig Wärme an die Umgebung abgeben und diese unordentlicher machen muss. Denken wir einmal an die Sterne. Sie bezahlen für ihre geordnete Existenz, indem sie gewaltige Energiemengen an das Universum abgeben. Wir wiederum bezahlen für unser anhaltendes Dasein, indem wir Wärme aus der unaufhörlichen Reaktion abgeben, die die Atmung ist. Wir verbrennen ständig Nährstoffe mit Sauerstoff, wobei Wärme an die Umwelt abgegeben wird. Diese abgegebene Wärme ist kein Abfallprodukt – sie ist notwendig, damit es Leben geben kann. Je größer der Wärmeverlust, desto mehr Komplexität ist möglich.11 Alles, was in einer lebenden Zelle vor sich geht, erfolgt spontan und wird von selbst ablaufen, wenn der richtige Ausgangspunkt vorliegt. ΔG ist immer negativ. Energetisch gesehen geht es ständig bergab. Das bedeutet jedoch, dass der Ausgangspunkt sehr weit oben liegen muss. Der Ausgangspunkt für die Bildung eines Proteins ist eine unwahrscheinliche Ansammlung von genügend aktivierten Aminosäuren auf begrenztem Raum. Diese werden Energie freisetzen, wenn sie sich miteinander zu Proteinen verbinden, und damit die Entropie der Umgebung heraufsetzen. Selbst die aktivierten Aminosäuren werden sich spontan bilden, wenn ausreichend angemessen reaktive Vorläufermoleküle vorhanden sind. Und diese angemessen reaktiven Vorläufer werden sich ebenfalls spontan bilden, wenn die Umgebung hoch reaktiv ist. Letztlich kommt also die Energie für das 76
2 Was bedeutet leben?
Wachstum aus der Reaktivität der Umgebung, die (bei uns in Form von Nährstoffen und Sauerstoff, bei Pflanzen in Form von Photonen) beständig durch lebende Zellen strömt. Lebende Zellen koppeln diesen beständigen Energiestrom ans Wachstum und überwinden ihre Neigung, sich wieder aufzulösen. Das tun sie mithilfe genialer Strukturen, die zum Teil durch Gene festgeschrieben sind. Was auch immer das für Strukturen sein mögen (dazu später mehr), sie sind ihrerseits das Ergebnis von Wachstum und Vermehrung, natürlicher Selektion und Evolution. Nichts davon ist möglich ohne einen kontinuierlichen Energiestrom von irgendwoher in der Umgebung.
Die merkwürdige Einförmigkeit biologischer Energie Organismen benötigen ungeheure Energiemengen, um zu leben. Die in allen lebenden Zellen eingesetzte „Energiewährung“ ist ein Molekül namens ATP, abgekürzt aus „Adenosintriphosphat“ (was uns nicht weiter zu kümmern hat). ATP funktioniert wie die Münzen in einem Spielautomaten – es lässt die Maschine eine Runde laufen, und danach schaltet sie wieder ab. Beim ATP ist die „Maschine“ meist ein Protein. ATP dient als Treibstoff für den Wechsel von einem stabilen Zustand in einen anderen, wie bei einem Kippschalter. Beim Protein bewirkt das Betätigen des Schalters den Wechsel von einem stabilen Zustand in einen anderen. Den Schalter wieder umzulegen, erfordert wiederum ATP, so wie man bei einem Spielautomaten eine weitere Münze einwerfen muss, damit erneut ein Spiel abläuft. Stellen wir uns die Zelle als riesigen Spielsalon vor, vollgestopft mit Proteinmaschinen, die alle auf diese Weise mit ATP-Münzen betrieben werden. Eine einzige Zelle verbraucht rund zehn Millionen ATP-Moleküle pro Sekunde! Wirklich atemberaubend. Der menschliche Körper besteht aus etwa 40 Billionen Zellen, was bedeutet, dass täglich insgesamt etwa 60 bis 100 Kilogramm ATP umgesetzt werden – was ungefähr unserem eigenen Körpergewicht entspricht. Tatsächlich verfügen wir über nur etwa 60 Gramm ATP, daher wissen wir, dass jedes ATP-Molekül ein- bis zweimal pro Minute neu aufgeladen wird. 77
Teil I: Das Problem
Aufgeladen? Wenn ATP „gespalten“ wird, setzt es freie Energie frei, die als Antrieb für die Zustandsänderung dient und auch genügend Wärme freisetzt, um ΔG negativ zu halten. ATP wird meist in zwei ungleiche Teile gespalten, in ADP (Adenosindiphosphat) und anorganisches Phosphat (PO43–). Dieselbe Substanz benutzen wir als Kunstdünger, sie wird meist als Pi (abgekürzt aus englisch inorganic phosphate) dargestellt. Es kostet wiederum Energie, aus ADP und Pi wieder ATP herzustellen. Die Energie aus der Atmung – also jene, die aus der Reaktion von Nährstoffen mit Sauerstoff hervorgeht – dient dazu, aus ADP und Pi ATP zu machen. Mehr nicht. Der endlose Kreislauf ist folgender: ADP + Pi + Energie
ATP
Wir sind da nichts Besonderes. Bakterien wie E. coli können sich alle 20 Minuten teilen. Als Treibstoff für ihre Vermehrung verbrauchen E.-coli-Bakterien etwa 50 Milliarden ATP-Moleküle pro Zellteilung, etwa das Fünfzig- bis Hundertfache der Zellmasse. Das entspricht ungefähr dem Vierfachen unserer ATP-Syntheserate. Dargestellt als Leistung in Watt ist die Zahl nicht minder unglaublich. Wir verbrauchen etwa zwei Milliwatt Energie pro Gramm – oder etwa 130 Watt für eine Person mit einem durchschnittlichen Körpergewicht von 65 Kilogramm, also etwas mehr als eine normale 100-Watt-Glühlampe. Das klingt nicht nach besonders viel, aber pro Gramm ist dies das Zehntausendfache dessen, was die Sonne verbraucht (von der zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur ein winziger Teil in Kernfusion begriffen ist). Das Leben ähnelt weniger einer Kerzenflamme als vielmehr einem Raketen-Abschussgerät. Theoretisch ist Leben also keineswegs rätselhaft. Es widerspricht keinen Naturgesetzen. Die Energiemenge, die lebende Zellen in jeder Sekunde umsetzen, ist zwar astronomisch, aber die Energiemenge, die in Form von Sonnenlicht auf die Erde gelangt, ist um ein Vielfaches größer (weil die Sonne so viel größer ist, obwohl sie weniger Leistung pro Gramm erbringt). Solange ein gewisser Anteil dieser Energie als Treibstoff für biochemische Reaktionen zur Verfügung 78
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steht, sollte das Leben eigentlich in beliebiger Weise ablaufen. Wie wir im vorigen Kapitel am Beispiel der genetischen Information erfahren haben, gibt es offenbar keine grundlegenden Einschränkungen hinsichtlich der Nutzung von Energie, außer der, dass viel Energie benötigt wird. Daher erstaunt es umso mehr, dass das Leben auf der Erde energetisch offensichtlich so extrem eingeschränkt ist. Die Energie des Lebens hat zwei recht überraschende Eigenschaften. Erstens beziehen alle Zellen ihre Energie aus nur einer speziellen Art von chemischer Reaktion, einer sogenannten Redoxreaktion, bei der Elektronen von einem Molekül auf ein anderes übertragen werden. Redox steht für „Reduktion und Oxidation“. Es bezeichnet einfach den Transfer von einem oder mehreren Elektronen von einem Donator auf einen Akzeptor. Wenn der Donator Elektronen abgibt, wird er „oxidiert“. Das geschieht, wenn Substanzen wie etwa Eisen mit Sauerstoff (auch Oxygenium genannt) reagieren – sie geben Elektronen an diesen ab und werden dadurch selbst oxidiert, sie rosten. Das Molekül, das die Elektronen empfängt – in diesem Fall der Sauerstoff –, wird „reduziert“. Bei der Atmung oder beim Verbrennen wird Sauerstoff (O2) zu Wasser (H2O) reduziert, weil jedes Sauerstoffatom zwei Elektronen aufnimmt (geschrieben als O2–) sowie zwei Protonen, die die negative Ladung ausgleichen. Die Reaktion läuft weiter, weil sie Energie in Form von Wärme freisetzt und somit die Entropie erhöht. Jede chemische Reaktion erhöht letztlich die Temperatur der Umgebung und verringert den Energiegehalt des Systems selbst; die Reaktion von Eisen oder Nährstoffen mit Sauerstoff tut das besonders effektiv und setzt viel Energie frei (wie bei einem Feuer). Die Atmung bewahrt einen Teil der aus dieser Reaktion freigesetzten Energie in Form von ATP, zumindest für die kurze Zeit, bis das ATP wieder gespalten wird. Dabei wird die verbleibende Energie, die in der ADP-Pi-Bindung des ATP gespeichert war, als Wärme frei. Letztendlich sind Atmung und Verbrennung dasselbe; die kleine Verzögerung im Mittelteil ist das, was wir als Leben bezeichnen. Da Elektronen und Protonen oft (aber nicht immer) so aneinander gebunden sind, definiert man Reduktionen manchmal als Übertragung eines Wasserstoffatoms. Nachvollziehbarer ist es jedoch, wenn 79
Teil I: Das Problem
A
Abbildung 8: Komplex I der Atmungskette A Eisen-Schwefel-Cluster sind in regelmäßigen Abständen von 14 Ångström oder weni ger angeordnet; Elektronen springen per „Quantentunneln“ (Tunneleffekt von einem Cluster zum nächsten, wobei die meisten den Weg nehmen, den die Pfeile anzeigen. Die Ziffern geben den Abstand in Ångström vom Zentrum eines Clusters zum nächsten an; die Ziffern in Klammern bezeichnen den Abstand von Rand zu Rand. B Der gesamte Komplex I bei Bakterien in der wunderschönen röntgenstrukturanalytischen Darstellung von Leo Sazanov. Der vertikale Matrixarm transferiert Elektronen vom FMN (Flavinmo nocucleotid), bei dem sie in die Atmungskette eintreten, zum Coenzym Q (ein Ubichi non), das sie an den nächsten riesigen Proteinkomplex weitergibt. Man kann die in A dargestellte Kette aus Eisen-Schwefel-Clustern gerade noch im Inneren des Proteins erkennen. C Komplex I beim Säugetier mit denselben Untereinheiten im Inneren, wie man sie bei Bakterien findet, jedoch teilweise überdeckt durch weitere 30 kleinere Unterein heiten, die in dieser aufschlussreichen kryo-elektronenmikroskopischen Aufnahme von Judy Hirst dunkler dargestellt sind.
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2 Was bedeutet leben?
B
C
81
Teil I: Das Problem
man die Sache mehr aus der Position der Elektronen betrachtet. Eine Abfolge von Oxidationen und Reduktionen (Redoxreaktionen) ist letztlich der Transport eines Elektrons entlang einer Kette von Trägermolekülen und damit dem Strom von Elektrizität entlang einem Kabel nicht unähnlich. Genau das geschieht bei der Atmung. Elektronen aus Nährstoffen werden nicht direkt an den Sauerstoff weiter gegeben (wobei sämtliche Energie auf einmal frei werden würde), sondern sozusagen an die erste Stufe einer Treppe – meist eines von mehreren geladenen Eisenatomen (Fe3+), die eingebettet in ein Atmungsprotein sind, oft als Teil eines kleinen anorganischen, als „Eisen-Schwefel-Cluster“ bezeichneten Kristalls (siehe Abbildung 8). Von dort springt das Elektron zu einem ganz ähnlichen Cluster, bei dem aber ein etwas höherer „Bedarf“ an dem Elektron besteht. Während das Elektron von einem Cluster zum nächsten gelangt, wird jeder zunächst reduziert (indem er das Elektron akzeptiert und damit Fe3+ zu Fe2+ wird) und dann wieder oxidiert (indem er das Elektron wieder abgibt und Fe2+ erneut zu Fe3+ wird). Nach etwa 15 oder mehr solcher Einzelschritte erreicht das Elektron den Sauerstoff. Wachstumsformen, die auf den ersten Blick scheinbar nicht viel gemeinsam haben – wie die Fotosynthese bei den Pflanzen und die Atmung bei den Tieren –, sind im Grunde identisch, weil bei beiden Elektronen eine solche „Atmungskette“ entlang transferiert werden. Warum? Das Leben könnte doch durch thermische oder mechanische Energie angetrieben werden, durch Radioaktivität, elektrische Entladungen oder UV-Strahlung, man könnte sich alles Mögliche ausmalen. Aber nein: Jegliches Leben wird durch Redoxreaktionen angetrieben, über erstaunlich ähnliche Atmungsketten. Die zweite überraschende Eigenschaft der Lebensenergie besteht in den Einzelheiten des Mechanismus, durch den Energie in den Bindungen des ATP gespeichert wird. Dabei bedient sich das Leben nicht einfach nur chemischer Reaktionen, sondern betreibt die Bildung von ATP unter Vermittlung durch Protonengradienten über dünnen Membranen. Zu diesem Hilfsmittel und seiner Funktionsweise gleich mehr. Zunächst erinnern wir uns daran, dass dieser merkwürdige Mechanismus eine völlig unerwartete Entdeckung war 82
2 Was bedeutet leben?
– „die wohl abwegigste Idee in der Biologie seit Darwin“, wie der Molekularbiologe Leslie Orgel es ausdrückte. Heute wissen wir erstaunlich viel darüber, wie Protonengradienten erzeugt und angezapft werden. Wir wissen auch, dass Protonengradienten von allen Lebewesen auf der Erde eingesetzt werden – Energie aus Protonen ist so untrennbar mit Leben verbunden wie die DNA höchstselbst, der universelle genetische Code. Doch wir wissen praktisch nichts darüber, wie sich dieser abwegige Mechanismus der biologischen Energiegewinnung entwickelte. Aus welchen Gründen auch immer – offenbar bedient sich das Leben auf der Erde einer erstaunlich überschaubaren und seltsamen Anzahl von energetischen Mechanismen. Spiegelt das einfach die verschlungenen Wege der Entwicklungsgeschichte wider, oder sind diese Methoden so viel besser als alles andere, dass sie sich letztlich durchsetzten? Oder, noch interessanter: Sind sie vielleicht die einzige Möglichkeit? Ich will einmal beschreiben, was jetzt gerade in Ihnen vorgeht. Begeben wir uns mitten hinein in eine Ihrer Zellen, sagen wir, in eine Herzmuskelzelle. Die Energie für deren rhythmische Kontraktionen liefert ATP, das aus den vielen großen Mitochondrien strömt, den Kraftwerken der Zelle. Schrumpfen wir auf die Größe eines ATP-Moleküls und zoomen wir durch eine große Proteinpore in die äußere Membran eines Mitochondriums. Es ist eng hier, wie im Maschinenraum eines Schiffs; so weit das Auge reicht, ist alles voller Proteinmaschinen, die Wärme abgeben. Am Boden wabern kleine Bälle, die aus den Maschinen schießen und innerhalb von Millisekunden schon wieder verschwunden sind: Protonen! Der gesamte Raum vibriert mit dem flüchtigen Erscheinen von Protonen, den positiv geladenen Kernen von Wasserstoffatomen. Kein Wunder, dass man sie kaum sehen kann! Späht man durch eine dieser monströsen Proteinmaschinen ins Innere, die Matrix, erblickt man Erstaunliches. Man befindet sich in einem Hohlraum, einem verwirrenden Wirbel, in dem flüssige Wände in alle Richtungen wabern, allesamt durchsetzt mit riesenhaften ratternden und rotierenden Maschinen. Achtung, nicht den Kopf stoßen! Diese riesigen Proteinkomplexe sitzen tief in den Wänden und wandern träge umher, so als trieben sie im Meer. Doch 83
Teil I: Das Problem
ihre Teile bewegen sich erstaunlich schnell. Manche schwingen so rasch vor und zurück, dass wir die Bewegung gar nicht sehen können, wie die Kolben einer Dampfmaschine. Andere drehen sich um ihre Achse und scheinen jeden Moment abspringen und davonsausen zu wollen, bewegt von rotierenden Antriebsachsen. Zehntausende dieser verrückten, niemals ruhenden Maschinen befinden sich überall um uns herum, surrend, laut und rasend, und sie stehen für … ja, wofür? Sie sind das thermodynamische Epizentrum der Zelle, der Ort der Zellatmung tief im Inneren des Mitochondriums. Wasserstoff wird den molekularen Abbauprodukten unserer Nahrung entzogen und in den ersten und größten dieser riesigen Proteinkomplexe der Atmungskette überführt, Komplex I. Dieser große Komplex besteht aus ganzen 45 Einzelproteinen, jedes eine Kette aus mehreren Hundert Aminosäuren. Wenn Sie als ATP-Molekül so groß wären wie ein Mensch, dann wäre Komplex I ein Wolkenkratzer. Aber kein gewöhnlicher, sondern ein dynamischer Apparat, der wie eine Dampfmaschine arbeitet, eine furchterregende Vorrichtung, die ein Eigenleben führt. Elektronen werden von Protonen abgetrennt und in diesen gewaltigen Komplex eingespeist, am einen Ende aufgesaugt und am anderen wieder ausgespuckt – ganz da drüben, tief in der Membran. Von dort durchwandern die Elektronen zwei weitere riesige Proteinkomplexe, die mit dem ersten zusammen die Atmungskette bilden. Jeder Komplex verfügt über zahlreiche „Redoxzentren“ – in Komplex I sind es ungefähr neun –, die jeweils vorübergehend ein Elektron festhalten (Abbildung 8). Elektronen springen von Zentrum zu Zentrum. Die gleichmäßigen Abstände dieser Zentren legen sogar die Vermutung nahe, dass sie mit einer Art Quantenmagie „tunneln“, also – den Wahrscheinlichkeitsregeln der Quantenmechanik folgend – flüchtig erscheinen und wieder verschwinden. Die Elektronen können nur das jeweils nächste Redoxzentrum sehen, wenn dieses denn nicht zu weit entfernt liegt. Die Abstände misst man hier in Ångström (Å); ein Ångström entspricht ungefähr der Größe eines Atoms.12 Solange jedes Redoxzentrum nicht mehr als 14 Å Abstand zum nächsten und jedes von ihnen eine etwas größere Affinität zum Elek84
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tron hat als das vorige, werden die Elektronen die Stufen aus Redoxzentren eine nach der anderen nehmen, so als würde man einen Fluss auf hübsch regelmäßig angeordneten Trittsteinen überqueren. Sie passieren die drei riesigen Atmungskettenkomplexe, nehmen davon aber nicht mehr Notiz, als wir es müssen, wenn wir den Fluss überqueren. Sie werden durch den kraftvollen Sog des Sauerstoffs mit seinem gewaltigen chemischen Appetit auf Elektronen weitergezogen. Das ist keine Wirkung aus der Distanz – hier geht es ausschließlich um die Wahrscheinlichkeit, nach der sich ein Elektron eher beim Sauerstoff befindet als anderswo. Im Grunde kommt dies einem Draht gleich, der, wie ein Kabel isoliert durch Proteine und Lipide, den Elektronenstrom von den Nährstoffen zum Sauerstoff kanalisiert. Willkommen in der Atmungskette! Alles hier wird durch den elektrischen Strom angetrieben. Die Elektronen hüpfen ihren Weg entlang, stets in Richtung auf den Sauerstoff. Die ratternden, wie Pferdekopf-Ölpumpen in der Landschaft herumstehenden Maschinen lassen sie unbeachtet hinter sich. Doch die riesenhaften Proteinkomplexe stecken voller „Schwellwertschalter“. Befindet sich ein Elektron in einem Redoxzentrum, hat das angrenzende Protein eine bestimmte Struktur. Wandert das Elektron weiter, verschiebt sich die Struktur um ein Stückchen, eine negative Ladung justiert sich nach, eine positive tut es ihr gleich, ganze Netzwerke aus schwachen Bindungen kalibrieren sich neu und das gesamte Gebäude schwenkt in einem Sekundenbruchteil in eine neue Konformation um. Kleine Veränderungen an einer Stelle bewirken, dass sich anderswo im Protein durchgängige Kanäle auftun. Dann trifft ein anderes Elektron ein, und die gesamte Maschinerie kehrt in den vorherigen Zustand zurück. Dieser Vorgang wiederholt sich zigmal pro Sekunde. Die Struktur dieser Atmungskettenkomplexe ist bis auf wenige Ångström genau, ja fast bis zur Atomebene hinunter bekannt. Wir wissen, wie Protonen an immobilisierte Wassermoleküle binden, die durch Ladungen am Protein fixiert sind. Wir wissen, wie diese Wassermoleküle umschwenken, wenn sich die Kanäle neu konfigurieren. Wir wissen, wie Protonen mittels dynamischer Spalten, die sich in rascher Folge auftun und wieder schließen, von einem 85
Teil I: Das Problem
Wassermolekül zum nächsten weitergegeben werden, ein gefährlicher Weg durch das Protein, das sofort nach Durchtritt des Protons wieder zufällt und dessen Rückweg so abschneidet, als wäre dies Indiana Jones und das Protein des Todes. Diese gewaltige, ausgeklügelte, bewegliche Maschinerie bewirkt nur das eine: Sie transferiert Protonen von einer Seite der Membran zur anderen. Für jedes Elektronenpaar, das Komplex I der Atmungskette passiert, treten vier Protonen durch die Membran. Das Elektronenpaar wandert dann direkt in den zweiten Komplex (technisch gesehen Komplex III, Komplex II ist ein alternativer Einstiegspunkt), der vier weitere Protonen über die Barriere schafft. Im letzten großen Komplex der Atmungskette schließlich finden die Elektronen ihr Nirvana (den Sauerstoff), aber nicht ohne dass zuvor wiederum zwei Protonen durch die Membran geschleust wurden. Um zwei Elektronen aus der Nahrung zu gewinnen, werden zehn Protonen durch die Membran transportiert. Und das ist alles (Abbildung 9). Etwas weniger als die Hälfte der Energie, die der Strom der Elektronen zum Sauerstoff freisetzt, wird im Protonengradienten gespeichert. All die Energie, all die Genialität, all die riesigen Proteinstrukturen – all das dient nur dazu, Protonen durch die innere Mitochondrienmembran zu pumpen. Ein Mitochondrium enthält Zehntausende Kopien jedes Atmungskettenkomplexes. Eine einzelne Zelle enthält Hunderte oder gar Tausende von Mitochondrien. Unsere 40 Billionen Zellen enthalten mindestens eine Billiarde Mitochondrien, mit einer gefalteten Oberfläche von insgesamt etwa 14 000 Quadratmetern, was etwa zwei Fußballfeldern entspricht. Ihre Aufgabe besteht darin, Protonen zu pumpen, und gemeinsam pumpen sie mehr als 1021 davon – fast so viele, wie es Sterne im bekannten Universum gibt – pro Sekunde. Nun ja, das ist nur die halbe Arbeit. Die andere Hälfte besteht darin, diese Energie wieder abzugeben, damit ATP hergestellt werden kann.13 Die Mitochondrienmembran ist nahezu undurchlässig für Protonen – daher all die dynamischen Kanäle, die wieder zufallen, sobald das Proton hindurchgetreten ist. Protonen sind winzig – sie sind nichts als der Kern des kleinsten Atoms, des Wasserstoff atoms –, daher ist es schon eine ziemliche Leistung, sie auszusperren. 86
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A
B
Abbildung 9: Die Arbeitsweise der Mitochondrien A Elektronenmikroskopische Aufnahme von Mitochondrien; erkennbar die aufgefältel ten inneren Membranen (Cristae), an denen die Atmung erfolgt. B Schematische Darstel lung der Atmungskette mit den drei großen Proteinkomplexen in der inneren Membran. Elektronen (e–) treten auf der linken Seite ein und passieren dann drei große Proteinkom plexe, bis sie den Sauerstoff erreichen. Der erste ist Komplex I (eine detailliertere Dar stellung bietet Abb. 8); anschließend durchwandern die Elektronen die Komplexe III und IV. Komplex II (nicht dargestellt) ist ein separater Einstiegspunkt in die Atmungskette und gibt Elektronen direkt an Komplex III weiter. Der kleine Kreis innerhalb der Membran ist Ubichinon, das Elektronen von den Komplexen I und II zum Komplex III transportiert; das locker an die Membranoberfläche gebundene Protein ist Cytochrom c, das Elektro nen von Komplex III zu Komplex IV schafft. Der Elektronenstrom zum Sauerstoff wird durch den Pfeil wiedergegeben. Dieser Strom treibt die Ausschleusung von Protonen (H +) durch die drei Atmungskettenkomplexe an (Komplex II gibt Elektronen weiter, betätigt sich aber nicht als Protonenpumpe). Für jedes Elektronenpaar, das die Atmungskette durchläuft, werden von Komplex I vier, von Komplex III ebenfalls vier und von Kom plex IV zwei Protonen durch die Membran gepumpt. Der Protonenrückfluss durch die ATP-Synthase (rechts im Bild) treibt die Synthese von ATP aus ADP und Pi an.
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Protonen dringen mehr oder weniger ungehindert durch Wasser, darum muss die Membran auch komplett wasserundurchlässig sein. Protonen sind zudem geladen, sie tragen eine einzelne positive Ladung. Werden Protonen auf die eine Seite einer dichten Membran gepumpt, bewirkt das zweierlei: Erstens erzeugt es unterschiedliche Protonenkonzentrationen auf beiden Seiten der Membran und zweitens erzeugt es einen Unterschied in der elektrischen Ladung; die Außenseite ist dann positiv, die Innenseite negativ geladen. Es besteht also eine elektrochemische Potenzialdifferenz über der Membran, die sich auf rund 150 bis 200 Millivolt beläuft. Da die Membran sehr dünn (etwa 6 nm) ist, wirkt diese Spannung über eine kurze Distanz sehr intensiv. Von der Größe eines ATP-Moleküls aus betrachtet herrscht in der Umgebung der Membran eine elektrische Feldstärke von 30 Millionen Volt pro Meter – so viel wie bei einem Blitzschlag, etwa das Tausendfache der Kapazität des häuslichen Stromnetzes. Dieses gewaltige elektrische Potenzial, auch als protonenmotorische Kraft bezeichnet, treibt die beeindruckendste Protein-Nanomaschine von allen an, die ATP-Synthase (Abbildung 10). „Motorisch“ bezieht sich auf Bewegung, und die ATP-Synthase ist auch wirklich ein Rotationsmotor, in dem der Protonenstrom eine Antriebsachse dreht, die ihrerseits einen katalytisch aktiven Kopf antreibt. Diese mechanischen Kräfte treiben die Synthese von ATP an. Das Protein arbeitet wie eine Wasserturbine, wobei Protonen, die jenseits der Membranbarriere in einem Reservoir aufgestaut sind, durch die Turbine strömen wie bergab schießendes Wasser und den Rotations motor antreiben. Das ist durchaus keine malerische Umschreibung, sondern gibt präzise wieder, was vor sich geht; allerdings ist es schwierig, die verblüffend komplexe Struktur dieses Proteinmotors darzustellen. Wir wissen noch immer nicht ganz genau, wie er funktioniert – wie jedes Proton an den in die Membran eingebetteten CRing bindet, wie elektrostatische Wechselwirkungen diesen Ring dazu bringen, nur in eine Richtung zu rotieren, wie der sich drehende Ring die Antriebsachse dreht und damit Konformationsveränderungen im katalytischen Kopf herbeiführt, wie die sich in diesem 88
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Abbildung 10: Struktur der ATP-Synthase Die ATP-Synthase ist ein außergewöhnlicher Rotationsmotor, der mit einem Ende in der Membran fixiert ist (unten). Diese wundervolle künstlerische Interpretation von David Goodsell ist maßstabsgetreu und zeigt die Größe eines ATP-Moleküls und sogar von Pro tonen im Verhältnis zur Membran und zum Protein selbst. Der Protonenstrom durch eine Membran-Untereinheit (Pfeil unten links) treibt die Rotation des gestreiften Motors (F 0 Untereinheit) in der Membran sowie die Antriebsachse (Stiel) darüber (kreisförmiger Pfeil) an. Die Rotation der Antriebsachse erzwingt Veränderungen in der Konformation des katalytisch aktiven Kopfes (F1-Untereinheit) und treibt die Synthese von ATP aus ADP und Phosphat an. Der Kopf selbst wird durch den „Stator“ (der starre Stab auf der linken Seite) von der Drehung abgehalten und fixiert. Protonen unterhalb der Membran sind an Wassermoleküle gebunden dargestellt (Hydroniumionen, H3O +).
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Kopf öffnenden und schließenden Spalten ADP und Pi umklammern und mechanisch zusammenzwingen, sodass ein neues ATP-Molekül entsteht. Dies ist präzise Nano-Ingenieurskunst vom Allerfeinsten, eine geradezu magische Vorrichtung, und je mehr wir darüber erfahren, desto wundersamer wirkt sie. Manche sehen in ihr den Beweis für die Existenz Gottes. Ich nicht. Ich erkenne darin das Wunder der natürlichen Selektion. Aber wundersam ist diese Maschine, daran besteht kein Zweifel. Für jeweils zehn Protonen, die die ATP-Synthase passieren, vollzieht der rotierende Kopf eine komplette Drehung, und es werden drei neu gefertigte ATP-Moleküle in die Matrix freigesetzt. Der Kopf kann sich mehr als hundertmal in der Sekunde drehen. Wie schon erwähnt, gilt das ATP als universelle „Energiewährung“ des Lebens. Die ATP-Synthase und die protonenmotorische Kraft gibt es ebenfalls bei allen Lebewesen. Bei wirklich allen! Man findet die ATPSynthase bei praktisch allen Bakterien, allen Archaeen und allen Eukaryoten (den drei Domänen des Lebens, die wir bereits kennengelernt haben). Eine Ausnahme bilden nur einige wenige Organismen, die ihre Energie aus der Gärung beziehen. Die ATP-Synthase ist so universell wie der genetische Code selbst. In meinem Buch sollte die ATP-Synthase genauso das Leben symbolisieren wie die DNA-Doppelhelix. Ach, ja, es ist ja mein Buch! Also tut sie es auch.
Ein wichtiges biologisches Rätsel Das Konzept von der protonenmotorischen Kraft stammt von einem der stillsten Revolutionäre der Wissenschaft im 20. Jahrhundert, Peter Mitchell. Still allerdings nur deshalb, weil seine Disziplin, die Bioenergetik, in der DNA-begeisterten Welt der Forschung immer recht wenig Beachtung fand (und findet). Die DNA-Begeisterung setzte in den frühen 1950er-Jahren mit Francis Crick und James Watson in Cambridge ein, wo zur selben Zeit auch Mitchell wirkte. Mitchell erhielt ebenfalls einen Nobelpreis (1978), aber seine Ideen stießen anfangs auf heftigen Gegenwind. Im Gegensatz zur Doppelhelix, 90
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die Watson sofort für „so schön, dass sie einfach wahr sein muss“ erklärte – womit er richtig lag –, waren Mitchells Ideen äußerst schwer nachvollziehbar. Mitchell selbst war brillant, aber manchmal aufbrausend und streitlustig. Anfang der 1960er-Jahre musste er seine Stellung an der Edinburgh University wegen Magengeschwüren aufgeben, kurz nachdem er 1961 seine „chemiosmotische Hypothese“ (wie zuvor Crick und Watson ihren berühmteren Artikel) im Fachjournal Nature veröffentlicht hatte. Den Begriff „chemiosmotisch“ verwendete Mitchell für den Protonentransfer durch eine Membran. Es war typisch für ihn, dass er das Wort „osmotisch“ in der Bedeutung des griechischen Ursprungswortes (osmos, „Stoß, Schub“) benutzte und nicht im Sinne der „Osmose“, also des Durchtritts von Wasser durch eine semipermeable Membran. Die Atmung stößt Protonen gegen ein Konzentrationsgefälle auf die andere Seite einer dünnen Membran, und darum ist sie chemiosmotisch. Mit privaten Mitteln und praktischer Begabung richtete Mitchell innerhalb von zwei Jahren eine Villa bei Bodmin in Cornwall als Labor und Wohnhaus her und eröffnete dort 1965 das Glynn Institute. In den nächsten 20 Jahren überprüfte er mit einer Handvoll anderer führender Bioenergetiker die chemiosmotische Hypothese auf Herz und Nieren – was die Beziehungen zwischen den Beteiligten teilweise arg strapazierte. Diese Periode ist als the ox phos wars („der Oxphos-Krieg“) in die Annalen der Biochemie eingegangen (ox phos steht für die oxidative Phosphorylierung, also den Mechanismus, über den der Elektronenstrom zum Sauerstoff an die Synthese des ATP gekoppelt ist). Man mag es kaum glauben, aber noch in den 1970er-Jahren war nichts von dem bekannt, was ich auf den letzten Seiten beschrieben habe. Viele Einzelheiten werden noch heute intensiv erforscht.14 Warum stießen Mitchells Ideen auf so viel Widerstand? Das lag zum Teil daran, dass sie so ganz und gar überraschend waren. Die Struktur der DNA ist so wunderbar nachvollziehbar – die beiden Stränge dienen gegenseitig als Schablone, und die Buchstabensequenzen codieren für die Aminosäurensequenzen in einem Protein. Die chemiosmotische Hypothese dagegen wirkte vollkommen ver91
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quast; Mitchell hätte ebenso gut Marsianisch sprechen können. Leben ist Chemie, das weiß jeder. ATP geht aus der Reaktion von ADP mit Phosphat hervor, also brauchte es lediglich die Übertragung eines Phosphatmoleküls von einer reaktiven Zwischenstufe auf das ADP. In Zellen wimmelt es geradezu von reaktiven Zwischenstufen, also musste man nur die richtige finden. So glaubte man jedenfalls jahrzehntelang. Dann kam Mitchell mit flackerndem Blick daher, offensichtlich ein Besessener, der chemische Gleichungen niederschrieb, die kein Mensch verstand, und verkündete, bei der Atmung ginge es überhaupt nicht um Chemie, die von allen gesuchte reaktive Zwischenstufe gebe es überhaupt nicht und der Mechanismus, der den Elektronenfluss an die ATP-Synthese koppele, sei tatsächlich ein Protonengradient über einer undurchlässigen Membran, die protonenmotorische Kraft. Kein Wunder, dass er die Leute gegen sich aufbrachte! Derlei ist Stoff für Legenden: ein schönes Beispiel für die manchmal überraschenden Wege der Wissenschaft, entsprechend Thomas Kuhns Ansichten über wissenschaftliche Revolutionen als „Paradigmenwechsel“ gerühmt und heute mit einem festen Platz in den Geschichtsbüchern. Die Einzelheiten sind inzwischen bis aufs Atom genau ausgearbeitet, gekrönt vom Nobelpreis 1997 für John E. Walker für die Strukturanalyse der ATP-Synthase. Die Ermittlung der Struktur von Komplex I ist eine noch größere Aufgabe, doch Nicht-Fachleuten sei es verziehen, wenn sie annehmen, dies seien nur Kleinigkeiten und die Bioenergetik berge heute keine revolutionären Geheimnisse mehr, die an Mitchells Erkenntnis heranreichten. Das ist insofern eine Ironie des Schicksals, als Mitchell nicht durch Nachdenken über den detaillierten Mechanismus der Atmung selbst zu seinen radikalen bioenergetischen Ansichten gelangte, sondern durch die Beschäftigung mit einer ungleich einfacheren und grundlegenden Frage – wie stellen die Zellen (er dachte dabei an Bakterien) es an, dass ihr Inneres sich von der äußeren Umgebung unterscheidet? Von Beginn an war er der Ansicht, dass Organismen über Membranen intim und untrennbar mit ihrer Umwelt verbunden sind, eine Sichtweise, die auch für dieses Buch ganz und gar entscheidend ist. Er erkannte die Bedeu92
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tung dieser Prozesse für die Entstehung und die Existenz des Lebens in einer Weise, wie es seither nur wenige taten. Betrachten wir einmal diesen Auszug aus einem Vortrag, den er 1957 bei einer Tagung in Moskau über die Entstehung des Lebens hielt, vier Jahre vor Veröffentlichung seiner chemiosmotischen Hypothese: Ich kann den Organismus nicht getrennt von seiner Umwelt betrachten … Formal gesehen könnte man die beiden als gleichwertige Phasen ansehen, zwischen denen durch die Membranen, die sie trennen und zugleich verbinden, ein dynamischer Kontakt besteht.
Dieser Aspekt von Mitchells Gedanken ist philosophischer als die praktischen Einzelheiten der chemiosmotischen Hypothese, die daraus erwuchsen, aber in meinen Augen ist er genauso weitsichtig. Unsere heutige Konzentration auf die Molekularbiologe zeigt, dass Mitchells Vorliebe für Membranen als notwendige Verbindung zwischen innen und außen mit der von ihm so genannten „vektoriellen Chemie“ – Chemie mit einer räumlichen Ausrichtung, bei der es auf Positionen und Strukturen ankommt – immer noch aktuell ist. Keine Chemie im Reagenzglas, bei der alles in Lösung vermischt wird. Praktisch alles Leben bedient sich der Redoxchemie, um einen Protonengradienten über einer Membran zu erzeugen. Warum in aller Welt tun wir das? Wenn diese Vorstellungen heute weniger unerhört wirken als in den 1960er-Jahren, dann nur deshalb, weil wir sie schon seit 50 Jahren kennen, und Gewöhnung bewirkt vielleicht keine Ablehnung, aber doch ein Erlahmen des Interesses. Die Ideen haben Staub angesetzt und stehen heute in den Lehrbüchern, auf dass sie nie mehr infrage gestellt werden. Wir wissen inzwischen, dass diese Ansichten richtig sind, aber wissen wir denn heute mehr darüber, warum das so ist? Letztlich dreht sich alles um zwei Fragen: Warum benutzen alle lebenden Zellen Redoxreaktionen als Quelle für freie Energie? Und warum speichern alle Zellen diese Energie in Form von Protonengradienten über Membranen? Oder, um noch tiefer zu gehen: Warum Elektronen und warum Protonen? 93
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Elektronen sind Leben Warum also macht sich das Leben auf der Erde die Redoxchemie zunutze? Vielleicht ist diese Frage noch am einfachsten zu beantworten. Leben, so wie wir es kennen, basiert auf Kohlenstoff, insbesondere auf reduzierten Kohlenstoffverbindungen. Als erste, eigentlich absurde Näherung (ohne Berücksichtigung der relativ kleinen Mengen an Stickstoff, Phosphor und anderen Elementen, die nötig sind) könnte man CH2O als „Formel“ für Leben bezeichnen. Wenn Kohlendioxid (CO2) der Ausgangspunkt ist (mehr dazu im nächsten Kapitel), muss Leben etwas mit dem Transfer von Elektronen und Protonen von einer Substanz wie Wasserstoff (H2) auf CO2 zu tun haben. Im Prinzip ist es egal, woher die Elektronen kommen – das kann auch Wasser (H2O), Schwefelwasserstoff (H2S) oder sogar zweiwertiges Eisen (Fe2+) sein. Wichtig ist, dass sie auf CO2 übertragen werden, und diese Übertragungen sind stets Redoxreaktionen. Der Begriff „partielle Reduktion“ bedeutet übrigens, dass CO2 nicht komplett zu Methan (CH4) reduziert wird. Hätte das Leben etwas anderes nutzen können als Kohlenstoff? Das ist sicher vorstellbar. Wir kennen Roboter aus Metall oder Silizium; was ist also so besonders am Kohlenstoff? So einiges. Jedes Kohlenstoffatom kann vier stabile Bindungen eingehen, viel stabilere als sein chemischer Nachbar Silizium. Diese Bindungen ermöglichen eine enorme Vielfalt langkettiger Moleküle, vor allem Proteine, Lipide, Zucker und die DNA. Silizium ist eine solche Vielfalt chemischer Verbindungen nicht möglich. Zudem gibt es keine gasförmigen Siliziumoxide, die dem Kohlendioxid entsprächen. Ich betrachte CO2 als eine Art Legostein. Es kann der Luft entnommen und Kohlenstoffatom für Kohlenstoffatom in andere Moleküle eingebaut werden. Siliziumoxide dagegen … nun, versuchen Sie einmal, mit Sand zu bauen. Silizium und andere Elemente mögen für intelligentere Wesen, als wir es sind, brauchbar sein, aber man kann sich kaum vorstellen, wie sich das Leben auf der Basis von Silizium hätte entwickeln sollen. Damit sei nicht gesagt, dass nicht irgendwo in einem unendlichen Universum Leben auf Basis von Silizium entstehen 94
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könnte – wer weiß? Was die Wahrscheinlichkeit und Vorhersagbarkeit angeht, und um diese geht es in diesem Buch, erscheint dies jedoch äußerst unwahrscheinlich. Kohlenstoff ist nicht nur viel besser geeignet, er liegt auch im Universum in ungleich größerer Menge vor. Somit lässt sich zunächst einmal sagen, dass Leben auf Kohlenstoff basieren sollte. Der Bedarf an partiell reduziertem Kohlenstoff ist jedoch noch lange nicht die ganze Antwort. Bei den meisten heute lebenden Organismen sind der Kohlenstoff- und der Energiestoffwechsel deutlich voneinander getrennt. Beide sind über das ATP und eine Handvoll weiterer reaktiver Zwischenstufen wie Thioester (insbesondere das Coenzym A, kurz CoA) miteinander verknüpft, aber die Redoxchemie erfordert solche reaktiven Zwischenstufen nicht grundsätzlich. Einige wenige Organismen beziehen ihre Lebensenergie aus der Gärung, doch ist diese Methode weder besonders alt noch besonders ergiebig. Allerdings gibt es reichlich Vorschläge für mögliche Ausgangspunkte des Lebens. Einer der bekanntesten (und irgendwie perversesten) ist Zyanid, das durch die Wirkung von UV-Licht auf Gase wie Stickstoff und Methan entstanden sein könnte. Ist das möglich? Wie ich bereits im letzten Kapitel erwähnte, findet sich in Zirkonen kein Hinweis darauf, dass die frühe Atmosphäre viel Methan enthielt. Dennoch könnte es prinzipiell auf einem anderen Planeten so vonstatten gehen. Und wenn es möglich ist, warum sollte es nicht auch heutiges Leben antreiben? Darauf werde ich im nächsten Kapitel zurückkommen. Ich halte dies aus anderen Gründen für unwahrscheinlich. Betrachten wir das Problem einmal von der anderen Seite: Was ist gut an der Redoxchemie der Atmung? Offensichtlich vieles. Atmung ist nicht nur das, was wir betreiben. Wir entziehen den Nährstoffen Elektronen und transferieren sie über unsere Atmungskette auf Sauerstoff, doch entscheidend ist hier, dass sowohl die Quelle als auch die Endstation der Elektronen austauschbar sind. Zufälligerweise ist das Verbrennen von Nährstoffen mit Sauerstoff äußerst ergiebig, doch das dem zugrunde liegende Prinzip ist viel weiter gefasst und variabler. So ist es beispielsweise nicht unbedingt nötig, organische Materie aufzunehmen. Wasserstoff, Schwefelwasserstoff und zweiwertiges Eisen 95
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sind allesamt Elektronenspender, wie wir bereits wissen. Sie können Elektronen in eine Atmungskette abgeben, solange der Akzeptor an deren anderem Ende als Oxidans stark genug ist, sie bis zu sich zu ziehen. So können Bakterien Gestein, Minerale oder Gase „fressen“, im Grunde mit derselben Proteinausstattung, die wir zur Atmung einsetzen. Wenn Sie das nächste Mal eine Verfärbung in einer Betonwand sehen, die eine dort gedeihende Bakterienkolonie verrät, denken Sie einmal kurz darüber nach, dass diese – so fremdartig sie auch wirken mögen – zum Leben dieselbe Apparatur benutzen wie wir. Nicht einmal Sauerstoff wird unbedingt gebraucht. Etliche andere Oxidanzien können seine Aufgabe fast genauso gut erledigen, etwa Nitrate, Nitrite, Sulfate oder Sulfite. Die Liste ist lang. All diese Oxidantien (so genannt, weil sie sich ein bisschen wie Sauerstoff verhalten) können Nährstoffen und anderen Quellen Elektronen entziehen. In jedem Fall wird durch den Transfer von Elektronen von einem Donator auf einen Akzeptor Energie freigesetzt, die in den Bindungen des ATP gespeichert wird. Die Aufzählung aller bekannten Elektronendonatoren und -akzeptoren bei Bakterien und Archaeen – der sogenannten „Redoxpaare“ – würde mehrere Seiten füllen. Bakterien „fressen“ nicht nur Gestein, sondern können es auch „veratmen“. Eukaryotische Zellen wirken dagegen geradezu armselig. In der gesamten Domäne der Eukaryoten, also bei allen Pflanzen, Tieren, Algen, Pilzen und Protisten, besteht ungefähr dieselbe metabolische Vielfalt wie in einer einzigen Bakterienzelle. Diese Vielfalt an Elektronendonatoren und -akzeptoren wird durch die Reaktionsträgheit vieler dieser Moleküle gefördert. Wie schon an früherer Stelle erwähnt, treten biochemische Reaktionen stets spontan auf, immer angetrieben durch eine sehr reaktive Umgebung. Ist diese aber zu reaktionsfreudig, wird sie immer weiter reagieren, und es bleibt keine freie Energie mehr als biologischer Kraftstoff übrig. Eine Atmosphäre könnte beispielsweise niemals voller Fluorgas sein, weil dieses sofort mit allen möglichen Substanzen reagieren und somit verschwinden würde. Viele Stoffe aber reichern sich in Mengen an, die ihr natürliches thermodynamisches Gleichgewicht bei Weitem übersteigen, da sie sehr träge reagieren. Wenn die Möglichkeit besteht, 96
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r eagiert Sauerstoff sehr heftig mit organischer Materie, und so würde er alles auf dem Planeten verbrennen. Diese gewalttätige Neigung wird jedoch durch einen glücklichen chemischen Zufall gebremst, der ihn über Äonen stabil macht. Gase wie Methan und Wasserstoff reagieren sogar noch heftiger mit Sauerstoff – man denke nur an die Explosion des Luftschiffs Hindenburg –, doch auch hier bewirkt die kinetische Barriere für diese Reaktion, dass all diese Gase jahrelang nebeneinander in der Luft in einem dynamischen Ungleichgewicht existieren können. Dasselbe gilt für etliche weitere Substanzen vom Schwefelwasserstoff bis zu Nitraten. Sie können zur Reaktion gezwungen werden; wenn dies geschieht, wird sehr viel Energie frei, die lebende Zellen nutzen können. Ohne die richtigen Katalysatoren aber passiert nicht viel. Leben macht sich diese kinetischen Barrieren zunutze und steigert damit die Entropie schneller, als es sonst der Fall wäre. Manche Forscher definieren Leben entsprechend sogar als Entropiegenerator. Wie auch immer: Leben existiert ganz genau deshalb, weil kinetische Barrieren existieren – es ist darauf spezialisiert, diese einzureißen. Ohne die große, hinter kinetischen Barrieren aufgestaute Reaktivität könnte Leben vermutlich gar nicht existieren. Da viele Elektronendonatoren und -akzeptoren sowohl löslich als auch stabil sind und ohne viel Aufhebens in Zellen ein- und aus diesen austreten, kann die aus thermodynamischen Gründen benötigte reaktive Umgebung ruhig ins Innere verlegt werden, direkt in die entscheidenden Membranen. Das macht den Umgang mit Redoxreaktionen als eine Form des biologisch nutzbaren Energieflusses viel einfacher als den mit Wärme, mechanischer Energie, UV-Strahlung oder Blitzschlägen – zum Wohle von Gesundheit und Sicherheit. Die Atmung bildet auch die Grundlage der Fotosynthese, was manchen überraschen mag. Wie wir uns erinnern, gibt es mehrere Formen der Fotosynthese. Bei jeder wird die Energie des Sonnenlichts (in Gestalt von Photonen) durch ein Pigment (meist Chlorophyll) absorbiert, was ein Elektron anregt und es über eine Kette von Redoxzentren zu einem Akzeptor schickt, in diesem Fall Kohlendioxid. Das um ein Elektron ärmere Pigment nimmt dankbar ein solches vom nächstgelegenen Donator – Wasser, Schwefelwasserstoff oder zweiwertiges 97
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Eisen – entgegen. Wie bei der Atmung ist auch hier die Identität des Elektronendonators im Prinzip egal. „Anoxygene“ Formen der Fotosynthese benutzen Schwefelwasserstoff oder Eisen als Elektronendonatoren, sodass Schwefel oder Rostablagerungen als Abfallprodukte entstehen.15 Die oxygene Fotosynthese benutzt einen viel stärkeren Donator, Wasser, aus dem als Abfallprodukt Sauerstoff hervorgeht. Letztlich aber leiten sich all diese Formen der Fotosynthese offensichtlich von der Atmung ab. Sie benutzen exakt dieselben Atmungskettenproteine, dieselben Arten von Redoxzentren, dieselben Protonengradienten über Membranen, dieselbe ATP-Synthase – genau dieselben Hilfsmittel.16 Der einzige wirkliche Unterschied besteht in einem neuartigen Pigment, dem Chlorophyll, das in jeder Hinsicht dem in vielen evolutionär alten Atmungsproteinen eingesetzten Häm-Pigment ähnelt. Das Anzapfen der Sonnenenergie veränderte die Welt, aber auf molekularer Ebene sorgte es nur dafür, dass Elektronen schneller die Atmungsketten hinabströmten Der große Vorteil der Atmung besteht somit in ihrer immensen Vielseitigkeit. Im Grunde kann jedes Redoxpaar (jede Paarung aus Elektronendonator und -akzeptor) benutzt werden, um Elektronen Atmungsketten entlangzuschicken. Die spezifischen Proteine, die Elek tronen aus Ammoniak aufnehmen, unterscheiden sich ein wenig von denen, die Elektronen aus Schwefelwasserstoff aufnehmen, aber sie sind recht ähnliche Variationen über dasselbe Thema. Entsprechend verhält es sich am anderen Ende der Atmungskette: Die Proteine, die Elektronen auf Nitrate oder Nitrite übertragen, unterscheiden sich von denen, die Elektronen auf Sauerstoff übertragen, doch sie alle sind miteinander verwandt. Sie sind hinreichend ähnlich, um jeweils anstelle der anderen benutzt zu werden. Da diese Proteine Teil eines gemeinsamen Betriebssystems sind, lassen sie sich passend für jede Umgebung beliebig kombinieren. Sie sind zwar im Prinzip nicht einfach austauschbar, aber in der Praxis werden sie dauernd weitergegeben. In den letzten Jahrzehnten erkannte die Wissenschaft, dass lateraler Gentransfer (die Weitergabe von kleinen Genkassetten wie Kleingeld zwischen Zellen) bei Bakterien und Archaeen durchaus keine Seltenheit ist. Gene, die für Atmungskettenproteine codieren, werden beson98
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ders oft durch lateralen Transfer ausgetauscht. Zusammen bilden sie das, was der Biochemiker Wolfgang Nitschke als „Redox-Protein-Baukasten“ bezeichnet. Sind Sie vielleicht gerade in eine Umgebung umgesiedelt, in der Schwefelwasserstoff und Sauerstoff beide reichlich vorkommen, etwa an einen Tiefseeschlot? Kein Problem, der Herr, bedienen Sie sich einfach bei den verfügbaren Genen, die werden Ihnen weiterhelfen. Ihnen mangelt es an Sauerstoff? Versuchen Sie es einmal mit Nitriten, meine Dame! Keine Sorge. Bauen Sie sich einfach eine Kopie einer Nitrit-Reduktase ein und alles wird gut! All diese Faktoren bedeuten, dass Redoxreaktionen auch für Leben anderswo im Universum eine Rolle spielen müssten. Zwar kann man sich andere Formen der Energie vorstellen, doch das Angewiesensein der Redoxchemie auf die Reduzierung von Kohlenstoff und die zahlreichen Vorteile der Atmung sorgen dafür, dass die Verwendung von Redoxreaktionen als Antrieb des Lebens keine Überraschung ist. Beim tatsächlichen Mechanismus der Atmung, Protonengradienten über Membranen, liegt die Sache jedoch grundlegend anders. Die Tatsache, dass Atmungsproteine per lateralem Gentransfer herumgereicht und passend je nach Umgebung kombiniert werden können, geht größtenteils darauf zurück, dass es ein gemeinsames Betriebssystem gibt – die chemiosmotische Kopplung. Allerdings gibt es keinen offensichtlichen Grund dafür, dass die Redoxchemie mit Protonengradienten arbeitet. Dieses Fehlen einer verständlichen Verbindung erklärt teilweise den damaligen Widerstand gegen Mitchells Ideen (und die ox phos wars). In den letzten 50 Jahren haben wir viel darüber erfahren, wie Leben Protonen nutzt, aber solange wir nicht wissen, warum Leben Protonen benutzt, werden wir nicht viel mehr über die Eigenschaften von Leben hier oder sonstwo im Universum vorhersagen können.
Protonen sind Leben Die Evolution der chemiosmotischen Kopplung ist rätselhaft. Alle Lebewesen sind chemiosmotisch, woraus abzuleiten ist, dass die Chemiosmose evolutionär sehr alt ist. Wäre sie erst später entstanden, ließe 99
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sich kaum erklären, wie und warum sie so universell wurde – warum Protonengradienten alles andere so vollkommen verdrängten. Eine solche Universalität gibt es überraschend selten. Alles Leben hat den genetischen Code gemeinsam (wiederum mit einigen kleinen Ausnahmen, die die Regel bestätigen). Auch einige grundlegende Abläufe der Informationsverarbeitung haben sich universell erhalten. Die DNA wird beispielsweise in RNA umgeschrieben, die ihrerseits in allen Zellen in Nanomaschinen, den Ribosomen, physisch in Proteine übersetzt wird. Doch die Unterschiede zwischen Archaeen und Bakterien sind wirklich frappierend. Wir erinnern uns: Bakterien und Archaeen bilden die beiden Domänen der Prokaryoten, Zellen, denen ein Zellkern und der Großteil der Ausstattung komplexer (eukaryotischer) Zellen fehlen. In ihrer physischen Erscheinung lassen sich Bakterien und Archaeen praktisch nicht unterscheiden, doch biochemisch und genetisch bestehen zwischen den beiden Domänen extreme Unterschiede. Nehmen wir das Beispiel DNA-Replikation – eigentlich würde man erwarten, dass sie unter Lebewesen genauso fundamental gleichartig sei wie der genetische Code. Doch die einzelnen Mechanismen der DNA-Replikation, auch fast alle beteiligten Enzyme, sind bei Bakterien und Archaeen völlig unterschiedlich. Desgleichen ist die Zellwand, also die feste äußere Hülle, die das zarte Zellinnere schützt, chemisch bei Bakterien ganz anders als bei Archaeen. Ebenso die biochemischen Reaktionsketten der Gärung. Selbst die Zellmembranen – unerlässlich für die chemiosmotische Kopplung, auch Membran-Bioenergetik genannt – unterscheiden sich biochemisch bei Bakterien und Archaeen. Kurzum, die Barrieren zwischen dem Inneren und der Umgebung der Zellen sowie die Replikation des Erbmaterials sind nicht besonders stark konserviert. Was aber könnte wichtiger für das Leben der Zellen sein als diese beiden Faktoren! Und trotz all dieser Verschiedenartigkeit ist die chemiosmotische Kopplung doch immer dieselbe. Das sind sehr grundlegende Unterschiede, und sie führen zu ernüchternden Fragen zum gemeinsamen Vorfahren beider Gruppen. Vorausgesetzt, dass gemeinsame Merkmale von einem ge100
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meinsamen Vorfahren ererbt, unterschiedliche Merkmale aber unabhängig voneinander in den beiden Abstammungslinien entwickelt wurden, stellt sich die Frage, welche Art von Zelle dieser Vorfahr wohl gewesen sein mag. Es widerspricht jeder Logik. Ein Phantom einer Zelle, in mancher Hinsicht modern, in anderer … ja, was eigentlich genau? Er verfügte über die DNA-Transkription, die ribosomale Translation, eine ATP-Synthase und Teile der Aminosäuren-Biosynthese, doch darüber hinaus hat sich wenig Gemeinsames in beiden Gruppen erhalten. Nehmen wir das Membranproblem. Die Bioenergetik der Membranen ist universell – die Membranen sind es nicht. Man könnte sich vorstellen, dass der letzte gemeinsame Vorfahr eine Membran ähnlich der bakteriellen hatte und dass die Archaeen diese aus Gründen der Anpassung veränderten, vielleicht, weil die Membranen der Archaeen höheren Temperaturen besser standhalten. Das ist oberflächlich betrachtet plausibel, doch tun sich zwei große Probleme auf. Erstens sind die meisten Archaeen nicht hyperthermophil; viele leben in gemäßigten Umgebungen, in denen die Archaeen-Lipide keine offensichtlichen Vorteile bringen, und umgekehrt gedeihen zahlreiche Bakterien prächtig in heißen Quellen. Ihre Membranen kommen bestens mit hohen Temperaturen zurecht. Bakterien und Archaeen leben in fast allen Umwelten nebeneinander, oft sogar in sehr enger Symbiose. Warum sollte sich eine dieser Gruppen der Mühsal ausgesetzt haben, all ihre Membranlipide bei nur einer Gelegenheit auszutauschen? Wenn es möglich ist, Membranen auszutauschen, warum kommt es dann nicht auch bei anderen Gelegenheiten dazu, etwa wenn sich Zellen einer neuen Umgebung anpassen? Das müsste doch viel einfacher sein als das Entwickeln neuartiger Membranen aus bunt zusammengewürfelten Teilen. Warum legen sich nicht einige der in heißen Quellen lebenden Bakterien Archaeen-Lipide zu? Zweitens (und das ist besonders aufschlussreich) scheint ein großer Unterschied zwischen Bakterien- und Archaeenmembranen rein zufällig zu bestehen – Bakterien benutzen eines von zwei Stereoisomeren (spiegelbildlich verkehrten Formen) des Glycerins, Ar101
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chaeen das andere.17 Selbst wenn die Archaeen tatsächlich all ihre Lipide austauschten, weil die neuen besser an hohe Temperaturen adaptiert waren, gibt es keinen erkennbaren selektionsbedingten Grund dafür, Glycerin durch Glycerin zu ersetzen. Das ist einfach nur verdreht. Das Enzym, das die linksdrehende Form des Glycerins erzeugt, ist jedoch nicht im Entferntesten mit dem Enzym verwandt, das die rechtsdrehende Variante herstellt. Zum Umschalten von einem Isomer auf das andere bräuchte es ein ganz „neues“ Enzym (für die Herstellung des neuen Isomers), gefolgt von der systematischen Ausmerzung des alten (aber voll funktionstüchtigen) Enzyms in jeder einzelnen Zelle, selbst wenn die neue Version keinen evolutionären Vorteil bietet. Das halte ich für höchst unwahrscheinlich. Aber wenn nicht ein Lipid physisch durch ein anderes ersetzt wurde, was für eine Art von Membran hatte dann der letzte gemeinsame Vorfahr? Sie muss sich stark von allen modernen Membranen unterschieden haben. Warum? Auch die Vorstellung, dass die chemiosmotische Kopplung im Verlauf der Evolution schon früh entstand, sieht sich einigen Problemen gegenüber. Eines davon ist die Komplexität dieses Mechanismus. Wir haben den riesenhaften Atmungskettenkomplexen und der ATP-Synthase bereits unseren Respekt gezollt – unglaubliche molekulare Maschinerien mit Hebeln und Rotationsmotoren. Können diese wirklich Produkte aus der Frühzeit der Evolution sein, noch vor der DNA-Replikation? Die emotionale Antwort darauf lautet: Ganz sicher nicht! Die ATP-Synthase ist jedoch nicht komplexer als ein Ribosom, und es herrscht allgemeines Einvernehmen darüber, dass sich Ribosomen schon früh entwickelten. Das zweite Problem ist die Membran selbst. Selbst wenn man die Frage nach der Art der Membran hintanstellt, sieht man sich auch hier einer irritierenden frühen Komplexität gegenüber. Bei modernen Zellen funktioniert die chemiosmotische Kopplung nur, wenn die Membran für Protonen nahezu undurchlässig (impermeabel) ist. Doch alle Experimente mit plausiblen Modellen früher Membranen lassen darauf schließen, dass diese sehr durchlässig für Protonen waren. Es ist wirklich schwer, die Protonen draußen zu halten. Die Schwierigkeit besteht darin, dass die chemiosmotische 102
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Kopplung offensichtlich nutzlos ist, bis sich einige ausgefeilte Proteine in einer protonenundurchlässigen Membran eingebettet haben. Dann jedoch, und nur dann, erfüllt sie einen Zweck. Wie also haben sich all diese Teile im Vorfeld entwickelt? Es ist ein klassisches Ei-Henne-Problem. Wieso sollte man die Fähigkeit erwerben, Protonen zu pumpen, wenn man den Gradienten nicht als Energiequelle anzapfen kann? Und warum sollte man die Fähigkeit entwickeln, einen Gradienten als Energiequelle zu nutzen, wenn man gar keinen aufbauen kann? In Kapitel 4 gebe ich eine mögliche Erklärung. Am Schluss von Kapitel 1 habe ich einige große Fragen zur Evolution des Lebens auf der Erde gestellt. Warum entstand das Leben so früh? Warum trat es im Hinblick auf seine morphologische Komplexität mehrere Milliarden Jahre lang auf der Stelle? Warum entstanden komplexe eukaryotische Zellen nur einmal in vier Milliarden Jahren? Warum haben alle Eukaryoten eine Reihe besonderer Merkmale gemeinsam, die man bei keinem Bakterium und keinem Archaeon antrifft, von der sexuellen Fortpflanzung und Zweigeschlechtlichkeit bis hin zum Altern? Hier formuliere ich nun zwei weitere Fragen von ähnlich beunruhigender Dimension: Warum speichert alles Leben Energie in Form von Protonengradienten über Membranen? Und wie (und wann) entwickelte sich dieser seltsame, aber grundlegend wichtige Prozess? Ich glaube, die Fragen aus beiden Kapiteln sind eng miteinander verknüpft. In diesem Buch werde ich darlegen, dass natürliche Protonengradienten die Entstehung des Lebens auf der Erde in einer ganz besonderen Umwelt antrieben, einer Umwelt, wie sie mit ziemlicher Sicherheit im gesamten Kosmos vorkommt: Die Zutatenliste umfasst lediglich Gestein, Wasser und CO2. Ich werde auch erläutern, dass die chemiosmotische Kopplung die Evolution des Lebens auf der Erde Milliarden Jahre lang auf der Komplexitätsstufe von Bakterien und Archaeen stagnieren ließ. Ein einzelnes Ereignis, bei dem ein Bakterium irgendwie in das Innere eines Archaeons gelangte, überwand diese endlosen energetischen Einschränkungen für die Bakterien. Jene Endosymbiose führte zur Entstehung der Eukaryoten, mit schier aus allen Nähten platzenden Genomen, dem Rohmaterial für 103
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morphologische Komplexität. Die intime Beziehung zwischen der Wirtszelle und ihrem Endosymbionten (von dem sich die Mitochondrien ableiten) steckt, wie ich zeigen werde, hinter vielen seltsamen Eigenschaften der Eukaryoten. Die Evolution dürfte sich andernorts im Universum entlang ähnlicher Wege und gelenkt durch ähnliche Einschränkungen abspielen. Wenn ich recht habe (und ich glaube nicht eine Sekunde, dass ich das in allen Einzelheiten habe, hoffe aber, dass das große Ganze stimmt), markiert dies den Anfang einer Biologie, die mehr Vorhersagen treffen kann. Eines Tages wird es möglich sein, die Eigenschaften von Leben irgendwo im Universum vorherzusagen, einfach anhand der chemischen Zusammensetzung des Kosmos.
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ittelalterliche Wassermühlen und moderne Wasserkraftwerke werden dadurch angetrieben, dass man den Wasserstrom gezielt lenkt. Führt man das Wasser in einen engen Kanal, wird die Strömung stärker. Sie kann jetzt als Antriebskraft dienen, beispielsweise ein Wasserrad drehen. Lässt man das Wasser in ein breiteres Becken fließen, nimmt die Kraft ab. Bei einem Fluss entsteht dann ein See oder eine Furt. An solchen Stellen kann man durchaus eine Überquerung wagen, weil man ziemlich sicher sein kann, nicht von der Strömung mitgerissen zu werden. Lebende Zellen arbeiten ähnlich. Ein Stoffwechselweg ist wie ein Kanal, nur, dass durch ihn nicht Wassermoleküle, sondern organische Kohlenstoffverbindungen strömen. Bei einem Stoffwechselweg wird eine lineare Abfolge von Reaktionen durch eine Reihe von Enzymen katalysiert, die jeweils auf das Produkt des vorangegangenen Enzyms einwirken. Das schränkt den Strom der Kohlenstoffverbindungen ein. Ein Molekül tritt in einen Stoffwechselweg ein, durchläuft eine Reihe chemischer Modifikationen und kommt am Ende als ein anderes Molekül wieder heraus. Die Abfolge der Reaktionen lässt sich zuverlässig wiederholen, wobei jedes Mal derselbe Vorläufer einund dasselbe Produkt austritt. Zellen gleichen mit ihren unterschiedlichen Stoffwechselwegen einem Netzwerk aus Wassermühlen, in dem der Wasserstrom nur durch miteinander verbundene Kanäle 105
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erfolgt, stets in maximalem Maße. Ein solch geniales Kanalnetz bedeutet für die Zelle, dass sie weit weniger Kohlenstoffverbindungen und Energie zum Wachstum benötigt, als es bei einem nicht gelenkten Strom der Fall wäre. Anstatt bei jedem Schritt Energie zu verschwenden – durch Moleküle, die „entwischen“ und anderswo reagieren –, halten Enzyme die biochemischen Reaktionen immer schön auf Linie. Zellen brauchen keinen reißenden Strom, der sich ins Meer ergießt; sie betreiben ihre Wassermühlen mit kleineren Gewässern. Energetisch gesehen besteht die Stärke der Enzyme weniger darin, dass sie Reaktionen beschleunigen, sondern vielmehr darin, dass sie ihre Kraft kanalisieren und den Ausstoß maximieren. Wie verhielt es sich aber zu der Zeit, als das Leben entstand, also bevor es Enzyme gab? Der Strom war zwangsläufig weniger eingeschränkt. Wachstum – die Bildung weiterer organischer Moleküle, Verdopplung, letztlich die Replikation – kostete sicher mehr Energie und somit mehr Kohlenstoff, nicht weniger. Heutige Zellen minimieren ihren Energiebedarf, aber wie wir schon erfahren haben, setzen sie immer noch gewaltige Mengen an ATP um, jener Standardwährung der Energie. Selbst die einfachsten Zellen, die über die Reaktion von Wasserstoff mit Kohlendioxid wachsen, produzieren etwa 40mal mehr Abfallprodukte als Biomasse aus der Atmung. Pro Gramm neu gebildeter Biomasse müssen die Energie freisetzenden Reaktionen, die dieser Bildung zugrunde liegen, mindestens 40 Gramm Abfall produzieren. Leben ist eine Nebenreaktion einer großen, Energie freisetzenden Reaktion – und das ist bis heute so, auch nachdem die Evolution vier Milliarden Jahre lang daran gefeilt hat. Wenn heutige Zellen 40-mal mehr Abfallprodukte bilden als organische Materie, wie viel mussten dann wohl die ersten primitiven Zellen bilden, denen noch keine Enzyme zur Verfügung standen! Enzyme beschleunigen chemische Reaktionen im Vergleich zu ungelenkten Reaktionen um das Millionenfache. Ohne die Enzyme müsste der Durchsatz um einen ähnlichen Faktor, sagen wir, um den Faktor eine Million, ansteigen, um dasselbe Ergebnis zu erzielen. Die ersten Zellen mussten vielleicht 40 Tonnen Abfallprodukte bilden – wahrhaftig eine ganze Lkw-Ladung –, um ein Gramm Zellen zu bilden! Im Hin106
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blick auf den Energiefluss wirkt als Vergleich selbst ein Fluss zu klein; das Ganze entspricht eher einem Tsunami. Ein Energiebedarf in dieser Größenordnung hat in jeder Hinsicht Auswirkungen auf den Ursprung des Lebens, und doch beschäftigt sich kaum jemand explizit damit. Als experimentelle Disziplin formierte sich die Erforschung des Ursprungs des Lebens 1953 mit dem berühmten Miller-Urey-Experiment, das im selben Jahr wie der Artikel von Watson und Crick über die Doppelhelix veröffentlicht wurde. Beide Artikel haben das Fachgebiet seither geprägt und ihre Schatten darüber geworfen wie zwei große Fledermäuse – in mancher Hinsicht ist das gut, in anderer wiederum nicht. Das MillerUrey-Experiment war zwar brillant, beschwor aber das Bild von der Ursuppe herauf, das meiner Ansicht nach dem Fachgebiet für zwei Generationen Scheuklappen aufsetzte. Crick und Watson läuteten die Vorherrschaft von DNA und Information ein, die ohne Zweifel für den Ursprung des Lebens von essenzieller Bedeutung ist; die fast isolierte Betrachtung der Replikation und der Ursprünge der natürlichen Selektion aber ließ andere wichtige Faktoren in den Hintergrund treten, namentlich die Energie. Im Jahr 1953 war Stanley Miller ein ernsthafter junger PhD-Student im Labor des Nobelpreisträgers Harold Urey. Bei seinem berühmten Experiment schickte Miller elektrische Entladungen (die Blitze simulierten) durch Behälter mit Wasser und einer Mischung aus reduzierten (elektronenreichen) Gasen, die an die Atmosphäre des Jupiter erinnerte. Damals glaubte man, die Jupiter-Atmosphäre ähnele der frühen Erdatmosphäre – von beiden nahm man an, dass sie viel Wasserstoff, Methan und Ammoniak enthielten.18 Erstaunlicherweise gelang es Miller, eine Reihe von Aminosäuren zu synthetisieren, die Bausteine der Proteine und Arbeitspferde der Zellen. Plötzlich fiel es leicht, sich den Beginn des Lebens vorzustellen! Anfang der 1950er-Jahre war das Interesse an diesem Experiment weitaus größer als an Watsons und Cricks Struktur, die zunächst wenig Aufsehen erregte. Miller dagegen schaffte es 1953 sogar auf das Titelblatt des TIME-Magazins. Seine Arbeit war bahnbrechend und ist bis heute der Rekapitulation wert, denn mit ihr wurde erstmals eine Hy107
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pothese überprüft, die sich ausdrücklich mit dem Ursprung des Lebens befasste: Dieser zufolge konnten Blitzentladungen, die durch eine Atmosphäre aus reduzierten Gasen erfolgten, die Bausteine der Zellen erzeugen. Da es noch kein Leben gab, reicherten sich, so die Annahme, diese Vorläufer in den Weltmeeren an, die so mit der Zeit reichlich organische Moleküle enthielten – die Ursuppe. Wenn auch Watson und Crick 1953 zunächst weniger Aufsehen erregten, hat doch die DNA seither die Biologen stets in ihren Bann gezogen. Für viele dreht sich beim Leben alles um die Informationen, die in Gestalt der DNA kopiert werden. Der Ursprung des Lebens ist für sie der Ursprung der Information, ohne die, darin sind sich alle einig, eine Evolution durch natürliche Selektion unmöglich wäre. Und der Ursprung der Information ist nichts weiter als der Ursprung der Replikation: das Aufkommen der ersten Moleküle, die Kopien von sich selbst erstellten, der Replikatoren. Die DNA selbst ist zu komplex, um einen glaubwürdigen ersten Replikator abzugeben, aber der einfachere und reaktivere Vorläufer, die RNA, ist ein passender Kandidat. Die RNA (Ribonukleinsäure) ist bis heute der entscheidende Mittler zwischen DNA und Proteinen, sie dient bei der Proteinsynthese sowohl als Kopiervorlage als auch als Katalysator. Da die RNA als Kopiervorlage (wie die DNA) wie auch als Katalysator (wie Proteine) agieren kann, ist prinzipiell auch denkbar, dass sie in einer „Ur-RNA-Welt“ ein einfacherer Vorläufer sowohl für Proteine als auch für die DNA war. Aber woher kamen all die Nukleotid-Bausteine, die sich zu Ketten zusammenfinden und so die RNA bilden? Natürlich, die Ursuppe! Es besteht kein notwendiger Zusammenhang zwischen der Entstehung von RNA und einer Suppe, aber die Suppe ist dennoch die einfachste Vermutung, die zugleich irritierende Details wie Thermodynamik und Chemie außer Acht lässt. Man schiebe all dies einfach beiseite, und schon können sich die Gen-Enthusiasten wieder den wirklich wichtigen Dingen zuwenden. Wenn also die Forschung zum Ursprung des Lebens in den letzten 60 Jahren ein dominierendes Leitmotiv hatte, dann war es jenes von der Ursuppe, die eine RNA-Welt entstehen ließ, in welcher sich diese einfachen Replikatoren nach und nach entwickelten, komplexer wurden, sich beim Stoffwechsel der Codierung bedienten und letztlich die 108
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Welt der DNA, Proteine und Zellen hervorbrachten, wie wir sie heute kennen. In diesem Weltbild ist Leben nichts als Information. Allein es fehlt der Aspekt der Energie. Natürlich kommt Energie auch in der Geschichte von der Ursuppe vor – in Gestalt all der Blitzeinschläge. Ich habe einmal ausgerechnet, wie viele Blitzeinschläge es gebraucht hätte, um nur damit eine kleine, primitive Atmosphäre aufrechtzuerhalten, wie sie derjenigen vor der Evolution der Fotosynthese entspräche. In jedem Quadratkilometer Ozean hätten vier Blitze pro Sekunde einschlagen müssen – und diese Zahl setzt noch die heutige Effizienz des Wachstums voraus. Ein Blitzschlag transportiert einfach nicht so viele Elektronen. Eine bessere Alternative als Energiequelle ist die UV-Strahlung, die reaktive Vorläufermoleküle wie Zyanide (und deren Derivate, etwa Zyanamid) aus einem Gemisch atmosphärischer Gase, darunter Methan und Stickstoff, entstehen lassen kann. Die UV-Strahlung wirkt beständig auf die Erde und andere Planeten ein. Ohne Ozonschicht und mit dem aggressiveren elektromagnetischen Spektrum der noch jungen Sonne war die UV-Flussdichte überdies stärker als heute. Dem genialen Chemiker John D. Sutherland gelang es sogar, mithilfe von UV-Strahlung und Zyaniden aktivierte Nukleotide unter „plausiblen ursprünglichen Bedingungen“ (englisch plausible primordial conditions) zu synthetisieren.19 Doch auch hier stellen sich ernsthafte Probleme. Kein Lebewesen auf der Erde nutzt Zyanide als Kohlenstoffquelle, und keines nutzt die UVStrahlung als Energiequelle. Ganz im Gegenteil, beide gelten als gefährlich und lebensfeindlich. UV-Strahlung ist selbst für die höher entwickelten Lebensformen von heute zu zerstörerisch, da sie organische Moleküle eher effektiv zerlegt, als dass sie ihre Bildung fördert. Sie wird die Ozeane eher verbrennen als sie mit Leben füllen. Die UVStrahlung ähnelt eher einem Bombardement. Ich bezweifle, dass sie hier oder irgendwo anders als direkte Energiequelle dienen kann. Die Verfechter der UV-Strahlung behaupten nicht, dass sie als direkte Energiequelle dient, sondern glauben, sie fördere die Bildung kleiner, stabiler organischer Moleküle, wie Zyaniden, die sich dann im Laufe der Zeit anreichern. Chemisch gesehen sind Zyanide tatsächlich gute organische Vorläufermoleküle. Sie sind für uns giftig, 109
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weil sie die Zellatmung blockieren, aber das könnte auch eine Besonderheit des Lebens auf der Erde sein und kein grundlegendes Prinzip. Das eigentliche Problem bei Zyaniden ist deren Konzentration, die die gesamte Vorstellung von der Ursuppe infrage stellt. Die Weltmeere sind im Verhältnis zur Bildungsrate von Zyaniden (oder irgendeinem anderen einfachen organischen Vorläufermolekül) wirklich riesenhaft, selbst wenn man davon ausgeht, dass hier oder auf einem anderen Planeten eine passende reduzierende Atmosphäre bestand. Bei jeder realistisch denkbaren Bildungsrate hätte die stabile Konzentration von Zyaniden in den Meeren bei 25 Grad Celsius etwa ein zweimillionstel Gramm pro Liter betragen – nicht annähernd genug, um als Antrieb für die ersten biochemischen Reaktionen zu dienen. Der einzige Ausweg aus dieser Sackgasse wäre eine Konzentrierung des Meerwassers, und genau darauf stützt sich seit einer Generation die präbiotische Chemie. Durch Gefrieren oder Verdunstung des Meerwassers ließ sich die Konzentration organischer Verbindungen steigern, doch dies sind drastische Methoden, die sich mit dem physikalisch stabilen Zustand, der lebende Zellen vor allem charakterisiert, nicht vereinbaren lassen. Ein Verfechter der Zyanid-Theorie verweist mit fanatischem Blick auf das große Bombardement durch Asteroiden vor vier Milliarden Jahren: In dessen Folge hätte die Konzentration von Zyaniden (als Zyanoferrate) steigen können, da die Ozeane verdunsteten! Für mich klingt das wie der verzweifelte Versuch, eine nicht funktionierende Idee zu verteidigen.20 Die Schwierigkeit besteht hier darin, dass diese Umwelten zu variabel und instabil sind. Es braucht eine Abfolge drastischer Veränderungen der Bedingungen, um die Schritte zum Leben zu machen. Lebende Zellen dagegen sind stabile Entitäten – der Stoff, aus dem sie sind, wird ständig ersetzt, aber die Gesamtstruktur bleibt unverändert. Von Heraklit stammt der berühmte Spruch, dass man nie zweimal in denselben Fluss steige. Damit meinte er aber nicht, dass dieser inzwischen verdunstet oder gefroren (oder ins All geschleudert) sei. So wie Wasser zwischen (zumindest nach menschlichen Zeitmaßstäben) unveränderlichen Ufern dahinströmt, erneuert sich Leben ständig selbst, ohne seine Form zu verändern. Lebende Zellen bleiben Zellen, 110
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selbst wenn all ihre Bestandteile immer und immer wieder durch neue ersetzt werden. Könnte es anders sein? Ich bezweifle es. Ohne Informationen, die die Struktur beschreiben – so wie es logischerweise beim Ursprung des Lebens gewesen sein muss, da es noch keine Replikatoren gab –, fehlt zwar Struktur nicht völlig, aber sie erfordert einen kontinuierlichen Energiestrom. Dieser fördert die Selbstorganisation von Materie. Wir alle kennen das, was der große russisch-belgische Physiker Ilya Prigogine als „dissipative Strukturen“ bezeichnete. Denken wir nur einmal an die Konvektionsströmungen in einem Kessel mit kochendem Wasser, oder an Wasser, das im Strudel durch einen Abfluss fließt. Hier braucht es keine Information – nur Wärme im Falle des Kessels und einen Drehimpuls im Beispiel des Abflusses. Dissipative Strukturen entstehen aus dem Strom von Energie und Materie. Hurrikane, Taifune und Strudel sind beeindruckende natürliche Beispiele für dissipative Strukturen. Sie sind in großem Maßstab auch in den Meeren und der Atmosphäre anzutreffen, angetrieben durch Unterschiede im Sonnenenergiefluss zwischen dem Äquator und den Polen. Beständige Meeresströmungen, wie der Golfstrom, und Winde, wie die Roaring Forties der Westwinddrift oder der Jetstream (Strahlstrom) über dem Nordatlantik sind nicht durch Informationen festgeschrieben, sondern so stabil und anhaltend wie der Energiestrom, der sie antreibt. Der Große Rote Fleck auf dem Jupiter ist eine riesige Unwetterzone, ein Antizyklon, der die Größe der Erde um ein Mehrfaches übersteigt und seit mindestens einigen Hundert Jahren besteht. So wie die Konvektionszellen in einem Kessel bestehen bleiben, solange das Wasser am Kochen gehalten wird und Dampf entweicht, brauchen all diese dissipativen Strukturen einen kontinuierlichen Energiefluss, oder allgemeiner ausgedrückt: Sie sind das sichtbare Ergebnis anhaltender Ganz-und-garnicht-Gleichgewichtsbedingungen, bei denen ein Energiefluss eine Struktur auf unbestimmte Zeit aufrechterhält, bis schließlich (im Falle von Sternen nach Milliarden von Jahren) ein Gleichgewicht erreicht wird und die Struktur zusammenbricht. Der wichtigste Aspekt daran ist, dass durch einen Energiefluss beständige und vorhersagbare physische Strukturen hervorgebracht werden können. Das hat 111
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nichts mit Information zu tun, doch wie wir noch erfahren werden, kann dies Umgebungen entstehen lassen, die den Ursprung von biologischer Information – Replikation und Selektion – begünstigen. Alle Lebewesen werden durch Umweltbedingungen fernab eines Gleichgewichts unterhalten: Auch wir sind dissipative Strukturen. Der kontinuierliche Reaktionsablauf der Atmung liefert freie Energie, die Zellen benötigen, um Kohlenstoff zu fixieren, zu wachsen, reaktive Zwischenformen zu bilden, diese zu langkettigen Polymeren wie Kohlenhydraten, RNA, DNA und Proteinen zusammenzufügen und ihren Zustand geringer Entropie aufrechtzuerhalten, indem sie die Entropie der Umgebung steigern. Ohne Gene oder Informationen sollten sich bestimmte Zellstrukturen, wie Membranen und Polypeptide, spontan bilden, solange der Nachschub an reaktiven Vorläufermolekülen nicht abreißt – aktivierten Aminosäuren, Nukleotiden, Fettsäuren; solange der Energiefluss nicht abreißt, der die benötigten Bausteine bereitstellt. Zellstrukturen werden durch den Strom von Energie und Materie geradezu zwangsläufig erzeugt. Die Bestandteile sind ersetzbar, doch die Struktur ist stabil und wird bestehen bleiben, solange der Strom bestehen bleibt. Und genau dieser anhaltende Energie- und Materiestrom ist es, der in der Ursuppe fehlt. In ihr ist nichts, das die Bildung der von uns als Zellen bezeichneten dissipativen Strukturen antreibt, nichts, was diese Zellen wachsen und sich teilen, ja lebendig werden lässt, und all das ohne Enzyme, die den Stoffwechsel kanalisieren und vorantreiben. Ist das nicht ein bisschen viel verlangt? Gibt es wirklich eine Umgebung, die die Entstehung der ersten primitiven Zellen herbeiführen kann? Mit ziemlicher Sicherheit war es genau so. Doch bevor wir uns mit dieser Umgebung befassen, sollten wir einmal betrachten, was benötigt wird.
Wie man eine Zelle macht Was braucht man, um eine Zelle zu fabrizieren? Alle lebenden Zellen auf der Erde haben sechs grundlegende Eigenschaften gemeinsam. Auch wenn es ein bisschen nach Lehrbuch klingt, möchte ich sie doch kurz aufzählen. Sie alle brauchen 112
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– ständigen Nachschub an reaktiven Kohlenstoffverbindungen für die Synthese neuer organischer Moleküle, – die Versorgung mit freier Energie, um die biochemische Stoffwechselaktivität anzutreiben – die Bildung von Proteinen, DNA und derlei mehr, – Katalysatoren, die diese Stoffwechselreaktionen beschleunigen und kanalisieren, – die Ausschleusung von Abfallprodukten, um dem Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gerecht zu werden und chemische Reaktionen in die richtige Richtung zu lenken, – eine Kompartimentierung – eine zellähnliche Struktur, die das Innere von der Außenwelt trennt, und – Erbmaterial – RNA, DNA oder ein Äquivalent, das die Form und Funktion in Einzelheiten festschreibt. Alles andere (Dinge, die gebetsmühlenhaft als Eigenschaften des Lebens genannt werden, wie Bewegung oder Reizempfindlichkeit) sind aus der Sicht der Bakterien nichts weiter als nette Extras. Es braucht kein langes Nachdenken, um zu erkennen, dass alle sechs Faktoren stark voneinander abhängig sind und das mit großer Sicherheit auch von Anbeginn so sein musste. Es ist offensichtlich, dass ein beständiger Nachschub an organischen Kohlenstoffverbindungen eine entscheidende Rolle für Wachstum, Replikation … für einfach alles spielt. Selbst zu einer „RNA-Welt“ gehört eine einfache Replikation von RNA-Molekülen. RNA ist ein Kettenmolekül aus Nukleotid-Bausteinen. Jeder dieser Bausteine ist ein organisches Molekül, das von irgendwoher kommen muss. Unter den Forschern, die sich mit dem Ursprung des Lebens beschäftigen, herrscht seit jeher Uneinigkeit darüber, was zuerst da war, Stoffwechsel oder Replikation. Doch das ist eine unergiebige Debatte. Replikation bedeutet Verdopplung, was den Bedarf an Bausteinen exponentiell steigert. Erfolgt der Nachschub an Bausteinen nicht in vergleichbarer Rate, hat die Replikation schnell ein Ende. Einen Ausweg bietet die Annahme, dass die ersten Replikatoren gar nicht organisch waren, sondern Tonminerale oder etwas Ähnli113
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ches, wie es Graham Cairns-Smith in genialer Ausführlichkeit dargelegt hat. Doch das hilft kaum weiter, weil Minerale zwar brauchbare Katalysatoren sind, aber physikalisch zu träge, um auch nur für irgendetwas zu codieren, das der Komplexität in der RNA-Welt zustrebt. Wenn aber Minerale als Replikatoren nicht zu gebrauchen sind, müssen wir den kürzesten und schnellsten Weg von anorganischen zu organischen Molekülen finden, die sich als Replikatoren betätigen, wie die RNA. Setzt man voraus, dass Nukleotide aus Zyanamid synthetisiert werden, lohnt es nicht, unbekannte und unnötige Zwischenstufen zu postulieren; besser, man kommt direkt zum Kern der Sache und geht davon aus, dass in bestimmten Umgebungen auf der noch jungen Erde die für den Beginn einer Replikation nötigen organischen Bausteine – aktivierte Nukleotide – vorlagen.21 Selbst wenn das Zyanamid ein ungeeigneter Ausgangspunkt ist, legt doch der Umstand, dass unter unterschiedlichen Bedingungen – von elektrischen Entladungen in einer reduzierenden Atmosphäre über kosmische Verbindungen auf Asteroiden bis hin zu Aerosolbomben – ein auffallend ähnliches Spektrum an organischen Verbindungen entsteht, die Vermutung nahe, dass bestimmte Moleküle (darunter wohl auch einige Nukleotide) durch die Thermodynamik bevorzugt werden. Als erste Näherung ließe sich somit sagen, dass es für die Bildung organischer Replikatoren einen konstanten Nachschub organischer Kohlenstoffverbindungen in derselben Umgebung braucht. Damit scheiden gefrorene Umgebungen übrigens aus – auch wenn organische Verbindungen beim Gefrieren zwischen Eiskristallen angereichert werden können, fehlt hier ein Mechanismus, der für Nachschub jener Bausteine sorgt, die für die Aufrechterhaltung des Prozesses nötig sind. Wie steht es mit der Energie? Sie wird ebenfalls in derselben Umgebung gebraucht. Das Zusammenfügen einzelner Bausteine (Aminosäuren oder Nukleotide) zu langkettigen Polymeren (Proteinen oder RNA) erfordert zunächst eine Aktivierung der Bausteine. Das wiederum setzt eine Energiequelle voraus – ATP oder etwas Ähnliches. Vielleicht etwas sehr Ähnliches. In einer Wasserwelt, wie sie die Erde vor vier Milliarden Jahren war, muss die Energiequelle eine recht spe114
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zifische sein: Sie muss die Polymerisierung langkettiger Moleküle antreiben. Dazu gehört, für jede neu gebildete Bindung ein Wassermolekül zu entfernen; eine Dehydratisierungs-Reaktion. Bei der Dehydratisierung von Molekülen in Lösung stellt sich allerdings das Problem, dass man ebenso gut versuchen kann, ein nasses Handtuch unter Wasser auszuwringen. Einige namhafte Forscher haben sich von dieser Problematik dermaßen ablenken lassen, dass sie sogar behaupten, das Leben hätte auf dem damals viel wasserärmeren Mars entstehen müssen. Anschließend sei es per Anhalter mit einem Meteoriten auf die Erde gelangt; tatsächlich seien wir also alle Marsianer. Doch natürlich gedeiht das Leben auf der Erde bestens im Wasser. Jede lebende Zelle wendet tausendmal in der Sekunde den Dehydratisierungstrick an, und der geht folgendermaßen: Die Dehydratisierungsreaktion wird an die Aufspaltung des ATP gekoppelt, bei der jedes Mal ein Wassermolekül aufgenommen wird. Das Koppeln einer Dehydratisierungs- an eine „Rehydratisierungs“-Reaktion (in der Fach sprache „Hydrolyse“ genannt) transferiert das Wassermolekül im Grunde nur und setzt zugleich einen Teil der in den Bindungen des ATP gespeicherten Energie frei. Das vereinfacht die Sache erheblich; so ist nur ein ständiger Nachschub an ATP oder einem einfacheren Äquivalent, wie Acetylphosphat, vonnöten. Wir werden uns im folgenden Kapitel eingehender damit beschäftigen, wie es dazu kam. Für den Augenblick interessiert uns nur, dass die Replikation in Wasser nach einem beständigen und großzügig bemessenen Nachschub an organischen Kohlenstoffverbindungen und einer Substanz verlangt, die ATP sehr ähnlich ist – beides in derselben Umgebung. Das sind drei von sechs Faktoren: Replikation, Kohlenstoff und Energie. Wie steht es mit der Kompartimentierung in Zellen? Auch das ist eine Frage der Konzentration. Biologische Membranen bestehen aus Lipiden, die ihrerseits aus Fettsäuren oder Isopren bestehen (verbunden mit einem Glycerin-Kopf, wie im vorigen Kapitel beschrieben). Bei einer Konzentration oberhalb eines bestimmten Schwellenwerts bilden Fettsäuren spontan zellähnliche Vesikel (Bläschen), die wachsen und sich teilen können, solange sie weiterhin mit Fettsäuren „gespeist“ werden. Auch hier brauchen wir einen kontinu115
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ierlichen Nachschub sowohl an organischen Kohlenstoffverbindungen als auch an Energie, die die Bildung neuer Fettsäuren antreiben. Damit sich Fettsäuren – oder auch Nukleotide – schneller anreichern als verflüchtigen, muss eine Art Fokussierung stattfinden: eine physikalische Kanalisierung oder natürliche Kompartimentierung, die ihre Konzentration lokal erhöht, sodass sie größere Strukturen ausbilden können. Unter solchen Bedingungen ist die Bildung von Vesikeln keine Zauberei – physikalisch gesehen sind sie der stabilste Zustand; die Gesamtentropie nimmt dadurch zu, wie wir im vorigen Kapitel erfahren haben. Besteht tatsächlich ein kontinuierlicher Nachschub an aktivierten Bausteinen, so werden einfache Vesikel wachsen und sich als Folge von Gesetzmäßigkeiten bezüglich des Verhältnisses von Oberfläche zu Volumen spontan teilen. Stellen Sie sich eine runde Vesikel vor – eine einfache „Zelle“ –, die verschiedene organische Moleküle eingeschlossen hat. Sie wächst, indem sie sich weiteres Material einverleibt: Lipide in die Membran und andere organische Moleküle ins Innere der Zelle. Verdoppeln wir nun die Größe, also die Oberfläche sowie den organischen Inhalt. Was passiert? Durch die Verdopplung der Oberfläche wird der Inhalt mehr als verdoppelt, weil sich die Oberfläche im Quadrat des Radius vergrößert, das Volumen aber im Kubik. Der Inhalt jedoch hat sich nur verdoppelt. Wenn nicht der Inhalt schneller zunimmt als die Oberfläche, wird sich die Vesikel zu einer Hantel verformen; das ist schon der halbe Weg zur Bildung von zwei neuen Vesikeln, kurzum: Lineares Wachstum führt zu einer Instabilität, die eher eine Teilung und Verdopplung bewirkt als eine einfache Vergrößerung. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich eine wachsende Kugel in kleinere Bläschen aufteilt. Ein kontinuierlicher Strom reaktiver Vorläufer-Kohlenstoffverbindungen bewirkt also nicht nur die Ausbildung primitiver Zellen, sondern auch eine erste primitive Form der Zellteilung. Durch solche Knospung teilen sich zufälligerweise auch L-Formen (L-Phasen) von Bakterien, denen eine Zellwand fehlt. Das Problem des Oberfläche-zu-Volumen-Verhältnisses setzt der Größe von Zellen zwangsläufig eine Obergrenze; das ist eine Frage 116
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des Nachschubs an reagierenden Substanzen und der Entfernung von Abfallprodukten. Nietzsche stellte einmal fest, dass wir Menschen uns so lange nicht für Götter halten werden, wie wir unser Geschäft verrichten müssen. Tatsächlich aber ist die Exkretion ein thermodynamisches Muss, das auch für göttliche Wesen bindend ist. Soll eine Reaktion in eine Richtung weiterlaufen, muss das Endprodukt entfernt werden. Das ist nicht mysteriöser als eine Menschenansammlung auf einem Bahnsteig. Wenn die Passagiere nicht so schnell in den Zug einsteigen können, wie neue Passagiere nachkommen, kommt es schnell zum Stau. Im Falle der Zellen hängt die Bildungsrate neuer Proteine davon ab, wie schnell oder langsam reaktive Vorläufermoleküle (aktivierte Aminosäuren) zur Verfügung gestellt und Abfallprodukte (Methan, Wasser, CO2, Ethanol – je nachdem, welche Energie freisetzende Reaktion abläuft) entfernt werden. Wenn diese Abfallprodukte nicht aus der Zelle geschleust werden, behindern sie den weiteren Ablauf der Reaktion. Das Loswerden von Abfallprodukten ist eine weitere grundlegende Problematik bei der Theorie von der Ursuppe, bei der ja Reaktanden und Abfallprodukte miteinander gelöst sind. Hier gibt es keine Richtung, keine Antriebskraft für neue chemische Prozesse.22 Und je größer eine Zelle wird, desto ähnlicher wird sie der Suppe. Weil das Volumen einer Zelle schneller zunimmt als ihre Oberfläche, muss die relative Rate, mit der frische Kohlenstoffverbindungen zugeführt und Abfallprodukte über ihre begrenzende Membran ausgeschleust werden können, mit wachsender Zellgröße immer geringer werden. Eine Zelle von der Größe des Atlantischen Ozeans oder auch nur eines Fußballs könnte niemals funktionieren; sie ist nur Suppe. (Sie haben recht, ein Straußenei ist so groß wie ein Fußball, aber der Dottersack ist lediglich ein Nahrungsspeicher – der sich entwickelnde Embryo ist weitaus kleiner.) Beim Ursprung des Lebens müssen das natürliche Maß an Nachschub von Kohlenstoffverbindungen und an der Entsorgung von Abfallprodukten ein geringes Zellvolumen vorgegeben haben. Zudem war vermutlich auch eine Art physische Kanalisierung nötig: ein beständiger natürlicher Strom, der Vorläufermoleküle liefert und Abfallprodukte abtransportiert. 117
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Bleiben noch die Katalysatoren. Heute benutzen Lebewesen Proteine – Enzyme –, doch auch die RNA hat gewisse katalytische Fähigkeiten. Allerdings ist sie ihrerseits schon ein komplexes Polymer, wie wir inzwischen wissen. Sie besteht aus zahlreichen Nukleotid-Bausteinen, die jeweils synthetisiert und aktiviert werden müssen, um dann eine lange Kette zu bilden, ansonsten hätte RNA nicht als Katalysator wirken können. Welcher Prozess auch immer die RNA hervorbrachte – dieser muss auch die Bildung weiterer organischer Moleküle vorangetrieben haben, die leichter herzustellen sind, namentlich Amino- und Fettsäuren. Eine frühe „RNA-Welt“ muss also „schmutzig“ gewesen sein – verunreinigt mit anderen Arten von kleinen organischen Molekülen. Die Vorstellung, dass die RNA den Stoffwechsel irgendwie aus sich selbst hervorgebracht habe, ist absurd, selbst wenn die RNA für den Ursprung der Replikation und Proteinsynthese eine entscheidende Rolle spielte. Was also katalysierte die ersten biochemischen Reaktionen? Wahrscheinlich anorganische Komplexe, wie Metallsulfide (insbesondere diejenigen von Eisen, Nickel und Molybdän). Man findet diese noch heute als Kofaktoren bei verschiedenen alten und universell konservierten Proteinen. Ohne das Zusammenspiel mit Proteinen sind Kofaktoren keine besonders effektiven oder spezifischen Katalysatoren, aber sie sind viel besser als nichts. Wie effektiv sie sind, hängt wieder einmal vom Durchsatz ab. Die ersten anorganischen Katalysatoren begannen lediglich damit, Kohlenstoffverbindungen und Energie in Richtung auf organische Verbindungen zu leiten, und doch dämmten sie den benötigten Zustrom von Tsunamigröße auf das Format eines einfachen Flusses ein. Und diese einfachen organischen Verbindungen (insbesondere Aminosäuren und Nukleotide) entfalten überdies selbst eine gewisse katalytische Aktivität. In Anwesenheit von Acetylphosphat können sich Aminosäuren sogar selbst zu „Polypeptiden“, kurzen Kettenmolekülen, verbinden. Die Stabilität solcher Polypeptide hängt unter anderem davon ab, wie sie mit anderen Molekülen interagieren. Hydrophobe Aminosäuren oder Polypeptide, die sich mit Fettsäuren zusammenfinden, sollten länger Bestand haben; auch geladene Polypeptide, die an anorganische Komplexe wie Eisen-Schwefel-Cluster (FeS-Mine118
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rale) binden, könnten stabiler sein. Natürliche Assoziationen zwischen kurzen Polypeptiden und Mineral-Clustern könnten die katalytische Wirkung von Mineralen verstärken, und auf sie könnte einfach durch die physikalische Beständigkeit „selektiert“ werden. Angenommen, ein mineralischer Katalysator fördert eine organische Synthesereaktion. Einige der Produkte binden an den mineralischen Katalysator und verlängern so ihr eigenes Dasein, während sie die katalytischen Eigenschaften des Minerals unmittelbar verbessern (oder zumindest abwandeln). Ein solches System könnte prinzipiell reichere und komplexere biochemische Reaktionen hervorbringen. Wie könnte also eine Zelle aus allen möglichen Überbleibseln erstehen? Benötigt wird ein beständiger, massiver Strom an reaktiven Kohlenstoffverbindungen und nutzbarer chemischer Energie, der an ersten Katalysatoren vorüberströmt, welche einen kleineren Anteil dieses Stroms in neue organische Verbindungen umwandeln. Dieser kontinuierliche Strom muss in gewisser Weise eingeschränkt sein, sodass sich organische Verbindungen – darunter Fettsäuren, Aminosäuren und Nukleotide – in hoher Konzentration anreichern können, ohne die Ausschleusung von Abfallprodukten zu behindern. Eine solche Konzentration des Stroms ließe sich durch eine natürliche Kanalisierung oder Kompartimentierung erreichen, die denselben Effekt haben wie die Kanalisierung von Wasser vor einer Wassermühle – dies verstärkt jeden Strom auch in Abwesenheit von Enzymen, sodass insgesamt weniger Kohlenstoffverbindungen und Energie benötigt werden. Nur wenn die Syntheserate neuer organischer Verbindungen höher als ihre Abgabe in die äußere Umgebung und somit eine Erhöhung ihrer Konzentration möglich ist, werden sie sich spontan zu Strukturen wie zellähnlichen Vesikeln, RNA und Proteinen anordnen.23 Eigentlich ist das nicht mehr als der Anfang einer Zelle – notwendig, aber noch lange nicht genug. Lassen wir aber für den Augenblick die Einzelheiten beiseite und konzentrieren wir uns nur auf diese eine Sache. Ohne einen starken Zustrom von Kohlenstoffverbindungen und Energie, der durch anorganische Katalysatoren physisch kanalisiert wird, gibt es keine Möglichkeit für die Evolution von Zellen. Diese Notwendigkeit gilt meines Erachtens im gesamten Universum: 119
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Angesichts der Notwendigkeit für Reaktionen kohlenstoffhaltiger Substanzen, die ich im vorigen Kapitel beschrieben habe, gibt die Thermodynamik einen kontinuierlichen Strom an Kohlenstoffverbindungen und Energie über natürliche Katalysatoren vor. Von möglichen Ausnahmen einmal abgesehen, gilt dies für praktisch alle Umgebungen, die bisher als Ursprung des Lebens im Gespräch waren: warme Tümpel (leider lag Darwin mit dieser Vermutung falsch), die Ursuppe, von Mikroporen durchsetzter Bimsstein, Strände, Panspermie und so fort. Uns es schließt hydrothermale Schlote nicht aus, ganz im Gegenteil: Es schließt sie ein. Hydrothermale Schlote sind genau die Art von dissipativer Struktur, die wir suchen – Reaktoren mit einem beständigen Strom und ganz und gar nicht im elektrochemischen Gleichgewicht.
Hydrothermale Schlote als Durchflussreaktoren Die Thermalquelle Grand Prismatic Spring im Yellowstone-Nationalpark erinnert mich mit ihrer aggressiven gelb-orange-grünen Färbung an das Auge Saurons. Die ungewöhnlich intensiven Farben stammen von den Fotosynthesepigmenten von Bakterien, die Wasserstoff (oder Schwefelwasserstoff) aus den vulkanischen Quellen als Elektronendonator nutzen. Da sie Fotosynthese betreiben, geben diese Bakterien eher keinen Einblick in den Ursprung des Lebens, aber sie vermitteln eine Vorstellung von der Urkraft heißer Quellen. Diese sind wahre Paradiese für Bakterien in ansonsten eher karger Umgebung. Man gehe vier Milliarden Jahre in der Zeit zurück und stelle sich statt der umgebenden Vegetation nacktes Gestein vor – schon fällt es leicht, sich einen solchen urweltlichen Ort als Geburtsstätte des Lebens auszumalen. Und doch war es anders. Damals war die Erde eine Wasserwelt. Vielleicht gab es einige heiße Quellen an Land, auf kleinen vulkanischen Inseln, die sich aus dem tosenden Weltmeer erhoben. Die meisten jedoch befanden sich tief unter der Wasseroberfläche in hydrothermalen Systemen im Meeresboden. Die Entdeckung von hydrothermalen Schloten (Tiefsee-Hydrothermalquellen) Ende der 1970er-Jahre war 120
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ein Schock, aber nicht, weil niemand mit ihrer Existenz gerechnet hätte (Bereiche mit warmem Wasser hatten sie längst verraten) – die Überraschung bestand vielmehr in der brutalen Dynamik der „Schwarzen Raucher“, der überwältigenden Vielfalt von Lebewesen, die sich an sie klammerten. Die Tiefsee ist größtenteils öde und fast unbelebt. Diese schwankenden Schlote jedoch, die schwarzen Rauch ausstießen, als ginge es um ihre Existenz, beherbergten einzigartige und bis dato unbekannte Tiere – riesige Bartwürmer ohne Mund und After, tellergroße Venusmuscheln und augenlose Krabben – in einer Dichte wie im tropischen Regenwald. Dies war eine bahnbrechende Entdeckung, nicht nur für Biologen und Ozeanografen, sondern vielleicht noch mehr für jene, die sich für den Ursprung des Lebens interessieren, wie der Mikrobiologe John Baross rasch erkannte. Seither hat sich Baross wohl mehr mit der vitalen Kraft chemischer Ungleichgewichte in jenen Schloten in der tiefschwarzen Finsternis am Meeresgrund beschäftigt als jeder andere. Doch auch diese Schlote sind nicht ganz das, als was sie erscheinen. Sie sind nicht wirklich von der Sonne abgeschnitten. Die Tiere, die hier leben, sind auf die Symbiose mit Bakterien angewiesen, welche den aus den Schloten strömenden, gasförmigen Schwefelwasserstoff oxidieren. Dies ist die Hauptquelle des Ungleichgewichts: Schwefelwasserstoff (H2S) ist ein reduziertes Gas, das mit Sauerstoff unter Freisetzung von Energie reagiert. Die Mechanismen habe ich im vo rangegangenen Kapitel erläutert: Bakterien nutzen H2S als Elektronendonator für die Atmung und Sauerstoff als Elektronenakzeptor. Dies dient als Antrieb der ATP-Synthese. Doch Sauerstoff ist ein Nebenprodukt der Fotosynthese und kam auf der jungen Erde, vor Entwicklung der oxygenen Fotosynthese, nicht vor. Die faszinierende Explosion von Leben rund um diese Schwarzen Raucher ist daher vollkommen, wenn auch indirekt, von der Sonne abhängig. Und das bedeutet, dass diese Schlote vor vier Milliarden Jahren ganz anders ausgesehen haben müssen. Was bleibt, wenn man den Sauerstoff wegnimmt? Nun ja, Schwarze Raucher entstehen durch die unmittelbare Interaktion von Meerwasser mit Magma an den mittelozeanischen Rücken (den Spreizungszo121
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nen des Ozeanbodens) oder anderen vulkanisch aktiven Orten. Wasser sickert durch den Meeresboden in Magmakammern in relativ geringer Tiefe, wird dort rasend schnell auf Hunderte Grad Celsius aufgeheizt und mit gelösten Metallen und Sulfiden versetzt, sodass die Lösung stark sauer wird. Wenn das überhitzte Wasser mit explosiver Kraft wieder ins Meer hinaufschießt, kühlt es dort schlagartig herunter. Winzige Partikel von Eisen-Schwefel-Mineralen, etwa Pyrit (Schwefelkies, Katzengold), fallen augenblicklich aus – das ist der schwarze „Rauch“, dem diese wütenden vulkanischen Schlote ihren Namen verdanken. Dieses Geschehen läuft seit vier Milliarden Jahren größtenteils unverändert ab, doch ist kein Bestandteil dieser heftigen vulkanischen Aktivität für das Leben nutzbar. Dafür zählen allein die chemischen Gradienten, und das ist der springende Punkt. Es fehlte der chemische Schub durch den Sauerstoff. Es ist – vor allem bei hohen Temperaturen – viel schwieriger, Schwefelwasserstoff mit CO2 reagieren zu lassen, um organische Verbindungen zu erzeugen. In einer Reihe bahnbrechender Artikel entwarf der revolutionäre und notorisch streitbare deutsche Chemiker und Patentanwalt Günter Wächtershäuser ein neues Bild.24 Er formulierte in allen Einzelheiten einen möglichen Weg, CO2 an der Oberfläche des Minerals Pyrit zu organischen Molekülen zu reduzieren (von ihm pyrites pulling, „Pyritzüchtung“ genannt). Im weiteren Sinne sprach Wächtershäuser von einer „Eisen-Schwefel-Welt“, in der Eisen-Schwefel-Minerale (FeS) die Bildung organischer Moleküle katalysierten. Solche Minerale bestehen meist aus sich wiederholenden Gitterstrukturen aus zweiwertigem Eisen (Fe2+) und Sulfid (S2–). Kleine mineralische Cluster aus Eisen und Sulfid, die FeS-Cluster, findet man auch heute im Zentrum vieler Enzyme, auch jener, die an der Atmung beteiligt sind. Ihre Struktur ist im Grunde dieselbe wie die Gitterstruktur von FeSMineralen wie Mackinawit und Greigit (Abbildung 11, siehe auch Abbildung 8), was der Vorstellung, diese Minerale könnten die ersten Schritte zum Leben katalysiert haben, einige Glaubwürdigkeit verleiht. Dennoch: Auch wenn FeS-Minerale gute Katalysatoren sind, ergaben doch Wächtershäusers eigene Experimente, dass die Pyritzüchtung, so wie er sie ursprünglich aufgefasst hatte, nicht funktio122
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Abbildung 11: Eisen-Schwefel-Minerale und Eisen-Schwefel-Cluster Die große Ähnlichkeit zwischen FeS-Mineralen und den FeS-Clustern in heutigen Enzy men in der Darstellung von Bill Martin und Mike Russell aus dem Jahr 2004. In der Mitte eine sich wiederholende kristalline Einheit des Minerals Greigit; diese Struktur wieder holt sich in einem Gitter aus zahlreichen Einheiten. Außen dargestellt sind Eisen-Schwe fel-Cluster in Proteinen mit Strukturen, die Greigit und verwandten Mineralen wie dem Mackinawit ähneln. Die grauen Flächen geben die ungefähre Form und Größe des jeweils genannten Proteins wieder. Jedes Protein enthält meist mehrere FeS-Cluster mit oder ohne Nickel.
niert. Nur mithilfe des reaktiveren Gases Kohlenmonoxid (CO) gelang es ihm überhaupt, organische Moleküle zu erzeugen. Die Tatsache, dass keine bekannte Lebensform durch „Pyritzüchtung“ wächst, lässt vermuten, dass das Misslingen im Labor kein Zufall war: Sie scheint wirklich nicht zu funktionieren. In Schwarzen Rauchern findet man zwar CO, aber in geringsten Konzentrationen – viel zu wenig, um irgendwelche ernsthaften biochemischen Reaktionen anzutreiben. (Die Konzentrationen von CO 123
Teil II: Der Ursprung des Lebens
sind tausend- bis millionenfach niedriger als die von CO2.) Und es gibt weitere schwerwiegende Probleme. Die Schlote der Schwarzen Raucher sind unglaublich heiß, die Flüssigkeiten schießen mit einer Temperatur von 250 bis 400 Grad Celsius heraus, werden aber durch den immensen Druck am Meeresgrund davon abgehalten zu kochen. Bei solchen Temperaturen ist CO2 die stabilste Kohlenstoffverbindung. Eine Synthese von organischen Molekülen kann also nicht stattfinden, ganz im Gegenteil: Alle entstehenden organischen Verbindungen müssten rasch wieder zu CO2 abgebaut werden. Auch die Vorstellung, dass Reaktionen organischer Moleküle durch Mineraloberflächen katalysiert werden, ist problematisch. Organische Verbindungen binden entweder dauerhaft an die Oberfläche, womit der Prozess über kurz oder lang zum Stillstand käme, oder sie dissoziieren. In letzterem Falle schießen sie mit enormer Geschwindigkeit aus dem brodelnden Schlot in die Weite des Ozeans hinaus. Schwarze Raucher sind zudem sehr instabil, sie wachsen und zerfallen im Verlauf von höchstens einigen Jahrzehnten. Das ist nicht genügend Zeit, um das Leben zu „erfinden“. Sie sind zwar wahre dissipative Strukturen des Ganz-und-gar-nicht-Gleichgewichts und stellen zweifellos die Lösung einiger Probleme des Ursuppenmodells dar, doch sind diese vulkanischen Systeme zu extrem und instabil, um die zarte Kohlenstoffchemie zu unterhalten, die für den Ursprung von Leben benötigt wird. Allerdings versetzten sie die frühen Weltmeere mit katalytischen Metallen, etwa zweifach oxidiertem Eisen (Fe2+) und Nickel (Ni2+), aus Magma; dies war für die Entstehung von Leben unverzichtbar. Nutznießer all dieser im Ozean gelösten Metalle waren TiefseeHydrothermalquellen eines anderen Typs, die alkalinen hydrothermalen Schlote (Abbildung 12). Meiner Ansicht nach lösen sie alle Probleme, die sich bei Schwarzen Rauchern stellen. Alkaline hydrothermale Schlote sind nicht vulkanisch, und die aufgeregte Dramatik der Schwarzen Raucher geht ihnen völlig ab. Sie haben aber andere Eigenschaften, die sie zu viel besseren elektrochemischen Durchflussreaktoren machen. Auf ihre Bedeutung für den Ursprung des Lebens wies der revolutionäre Geochemiker Mike Russell erstmals 124
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Abbildung 12: Tiefsee-Hydrothermalquellen Vergleich eines aktiven alkalinen hydrothermalen Schlotes im Hydrothermalgebiet Lost City (links) mit einem Schwarzen Raucher (rechts). Der Maßstabsbalken entspricht einem Meter: Alkaline Schlote können bis zu 60 m hoch werden, so hoch wie ein Gebäude mit 20 Etagen. Der weiße Pfeil oben zeigt auf eine Sonde, die oben auf dem alkalinen Schlot befestigt ist. Die helleren Abschnitte alkaliner hydrothermaler Schlote sind die aktivsten, doch anders als Schwarze Raucher fällt aus diesen hydrothermalen Flüssigkeiten kein „Rauch“ aus. Lost City (deutsch „Untergegangene Stadt“) befindet sich auf dem AtlantisMassiv nahe dem Mittelatlantischen Rücken und wurde im Jahr 2000 von Deborah Kelley und Kollegen entdeckt, die auf dem Forschungsschiff Atlantis arbeiteten. Der im Namen festgehaltene Eindruck des Verlassenseins trifft zwar nicht zu, wirkt aber doch passend.
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Teil II: Der Ursprung des Lebens
1988 in einem kurzen Brief an das Fachjournal Nature hin; im Verlauf der 1990er-Jahre erläuterte er dies in einer Reihe eigenwilliger theoretischer Artikel. Später setzte Bill Martin diese einzigartige mikrobiologische Perspektive in Bezug zur Welt der hydrothermalen Schlote; beide wiesen auf etliche überraschende Parallelen zwischen den Schloten und lebenden Zellen hin. Russell und Martin argumentierten, wie Wächtershäuser, das Leben habe „von unten“ begonnen, mit der Reaktion einfacher Moleküle wie H2 und CO2, ganz ähnlich wie bei autotrophen Bakterien (die ihre organischen Moleküle aus einfachen anorganischen Vorläufermolekülen synthetisieren). Russell und Martin hoben ebenfalls stets die Bedeutung von EisenSchwefel-(FeS-)Mineralen als frühe Katalysatoren hervor. Weil Russell, Martin und Wächtershäuser alle über hydrothermale Schlote, Eisen-Schwefel-Minerale und autotrophe Ursprünge reden, werden ihre Ideen leicht zusammengeworfen. Tatsächlich aber sind sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht. Alkaline hydrothermale Schlote entstehen nicht durch die Wechselwirkung von Wasser mit Magma, sondern durch einen viel sanfteren Prozess – eine chemische Reaktion von festem Gestein mit Wasser. Gesteine, die sich aus dem Erdmantel herleiten und reich an Mineralen wie Olivin sind, reagieren mit Wasser zu dem wasserhaltigen Mineral Serpentinit. Dieses hat oftmals ein attraktives grün marmoriertes Erscheinungsbild, das an die Schuppenhaut einer Schlange (lateinisch serpens) erinnert. Poliertes Serpentinit wird oft ähnlich wie Marmor für Verzierungen gebraucht, beispielsweise in öffentlichen Gebäuden wie dem der Vereinten Nationen in New York. Die chemische Reaktion, die dieses Gestein entstehen lässt, trägt den etwas abschreckenden Namen Serpentinisierung; gemeint ist damit aber nichts anderes als die Reaktion von Olivin mit Wasser zu Serpentinit. Die Abfallprodukte dieser Reaktion sind für den Ursprung des Lebens von entscheidender Bedeutung. Olivin ist reich an Eisen (Fe2+) und Magnesium. Das Eisen wird durch das Wasser zu Eisenoxid (Rost) oxidiert. Die Reaktion ist exothermisch, setzt also Wärme frei; außerdem wird dabei viel gasförmiger Wasserstoff frei, der sich in warmen, alkalischen Flüssigkei126
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ten mit Magnesiumhydroxiden löst. Da Olivin häufig im Erdmantel vorkommt, tritt diese Reaktion vor allem am Meeresgrund auf, nahe den tektonischen Spreizungszonen, wo frisches Mantelgestein mit Meerwasser in Kontakt kommt. Mantelgesteine werden selten direkt exponiert – meist sickert Wasser in den Meeresboden, manchmal kilometertief, wo es mit Olivin reagiert. Die warmen, alkalischen und wasserstoffreichen Flüssigkeiten, die dabei entstehen, haben mehr Auftrieb als das herabsickernde kalte Meerwasser und sprudeln deshalb wieder zum Meeresgrund empor. Dort kühlen sie sich ab und reagieren mit im Ozean gelösten Salzen. Die dabei entstehenden Ausfällungen bilden nach und nach große Schlote am Meeresgrund. Im Gegensatz zu den Schwarzen Rauchern haben alkaline hydrothermale Schlote also nichts mit Magma zu tun. Man findet sie nicht unmittelbar über den Magmakammern an den Spreizungszonen, sondern typischerweise einige Kilometer davon entfernt. Sie sind nicht übermäßig heiß, aber warm – ihre Temperaturen liegen bei etwa 60 bis 90 Grad Celsius. Sie sind auch keine offenen Schlote, deren Inhalt direkt ins Meer strömt, sondern von einem Labyrinth miteinander verbundener Mikroporen durchsetzt. Und sie sind nicht sauer, sondern stark alkalisch. Zumindest sind das die Eigenschaften, die Russell Anfang der 1990er-Jahre auf der Grundlage seiner Theorie postulierte. Bei Konferenzen argumentierte er leidenschaftlich, dass die Wissenschaft von der Dramatik und Heftigkeit der Schwarzen Raucher wie hypnotisiert sei und darüber die leiseren Tugenden der alkalinen hydrothermalen Schlote glatt übersehe, aber damit stand er damals auf verlorenem Posten. Erst mit der ersten Entdeckung eines alkalinen Tiefsee-Hydrothermalgebiets im Jahr 2000, dem man den Namen Lost City gab, begannen die Forscher, ihm Gehör zu schenken. Lost City entspricht bemerkenswerterweise so gut wie allem, was Russell vorausgesagt hat, bis hin zu seiner Lokalisierung rund 15 Kilometer vom Mittelatlantischen Rücken entfernt. Wie es der Zufall will, begann ich zu diesem Zeitpunkt erstmals, über Bioenergetik im Zusammenhang mit dem Ursprung des Lebens nachzudenken und zu schreiben (mein Buch Oxygen erschien 2002). 127
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Diese Gedankengänge übten sofort eine Faszination auf mich aus, denn in meinen Augen hat Russells Hypothese auch die wunderbare und einzigartige Eigenschaft, dass sie natürliche Protonengradienten mit dem Ursprung des Lebens in Verbindung setzt. Die Frage ist nur: wie eigentlich genau?
Warum alkalische Verhältnisse so wichtig sind Alkaline hydrothermale Schlote bieten genau die Bedingungen, die es für den Ursprung des Lebens brauchte: einen ausgeprägten Strom von Kohlenstoffverbindungen und Energie, der physisch über anorganische Katalysatoren gelenkt wird und außerdem in einer Weise eingeschränkt ist, dass sich organische Verbindungen in hohen Konzentrationen anreichern können. Die hydrothermalen Flüssigkeiten sind reich an gelöstem Wasserstoff, haben aber geringere Anteile an anderen reduzierten Gasen, darunter Methan, Ammoniak und Sulfide. Lost City und andere bekannte alkaline hydrothermale Schlote sind von Mikroporen durchsetzt – es gibt keinen zentralen „Kamin“, vielmehr ist das Gestein selbst wie ein mineralischer Schwamm aufgebaut, in dem zwischen den miteinander verbundenen Poren nur dünne Wände bestehen, alles in der Größenordnung von Mikro- oder Millimetern. In seiner Gesamtheit bildet es ein riesiges Labyrinth, durch das die alkalischen Hydrothermalflüssigkeiten sprudeln (Abbildung 13). Da diese Flüssigkeiten nicht durch Magma stark erhitzt sind, begünstigen ihre Temperaturen nicht nur die Synthese organischer Moleküle (mehr dazu gleich), sondern auch eine geringere Flussrate. Sie werden nicht mit großer Geschwindigkeit ausgestoßen, sondern suchen sich gemächlich ihren Weg entlang katalytisch wirksamer Oberflächen. Und die Schlote haben über Jahrtausende hinweg Bestand, im Falle von Lost City sind es mindestens 100 000 Jahre. Wie Mike Russell formulierte, sind das 1017 Mikrosekunden, eine für die Messung chemischer Reaktionen bedeutsamere Zeiteinheit. Mehr als genug Zeit also. Thermale Strömungen durch Mikroporen-Labyrinthe haben die bemerkenswerte Fähigkeit, organische Moleküle (darunter Amino128
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säuren, Fettsäuren und Nukleotide) in extremen Konzentrationen anzureichern; diesen Prozess nennt man Thermophorese (Thermodiffusion). Das Ganze erinnert ein bisschen an die Neigung kleiner Wäschestücke, sich in der Waschmaschine in einem Bettbezug zu sammeln. All dies hat etwas mit kinetischer Energie zu tun. Bei höheren Temperaturen sind kleine Moleküle (und kleine Wäschestücke) stark in Bewegung, dabei haben sie in jede Richtung eine gewisse Bewegungsfreiheit. Wenn sich die hydrothermalen Flüssigkeiten abkühlen, nimmt die kinetische Energie der organischen Moleküle ab, und damit auch ihre Bewegungsfreiheit (gleiches widerfährt den Socken im Bettbezug). Sie wandern also mit geringerer Wahrscheinlichkeit wieder ab. Somit reichern sie sich in diesen Bereichen geringerer kinetischer Energie an (Abbildung 13). Die Kraft der Thermophorese ist teilweise von der Molekülgröße abhängig: Große Moleküle, wie die Nukleotide, werden besser zurückgehalten als kleine. Kleine Endprodukte, wie Methan, entweichen leichter aus dem Schlot. Insgesamt sollte also ein kontinuierlicher hydrothermaler Strom durch Schlote, die mit Mikroporen durchsetzt sind, aktiv organische Moleküle anreichern – in einem dynamischen Prozess, der nicht etwa die herrschenden Bedingungen verändert (wie es beim Gefrieren oder Verdunsten der Fall ist), sondern der selbst die herrschende Bedingung ist. Und es kommt noch besser: Die Thermophorese treibt die Bildung dissipativer Strukturen innerhalb der Poren des Schlotes an, indem sie Interaktionen zwischen organischen Molekülen fördert. Diese können dann spontan Fettsäuren in Vesikel ausfällen und möglicherweise Aminosäuren und Nukleotide zu Proteinen und RNA polymerisieren. Solche Interaktionen sind konzentrationsabhängig: Jeder Prozess, der die Konzentration erhöht, fördert damit die chemische Interaktion von Molekülen. Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein, und in gewisser Hinsicht ist es das auch. Die alkalinen hydrothermalen Schlote von Lost City sind heute reich an Lebensformen, wenn dies auch meist eher unspektakuläre Bakterien und Archaeen sind. Sie produzieren außerdem geringe Konzentrationen an organischen Verbindungen, darunter Methan und Spuren weiterer Kohlenwasserstoffe. Doch 129
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Abbildung 13: Extreme Konzentration von organischen Verbindungen durch Thermophorese A Ausschnitt eines alkalinen hydrothermalen Schlotes aus Lost City mit erkennbar porö ser Wandstruktur – es gibt keinen zentralen Schlot, sondern ein Labyrinth aus miteinan der verbundenen Hohlräumen, die mikrometer- bis millimetergroß sind. B Organische Verbindungen wie Nukleotide können sich durch Thermophorese theoretisch bis zum Tausendfachen der ursprünglichen Konzentration (oder stärker) anreichern. Als Antrieb fungieren Konvektionsströmungen und die thermale Diffusion in den Poren der Schlote, wie in Bild C gezeigt. D Beispiel einer experimentellen Thermophorese aus unserem Reaktor am University College London mit 5000-facher Konzentration eines fluoreszie renden organischen Farbstoffs (Fluorescein) in einem Keramikschwamm (Durchmesser: 9 cm) mit Mikroporen. E Noch höhere Konzentration des fluoreszierenden Moleküls Chinin, in diesem Fall mindestens um den Faktor 1 Million erhöht.
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diese Schlote bringen heute mit Sicherheit keine neuen Lebensformen hervor, sie bilden durch die Thermophorese nicht einmal ein an organischen Verbindungen reiches Milieu. Das ist einerseits so, weil die dort lebenden Bakterien schon alle Ressourcen sehr effektiv „absaugen“, aber andererseits gibt es dafür auch grundlegendere Ursachen. So wie Schwarze Raucher vor vier Milliarden Jahren anders aussahen als heute, so war wahrscheinlich auch die chemische Beschaffenheit der alkalinen hydrothermalen Schlote eine andere. Bestimmte Aspekte aber waren sehr ähnlich. Der Prozess der Serpentinisierung selbst dürfte so ziemlich derselbe gewesen sein: dieselben warmen, wasserstoffreichen, alkalischen Flüssigkeiten müssten aus dem Ozeanboden gesprudelt sein. Doch der Ozean hatte damals eine ganz andere chemische Zusammensetzung als heute, und das hat vermutlich die mineralische Beschaffenheit der alkalinen Schlote verändert. Heute besteht Lost City größtenteils aus Carbonaten (Aragonit), wohingegen andere, ähnliche Schlote, deren Entdeckung noch nicht so lange zurückliegt (wie das Hydrothermalfeld von Strýtan vor der Nordküste Islands), aus Ton bestehen. Wir können nicht mit Sicherheit sagen, was für Strukturen sich im Ozean des Hadaikums vor rund vier Milliarden Jahren gebildet haben, doch es gab zwei große Unterschiede, die auch große Wirkung gehabt haben müssen: Es fehlte Sauerstoff, und die CO2-Konzentration in der Luft und im Meerwasser war ungleich höher. Diese Unterschiede dürften dafür gesorgt haben, dass urzeitliche alkaline Schlote weitaus effektivere Durchflussreaktoren waren. In Abwesenheit von Sauerstoff löst sich Eisen in seiner zweifach oxidierten Form (Fe2+). Wir wissen, dass die frühen Ozeane einen hohen Gehalt an gelöstem Eisen aufwiesen, weil all dieses Eisen später ausfiel und die gebänderten Eisensteine bildete, die ich bereits in Kapitel 1 erwähnte. Ein Großteil dieses gelösten Eisens stammte aus (vulkanischen) Schwarzen Rauchern. Wir wissen auch, dass Eisen in alkalinen hydrothermalen Schloten ausgefallen ist – nicht weil wir es gesehen haben, sondern weil die Gesetze der Chemie dies gebieten; außerdem können wir es im Labor simulieren. In diesem Fall ist 131
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Eisen in Form von Eisenhydroxiden und -sulfiden ausgefallen, die katalytische Cluster bilden, wie man sie noch heute in Enzymen findet – Proteinenzymen wie den Ferredoxinen, die heute den Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel antreiben. In Abwesenheit von Sauerstoff enthielten die mineralischen Wände der alkalinen Schlote also katalytische Eisenminerale, wahrscheinlich noch verstärkt durch weitere reaktive Metalle wie Nickel und Molybdän (das sich in alkalischen Flüssigkeiten löst). Damit kommen wir einem echten Durchflussreaktoren schon recht nahe: Wasserstoffreiche Flüssigkeiten zirkulieren durch ein Labyrinth von Mikroporen mit katalytisch wirkenden Wänden, die Reaktionsprodukte anreichern und zurückhalten, Abfallprodukte aber ausstoßen. Was aber reagiert da genau? Das ist die Crux bei der Sache. Hier kommt der hohe CO2-Gehalt ins Spiel. Die heutigen alkalinen hydrothermalen Schlote sind relativ kohlenstoffarm, weil ein guter Teil der verfügbaren anorganischen Kohlenstoffverbindungen als Carbonat (Aragonit) in den Schlotwänden ausfällt. Im Hadaikum, also vor vier Milliarden Jahren, war der CO2-Gehalt Schätzungen zufolge deutlich höher, womöglich um das Hundert- oder gar Tausendfache höher als heute. Ein hoher CO2-Spiegel sorgte nicht nur für ausreichend Kohlenstoff in den urzeitlichen Schloten, sondern machte die Ozeane auch saurer, sodass Kalziumcarbonat weniger leicht ausfiel. (Heute stellt dies eine Bedrohung für Korallenriffe dar, denn der steigende CO2-Gehalt der Atmosphäre lässt die Meere versauern.) Der pH-Wert der heutigen Weltmeere liegt bei etwa 8, ist also leicht alkalisch. Im Hadaikum waren die Ozeane vermutlich bei einem pH-Wert von 5 bis 7 neutral oder leicht sauer. Die Kombination aus hohem CO2-Gehalt, leicht sauren Ozeanen, alkalischen Flüssigkeiten und dünnen, FeS-beschichteten Schlotwänden ist entscheidend, denn sie schafft chemische Bedingungen, die ansonsten nur schwerlich zustande kommen. Chemische Reaktionen unterliegen stets zwei umfassenden Prinzipien: der Thermodynamik und der Kinetik. Die Thermodynamik bestimmt, welche Materiezustände stabiler sind, also welche Moleküle sich ohne Zeitlimit bilden werden. Die Kinetik hingegen hat mit Geschwindigkeit zu tun und bestimmt, welche Reaktionsprodukte sich 132
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innerhalb einer bestimmten Zeitspanne bilden werden. Nach den Regeln der Thermodynamik wird CO2 mit Wasserstoff (H2) zu Methan (CH4) reagieren. Dies ist eine exothermische Reaktion, es wird also Wärme freigesetzt. Das wiederum erhöht, zumindest unter bestimmten Bedingungen, die Umgebungsentropie und begünstigt damit diese Reaktion. Wenn sich die Gelegenheit dazu bietet, sollte sie demnach spontan ablaufen. Die erforderlichen Bedingungen sind unter anderem moderate Temperaturen und das Fehlen von Sauerstoff. Steigen die Temperaturen zu stark an, ist CO2 stabiler als Methan, wie ich bereits erwähnte. Und wenn Sauerstoff vorliegt, wird dieser bevorzugt mit Wasserstoff zu Wasser reagieren. Vor vier Milliarden Jahren dürften die moderaten Temperaturen und die Abwesenheit von Sauerstoff in den alkalinen Schloten die Reaktion von CO2 mit H2 zu CH4 begünstigt haben. Selbst heute bildet das Hydrothermalgebiet Lost City eine kleine Menge Methan, obwohl Sauerstoff vorliegt. Die Geochemiker Jan Amend und Tom McCollom sind noch weitergegangen und haben berechnet, dass die Bildung organischer Materie aus H2 und CO2 unter Bedingungen, wie sie in alkalinen hydrothermalen Schloten herrschen, thermodynamisch sogar begünstigt werden, solange kein Sauerstoff vorhanden ist. Das ist schon bemerkenswert. Unter diesen Bedingungen, bei 25 bis 125 Grad Celsius, ist die Bildung der gesamten zellulären Biomasse (Aminosäuren, Fettsäuren, Kohlenhydrate, Nukleotide und derlei mehr) aus H2 und CO2 exergonisch. Organische Materie müsste also unter diesen Bedingungen spontan entstehen. Die Bildung von Zellen setzt Energie frei und erhöht die Gesamtentropie! Aber – und das ist ein großes Aber – H2 reagiert nicht allzu leicht mit CO2. Es besteht eine kinetische Barriere, will sagen: Obwohl die Thermodynamik besagt, dass beide spontan miteinander reagieren sollten, steht dem ein anderes Hindernis im Wege. H2 und CO2 verhalten sich zueinander nahezu indifferent. Damit sie miteinander reagieren, muss Energie zugeführt werden, um sozusagen das Eis zu brechen. Dann reagieren sie miteinander, anfänglich unter Bildung von partiell reduzierten Verbindungen. CO2 kann Elektronen nur paarweise aufnehmen. Akzeptiert es zwei Elektronen, entsteht ein 133
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Formiat (HCOO –), zwei weitere Elektronen ergeben Formaldehyd (CH2O), weitere zwei Methanol (CH3OH) und ein weiteres, letztes Elektronenpaar lässt das vollständig reduzierte Methan (CH4) entstehen. Leben besteht natürlich nicht aus Methan, sondern aus nur partiell reduzierten Kohlenstoffverbindungen, deren Redoxzustand ungefähr dem eines Gemischs aus Formaldehyd und Methanol entspricht. Beim Ursprung des Lebens aus CO2 und H2 gibt es also zwei wichtige kinetische Barrieren. Die erste muss überwunden werden, damit Formaldehyd oder Methanol entsteht. Die zweite aber darf nicht überwunden werden! Sind H2 und CO2 endlich so weit, sich miteinander einzulassen, wäre ein Weiterlaufen der Reaktion bis zum Methan so ziemlich das Letzte, was die Zelle gebrauchen kann. Alles würde sich in Gas auflösen und verteilen, aus und vorbei. Das Leben, so scheint es, beherrscht die Kunst, die erste Barriere herabzusetzen, genauso wie diejenige, die zweite Barriere möglichst unüberwindlich zu halten (jedenfalls solange es die daraus frei werdende Energie nicht benötigt). Aber was geschah am Anfang? Hier nun wird die Sache vertrackt. Wenn es einfach wäre, CO2 auf ökonomische Art – also ohne mehr Energie hineinzustecken, als am Ende dabei herauskommt – zur Reaktion mit H2 zu bringen, dann hätten wir es schon getan. Das wäre ein gewaltiger Schritt hin zur Lösung der Energieprobleme auf der Welt. Man stelle sich einmal vor: die Fotosynthese nachzuahmen, um Wasser zu spalten, wobei H2 und O2 frei werden. Das wird bereits gemacht und könnte durchaus eine Wasserstoffwirtschaft unterhalten. Aber dem stehen praktische Hindernisse entgegen. Wie viel besser wäre es, H2 mit CO2 aus der Luft reagieren zu lassen, um Erdgas oder sogar synthetisches Benzin zu erzeugen! Dann könnten wir weiter Gaskraftwerke betreiben. So würde der CO2-Ausstoß mit der CO2-Entnahme aus der Atmosphäre ausgeglichen, der CO2-Anstieg in der Atmosphäre zum Stillstand gebracht und unsere Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen beendet. Das Verfahren wäre unglaublich lohnend, aber es ist uns immer noch nicht gelungen, diese einfache Reaktion ökonomisch zu betreiben. Nun ja … genau das aber ist es, was schon die einfachsten Zellen ständig tun. Methanogene etwa beziehen alle benötigte Ener134
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gie und alle Kohlenstoffverbindungen, die für ihr Wachstum nötig sind, aus der Reaktion von H2 mit CO2. Schwieriger noch ist aber die Frage, wie dieser Vorgang vonstattenging, bevor es lebende Zellen gab. Wächtershäuser hielt das für unmöglich: Leben konnte nicht aus der Reaktion von CO2 mit H2 entstanden sein, so äußerte er, denn beide würden einfach nicht miteinander reagieren.25 Selbst wenn man den Druck auf die gewaltigen Maße erhöht, die in mehreren Kilometern Tiefe in hydrothermalen Schloten herrschen, lässt sich H2 nicht zur Reaktion mit CO2 zwingen. Darum kam Wächtershäuser überhaupt erst auf die Idee mit der „Pyritzüchtung“. Aber es gibt doch einen möglichen Weg.
Protonenkraft Bei Redoxreaktionen werden Elektronen von einem Donator (in diesem Falle H2) auf einen Akzeptor (CO2) transferiert. Die Bereitschaft eines Moleküls, Elektronen abzugeben, bezeichnet man mit dem Begriff „Redoxpotenzial“. Die Konvention ist dabei nicht sehr hilfreich, aber leicht zu verstehen. Wenn ein Molekül seine Elektronen „loswerden will“, weist man ihm einen negativen Wert zu; je stärker sein „Wunsch“ ist, Elektronen abzugeben, desto negativer ist das Redoxpotenzial. Umgekehrt wird einem Molekül, dem es an Elektronen mangelt und das ebensolche von praktisch jeder Quelle akzeptieren würde, ein positiver Wert zugeschrieben (man kann es sich als Kraft vorstellen, die negativ geladene Elektronen anzieht). Sauerstoff „will“ Elektronen aufnehmen (und oxidiert damit jeglichen Elektronenspender), daher hat er ein sehr positives Redoxpotenzial. All diese Werte stehen in Bezug zu der sogenannten Standard-Wasserstoffelektrode, doch das soll uns hier nicht weiter interessieren.26 Entscheidend ist, dass ein Molekül mit relativ negativem Redoxpotenzial dazu neigt, seine Elektronen an jedes beliebige Molekül mit positiverem Redoxpotenzial abzugeben; umgekehrt ist das nicht der Fall. Darin liegt das Problem von H2 und CO2. Bei neutralem pH-Wert (7,0) beträgt das Redoxpotenzial von H2 technisch gesehen –414 Millivolt. Wenn H2 seine beiden Elektronen abgibt, bleiben zwei Proto135
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nen übrig, also 2H+. Das Redoxpotenzial von Wasserstoff spiegelt dieses dynamische Gleichgewicht wider – die Neigung von H2, seine Elektronen einzubüßen und damit zu 2H+ zu werden, und die Neigung von 2H+, Elektronen aufzunehmen und H2 zu bilden. Wenn CO2 jene Elektronen aufnehmen sollte, würde es zum Formiat, doch dieses hat ein Redoxpotenzial von –430 mV. Somit neigt es dazu, Elektronen an H+ abzugeben, sodass CO2 und H2 entstehen. Beim Formaldehyd ist es noch schlimmer. Sein Redoxpotenzial liegt bei etwa –580 mV. Es behält seine Elektronen kaum bei sich und gibt sie bereitwillig an Protonen ab, sodass H2 entsteht. Bei herrschendem pH-Wert von 7 hat Wächtershäuser also recht: H2 kann CO2 auf keinen Fall reduzieren. Aber natürlich leben einige Bakterien und Archaeen genau von dieser Reaktion, also muss sie einfach möglich sein. Wir beschäftigen uns im folgenden Kapitel eingehend mit der Frage, wie sie das anstellen, denn sie sind für den nächsten Abschnitt unserer Geschichte von größerer Relevanz. Für den Augenblick genügt es uns zu wissen, dass Bakterien, denen H2 und CO2 als Wachstumsgrundlage dienen, nur dann wachsen können, wenn ein Protonengradient über einer Membran besteht. Wenn das kein entscheidender Hinweis ist! Das Redoxpotenzial eines Moleküls ist oft abhängig vom pH-Wert, also von der Protonenkonzentration. Das hat einen denkbar einfachen Grund. Die Übertragung eines Elektrons bedeutet die Übertragung einer negativen Ladung. Kann das Molekül, das reduziert wird, auch ein Proton aufnehmen, wird das Produkt stabiler, weil die positive Ladung des Protons die negative Ladung des Elektrons ausgleicht. Je mehr Protonen verfügbar sind, um Ladungen auszugleichen, desto leichter wird ein Elektronentransfer vonstatten gehen. Das macht das Redoxpotenzial positiver – es wird leichter, ein Elektronenpaar aufzunehmen. Das Redoxpotenzial nimmt sogar pro Einheit, die der pH saurer wird, um etwa 59 mV zu. Je saurer die Lösung, desto einfacher ist es, Elektronen auf CO2 zu übertragen und so ein Formiat oder Formaldehyd zu erzeugen. Leider gilt exakt dasselbe auch für den Wasserstoff. Je saurer die Lösung, desto einfacher ist es, Elektronen auf Protonen zu übertragen und so H2-Gas zu erzeugen. Es hat also 136
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Abbildung 14: Die Bildung organischer Verbindungen aus H2 und CO2 A Auswirkung des pH-Wertes auf das Redoxpotenzial. Je negativer das Redoxpotenzial, desto wahrscheinlicher ist es, dass eine Verbindung ein oder mehrere Elektronen abgibt; je positiver es ist, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass eine Verbindung Elektronen aufnimmt. Man beachte, dass die Skala an der y-Achse nach oben hin negativer wird. Bei pH 7 kann H2 keine Elektronen auf CO2 übertragen, um Formaldehyd (CH2O) zu bilden; die Reaktion läuft dann eher in entgegengesetzter Richtung ab. Liegt H2 jedoch bei einem pH-Wert von 10 vor, wie in alkalischen hydrothermalen Schloten, und CO2 bei einem pH-Wert von 6, wie im Wasser der frühen Ozeane, ist die Reduktion von CO2 zu CH2O theoretisch möglich. B Bei einem Schlot mit Mikroporen kann es dazu kommen, dass sich Flüssigkeiten mit pH-Werten von 10 bzw. 6 einander gegenüber befinden, nur getrennt durch eine dünne Wand mit halbleitenden FeS-Mineralen, was die Reduktion von CO2 zu CH2O begünstigen würde. FeS-Minerale wirken hier als Katalysator (wie heute noch in unserer Atmungskette) und übertragen Elektronen von H2 auf CO2.
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keinen brauchbaren Effekt, einfach nur den pH-Wert zu verändern. Nach wie vor ist es unmöglich, CO2 mit H2 zu reduzieren. Doch stellen wir uns einmal einen Protonengradienten über einer Membran vor. Die Protonenkonzentration – die Azidität – ist auf beiden Seiten der Membran unterschiedlich. Genau denselben Unterschied findet man in alkalinen hydrothermalen Schloten. Alkaline hydrothermale Flüssigkeiten suchen sich ihren Weg durch ein Labyrinth aus Mikroporen, genauso wie das leicht saure Wasser des Ozeans. An manchen Stellen stehen sich die Flüssigkeiten gegenüber: hier saures, mit CO2 gesättigtes Meerwasser, dort alkalische Flüssigkeiten mit reichlich H2, beide nur durch eine dünne, anorganische Wand getrennt, die halbleitende FeS-Minerale (Eisen-Schwefel-Minerale) enthält. Das Redoxpotenzial von H2 ist in alkalischem Milieu niedriger – der Wasserstoff „will“ unbedingt seine Elektronen loswerden, damit sich der H+-Rest mit dem OH– in den alkalinen Flüssigkeiten zum so wunderbar stabilen Wasser verbinden kann. Bei einem pH-Wert von 10 liegt das Redoxpotenzial von H2 bei –584 mV: stark reduzierend. Umgekehrt liegt das Redoxpotenzial eines Formiats bei einem pH-Wert von 6 bei –370 mV, beim Formaldehyd beträgt es –520 mV, kurzum: Bei solchen Unterschieden im pH-Wert ist es für H2 ein Leichtes, CO2 zu Formaldehyd zu reduzieren. Die Frage ist nur: Wie werden die Elektronen physikalisch vom H2 auf das CO2 übertragen? Die Struktur liefert die Antwort. FeSMinerale in den dünnen anorganischen Trennwänden zwischen den Mikroporen der Schlote leiten Elektronen weiter. Das tun sie nicht so effektiv wie ein Kupferdraht, aber sie tun es immerhin. Und somit sollte theoretisch die physische Struktur der alkalinen Schlote die Reduktion von CO2 durch H2 und die Bildung organischer Verbindungen betreiben (Abbildung 14). Einfach fantastisch! Aber – ist es wirklich so? Hierin liegt die Schönheit der Wissenschaft: in einer solch einfachen, überprüfbaren Frage. Damit will ich nicht sagen, dass sie einfach zu überprüfen ist; ich versuche dies inzwischen schon seit einiger Zeit im Labor, gemeinsam mit dem Chemiker Barry Herschy und den Doktoranden Alexandra Whicher und Eloi Camprubi. Mit finanzieller Unterstützung durch den Leverhulme Trust haben wir einen kleinen Benchtop-Reaktor gebaut, um 138
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diese Reaktionen ablaufen zu lassen. Die Ausfällung der dünnen Trennwände mit halbleitenden FeS-Mineralen im Labor ist recht schwierig zu bewerkstelligen. Ein Problem ist auch, dass das Formaldehyd nicht stabil ist – es „will“ seine Elektronen wieder an Protonen abgeben, sodass erneut H2 und CO2 entstehen, und in saurem Milieu wird es das umso leichter tun. Entscheidend sind exakte Werte für pH und Wasserstoffkonzentration. Und zu guter Letzt ist es nicht gerade einfach, die kolossalen Ausmaße der echten Schlote – die zig Meter hoch sind und bei enormem Druck arbeiten (was eine viel höhere Konzentration von Gasen wie Wasserstoff erlaubt) – im Labor nachzustellen. All diesen Schwierigkeiten zum Trotz ist das Experiment insofern einfach, als es einer klar formulierten, überprüfbaren Frage nachgeht und die Antwort darauf uns sehr viel über den Ursprung des Lebens verraten wird. Tatsächlich konnten wir Formiat, Formaldehyd und andere einfache organische Verbindungen (auch Ribose und Desoxyribose) erzeugen. Für den Augenblick wollen wir die Theorie als gegeben voraussetzen und davon ausgehen, dass die Reaktion wirklich wie vorausgesagt abläuft. Was wird dann geschehen? Es sollten langsam, aber stetig organische Moleküle synthetisiert werden. Welche und warum gerade diese, wollen wir im folgenden Kapitel behandeln. Hier möchte ich nur feststellen, dass auch dies eine einfache, überprüfbare Vorhersage ist. Einmal gebildet, müssten die organischen Verbindungen auf das Vieltausendfache ihrer Ursprungskonzentration angereichert werden – durch Thermophorese, die, wie oben dargestellt, die Bildung von Vesikeln und vielleicht auch Polymeren wie den Proteinen begünstigt. Es sei noch einmal gesagt: Die Vorhersagen, dass sich organische Verbindungen zunächst anreichern und dann polymerisieren, sind im Labor direkt überprüfbar, und darum bemühen wir uns gerade. Die ersten Schritte sind durchaus ermutigend: Der fluoreszierende Farbstoff Fluorescein, der eine ähnliche Größe hat wie ein Nukleotid, reichert sich in unserem Durchflussreaktoren mindestens auf das Fünftausendfache der Ursprungskonzentration an; die Chininkonzentration nimmt vielleicht sogar noch stärker zu (Abbildung 13). 139
Teil II: Der Ursprung des Lebens
Was hat die ganze Sache mit den Redoxpotenzialen nun eigentlich zu bedeuten? Nun, sie beschränken und erweitern zugleich die möglichen Bedingungen, unter denen sich Leben im Universum entwickeln sollte. Das ist einer der Gründe dafür, dass Wissenschaftler manchmal so wirken, als lebten sie in ihrer eigenen kleinen Welt, in abstrakte Gedanken über die verborgensten Einzelheiten versunken. Kann die Tatsache, dass das Redoxpotenzial von Wasserstoff mit dem pH-Wert abnimmt, irgendwie von Bedeutung sein? Ja, ja und abermals ja! Unter Bedingungen, wie sie in alkalinen hydrothermalen Schloten herrschen, müsste H2 mit CO2 reagieren. Unter praktisch allen anderen Bedingungen wird es das nicht. In diesem Kapitel habe ich bereits praktisch alle anderen Umgebungen als brauchbare Szenerie für den Ursprung des Lebens ausgeschlossen. Wir haben auf Grundlage der Thermodynamik festgestellt, dass eine Zelle nur dann aus allen möglichen Überbleibseln entstehen kann, wenn ein ständiger Strom an reaktiven Kohlenstoffverbindungen und chemischer Energie über rudimentäre Katalysatoren in einem relativ abgeschlossenen Durchflusssystem (wie ein Durchflussreaktoren) besteht. Nur hydrothermale Schlote können die erforderlichen Bedingungen bieten, und nur eine bestimmte Sorte – alkaline hydrothermale Schlote – erfüllen wirklich alle Anforderungen. Aber alkaline Schlote bringen ein schwerwiegendes Problem mit sich – und eine wunderbare Antwort darauf. Das schwerwiegende Problem besteht darin, dass diese Schlote reich an gasförmigem Wasserstoff sind, dieser aber nicht mit CO2 zu organischen Molekülen reagieren wird. Die wunderbare Antwort ist die, dass die physische Struktur der Schlote – natürliche Protonengradienten über dünne Trennwände mit Halbleitereigenschaften – (theoretisch) die Bildung organischer Verbindungen betreiben wird. Und diese anschließend anreichert. Nimmt man dazu noch die Tatsache, dass jegliches Leben auf der Erde bis heute (!) Protonengradienten über Membranen benutzt, um sowohl den Kohlenstoff- als auch den Energiestoffwechsel anzutreiben, bin ich versucht, mit dem Physiker John Archibald Wheeler auszurufen: „Oh, wie hätte es anders ein können! Wie konnten wir alle nur so lange blind dafür sein!“ 140
3 Energie und der Ursprung des Lebens
Wir wollen uns nun wieder ein wenig beruhigen und zum Ende kommen. Ich sagte, dass Redoxpotenziale die möglichen Bedingungen, unter denen sich Leben entwickeln sollte, zugleich einschränken und erweitern. Nach dieser Analyse finden sich die günstigsten Bedingungen für den Ursprung von Leben in alkalinen hydrothermalen Schloten. Vielleicht verlässt uns ein bisschen der Mut … warum die Optionen so stark einschränken? Es muss doch noch andere Wege geben! Nun, vielleicht. In einem unbegrenzten Universum ist alles möglich; aber das macht es noch nicht wahrscheinlich. Alkaline Schlote sind wahrscheinlich. Sie entstehen, wir erinnern uns, durch eine chemische Reaktion von Wasser mit dem Mineral Olivin. Gestein. Eines der häufigsten Minerale im Universum; es stellt einen großen Teil des interstellaren Staubes und der Akkretionsscheiben, aus denen Planeten – so auch die Erde – entstehen. Die Serpentinisierung von Olivin kann sogar im All auftreten, sodass der interstellare Staub hydratisiert wird. Bei der Akkretion unseres Planeten wurde dieses Wasser durch die steigenden Temperaturen und Drücke ausgetrieben, was nach Ansicht mancher Wissenschaftler die Weltmeere entstehen ließ. Wie auch immer es gewesen sein mag, Olivin und Wasser sind zwei der häufigsten Substanzen im Universum. Eine weitere ist CO2. Dieses ist ein in den Atmosphären der meisten Planeten im Sonnensystem häufig vorkommendes Gas; man hat es sogar in der Atmosphäre von Exoplaneten in anderen stellaren Systemen entdeckt. Gestein, Wasser und CO2: die Zutatenliste für Leben. Wir finden sie auf praktisch allen Gesteinsplaneten mit Wasservorkommen. Nach den Gesetzen der Chemie und Geologie werden sie warme alkaline hydrothermale Schlote bilden, mit Protonengradienten über dünnen katalytischen Trennwänden zwischen Mikroporen. Davon können wir ausgehen. Vielleicht sind ihre chemischen Verhältnisse dem Leben nicht immer zuträglich. Doch dies ist ein Experiment, das jetzt gerade stattfindet, auf nicht weniger als 40 Milliarden erdähnlichen Planeten allein in der Milchstraße. Wir leben in einer kosmischen Petrischale. Wie oft diese idealen Bedingungen tatsächlich Leben hervorbringen, hängt davon ab, was als Nächstes passiert. 141
Teil II: Der Ursprung des Lebens
4 Die Entstehung der Zellen
I
think“, „Ich denke“ – nur diese beiden Wörter schrieb Charles Darwin in einem Notizbuch von 1837 neben eine Skizze von einem sich verzweigenden Stammbaum des Lebens. Das war nur ein Jahr nach seiner Rückkehr von seiner Reise mit der HMS Beagle. Ganze 22 Jahre später war ein kunstvoller gezeichneter Stammbaum die einzige Illustration in Die Entstehung der Arten. Die Vorstellung von einem Baum des Lebens war so zentral für Darwins Gedankenwelt und für die Verbreitung der Evolutionsbiologie, dass es ein echter Schock ist zu hören, dass sie falsch sein soll. Genau diese Botschaft führte der New Scientist im Jahre 2009 auf einem Titelblatt, 150 Jahre nach der Veröffentlichung von Die Entstehung der Arten. Das Titelblatt zielte ziemlich schamlos auf eine breite Leserschaft ab, doch der dazugehörige Artikel war moderater formuliert und befasste sich mit einem spezifischen Aspekt. In einem gewissen, sehr schwer definierbaren Maße ist der Stammbaum tatsächlich falsch. Das bedeutet nicht, dass Darwins großer Beitrag zur Wissenschaft, das Konzept der Evolution durch natürliche Selektion, ebenfalls falsch ist, sondern zeigt lediglich, dass er nur sehr begrenztes Wissen bezüglich der Vererbung hatte. Das ist nichts Neues. Jeder weiß, dass Darwin nichts von DNA, Genen oder mendelschen Regeln wusste, ganz zu schweigen vom Gentransfer zwischen Bakterien; sein Bild von der Vererbung war also undeutlich, wie durch ein dunkles Glas gesehen. Nichts davon diskreditiert Darwins Theorie von der natürlichen Selektion; das Titelblatt war somit in einem engeren, technischen Sinne korrekt, im weiteren Sinne aber sehr irreführend. Allerdings stellte es einen sehr schwerwiegenden Aspekt in den Vordergrund. Die Vorstellung von einem Stammbaum des Lebens geht von einer „vertikalen“ Vererbung aus, bei der Eltern Kopien ihrer Gene via sexuelle Fortpflanzung an ihre Nachkommen weitergeben. Über Generationen hinweg werden Gene größtenteils innerhalb einer Art weitergegeben; zwischen Arten findet nur recht wenig Austausch statt. Populationen, die in ihrer Fortpflanzung isoliert werden, entwickeln sich im Verlauf der Zeit auseinander, da sie sich immer weniger unter142
4 Die Entstehung der Zellen
einander austauschen; letztlich bilden sie neue Arten. Das führt zu den Verzweigungen des Stammbaums. Bei Bakterien ist die Sache nicht so eindeutig. Sie haben keinen Sex wie die Eukaryoten, also bilden sie auch keine hübsch säuberlich getrennten Arten aus wie diese. Die Definition des Artbegriffs war und ist bei Bakterien stets problematisch. Das eigentliche Problem bei Bakterien ist jedoch, dass sie ihre Gene durch „lateralen“ Gentransfer verbreiten, indem sie hier und da eine Handvoll Gene weitergeben wie Wechselgeld, ihren Tochterzellen aber dennoch eine Kopie ihres gesamten Genoms überantworten. Nichts davon kratzt irgendwie an der natürlichen Selektion – es ist immer noch die Abstammung mit Modifikation, nur dass die „Modifikation“ auf mehr Wegen erreicht wird als früher angenommen. Das Vorherrschen des lateralen Gentransfers bei Bakterien wirft die große Frage auf, was wir eigentlich wissen können – diese Frage ist von so grundlegender Natur wie die berühmte heisenbergsche Unschärferelation in der Physik. Praktisch jeder Stammbaum des Lebens aus dem modernen Zeitalter der Molekulargenetik basiert auf einem einzelnen Gen, das der Pionier der Phylogenetik, Carl Woese, mit Bedacht ausgewählt hat – dem Gen für ribosomale RNA der kleinen Ribosomen-Untereinheit.27 Woese argumentierte (mit einiger Berechtigung), dass dieses Gen bei allen Lebewesen universell sei und nur selten – wenn überhaupt – durch lateralen Gentransfer weitergegeben werde. Daher bildet es angeblich die „eine wahre Phylogenie“ der Zellen ab (Abbildung 15). In dem engeren Sinne, dass eine Zelle Tochterzellen hervorbringt und diese Tochterzellen wahrscheinlich stets die ribosomale RNA der Zelle teilen, die sie hervorgebracht hat, trifft das auch zu. Was aber geschieht, wenn im Verlauf vieler Generationen andere Gene durch lateralen Gentransfer ausgetauscht werden? Bei komplexen vielzelligen Organismen geschieht das nur selten. Wir können die ribosomale RNA eines Adlers sequenzieren, und sie wird uns verraten, dass er ein Vogel ist. Wir können daraus schließen, dass er einen Schnabel, Federn, Klauen und Flügel hat, Eier legt und derlei mehr. Somit stellt die vertikale Vererbung sicher, dass immer eine enge Korrelation zwischen dem ribosomalen „Genotyp“ und dem gesamten „Phänotyp“ besteht: Die Gene, die für all diese Vogeleigen143
Teil II: Der Ursprung des Lebens
Abbildung 15: Der berühmte, aber irreführende Drei-Domänen-Stammbaum Der phylogenetische Stammbaum, wie ihn Carl Woese 1990 dargestellt hat. Der Stamm baum basiert auf einem einzigen stark konservierten Gen (für ribosomale RNA der klei nen Ribosomen-Untereinheit) und wurde aufgrund der Divergenz zwischen Genpaaren, die man in allen Zellen findet (und die somit bereits beim letzten allgemeinen gemein samen Vorfahren LUCA dupliziert gewesen sein müssen), zurückverfolgt. Dies legt nahe, dass die Archaeen und die Eukaryoten näher miteinander verwandt sind als beide jeweils mit den Bakterien. Das gilt zwar generell für einen Kernbestand informationstragender Gene, nicht aber für die Mehrheit der Gene bei Eukaryoten, die wiederum den Bakterien näherstehen als den Archaeen. Dieser ikonenhafte Stammbaum ist also zutiefst irre führend und sollte stets nur als Stammbaum für ein einziges Gen betrachtet werden: Er ist mit ziemlicher Sicherheit kein Stammbaum des Lebens!
schaften codieren, sind Gruppenreisende, sie werden gemeinsam über die Generationen weitergegeben, im Laufe der Zeit natürlich auch modifiziert, aber das nur selten in dramatischem Ausmaß. Stellen wir uns nun aber einmal vor, es würde lateraler Gentransfer vorherrschen. Wir sequenzieren also die ribosomale RNA, und sie verrät uns, dass wir es mit einem Vogel zu tun haben. Erst jetzt betrachten wird diesen „Vogel“. Wie sich herausstellt, hat er einen Rüssel, sechs Beine, Augen an den Knien und Fell, er legt laichähnliche Eier, ihm fehlen Flügel und er heult wie eine Hyäne. Ja, natürlich ist das absurd, aber genau dieses Problem haben wir bei den Bakterien. Regelmäßig starren uns monströse Chimären entgegen, aber da Bakterien norma144
4 Die Entstehung der Zellen
lerweise winzig und morphologisch einfach gestrickt sind, schreien wir nicht auf vor Schreck. Dennoch sind Bakterien genetisch gesehen meist Chimären, ja manche sind wahre Monstren, genetisch ungefähr so einheitlich wie mein eben beschriebener „Vogel“. Phylogenetiker müssten da eigentlich doch aufschreien. Wir können nicht anhand des ribosomalen Genotyps darauf schließen, wie eine Zelle ausgesehen haben oder wie sie in der Vergangenheit gelebt haben könnte. Welchen Sinn hat es dann, ein einzelnes Gen zu sequenzieren, wenn es uns nichts über die Zelle sagt, aus der es stammt? Je nach Zeitmaßstab und Gentransferrate kann es durchaus von Nutzen sein. Wenn die Rate des lateralen Gentransfers niedrig ist (wie bei den Pflanzen und Tieren, vielen Protisten und einigen Bakterien), wird eine recht stabile Korrelation zwischen ribosomalem Genotyp und Phänotyp bestehen, solange wir darauf achten, nicht allzu weit in die Vergangenheit zurückzugehen. Ist die Gentransferrate jedoch hoch, kann diese Korrelation schnell weggewischt werden. Der Unterschied zwischen pathogenen Varianten von Escherichia coli (E. coli) und harmlosen gängigen Stämmen spiegelt sich nicht in der ribosomalen RNA wider, sondern in der Übernahme anderer Gene, die für aggressives Wachstum codieren – bei den verschiedenen E.-coli-Stämmen können bis zu 30 Prozent des Genoms unterschiedlich sein, das entspricht dem Zehnfachen der Variation zwischen uns Menschen und den Schimpansen, und doch ordnen wir sie immer noch ein und derselben Art zu! Ein phylogenetischer Baum auf der Basis ribosomaler RNA ist vollkommen unbrauchbar, wenn man mehr über diese Kil lerbakterien wissen will. Umgekehrt werden über lange Zeitspannen hinweg selbst dann Korrelationen ausgelöscht, wenn lateraler Gentransfer nur in geringem Maße stattfindet. Es ist also nahezu unmöglich zu wissen, wie ein Bakterium vor drei Milliarden Jahren sein Dasein gefristet hat, da über diesen langen Zeitraum hinweg selbst eine geringe laterale Gentransferrate praktisch all seine Gene schon mehrfach ausgetauscht haben kann. Hinter dem Stammbaum des Lebens steckt also ein falscher Dünkel. Man hofft auf die Möglichkeit, die eine wahre Phylogenie aller Zellen zu rekonstruieren, herzuleiten, wie sich eine Spezies aus einer 145
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anderen entwickelt hat, und die Verwandtschaften bis zum Anfang von allem zurückzuverfolgen, sodass man letztlich die genetische Ausstattung des gemeinsamen Vorfahren aller Lebewesen auf Erden schlussfolgern kann. Wenn wir das tatsächlich könnten, wüssten wir alles über jene letzte Urahnen-Zelle, von ihrer Membranzusammensetzung über die Umgebung, in der sie lebte, bis hin zu den Molekülen, die ihr Wachstum antrieben. Aber so genau können wir diese Dinge einfach nicht wissen. Bill Martin entwarf dazu einen beeindruckenden Versuch, ein visuelles Paradox, das er den „wundersamen sich selbst auflösenden Stammbaum“ („the amazing disappearing tree“) nennt. Er untersuchte 48 Gene, die bei allen Lebewesen universell erhalten sind, und konstruierte für jedes dieser Gene einen Gen-Stammbaum, um die Verwandtschaft zwischen 50 Bakterienund 50 Archaeenarten zu demonstrieren (Abbildung 16).28 An den Zweigspitzen dieses Baumes erlangten alle 48 Gene wieder dieselbe Verwandtschaft zwischen allen 100 Bakterien- und Archaeenarten. Genauso verhielt es sich ganz an der Basis: Fast alle der 48 Gene Abbildung 16: Der „wundersame sich selbst auflösende Stammbaum“ Der Baum vergleicht die Verzweigung von 48 universell konservierten Genen bei 50 Bak terien- und 50 Archaeenarten. Alle 48 Gene sind zu einer einzigen Sequenz verknüpft, was die statistische Aussagekraft erhöht (eine in der Phylogenetik übliche Vorgehens weise); diese „Supergen“-Sequenz wird dann im nächsten Schritt verwendet, um einen phylogenetischen Baum zu erstellen, der die Verwandtschaftsverhältnisse der 100 Spe zies zueinander darstellt. Jedes einzelne Gen wird dann wiederum verwendet, um einen eigenen Stammbaum zu erstellen, und jeder dieser Bäume wird mit dem „Supergen“Stammbaum verglichen, der aus den verknüpften Genen entstanden ist. Die Stärke der Schattierung gibt bei jedem Zweig wieder, wie viele Einzelgen-Stammbäume mit dem verknüpften Baum übereinstimmen. An der Basis des Baumes finden fast alle 48 Gene in demselben Baum zusammen wie die verknüpfte Sequenz, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass zwischen Archaeen und Bakterien tatsächlich eine tiefe Kluft besteht. An den Zweigspitzen stimmen die meisten Einzelgene ebenfalls mit dem verknüpften Stamm baum überein. Doch die unteren Verzweigungen in beiden Gruppen haben sich aufge löst: Nicht ein einziges Einzelgen zeigt dieselben Verzweigungsmuster wie die verknüpfte Sequenz. Dieses Problem könnte das Ergebnis von lateralem Gentransfer sein, der die Verzweigungen durcheinandergebracht hat; vielleicht ist der Grund aber auch einfach die Erosion eines statistisch robusten Signals im Verlauf der unvorstellbar langen Zeit spanne von vier Milliarden Jahren.
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stimmten darin überein, dass sich der am tiefsten herabreichende Ast im Stammbaum des Lebens zwischen Bakterien und Archaeen befindet, sprich: Der letzte allgemeine gemeinsame Vorfahr (LUCA) war der gemeinsame Vorfahr von Bakterien und Archaeen. Doch bei genauer Betrachtung der Äste innerhalb der Bakterien und Archaeen stimmt kein einziger Gen-Stammbaum überein. Alle 48 Gene haben einen eigenen, anderen Stammbaum! Das Problem könnte technischer Natur sein (das Signal ist einfach durch die große zeitliche Entfernung auf der Strecke geblieben) oder aber das Resultat von lateralem Gentransfer – vertikale Vererbungsmuster werden zerstört, wenn einzelne Gene nach dem Zufallsprinzip ausgetauscht werden. Wir wissen nicht, welche der beiden Möglichkeiten die richtige ist, und das herauszufinden, erscheint auch gegenwärtig unmöglich. Was bedeutet das? Im Grunde bedeutet es, dass wir nicht feststellen können, welche Bakterien- oder Archaeenarten die ältesten sind. Wenn ein Einzelgen-Stammbaum besagt, dass Methanogene die ältesten Archaeen sind, sagt der nächste Baum, dass das nicht stimmt. Daher ist es praktisch unmöglich zu rekonstruieren, welche Eigenschaften die frühesten Zellen möglicherweise hatten. Selbst wenn wir mithilfe irgendeiner genialen Methode beweisen könnten, dass Methanogene tatsächlich die ältesten Archaeen sind, könnten wir doch nicht sicher sein, dass sie immer von der Methanbildung gelebt haben. Die Verknüpfung von Genen zum Zwecke der Signalverstärkung hilft nicht viel, denn jedes Gen hat womöglich seine ganz eigene Geschichte. Ein zusammengesetztes Signal würde sich dann verfälschend auswirken. Die Tatsache jedoch, dass alle 48 von Bill Martins universellen Genen darin übereinstimmen, dass die unterste Verzweigung im Stammbaum des Lebens zwischen Bakterien und Archaeen besteht, macht ein wenig Hoffnung. Wenn es uns gelingt herauszufinden, welche Eigenschaften alle Bakterien und Archaeen gemeinsam haben und in welchen sie sich unterscheiden – welche also vermutlich später bei verschiedenen Gruppen entstanden sind –, können wir eine Art Phantombild von LUCA erstellen. Doch auch hier tun sich schnell Schwierigkeiten auf: Gene, die man sowohl bei Archaeen als auch bei 148
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Bakterien findet, könnten in einer Gruppe entstanden und dann durch lateralen Gentransfer auf die andere übertragen worden sein. Wenn solcher Transfer in der Frühzeit der Evolution – dort, wo der wundersame sich selbst auflösende Stammbaum seine Lücken hat – aufgetreten wäre, würden sich diese Gene so darstellen, als würden sie sich vertikal von einem gemeinsamen Vorfahren ableiten, selbst wenn das gar nicht stimmt. Je nützlicher ein Gen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass es in der evolutionären Frühzeit in alle möglichen Richtungen transferiert wurde. Wollen wir solch ausgedehnten lateralen Gentransfer nicht mit einbeziehen, müssen wir auf wirklich universelle Gene zurückgreifen, die es bei praktisch jeder Gruppe von Bakterien und Archaeen gibt. Das minimiert zumindest die Möglichkeit, dass diese Gene in der Frühzeit der Evolution durch lateralen Gentransfer weitergegeben wurden. Hier wiederum stellt sich das Problem, dass es nicht einmal 100 universelle Gene gibt – das sind bemerkenswert wenige, und sie zeichnen ein wirklich merkwürdiges Bild von LUCA. Dieses merkwürdige Bild habe ich in Kapitel 2 schon kurz erwähnt. Wie es aussieht, verfügte LUCA bereits über Proteine und DNA: Der universelle genetische Code war somit schon im Einsatz, von DNA wurden RNA-Transkripte abgelesen, die wiederum an Ribosomen, jenen mächtigen molekularen Fabriken der Proteinherstellung in allen uns bekannten Zellen, in Proteine übersetzt. Die bemerkenswerte molekulare Maschinerie, die für das Auslesen der DNA und für die Proteinsynthese benötigt wird, setzt sich aus unzähligen Proteinen und RNA-Abschnitten zusammen, die man bei Bakterien wie Archaeen findet. Ihren Strukturen und Sequenzen nach scheinen diese Maschinen sehr früh in der Evolution divergiert zu sein, und offenbar wurden sie seither auch kaum durch lateralen Gentransfer verbreitet. So weit, so gut. Bakterien und Archaeen sind zudem allesamt chemiosmotisch, sie betreiben die ATP-Synthese mithilfe von Protonengradienten über Membranen. Die ATP-Synthase ist eine weitere außergewöhnliche molekulare Maschine, vergleichbar mit dem Ribosom und offensichtlich genauso alt. Dieses Enzym ist universell konserviert, man findet es in allen Lebewesen; aller149
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dings zeigt es hinsichtlich seiner Struktur bei Bakterien und Archaeen ein paar Unterschiede, die darauf hindeuten, dass es sich aus dem gemeinsamen Vorfahren LUCA in zwei Richtungen entwickelt hat, ohne dass durch lateralen Gentransfer eine nennenswerte Vermischung stattgefunden hat. Also verfügte LUCA offenbar nicht nur über Ribosomen, DNA und RNA, sondern auch über die ATP-Synthase. Außerdem gibt es einige grundlegende biochemische Prozesse, wie Aminosäuren-Biosynthese und Teile des Citratzyklus, die bei Bakterien und Archaeen dieselben Reaktionsketten aufweisen. Auch dies lässt vermuten, dass diese bereits bei LUCA vorlagen. Darüber hinaus aber gibt es bemerkenswert wenig Gemeinsamkeiten. Und was ist unterschiedlich? Eine erstaunlich lange Reihe von Merkmalen. Die meisten für die DNA-Replikation benötigten Enzyme sind bei Bakterien und Archaeen nicht gleich. Was könnte fundamentaler sein als das! Womöglich nur die Membran – und auch die ist bei Bakterien und Archaeen verschieden, ebenso wie die sie umgebende Zellwand. Somit sind beide Barrieren, die lebendige Zellen von ihrer Umgebung trennen, bei Bakterien und Archaeen grundlegend unterschiedlich. Es ist so gut wie unmöglich, darauf zu schließen, was ihr gemeinsamer Vorfahr stattdessen besessen haben könnte. Die Liste geht noch weiter, aber für den Augenblick mag dies uns genügen. Von den sechs grundlegenden Prozessen in lebenden Zellen, auf die ich in den vorangegangenen Kapiteln eingegangen bin – Strom von Kohlenstoffverbindungen, Energiefluss, Katalyse, DNAReplikation, Kompartimentierung und Exkretion –, zeigen nur die ersten drei eine größere Ähnlichkeit, und selbst diese nur in bestimmter Hinsicht, wie wir noch erfahren werden. Dafür gibt es mehrere mögliche Erklärungen. LUCA könnte von allem zwei Kopien besessen und davon eine bei den Bakterien und die andere bei den Archaeen eingebüßt haben. Das klingt vielleicht vollkommen albern, lässt sich aber auch nicht ganz leicht von der Hand weisen. Wir wissen beispielsweise, dass Mischungen aus Bakterien- und Archaeenlipiden stabile Membranen bilden; vielleicht besaß LUCA beide Arten von Lipiden, und seine Nachkommen spezialisierten sich später, sodass sie nur noch über die eine bzw. die an150
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dere Art verfügten. Das mag durchaus auf einige Merkmale zutreffen, lässt sich aber nicht verallgemeinern, denn dann stellt sich ein Problem, das „Genom von Eden“. Wenn LUCA alles hatte und seine Nachkommen sich später verschlankten, dann muss das ursprüngliche Genom riesig gewesen sein, viel größer als das jedes modernen Prokaryoten. Das wirkt auf mich so, als würde das Pferd von hinten aufgezäumt – erst herrscht Komplexität, dann Einfachheit, und es gibt für jedes Problem zwei Lösungen. Und – warum sollten alle Nachkommen eine Variante von allem verlieren? Ich glaube nicht daran. Betrachten wir also Lösung Nummer zwei. Die nächste Möglichkeit ist, dass LUCA ein ganz normales Bakterium war, mit Bakterienmembran, Zellwand und DNA-Replikation. Zu einem späteren Zeitpunkt ersetzte eine Gruppe von Nachkommen, die ersten Archaeen, all diese Merkmale, während sie sich an extreme Bedingungen anpasste, etwa die hohen Temperaturen an hydrothermalen Schloten. Diese Erklärung ist vermutlich diejenige mit der allgemein größten Akzeptanz, doch auch sie ist wenig überzeugend. Wenn sie stimmt, warum sind dann die Prozesse der DNATranskription und der Translation in Proteine bei Bakterien und Archaeen so ähnlich, die DNA-Replikation aber so unterschiedlich? Und wenn die Archaeen-Membranen und -Zellwände den Archaeen halfen, sich auf die Verhältnisse an hydrothermalen Schloten einzustellen, warum ersetzten extremophile Bakterien, die an denselben Schloten leben, dann nicht ihre Membranen und Zellwände durch solche, wie sie die Archaeen haben, oder etwas Ähnliches? Warum ersetzen Archaeen, die im Erdboden oder im offenen Meer leben, ihre Membranen und Zellwände nicht durch bakterielle Versionen? Bakterien und Archaeen leben überall auf der Welt in denselben Umgebungen und behalten doch überall die grundlegenden Unterschiede in ihrer Genetik und Biochemie bei, und das trotz lateralem Gentransfer zwischen den beiden Domänen. Es ist einfach nicht glaubwürdig, dass all diese tief greifenden Unterschiede einerseits Anpassungen an eine extreme Umgebung darstellen und dann ausnahmslos bei allen Archaeen konserviert werden sollen, ganz gleich, wie unpassend sie in allen anderen Umwelten sind. 151
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Somit bleibt noch eine letzte, geradezu unverschämte Möglichkeit. Das scheinbare Paradox ist überhaupt keines: LUCA war wirklich chemiosmotisch, mit einer ATP-Synthase, hatte aber keine moderne Membran und auch keinen der großen Atmungskettenkomplexe, wie sie modernen Zellen als Protonenpumpen dienen. Er verfügte durchaus über DNA und den universellen genetischen Code, Transkription, Translation und Ribosomen, hatte aber noch keine Methode der DNA-Replikation entwickelt, wie wir sie heute kennen. Diese seltsame Phantomzelle ergibt im offenen Meer keinen Sinn, wohl aber in den alkalinen hydrothermalen Schloten, mit denen wir uns im vorigen Kapitel beschäftigt haben. Entscheidende Hinweise liefert die Art, wie Bakterien und Archaeen in diesen Schloten leben. Zumindest einige von ihnen leben von einem offenbar altertümlichen Prozess, dem reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Weg, der der Geochemie hydrothermaler Schlote deutlich ähnelt.
Der steinige Weg zu LUCA In der gesamten Welt des Lebendigen gibt es nur ganze sechs unterschiedliche Wege, Kohlenstoff zu fixieren, will sagen: anorganische Moleküle wie Kohlendioxid in organische Moleküle zu überführen. Fünf dieser Reaktionswege sind recht komplex und laufen nur unter Zuführung von Energie ab, beispielsweise Sonnenenergie bei der Fotosynthese. Die Fotosynthese ist auch noch aus einem anderen Grund ein gutes Beispiel: Der Calvin-Zyklus, ein biochemischer Reaktionsweg, in dem Kohlendioxid fixiert und in andere organische Moleküle, wie etwa Zucker, umgewandelt wird, findet sich nur bei Fotosynthese betreibenden Bakterien (und Pflanzen, die diese Bakterien als Chloroplasten aufgenommen haben), nicht aber bei Archaeen. Der Calvin-Zyklus ist somit wahrscheinlich kein angestammtes Merkmal. Hätte LUCA Fotosynthese betrieben, hätte diese Eigenschaft bei allen Archaeen systematisch verschwinden müssen, was bei einer derart nützlichen Sache ziemlich, nun ja, dumm gewesen wäre. Viel wahrscheinlicher ist es, dass der Calvin-Zyklus erst später entstand, zur gleichen Zeit wie die Fotosynthese und ausschließlich bei Bakterien. 152
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Dasselbe gilt für alle anderen Reaktionswege, bis auf einen. Nur ein einziger Reaktionsweg der Kohlenstofffixierung ist bei Bakterien und Archaeen zu finden und geht somit mit einiger Sicherheit auf deren gemeinsamen Vorfahren zurück – der reduktive Acetyl-Coenzym-A-Weg. Doch selbst diese Behauptung trifft nicht hundertprozentig zu. Zwischen Bakterien und Archaeen bestehen beim reduktiven AcetylCoenzym-A-Weg einige merkwürdige Unterschiede, auf die wir an späterer Stelle in diesem Kapitel noch eingehen werden. Für den Augenblick wollen wir kurz betrachten, warum dieser Reaktionsweg durchaus die Herleitung vom gemeinsamen Vorfahren für sich beanspruchen kann, obwohl die Phylogenetik zu zwiespältig ist, um einen frühen Ursprung dieses Zyklus tatsächlich zu stützen (obwohl sie ihn auch nicht verwirft). Die Archaeen, die von dem reduktiven AcetylCoenzym-A-Weg leben, nennt man Methanogene, die Bakterien Acetogene. Manche Stammbäume setzen die Abzweigung der Methanogene sehr tief an, bei anderen ist die Darstellung so, dass beide Gruppen etwas später entstanden und ihre Einfachheit angeblich eher eine Spezialisierung und Verschlankung widerspiegelt als einen urtümlichen Zustand. Die Phylogenetik allein gibt hier keinen Aufschluss. Zum Glück sind wir aber nicht nur auf sie angewiesen. Der reduktive Acetyl-Coenzym-A-Weg setzt mit Wasserstoff und Kohlendioxid ein – denselben beiden Molekülen, über die wir im vorigen Kapitel erfahren haben, dass sie an alkalinen hydrothermalen Schloten massenhaft vorkommen. Wie dort bereits angemerkt, ist die Bildung von organischen Molekülen aus CO2 und H2 exergonisch, sie setzt also Energie frei: Im Prinzip müsste sie demnach spontan ablaufen. In der Praxis aber besteht eine energetische Barriere, die H2 und CO2 von einer raschen Reaktion miteinander abhält. Methanogene bedienen sich eines Protonengradienten, um diese Barriere zu überwinden, was, wie ich behaupten will, der Urzustand war. Wie auch immer, Methanogene und Acetogene treiben beide ihr Wachstum durch die alleinige Reaktion von H2 mit CO2 an: Diese Reaktion liefert alles an Kohlenstoff und Energie, was sie zum Wachsen brauchen. Das hebt den reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Weg von den an153
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deren fünf Reaktionswegen der Kohlenstofffixierung ab. Der Geochemiker Everett Shock bezeichnete ihn treffend als „kostenloses Mittagessen, für dessen Verzehr man noch bezahlt wird“. Es mag ja durchaus magere Kost sein, aber in den Schloten kommt sie jeden Tag auf den Tisch. Und das ist noch nicht alles. Im Gegensatz zu den anderen Reaktionswegen ist der reduktive Acetyl-Coenzym-A-Weg kurz und geradlinig. Es braucht weniger Schritte von den einzelnen anorganischen Molekülen bis hin zum Dreh- und Angelpunkt des Stoffwechsels in allen Zellen, dem kleinen, aber reaktionsfreudigen Molekül Acetyl-Coenzym A (Acetyl-CoA). Das Coenzym A ist ein wichtiger und universeller chemischer „Haken“, an den kleine Moleküle gehängt werden können, sodass deren Verarbeitung durch Enzyme möglich ist. Wichtig ist nicht so sehr der Haken, sondern das, was daran hängt, in diesem Fall eine Acetylgruppe. „Acetyl“- leitet sich vom lateinischen Wort acetum für Essig ab; die Essigsäure ist ein einfaches Molekül mit zwei Kohlenstoffatomen, das in der Biochemie aller Zellen eine wichtige Rolle einnimmt. In Verbindung mit dem Coenzym A befindet sich die Acetylgruppe, also der Essigsäurerest, in einem aktivierten Zustand (auch als „aktiviertes Acetat“ bezeichnet – man könnte auch sagen: aktivierter Essig); so kann sie leicht mit anderen organischen Molekülen reagieren und die Biosynthese antreiben. Der reduktive Acetyl-Coenzym-A-Weg bringt also in wenigen Schritten kleine, reaktive organische Moleküle aus CO2 und H2 hervor und setzt zugleich genügend Energie frei, um nicht nur die Bildung von Nukleotiden und anderen Molekülen anzutreiben, sondern auch deren Polymerisierung in lange Ketten – DNA, RNA, Proteine und dergleichen. Die Enzyme, welche die ersten Schritte katalysieren, enthalten anorganische Eisen-, Nickel- und Schwefelcluster, die physikalisch für die Übertragung von Elektronen auf CO2 und somit die Bildung reaktiver Acetylgruppen verantwortlich sind. Diese anorganischen Cluster sind im Grunde Minerale – Gestein! – und in ihrer Struktur mehr oder weniger identisch mit den FeS-Mineralen, die in hydrothermalen Schloten ausfallen (siehe Ab154
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bildung 11). Die Geochemie der alkalischen Schlote und die Biochemie der Methanogene und Acetogene stimmen in einem Maße überein, dass das Wort „Analogie“ dem nicht gerecht wird. Analogie impliziert Ähnlichkeit, die manchmal nur oberflächlich ist. Die Ähnlichkeit aber ist hier so groß, dass man sie besser als echte Homologie ansehen sollte – eine Form ließ die andere entstehen. Somit bringt die Geochemie in einem nahtlosen Übergang vom Anorganischen zum Organischen die Biochemie hervor. Der Chemiker David Garner drückt es so aus: „Erst die anorganischen Elemente bringen die organische Chemie zum Leben.“29 Das größte Plus des reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Wegs aber ist vielleicht, dass er einen Schnittpunkt des Kohlenstoff- und des Energiestoffwechsels bildet. Auf die Bedeutung von Acetyl-CoA für den Ursprung des Lebens wies bereits Anfang der 1990er-Jahre der herausragende belgische Biochemiker Christian de Duve hin, allerdings im Zusammenhang mit der Ursuppe, nicht mit alkalinen Schloten. Acetyl-CoA treibt nicht nur die Synthese von organischen Molekülen an, sondern kann auch direkt mit Phosphat zu Acetylphosphat reagieren. Dieses hat zwar heute als Energiewährung nicht dieselbe Bedeutung wie das ATP, ist aber bis in die Gegenwart bei vielen Lebewesen in Gebrauch und erfüllt fast dieselben Aufgaben wie ATP. Wie schon im vorigen Kapitel angemerkt, setzt ATP nicht einfach nur Energie frei; es treibt auch Dehydratisierungs-Reaktionen an, bei denen zwei Aminosäuren oder andere Bausteine unter Entzug eines Wassermoleküls zu einer Kette zusammengefügt werden. Das Problem bei der Dehydratisierung von Aminosäuren in Wasser besteht, wie erwähnt, darin, dass man ebenso gut versuchen könnte, ein nasses Handtuch unter Wasser auszuwringen. Doch genau das tut das ATP. Im Labor konnten wir nachweisen, dass Acetylphosphat dies ebenfalls kann, denn seine chemischen Eigenschaften sind im Grunde gleich. Ein früher Kohlenstoffund Energiestoffwechsel hätte also durch diesen einfachen Thioester, das Acetyl-CoA, angetrieben werden können. Einfach? Ich sehe schon Ihre fragenden Gesichter. Die Acetylgruppe mit ihren zwei Kohlenstoffatomen mag einfach sein, aber das Coenzym A ist ein komplexes Molekül, zweifellos das Ergebnis natür155
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licher Selektion und somit ein späteres Produkt der Evolution. Beißt sich also die Katze hier in den Schwanz? Nein, denn es gibt durchaus einfache, „abiotische“ Äquivalente zum Acetyl-CoA. Dieses verdankt seine Reaktivität seiner sogenannten „Thioester-Bindung“, die nichts weiter ist als ein Schwefelatom, das an ein Kohlenstoffatom gebunden ist, das an ein Sauerstoffatom gebunden ist. Das Ganze lässt sich folgendermaßen darstellen: R–S–CO–CH3 „R“ steht dabei für den „Rest“ des Moleküls, in diesem Fall CoA, und CH3 ist eine Methylgruppe. Doch das „R“ muss nicht zwingend für CoA stehen; an dessen Stelle kann auch etwas so Einfaches wie eine weitere Methylgruppe stehen. Dann ergäbe das Ganze ein kleines Molekül namens Methylthioacetat: CH3–S–CO–CH3 Dieses Molekül ist ein reaktiver Thioester, in seinen chemischen Eigenschaften dem Acetyl-CoA selbst äquivalent, aber so einfach, dass es in alkalinen hydrothermalen Schloten aus H2 und CO2 gebildet werden konnte – tatsächlich haben es Claudia Huber und Günter Wächtershäuser allein aus CO (Kohlenmonoxid) und CH3SH (Methanthiol) hergestellt. Besser noch: Methylthioacetat sollte, wie Acetyl-CoA, direkt mit Phosphat zu Acetylphosphat reagieren können. Somit könnte dieser reaktive Thioester im Prinzip die Synthese neuer organischer Moleküle unmittelbar antreiben, ebenso wie ihre Polymerisierung zu komplexeren Kettenmolekülen wie Proteinen und RNA via Acetylphosphat – diese Hypothese überprüfen wir derzeit in unserem Benchtop-Reaktor im Labor (und es ist uns gerade gelungen, Acetylphosphat herzustellen, wenn auch in geringer Konzentration). Eine Urversion des reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Wegs könnte im Prinzip Energie und Bausteine für alles liefern, was für die Evolution primitiver Zellen im Inneren der Mikroporen alkaliner hydrothermaler Schlote benötigt wird. Ich stelle mir drei Entwicklungsschritte 156
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vor. Im ersten Stadium trieben Protonengradienten über dünnen anorganischen Trennwänden mit katalytisch wirkenden FeS-Mineralen die Bildung kleiner organischer Verbindungen an (Abbildung 14). Diese organischen Verbindungen reicherten sich durch Thermophorese in den kühleren Poren an und agierten ihrerseits als wirkungsvollere Katalysatoren, wie in Kapitel 3 dargestellt. Das war der Ursprung der Biochemie – die permanente Bildung und Anreicherung von reaktiven Vorläufermolekülen, die Interaktionen zwischen Molekülen und das Entstehen einfacher Polymere begünstigten. Das zweite Stadium bestand in der Bildung einfacher organischer Protozellen innerhalb der Schlotporen, als natürliches Ergebnis der physischen Interaktion zwischen organischen Verbindungen – einfache dissipative, zellähnliche Strukturen, entstanden aus der Selbstorganisation von Materie und noch ohne jede genetische Basis oder nennenswerte Komplexität. Diese einfachen Protozellen waren nach meiner Vorstellung abhängig von einem Protonengradienten als Antrieb für die Synthese organischer Verbindungen, doch bestand dieser nun über ihren eigenen organischen Membranen (wie etwa Lipiddoppelschichten, die sich spontan aus Fettsäuren bildeten) und nicht mehr über den anorganischen Trennwänden im Schlot. Dafür werden keine Proteine benötigt. Der Protonengradient konnte die Bildung von Methylthioacetat und Acetylphosphat angetrieben haben, wie oben beschrieben, und damit auch einen Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel. In diesem Stadium gibt es eine grundlegende Besonderheit: Neue organische Materie wird nun innerhalb der Protozelle selbst gebildet, angetrieben durch natürliche Protonengradienten über organischen Membranen. Beim erneuten Durchlesen dieses Abschnitts fällt mir sehr auf, wie oft ich das Wort „antreiben“ benutzt habe. Das ist sprachlich sicher nicht sehr elegant, aber ein besseres Wort gibt es nicht. Schließlich muss ich deutlich machen, dass dies keine passive Chemie ist, sondern erzwungene, angeschoben, angetrieben durch den beständigen Strom von Kohlenstoffverbindungen, Energie und Protonen. Diese Reaktionen müssen ablaufen; nur auf diesem Weg ist es möglich, das instabile Ungleichgewicht aus reduzierten, wasserstoffreichen, alkalinen Flüssigkeiten, die in einen oxi157
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dierten, sauren, metallreichen Ozean eintreten, aufzulösen. Nur so ist das erstrebte thermodynamische Gleichgewicht zu erreichen. Das dritte Stadium ist der Ursprung des genetischen Codes und echter Vererbung, die Protozellen nun befähigten, mehr oder weniger exakte Kopien von sich selbst herzustellen. Erste Formen der Selektion, die auf relativen Raten von Synthese und Abbau basierten, machten dann der echten natürlichen Selektion Platz, unter deren Wirken Populationen von Protozellen mit Genen und Proteinen fortan um das Überleben in den Mikroporen der Schlote konkurrierten. Die Standardmechanismen der Evolution brachten schließlich komplizierte Proteine in frühen Zellen hervor, darunter Ribosomen und die ATP-Synthase, Proteine, die bis heute bei allen Lebewesen universell konserviert blieben. In meiner Vorstellung lebte LUCA, jener gemeinsame Vorfahr von Bakterien und Archaeen, in den Mikroporen alkaliner hydrothermaler Schlote. Alle drei Entwicklungsschritte von den abiotischen Anfängen bis hin zu LUCA haben demnach in den Mikroporen dieser Schlote stattgefunden. Alle wurden von Protonengradienten über anorganischen Trennwänden oder organischen Membranen angetrieben, doch das Aufkommen von komplizierten Proteinen wie der ATP-Synthase ist erst ein später Schritt auf dem im wahrsten Sinne steinigen Weg zu LUCA. In diesem Buch geht es mir nicht so sehr um die Details der urtümlichen Biochemie – die Frage, woher der genetische Code kam, und ähnliche knifflige Probleme. Dies sind wirkliche Probleme, und es gibt geniale Forscher, die sich damit befassen. Bislang kennen wir noch keine Antworten auf diese Fragen. Doch all diese Ideen gehen davon aus, dass es reichlich Nachschub an reaktiven Vorläufermolekülen gab. Ein Beispiel dafür lieferten Shelley Copley, Eric Smith und Harold Morowitz. Sie hatten eine wunderbare Idee zum Ursprung des genetischen Codes, nämlich dass katalytische Dinukleotide (zwei miteinander verbundene Nukleotide) aus einfacheren Vorläufermolekülen, wie etwa Pyruvat, Aminosäuren erzeugen könnten. Ihr wohldurchdachtes Schema zeigt, wie der genetische Code aus deterministischen chemischen Reaktionen hervorgegangen sein könnte. Wenn Sie Interesse an dem Thema haben: In meinem Buch Leben habe ich 158
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auch ein Kapitel der DNA gewidmet, dort gehe ich auf einige dieser Fragen ein. All diese Hypothesen setzen jedoch ganz selbstverständlich einen ständigen Nachschub an Nukleotiden, Pyruvat und anderen Vorläufermolekülen voraus. Die Frage aber, die sich uns hier stellt, ist: Welche Kräfte trieben den Ursprung des Lebens an? Dabei ist mir vor allem wichtig, dass es konzeptuell durchaus keine Schwierigkeiten bereitet zu erklären, woher all die Kohlenstoffverbindungen, Energie und Katalysatoren kamen, die die Bildung komplexer biologischer Moleküle bis zur Entstehung von Genen und Proteinen und von LUCA vorantrieben. Das hier skizzierte Hydrothermalschlot-Szenario hat einen schönen Fortbestand in der Biochemie der Methanogene, jener Archaeen, die mithilfe des reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Wegs von H2 und CO2 leben. Diese offenbar evolutionär alten Zellen erzeugen einen Protonengradienten über einer Membran (wie sie das anstellen, erläutere ich an späterer Stelle) und reproduzieren damit genau das, was alkaline hydrothermale Schlote gratis anbieten. Der Protonengradient dient als Antrieb des reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Wegs, und zwar mithilfe eines in die Membran eingebetteten Eisen-Schwefel-Proteins – einer Energie umwandelnden Hydrogenase (energy-converting hydrogenase). Dieses Protein schleust Protonen durch die Membran zu einem weiteren FeS-Protein, dem Ferredoxin, das seinerseits CO2 reduziert. Im vorigen Kapitel habe ich die Vermutung geäußert, dass Protonengradienten über dünne, mit FeS-Mineralen durchsetzte Trennwände in den hydrothermalen Schloten CO2 reduzieren könnten, indem sie die Redoxpotenziale von H2 und CO2 verändern. Ich gehe davon aus, dass Ech genau dies im Nanometerbereich tut: Enzyme steuern oft die exakten physikalischen Bedingungen (wie die Protonenkonzentration) in Spalten im Protein, die nur wenige Ångström breit sind, und bei Ech könnte es genauso sein. Wenn das zutrifft, könnte ein Kontinuum vom Urzustand (bei dem kurze Polypeptide stabilisiert werden, indem sie an FeS-Minerale in FettsäurenProtozellen gebunden werden) bis zum heutigen Zustand (bei dem das genetisch codierte Protein Ech den Kohlenstoff-Stoffwechsel bei modernen Methanogenen antreibt) bestehen. 159
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Wie auch immer, Fakt ist, dass Ech in der heutigen Welt der Gene und Proteine auf den durch die Methansynthese erzeugten Protonengradienten zurückgreift, um die Reduktion von CO2 anzutreiben. Methanogene nutzen den Protonengradienten auch direkt als Antrieb für die ATP-Synthese, nämlich über die ATP-Synthase. Somit werden sowohl der Kohlenstoff- als auch der Energiestoffwechsel durch Protonengradienten angetrieben, also durch genau das, was die Schlote gratis lieferten. Die frühesten Protozellen, die in alkalinen hydrothermalen Schloten lebten, betrieben ihren Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel möglicherweise exakt auf diese Art. Das klingt recht plausibel, doch die Abhängigkeit von natürlichen Gradienten bringt ihre eigenen Probleme mit sich. Wirklich schwerwiegende Probleme. Bill Martin und mir wurde klar, dass es dafür vielleicht nur eine mögliche Lösung gibt – und dass dies faszinierende Erkenntnisse darüber ergibt, warum Archaeen und Bakterien sich so grundlegend unterscheiden.
Das Problem der Membranpermeabilität Im Inneren unserer Mitochondrien sind die Membranen fast undurchlässig für Protonen. Das ist auch notwendig – schließlich ist es keine gute Idee, Protonen durch eine Membran zu pumpen, wenn sie dann wie durch unzählige Löcher wieder zurückrauschen. Ebenso gut könnte man versuchen, einen Wassertank mithilfe eines Siebes vollzuschöpfen. In unseren Mitochondrien haben wir dann einen elektrischen Schaltkreis, in dem die Membran als Isolator fungiert: Wir pumpen Protonen durch die Membran, und die meisten davon kehren durch Proteine, die wie Turbinen arbeiten, wieder zurück und wirken dabei als Antrieb. Im Falle der ATP-Synthase treibt der Protonenstrom durch diesen nanoskopisch kleinen, rotierenden Motor die ATP-Synthese an. Bedenken wir aber, dass das gesamte System auf aktives Protonenpumpen angewiesen ist. Werden die Pumpen blockiert, kommt alles zum Stillstand. Das passiert, wenn wir eine Zyanidkapsel schlucken: Sie stoppt die letzte Protonenpumpe der Atmungskette in unseren Mitochondrien. Wenn die Atmungsketten160
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Protonenpumpen so behindert werden, können die Protonen noch ein paar Sekunden lang durch die ATP-Synthase einströmen, bevor sich ein Konzentrationsgleichgewicht über der Membran einstellt und der Strom versiegt. Eine Definition für den Tod zu formulieren, ist fast so schwierig wie eine Definition für Leben, aber der unwiederbringliche Zusammenbruch des Membranpotenzials kommt der Sache schon ziemlich nahe. Wie also könnte ein natürlicher Protonengradient die ATP-Synthese antreiben? Dabei stellt sich das „Zyanid-Problem“. Stellen wir uns vor, eine Protozelle sitzt in einer Pore eines hydrothermalen Schlotes; als Antrieb dient ein Protonengradient. Eine Seite der Zelle ist einem beständigen Strom von Meerwasser ausgesetzt, die andere einem konstanten Strom alkaliner hydrothermaler Flüssigkeit (Abbildung 17). Vor vier Milliarden Jahren waren die Weltmeere wahrscheinlich leicht sauer (pH 5 bis 7), während die alkalinen hydrothermalen Flüssigkeiten, wie heute, einen pH-Wert von etwa 9 bis 11 hatten. Es konnten also durchaus pH-Gradienten von drei bis fünf Einheiten auftreten, was bedeutet, dass sich die Protonenkonzentrationen auf beiden Seiten einer Trennwand um den Faktor 1000 bis 100 000 unterscheiden konnten.30 Stellen wir uns einmal um der Argumentation willen vor, dass die Protonenkonzentration im Inneren der Zelle derjenigen der Schlotflüssigkeiten ähnelt. Das ergibt einen Unterschied in der Protonenkonzentration zwischen der Innen- und der Außenseite, sodass Protonen dem Gradienten folgend nach innen strömen. Binnen Sekunden jedoch sollte der Einstrom aufhören, es sei denn, die eingeströmten Protonen können wieder entfernt werden. Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens gleicht sich der Konzentrationsunterschied schnell aus, und zweitens zeigt hier die elektrische Ladung Wirkung. Protonen (H+) sind positiv geladen, aber im Meerwasser wird diese positive Ladung durch negativ geladene Atome wie Chloridionen (Cl–) ausgeglichen. Das Problem ist nun, dass die Protonen viel schneller durch die Membran treten als die Chloridionen; es erfolgt also ein Einstrom positiver Ladungen, der nicht durch einen Einstrom negativer Ladungen ausgeglichen wird. Das Innere der Zelle wird somit relativ zur Umgebung positiv aufge161
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Abbildung 17: Eine Zelle mit natürlichem Protonengradienten als Antriebskraft In der Mitte des Bildes befindet sich eine Zelle, umschlossen von einer Membran, die für Protonen durchlässig ist. Die Zelle ist „eingekeilt“ in einem kleinen Spalt in einer anorga nischen Barriere, die in einem Schlot mit Mikroporen als Trennwand zwischen zwei Pha sen fungiert. In der oberen Phase sickert leicht saures Meerwasser durch eine längliche Pore; sein pH-Wert liegt bei 5–7 (im Modell meist als 7 angesetzt). In der unteren Phase sickern alkaline hydrothermale Flüssigkeiten durch eine mit der anderen nicht in Verbin dung stehende Pore. Ihr pH-Wert liegt bei 10. Die laminare Strömung bezeugt geringe Turbulenzen und Durchmischung, was für Strömungen in engen Räumen charakteristisch ist. Protonen (H +) können direkt durch die Lipidmembran treten oder aber durch in die Membran eingebettete Proteine (dreieckige Form oben). Dabei folgen sie einem Konzen trationsgradienten vom sauren Meerwasser zur alkalinen hydrothermalen Flüssigkeit. Hydroxidionen (OH–) strömen in die entgegengesetzte Richtung von der alkalinen hy drothermalen Flüssigkeit zum sauren Meerwasser, jedoch ausschließlich durch die Mem bran. Die Gesamtdurchflussrate der Protonen hängt ab von der Permeabilität der Mem bran für H +, der Neutralisierung durch OH– (zu Wasser, H2O), der Zahl der Membran proteine, der Größe der Zelle und der durch die Wanderung der Ionen von einer Phase in die andere erzeugten Ladung über der Membran.
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laden, und das läuft dem Einstrom von weiteren Protonen zuwider. Kurz gesagt, wenn es keine Pumpe gibt, um die Protonen wieder loszuwerden, können natürliche Protonengradienten gar nichts antreiben. Es entsteht ein Gleichgewicht, und ein Gleichgewicht ist das Gegenteil von Leben. Eine Ausnahme gibt es allerdings. Wenn die Membran nahezu undurchlässig für Protonen ist, muss der Einstrom tatsächlich aufhören. Protonen treten in die Zelle ein, können aber nicht wieder hinaus. Ist die Membran aber sehr durchlässig, sieht die Sache schon anders aus. Wie zuvor strömen Protonen weiter in das Zellinnere, doch in diesem Fall können sie diese wieder verlassen (wenn auch passiv), und zwar durch die durchlässige Membran auf der anderen Seite der Zelle. Eine durchlässige Membran stellt de facto ein geringeres Hindernis für den Protonenstrom dar. Überdies treten Hydroxidionen (OH–) aus den alkalinen Flüssigkeiten mit etwa derselben Rate durch die Membran wie die Protonen. Wenn H+ und OH– aufeinandertreffen, reagieren sie zu Wasser (H2O) und eliminieren die positive Ladung des Protons auf einen Schlag. Mit klassischen chemischen Gleichungen kann man die Raten, mit denen Protonen in eine hypothetische (computersimulierte) Zelle eintreten und diese wieder verlassen, als Funktion der Membrandurchlässigkeit berechnen. Victor Sojo ist ein Chemiker mit Interesse an den wirklich großen Fragen in der Biologie und macht gerade bei mir und Andrew Pomiankowski seinen Doktor, und er hat genau diese Berechnung angestellt. Indem wir die dauerhafte Differenz der Protonenkonzentration verfolgten, konnten wir berechnen, wie viel freie Energie (ΔG) allein aus einem pH-Gradienten verfügbar war. Die Ergebnisse waren einfach wunderbar. Die verfügbare Antriebskraft ist von der Durchlässigkeit der Membran für Protonen abhängig. Ist diese besonders groß, strömen die Protonen in Massen ein, aber sie verschwinden auch sehr schnell wieder, eliminiert durch einen raschen Einstrom von OH– -Ionen. Selbst bei sehr durchlässigen Membranen jedoch stellten wir fest, dass Protonen immer noch schneller durch Membranproteine (wie die ATP-Synthase) als durch die Lipide selbst ins Zellinnere gelangen. Ein Protonenstrom kann demnach über das Membran protein Ech die ATP-Synthese oder die Reduktion von Kohlenstoffver163
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bindungen antreiben. Berücksichtigt man Konzentrationsunterschiede und Ladung sowie die Aktivität von Proteinen wie der ATP-Synthase, gewinnen diese durchlässigen Zellen theoretisch genauso viel Energie aus einem natürlichen Protonengradienten von drei pH-Einheiten wie heutige Zellen aus der Atmung. Sie könnten sogar sehr viel mehr gewinnen. Denken wir noch einmal an die Methanogene. Sie verbringen – wie ihr Name schon sagt – die meiste Zeit damit, Methan zu bilden. Methanogene produzieren im Durchschnitt etwa 40-mal mehr Abfallprodukte (Methan und Wasser) als organische Materie. Sämtliche Energie, die sie aus der Synthese von Methan gewinnen, wird dazu genutzt, Protonen zu pumpen (Abbildung 18). Das ist alles. Methanogene verwenden praktisch 98 Prozent der ihnen zur Verfügung stehenden Energie darauf, per Methanogenese Protonengradienten zu erzeugen; nur etwas mehr als zwei Prozent nutzen sie für die Bildung neuer organischer Materie. Wenn natürliche Protonengradienten und durchlässige Membranen vorliegen, wird dieser enorme Energieaufwand gänzlich überflüssig. Es steht exakt dieselbe Antriebskraft zur Verfügung, aber der Mehraufwand wird um mindestens das 40-Fache zurückgefahren. Das ist ein sehr substanzieller Vorteil – stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten 40-mal mehr Energie! Nicht einmal meine kleinen Söhne haben so viel mehr Energie als ich. Im vorigen Kapitel habe ich beschrieben, dass primitive Zellen einen größeren Kohlenstoff- und Energiestrom brauchten als heutige Zellen. Und tatsächlich: Da für sie nicht die Notwendigkeit bestand, Protonen zu pumpen, hatten sie auch viel mehr Kohlenstoffverbindungen und Energie zur Verfügung. Stellen wir uns einmal eine durchlässige Zelle in einem natürlichen Protonengradienten vor. Vergessen wir nicht, dass wir uns nun im Zeitalter der Gene und Proteine befinden, die ihrerseits das Produkt des Wirkens der natürlichen Selektion auf Protozellen sind. Unsere durchlässige Zelle kann den kontinuierlichen Protonenstrom nutzen, um mithilfe der oben beschriebenen Energie umwandelnden Hydrogenase Ech den Kohlenstoff-Stoffwechsel anzutreiben. Dieses Protein befähigt die Zelle, H2 mit CO2 reagieren zu lassen, sodass zunächst Acetyl-CoA entsteht, im Weiteren gefolgt von all den Bausteinen des Le164
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A
B
Abbildung 18: Energiegewinnung durch Methanogenese Gezeigt ist eine vereinfachte Darstellung der Methanogenese. In Bild A treibt die Energie aus der Reaktion von H2 und CO2 die Ausschleusung von Protonen (H +) durch die Zell membran an. Eine Hydrogenase (Hdr) katalysiert die gleichzeitige Reduktion von Ferre doxin (Fd) und einer Disulfidbindung (–S–S–) mithilfe der beiden Elektronen von H2. Ferredoxin reduziert seinerseits CO2, letztlich zu einer Methylgruppe (–CH3), die auf einen Kofaktor (hier mit R bezeichnet) übertragen wird. Anschließend wird die Methyl gruppe auf einen zweiten Kofaktor (R‘) übertragen; dieser Schritt setzt genügend Ener gie frei, um zwei H + (oder Na+) auf die andere Seite der Membran zu pumpen. Im letzten Schritt wird die –CH3-Gruppe durch die HS-Gruppe zu Methan (CH4) reduziert. Insge samt wird ein Teil der durch die Methanbildung aus H2 und CO2 freigesetzten Energie als H + - (oder Na+ -) Gradient über der Zellmembran gespeichert. In Bild B wird der H + -Gra dient direkt durch zwei unterschiedliche Membranproteine dazu genutzt, den Kohlen stoff- und Energiestoffwechsel anzutreiben. Die Energie umwandelnde Hydrogenase Ech reduziert Ferredoxin (Fd) direkt, das wiederum seine Elektronen an CO2 abgibt, sodass eine Methylgruppe (–CH3) entsteht. Diese wird in Reaktion mit Kohlenmonoxid (CO) gebracht, sodass Acetyl-CoA entsteht, der Dreh- und Angelpunkt des Stoffwechsels. Desgleichen treibt der H + -Strom durch die ATP-Synthase die ATP-Synthese und damit den Energiestoffwechsel an.
bens. Sie kann den Protonengradienten auch dazu nutzen, die ATP-Synthese mithilfe der ATP-Synthase anzutreiben. Und natürlich kann sie ATP nutzen, um Aminosäuren und Nukleotide zu neuen Proteinen, RNA und DNA zu polymerisieren und letztlich Kopien von sich selbst herzustellen. Wichtig ist dabei, dass unsere durchlässige Zelle keine Energie darauf verschwenden muss, Protonen zu pumpen, daher 165
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sollte sie gut wachsen, selbst mit ihren ineffizienten frühen Enzymen, die noch nicht über Jahrmilliarden der Evolution optimiert wurden. Doch solche durchlässigen Zellen sitzen auch an Ort und Stelle fest, zutiefst abhängig vom hydrothermalen Strom und unfähig, in einer anderen Umgebung zu überleben. Versiegt der Strom oder nimmt er einen anderen Weg, sind sie verloren, und schlimmer noch: In ihrer Lage scheint jede Evolution unmöglich. Es bringt keinen Vorteil mit sich, die Eigenschaften der Membran zu verbessern; ganz im Gegenteil lassen weniger durchlässige Membranen sofort den Protonengradienten zusammenbrechen, weil keine Möglichkeit mehr besteht, die Protonen aus dem Zellinneren loszuwerden. Alle Zellvarianten, die eine „modernere“ impermeable Membran hervorbrachten, wurden also durch die Selektion eliminiert. Natürlich nur bis sie die Fähigkeit zum Protonenpumpen entwickelten, doch auch diese bringt Probleme mit sich. Wie wir erfahren haben, ergibt es keinen Sinn, Protonen durch eine durchlässige Membran zu pumpen. Unsere Untersuchungen bestätigen, dass Protonenpumpen keinen Vorteil mit sich bringt, selbst wenn die Durchlässigkeit der Membran um drei Größenordnungen reduziert wird. Lassen Sie mich das erläutern. Eine durchlässige Zelle in einem Protonengradienten verfügt über viel Energie, genug, um den Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel zu betreiben. Wenn durch einen evolutionären Kniff eine voll funktionsfähige Protonenpumpe in die Membran eingesetzt wird, bietet die in puncto verfügbare Energie keinerlei Vorteile: Die verfügbare Antriebskraft bleibt dieselbe wie ohne Protonenpumpe. Das Pumpen von Protonen durch eine durchlässige Membran ergibt einfach keinen Sinn – sie kommen sofort wieder zurück. Senkt man die Membranpermeabilität um den Faktor 10, zeigt sich immer noch kein Vorteil. Ebenso ist es, wenn man die Durchlässigkeit um den Faktor 100, ja sogar um den Faktor 1000 absenkt. Warum? Es herrscht ein Kräftegleichgewicht. Die herabgesetzte Membranpermeabilität hilft beim Pumpen, lässt aber auch den natürlichen Protonengradienten zusammenbrechen und untergräbt damit die Energiequelle der Zelle. Nur wenn massenhaft Pumpen in einer fast undurchlässigen Membran (wie der unserer Zellen) sitzen, 166
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bringt das Pumpen einen Vorteil. Das ist ein ernsthaftes Problem. Es gibt keine evolutionäre Kraft, die auf die Entwicklung von modernen Lipidmembranen oder modernen Protonenpumpen selektiert. Ohne eine treibende Kraft sollten sich diese nicht entwickeln, aber sie existieren trotzdem. Was also haben wir übersehen? Es folgt ein Beispiel für Glückstreffer in der Wissenschaft. Bill Martin und ich grübelten gerade genau über dieser Frage, und wir dachten darüber nach, dass Methanogene ein Protein nutzen, das zu den Antiportern gezählt wird. Die fraglichen Methanogene pumpen Natriumionen (Na+), nicht Protonen (H+), aber Protonen, die sich im Inneren anreichern, bereiten ihnen immer noch einige Probleme. Der Antiporter tauscht ein Na+ gegen ein H+ aus, wie eine Drehtür: Für jedes Natriumion, das in die Zelle gelangt, wird ein Proton hi nausbefördert. Es ist eine Protonenpumpe, die von einem Natriumgradienten angetrieben wird. Doch Antiporter unterscheiden nicht sehr genau, ihnen ist es egal, in welche Richtung sie arbeiten. Pumpt eine Zelle H+ und nicht Na+, läuft der Antiporter einfach rückwärts. Für jedes Proton, das in die Zelle gelangt, wird dann ein Natriumion hinausbefördert. Ha! Plötzlich war uns die Sache klar! Wenn unsere durchlässige Zelle in ihrem alkalinen hydrothermalen Schlot einen Na+-H+-Antiporter entwickelte, würde dieser als protonengetriebene Na+-Pumpe arbeiten! Für jedes Proton, das durch den Antiporter in die Zelle gelangte, wurde ein Natriumion aus dieser hinausgeworfen! Theoretisch konnte der Antiporter einen natürlichen Protonengradienten in einen biochemischen Natriumgradienten umwandeln. Inwiefern wäre das hilfreich? Ich sollte nochmals darauf hinweisen, dass dies ein Gedankenexperiment ist, basierend auf den bekannten Eigenschaften des Proteins; doch unseren Berechnungen nach konnte es einen überraschenden Unterschied machen. Lipidmembranen sind generell um etwa sechs Größenordnungen undurchlässiger für Na+ als für H+. Eine Membran, die extrem durchlässig für Protonen ist, ist demnach relativ undurchlässig für Natriumionen. Wird ein Proton hinausgepumpt, kommt es sofort wieder zurück, wird aber ein Natriumion durch dieselbe Membran hinaus167
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gepumpt, kehrt es nicht annähernd so schnell wieder zurück. Ein Antiporter kann demnach durch einen natürlichen Protonengradienten angetrieben werden: Für jedes H+, das in die Zelle kommt, wird ein Na+ hinausbefördert. Solange die Membran – wie zuvor – durchlässig für Protonen ist, wird der Protonenstrom durch den Antiporter unvermindert ablaufen und die Na+-Ausschleusung antreiben. Da die Membran weniger durchlässig für Natriumionen ist, sollte ein ausgeschleustes Na+ eher draußen bleiben, oder genauer: Es sollte durch Membranproteine wieder in die Zelle gelangen und nicht auf direktem Wege durch die Lipide. Und das fördert die Koppelung des Na+Einstroms an zu leistende Arbeit. Das ist natürlich nur von Nutzen, wenn die Membranproteine, die den Kohlenstoff- und den Energiestoffwechsel antreiben – Ech und die ATP-Synthase – zwischen Na+ und H+ nicht unterscheiden können. Das klingt merkwürdig, könnte aber erstaunlicherweise durchaus zutreffen. Manche Methanogene haben offenbar ATP-Synthasen, die ungefähr gleich gut durch H+ wie durch Na+ angetrieben werden können. Selbst in der sonst so prosaischen Sprache der Chemie bezeichnet man sie als „promisk“. Der Grund dafür könnten die gleiche Ladung und die sehr ähnlichen Durchmesser der beiden Ionen sein. Ein Proton ist zwar viel kleiner als ein Natriumion, aber Protonen existieren nur selten in isolierter Form. In Lösung binden sie an Wasser und bilden H3O+ (Oxonium- oder Hydronium-Ion), dessen Durchmesser mit dem von Na+ praktisch identisch ist. Andere Membranproteine, darunter auch Ech, sind (vermutlich aus ähnlichen Gründen) ebenfalls promisk für H+ und Na+. Jedenfalls ist das Pumpen von Natriumionen keineswegs sinnlos. Wenn ein natürlicher Protonengradient als Antrieb dient, kostet die Ausschleusung von Na+ praktisch keine Energie, und sobald ein Natriumgradient besteht, treten Na+-Ionen eher durch Membranproteine wie Ech und die ATP-Synthase wieder ein als durch die Membranlipide. Die Membran ist nun besser „gekoppelt“, also besser isoliert, und tendiert weniger zum „Kurzschließen“. Somit stehen nun mehr Ionen als Antrieb für den Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel zur Verfügung, und der Ertrag pro ausgepumptem Ion ist größer. 168
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Diese einfache Erfindung zieht einige überraschende Effekte nach sich. Einer ist, quasi nebenbei, das Absinken der Natriumkonzentration im Zellinneren durch das Auspumpen von Na+. Wir wissen, dass zahlreiche Apoenzyme bei Bakterien und Archaeen (etwa diejenigen, die für Transkription und Translation verantwortlich sind) durch die Selektion dahingehend optimiert wurden, dass sie bei niedrigen Na+-Konzentrationen arbeiten, obwohl sie sich wahrscheinlich im Ozean entwickelten, wo die Na+-Konzentration wohl auch schon vor vier Milliarden Jahren hoch war. Die Tätigkeit eines Antiporters schon zu einem frühen Zeitpunkt der Evolution könnte erklären, warum alle Zellen für ein Milieu mit niedriger Na+-Konzentration optimiert sind, obwohl sie sich in einer Umwelt mit hoher Na+-Konzentration entwickelten.31 Für unsere Sache noch signifikanter ist die Tatsache, dass der Antiporter zusätzlich zu einem bestehenden H+-Gradienten noch einen Na+-Gradienten erzeugt. Die Zelle wird nach wie vor durch den natürlichen Protonengradienten angetrieben, braucht also immer noch protonendurchlässige Membranen. Aber nun verfügt sie außerdem über einen Natriumionengradienten, der sie nach unserer Berechnung mit etwa 60 Prozent mehr Energie versorgt, als ihr zuvor allein durch Protonenkraft zur Verfügung stand. Das verschafft Zellen zwei große Vorteile. Erstens haben Zellen mit einem Antiporter mehr Antriebskraft, können also schneller wachsen und sich schneller re plizieren als Zellen ohne Antiporter – der Selektionsvorteil liegt hier auf der Hand. Zweitens konnten die Zellen auch bei einem weniger ausgeprägten Protonengradienten überleben. Bei unserer Studie wachsen Zellen mit durchlässigen Membranen gut bei einem Protonengradienten von etwa drei pH-Einheiten, was bedeutet, dass die Protonenkonzentration der Meere (etwa pH 7) drei Größenordnungen höher ist als diejenige der alkalinen Flüssigkeiten (etwa pH 10). Zellen mit einem Antiporter konnten, indem sie die Antriebskraft eines natürlichen Protonengradienten erhöhten, bei einem pH-Gradienten von weniger als zwei pH-Einheiten überleben; so konnten sie größere Bereiche des Schlotes oder angrenzende Flächen besiedeln. Zellen mit Antiporter setzten sich wohl somit gegenüber anderen Zellen 169
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eher durch und breiteten sich auch in den Schloten aus. Da sie aber immer noch vollkommen abhängig von dem natürlichen Protonengradienten waren, konnten sie die Schlote nicht verlassen. Dazu brauchte es noch einen weiteren Schritt. Und das bringt uns zum entscheidenden Punkt. Mit einem Antiporter waren die Zellen vielleicht noch nicht in der Lage, den Schlot zu verlassen, aber sie waren nun darauf vorbereitet. In der Fachsprache ausgedrückt ist ein Antiporter eine „Präadaption“ – ein notwendiger erster Schritt, der eine spätere evolutionäre Entwicklung begünstigt. Der Grund dafür ist überraschend, zumindest war er das für mich. Ein Antiporter begünstigt erstmals die Evolution des aktiven Pumpens. Wie oben erwähnt, bringt das Pumpen von Protonen durch eine durchlässige Membran keine Vorteile mit sich, da sie postwendend zurückkehren. Mit einem Antiporter aber entsteht ein Vorteil. Wenn Protonen nach außen gepumpt werden, kehren einige von ihnen nicht durch die durchlässige Lipidmembran, sondern durch den Antiporter zurück, der statt ihrer dann Na+-Ionen ausschleust. Und da die Membran für Na+-Ionen weniger durchlässig ist, wird ein größerer Anteil der Energie, die für das Auspumpen von Protonen aufgewandt wurde, als Ionengradient über der Membran gespeichert. Für jedes ausgepumpte Ion besteht eine leicht erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass es draußen bleibt. Und das bedeutet, dass das Protonenpumpen im Gegensatz zu vorher nun einen kleinen Vorteil mit sich bringt. Protonenpumpen zahlt sich nur mit einem Antiporter aus. Und das ist noch nicht alles. Nach der Entwicklung der Protonenpumpe brachte es nun zum ersten Mal einen Vorteil mit sich, die Membran zu verbessern. Ich wiederhole: Bei einem natürlich herrschenden Protonengradienten ist eine durchlässige Membran unerlässlich. Das Pumpen von Protonen durch eine durchlässige Membran ist von keinerlei Nutzen. Ein Antiporter verbessert die Lage, weil er die Antriebskraft eines natürlichen Protonengradienten erhöht, aber er beendet nicht die Abhängigkeit der Zelle von diesem natürlichen Gradienten. In Anwesenheit eines Antiporters aber bringt es nun einen Vorteil mit sich, Protonen auszupumpen, die Abhängigkeit vom natürlichen Gradienten wird also verringert. Und jetzt – erst 170
4 Die Entstehung der Zellen
Abbildung 19: Der Ursprung der Bakterien und Archaeen Ein mögliches Szenario für das Divergieren der Bakterien und Archaeen auf der Basis eines mathematischen Modells der Energieverfügbarkeit bei natürlichen Protonengradi enten. Das Bild zeigt aus Gründen der Vereinfachung nur die ATP-Synthase, doch das selbe Prinzip gilt auch für andere Membranproteine, wie Ech. Ein natürlicher H + -Gradient in einem hydrothermalen Schlot kann so lange als Antrieb für die APT-Synthese dienen, wie die Membran durchlässig ist (unten), doch es bringt keinen Vorteil mit sich, die Membraneigenschaften zu verbessern, denn dadurch bricht der natürliche Gradient zu sammen. Ein Natrium-Protonen-Antiporter (NPAP) erzeugt neben dem geochemischen Protonen- noch einen biochemischen Natriumgradienten. Damit kann die Zelle auch bei kleineren H + -Gradienten überleben, was die Ausbreitung und das Divergieren ihrer Po pulationen im Schlot begünstigt. Die durch den NPAP verschaffte zusätzliche Antriebs kraft bedeutet, dass das Pumpen von H + erstmals einen Vorteil mit sich brachte. Mit einer solchen Pumpe verschafft auch die Verringerung der Membranpermeabilität für H + einen Vorteil. Wenn sich die Durchlässigkeit der Membran für Protonen den heutigen Werten annähert, werden die Zellen letztlich unabhängig von natürlichen Gradienten und kön nen den Schlot verlassen. In der Darstellung verlassen Bakterien und Archaeen den Schlot unabhängig voneinander.
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Teil II: Der Ursprung des Lebens
jetzt! – ist es auch besser, über eine weniger durchlässige Membran zu verfügen. Eine etwas weniger durchlässige Membran vergrößert den Vorteil ein wenig, und so schreitet die Entwicklung fort, bis hin zu den heutigen, protonenundurchlässigen Membranen. Zum ersten Mal haben wir es mit einem anhaltenden Selektionsdruck in Richtung auf die Entwicklung sowohl von Protonenpumpen als auch modernen Lipidmembranen zu tun. Letztlich konnten die Zellen ihre Nabelschnur zum natürlichen Protonengradienten durchtrennen: Sie hatten nun die Freiheit, die Schlote hinter sich zu lassen und die große weite (und leere) Welt zu erobern.32 All dies zusammen ergibt eine wunderschöne Reihe physikalischer Einschränkungen. Im Gegensatz zur Phylogenetik, die uns nur wenig mit Gewissheit sagen kann, geben diese physikalischen Einschränkungen der möglichen Abfolge evolutionärer Schritte eine Ordnung, angefangen mit einer Abhängigkeit von natürlichen Protonengradienten und endend mit im Grund modernen Zellen, die selbst Protonengradienten über impermeablen Membranen erzeugen (Abbildung 19). Und besser noch: Diese Einschränkungen könnten den grundlegenden Unterschied zwischen Bakterien und Archaeen erklären. Beide erzeugen mithilfe von Protonengradienten über Membranen ATP, doch diese Membranen zeigen in den beiden Domänen grundlegende Unterschiede, ebenso wie andere Merkmale (darunter die Membranpumpen selbst, die Zellwand und die DNA-Replikation). Lassen Sie es mich erklären.
Warum sich Bakterien und Archaeen grundlegend unterscheiden Ich fasse kurz zusammen: Im vorigen Kapitel haben wir unter energetischen Gesichtspunkten die Umgebungen auf der frühen Erde betrachtet, die den Ursprung des Lebens begünstigt haben könnten. Dabei sind wir schließlich bei den alkalinen hydrothermalen Schloten angelangt, bei denen ein steter Strom an Kohlenstoffverbindungen und Energie in Kombination mit mineralischen Katalysatoren und einer natürlichen Kompartimentierung vorliegt. Doch bringen 172
4 Die Entstehung der Zellen
diese Schlote ein Problem mit sich: Kohlenstoffverbindungen und Energie liegen in Gestalt von H2 und CO2 vor, die nur schwer mitei nander reagieren. Wir haben erfahren, dass geochemische Protonengradienten über dünne, halbleitende Trennwände zwischen den Mikroporen der Schlote die energetische Barriere, die der Reaktion der beiden Moleküle entgegensteht, aufheben könnten. Durch die Bildung reaktiver Thioester, wie etwa Methylthioacetat (einem funk tionellen Äquivalent zum Acetyl-CoA), könnten Protonengradienten sowohl einen Kohlenstoff- als auch einen Energiestoffwechsel entstehen lassen und damit eine Anreicherung organischer Moleküle innerhalb der Schlotporen bewirken; gleichzeitig würde dies „Dehydratisierungs“-Reaktionen begünstigen, aus denen komplexe Polymere wie DNA, RNA und Proteine hervorgehen. Ich habe viele Einzelheiten dargestellt, etwa die Entstehung des genetischen Codes, doch mein Fokus lag auf der Darlegung des Konzepts, nach dem diese Bedingungen theoretisch rudimentäre Zellen mit Genen und Proteinen hätten hervorbringen können. Zellpopulationen unterlagen dann der ganz normalen natürlichen Selektion. Außerdem habe ich die Vermutung geäußert, der letzte gemeinsame Vorfahr der Bakterien und Archaeen (LUCA) könnte das Produkt der Selektionswirkung auf Populationen solcher einfachen Zellen sein, die in den Poren alkaliner hydrothermaler Schlote lebten und von natürlichen Protonengradienten abhängig waren. Die Selektion ließ komplizierte Proteine entstehen, darunter Ribosomen, Ech und die ATP-Synthase – die allesamt universell konserviert sind. Im Prinzip könnte LUCA seinen kompletten Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel mithilfe von ATP-Synthase und Ech mit natürlichen Protonengradienten angetrieben haben, aber dazu hätte er eine extrem durchlässige Zellmembran benötigt. Er konnte keine „moderne“ impermeable Membran entwickelt haben, wie sie Bakterien oder Archaeen haben, weil dadurch der natürliche Protonengradient zusammengebrochen wäre. Ein Antiporter jedoch hätte Abhilfe geschaffen, indem er natürliche Protonen- in biochemische Natriumionengradienten umgewandelt hätte, was die verfügbare Antriebskraft erhöht und ein Überleben der Zellen auch bei geringeren Gradienten 173
Teil II: Der Ursprung des Lebens
erlaubt hätte. Damit wären die Zellen in der Lage gewesen, sich auszubreiten und zuvor für sie unbewohnbare Bereiche der Schlote zu besiedeln, was wiederum das Divergieren von Populationen begünstigte. Die Fähigkeit, unter verschiedenen Bedingungen zu überleben, befähigte die Zellen vielleicht sogar, zusammenhängende Schlotsysteme zu „infizieren“ und sich weit über den Ozeanboden der noch jungen Erde auszubreiten, von dem ein großer Teil vielleicht der Serpentinisierung unterzogen würde. Ein Antiporter bewirkte aber auch, dass das Protonenpumpen erstmals einen Vorteil mit sich brachte. Zu guter Letzt kommen wir nun zu jenen merkwürdigen Unterschieden im reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Weg bei Methanogenen und Acetogenen. Diese Unterschiede legen die Vermutung nahe, dass aktives Pumpen unabhängig in zwei unterschiedlichen Populationen entstand, die sich mithilfe eines Antiporters aus einer gemeinsamen Vorläuferpopulation entwickelt hatten. Wir erinnern uns: Methanogene sind Archaeen, Acetogene Bakterien – Vertreter der beiden großen Domänen der Prokaryoten, der untersten Verzweigungen des „Stammbaums des Lebens“. Wir stellten fest, dass Bakterien und Archaeen Ähnlichkeiten in der DNATranskription und -Translation, in ihren Ribosomen, der Proteinsynthese und derlei mehr aufweisen, sich aber in anderer Hinsicht grundlegend unterscheiden, darunter auch im Aufbau ihrer Zellmembran. Ich erwähnte, dass sie sich zudem in einigen Details des reduktiven Acetyl-Coenzym-A-Wegs unterscheiden, und behauptete zugleich, dass dieser Weg dennoch urtümlich sei. Die Ähnlichkeiten und Unterschiede verraten dies. Wie die Methanogene lassen auch die Acetogene H2 mit CO2 über eine Reihe analoger Schritte zu Acetyl-CoA reagieren. Beide Gruppen bedienen sich zum Antrieb der Protonenpumpen eines cleveren Tricks, der Elektronen-Bifurkation. Diese wurde erst kürzlich von dem renommierten deutschen Mikrobiologen Rudolf Thauer und seinen Kollegen entdeckt – dies könnte der wichtigste Durchbruch in der Biochemie seit Jahrzehnten sein. Thauer ist inzwischen emeritiert, doch seine Befunde waren das krönende Ergebnis jahrzehntelanger akribischer Erforschung des Energiehaushalts verborgen lebender Mikro174
4 Die Entstehung der Zellen
ben, die weiterwachsen, auch wenn stöchiometrische Berechnungen besagen, dass sie das nicht sollten. Die Evolution ist, wie so oft, hier klüger als wir. Im Grunde ist die Elektronen-Bifurkation nichts anderes als ein kurzzeitiger Energiekredit, gewährt auf das Versprechen hin, ihn umgehend zurückzuzahlen. Wie wir bereits wissen, ist die Reaktion von H2 mit CO2 insgesamt exergonisch (sie setzt also Energie frei), doch die ersten Schritte sind endergonisch (bedürfen also der Zufuhr von Energie). Durch die Elektronen-Bifurkation ist es möglich, einen Teil der in den späteren, exergonischen Reaktionsschritten der CO2-Reduktion freigesetzten Energie für die schwierigen ersten Schritte aufzuwenden.33 Da in den letzten Schritten mehr Energie freigesetzt wird, als in den ersten Schritten aufgewandt werden muss, kann ein Teil der Energie als Protonengradient über einer Membran gespeichert werden (Abbildung 18). Insgesamt dient die bei der Reaktion von H2 mit CO2 freigesetzte Energie als Antriebskraft für die Ausschleusung von Protonen durch eine Membran. Rätselhaft ist nur, dass die „Drähte“, über die die Elektronen-Bifurkation abläuft, bei Methanogenen und Acetogenen unterschiedlich sind. Beide greifen auf ähnliche Eisen-Nickel-Schwefel-Proteine zurück, aber der exakte Mechanismus ist doch nicht derselbe, so wie sich auch viele der benötigten Proteine unterscheiden. Wie die Methanogene speichern auch die Acetogene die bei der Reaktion von H2 und CO2 freigesetzte Energie als H+- oder Na+-Gradient über einer Membran. In beiden Fällen dient der Gradient als Antriebskraft für den Kohlenstoff- und den Energiestoffwechsel. Wie die Methanogene verfügen auch die Acetogene über eine ATP-Synthase und Ech. Doch anders als die Methanogene benutzen die Acetogene Ech nicht direkt, um den Kohlenstoff-Stoffwechsel anzutreiben. Ganz im Gegenteil nutzen einige es umgekehrt als H+- oder Na+-Pumpe. Und der exakte Reaktionsweg, den sie zum Antreiben des Kohlenstoff-Stoffwechsels benutzen, ist grundlegend anders. Diese Unterschiede scheinen von fundamentaler Natur zu sein, so sehr, dass manche Fachleute die Ähnlichkeit zwischen beiden eher auf eine evolutionäre Konvergenz oder auf lateralen Gentransfer zurückführen als auf eine gemeinsame Abstammung. 175
Teil II: Der Ursprung des Lebens
Doch die Ähnlichkeiten und Unterschiede ergeben allmählich einen Sinn, wenn wir davon ausgehen, dass LUCA tatsächlich von natürlichen Protonengradienten abhängig war. Wenn dies zutrifft, könnte der Schlüssel zum Protonenpumpen in der Richtung liegen, in der der Protonenstrom durch Ech erfolgt – darin, ob der natürliche Protonenstrom ins Zellinnere die Kohlenstofffixierung antreibt oder ob dieser Strom umgekehrt wird, wobei das Protein nun als membranständige Pumpe agiert und Protonen aus dem Zellinneren herauspumpt (Abbildung 20). In der ursprünglichen Vorläuferpopulation diente, so meine Vermutung, der normale Einstrom von Protonen via Ech dazu, Ferredoxin zu reduzieren, was seinerseits die CO2-Reduktion antrieb. Zwei getrennte Populationen entwickelten dann unabhängig voneinander das Protonenpumpen. Eine Population, aus der sich die Acetogene entwickeln sollten, kehrte die Arbeitsrichtung von Ech um, sodass nun Ferredoxin oxidiert und die freigesetzte Energie dazu benutzt wurde, Protonen aus der Zelle zu pumpen. Das ist eine feine und einfache Sache, schafft aber ein unmittelbares Problem. Das vorher zur Reduktion von Kohlenstoffverbindungen benutzte Ferredoxin dient nun dazu, Protonen zu pumpen. Die Acetogene mussten einen neuen Weg finden, Kohlenstoffverbindungen zu reduzieren, der nicht vom Ferredoxin abhängig war. Und ihre Vorfahren fanden eine Methode – den cleveren Trick der Elektronen-Bifurkation, dank derer sie in der Lage waren, CO2 indirekt zu reduzieren. Die grundlegende Biochemie der Acetogene folgt, so darf man wohl sagen, dieser einfachen Prämisse – die Richtung des Protonenstroms durch Ech wurde umgekehrt, was den Acetogenen eine funktionelle Pumpe bescherte, aber auch eine Reihe spezifischer Probleme, die es zu lösen galt. Die zweite Population, aus der die Methanogene hervorgingen, fand einen anderen Weg. Wie ihre Vorfahren nutzten sie weiterhin Protonengradienten zur Reduktion von Ferredoxin und anschließend Ferredoxin zur Fixierung von Kohlenstoff. Doch sie mussten aus dem Nichts eine Protonenpumpe „erfinden“. Nun ja, nicht ganz aus dem Nichts; vielleicht zweckentfremdeten sie einfach ein existierendes Protein. Es scheint so, als hätten sie einen Antiporter zur Pumpe um176
4 Die Entstehung der Zellen
A
B
C
Abbildung 20: Die mögliche Entwicklung des aktiven Protonenpumpens Hypothetische Ursprünge des Protonenpumpens bei Bakterien und Archaeen, basierend auf der Richtung des Protonenstroms durch das Membranprotein Ech. A Der ursprüngli che Zustand bei den Vorfahren beider Gruppen. Natürliche Protonengradienten treiben den Kohlenstoff- und den Energiestoffwechsel über Ech und die ATP-Synthase (ATPase) an. Das kann nur funktionieren, solange die Membran durchlässig ist. B Methanogene (postuliert als urtümliche Archaeen). Diese Zellen nutzen Ech und ATPase weiterhin als Antrieb für Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel, konnten aber mit ihren H + -undurch lässigen Membranen nicht mehr auf natürliche Protonengradienten zurückgreifen. Sie mussten einen neuen biochemischen Reaktionsweg und eine neue Pumpe (die Methyl transferase, Mtr) „erfinden“, um selbst einen H + -(oder Na+ -)Gradienten zu erzeugen (gepunktete Linien). Beachten Sie, dass dieses Bild einer Kombination von Abbildung 18 A und B entspricht. C Acetogene (postuliert als urtümliche Bakterien). Der Protonen strom durch Ech erfolgt hier in umgekehrter Richtung und wird nun durch die Oxidation von Ferredoxin angetrieben. Acetogene mussten keine Pumpe „erfinden“, sondern einen neuen Weg finden, CO2 zu organischen Verbindungen zu reduzieren; das erfolgt durch NADH und ATP (gepunktete Linien). Dieses postulierte Szenario könnte sowohl die Ähn lichkeiten als auch die Unterschiede zwischen Methanogenen und Acetogenen im reduk tiven Acetyl-Coenzym-A-Weg erklären.
gemodelt. Das ist an sich nicht schwierig, birgt aber ein Problem: Wie soll die Pumpe angetrieben werden? Die Methanogene entwickelten eine andere Form der Elektronen-Bifurkation; dabei benutzten sie zum Teil dieselben Proteine wie die Acetogene, aber ganz anders geschaltet, denn ihre eigenen Bedürfnisse waren andere und mit einer anderen Pumpe verknüpft. Der Kohlenstoff- und Energiestoffwechsel jeder dieser Domänen leitet sich vermutlich von der Richtung des Protonenstroms durch Ech ab. Dabei gibt es nur zwei Möglichkeiten, 177
Teil II: Der Ursprung des Lebens
und die Methanogene und die Acetogene trafen unterschiedliche Entscheidungen (Abbildung 20). Als nun beide Gruppen über aktive Protonenpumpen verfügten, brachte es schließlich einen Vorteil mit sich, wenn die Membranen weniger durchlässig wurden. Bei allen Schritten bis zu diesem Punkt hatte keinerlei Vorteil darin gelegen, eine „modernere“ Membran voller Phospholipide zu entwickeln – es hätte sich sogar nachteilig ausgewirkt. Doch sobald die Zellen Antiporter und Ionenpumpen hatten, war es von Vorteil, die Membranlipide mit Glycerinköpfen zu versehen. Und die beiden Domänen scheinen das unabhängig voneinander vollbracht zu haben, wobei die Archaeen ein Stereoisomer des Glycerins benutzten und die Bakterien dessen spiegelbildliches Gegenstück (siehe Kapitel 2). Die Zellen hatten nun aktive Ionenpumpen und moderne Membranen, sodass sie schließlich die Schlote verlassen und in die Freiheit des offenen Meeres vordringen konnten. Aus einem gemeinsamen Vorfahren, der von Protonengradienten in hydrothermalen Schloten lebte, gingen unabhängig voneinander die ersten frei lebenden Zellen, Bakterien und Archaeen, hervor. Es überrascht nicht, das Bakterien und Archaeen auch unterschiedliche Zellwände entwickelten, die sie gegen die neuartigen Einwirkungen schützten, und dass sie die DNA-Replikation womöglich unabhängig voneinander „erfunden“ haben. Bakterien binden ihre DNA während der Zellteilung an die Zellmembran; diese Bindung sorgt dafür, dass jede Tochterzelle eine Kopie des Genoms erhält. Die molekulare Maschinerie für die Bindung der DNA an die Membran und viele Einzelheiten der DNAReplikation müssen zumindest teilweise von der Mechanik dieser Bindung abhängen. Die Tatsache, dass sich Zellmembranen unabhängig voneinander entwickelten, liefert eine erste Erklärung dafür, dass die DNA-Replikation bei Bakterien und Archaeen so unterschiedlich abläuft. Dasselbe gilt größtenteils für die Zellwände, deren Bestandteile allesamt aus dem Zellinneren durch spezifische Membranporen ausgeschleust werden müssen – daher hängt die Synthese der Zellwand von den Eigenschaften der Zellmembran ab und muss sich bei Bakterien und Archaeen unterscheiden. 178
4 Die Entstehung der Zellen
Wir kommen zum Ende. Die Bioenergetik sagt zwar nicht anhand von Grundprinzipien voraus, dass zwischen Bakterien und Archaeen grundlegende Unterschiede bestehen sollten, aber diese Betrachtungen erklären, wie und warum diese entstanden sind. Die tief greifenden Unterschiede zwischen den beiden Domänen der Prokaryoten hatten nichts mit der Anpassung an extreme Umweltbedingungen (wie hohe Temperaturen) zu tun, sondern mit der Divergenz von Zellen mit Membranen, die aus bioenergetischen Gründen durchlässig bleiben mussten. Zwar mag sich die Unterschiedlichkeit von Archaeen und Bakterien nicht aus Grundprinzipien herleiten lassen, aber die Tatsache, dass beide Gruppen chemiosmotisch (also von Protonengradienten über Membranen abhängig) sind, folgt aus den physikalischen Gesetzmäßigkeiten, die ich in diesen letzten beiden Kapiteln dargelegt habe. Die Umgebung, die nach realistischer Einschätzung am besten geeignet war, um das Leben hervorzubringen, ob hier oder anderswo im Universum, sind die alkalinen hydrothermalen Schlote. Solche Schlote nötigen Zellen dazu, sich natürliche Protonengradienten zunutze zu machen und letztlich selbst solche Gradienten zu erzeugen. Somit erscheint es nicht rätselhaft, dass alle Zellen auf unserem Planeten chemiosmotisch sind. Ich gehe sogar davon aus, dass Zellen überall im Universum ebenfalls chemiosmotisch sind. Und das bedeutet, dass sie sich exakt denselben Problemen gegenübersehen wie die Lebensformen auf der Erde. Im nächsten Teil des Buches werden wir uns damit beschäftigen, warum dieser universelle Bedarf an Protonen als Antrieb bedeutet, dass komplexe Lebensformen im Universum vermutlich selten sind.
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Teil III: Komplexität
5 Der Ursprung komplexer Zellen
I
n dem Film noir Der dritte Mann von 1949 spricht Orson Welles die berühmten Worte: „In den 30 Jahren unter den Borgias hat’s nur Krieg gegeben, Terror, Mord und Blut. Aber dafür gab’s Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance. In der Schweiz herrschte brüderliche Liebe, 500 Jahre Demokratie und Frieden. Und was haben wir davon? Die Kuckucksuhr!“ Wie es heißt, hat Welles diesen Monolog selbst eingefügt. Angeblich schrieb ihm die Schweizer Regierung daraufhin einen wütenden Brief mit dem Hinweis: „Wir stellen keine Kuckucksuhren her.“ Ich habe nichts gegen die Schweiz (oder Orson Welles); ich erzähle die Geschichte nur, weil sie, wie ich finde, die Evolution widerspiegelt. Seit der Entwicklung der ersten komplexen eukaryotischen Zellen vor rund 1,5 bis 2 Milliarden Jahren hatten wir immer wieder Krieg, Terror, Mord und Blut: Natur, Zähne und Klauen blutigrot. In den Zeitaltern davor gab es 2 Milliarden Jahre lang Frieden und Symbiose, bakterielle Liebe (und nicht nur Liebe) – aber was haben jene Myriaden an Prokaryoten hervorgebracht? Mit Sicherheit nichts, was so umfangreich oder äußerlich komplex war wie eine Kuckucksuhr. Im Reich der morphologischen Komplexität sind Bakterien wie auch Archaeen nicht einmal einzelligen Eukaryoten auch nur ansatzweise ebenbürtig. Dieser Punkt verdient besondere Beachtung. Die beiden großen Prokaryoten-Domänen, Bakterien und Archaeen, sind genetisch und 180
5 Der Ursprung komplexer Zellen
biochemisch außerordentlich wandlungsfähig. Was ihren Stoffwechsel betrifft, stellen sie Eukaryoten in den Schatten: Ein einziges Bakterium kann eine größere metabolische Flexibilität zur Schau stellen als die gesamte eukaryotische Domäne. Aus irgendeinem Grund haben jedoch weder Bakterien noch Archaeen jemals direkt eine strukturelle Komplexität entwickelt, die derjenigen der Eukaryoten auch nur im Entferntesten vergleichbar war. Das Zellvolumen der Prokaryoten ist typischerweise etwa 15 000-mal kleiner als das der Eukaryoten (auch wenn es einige aufschlussreiche Ausnahmen gibt, auf die wir noch zurückkommen). Bei der Genomgröße gibt es zwar ein paar Überschneidungen, aber die größten bekannten Bakteriengenome enthalten etwa 12 Megabasen DNA. Dagegen besitzen Menschen etwa 3000 Megabasen und einige eukaryotische Genome bis zu 100 000 Megabasen oder mehr. Am vielsagendsten ist jedoch die Tatsache, dass sich Bakterien und Archaeen in 4 Milliarden Jahren Evolution kaum verändert haben. In dieser Zeitspanne hat es massive ökologische Umwälzungen gegeben. Die Zunahme an Sauerstoff in Luft und Meeren hat die Umwelt mit ganz neuen Möglichkeiten ausgestattet, doch die Bakterien blieben unverändert. Globale Eiszeiten („Schneeball Erde“) müssen die Ökosysteme an den Rand des Zusammenbruchs getrieben haben, doch die Bakterien blieben unverändert. Die kambrische Explosion zauberte Tiere hervor – neue potenzielle Weidegründe für Bakterien. Von unserer Menschenwarte aus betrachten wir Bakterien meist als Pathogene, obwohl die Krankheitserreger nur die Spitze des wandelbaren prokaryotischen Eisbergs sind. Doch trotz all dieser Umbrüche blieben die Bakterien unbeirrt bakteriell. Zu keinem Zeitpunkt brachten sie etwas so Riesenhaftes und Komplexes wie einen Floh hervor. Nichts ist konservativer als ein Bakterium. In Kapitel 1 habe ich dargelegt, dass sich diese Tatsachen am besten mit einer strukturellen Beschränkung erklären lassen. Die physikalische Struktur der Eukaryoten weist einen grundlegenden Unterschied zu Bakterien wie auch Archaeen auf. Die Überwindung jener strukturellen Beschränkung versetzte die Eukaryoten in die Lage, ins Reich der morphologischen Variation vorzustoßen. Sehr vereinfacht ausgedrückt: Die Prokaryoten entdeckten die Möglichkeiten des 181
Teil III: Komplexität
Stoffwechsels und fanden geniale Lösungen für die obskursten chemischen Herausforderungen, während die Eukaryoten dieser chemischen Cleverness den Rücken kehrten und stattdessen das noch unerschlossene Potenzial von mehr Größe und struktureller Komplexität erforschten. Die Idee der strukturellen Beschränkungen hat nichts Radikales an sich, doch natürlich herrscht kein Konsens über die Frage, woraus diese Beschränkungen denn bestehen könnten. Es wurden viele Theorien aufgestellt, vom desaströsen Verlust der Zellwand bis zum Novum gestreckter Chromosomen. Der Verlust der Zellwand kann katastrophal sein, weil Zellen ohne dieses feste äußere Gerüst leicht anschwellen und platzen können. Andererseits jedoch verhindert eine solche Zwangsjacke, dass Zellen ihre physische Gestalt ändern, he rumkriechen und andere Zellen durch Phagozytose verschlingen. Ein selten vorkommender erfolgreicher Verlust der Zellwand hätte daher die Evolution der Phagozytose ermöglichen können – eine Neuerung, die der Oxforder Biologe Tom Cavalier-Smith schon lange als entscheidenden Schritt zur Entwicklung der Eukaryoten anführt. Es stimmt zwar, dass der Verlust der Zellwand eine Voraussetzung für Phagozytose ist, aber viele Bakterien verlieren ihre Zellwand, ohne dass es im Geringsten katastrophale Auswirkungen hat – sogenannte L-Form-Bakterien kommen wunderbar ohne Zellwand zurecht, machen aber keine Anstalten, sich in dynamische Phagozyten zu verwandeln. Und ganz wenige Archaeen besitzen überhaupt keine Zellwand, werden aber auch nicht zu Phagozyten. Die Behauptung, die lästige Zellwand sei die Beschränkung, die sowohl Bakterien als auch Archaeen davon abgehalten habe, komplexer zu werden, ist wohl kaum aufrechtzuerhalten, wenn viele Bakterien und Archaeen keine größere Komplexität entwickeln, obwohl sie ihre Zellwand verlieren, während zahlreiche Eukaryoten, darunter Pflanzen und Pilze, eine Zellwand besitzen (wenn auch anders geartet als die der Prokaryoten) und dennoch sehr viel komplexer als Prokaryoten sind. Ein gutes Beispiel sind eukaryotische Algen im Vergleich mit Cyanobakterien: Beide haben ähnliche Lebensweisen, brauchen Fotosynthese zum Leben und besitzen eine Zellwand; Algengenome sind typi182
5 Der Ursprung komplexer Zellen
scherweise jedoch um mehrere Größenordnungen voluminöser und können mit einem viel größeren Zellvolumen sowie weitaus komplexeren Strukturen aufwarten. Eine ähnliche Sachlage gilt für gestreckte Chromosomen. Prokaryo tenchromosomen sind normalerweise ringförmig und die DNA-Replikation beginnt an einem bestimmten Punkt dieses Ringes (dem Replikon). Die DNA-Replikation verläuft jedoch häufig langsamer als die Zellteilung, und eine Zelle kann ihre Teilung in zwei Hälften erst abschließen, wenn sie ihre DNA vollständig kopiert hat. Das bedeutet, dass ein einziges Replikon die maximale Größe eines Bakterienchromosoms beschränkt, weil sich Zellen mit mehreren kleineren Chromosomen meist schneller replizieren als Zellen mit einem größeren Chromosom. Verliert eine Zelle unnötige Gene, kann sie sich schneller teilen. Gemeinhin sind Bakterien mit kleineren Chromosomen nach einer gewissen Zeit in der Überzahl, insbesondere wenn sie zuvor verlorene Gene, die sie nun wieder brauchen, durch lateralen Gentransfer neu erwerben. Dagegen haben Eukaryoten normalerweise gestreckte Chromosomen mit jeweils mehreren Replikons. Infolgedessen verläuft die DNAReplikation bei Eukaryoten parallel, bei Bakterien hingegen seriell. Doch auch hier erklärt diese Beschränkung kaum, warum Prokaryoten nicht mehrere gestreckte Chromosomen entwickeln könnten; in der Tat hat man nun bei einigen Bakterien und Archaeen gestreckte Chromosomen und „Parallelverarbeitung“ vorgefunden, doch selbst in diesen Fällen haben sie den Umfang ihrer Genome nicht wie die Eukaryoten vergrößert. Etwas anderes muss sie in Schach halten. Praktisch alle strukturellen Beschränkungen, die man ins Feld geführt hat, um zu erklären, warum Bakterien keine eukaryotische Komplexität entwickeln, kranken an ein und demselben Problem: Zu jeder angeblichen „Regel“ gibt es jede Menge Ausnahmen. Wie der gefeierte Evolutionsbiologe John Maynard Smith mit vernichtender Höflichkeit zu sagen pflegte: Diese Erklärungen sind einfach nicht hinreichend. Was aber wäre denn hinreichend? Wie wir gesehen haben, bietet die Phylogenetik keine simple Antwort. LECA war eine komplexe 183
Teil III: Komplexität
Zelle, die bereits gestreckte Chromosomen besaß, einen membran umhüllten Zellkern, Mitochondrien, verschiedene spezialisierte „Organellen“ und andere Membranstrukturen, ein dynamisches Cytoskelett und Merkmale wie Geschlechtlichkeit. Es handelte sich erkennbar um eine „moderne“ eukaryotische Zelle. Von diesen Merkmalen findet sich keines in Bakterien, das auch nur entfernt dem eukaryotischen Zustand vergleichbar wäre. Dieser phylogenetische „Ereignishorizont“ bedeutet, dass sich die Evolution eukaryotischer Merkmale nicht in die Zeit vor dem letzten eukaryotischen gemeinsamen Vorfahren zurückverfolgen lässt. Es ist, als ließen sich alle Erfindungen der modernen Gesellschaft – Häuser, Hygiene, Straßen, Arbeitsteilung, Landwirtschaft, Gerichtshöfe, stehende Heere, Universitäten, Regierungen und was weiß ich sonst noch alles – samt und sonders bis ins Alte Rom zurückverfolgen, aber vor Rom hätte es nichts als primitive Jäger-und-SammlerGesellschaften gegeben. Keine Überreste des antiken Griechenlands, kein China oder Ägypten, keinen Vorderen Orient, kein Persien oder irgendeine andere Zivilisation – nur massenhaft Spuren von Jägern und Sammlern, so weit das Auge reicht. Dumm gelaufen. Nehmen wir an, Experten hätten Jahrzehnte damit verbracht, die archäologischen Fundstätten der Welt zu durchforsten, um die Überreste früherer Städte auszugraben, von Zivilisationen aus der Zeit vor Rom, um irgendwelche Hinweise darauf zu finden, wie Rom erbaut wurde. Hunderte von Indizien hätte man entdeckt, doch jedes einzelne hätte sich bei näherer Betrachtung als poströmisch erwiesen. All diese auf den ersten Blick antiken und primitiven Städte wären in Wirklichkeit im „finsteren Mittelalter“ von Urahnen gegründet worden, die ihre Wurzeln ihrerseits nicht weiter als bis ins Alte Rom zurückverfolgen konnten. Das Fazit würde lauten: Alle Wege führen nach Rom, und Rom wurde tatsächlich an einem Tag erbaut. Das mag als absurde Fantasie erscheinen, doch es kommt der Situation, mit der wir uns momentan in der Biologie konfrontiert sehen, frappierend nahe. Es gibt tatsächlich keine „Übergangszivilisationen“ zwischen Bakterien und Eukaryoten. Die wenigen, die sich als Übergangsformen maskieren (die „Archaezoen“, die wir in Kapi184
5 Der Ursprung komplexer Zellen
tel 1 erörtert haben), können auf eine einst ruhmreichere Vergangenheit zurückblicken, wie die Ausdehnung von Byzanz, während die Grenzen des Reichs in seinen letzten Jahrhunderten bis auf die Stadtmauern zusammenschrumpften. Wie können wir uns einen Reim auf diese unerhörte Sachlage machen? Tatsächlich liefert uns die Phylogenetik einen Hinweis –einen Hinweis, der bei der Untersuchung einzelner Gene zwangsläufig unentdeckt blieb, jedoch in der modernen Ära, in der sich ganze Genome vergleichen lassen, ans Tageslicht befördert wurde.
Der chimäre Ursprung der Komplexität Das Problem bei der Rekonstruktion der Evolution anhand eines einzigen Gens (auch wenn es so hoch konserviert ist wie das häufig genutzte ribosomale RNA-Gen) ist, dass ein einzelnes Gen per definitionem einen einzigen sich verzweigenden phylogenetischen Baum erzeugt. Ein einzelnes Gen kann nicht zwei verschiedene Entwicklungsverläufe in ein und demselben Organismus haben – es kann nicht chimär sein.34 In einer (für Phylogenetiker) idealen Welt würde jedes Gen einen ähnlichen Baum erzeugen, der eine gemeinsame stammesgeschichtliche Entwicklung widerspiegelt, doch wir haben gesehen, dass dies in der weit zurückliegenden evolutionären Vergangenheit selten vorkommt. Meist geht man so vor, dass man auf die wenigen Gene zurückgreift, die tatsächlich eine gemeinsame phylogenetische Entwicklung teilen – bestenfalls buchstäblich einige Dutzend – und behauptet, dies sei „der einzig wahre phylogenetische Baum“. Wäre dies der Fall, so wären die Eukaryoten eng mit den Archaeen verwandt. So sieht auch der „lehrbuchmäßige“ Baum des Lebens aus (Abbildung 15). Worin genau diese Verwandtschaft besteht, ist noch strittig (verschiedene Verfahren und Gene führen zu unterschiedlichen Antworten), doch man hat lange Zeit behauptet, die Eukaryoten seien eine „Schwestergruppe“ der Archaeen. Wenn ich einen Vortrag halte, präsentiere ich diesen Standardlebensbaum gerne meinen Zuhörern. Die Zweiglänge zeigt die genetische Distanz an. Offensichtlich besteht innerhalb der Bakterien und Archaeen 185
Teil III: Komplexität
ebenso viel Genvariation wie unter den Eukaryoten – was ist also in dem langen Zweig passiert, der die Archaeen von den Eukaryoten trennt? Dieser Baum gibt uns nicht den kleinsten Hinweis darauf. Wenn wir jedoch ganze Genome nehmen, ergibt sich ein völlig anderes Muster. Viele eukaryotische Gene haben keine Äquivalente bei Bakterien oder Archaeen, obwohl ihr Anteil mit zunehmender Leistungsfähigkeit der Verfahren abnimmt. Diese speziellen Gene werden als eukaryotische „Signaturgene“ bezeichnet. Doch selbst Standardverfahren entdecken, dass rund ein Drittel der eukaryotischen Gene tatsächlich Äquivalente bei Prokaryoten haben. Diese Gene müssen einen gemeinsamen Vorfahren mit ihren prokaryotischen Vettern besitzen – man sagt, sie sind homolog. Interessant dabei ist Folgendes: Verschiedene Gene in ein und demselben eukaryotischen Organismus haben nicht alle denselben Vorfahren. Etwa drei Viertel der Eukaryotengene mit prokaryotischen Homologen stammen offenbar von Bakterien ab, während das verbleibende Viertel anscheinend von Archaeen abstammt. Das trifft auf den Menschen zu, aber damit sind wir nicht allein. Bei Hefen verhält es sich bemerkenswert ähnlich; Gleiches gilt für Taufliegen, Seeigel und Palmfarne. Auf der Ebene unserer Genome scheinen alle Eukaryoten monströse Chimären zu sein. So viel steht fest. Was das alles bedeutet, ist jedoch höchst umstritten. So weisen eukaryotische „Signaturgene“ keine Sequenzähnlichkeiten zu prokaryotischen Genen auf. Warum nicht? Nun, sie könnten uralt sein und ihre Wurzeln bis zum Ursprung des Lebens zurückreichen – man könnte von der Hypothese der altehrwürdigen Eukaryoten sprechen: Diese Gene haben sich vor so langer Zeit von einem gemeinsamen Vorfahren in verschiedene Richtungen wegentwickelt, dass sich jede Ähnlichkeit im Dunst der Jahrmillionen aufgelöst hat. Wäre dies der Fall, dann müssten Eukaryoten erst sehr viel später verschiedene prokaryotische Gene aufgelesen haben, zum Beispiel, als sie Mitochondrien erwarben. Diese alte, verstaubte Idee ist für die Verehrer von Eukaryoten nach wie vor anziehend. In der Wissenschaft spielen Emotionen und Persönlichkeit eine verblüffend große Rolle. Manche Forscher akzeptieren die Vorstellung abrupter katastrophaler Veränderungen bereitwillig, 186
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wohingegen andere lieber auf fortwährenden kleinen Modifikationen beharren – Evolution in Sprüngen versus Evolution im Kriechen, wie man gerne witzelt. Beides kommt vor. Was die Eukaryoten betrifft, scheint es um ein Gefühl anthropozentrischer Würde zu gehen. Wir sind Eukaryoten und empfinden es als Ehrverletzung, als zu spät gekommene genetische Promenadenmischungen betrachtet zu werden. Manchen Wissenschaftlern gefällt die Vorstellung, dass die Eukaryoten aus dem Grundstock des Lebensbaumes hervorgegangen sind, und ich vermute, dass das vornehmlich emotionale Gründe hat. Diese Vorstellung lässt sich schwer widerlegen; aber wenn sie zutrifft, warum hat es dann so lange gedauert, bis die Eukaryoten „durchstarteten“ und groß und komplex wurden? Der Start wäre mit 2,5 Milliarden Jahren Verspätung erfolgt. Warum finden wir keine Spuren uralter Eukaryoten in der fossilen Überlieferung (wohl aber eine Menge Prokaryoten)? Und wenn die Eukaryoten schon so lange erfolgreich gewesen wären, warum gibt es dann keine überlebenden frühen Eukaryoten aus dieser langen Zeitspanne vor dem Erwerb von Mitochondrien? Wie wir gesehen haben, gibt es keinen Grund anzunehmen, dass sie Konkurrenten unterlagen und ausgerottet wurden. Die Existenz der Archaezoen (siehe Kapitel 1) belegt, dass morphologisch einfache Eukaryoten vermutlich Hunderte Millionen Jahre lang neben Bakterien und komplexeren Eukaryoten überleben können. Eine alternative Erklärung für die eukaryotischen Signaturgene lautet schlicht, dass sie sich schneller als andere Gene entwickelt und darum jegliche frühere Sequenzähnlichkeit verloren haben. Warum hätten sie sich so viel schneller entwickelt? Das wäre der Fall, wenn sie auf verschiedene Funktionen hin aus ihren prokaryotischen Vorläufern selektiert worden wären. In meinen Ohren klingt das absolut plausibel. Wir wissen, dass Eukaryoten zu zahlreichen Genfamilien gehören, in denen sich Scharen duplizierter Gene auf unterschiedliche Aufgaben spezialisiert haben. Weil Eukaryoten in ein morphologisches Reich vorgestoßen sind, das aus welchen Gründen auch immer Prokaryoten verschlossen geblieben ist, würde es kaum überraschen, wenn sich ihre Gene an die Ausführung völlig neuer Aufgaben angepasst und so die zunächst noch vorhandene Ähnlichkeit mit 187
Teil III: Komplexität
ihren prokaryotischen Vorfahren eingebüßt hätten. Die Vorhersage lautet, dass diese Gene tatsächlich Vorläufer unter Genen von Bakterien oder Archaeen hatten, ihre Vorgeschichte jedoch durch die Anpassung an neue Aufgaben gelöscht wurde. Ich werde später darlegen, dass genau dies der Fall ist. Für den Moment genügt festzuhalten: Die Existenz eukaryotischer „Signaturgene“ schließt nicht die Möglichkeit aus, dass die Eukaryotenzelle grundlegend chimärer Art ist – das Produkt irgendeiner Fusion zwischen Prokaryoten. Was ist nun mit den eukaryotischen Genen, die tatsächlich identifizierbare prokaryotische homologe Gene aufweisen? Warum sollten einige von Bakterien und einige von Archaeen abstammen? Ganz offensichtlich ließe sich das mit einem chimären Ursprung erklären. Die eigentliche Frage betrifft die Zahl der Quellen. Betrachten wir die „bakteriellen“ Gene in Eukaryoten. Beim Vergleich vollständiger Eukaryotengenome mit Bakterien hat der PhylogenetikPionier James McInerney aufgezeigt, dass bakterielle Gene in Eukaryoten mit zahlreichen verschiedenen Bakteriengruppen assoziiert sind. In einem phylogenetischen Baum sind sie mit unterschiedlichen Gruppen „verzweigt“. Keinesfalls verzweigen alle bei Eukaryoten gefundenen bakteriellen Gene nur mit einer einzigen Gruppe moderner Bakterien wie den α-Proteobakterien, was man vermuten könnte, wenn sie alle aus den bakteriellen Vorläufern der Mitochondrien hervorgegangen wären. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Mindestens 25 verschiedene Gruppen moderner Bakterien scheinen Gene zu den Eukaryoten beigesteuert zu haben. Für die Archaeen gilt weitgehend das Gleiche, obwohl offenbar weniger Archaeengruppen Genbeiträge geleistet haben. Merkwürdiger ist, dass sich all diese Bakterien- und ArchaeenGene im eukaryotischen Baum zusammenfinden, wie Bill Martin aufgezeigt hat (Abbildung 21). Zweifellos wurden sie von den Eukaryoten schon früh in deren Evolution erworben und haben seitdem einen gemeinsamen Entwicklungsverlauf genommen. Damit ist eine stete Abfolge lateraler Gentransfers über die gesamte Geschichte der Eukaryoten hinweg ausgeschlossen. Ganz am Anfang dieser Geschichte scheint sich etwas Seltsames ereignet zu haben. Es sieht so 188
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Abbildung 21: Der bemerkenswerte Chimärismus der Eukaryoten Viele eukaryotische Gene haben Äquivalente bei Bakterien oder Archaeen, aber die Bandbreite der augenscheinlichen Quellen ist verblüffend, wie dieser von Bill Martin und Mitarbeitern erstellte Baum zeigt. Abgebildet sind die engsten Entsprechungen, die eukaryotische Gene von eindeutiger prokaryotischer Abstammung mit spezifischen Bakterien- oder Archaeengruppen aufweisen. Dickere Linien zeigen an, dass aus der betreffenden Quelle anscheinend mehr Gene stammen. So scheint ein großer Anteil der Gene von den Euryarchaeota zu kommen. Begründen ließe sich die große Bandbreite der Quellen mit mehrfachen Endosymbiosen oder lateralen Gentransfers. Dafür gibt es jedoch keine morphologischen Indizien, und es ist schwer zu erklären, warum sich all diese prokaryotischen Gene bei den Eukaryoten zusammenfinden. Das setzt voraus, dass es in der frühen Entwicklung der Eukaryoten für kurze Zeit ein evolutionäres Fens ter gab, in dem es verbreitet zu Gentransfers kam, während in den darauffolgenden 1,5 Milliarden Jahren so gut wie nichts mehr passierte. Eine einfachere und realistischere Erklärung lautet, dass eine einzelne Endosymbiose zwischen einem Archaeon und einem Bakterium stattgefunden hat, die beide kein Genomäquivalent zu irgendeiner modernen Gruppe aufwiesen. Nachfolgende laterale Gentransfers zwischen den Nach kommen dieser Zellen und anderen Prokaryoten brachten dann moderne Gruppen mit einer Mischung aus Genen hervor.
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aus, als hätten die ersten Eukaryoten Tausende Gene von Prokaryoten aufgenommen und sich danach nie mehr für den Erwerb solcher Gene interessiert. Die einfachste Erklärung für dieses Szenario ist nicht lateraler Gentransfer nach Bakterienmanier, sondern Endosymbiose nach Eukaryotenart. Oberflächlich betrachtet, könnte es Mengen von Endosymbiosen gegeben haben, wie es ja auch die serielle Endosymbiontentheorie vorhersagt. Jedoch ist kaum vorstellbar, dass 25 verschiedene Bakterien und sieben oder acht Archaeen eine urzeitliche Endosymbiosen orgie – ein zelluläres Liebesfestival – veranstaltet haben und danach für den Rest der eukaryotischen Geschichte tote Hose war. Was aber könnte dann dieses Muster hervorgebracht haben? Dafür gibt es eine ganz simple Erklärung: lateralen Gentransfer. Nein, ich widerspreche mir nicht selbst. Es ist denkbar, dass der Ursprung der Eukaryoten eine einzelne Endosymbiose war und anschließend so gut wie kein Genaustausch zwischen Bakterien und Eukaryoten mehr erfolgt ist, dafür aber immer wieder jede Menge lateraler Gentransfer zwischen verschiedenen Bakteriengruppen. Warum sollten eukaryotische Gene Verzweigungspunkte mit 25 verschiedenen Bakteriengruppen aufweisen? Das würden sie tun, wenn Eukaryoten eine große Anzahl Gene aus einer einzigen Bakterienpopulation erworben hätten – einer Population, die sich nach und nach im Verlauf der Zeit gewandelt hätte. Nehmen wir eine zufällige Auswahl von Genen aus den 25 verschiedenen Bakteriengruppen und stecken sie alle zusammen in eine einzige Population. Sagen wir, diese Bakterien seien die Vorläufer der Mitochondrien gewesen und hätten vor rund 1,5 Milliarden Jahren existiert. Heute gibt es keine Zellen mehr, die ihnen aufs Haar ähneln, aber warum sollte das angesichts der Häufigkeit von lateralem Gentransfer bei Bakterien auch so sein? Teile dieser Bakterienpopulation wurden durch Endosymbiose erworben, während andere ihre bakterielle Freiheit behielten und die folgenden 1,5 Milliarden Jahre damit zubrachten, ihre Gene durch lateralen Transfer auszutauschen, ganz wie es moderne Bakterien tun. Auf diese Weise wurden die genetischen Spielkarten der Urzeit an zahlreiche moderne Gruppen ausgeteilt. 190
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Gleiches gilt für die Wirtszelle. Nehmen wir die Gene der sieben oder acht Archaeengruppen, die an der Entstehung der Eukaryoten beteiligt waren, und stecken sie in eine Stammpopulation, die vor 1,5 Milliarden Jahren existierte. Auch hier erwarben einige dieser Zellen Endosymbionten – die sich schließlich zu Mitochondrien entwickelten –, während der Rest einfach weiterhin das tat, was Archaeen so tun: Sie tauschten über lateralen Gentransfer Gene aus. Beachten Sie, dass dieses Szenario rekonstruiert ist und lediglich auf dem beruht, was wir ohnehin bereits wissen: dass lateraler Gentransfer bei Bakterien und Archaeen gebräuchlich ist, bei Eukaryoten jedoch sehr viel seltener vorkommt. Zudem setzt es voraus, dass genau ein Prokaryot (ein Archaeon, das per definitionem nicht in der Lage ist, andere Zellen durch Phagozytose zu verschlingen) sich über einen anderen Mechanismus Endosymbionten einverleibt hat. Damit lassen wir es fürs Erste bewenden und kommen später darauf zurück. Das einfachste mögliche Szenario für den Ursprung der Eukaryoten lautet: Es gab ein einzelnes chimäres Ereignis, an dem ein Archaeon als Wirtszelle und ein Bakterium als Endosymbiont beteiligt war. Ich erwarte nicht, dass Sie mir das jetzt schon glauben. Ich behaupte nur, dass dieses Szenario mit allem vereinbar ist, was wir über die phylogenetische Geschichte der Eukaryoten wissen – ebenso wie mehrere andere mögliche Szenarien. Ich ziehe diese Hypothese den anderen allein aufgrund Ockhams Rasiermesser vor (es ist die einfachste Erklärung der Daten); allerdings können Martin Embley und seine Mitarbeiter in Newcastle mit zunehmend schlagkräftigen phylogenetischen Belegen dafür aufwarten, dass genau dies tatsächlich passiert ist (Abbildung 22). Angesichts der Tatsache, dass die eukaryotische Phylogenetik weiterhin umstritten ist, stellt sich jedoch die Frage, ob sich das Rätsel auch auf einem anderen Wege lösen lässt. Ich glaube, ja. Entstanden die Eukaryoten durch eine Endosymbiose zwischen zwei Prokaryoten, einem Archaeon als Wirtszelle und einem Bakterium als Endosymbionten, aus dem sich dann Mitochondrien entwickelten, so können wir die Frage aus einem eher konzeptuellen Blickwinkel angehen. Könnte es einen guten Grund dafür geben, dass eine Zelle, die 191
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A
B
Abbildung 22: Zwei statt drei primären Domänen des Lebens Bahnbrechende Arbeiten von Martin Embley und Mitarbeitern belegen, dass Eukaryoten von Archaeen abstammen. A: Konventioneller Baum mit drei Domänen, wobei jede Do mäne monophyletisch ist (auf jeweils einen gemeinsamen Vorfahren zurückgeht). Die Eukaryoten stehen oben, die Bakterien unten, und die Archaeen sind in mehrere große Gruppen aufgespalten, die miteinander enger verwandt sind als jeweils mit den Bakterien oder den Eukaryoten. B: In jüngerer Zeit entwickelter und durch Belege gut gestützter alternativer Baum, beruhend auf viel umfangreicheren Stichproben und einer größeren Anzahl an informationalen Genen, die an Transkription und Translation beteiligt sind. Die informationalen Gene der Eukaryoten zweigen hier innerhalb der Archaeen ab, und zwar in der Nähe einer spezifischen Gruppe, den Eozyten, denen die Hypothese ihren Namen verdankt. Impliziert wird, dass die Wirtszelle, die beim Entstehen der eukaryotischen Do mäne einen bakteriellen Endosymbionten erworben hat, ein Bona-fide-Archaeon war, etwa ein Eozyt, und daher kein „primitiver Phagozyt“. TACK steht für das Superphylum, das die Thaumarchaeoten, Aigarchaeoten, Crenarchaeoten und Korarchaeoten umfasst.
in das Innere einer anderen Zelle eindringt, den Prokaryoten damit völlig neue Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet und das Potenzial der eukaryotischen Komplexität freisetzt? Ja. Es gibt einen triftigen Grund, und der hat mit Energie zu tun.
Warum Bakterien immer noch Bakterien sind Der entscheidende Punkt bei alldem ist, dass Prokaryoten – sowohl Bakterien als auch Archaeen – Chemiosmose betreiben. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, wie die ersten Zellen möglicherweise in 192
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den felsigen Wänden hydrothermaler Schlote entstanden sind, wie natürliche Protonengradienten den Kohlenstoff- wie auch den Energiekreislauf angetrieben haben könnten und warum eventuell dieses Angewiesensein auf Protonengradienten die tiefe Kluft zwischen Bakterien und Archaeen befördert hat. So ließe sich in der Tat erklären, wie die chemiosmotische Kopplung entstanden ist, aber nicht, warum sie für alle Zeiten in sämtlichen Bakterien, Archaeen und Eukaryoten erhalten wurde. Hätte es nicht sein können, dass die chemiosmotische Kopplung bei einigen Gruppen wieder verloren ging und sie durch etwas anderes, Besseres ersetzt wurde? Bei manchen Gruppen war das der Fall. Hefen beispielsweise verbringen einen Großteil ihrer Zeit mit Gärung, ebenso wie einige wenige Bakterien. Der Gärungsprozess erzeugt Energie in Form von ATP, doch trotz des schnelleren Verlaufs ist Gärung eine ineffiziente Art der Ressourcennutzung. Strikte Gärer verschmutzen sehr bald ihre Umwelt und behindern damit das eigene Wachstum, während ihre Abfallprodukte, etwa Ethanol und Lactat, anderen Zellen als Brennstoff dienen. Chemiosmotische Zellen können diese Abfallprodukte mit Sauerstoff oder anderen Substanzen, zum Beispiel Nitrat, verbrennen; auf diese Weise gewinnen sie viel mehr Energie und können ihr Wachstum für längere Zeit gewährleisten. Gärung funktioniert gut in einem Gemeinschaftsunternehmen, bei dem andere Zellen die Endprodukte verbrennen; isoliert sind ihr jedoch enge Grenzen gesteckt.35 Es gibt starke Hinweise darauf, dass sich Gärung im Verlauf der Evolution später entwickelt hat als Atmung, was im Licht dieser thermodynamischen Beschränkungen völlig plausibel erscheint. Überraschend ist vielleicht, dass Gärung die einzige bekannte Alternative zur chemiosmotischen Kopplung ist. Alle Formen der Atmung, alle Formen der Fotosynthese, ja sogar alle Formen der Autotrophie, bei der das Wachstum von Zellen durch einfache anorganische Vorläufersubstanzen gewährleistet wird, sind strikt chemiosmotischer Natur. In Kapitel 2 haben wir einige gute Gründe dafür genannt. Insbesondere die chemiosmotische Kopplung ist wunderbar wandlungsfähig. Eine ungeheure Bandbreite an Elektronenquellen 193
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und ‑senken lässt sich in ein herkömmliches Betriebssystem einfügen und erlaubt unmittelbaren Gewinn durch kleine Anpassungen. Entsprechend lassen sich Gene durch lateralen Gentransfer weitergeben und wie eine neue App in ein voll kompatibles System installieren. Auf diese Weise ermöglicht die chemiosmotische Kopplung fast umgehend eine Stoffwechselanpassung an nahezu jede Umwelt. Kein Wunder, dass sie dominiert! Aber das ist noch nicht alles. Mit chemiosmotischer Kopplung lässt sich aus jeder beliebigen Umwelt auch noch das letzte Quäntchen Energie herauspressen. Schauen wir uns die Methanogene an, die unter Nutzung von H2 und CO2 den Kohlenstoff- und Energiekreislauf betreiben. Wir haben festgestellt, dass H2 und CO2 nicht leicht dazu zu bewegen sind, miteinander zu reagieren – es muss Energie zugeführt werden, um diese Hemmung zu überwinden. Methanogene nutzen dafür den cleveren Trick der Elektronenbifurkation. Einen Eindruck von den allgemeinen Gesetzen der Bioenergetik verschafft uns die Hindenburg, der mit Wasserstoffgas gefüllte deutsche Zeppelin, der nach der Überquerung des Atlantiks in einem Feuerball explodierte und den Wasserstoff damit für alle Zeiten in Verruf brachte. H2 und O2 sind stabil und reagieren erst, wenn Energie als Funke zugegeben wird. Dann reicht allerdings bereits ein kleiner Funke, um unmittelbar eine riesige Energiemenge freizusetzen. Im Fall von H2 und CO2 liegt das umgekehrte Problem vor – der „Funke“ muss relativ groß sein, während die freigesetzte Energiemenge recht klein ist. Zellen erfahren eine interessante Beschränkung, wenn die Menge der nutzbaren Energie, die bei einer Reaktion frei wird, weniger als die doppelte Menge der erforderlichen Energiezufuhr beträgt. Vielleicht erinnern Sie sich noch daran, wie Sie in der Schule chemische Gleichungen aufstellen und ausgleichen mussten. Dabei müssen immer ganze Moleküle mit anderen ganzen Molekülen reagieren – dass ein halbes Molekül mit drei Vierteln eines anderen Moleküls reagiert, ist unmöglich. Eine Zelle muss 1 ATP aufwenden, um weniger als 2 ATP zu gewinnen. Es gibt nicht so etwas wie 1,5 ATP – es kann nur eins oder zwei geben. Demzufolge muss 1 ATP aufgewen194
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det werden, um 1 ATP zu gewinnen. Es gibt keinen Nettogewinn, und damit ist Wachstum aus H2 und CO2 auf normalem chemischem Wege ausgeschlossen. Das gilt nicht nur für H2 und CO2, sondern auch für viele andere Redoxpaare (Paarungen aus Elektronendonator und ‑akzeptor), wie Methan und Sulfat. Trotz dieser grundlegenden chemischen Beschränkung wachsen und gedeihen Zellen mithilfe dieser Redoxpaare munter. Das gelingt ihnen, weil Protonengradienten zwischen den beiden Seiten von Membranen per definitionem abgestuft (graduiert) sind. Die Schönheit der chemiosmotischen Kopplung besteht darin, dass sie über die Chemie hinausgeht. Sie ermöglicht Zellen, „Kleingeld“ zu sparen. Werden 10 Protonen benötigt, um 1 ATP herzustellen, und eine bestimmte chemische Reaktion setzt nur so viel Energie frei, dass 4 Protonen durch die Membran gepumpt werden können, so ist die Reaktion einfach dreimal zu wiederholen. Auf diese Weise werden 12 Protonen gepumpt, von denen 10 für die Herstellung von 1 ATP verwendet werden. Für einige Formen der Atmung ist dies unerlässlich. Wir profitieren jedoch alle davon, weil es Zellen erlaubt, kleine Energiemengen zu konservieren, die sonst als Wärme verschwendet würden. Und das verschafft Protonengradienten in fast allen Fällen einen Vorteil gegenüber der gewöhnlichen Chemie – den Trumpf der Nuancierung. Die energetischen Vorteile der chemiosmotischen Kopplung erklären hinreichend, warum es sie bereits seit 4 Milliarden Jahren gibt; Protonengradienten besitzen jedoch noch andere Facetten, die in Zellfunktionen inkorporiert worden sind. Je tiefer ein Mechanismus verwurzelt ist, desto eher kann er zur Grundlage ganz anders gearteter Merkmale werden. So dienen Protonengradienten verbreitet dazu, die Aufnahme von Nährstoffen und die Ausscheidung von Abfallprodukten zu steuern. Mit ihrer Hilfe wird das bakterielle Flagellum in Gang gesetzt, ein rotierender Propeller, der Zellen antreibt. Und diese Protonengradienten werden gezielt abgebaut, um Wärme zu erzeugen, etwa in braunem Fettgewebe. Am faszinierendsten ist, dass ihr Zusammenbruch den abrupten programmierten Tod von Bakterienpopulationen einleitet. Wird eine 195
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Bakterienzelle mit einem Virus infiziert, ist sie im Grunde dem Tod geweiht. Wenn sie sich rasch selbst töten kann, bevor das Virus sich vervielfältigt, können ihre Verwandten (in der Nähe befindliche Zellen mit verwandten Genen) vielleicht überleben. Die Gene, die den Zelltod inszenieren, verbreiten sich dann in der Population. Diese Todesgene müssen jedoch schnell handeln, und nur wenige Mechanismen sind schneller wirksam als das Perforieren der Zellmembran. Viele Zellen tun genau das – bei einer Infektion entwickeln sie Poren in der Membran. Diese bringen die protonenmotorische Kraft zum Erliegen, was seinerseits die latente Todesmaschinerie in Gang setzt. Protonengradienten haben sich zu den besten Sensoren der Zellgesundheit entwickelt, zu Gebietern über Leben und Tod. Die große Bedeutung dieser Rolle wird sich im weiteren Verlauf des Kapitels noch erweisen. Alles in allem sieht die Universalität der chemiosmotischen Kopplung nicht nach einem großen Zufall aus. Ihr Ursprung ging wohl mit dem Ursprung des Lebens und der Entstehung von Zellen in alkalinen hydrothermalen Schloten einher (den bei Weitem wahrscheinlichsten Brutstätten des Lebens), während ihr anhaltendes Vorkommen in fast allen Zellen ausgesprochen plausibel ist. Was einst ein absonderlicher Mechanismus zu sein schien, ist heute nur noch oberflächlich betrachtet kontraintuitiv – unsere Analyse lässt vermuten, dass chemiosmotische Kopplung eine buchstäblich universelle Eigenschaft von Leben im Kosmos sein muss. Und das bedeutet, dass Leben anderswo mit genau dem gleichen Problem konfrontiert sein sollte wie Bakterien und Archaeen auf der Erde, beruhend auf der Tatsache, dass Prokaryoten Protonen durch ihre Zellmembran pumpen. Das schränkt die existierenden Prokaryoten in keiner Weise ein – eher im Gegenteil –, aber es grenzt ein, was möglich wäre. Unmöglich ist, wie ich darlegen werde, genau das, was wir auch nirgendwo beobachten: das Vorkommen großer, morphologisch komplexer Prokaryoten mit umfangreichen Genomen. Der entscheidende Punkt ist die pro Gen zur Verfügung stehende Energie. Jahrelang bin ich auf der Suche nach diesem Konzept blind herumgestolpert, doch letztlich war es der wissenschaftliche Schlag196
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abtausch mit Bill Martin, der die Lösung brachte. Nach wochenlangen Diskussionen mit ständigem Erörtern und Verwerfen von Ideen und Perspektiven dämmerte es uns plötzlich: Der Schlüssel zur Evolution der Eukaryoten liegt in dem simplen Konzept „Energie pro Gen“. Mit wachsender Erregung verbrachte ich eine Woche damit, Berechnungen auf die Rückseite eines Briefumschlags zu kritzeln – am Ende waren es sehr viele Umschläge –, und kam schließlich zu einem Ergebnis, das uns beide umhaute. Es war eine Extrapolation von Daten aus der Literatur, die die Energielücke zwischen Prokaryoten und Eukaryoten bezifferte. Nach unseren Berechnungen steht Eukaryoten bis zu 200 000-mal mehr Energie pro Gen zur Verfügung als Prokaryoten. Die zweihunderttausendfache Energiemenge! Endlich hatten wir eine konkrete Kluft zwischen den beiden Gruppen entdeckt, einen Abgrund, der eine intuitive Erklärung dafür liefert, warum sich Bakterien und Archaeen nie zu komplexen Eukaryoten entwickelt haben, und zugleich eine triftige Begründung, warum wir wohl nie auf einen Alien stoßen werden, der aus Bakterienzellen besteht. Stellen wir uns vor, in einer Energielandschaft festzusitzen; die Gipfel bedeuten hohe Energie, die Täler niedrige. Die Bakterien hocken in der Sohle des tiefsten Tals, in einem so bodenlosen Energieabgrund, dass die Bergwände ringsum hoch bis in den Himmel ragen und schlichtweg unbezwingbar sind. Kein Wunder, dass die Prokaryoten eine Ewigkeit dort unten ausgeharrt haben. Doch lassen Sie mich erklären.
Energie pro Gen Im Großen und Ganzen vergleichen Wissenschaftler Gleiches mit Gleichem. Wenn es um Energie geht, ist der gerechteste Vergleichsmaßstab die Energie pro Gramm. Wir können die Stoffwechselrate von 1 Gramm Bakterien (gemessen als Sauerstoffverbrauch) mit 1 Gramm Eukaryotenzellen vergleichen. Es wird Sie kaum überraschen zu erfahren, dass Bakterien gemeinhin schneller atmen als einzellige Eukar yoten – im Durchschnitt dreimal schneller. An diesem Punkt werfen die meisten Forscher bereits das Handtuch, weil sie nicht riskieren wollen, Äpfel mit Birnen zu vergleichen. Wir machten weiter. Was wäre, 197
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wenn wir die Stoffwechselraten pro Zelle vergleichen würden? Wie unfair! In unserer Stichprobe mit etwa 50 Bakterienarten und 20 einzelligen Eukaryotenarten waren die Eukaryoten vom Zellvolumen her (durchschnittlich) 15 000-mal größer als die Bakterien.36 Angesichts der Tatsache, dass sie um ein Drittel langsamer atmen als Bakterien, verbraucht der durchschnittliche Eukaryot rund 5000-mal mehr Sauerstoff pro Sekunde als das durchschnittliche Bakterium. Das beruht schlicht darauf, dass der Eukaryot viel größer ist und viel mehr DNA besitzt. Nichtsdestoweniger verfügt eine einzige Eukaryotenzelle über 5000-mal mehr Energie. Wofür braucht sie die? Von diesem Energieüberschuss wird nicht viel für die DNA selbst aufgewendet; nur etwa 2 Prozent des gesamten Energieetats eines einzelligen Organismus wird für die Replikation von DNA genutzt. Laut Frank Harold, bedeutender Elder Statesman der mikrobiellen Bioenergetik (und einer meiner Helden, auch wenn wir nicht immer einer Meinung sind), verbrauchen Zellen bis zu 80 Prozent ihres gesamten Energiebudgets für die Proteinsynthese. Zellen bestehen nämlich überwiegend aus Proteinen – sie machen rund die Hälfte der Trockenmasse eines Bakteriums aus. Zudem ist die Herstellung von Proteinen äußerst aufwendig – es handelt sich um lange Ketten aus meist Hunderten Aminosäuren, die über Peptidbindungen miteinander verbunden sind. Zum Knüpfen jeder einzelnen Peptidbindung sind mindestens 5 ATP erforderlich, fünfmal mehr als für die Polymerisation von Nukleotiden zur DNA. Und dann werden von jedem Protein noch Tausende Kopien angefertigt, die fortwährend auf eventuell notwendige Verschleißreparaturen hin begutachtet werden. Nach einer ersten näherungsweisen Berechnung entsprechen die Energiekosten von Zellen also ziemlich genau den Kosten der Proteinherstellung. Ein bestimmtes Gen codiert jeweils für ein bestimmtes Protein. Unter der Voraussetzung, dass alle Gene in Proteine translatiert werden (was trotz Unterschieden in der Genexpression gemeinhin der Fall ist), gilt: Je mehr Gene ein Genom enthält, desto höher sind die Kosten der Proteinsynthese. Das bestätigt sich auf einfache Weise beim Zählen der Ribosomen (der für die Herstellung der Proteine zuständigen Zellfabriken), denn zwischen der Ribosomenzahl 198
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und der Bürde der Proteinsynthese besteht eine direkte Korrelation. In einem durchschnittlichen Bakterium wie E. coli gibt es etwa 13 000 Ribosomen; in einer einzigen Leberzelle finden sich mindestens 13 Millionen, also rund 1000- bis 10 000-mal so viel. Im Durchschnitt besitzen Bakterien etwa 5000 Gene, Eukaryoten um die 20 000, bei großen Protozoen wie dem allseits bekannten teichbewohnenden Pantoffeltierchen bis zu 40 000 (das damit doppelt so viele Gene wie wir Menschen hat). Der durchschnittliche Eukaryot verfügt über 1200-mal mehr Energie pro Gen als der durchschnittliche Prokaryot. Wenn wir die Zahl der Gene berücksichtigen, indem wir das Bakteriengenom mit 5000 Genen auf ein Genom von Eukaryotengröße mit 20 000 Genen heraufsetzen, sinkt die Energie pro Gen beim Bakterium auf einen Wert, der fast 5000-mal niedriger liegt als beim durchschnittlichen Eukaryoten. Anders gesagt: Eukaryoten können ein Genom unterhalten, das 5000-mal größer als das von Bakterien ist, oder könnten auch 5000-mal mehr ATP für die Expression jedes einzelnen Gens aufwenden, indem sie beispielsweise viel mehr Kopien von jedem Protein erzeugen – oder eine Mischung aus beidem, was in der Tat der Fall ist. Na und, werden Sie jetzt vielleicht sagen, immerhin ist der Eukaryot 15 000-mal größer. Er muss dieses größere Volumen mit irgendwas füllen, und dieses Etwas besteht überwiegend aus Proteinen. Diese Vergleiche machen doch nur Sinn, wenn wir auch das Zellvolumen berücksichtigen! Nun gut – dann blasen wir unser Bakterium auf die Durchschnittsgröße eines Eukaryoten auf und berechnen, wie viel Energie pro Gen es dann aufwenden müsste. Möglicherweise denken Sie, dass ein größeres Bakterium auch über mehr ATP verfügt, und das ist tatsächlich der Fall. Es hat aber auch einen größeren Bedarf an Proteinsynthese, und die erfordert mehr ATP. Die Gesamtbilanz hängt davon ab, wie diese Faktoren einander bedingen. Wir haben ausgerechnet, dass Bakterien in der Tat bitter für ein größeres Volumen bezahlen müssten. Größe spielt nämlich eben doch eine Rolle und für Bakterien gilt: Größer ist nicht besser. Ganz im Gegenteil – Riesenbakterien hätten 200 000-mal weniger Energie pro Gen zur Verfügung als ein Eukaryot derselben Größe. Ich sage Ihnen, warum. 199
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Wenn man ein Bakterium um mehrere Zehnerpotenzen vergrößert, ergibt sich umgehend ein Problem mit dem Oberfläche-zu-Volumen-Verhältnis. Unser Eukaryot hat ein mittleres Volumen, das 15 000-mal größer als das eines durchschnittlichen Bakteriums ist. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass Zellen kugelförmig sind. Um unser Bakterium auf Eukaryotengröße aufzupumpen, müsste der Radius um das 25-Fache größer werden und die Oberfläche um das 625-Fache.37 Das ist wichtig, weil die ATP-Synthese durch die Zellmembran hindurch erfolgt. Nach einer ersten näherungsweisen Berechnung würde die ATP-Synthese entsprechend der vergrößerten Membranoberfläche demnach um das 625-Fache zunehmen. Doch natürlich erfordert die ATP-Synthese Proteine: zum einen Atmungsketten, die Protonen aktiv durch die Membran pumpen, zum anderen die ATP-Synthase, die molekulare Turbine, welche den Protonenfluss nutzt, um die ATP-Synthese anzutreiben. Wäre die Oberfläche der Membran 625-fach vergrößert, so könnte auch die ATP-Synthese nur um das 625-Fache zunehmen, falls die Gesamtanzahl der Atmungsketten und der ATP-Synthase-Enzyme im selben Maß ansteigen würde, sodass ihre Konzentrationen pro Flächeneinheit gleich blieben. Das ist wohl richtig, aber die Argumentation führt in die Irre. All diese zusätzlichen Proteine müssen physisch hergestellt und in die Membran eingesetzt werden, und das erfordert Ribosomen und alle möglichen Einbaufaktoren. Auch diese sind anzufertigen. Zu den Ribosomen müssen Aminosäuren mit RNAs geliefert werden, die ebenfalls herzustellen sind, was wiederum die dafür benötigten Gene und Proteine erfordert. Um diese Zusatzaktivitäten zu ermöglichen, sind mehr Nährstoffe durch die vergrößerte Membran zu befördern, und dafür braucht man spezielle Transportproteine. Und natürlich muss auch die neue Membran zusammengesetzt werden, wofür man die für die Lipidsynthese erforderlichen Enzyme benötigt. Und so weiter. Diese Flut von Aktivitäten könnte ein einziges Genom nicht bewältigen. Stellen Sie sich vor – ein winziges, einsames Genom, das dafür verantwortlich ist, 625-mal mehr Ribosomen, Proteine, RNAs und Lipide zu produzieren und sie irgendwie quer durch die riesenhaft 200
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vergrößerte Zellfläche zu transportieren. Und wofür? Bloß um die ATP-Synthese mit der gleichen Rate pro Oberflächeneinheit wie vorher zu gewährleisten. Dass das unmöglich ist, ist klar. Stellen Sie sich vor, dass eine Stadt um das 625-Fache vergrößert werden soll, mit neuen Schulen, Krankenhäusern, Geschäften, Spielplätzen, Recyclinganlagen und so fort. Die für all diese Einrichtungen verantwortliche Kommunalverwaltung kann wohl kaum im selben bescheidenen Rahmen wie vorher agieren. Angesichts der Schnelligkeit des Bakterienwachstums und der Vorteile, die eine Rationalisierung ihrer Genome bringt, ist davon auszugehen, dass sich die von jedem Genom geleistete Proteinsynthese bereits hart am Limit bewegt. Um die gesamte Proteinsynthese 625-fach erweitern zu können, wäre es am sinnvollsten, 625 Kopien des vollständigen Bakteriengenoms bereitzustellen, wobei alle Genome exakt gleich arbeiten müssten. Im ersten Moment klingt das wohl ziemlich verrückt. Das ist es in Wirklichkeit aber gar nicht – wir kommen bald darauf zurück. Vorläufig wollen wir nur über die Energiekosten nachdenken. Wir haben 625-mal so viel ATP, aber auch 625-mal so viele Genome, die alle identische Betriebskosten erzeugen. In Ermangelung eines hoch entwickelten intrazellulären Transportsystems, dessen Entwicklung viele Generationen und Unmengen an Energie beanspruchen würde, ist jedes dieser Genome für einen bestimmten „bakteriellen“ Bereich mit Cytoplasma, Membran etc. zuständig. Am besten betrachtet man dieses vergrößerte Bakterium nicht als eine einzelne Zelle, sondern als ein Konsortium aus 625 identischen Zellen, die zu einem Ganzen fusioniert sind. Die „Energie pro Gen“ bleibt für jede dieser fusionierten Einheiten einfach genau gleich. Daher erbringt das Vergrößern der Bakterienoberfläche nicht den geringsten energetischen Vorteil. Aufgeblasene Bakterien haben Eukaryoten gegenüber nach wie vor eindeutig das Nachsehen. Denken Sie daran, dass Eukaryoten über 5000-mal mehr Energie pro Gen verfügen als „normale“ Bakterien. Wenn sich eine Vergrößerung der Bakterienoberfläche um das 625Fache nicht auf die Energieverfügbarkeit pro Gen auswirkt, dann bleibt diese 5000-mal geringer als bei Eukaryoten. 201
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Es kommt noch schlimmer. Wir haben die Oberfläche unserer Zelle um das 625-Fache vergrößert, indem wir die energetischen Kosten und Nutzen von Bakterien mit 625 multipliziert haben. Was aber ist mit dem inneren Volumen? Das ist sage und schreibe um das 15 000-Fache angewachsen. Bislang haben wir die Zelle zu einer riesigen Blase aufgepumpt, deren Inneres noch metabolisches Niemandsland ist – wir haben bisher keinerlei Energievorgaben berücksichtigt. Das entspräche einer monströsen Vakuole als Füllung des Zellinneren, mit einem inaktiven Stoffwechsel. Aber wenn das der Fall wäre, so wäre unser vergrößertes Bakterium nicht mit einem Eukaryoten vergleichbar, der nicht nur 15 000-mal größer ist, sondern auch vollgestopft mit komplizierter biochemischer Apparatur. Auch diese besteht überwiegend aus Proteinen, mit ähnlichen Energie kosten. Es gelten die gleichen Argumente wie oben, wenn wir all diese Proteine in unserer Rechnung berücksichtigen. Man könnte unmöglich das Zellvolumen um das 15 000-Fache vergrößern, ohne die Gesamtzahl der Genome in etwa dem gleichem Umfang zu erhöhen. Die ATP-Synthese kann jedoch nicht im gleichen Maße gesteigert werden – sie hängt von der Zellmembran ab, und diese haben wir bereits in unsere Berechnungen eingeschlossen. Das Aufblasen eines Bakteriums auf die Größe eines durchschnittlichen Eukaryoten steigert die ATP-Synthese demnach um das 625-Fache, erhöht die Energiekosten jedoch bis auf das 15 000Fache. Die pro Einzelkopie jedes Gens verfügbare Energie verringert sich zwangsläufig um das 25-Fache. Multiplizieren wir das mit der 5000-fachen Differenz in der Energie pro Gen (unter Berücksichtigung der Genomgröße), so stellen wir fest: Das Angleichen von Genomgröße und Zellvolumen hat zur Folge, dass den Riesenbakterien 125 000-mal weniger Energie pro Gen zur Verfügung steht als Eukaryoten. Und damit sind durchschnittliche Eukaryoten gemeint. Große Eukaryoten wie Amöben verfügen über mehr als die 200 000fache Energie pro Gen eines riesenhaft vergrößerten Bakteriums. So kam unsere Zahl zustande. Sie denken vielleicht, dass dies nur triviale Zahlenspielchen ohne wirkliche Relevanz sind. Ich muss gestehen, dass mir das auch Kopf202
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zerbrechen bereitet hat – diese Zahlen sind buchstäblich nicht zu glauben –, doch zumindest erlaubt dieses Theoretisieren eine klare Vorhersage: Riesenbakterien müssten Tausende Kopien ihres gesamten Genoms besitzen. Nun, diese Vorhersage lässt sich leicht überprüfen. Es gibt tatsächlich einige riesenhafte Bakterien – zwar nicht verbreitet, aber sie existieren. Zwei Spezies sind detailliert untersucht worA
B
C
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Abbildung 23: Riesenbakterien mit „extremer Polyploidie“ A: Das Riesenbakterium Epulopiscium. Der Pfeil zeigt zu Vergleichszwecken auf das „typische“ Bakterium E. coli. Die Zelle am unteren Rand ist der eukaryotische Protist Paramecium, der sich neben diesem Schlachtschiff von Bakterium wie ein Zwerg ausnimmt. B: Epulopiscium, zur Markierung der DNA mit DAPI gefärbt. Die weißen Punkte nahe der Zellmembran sind Kopien des vollständigen Genoms – bis zu 200 000 Kopien in größeren Zellen; den Zustand bezeichnet man als extreme Polyploidie. C: Ein noch größeres Bak terium, Thiomargarita, mit einem Durchmesser von etwa 0,6 mm. D: Thiomargarita, zur Markierung der DNA mit DAPI gefärbt. Den überwiegenden Teil der Zelle nimmt eine riesige Vakuole ein, die schwarze Region im oberen Bereich des Mikrografen. Die Vakuole umgibt ein dünner Cytoplasmafilm, der bis zu 20 000 Kopien des vollständigen Genoms enthält (angezeigt durch die weißen Pfeile).
203
Teil III: Komplexität
den. Epulopiscium hat man nur im anaeroben Enddarm von Doktorfischen gefunden. Es ist ein wahres Schlachtschiff von Zelle – lang und stromlinienförmig, mit einer Länge von etwa einem halben Millimeter, gerade mit bloßem Auge erkennbar. Damit ist es erheblich größer als die meisten Eukaryoten, einschließlich des Pantoffeltierchens (Abbildung 23). Warum Epulopiscium so groß ist, ist unbekannt. Noch größer ist Thiomargarita. Diese Zellen sind kugelförmig, mit fast einem Millimeter Durchmesser, und bestehen überwiegend aus einer riesigen Vakuole. Eine einzige Zelle kann so groß wie der Kopf einer Taufliege sein! Thiomargarita lebt in Meerwasser, das im Auftriebsgebiet einer Strömung periodisch mit Nitrat angereichert wird. Die Zellen speichern das Nitrat in ihren Vakuolen und nutzen es als Elektronenakzeptor bei der Atmung, welche auf diese Weise auch in Tagen oder Wochen mit Nitratmangel gewährleistet ist. Das ist aber nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass sowohl Epulopiscium als auch Thiomargarita „extreme Polyploidie“ aufweisen. Das bedeutet, dass sie Tausende Kopien ihres gesamten Genoms besitzen – bis zu 200 000 Kopien bei Epulopiscium und 18 000 Kopien bei Thiomargarita (obwohl die Zelle überwiegend aus einer riesigen Vakuole besteht). Mit einem Mal scheint das Gerede über 15 000 Genome gar nicht mehr so verrückt zu sein. Nicht nur die Anzahl, sondern auch die Verteilung dieser Genome passt zu der Theorie. In beiden Fällen befinden sie sich eng an der Zellmembran, entlang des Zellrandes (Abbildung 23). Das Zentrum ist metabolisch inaktiv – bei Thiomargarita besteht es nur aus einer Vakuole, bei Epulopiscium aus einem nahezu leeren „Laichplatz“ für neue Tochterzellen. Dass das Innere metabolisch nahezu inaktiv ist, bedeutet, dass Kosten für die Proteinsynthese gespart und darum nicht noch mehr Genome im Innenraum angehäuft werden. Was die Energie pro Gen betrifft, sollten diese Bakterien demnach theoretisch mit normalen Bakterien annähernd vergleichbar sein – die zusätzlichen Genome sind jeweils mit weiterer bioenergetisch aktiver Membran verbunden, die in der Lage ist, das gesamte zusätzliche ATP zu erzeugen, das zum Erhalt der hinzugekommenen Genkopien erforderlich ist. 204
5 Der Ursprung komplexer Zellen
Abbildung 24: Energie pro Gen bei Bakterien und Eukaryoten A: Durchschnittliche Stoffwechselrate pro Gen bei Bakterien (a, grauer Balken) im Ver gleich zu einzelligen Eukaryoten (b, schwarzer Balken), unter Berücksichtigung der Ge nomgröße. B: Weitgehend gleiches Bild, aber dieses Mal unter Berücksichtigung des Zell volumens (15 000-fach größer bei Eukaryoten) als auch der Genomgröße. Beachten Sie, dass die y-Achse in all diesen Grafen logarithmisch skaliert ist, das heißt, jede Einheit bedeutet einen Anstieg um das Zehnfache. C: Demnach verfügt eine einzige Eukaryoten zelle über 100 000-mal mehr Energie pro Gen als ein Bakterium, obwohl sie pro Gramm Zellen rund dreimal so langsam atmet. Diese Zahlen beruhen auf gemessenen Stoffwech selraten, die Berücksichtigung von Genomgröße und Zellvolumen beruht jedoch auf theoretischen Überlegungen. D: Die Theorie entspricht der Wirklichkeit. Die abgebildeten Werte sind die Stoffwechselrate für jedes einzelne Genom, unter Berücksichtigung von Genomgröße, Anzahl der Kopien (Polyploidie) und Zellvolumen (a = E. coli, b = Thiomargarita, c = Epulopiscium, d = Euglena, e = die große Amoeba proteus.
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Teil III: Komplexität
Das scheint tatsächlich der Fall zu sein. Da die Stoffwechselraten dieser Bakterien fachgerecht gemessen worden sind und wir die Gesamtzahl der kopierten Genome kennen, können wir die Energie pro Gen direkt berechnen. Und sieh an! Sie liegt nahe (innerhalb derselben Größenordnung) beim Wert des 08/15-Bakteriums E. coli. Wie auch immer die Kosten und Nutzen des größeren Volumens von Riesenbakterien aussehen mögen – es verschafft ihnen keinen energetischen Vorteil. Genau wie vorausgesagt, verfügen diese Bakterien um etwa 5000-mal weniger Energie pro Genkopie als Eukaryoten (Abbildung 24). Beachten Sie, dass es nicht 200 000-mal weniger ist, denn die mehrfachen Genome dieser Riesenbakterien sitzen nur am Rand und im Inneren gibt es keine – der Innenraum ist metabolisch nahezu inaktiv. Das bereitet den Riesen Probleme mit der Zellteilung, was verstehen hilft, warum sie so selten sind. Bakterien und Archaeen sind glücklich so, wie sie sind. Kleine Bakterien mit kleinen Genomen sind nicht energetisch eingeschränkt. Das Problem ergibt sich nur, wenn wir versuchen, Bakterien auf Eukaryotengröße auszudehnen. Statt dass ihre Genomgröße und Energieverfügbarkeit in eukaryotischer Manier zunimmt, nimmt die Energie pro Gen ab. Die Kluft wird unüberwindlich. Bakterien können weder ihre Genomgröße erweitern noch die Tausenden neuen Genfamilien ansammeln, die für alle möglichen neuartigen Funktionen codieren, welche für Eukaryoten typisch sind. Statt ein einzelnes riesenhaftes nukleäres Genom zu entwickeln, häufen sie Tausende Kopien ihres standardmäßigen kleinen Bakteriengenoms an.
Wie den Eukaryoten die Flucht nach vorn gelang Warum wurden die Eukaryoten nicht aus denselben Gründen daran gehindert, komplex zu werden? Der Unterschied liegt in den Mitochondrien. Erinnern wir uns, dass die Eukaryoten wohl einer genomischen Chimäre aus einer Archaeen-Wirtszelle und einem bakteriellen Endosymbionten entsprungen sind. Wie ich bemerkt habe, sind die phylogenetischen Belege mit diesem Szenario konsistent, doch das allein reicht noch nicht als Beweis. Mit den einschneidenden 206
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energetischen Beschränkungen, denen Bakterien unterliegen, lässt sich jedoch sehr gut eine Voraussetzung für einen chimären Ursprung komplexen Lebens untermauern. Ich werde darlegen, dass nur eine Endosymbiose zwischen Prokaryoten die energetischen Beschränkungen für Bakterien und Archaeen aufheben konnte – und Endosymbiosen zwischen Prokaryoten kommen in der Evolution extrem selten vor. Bakterien sind autonome selbst replizierende Entitäten – Zellen –, Genome hingegen nicht. Riesenbakterien haben ein Problem: Sie müssen, um groß zu sein, ihr gesamtes Genom Tausende Male replizieren. Jedes Genom wird perfekt, oder fast perfekt, kopiert, aber dann sitzt es nur da, zur Untätigkeit verdammt. Vielleicht machen sich Proteine an die Arbeit, um seine Gene zu transkribieren und translatieren, oder die Dynamik der Proteine und des Stoffwechsels treibt die Wirtszelle zur Teilung an. Das Genom selbst ist jedoch völlig inaktiv, so wenig in der Lage, sich zu replizieren, wie die Festplatte eines Computers. Wie wirkt sich das aus? Es bedeutet, dass die Genome in der Zelle im Wesentlichen identische Kopien voneinander sind. Unterschiede zwischen ihnen unterliegen nicht der natürlichen Selektion, weil Genome keine selbst replizierenden Entitäten sind. Alle Variationen zwischen verschiedenen Genomen in ein und derselben Zelle werden sich im Laufe der Generationen wieder ausgleichen. Doch was geschieht, wenn ganze Bakterien miteinander konkurrieren? Repliziert sich eine Zelllinie doppelt so schnell wie eine andere, so verdoppelt sich dieser Vorsprung mit jeder Generation und wächst exponentiell. Schon nach wenigen Generationen wird die schnell wachsende Linie die Population dominieren. Ein solch massiver Vorteil in der Wachstumsrate mag uns unwahrscheinlich vorkommen, aber Bakterien wachsen so schnell, dass selbst kleine Unterschiede in der Wachstumsrate einen für viele Generationen spürbaren Effekt auf die Zusammensetzung einer Population haben können. Bei Bakterien können innerhalb eines Tages durchaus 70 Generationen entstehen und vergehen – mit menschlichem Maßstab gemessen, würde die Morgendämmerung dieses Tages dann so weit entfernt erscheinen wie 207
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für uns Christi Geburt. Winzige Unterschiede in der Wachstumsrate entstehen beispielsweise, wenn kleine DNA-Abschnitte aus einem Genom eliminiert werden, beispielsweise beim Verlust eines Gens, das nicht mehr gebraucht wird. Unabhängig davon, ob dieses Gen irgendwann wieder benötigt wird oder nicht, werden sich die Zellen, die es verlieren, ein wenig schneller replizieren und innerhalb weniger Tage die Population dominieren. Dagegen werden diejenigen Zellen, die das nutzlose Gen behalten, allmählich verdrängt. Dann aber kann sich die Lage erneut ändern – das nutzlose Gen wird wieder benötigt. Die Zellen, denen es fehlt, können sich erst dann wieder vermehren, wenn sie es durch lateralen Gentransfer zurückgewinnen. Dieser endlose dynamische Kreislauf aus Genverlust und ‑gewinn bestimmt die Existenz bakterieller Populationen. Mit der Zeit pendelt sich die Genomgröße beim kleinstmöglichen Wert ein, während die einzelnen Zellen Zugang zu einem sehr viel größeren „Metagenom“ haben (dem gesamten Genpool der Population und sogar der Nachbarpopulationen). Eine einzelne Zelle von E. coli kann 4000 Gene besitzen, doch im Metagenom befinden sich eher 18 000 Gene. Sich aus diesem Metagenom zu bedienen, birgt Risiken – man kann das falsche Gen erwischen oder eine mutierte Version oder einen genetischen Parasiten; nach und nach zahlt sich diese Strategie jedoch aus, weil die natürliche Selektion die weniger gut angepassten Zellen eliminiert und die glücklichen Sieger triumphieren. Wie aber ist dies nun bei einer Population bakterieller Endosymbionten? Im Allgemeinen gelten die gleichen Prinzipien – es handelt sich nach wie vor um eine Bakterienpopulation, wenn auch um eine kleine in einem begrenzten Bereich. Bakterien, die unnötige Gene verlieren, replizieren sich erneut etwas schneller und werden vermutlich dominieren. Der entscheidende Unterschied ist die Stabilität der Umwelt. Anders als in der großen weiten Welt, wo sich die Lebensbedingungen fortwährend ändern, ist das Cytoplasma von Zellen eine äußerst stabile Umwelt. Es mag nicht gerade einfach sein, dort hineinzugelangen oder dort zu überleben, aber sobald das geschafft ist, bietet sich ein verlässliches und gleichbleibendes Angebot an Nährstoffen. Der endlose dynamische Kreislauf aus Genverlust und ‑gewinn wird einge208
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tauscht gegen das Streben nach Genverlust und genetischer Rationalisierung. Überflüssige Gene werden nie wieder benötigt; man kann sich für alle Zeiten von ihnen trennen. Die Genome schrumpfen. Wie erwähnt, kommen Endosymbiosen zwischen Prokaryoten selten vor, weil diese nicht in der Lage sind, andere Zellen durch Phagozytose zu verschlingen. Da tatsächlich einige Beispiele bei Bakterien bekannt sind (Abbildung 25), sind solche Endosymbiosen durchaus möglich – allerdings nur in Ausnahmefällen und ohne das Auftreten einer Phagozytose. Auch von einigen Pilzen weiß man, dass sie Endosymbionten haben, obwohl sie ebenso wenig Phagozytose betreiben wie Bakterien. Phagozytische Eukaryoten hingegen besitzen häufig Endosymbionten – Hunderte Beispiele sind bekannt.38 Ihnen gemeinsam ist das Streben nach Genverlust. Die kleinsten bakteriellen Genome finden sich gemeinhin in Endosymbionten. So hat Rickettsia, der Urheber von Typhus und Geißel von Napoleons Armee, nur eine Genomgröße von gut 1 Megabase, also kaum ein Viertel der Größe von E. coli. Carsonella, ein Endosymbiont von Blattflöhen, besitzt das kleinste bekannte Bakteriengenom; mit 200 Kilobasen ist es kleiner als die Genome mancher Pflanzenmitochondrien. Wir wissen zwar so gut wie nichts über Genverlust bei Endosymbionten in Prokaryoten, doch es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sie sich anders verhalten. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie auf ganz ähnliche Weise Gene eingebüßt haben – immerhin waren Mitochondrien einst Endosymbionten in einer Archaeen-Wirtszelle. Genverlust hat weitreichende Auswirkungen. Der Endosymbiont profitiert davon, weil er seine Replikation beschleunigt. Das Einbüßen von Genen spart aber auch ATP. Machen wir ein einfaches Gedankenexperiment und stellen uns eine Wirtszelle mit 100 Endosymbionten vor. Jeder Endosymbiont ist zu Beginn ein normales Bakterium und verliert Gene. Nehmen wir an, dass er zunächst ein handelsübliches Bakteriengenom mit 4000 Genen besitzt und 200 davon (fünf Prozent) verliert; das könnten am Anfang die Gene für den Bau der Zellwand sein, denn die werden beim Leben in einer Wirtszelle überflüssig. Jedes dieser 200 Gene codiert für ein Protein, dessen Synthese energetische Kosten verursacht. Wie viel Energie 209
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A
B Abbildung 25: Bakterien, die innerhalb anderer Bakterien leben A: Population intrazellulärer Bakterien, die in Cyanobakterien leben. Die wellenförmigen inneren Membranen in der Zelle rechts sind Thylakoidmembranen, wo bei Cyanobakte rien die Fotosynthese erfolgt. Die Zellwand ist die dunklere, die Zelle umschließende Linie, die von einer durchsichtigen gallertigen Hülle umschlossen ist. Die intrazellulären Bakterien sind von einem helleren Bereich umgeben, den man fälschlich für eine Phago zytenvakuole halten könnte; es handelt sich jedoch vermutlich um ein Schrumpfungsar tefakt, da keine Zellen mit einer Zellwand andere Zellen durch Phagozytose verschlingen können. Wie diese Bakterien dort hineingelangt sind, ist rätselhaft, aber zweifellos sind sie wirklich dort vorhanden; infolgedessen ist es möglich, wenn auch sehr selten, dass intrazelluläre Bakterien in frei lebenden Bakterien existieren. B: Populationen von Gam maproteobakterien in betaproteobakteriellen Wirtszellen, die wiederum in den eukaryo tischen Zellen einer vielzelligen Schmierlaus leben. Die Zelle links in der Bildmitte (deren Zellkern kurz vor der Teilung durch Mitose steht) hat sechs bakterielle Endosymbionten, die jeweils mehrere stäbchenförmige Bakterien enthalten (rechts vergrößert abgebildet). Dieser Fall ist nicht so überzeugend wie das Beispiel mit den Cyanobakterien, weil die gemeinsame Existenz innerhalb einer Eukaryotenzelle nicht äquivalent zu einer frei lebenden Wirtszelle ist. Dennoch zeigen beide Fälle, dass Phagozytose für eine Endo symbiose zwischen Bakterien nicht zwingend erforderlich ist.
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spart man, wenn diese Proteine nicht hergestellt werden? Ein durchschnittliches bakterielles Protein besteht aus 250 Aminosäuren, wobei jedes Protein rund 2000 Kopien hat. Jede Peptidbindung (die die Aminosäuren verknüpft) kostet etwa 5 ATP. Die gesamten ATPKosten für 2000 Kopien von 200 Proteinen in 100 Endosymbionten belaufen sich demnach auf 50 Milliarden ATP. Wenn sich diese Energiekosten innerhalb des Lebenszyklus einer Zelle ergeben und diese sich alle 24 Stunden teilt, würden die Kosten für die Synthese dieser Proteine 580 000 ATP pro Sekunde betragen! Umgekehrt würde man diese Summe sparen, wenn die Herstellung der Proteine unterbliebe. Natürlich gibt es keinen zwingenden Grund, diese ATP für irgendetwas anderes auszugeben (obwohl es einige mögliche Gründe gibt, auf die wir noch zurückkommen), aber nehmen wir einmal an, welche Auswirkungen es für eine Zelle hätte, wenn sie es täte. Ein relativ simpler Faktor, der Eukaryoten von Bakterien unterscheidet, ist ihr dynamisches inneres Cytoskelett, das in der Lage ist, sich umzugestalten und seine Form an Zellbewegungen oder den Materialtransport innerhalb der Zelle anzupassen. Ein wichtiger Bestandteil des eukaryotischen Cytoskeletts ist das Protein Actin. Wie viel Actin ließe sich mit 580 000 ATP pro Sekunde herstellen? Actin bildet Filamente aus Monomeren, die zu Ketten aneinandergereiht sind; jeweils zwei umeinandergewundene Ketten bilden ein Filament. Pro Mikrometer Actinfilament finden sich 2 mal 29 Monomere und jedes Monomer enthält 374 Aminosäuren. Ausgehend von den erwähnten ATP-Kosten pro Peptidbindung werden pro Mikrometer Actin insgesamt 131 000 ATP benötigt. Im Prinzip ließen sich also pro Sekunde etwa 4,5 Mikrometer Actin herstellen. Falls Ihnen das eher wenig erscheint, denken Sie daran, dass Bakterien normalerweise nur mehrere Mikrometer lang sind.39 Demnach könnten die energetischen Ersparnisse aufgrund des endosymbiotischen Genverlusts (von nur 5 Prozent der Gene) durchaus die Evolution eines dynamischen Cytoskeletts ermöglichen, was auch tatsächlich geschehen ist. Überdies sind 100 Endosymbionten eine konservative Schätzung. Einige große Amöben besitzen sage und schreibe 300 000 Mitochondrien. 211
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Zudem gab es Genverluste von weit mehr als nur 5 Prozent. Die Mitochondrien haben praktisch alle ihre Gene verloren. Wir besitzen nur noch 13 proteincodierende Gene, so wie auch alle anderen Tiere. Vorausgesetzt, dass die Mitochondrien von Vorfahren abstammen, die modernen α-Proteobakterien nicht unähnlich waren, müssen sie zu Beginn etwa 4000 Gene besessen haben. Im Verlauf der Evolution verloren sie über 99 Prozent ihres Genoms. Wenn 100 Endosymbionten 99 Prozent ihrer Gene verloren hätten, so würden die energetischen Ersparnisse bei einem Lebenszyklus von 24 Stunden nach unserer obigen Rechnung fast 1 Billion ATP betragen – oder gigantische 12 Millionen pro Sekunde! Mitochondrien sparen aber keine Energie. Sie stellen ATP her. Mitochondrien sind ebenso gute Produzenten von ATP wie ihre frei lebenden Vorfahren, haben aber die hohen bakteriellen Betriebskosten massiv reduziert. Eukaryotenzellen verfügen faktisch über multibakterielle Power, sparen aber Kosten für Proteinsynthese ein. Oder genauer: Sie nutzen das Ersparte für andere Zwecke. Mitochondrien haben ihre Gene größtenteils verloren, doch einige wurden in den Zellkern überführt (mehr darüber im nächsten Kapitel). Manche davon gingen ihrer alten Arbeit nach und codierten weiterhin für dieselben Proteine wie vorher, sodass sich hier keine Energie einsparen ließ. Einige andere wurden jedoch von der Wirtszelle und auch vom Endosymbionten nicht mehr benötigt. Sie standen dem Zellkern als genetische Freibeuter zur Verfügung, waren flexibel in ihren Funktionen und noch nicht der Selektion unterworfen. Diese überflüssigen Abschnitte der DNA waren das genetische Rohmaterial für die Evolution der Eukaryoten. Manche von ihnen brachten ganze Genfamilien hervor, die sich auf neue, völlig verschiedene Aufgaben spezialisieren konnten. Wir wissen, dass die frühesten Eukaryoten verglichen mit den Bakterien etwa 3000 neue Genfamilien besaßen. Der Genverlust bei den Mitochondrien ermöglichte die Ansammlung neuer Gene im Zellkern, ohne Energiekosten zu verursachen. Eine Wirtszelle mit 100 Endosymbionten, bei der 200 Gene von jedem Endosymbionten in den Zellkern gewandert wären (nur 5 Prozent der Gene), hätte nun prinzipiell 20 000 neue Gene im Zellkern zur Verfügung gehabt – so viel wie ein ganzes Menschengenom! –, die sich 212
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unter dem Strich kostenfrei für alle möglichen neuen Zwecke hätten einsetzen lassen. Der aus den Mitochondrien gewonnene Nutzen ist einfach atemberaubend. Es bleiben noch zwei eng miteinander verbundene Fragen. Erstens: Diese ganze Argumentation beruht auf dem Konzept des Oberfläche-zu-Volumen-Verhältnisses bei Prokaryoten. Einige Bakterien, etwa Cyanobakterien, sind jedoch problemlos in der Lage, ihre inneren bioenergetischen Membranen einzustülpen, indem sie sie zu grotesken Windungen verdrehen und damit ihre Oberfläche erheblich vergrößern. Warum können Bakterien den Beschränkungen der chemiosmotischen Kopplung nicht entrinnen, indem sie ihre Atmung auf diese Weise ins Innere verlagern? Und zweitens: Warum haben die Mitochondrien, wenn der Verlust von Genen doch so bedeutsam ist, ihr Genom nicht vollständig verloren, um den Vorgang komplett abzuschließen und die energetischen Vorteile des Genverlusts zu maximieren? Die Antworten auf diese Fragen offenbaren, warum Bakterien seit nunmehr vier Milliarden Jahren stur an ihren gewohnten Strukturen festhalten.
Mitochondrien – Schlüssel zur Komplexität Es ist nicht ohne Weiteres ersichtlich, warum Mitochondrien immer eine Handvoll ihrer Gene behalten. Schon früh in der Evolution der Eukaryoten gingen Hunderte Gene, die für Mitochondrienproteine codierten, in den Zellkern über. Ihre Proteinerzeugnisse werden nun extern im Cytosol hergestellt, bevor sie in die Mitochondrien importiert werden. Trotzdem blieb eine kleine Gruppe von Genen, die für Atmungsproteine codieren, beständig in den Mitochondrien. Warum? Im Standardlehrbuch Molekularbiologie der Zelle ist zu lesen: „Wir können keinen triftigen Grund finden, warum die Proteine ausgerechnet in Mitochondrien und Chloroplasten hergestellt werden und nicht im Cytosol.“ Derselbe Satz erscheint bereits in den Originalausgaben von 2008, 2002, 1992 und 1983. Da drängt sich durchaus die Frage auf, wie intensiv die Autoren tatsächlich über dieses Problem nachgedacht haben. 213
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Von der Warte des Eukaryotenursprungs aus scheint es mir zwei mögliche Antworten zu geben – eine triviale und eine zwingende. Mit „trivial“ meine ich nicht „banal“. Ich meine damit die Hypothese: Es gibt keinen unveränderlichen biophysikalischen Grund, warum die Mitochondriengene an Ort und Stelle bleiben sollten. Dass sie sich nicht von der Stelle gerührt haben, liegt nicht daran, weil sie das nicht können, sondern weil sie es aus entwicklungsgeschichtlichen Gründen einfach nicht getan haben. Triviale Antworten erklären, warum Gene in den Mitochondrien geblieben sind: Sie hätten in den Zellkern übergehen können, doch das Zusammenspiel aus Zufällen und selektiven Zwängen bewirkte, dass einige von ihnen dort verharrten, wo sie immer schon waren. Denkbare Gründe sind etwa die Größe und die Hydrophobizität (d. h. das Ausmaß des hydrophoben Effekts) der Mitochondrienproteine oder geringe Veränderungen des genetischen Codes. Im Grunde argumentiert die „triviale“ Hypothese so: Alle verbliebenen Mitochondriengene könnten in den Zellkern wandern, auch wenn ein wenig Gentechnologie erforderlich wäre, um ihre Sequenz nach Bedarf zu modifizieren, und schon würde die Zelle funktionieren wie geschmiert. Tatsächlich arbeiten einige Forscher aktiv daran, Mitochondriengene in den Zellkern zu überführen, weil sie hoffen, dass ein solcher Transfer Alterungsprozessen vorbeugen könnte (mehr darüber in Kapitel 7). Diese Aufgabe wimmelt von Herausforderungen und ist keineswegs ein im umgangssprachlichen Sinne triviales Unterfangen. Es ist jedoch insofern trivial, als diese Forscher glauben, dass für die Gene keinerlei Notwendigkeit besteht, in den Mitochondrien zu bleiben. Sie sind der Überzeugung, es sei von großem Nutzen, sie in den Zellkern zu übertragen. Viel Glück dabei! Ich kann ihrer Argumentation nicht folgen. Die „zwingende“ Hypothese besagt: Mitochondrien haben Gene behalten, weil sie sie brauchen – ohne sie könnten die Mitochondrien gar nicht existieren. Der Grund dafür ist unveränderlich – es ist unmöglich, diese Gene auch nur theoretisch in den Zellkern zu übertragen. Warum? Die Antwort hat meiner Ansicht nach John Allen gegeben, Biochemiker und langjähriger Kollege von mir. Ich bin nicht deshalb von seiner Antwort 214
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überzeugt, weil er mein Freund ist – ganz im Gegenteil. Wir sind unter anderem Freunde geworden, weil ich von seiner Antwort überzeugt bin. Allen ist ein schöpferischer Geist und hat bereits eine Reihe origineller Hypothesen aufgestellt, die er in jahrzehntelanger Arbeit überprüft und in jahrelangen Diskussionen mit mir erörtert hat. In diesem speziellen Fall hat er handfeste Belege für die Behauptung, Mitochondrien (und, aus ähnlichen Gründen, Chloroplasten) hätten Gene behalten, weil diese zur Kontrolle der chemiosmotischen Kopplung gebraucht würden. Transferiert man die verbliebenen Mitochondriengene in den Zellkern, so Allens Argumentation, wird die Zelle über kurz oder lang absterben, egal, wie sorgfältig die Gene an ihr neues Zuhause angepasst wurden. Die Mitochondriengene müssen genau dort bleiben, wo sie sind, direkt an den bioenergetischen Membranen, wo sie ihre Arbeit verrichten. Wie ich erfahren habe, lautet der entsprechende politische Ausdruck dafür „bronze control“.40 Im Kriegsfall versteht man unter gold control die zentrale Regierung, die eine langfristige Strategie entwirft. Silver control ist die Armeeführung, die die Aufteilung von Soldaten und Waffen plant. Ein Krieg wird jedoch vor Ort gewonnen oder verloren, unter dem Kommando der bronze control, der tapferen Männer oder Frauen, die sich tatsächlich dem Feind stellen, taktische Entscheidungen treffen, ihre Truppen anspornen und in den Geschichtsbüchern als große Soldaten gewürdigt werden. Mitochondriengene sind die bronze control, die Entscheidungsträger vor Ort. Warum sind solche Entscheidungen notwendig? In Kapitel 2 haben wir die Urgewalt der protonenmotorischen Kraft erörtert. Die Innenmembran der Mitochondrien hat ein elektrisches Potenzial von etwa 150–200 Millivolt. Da die Membran nur 5 Nanometer dick ist, entspricht dies, wie erwähnt, einer Feldstärke von 30 Millionen Volt pro Meter, also einem Blitz. Wehe dem, der eine solche elektrische Ladung nicht zu kontrollieren weiß! Die Strafe wäre nicht nur das Einbüßen der betreffenden ATP-Synthese, obgleich das allein wohl schon schlimm genug wäre. Wenn es nicht gelingt, Elektronen plangemäß über die Atmungskette zum Sauerstoff (oder einem anderen Elektronenakzeptor) zu transportieren, kann das eine Art elektri215
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schen Kurzschluss zur Folge haben, bei dem die Elektronen entweichen und direkt mit Sauerstoff oder Stickstoff reagieren, woraufhin sich reaktionsfreudige „freie Radikale“ bilden. Die Kombination aus sinkenden ATP-Spiegeln, Depolarisation der bioenergetischen Membranen und Freisetzung freier Radikale ist der klassische Auslöser für den „programmierten Zelltod“, der, wie gesagt, selbst unter einzelligen Bakterien weit verbreitet ist. Im Wesentlichen können Mitochondriengene auf lokal veränderte Bedingungen reagieren, indem sie das Membranpotenzial geringfügig regulieren, bevor sich die Änderungen katastrophal auswirken. Würden diese Gene in den Zellkern überführt, so würden die Mitochondrien beim Auftreten gravierender Veränderungen in der Sauerstoffspannung oder in der Substratverfügbarkeit oder auch beim Aussickern freier Radikale laut der Hypothese innerhalb von Minuten die Kontrolle über das Membranpotenzial verlieren, und der Zelltod wäre unausweichlich. Wir müssen ständig atmen, um am Leben zu bleiben und die Feinsteuerung unserer Muskeln in Zwerchfell, Brustkorb und Rachen zu gewährleisten. Tief auf der Ebene der Mitochondrien regulieren die Mitochondriengene die Atmung auf ganz ähnliche Weise und sorgen dafür, dass der Output immer genau auf den Bedarf abgestimmt ist. Für die universelle Erhaltung der Mitochondriengene gibt es keine andere überzeugende Erklärung. Dies ist mehr als eine „notwendige“ Erklärung dafür, dass Gene in Mitochondrien bleiben. Es erklärt auch, warum Gene notwendigerweise direkt an bioenergetischen Membranen stationiert sind, wo auch immer sich diese befinden. Verblüffenderweise haben Mitochondrien stets die gleiche kleine Teilmenge von Genen in allen atmungsfähigen Eukaryoten beibehalten. In den wenigen Fällen, bei denen Zellen in den Mitochondrien überhaupt keine Gene mehr besitzen, haben sie auch die Fähigkeit zur Atmung verloren. Hydrogenosomen und Mitosomen (die von Mitochondrien abstammenden und in Archaezoen vorkommenden spezialisierten Organellen) haben im Allgemeinen sämtliche Gene und im Gegenzug auch die Fähigkeit zur chemiosmotischen Kopplung eingebüßt. Umgekehrt besitzen die Riesenbakterien, über die wir bereits gesprochen haben, Gene (oder 216
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besser ganze Genome), die unmittelbar an ihren bioenergetischen Membranen sitzen. Ausschlaggebend für mich waren jedoch die Cyanobakterien mit ihrer gewundenen inneren Membran. Wenn Gene zur Kontrolle der Atmung erforderlich sind, dann sollten Cyanobakterien mehrfache Kopien ihres gesamten Genoms besitzen, ganz ähnlich wie die Riesenbakterien, obwohl sie erheblich kleiner sind. Und genau das tun sie. Die komplexeren Cyanobakterien verfügen oft über mehrere Hundert Kopien ihres vollständigen Genoms. Wie bei den Riesenbakterien begrenzt das ihre Energieverfügbarkeit pro Gen – sie sind nicht in der Lage, den Umfang eines bestimmten Genoms auf den eines Kerngenoms von Eukaryotengröße auszudehnen, weil sie stattdessen gezwungen sind, vielfache kleine Bakteriengenome anzuhäufen. Dies also ist der Grund, warum sich Bakterien nicht auf Eukary otengröße ausdehnen können. Einfach nur ihre bioenergetischen Membranen einzustülpen und auf diese Weise zu vergrößern, funktioniert nicht. Sie müssen Gene direkt an den Membranen positionieren, und ohne Endosymbiose ist es schlichtweg so, dass diese Gene als vollständige Genome auftreten. Nur wenn ein Mehr an Größe mit einer Endosymbiose einhergeht, fällt die Bilanz für die Energie pro Gen positiv aus. Nur dann ist ein Genverlust realisierbar und nur dann kann das Schrumpfen der Mitochondriengenome eine Erweiterung des Kerngenoms um mehrere Zehnerpotenzen bis auf Eukaryotengröße in Gang setzen. Vielleicht ist Ihnen noch eine andere Möglichkeit in den Sinn gekommen: die Nutzung bakterieller Plasmide, semi-autonomer DNARinge, die gegebenenfalls viele Gene tragen können. Könnte man die Gene für die Atmung nicht auf einem großen Plasmid platzieren und dann mehrere Kopien dieses Plasmiden an den Membranen stationieren? Dabei würden sich eventuell hartnäckige logistische Probleme ergeben, aber könnte es im Prinzip funktionieren? Ich glaube, nicht. Für Prokaryoten ist es nicht von Vorteil, nur um der Größe willen zu wachsen, und ebenso wenig, mehr ATP als notwendig zu besitzen. Kleine Bakterien leiden nicht an ATP-Mangel – sie haben Unmengen davon. Ein wenig größer zu sein und über ein wenig 217
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mehr ATP zu verfügen, nutzt nichts. Besser ist es, ein bisschen kleiner zu sein, gerade so viel ATP zu haben, wie man braucht – und sich schneller replizieren zu können. Nur um der Größe willen zu wachsen, ist auch darum von Nachteil, weil dies Versorgungsleitungen in entfernt liegende Zellbereiche erfordert. Eine große Zelle muss in alle Winkel Fracht verschiffen, und genau das tun Eukaryoten. Ein solches Transportsystem entwickelt sich jedoch nicht über Nacht. Das dauert viele Generationen, und in dieser ganzen Zeit müsste sich die erweiterte Größe auf andere Weise auszahlen. Plasmide funktionieren also nicht – sie spannen den Karren vor das Pferd. Die weitaus einfachste Lösung für das Verteilungsproblem lautet, es schlichtweg zu umgehen, indem es vielfache Kopien eines vollständigen Genoms gibt, die jeweils ein „bakterielles“ Cytoplasmavolumen kontrollieren, wie bei den Riesenbakterien. Wie ist es den Eukaryoten denn nun gelungen, aus diesem ewigen Kreislauf auszubrechen und komplexe Transportsysteme zu entwickeln? Was ist denn schon der Unterschied zwischen einer großen Zelle mit mehreren Mitochondrien, von denen jedes sein eigenes Genom von Plasmidengröße besitzt, und einem Riesenbakterium mit mehreren Plasmiden, die verstreut die Atmung kontrollieren? Die Antwort lautet: Das Tauschgeschäft bei der Entstehung der Eukaryoten hatte gar nichts mit ATP zu tun. Das heben Bill Martin und Miklós Müller in ihrer Hypothese über den ersten Eukaryoten hervor. Martin und Müller gehen von einer metabolischen Syntrophie zwischen der Wirtszelle und ihren Endosymbionten, also einem wechselseitig abhängigen Stoffwechsel, aus. Das bedeutet, dass die Zellen nicht nur mit Energie Handel treiben, sondern auch mit Wachstumssubstraten. Laut der Wasserstoff-Hypothese versorgten die ersten Endosymbionten ihre methanogenen Wirtszellen mit Wasserstoff, den sie für ihr Wachstum benötigten. Um die Details müssen wir uns hier nicht kümmern. Entscheidend ist, dass die Wirtszellen ohne ihr Substrat (in diesem Fall Wasserstoff) nicht wachsen können. Die Endosymbionten liefern das gesamte für das Wachstum erforderliche Substrat. Je mehr Endosymbionten, desto mehr Substrat und desto schnelleres Wachstum der Wirtszellen – 218
5 Der Ursprung komplexer Zellen
was sich wiederum positiv auf die Endosymbionten auswirkt. Demzufolge sind Endosymbiosen für größere Zellen von Vorteil, weil diese mehr Endosymbionten aufnehmen können und somit mehr Wachstumsbeschleuniger erhalten. Noch mehr profitieren sie, wenn sie ein Transportnetzwerk zu ihren eigenen Endosymbionten aufbauen. Damit spannt man fast buchstäblich das Pferd (die Energieversorgung) vor den Karren (den Transport). Sobald die Endosymbionten Gene verlieren, sinkt ihr eigener ATP-Bedarf. Das entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Die Zellatmung produziert ATP aus ADP, und wenn das ATP wieder in ADP umgewandelt wird, setzt das Energie frei, die sich für verschiedene Arbeiten in der Zelle nutzen lässt. Wird kein ATP verbraucht, wird der gesamte ADP-Vorrat in ATP umgewandelt und die Atmung kommt zum Stillstand. Unter diesen Bedingungen sammelt die Atmungskette Elektronen an und wird stark „reduziert“ (mehr davon in Kapitel 7). Sie geht dann sehr leicht Reaktionen mit Sauerstoff ein, woraufhin freie Radikale austreten, die die umgebenden Proteine und die DNA beschädigen oder sogar den Zelltod auslösen können. Die Evolution eines Schlüsselproteins, des ATP/ADP-Transporters, ermöglichte der Wirtszelle, die Endosymbionten-ATP für ihre eigenen Zwecke abzuzweigen, womit bezeichnenderweise zugleich das Problem der Endosymbionten gelöst wurde. Durch das Abzweigen des überschüssigen ATPs und der Wiederversorgung der Endosymbionten mit ADP drosselte die Wirtszelle das Aussickern freier Radikale im Endosymbionten und senkte auf diese Weise das Risiko einer Beschädigung und des Zelltods. Das erklärt teilweise, warum es im Interesse sowohl der Wirtszelle als auch der Endosymbionten lag, ATP zugunsten extravaganter Bauprojekte wie dem eines dynamischen Cytoskeletts zu „verbrennen“.41 Der entscheidende Punkt ist jedoch, dass sich auf jeder Ebene der endosymbiontischen Beziehung Vorteile ergaben – anders als bei Plasmiden, die keinen Nutzen aus einer Vergrößerung oder einem umfangreicheren Vorrat an ATP per se versprechen. Die Entstehung der eukaryotischen Zelle war ein singuläres Ereignis, das sich hier auf der Erde in vier Milliarden Jahren Evolution 219
Teil III: Komplexität
nur einmal vollzogen hat. Allein aus der Warte von Genomen und Information lässt sich dieser außergewöhnliche Entwicklungsverlauf praktisch nicht verstehen. Aus der Warte von Energie und der physikalischen Struktur einer Zelle hingegen erscheint er plötzlich ausgesprochen plausibel. Wir haben gesehen, wie sich die chemiosmotische Kopplung möglicherweise in alkalinen hydrothermalen Schloten entwickelt hat und warum sie bei Bakterien und Archaeen für alle Zeiten universell zu finden ist. Wir haben gesehen, dass die chemiosmotische Kopplung die wunderbare Anpassungsfähigkeit und Wandelbarkeit von Prokaryoten ermöglicht hat. Es ist wahrscheinlich, dass solche Faktoren auch auf anderen Planeten wirksam sind, zurück bis zu den Anfängen des Lebens aus wenig mehr als Gestein, Wasser und Kohlendioxid. Nun sehen wir darüber hinaus, warum die natürliche Selektion, die über unendliche Zeiträume hinweg auf unendlich viele Populationen von Bakterien einwirkt, keine großen komplexen Zellen, die wir Eukaryoten nennen, entstehen lässt – es sei denn mithilfe einer seltenen und vom Zufall abhängigen Endosymbiose. Es gibt keinen universellen Entwicklungsverlauf, in dem der Keim für komplexes Leben von Anbeginn angelegt ist. Das Universum trägt nicht die Idee unseres Menschseins in sich. Es ist möglich, dass komplexes Leben auch anderswo entsteht, doch dass es verbreitet vorkommt, ist unwahrscheinlich – aus denselben Gründen, aus denen es sich auch auf der Erde nicht mehrmals entwickelt hat. Der erste Teil der Erklärung dafür ist einfach: Endosymbiosen zwischen Prokaryoten sind selten (obwohl wir dank einiger Beispiele wissen, dass sie vorkommen können). Der zweite Teil ist weniger klar ersichtlich und gemahnt an Sartres Vision, die Hölle seien die anderen. Die Intimität der Endosymbiose mag die endlose Blockierung der Bakterien aufgebrochen haben. Im nächsten Kapitel wird sich jedoch zeigen, dass die schmerzhafte Geburt dieser neuen Daseinsform, der eukaryotischen Zelle, erklären hilft, warum solche Ereignisse äußerst selten sind und warum alles komplexe Leben so viele eigenartige Merkmale, von Sexualität bis Tod, in sich birgt. 220
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
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ie Natur schrecke vor der Leere zurück, sagte Aristoteles. Zweitausend Jahre später griff Newton diese Idee wieder auf. Beide zerbrachen sich den Kopf darüber, was wohl den Raum ausfüllt; Newton glaubte, es handle sich um eine mysteriöse Substanz namens Äther. Im 20. Jahrhundert fiel diese Vorstellung unter Physikern in Ungnade, doch in der Ökologie ist der Horror Vacui nach wie vor sehr präsent. Das Bestreben, jede Lücke in der Natur zu füllen, gibt der folgende hübsche Vers wieder: „Große Flöhe tragen kleine mit sich herum als Reiter; die kleinen tragen kleinere, und so weiter und so weiter.“ Jede denkbare Nische wird besetzt, wobei jede Spezies hervorragend an ihre Lücke angepasst ist. Jede Pflanze, jedes Tier, jedes Bakterium ist selbst wieder ein Habitat, ein Paradies für alle Arten springender Gene, Viren und Parasiten, von großen Beutegreifern ganz zu schweigen. Alles ist erlaubt und alles ist möglich. Doch leider stimmt das nicht. Es sieht nur so aus. Der unendliche Bildteppich des Lebens ist ein Trugbild – in seiner Mitte gähnt ein schwarzes Loch. Es ist an der Zeit, das größte Paradoxon der Biologie anzugehen: Warum ist das gesamte Leben auf der Erde unterteilt in Prokaryoten ohne morphologische Komplexität und Eukaryoten, die eine ungeheure Zahl detailreicher Eigenschaften teilen, von denen sich keine bei den Prokaryoten findet? Zwischen den beiden klafft ein Abgrund, ein Nichts, ein Vakuum, vor dem die Natur wahrhaft zurückschrecken sollte. Alle Eukaryoten haben mehr oder weniger alles gemeinsam; alle Prokaryoten haben, morphologisch betrachtet, so gut wie nichts. Besser lässt sich die ungerechte biblische Lehre „Wer hat, dem wird gegeben“ nicht veranschaulichen. Im vorigen Kapitel haben wir erfahren, dass eine Endosymbiose zwischen zwei Prokaryoten den endlosen Kreislauf der Einfachheit durchbrach. Für ein Bakterium ist es nicht leicht, in ein anderes einzudringen und dort ungezählte Generationen lang zu überleben. Doch von einigen Beispielen wissen wir, dass dies, wenn auch selten, geschehen kann. Eine Zelle in einer anderen Zelle war jedoch nur der Anfang, ein schicksalsträchtiger Moment in der Geschichte des Le221
Teil III: Komplexität
bens, aber auch nicht mehr. Zelle in Zelle. Punkt. Doch irgendwie muss sich der Weg von dort bis zur Geburt wahrer Komplexität rekonstruieren lassen – zu einer Zelle, die alles in sich birgt, was Eukaryoten gemeinsam haben. Wir beginnen mit Bakterien, denen so gut wie alle komplexen Merkmale fehlen, und enden mit komplexen Eukaryoten, also Zellen mit einem Zellkern, einer Fülle innerer Membranen und Kompartimente, einem dynamischen Zellskelett und komplexem Verhalten wie geschlechtlicher Fortpflanzung. Eukaryotische Zellen haben ihre Genomgröße und ihr physisches Volumen um vier oder fünf Zehnerpotenzen ausgedehnt, und der letzte gemeinsame Vorfahr der Eukaryoten hatte all diese Merkmale bereits in sich vereinigt. Der Ausgangspunkt, eine Zelle in einer Zelle, besaß jedoch nichts davon. Es gibt keine überlebenden Zwischenformen, kaum etwas, das uns verraten könnte, wie oder warum sich diese komplexen Eukaryotenmerkmale entwickelt haben. Manchmal wird behauptet, dass die Endosymbiose, aus der die Eukaryoten hervorgegangen sind, nicht darwinscher Prägung war – sie sei keine graduelle Abfolge kleiner Schritte gewesen, sondern ein plötzlicher Sprung ins Ungewisse, der ein sogenanntes „Hopeful Monster“ hervorgebracht habe. In gewisser Weise ist das richtig. Ich habe dargelegt, dass die natürliche Selektion, die über unendliche Zeiträume hinweg auf unendlich viele Populationen von Bakterien einwirkt, nur über eine Endosymbiose komplexe eukaryotische Zellen hervorbringen kann. Solche Ereignisse lassen sich nicht mit einem standardmäßigen sich gabelnden phylogenetischen Baum darstellen. Eine Endosymbiose ist eine rückwärts gerichtete Bifurkation, bei der sich Äste nicht verzweigen, sondern vereinen. Sie ist jedoch ein singuläres Ereignis, ein Augenblick in der Evolution, aus dem kein Zellkern oder irgendein anderes archetypisches Eukaryotenmerkmal hervorgehen kann. Allerdings setzte sie damals eine Abfolge von Ereignissen in Gang, die durch und durch darwinscher Prägung waren und sind. Demnach war es keinesfalls so, dass der Ursprung der Eukaryoten gegen die Prinzipien des Darwinismus verstieß; vielmehr verwan222
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delte eine einmalige Endosymbiose zwischen Prokaryoten die Landschaft, auf die die Selektion einwirkte. Danach ging alles seinen gewohnten darwinschen Gang. Nun stellt sich die Frage: Inwiefern veränderte der Erwerb von Endosymbionten den Verlauf der natürlichen Selektion? Lief alles in vorhersagbaren Bahnen ab, die man in ähnlicher Weise auch auf anderen Planeten finden würde, oder öffnete der Wegfall der energetischen Beschränkungen die Schleusen für eine entfesselte Evolution? Ich werde darlegen, dass sich zumindest einige universelle Merkmale der Eukaryoten durch die enge Beziehung zwischen Wirtszelle und Endosymbiont ausbildeten und als solche anhand von Grundprinzipien vorhersagbar sind. Zu diesen Merkmalen gehören der Zellkern, Sexualität, zwei Geschlechter und sogar die unsterbliche Keimbahn, die Erzeugerin des sterblichen Körpers. Dass am Anfang eine Endosymbiose stand, grenzte die Abfolge der Ereignisse sofort ein; so müssen sich der Zellkern und die Membransysteme nach der Endosymbiose entwickelt haben. Zudem folgen daraus einige Beschränkungen in Bezug auf die Geschwindigkeit, mit der die Evolution wirksam gewesen sein muss. Darwinsche Evolution und Gradualismus werden gern in einen Topf geworfen, aber was bedeutet „graduell“ eigentlich? Es bedeutet schlicht, dass es keine großen Sprünge ins Ungewisse gibt, dass sämtliche adaptiven Veränderungen klein sind und separat erfolgen. Das trifft nicht zu, wenn es um Veränderungen des Genoms an sich geht; diese können in Gestalt umfangreicher Deletionen, Duplikationen sowie Transpositionen auftreten oder auch als abrupte Neuverschaltung, wenn Regulatorgene inadäquat an- oder abgeschaltet werden. Solche Veränderungen sind jedoch nicht adaptiv; genau wie Endosymbiosen geben sie nur einen anderen Ansatzpunkt für die Selektion vor. Behauptet man beispielsweise, der Zellkern sei irgendwie aus dem Nichts entstanden, verwechselt man genetische Saltation (evolutionäre Sprünge) mit Adaptation. Der Zellkern ist eine außerordentlich gut angepasste Struktur, nicht bloß ein Aufbewahrungsort für die DNA. Er umfasst Komponenten wie den Nukleolus, wo die neue ribosomale RNA in ungeheuren Mengen hergestellt wird, die mit wunderschönen Kernporen besetzte Doppelmembran (Abbil223
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A
B Abbildung 26: Kernporen Klassische Bilder vom Pionier der Elektronenmikroskopie, Don Fawcett. A: Die Doppel membran um den eukaryotischen Zellkern ist gut zu erkennen, ebenso wie die regelmä ßig auftretenden Poren, die durch Pfeile gekennzeichnet sind. Die dunkleren Stellen im Zellkern sind relativ inaktive Bereiche, wo sich stark verdichtetes, „kondensiertes“ Chro matin befindet, während hellere Bereiche rege Transkriptionsaktivität anzeigen. Die hel leren „Flecken“ an den Kernporen weisen auf einen aktiven Transport in und aus dem Zellkern hin. B: Hier ist eine Ansammlung von Kernporenkomplexen zu sehen; jeder be steht aus zahlreichen Proteinen, die gemeinsam die Import-Export-Maschinerie bilden. Die Kernproteine in diesen Porenkomplexen sind in allen Eukaryoten erhalten, was be deutet, dass bereits LECA (der letzte eukaryotische gemeinsame Vorfahr) Kernporen be sessen haben muss.
dung 26), die jeweils zahlreiche, in allen Eukaryoten konservierte Proteine enthält, und die elastische Lamina, ein flexibles Proteinnetzwerk, das die Kernmembran auskleidet und die DNA vor Scherspannung schützt. Entscheidend dabei ist: Eine solche Struktur ist das Produkt einer lange Zeit wirksamen natürlichen Selektion und erfordert die Verfeinerung und Organisation Hunderter separater Proteine. All dies ist ein Prozess ganz und gar darwinscher Prägung. Das heißt aber nicht, dass er zwangsläufig langsam (nach geologischem Maßstab) erfolgen musste. Aus der fossilen Überlieferung kennen wir lange Perioden des Stillstands, gelegentlich unterbrochen durch Phasen raschen Wandels. Dieser Wandel vollzieht sich nach geologischen Zeitbegrif224
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fen schnell, nicht aber unbedingt im Hinblick auf Generationen – er unterliegt einfach nicht denselben Beschränkungen, die unter normalen Bedingungen einem Wandel entgegenstehen. Nur selten fördert die natürliche Selektion eine Veränderung. In den allermeisten Fällen wirkt sie einer Veränderung entgegen und eliminiert Variati onen von den Gipfeln einer adaptiven Landschaft. Erst wenn diese Landschaft irgendwelchen seismischen Verschiebungen ausgesetzt ist, fördert die Selektion Wandel statt Stillstand. Und dann kann alles verblüffend schnell gehen. Ein gutes Beispiel ist das Auge. Augen entwickelten sich während der kambrischen Explosion, offenbar innerhalb weniger Millionen Jahre. Gewöhnt an den Trott des Hunderte-Millionen-Jahre-Rhythmus im endlos anmutenden Präkambrium, erscheinen zwei Millionen Jahre verstörend hastig. Warum ein so langer Stillstand und dann plötzlich ein solcher Raketenstart? Vielleicht, weil die Sauerstoffpegel anstiegen und die Selektion dann erstmals große aktive Tiere bevorzugte – Beutegreifer und ihre Beute, mit Augen und Panzern.42 Ein berühmtes mathematisches Modell hat berechnet, wie lang es wohl dauert, bis sich aus einem einfachen lichtempfindlichen Fleck auf irgendeinem Wurm ein Auge entwickelt. Unter Voraussetzung eines Lebenszyklus von einem Jahr und morphologischer Veränderungen pro Generation von höchstens einem Prozent lautete die Antwort: nur 500 000 Jahre. Wie viel Zeit würde die Evolution eines Zellkerns beanspruchen? Oder von Sexualität oder Phagozytose? Warum sollte sie länger dauern als beim Auge? Hier offenbart sich ein Projekt für die Zukunft: die minimale Entwicklungszeit vom Prokaryoten zum Eukaryoten zu berechnen. Bevor es sich lohnt, ein solches Projekt anzugehen, müssen wir mehr über die Reihenfolge der daran beteiligten Ereignisse wissen. Auf den ersten Blick gibt es jedoch keinen Grund anzunehmen, dass es Hunderte Millionen Jahre dauern sollte. Warum nicht zwei Millionen Jahre? Ausgehend von einer Zellteilung pro Tag, ergäbe das etwa eine Milliarde Generationen. Wie viele sind erforderlich? Warum hätten sich eukaryotische Zellen nicht in relativ kurzer Zeit entwickeln können, nachdem die energetischen Hemmnisse für 225
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die Evolution prokaryotischer Komplexität erst einmal beseitigt waren? Im Vergleich zu drei Milliarden Jahren prokaryotischen Stillstands erscheint dies als plötzlicher Sprung nach vorn; doch der Prozess erfolgte streng nach darwinschen Regeln. Dass rasche evolutionäre Vorgänge denkbar sind, heißt noch nicht, dass sie tatsächlich erfolgten. Doch es gibt gute Gründe anzunehmen, dass die Evolution der Eukaryoten schnell abgelaufen ist – denn die Natur schreckt vor der Leere zurück. Das Problem besteht genau darin, dass alle Eukaryoten alles haben und Prokaryoten nichts davon. Das bedeutet Instabilität. In Kapitel 1 haben wir über die Archaezoen gesprochen, jene relativ einfachen einzelligen Eukaryoten, die man fälschlich für evolutionäre Übergangsformen zwischen Prokaryoten und Eukaryoten hielt. Es stellte sich heraus, dass diese disparate Gruppe von komplexeren Vorfahren mit einem vollständigen Inventar aller eukaryotischen Merkmale abstammt. Nichtsdestoweniger sind sie echte ökologische Zwischenformen – sie besetzen die Nische der morphologischen Komplexität zwischen Prokaryoten und Eukaryoten. Sie füllen das Vakuum. Auf einen flüchtigen ersten Blick finden wir demnach kein Vakuum vor, sondern ein kontinuierliches Spektrum morphologischer Komplexität von parasitischen genetischen Elementen bis zu Riesenviren, von Bakterien zu einfachen Eukaryoten, von komplexen Zellen bis hin zu vielzelligen Organismen. Erst vor Kurzem, als klar wurde, dass es sich bei den Archaezoen um eine Mogelpackung handelt, offenbarte sich die ganze Abscheu vor der Leere. Dass die Archaezoen nicht von Konkurrenten verdrängt und ausgerottet wurden, bedeutet: Einfache Zwischenformen können in diesem Raum existieren. Ebenso gut hätten echte evolutionäre Zwischenformen die Nische besetzen können, zum Beispiel Zellen ohne Mitochondrien oder Zellkern oder Peroxisomen oder Membransysteme wie den Golgi-Apparat oder das endoplasmatische Retikulum. Wenn sich die Eukaryoten langsam entwickelt hätten, über einen Zeitraum von Hunderten Millionen Jahren, müsste es zahlreiche stabile Zwischenformen gegeben haben, Zellen, denen verschiedene eukaryotische Merkmale fehlten. Sie hätten dieselben Übergangsnischen besetzen müssen, in denen sich nun die Archaezoen finden. 226
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Einige von ihnen hätten bis heute überleben müssen, als echte evolutionäre Zwischenformen im Vakuum. Aber nein! Nichts davon ist zu sehen, auch wenn man lange und genau hinschaut. Wenn sie nicht von Konkurrenten verdrängt und ausgerottet wurden, warum hat dann keine überlebt? Ich würde sagen, weil sie genetisch instabil waren. Es gab nicht viele Wege durch das Vakuum, und die meisten Übergangsformen gingen zugrunde. Das würde eine kleine Populationsgröße voraussetzen, was ebenfalls plausibel ist. Eine große Population weist auf evolutionären Erfolg hin. Wenn sich die frühen Eukaryoten erfolgreich vermehrt hätten, so hätten sie sich ausbreiten, neue ökologische Räume besetzen, divergieren müssen. Sie hätten genetisch stabil sein müssen. Zumindest einige hätten überleben sollen. Aber das war nicht der Fall. Demnach ist es auf den ersten Blick am wahrscheinlichsten, dass die ersten Eukaryoten genetisch instabil waren und sich rasch in einer kleinen Population entwickelten. Es spricht noch etwas anderes dafür, dass dies der Fall war: die Tatsache, dass alle Eukaryoten genau dieselben Merkmale besitzen. Man muss sich einmal vorstellen, wie verrückt das ist! Wir Menschen teilen unsere Merkmale, wie aufrechten Gang, felllosen Körper, opponierbare Daumen, großes Gehirn und Sprachvermögen, mit allen anderen Menschen, weil wir über unsere Herkunft und Kreuzungen alle miteinander verwandt sind. Sex. Darüber kann man eine Spezies am einfachsten definieren – sie ist eine Population von Individuen, die sich untereinander fruchtbar fortpflanzen. Gruppen, deren Mitglieder sich nicht miteinander fortpflanzen, divergieren und entwickeln unterschiedliche Merkmale – sie werden zu neuen Spezies. Doch das passierte beim Ursprung der Eukaryoten nicht. Alle Eukaryoten teilen dieselbe Menge elementarer Merkmale. Das sieht sehr nach einer sich untereinander fortpflanzenden Population aus. Nach Sex. Könnte irgendeine andere Form der Reproduktion das gleiche Endergebnis hervorgebracht haben? Ich glaube nicht. Asexuelle Vermehrung – Klonen – hat tief greifende Divergenz zur Folge, weil sich verschiedene Mutationen in unterschiedlichen Populationen anhäufen. Diese Mutationen unterliegen der Selektion in voneinander getrenn227
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ten Umwelten, wo sie mit verschiedenen Vor- und Nachteilen konfrontiert werden. Dagegen schafft die sexuelle Fortpflanzung einen Pool von Merkmalen in einer Population, die sich fortwährend vermischen und neu zusammenfügen und damit der Divergenz entgegenwirken. Dass Eukaryoten die gleichen Merkmale teilen, spricht dafür, dass sie in einer sich kreuzenden sexuellen Population entstanden sind. Das wiederum setzt voraus, dass ihre Population klein genug dafür war. Alle Zellen in dieser Population, die sich nicht sexuell fortpflanzten, starben. Die Bibel hatte recht: „Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden.“ Was ist mit dem lateralen Gentransfer, der bei Bakterien und Archaeen doch allgegenwärtig ist? Wie die sexuelle Fortpflanzung beinhaltet lateraler Gentransfer auch Rekombination, wobei „flexible“ Chromosomen mit veränderlichen Genkombinationen entstehen. Anders als Sexualität ist der laterale Gentransfer jedoch nicht wechselseitig und umfasst weder eine Zellfusion noch eine Rekombination, die sich über das gesamte Genom erstreckt. Er ist Stückwerk und verläuft nur in einer Richtung – er kombiniert nicht die Merkmale innerhalb einer Population miteinander, sondern verstärkt die Divergenz zwischen Individuen. Nehmen wir E. coli. Eine einzelne Zelle kann um die 4000 Gene enthalten, aber das „Metagenom“ (die Gesamtzahl der Gene in verschiedenen Stämmen von E. coli, wie durch die ribosomale RNA definiert) enthält eher um die 18 000 Gene. Demnach hat ungezügelter lateraler Gentransfer zur Folge, dass sich verschiedene Stämme in bis zu 50 Prozent ihrer Gene unterscheiden – das ist mehr Variation, als alle Wirbeltiere gemeinsam aufweisen. Kurz gesagt: Weder Klonen noch lateraler Gentransfer, die dominierenden Formen der Vererbung bei Bakterien und Archaeen, können die rätselhafte Einheitlichkeit der Eukaryoten erklären. Hätte ich dieses Buch vor zehn Jahren geschrieben, so hätte es für die Idee, dass sich Sexualität in der eukaryotischen Evolution schon sehr früh entwickelte, kaum Belege gegeben; zahlreiche Arten, darunter viele Amöben und vermeintlich weit in die Vergangenheit zurückreichende Archaezoen wie Giardia, wurden für asexuell gehalten. 228
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Selbst heutzutage hat noch niemand Giardia bei mikrobiellem Sex in flagranti erwischt. Doch was uns die Naturgeschichte nicht liefert, machen wir mit Technologie wieder wett. Wir kennen ihre Genomsequenz. Die Gene, die für die Meiose (die reduktive Zellteilung zur Produktion von Geschlechtszellen) benötigt werden, sind voll funktionsfähig enthalten, und die Struktur des Genoms bezeugt regelmäßige sexuelle Rekombination. Das Gleiche gilt für mehr oder weniger jede andere von uns untersuchte Spezies. Mit Ausnahme von sekundär abgeleiteten asexuellen Eukaryoten, die normalerweise rasch aussterben, sind alle bekannten Eukaryoten sexuell. Wir können davon ausgehen, dass das auch auf ihren gemeinsamen Vorfahren zutrifft. Fassen wir zusammen: Sexualität entwickelte sich schon sehr früh in der eukaryotischen Evolution, und nur die Evolution von Sexualität in einer kleinen, instabilen Population kann erklären, warum sämtliche Eukaryoten so viele gemeinsame Merkmale besitzen. Das bringt uns zur zentralen Frage dieses Kapitels: Könnte eine Endosymbiose zwischen zwei Prokaryoten irgendeine Eigenschaft besitzen, die die Entwicklung von Sexualität fördern würde? Und ob – und das ist noch längst nicht alles.
Das in der Struktur unserer Gene verborgene Geheimnis Eukaryoten besitzen „Gene in Stücken“. Kaum eine Entdeckung des 20. Jahrhunderts war verblüffender. Frühe Studien über bakterielle Gene hatten uns fälschlich glauben lassen, Gene seien auf unseren Chromosomen schön säuberlich und sinnvoll aufgereiht wie Perlen auf einer Schnur. Der Genetiker David Penny drückte es folgendermaßen aus: „Ich wäre sehr stolz, dem Komitee anzugehören, das das Genom von E. coli entworfen hat. Die Mitwirkung beim Komitee für das menschliche Genom hingegen würde ich schamvoll verschweigen. Nicht einmal ein Universitätsausschuss hätte einen solchen Mist produzieren können.“ Was also ist da schiefgelaufen? Eukaryotengene sind chaotisch. Sie bestehen aus relativ kurzen Sequenzen, die für Proteinabschnitte codieren, und dazwischen langen Abschnitten mit nicht codierender 229
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DNA, den sogenannten Introns. Meist gibt es mehrere Introns pro Gen (das normalerweise als DNA-Abschnitt definiert ist, der für genau ein Protein codiert). Die Länge der Introns variiert zwar beträchtlich, aber oft sind sie erheblich länger als die Protein-codierenden Sequenzen. Sie werden immer in die RNA-Matrize kopiert, die die Abfolge der Aminosäuren im Protein festlegt, aber dann herausgeschnitten, bevor die RNA die Ribosomen erreicht, die großen Proteinfabriken im Cytoplasma. Das ist keine leichte Aufgabe; zuständig dafür ist eine weitere bemerkenswerte Protein-Nanomaschine, das Spleißosom. Auf dessen wichtige Rolle werden wir gleich zurückkommen. Fürs Erste ist nur festzuhalten, dass es sich hierbei um eine merkwürdig umständliche Prozedur handelt. Jeder Fehler beim Herausschneiden dieser Introns hat zur Folge, dass eine große Menge an unsinnigem RNA-Code in die Ribosomen eingespeist wird, die sich frisch ans Werk machen und die Nonsens-Proteine synthetisieren. Die Ribosomen gehen so stur nach Schema F vor wie Kafkas Bürokraten. Warum sind die Gene von Eukaryoten zerstückelt? Man hat he rausgefunden, dass dies einige Vorteile hat. Aus ein und demselben Gen lassen sich durch unterschiedliches Spleißen verschiedene Proteine zusammensetzen, was beispielsweise zur rekombinatorischen Virtuosität des Immunsystems geführt hat. Verschiedene Protein stücke werden auf wunderbare Weise zu Milliarden unterschied licher Antikörper neu zusammengefügt, die an praktisch jedes bakterielle oder virale Protein binden können und so die Killer maschinen des Immunsystems in Gang setzen. Allerdings sind Immunsysteme späte Erfindungen von großen, komplexen Tieren. Hatte die Zerstückelung auch schon früher Vorteile? In den 1970er-Jahren vermutete Ford Doolittle, ein Altmeister der Evolutionsbiologie des 20. Jahrhunderts, Introns könnte es bereits seit den Anfängen irdischen Lebens gegeben haben. Diese Vorstellung bezeichnet man als „Introns-early-Hypothese“ („Frühe-IntronsHypothese“). Sie beruhte auf der Überlegung, dass frühe Gene, denen ein hoch entwickelter moderner DNA-Reparaturmechanismus fehlte, sehr schnell Fehler angehäuft haben müssten, was sie extrem anfällig für „Mutational Meltdown“ machte, das Schrumpfen der Populati230
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onsgröße bis hin zum Aussterben aufgrund angehäufter Mutationen. Bei einer hohen Mutationsrate hängt die Zahl der sich ansammelnden Mutationen von der Länge der DNA ab. Nur kleine Genome könnten einen drohenden Meltdown abwenden. Die Introns boten einen Ausweg aus der Gefahr. Wie kann man mit einem kurzen DNA-Abschnitt für viele Proteine codieren? Indem man einfach kleine Stückchen rekombiniert. Die Idee ist hübsch und hat nach wie vor einige Verfechter, wenn auch Doolittle nicht mehr dazugehört. Wie alle guten Hypothesen macht auch diese eine Reihe von Vorhersagen; leider haben sie sich als falsch erwiesen. Die wichtigste Vorhersage lautet, dass sich zuerst die Eukaryoten entwickelt haben müssen. Nur Eukaryoten besitzen echte Introns. Wenn Introns eine ursprüngliche Merkmalsausprägung, oder Plesiomorphie, sind, dann müssen Eukaryoten die frühesten Zellen, noch vor den Bakterien und Archaeen, gewesen sein, welche ihre Introns später durch Selektion für die Rationalisierung ihrer Genome verloren haben. Das wäre phylogenetisch nicht plausibel. Die moderne Ära der Gesamtgenomsequenzierung hat unmissverständlich aufgezeigt, dass Eukaryoten aus einer Archaeen-Wirtszelle und einem bakteriellen Endosymbionten entstanden sind. Die am weitesten zurückreichende Verzweigung im phylogenetischen Baum des Lebens besteht zwischen Archaeen und Bakterien; die Eukaryoten entwickelten sich später. Dies untermauern auch die fossile Überlieferung und die im letzten Kapitel erfolgten Überlegungen zur Energie. Wenn aber Introns keine Plesiomorphie sind, woher kamen sie dann und warum? Die Antwort scheint im Endosymbionten zu liegen. Ich habe gesagt, dass in Bakterien keine „echten Introns“ vorkommen; ihre Vorfahren sind jedoch so gut wie sicher bakteriellen Ursprungs oder, genauer gesagt, bakterielle genetische Parasiten. Der Fachbegriff dafür lautet „mobile selbst spleißende Gruppe-II-Introns“. Über die Terminologie müssen Sie sich hier nicht den Kopf zerbrechen. Mobile Introns sind bloß Stückchen egoistischer DNA, springende Gene, die sich in das Genom hinein- und wieder herauskopieren. Aber ich sollte nicht sagen „bloß“, denn es handelt sich um bemerkenswerte und zielgerichtete Maschinen. Sie werden auf normalem 231
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Wege in die RNA eingelesen, aber dann erwachen sie zum Leben und verwandeln sich in RNA-„Scheren“. Diese schneiden die Parasiten aus den längeren RNA-Transkripten heraus und minimieren damit den Schaden für die Wirtszelle. Auf diese Weise entstehen aktive Komplexe, die für eine Reverse Transkriptase codieren – ein Enzym, das die RNA wieder in DNA umschreibt. Dieses Enzym fügt Kopien des Introns wieder ins Genom ein. Introns sind also parasitische Gene, die sich selbst in bakterielle Genome spleißen und wieder herausschneiden. „Große Flöhe tragen kleine mit sich herum als Reiter …“ Wer hätte gedacht, dass das Genom eine Schlangengrube ist, wimmelnd von genialen Parasiten, die nach Belieben kommen und gehen. Aber genau so sieht es aus. Diese mobilen Introns sind wahrscheinlich eine ursprüngliche Merkmalsausprägung. Sie finden sich in allen drei Domänen des Lebens und müssen, im Gegensatz zu Viren, ihre sichere Wirtszelle nie verlassen. Jedes Mal, wenn sich die Wirtszelle teilt, werden sie brav kopiert. Das Leben hat sich schlicht mit ihrer Existenz arrangiert. Und Bakterien kommen durchaus mit ihnen klar. Wir wissen nur noch nicht genau, wieso. Vielleicht liegt es einfach an der Stärke der Selektion, die auf große Populationen einwirkt. Bakterien mit ungünstig positionierten Introns, die die bakteriellen Gene auf irgendeine Weise beeinträchtigen, ziehen im selektiven Kampf mit Zellen, deren Introns nicht ungünstig positioniert sind, halt den Kürzeren. Oder die Introns sind selbst kooperativ und besetzen periphere DNABereiche, wo sie ihren Wirtszellen weniger in die Quere kommen. Anders als Viren, die auch allein überleben können und darum nicht zimperlich sind, wenn es ums Töten ihrer Wirtszellen geht, sterben mobile Introns mit ihren Wirten und haben demzufolge nichts davon, ihnen Steine in den Weg zu legen. Zur Analyse dieser Art von Biologie bietet sich die Ökonomie an, mit ihren Kosten-Nutzen-Berechnungen, dem Gefangenendilemma, der Spieltheorie. Wie auch immer – mobile Introns treten bei Bakterien und Archaeen nicht in Massen auf und befinden sich nicht in den Genen selbst (weshalb sie genau genommen überhaupt keine Introns sind), 232
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sondern sammeln sich in kleinen Mengen in intergenischen Bereichen. Ein typisches bakterielles Genom enthält gemeinhin nicht mehr als 30 mobile Introns (bei 4000 Genen); dagegen besitzen Eukaryoten Zehntausende. Die niedrige Anzahl von Introns bei Bakterien beruht auf dem langfristigen Abgleich von Kosten und Nutzen, dem Resultat der Selektion, die über viele Generationen hinweg auf beide Parteien einwirkt. Ein solches Bakterium ging vor 1,5 bis 2 Milliarden Jahren eine Endosymbiose mit einer Archaeen-Wirtszelle ein. Dem würde heute am ehesten irgendein α-Proteobakterium entsprechen, und wir wissen, dass moderne α-Proteobakterien geringe Mengen mobiler Introns enthalten. Was aber verbindet diese ursprünglichen genetischen Parasiten mit der Struktur eukaryotischer Gene? Kaum mehr als der detailreiche Mechanismus der RNA-Schere, die mobile bakterielle Introns ausschneidet, und simple Logik. Einige Abschnitte weiter oben habe ich die Spleißosome erwähnt – die Protein-Nanomaschinen, die die Introns aus unseren eigenen RNA-Transkripten herausschneiden. Das Spleißosom besteht nicht nur aus Proteinen; in seinem Zentrum befindet sich eine RNA-Schere, wie gehabt. Diese schneidet eukaryotische Introns anhand eines verräterischen Mechanismus aus, der ihre Abstammung von bakteriellen selbst spleißenden Introns offenbart (Abbildung 27). Das ist alles. Nichts an der Gensequenz der Introns selbst legt nahe, dass sie von Bakterien abstammen. Sie codieren nicht für Proteine wie die Reverse Transkriptase, sie spleißen sich nicht in DNA und schneiden sich wieder aus, sie sind keine mobilen genetischen Parasiten – bloß dumme Klumpen DNA, die herumsitzen und nichts tun.43 Doch diese toten Introns, die durch Mutationen gebrauchsunfähig gemacht wurden, sind nun bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und daher weitaus gefährlicher als lebende Parasiten. Sie sind nicht mehr in der Lage, sich selbst herauszuschneiden, sondern müssen durch ihre Wirtszellen entfernt werden. Und diese schreiten zur Tat mit Scheren, die sie einst von ihren lebenden Vettern beschlagnahmt haben. Das Spleißosom ist eine eukaryotische Maschine, deren Grundlage ein bakterieller Parasit war. 233
Teil III: Komplexität
Abbildung 27: Mobile selbst spleißende Introns und das Spleißosom Eukaryotische Gene bestehen aus Exons (Protein-codierenden Sequenzen) und Introns – langen, in Genen eingefügten nicht codierenden Sequenzen, die vor der Proteinsyn these aus dem RNA-Code-Skript herausgeschnitten werden. Introns stammen anschei nend von parasitischen DNA-Elementen ab, die sich in bakteriellen Genomen finden (linke Bildseite), aber durch Mutationen zu inaktiven Sequenzen in eukaryotischen Ge nomen degeneriert sind und durch das Spleißosom aktiv beseitigt werden müssen (rechte Bildseite). Diese Hypothese wird durch den hier dargestellten Spleißmechanismus untermauert. Der bakterielle Parasit (links) schneidet sich selbst aus; die herausge trennte Intronsequenz codiert für eine Reverse Transkriptase, die Kopien der parasiti schen Gene in DNA-Sequenzen umschreiben und mehrfache Kopien in das bakterielle Genom einfügen kann. Das eukaryotische Spleißosom (rechts) ist ein großer Proteinkom plex; seine Funktion beruht jedoch auf einem katalytischen RNA-Molekül (Ribozym) in seinem Zentrum, das genau den gleichen Spleißmechanismus anwendet. Das lässt ver muten, dass das Spleißosom und infolgedessen auch eukaryotische Introns von mobilen selbst spleißenden Gruppe-II-Introns abstammen, die im frühen Verlauf der EukaryotenEvolution vom bakteriellen Endosymbionten freigesetzt wurden.
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6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
Der russischstämmige amerikanische Bioinformatiker Eugene Koonin und Bill Martin haben 2006 in einem spannenden Artikel folgende Hypothese aufgestellt: Bei der Entstehung der Eukaryoten entließ der Endosymbiont einen Schwall genetischer Parasiten in die ahnungslose Wirtszelle. In einer frühen Intron-Invasion breiteten sich diese aus; dabei formten sie eukaryotische Genome und trieben die Evolution früh erworbener Merkmale, etwa des Zellkerns, voran. Ich würde noch Sexualität hinzufügen. Zugegebenermaßen klingt dies alles nach einem Hirngespinst, einem Evolutionsmärchen, basierend auf dem fadenscheinigen Indiz einer verdächtig aussehenden Schere. Der Verdacht wird jedoch durch die Detailstruktur der Gene selbst erhärtet. Die schiere Menge der Introns – Zehntausende – in Kombination mit ihrer physischen Position in den Eukaryotengenen legen stummes Zeugnis von ihrer uralten Herkunft ab. Diese Herkunft geht noch hinter die Introns selbst zurück und erzählt von der qualvollen und intimen Beziehung zwischen Wirtszelle und Endosymbiont. Selbst wenn diese Überlegungen noch nicht die ganze Wahrheit sind, so geben sie doch bereits die Richtung an, in der wir suchen müssen.
Introns und der Ursprung des Zellkerns Zahlreiche Introns treten bei allen Eukaryoten in den gleichen Positionen auf. Dies ist eine weitere unerwartete Besonderheit. Ein Beispiel: Die Citrat-Synthase ist ein Protein, das eine Rolle beim elementaren Zellstoffwechsel aller Eukaryoten spielt. Das Gen, das für dieses Protein codiert, findet sich bei uns Menschen wie auch bei Meeresalgen, Pilzen, Bäumen oder Amöben. Im Verlauf der unvorstellbaren Anzahl an Generationen, die uns von dem gemeinsamen Vorfahren der Menschen und der Bäume trennen, hat sich die Basenabfolge dieses Gens zwar etwas auseinanderentwickelt, doch die natürliche Selektion hat die Funktion der Citrat-Synthase und damit auch ihre spezifische Gensequenz konserviert. Dies ist ein schönes Beispiel für gemeinsame Herkunft und die molekulare Basis der natürlichen Selektion. Wider alles Erwarten enthalten solche Gene typischerweise zwei oder drei Introns, die sich bei Bäumen und Menschen häufig in genau den glei235
Teil III: Komplexität
chen Positionen befinden. Wie konnte es dazu kommen? Es gibt nur zwei plausible Erklärungen. Entweder haben sich die Introns unabhängig voneinander an den gleichen Stellen eingefügt, weil diese speziellen Orte aus irgendeinem Grund von der Selektion favorisiert wurden, oder sie haben sich einmal in den gemeinsamen Vorfahren der Eukaryoten eingefügt und wurden dann an dessen Nachkommen weitergegeben. Natürlich ist es auch möglich, dass einige dieser Nachkommen sie dann wieder verloren haben. Wenn nur ein paar Fälle bekannt wären, würde man wohl der ersten Erklärung zustimmen, doch da Tausende Introns in Hunderten gemeinsamer Gene bei allen Eukaryoten an genau den gleichen Positionen sitzen, ist das nicht sehr wahrscheinlich. Die gemeinsame Herkunft ist die bei Weitem ökonomischste Erklärung. Trifft sie zu, dann muss es kurz nach Entstehen der eukaryotischen Zelle zu einer massiven Intron-Invasion gekommen sein, bei der sich all diese Introns erstmalig eingenistet haben. Danach müssen irgendwelche Mutationen die Introns so geschädigt haben, dass sie ihre Beweglichkeit einbüßten und bei allen nachfolgenden Eukaryoten in ihren Positionen eingefroren wurden wie in unauslöschlichen Leichenumrissen aus Kreide. Für eine frühe Intron-Invasion spricht noch ein zweites, zwingenderes Argument. Wir unterscheiden zwei Gentypen: Orthologe und Paraloge. Orthologe sind im Wesentlichen die gleichen Gene, die die gleiche Arbeit in unterschiedlichen Spezies verrichten; sie stammen, wie in dem soeben erörterten Beispiel, von einem gemeinsamen Vorfahren ab. Demnach besitzen alle Eukaryoten ein orthologes Gen für die Citrat-Synthase, das wir alle von unserem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Paraloge haben ebenfalls einen gemeinsamen Vorfahren; in diesem Fall wurde das Vorläufer-Gen jedoch – häufig mehrfach – innerhalb ein und derselben Zelle dupliziert und bildete eine Genfamilie. Solche Familien können bis zu 20 oder 30 Gene enthalten, die sich meistens schließlich auf geringfügig unterschiedliche Aufgaben spezialisieren. Ein Beispiel ist die Hämoglobin-Familie mit etwa zehn Genen, die alle für sehr ähnliche Proteine mit jeweils leicht unterschiedlichen Funktionen codieren. Kurz gesagt: Orthologe sind äquivalente Gene in verschiedenen Spezies, Paraloge sind Mitglieder einer 236
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Genfamilie in ein und demselben Organismus. Doch natürlich können sich ganze Familien von Paralogen auch in verschiedenen Spezies finden, die sie von ihrem gemeinsamen Vorfahren geerbt haben. Darum besitzen alle Säugetiere paraloge Hämoglobin-Genfamilien. Diese Familien paraloger Gene lassen sich in alte und neue paraloge Gene unterteilen. In einer genialen Studie hat Eugene Koonin genau das getan. Er definierte alte Paraloge als Genfamilien, die sich bei allen Eukaryoten finden, aber sich nicht in Prokaryoten dupliziert haben. Daher lässt sich die Welle der Genduplikationen, aus der die Genfamilie entstand, als ein frühes Ereignis in der eukaryotischen Evolution verorten, noch vor der Entwicklung des letzten eukaryotischen gemeinsamen Vorfahren. Dagegen sind neue Paraloge Genfamilien, die sich nur in bestimmten Eukaryotengruppen wie Tieren oder Pflanzen finden. In diesen Fällen können wir darauf schließen, dass die Duplikationen später, während der Evolution der betreffenden Gruppe, erfolgt sind. Koonin sagte voraus: Wenn es früh in der Evolution der Eukaryoten tatsächlich eine Intron-Invasion gegeben hat, dann müssten sich mobile Introns zufällig in verschiedene Gene eingefügt haben, denn die alten Paraloge wurden in dieser Zeitspanne aktiv dupliziert. Wäre die frühe Intron-Invasion da noch im Gange gewesen, so hätten sich mobile Introns nach wie vor bei verschiedenen Mitgliedern der wachsenden paralogen Genfamilie in neue Positionen eingefügt. Spätere Duplikationen von Paralogen hingegen sind seiner Meinung nach deutlich nach dem Ende der angenommenen frühen Intron-Invasion erfolgt. Ohne das Auftreten neuer Einfügungen aufgrund einer Intron-Invasion müssten die alten Intronpositionen in neuen Kopien dieser Gene konserviert sein. Wenn man jedoch von einer frühen Intron-Invasion ausgeht, sollten bei alten Paralogen Intronpositionen weniger gut erhalten sein als bei neuen. Das trifft bemerkenswert häufig zu. Bei neuen Paralogen sind praktisch alle Intronpositionen erhalten geblieben, während dies bei alten Paralogen so gut wie nicht der Fall ist – genau wie vorausgesagt. All dies lässt vermuten, dass die frühen Eukaryoten tatsächlich einer Invasion mobiler Introns aus ihren eigenen Endosymbionten 237
Teil III: Komplexität
ausgesetzt waren. Doch warum breiteten sich die Introns in den Eukaryoten aus, während sie sowohl in Bakterien als auch Archaeen normalerweise unter strenger Bewachung stehen? Hier bieten sich zwei mögliche Antworten an, und es ist durchaus denkbar, dass beide zutreffen. Der erste Grund könnte sein, dass frühe Eukaryoten – im Grunde immer noch Prokaryoten, Archaea – ein Bombardement bakterieller Introns aus bedrohlicher Nähe erlebten, nämlich aus ihrem eigenen Cytoplasma heraus. Hier ist ein Sperrmechanismus („Ratsche“) wirksam: Eine Endosymbiose ist ein natürliches „Experiment“, das scheitern kann. Stirbt die Wirtszelle, ist das Experiment vorbei. Doch im umgekehrten Fall gilt das nicht. Gibt es mehr als einen Endosymbionten und nur einer stirbt, geht das Experiment weiter – die Wirtszelle überlebt mit allen übrigen Endosymbionten. Die DNA des toten Endosymbionten wird jedoch ins Cytosol ausgeschüttet, von wo sie über standardmäßigen lateralen Gentransfer in das Genom der Wirtszelle eingebaut wird. Dieser Vorgang lässt sich nicht leicht stoppen und hält bis heute an – unsere Kerngenome sind mit Tausenden Stückchen mitochondrialer DNA durchsetzt, die man als „numts“ bezeichnet (für nuclear mitochondrial sequences, falls Sie es genau wissen wollen). Diese DNA-Stückchen sind durch ebensolche Transfers dorthin gelangt. Gelegentlich tauchen neue numts auf, die sich bemerkbar machen, wenn sie ein Gen schädigen und so eine Erbkrankheit hervorrufen. Zur Zeit der Entstehung der Eukaryoten, bevor es überhaupt einen Zellkern gab, müssen solche Transfers häufiger gewesen sein. Der chaotische DNA-Transfer von Mitochondrien zur Wirtszelle hätte schlimmere Folgen gehabt, wenn in diesem Fall tatsächlich selektive Mechanismen existieren würden, die mobile Introns zu bestimmten Orten in einem Genom lenken, während andere gemieden werden. Im Allgemeinen sind Bakterien-Introns an ihre Bakterien-Wirte angepasst und Archaeen-Introns an ihre Archaeen-Wirte. Bei den frühen Eukaryoten jedoch drangen Bakterien-Introns in ein Archaeen-Genom ein, das völlig andere Gensequenzen aufwies. Es gab keine adaptiven Beschränkungen; und was hätte dann die Introns davon abhalten können, sich unkontrollierbar auszubreiten? Nichts! Die endgültige Ver238
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nichtung drohte. Die einzige Hoffnung bestand in einer kleinen Population genetisch instabiler – kränklicher – Zellen. Der zweite Grund für eine frühe Ausbreitung von Introns ist das zurückhaltende Einschreiten der Selektion. Das liegt teilweise genau daran, dass eine kleine Population kränklicher Zellen weniger wettbewerbsfähig ist als eine dicht gedrängte Population gesunder Zellen. Zudem ist zu vermuten, dass die ersten Eukaryoten eine noch nie dagewesene Toleranz gegenüber einer Intron-Invasion an den Tag legten. Immerhin kamen die Introns aus den Endosymbionten, den zukünftigen Mitochondrien, die sowohl energetischen Segen als auch genetische Kosten bedeuteten. Introns verursachen Bakterien Kosten, weil sie energetisch und genetisch eine Last sind; kleine Zellen mit weniger DNA replizieren schneller als große Zellen mit mehr DNA als benötigt. Wie wir im letzten Kapitel gesehen haben, fahren Bakterien ihre Genome auf das fürs Überleben erforderliche Mindestmaß zurück. Dagegen stellen Eukaryoten eine extreme Asymmetrie der Genome zur Schau: Sie können es sich leisten, ihr Kerngenom auszuweiten, eben weil ihre Endosymbiontengenome schrumpfen. Die Ausdehnung des Wirtszellengenoms ist keineswegs geplant; ein größerer Genomumfang wird ganz einfach nicht im gleichen Maße wie bei Bakterien durch die Selektion bestraft. Dieses geringere Strafmaß versetzt Eukaryoten in die Lage, mithilfe aller möglichen Duplikationen und Rekombinationen Tausende Gene mehr anzuhäufen, aber auch, eine viel größere Menge an genetischen Parasiten zu tolerieren. Diese beiden Konsequenzen sind untrennbar miteinander verbunden. Eukaryotengenome werden von Introns überrannt, weil das energetisch gesehen zumutbar ist. Es ist also wahrscheinlich, dass die ersten Eukaryoten ein Bombardement genetischer Parasiten aus ihren eigenen Endosymbionten erlebten. Ironischerweise waren diese Parasiten gar kein großes Problem – problematisch wurde es erst, als die Parasiten zerfielen und starben und das Genom von ihren sterblichen Überresten – den Introns – übersät wurde. Nun musste die Wirtszelle die Introns durch Ausschneiden beseitigen, um zu verhindern, dass sie abgelesen wer239
Teil III: Komplexität
den und zur Synthese unsinniger Proteine beitragen. Wie erwähnt, übernimmt diese Aufgabe das Spleißosom, das sich aus den RNAScheren mobiler Introns entwickelt hat. Doch auch wenn das Spleißosom eine beeindruckende Nanomaschine ist, bleibt es nur eine Teillösung. Dummerweise sind Spleißosome langsam. Selbst heute, nach fast zwei Milliarden Jahren evolutionärer Verfeinerung, brauchen sie zum Ausschneiden eines einzigen Introns immer noch mehrere Minuten. Dagegen legen Ribosomen ein irrwitziges Arbeitstempo vor – sie schaffen zehn Aminosäuren pro Sekunde. In kaum einer halben Minute entsteht ein standardmäßiges bakterielles Protein, das etwa 250 Aminosäuren lang ist. Doch selbst wenn das Spleißosom Zugang zur RNA hätte (und das ist nicht einfach, da die RNA oft von zahlreichen Ribosomen umschlossen ist), könnte es die Bildung zahlreicher nutzloser Proteine mit unversehrten eingebauten Introns nicht verhindern. Wie ließe sich eine sogenannte Fehlerkatastrophe abwenden? Laut Martin und Koonin schlicht durch das Einbauen einer Barriere. Die Kernmembran ist eine Barriere, die die Transkription von der Translation trennt – innerhalb des Zellkerns werden Gene in RNA-CodeSkripts umgeschrieben; außerhalb des Zellkerns wird die RNA an den Ribosomen in Proteine übersetzt (translatiert). Entscheidend ist, dass der langsame Spleißprozess innerhalb des Zellkerns stattfindet, bevor die RNA auch nur in die Nähe der Ribosomen gelangt. Der ganze Sinn und Zweck des Zellkerns besteht darin, die Ribosomen in Schach zu halten! Das erklärt, warum Eukaryoten einen Zellkern brauchen, aber Prokaryoten nicht – Prokaryoten haben kein IntronProblem. Aber Moment mal!, denken Sie nun sicher. Eine perfekt geformte Zellmembran entsteht doch nicht einfach so aus dem Nichts! Sie muss sich doch über viele Generationen hinweg entwickelt haben – warum waren die ersten Eukaryoten bis dahin nicht schon längst ausgestorben? Nun, zweifellos hat dieses Schicksal auch viele ereilt, aber vielleicht war das Ganze auch gar nicht so dramatisch. Der Schlüssel liegt in einer weiteren besonderen Eigenschaft der Mem branen. Wegen der Gene ist zwar klar, dass die Wirtszelle ein Bona240
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fide-Archaeon mit zwangsläufig typischen archaeellen Lipiden in seinen Membranen war, doch in den Membranen von Eukaryoten befinden sich bakterielle Lipide. Diese Tatsache ist relevant. Aus irgendeinem Grund müssen die archaeellen Membranen zu einem frühen Zeitpunkt der Eukaryoten-Evolution durch bakterielle ersetzt worden sein. Aber warum? Um das zu beantworten, muss man zwei Aspekte berücksichtigen. Der erste ist die Frage nach der Machbarkeit: Wäre das tatsächlich möglich gewesen? Die Antwort lautet: ja. Überraschenderweise sind Mosaik-Membranen, die aus verschiedenen Zusammensetzungen archaeeller und bakterieller Lipide bestehen, durchaus stabil; das wissen wir aus Laborexperimenten. Der graduelle Übergang von einer archaeellen zu einer bakteriellen Membran ist daher denkbar. Es gibt also keinen Grund, warum das nicht hätte passieren sollen, doch tatsächlich sind solche Übergänge sehr selten. Das bringt uns zum zweiten Aspekt – welche ungewöhnliche evolutionäre Kraft könnte einen solchen Wandel befördern? Die Antwort verbirgt sich im Endosymbionten. Bei dem chaotischen DNA-Transfer von den Endosymbionten zur Wirtszelle müssen die Gene für die bakterielle Lipidsynthese mit an Bord gewesen sein. Es ist davon auszugehen, dass die codierten Enzyme synthetisiert wurden und aktiv waren: Sie machten sich ans Werk und stellten bakterielle Lipide her, aber zu Beginn verlief diese Synthese vermutlich unkontrolliert. Was geschieht, wenn Lipide nach dem Zufallsprinzip synthetisiert werden? Wenn sie sich in Wasser bilden, fallen sie einfach als Lipidvesikel aus. Jeff Errington aus Newcastle hat aufgezeigt, dass sich echte Zellen genauso verhalten: Mutationen, die die Lipidsynthese in Bakterien erhöhen, führen zur Ausfällung innerer Membranen. Dies geschieht meist nahe bei dem Ort, an dem sie sich bilden, wobei die Membranen das Genom mit Stapeln aus „Lipidtaschen“ umgeben. So wie sich ein Penner, wenn auch unzureichend, mit Plastiktüten vor der Kälte zu schützen versucht, würden Stapel von Lipidtaschen dem Intron-Problem entgegenwirken, indem sie eine unvollkommene, weil durchlässige Barriere zwischen der DNA und den Ribosomen errichten. 241
Teil III: Komplexität
Diese Barriere müsste durchlässig sein, weil eine versiegelte Membran den Export der RNA zu den Ribosomen verhindern würde. Eine teilweise poröse Barriere würde den Export lediglich verlangsamen und dem Spleißosom auf diese Weise ein wenig mehr Zeit lassen, die Introns herauszuschneiden, bevor die Ribosomen ans Werk gingen. Anders gesagt: Ein sich zufällig bietender (aber vorhersagbarer) Ausgangspunkt bot der Selektion einen Lösungsansatz. Der Anfang war eine Schicht aus Lipidtaschen, die ein Genom umgab. Am Ende stand die Kernmembran, über und über bedeckt mit ihren kompliziert gebauten Poren. Die Morphologie der Kernmembran bestätigt diese Theorie. Lipidtaschen können, wie Plastiktüten, auch flach sein. Im Querschnitt hat eine flach gestrichene Plastiktüte zwei eng aneinanderliegende parallele Seiten – wie eine Doppelmembran. Das entspricht genau der Struktur der Kernmembran: Sie besteht aus einer Reihe abgeflachter, miteinander verbundener Vesikel, während sich die Kernporenkomplexe in die Zwischenräume schmiegen. Bei der Zellteilung zerfällt die Membran wieder in separate kleine Vesikel; anschließend wachsen sie und fügen sich wieder zusammen, um die Kernmembranen der beiden Tochterzellen zu bilden. Auch das Muster der Gene, die für Kernstrukturen codieren, ergibt aus dieser Perspektive einen Sinn. Hätte sich der Zellkern vor dem Erwerb der Mitochondrien entwickelt, so hätten die Gene der Wirtszelle für die Struktur seiner verschiedenen Komponenten – Kernporen, Kernlamina und Nukleolus – codieren müssen. Das ist aber nicht der Fall. Sie alle bestehen aus einer chimären Proteinmischung, wobei manche Proteine von Bakteriengenen codiert wurden, einige von Archaeengenen und der Rest von Genen, die sich nur bei Eukaryoten finden. Dieses Muster lässt sich nur erklären, wenn man davon ausgeht, dass der Zellkern nach dem Erwerb der Mitochon drien, infolge wilder Gentransfers, entstanden ist. Oft ist die Rede davon, dass die Evolution der eukaryotischen Zelle die Endosymbionten fast bis zur Unkenntlichkeit in Mitochondrien verwandelt habe. Dabei vergisst man leicht, dass die Wirtszelle eine noch dramatischere Wandlung vollzogen hat. Zu Beginn war sie ein einfaches Ar242
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chaeon und erwarb Endosymbionten. Diese bombardierten ihren ahnungslosen Wirt mit DNA und Introns, was die Evolution des Zellkerns antrieb. Und nicht nur des Zellkerns – damit einher ging auch die Entwicklung der Sexualität.
Der Ursprung der Sexualität Wie gesagt, ist die Sexualität sehr früh in der Evolution der Eukaryoten entstanden. Ich habe zudem vermutet, dass die Ursprünge der sexuellen Fortpflanzung etwas mit dem Intron-Bombardement zu tun gehabt haben könnten. Inwiefern? Fassen wir kurz zusammen, worum es hier geht. Echter Sex, wie ihn die Eukaryoten betreiben, beinhaltet die Verschmelzung von zwei Gameten (beim Menschen Spermium und Eizelle), wobei jeder Gamet eine Hälfte der normalen Chromosomenzahl besitzt. Sie und ich und die meisten anderen vielzelligen Eukaryoten sind diploid. Das heißt: Wir besitzen jeweils zwei Kopien unserer Gene – eine von jedem Elternteil. Genauer gesagt, besitzen wir zwei Kopien jedes einzelnen Chromosoms, die man als Schwesterchromosomen bezeichnet. Auf Schaubildern sehen Chromosomen immer so aus wie unwandelbare physische Strukturen, aber weit gefehlt. Bei der Bildung von Gameten werden die Chromosomen rekombiniert – Abschnitte des einen verbinden sich mit Abschnitten des anderen, sodass neue Genkombinationen enstehen, die es höchstwahrscheinlich noch nie zuvor gegeben hat (Abbildung 28). Geht man ein neues rekombinantes Chromosom Gen für Gen entlang, findet man einige Gene von der Mutter und einige vom Vater. Darauf werden die Chromosomen im Prozess der Meiose, eigentlich „Reduktionsteilung“, getrennt, wobei haploide Gameten mit jeweils nur einer Kopie jedes Chromosoms entstehen. Schließlich verschmelzen zwei Gameten mit ihren rekombinanten Chromosomen zur befruchteten Eizelle – zu einem neuen Individuum mit einer einzigartigen Kombination von Genen. Es ist keineswegs so, dass die Entstehung der Sexualität eine umfangreiche neu entwickelte Maschinerie erfordert hätte. Zur Rekom243
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Abbildung 28: Sexualität und Rekombination bei Eukaryoten Vereinfachte Darstellung des Fortpflanzungszyklus: die Verschmelzung zweier Keimzel len (Gameten), gefolgt von einer zweiphasigen Meiose mit Rekombination, aus der neue, genetisch verschiedene Gameten entstehen. Zwei Gameten mit jeweils einer einzelnen Kopie eines äquivalenten (aber genetisch verschiedenen) Chromosoms (A) verschmelzen zu einer Zygote mit zwei Kopien des Chromosoms (B). Zu beachten sind die schwarzen Balken, die entweder für eine schädliche Mutation oder eine vorteilhafte Variante spezi fischer Gene stehen. In der ersten Phase der Meiose lagern sich die Chromosen aneinan der und werden dupliziert, wobei vier äquivalente Kopien entstehen (C). Zwei oder mehr dieser Chromosomen werden dann rekombiniert (D). Abschnitte der DNA werden zwi schen den jeweiligen Chromosomen ausgetauscht; dabei entstehen neue Chromosomen mit Stücken des ursprünglich väterlichen und Stücken des ursprünglich mütterlichen Chromosoms (E). Bei einer zweifachen Reduktionsteilung werden diese Chromosomen getrennt und es ergibt sich ein neues Sortiment an Gameten (F und G). Wichtig: Zwei dieser Gameten sind jeweils identisch mit den ursprünglichen Gameten, aber die beiden anderen unterscheiden sich nun davon. Falls der schwarze Balken eine schädliche Muta tion anzeigt, hat die Sexualität hier einen Gameten ohne Mutationen erzeugt und einen mit zweien; Letzterer kann über die Selektion eliminiert werden. Falls hingegen der schwarze Balken eine vorteilhafte Variante anzeigt, hat die Sexualität beide in einem einzigen Gameten vereinigt und ermöglicht damit der Selektion, beide gleichzeitig zu bevorzugen. Kurz gesagt: Sexualität erhöht die Varianz (den Unterschied) zwischen Ga meten, womit sie sie für die Selektion besser erkennbar macht. Auf diese Weise werden Mutationen mit der Zeit eliminiert und vorteilhafte Varianten favorisiert.
244
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bination müssen sich die beiden Schwesterchromosomen längs aneinanderlegen. Dann werden jeweils Abschnitte der beiden Chromosomen zwischen sogenannten Crossover-Punkten ausgetauscht. Dieses physische Aneinanderlagern der Chromosomen und die Rekombination von Genen erfolgt beim lateralen Gentransfer auch in Bakterien und Archaeen, ist aber normalerweise nicht wechselseitig. Es dient der Reparatur beschädigter Chromosomen oder dem Wiederaufnehmen von Genen, die dem Chromosom durch Deletion verloren gegangen sind. Die molekulare Maschinerie ist im Wesentlichen die gleiche; die Unterschiede bei der Sexualität betreffen den Umfang und die Wechselseitigkeit. Sexuelle Fortpflanzung ist eine wechselseitige Rekombination, die das gesamte Genom einbezieht. Dazu gehören die Verschmelzung ganzer Zellen und der physische Transfer vollständiger Genome, was bei Prokaryoten so gut wie nie vorkommt. Im 20. Jahrhundert galt Sexualität als „Königsproblem“ der Biologie. Mittlerweile verstehen wir jedoch schon recht gut, wo ihre Vorteile liegen – zumindest in Relation zu einer strikt asexuellen Fortpflanzung (Klonen). Sexualität bricht starre Genkombinationen auf und ermöglicht der natürlichen Selektion, individuelle Gene zu „sehen“, all unsere Eigenschaften einzeln einer Prüfung zu unterziehen. Das hilft bei der Abwehr schwächender Parasiten sowie bei der Anpassung an sich verändernde Umwelten und fördert die Erhaltung der für eine Population notwendigen Variation. So wie mittelalterliche Steinmetze auch die in den Nischen der Kathedralen verborgenen Rückenansichten von Figuren ausarbeiteten, weil sie für Gott sichtbar blieben, erlaubt sexuelle Fortpflanzung dem allwissenden Auge der Selektion, ihre Werke Gen für Gen zu inspizieren. Sexualität verleiht uns flexible Chromosomen mit stets neuen Kombinationen von Genen (genauer Allelen44), was der natürlichen Selektion gestattet, mit nie dagewesener Genauigkeit zwischen Organismen zu differenzieren. Angenommen, auf einem Chromosom, das nie eine Rekombination durchläuft, sind 100 Gene aufgereiht. Die Selektion kann nur die Fitness des gesamten Chromosoms erkennen. Nehmen wir an, dass 245
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einige Gene auf diesem Chromosom ganz entscheidende Funktionen erfüllen – jegliche Mutation in ihnen würde fast umgehend zum Tode führen. Wichtig ist jedoch, dass Mutationen in weniger entscheidenden Genen für die Selektion praktisch unsichtbar sind. In diesen Genen können sich geringfügig schädliche Mutationen anhäufen, weil ihre negativen Auswirkungen durch die großen Vorteile der wenigen entscheidenden Gene ausgeglichen werden. Infolgedessen wird die Fitness des Chromosoms und des Individuums nach und nach geschwächt. Ungefähr das passiert bei dem männlichen Y-Chromosom – die praktisch nicht vorhandene Rekombinationsfähigkeit hat zur Folge, dass die meisten Gene langsam degenerieren; die Selektion wird nur die entscheidenden Gene erhalten. Am Ende kann das ganze Chromosom verloren gehen, wie es bei dem Mull-Lemming Ellobius lutescens der Fall war. Noch schlimmer wird es aber, wenn die Selektion mit Bevorzugung reagiert. Was geschieht, wenn eine seltene positive Mutation in einem entscheidenden Gen so vorteilhaft ist, dass dieses sich in der gesamten Population ausbreitet? Organismen, die die neue Mutation erben, dominieren und letztlich kommt es zur „Fixierung“ des Gens: Alle Organismen in der Population besitzen eine Kopie davon. Die natürliche Selektion kann jedoch nur das ganze Chromosom „sehen“, was bedeutet, dass die übrigen 99 Gene auf dem Chromosom mit auf die Reise gehen und ebenfalls fixiert werden. Dies ist eine Katastrophe. Angenommen, in der Population existieren zwei oder drei Versionen (Allele) von jedem Gen. Das ergibt zwischen 10 000 und 1 Million mögliche Allelkombinationen. Mit der Fixierung verschwindet die gesamte Variation – für die ganze Population bleibt nur noch die eine Kombination aus den 100 Genen erhalten, die sich zufällig auf demselben Chromosom wie das zuvor fixierte Gen befunden hatten. Dieser Variationsverlust ist ein Desaster. Und natürlich sind 100 Gene grob untertrieben – asexuelle Organismen besitzen viele Tausend Gene, denen allesamt in einem einzigen „Selective Sweep“ die Chance zur Variation entrissen wird. Die „effektive“ Populationsgröße schrumpft dramatisch, was das Aussterberisiko für asexuelle Populationen enorm erhöht.45 Genau dieses Schicksal ereilt die meisten ase246
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xuellen Organismen – nahezu alle klonalen Pflanzen und Tiere sterben innerhalb einiger Millionen Jahre aus. Diese beiden Prozesse – die Anhäufung geringfügig schädlicher Mutationen und der Verlust der Variation durch Selective Sweeps – werden unter den Oberbegriff selektive Interferenz gefasst. Ohne Rekombination beeinträchtigt die Selektion für bestimmte Gene die Selektion für andere. Durch das Erzeugen von Chromosomen mit unterschiedlichen Allelkombinationen – „flexiblen Chromosomen“ – ermöglicht sexuelle Fortpflanzung der Selektion, auf alle Gene getrennt einzuwirken. Dann kann die Selektion, wie Gott, all unsere Laster und Tugenden, Gen für Gen, erkennen. Das ist der große Vorteil der Sexualität. Sexualität hat aber auch gravierende Nachteile, weshalb sie lange als Königsproblem der Evolutionsbiologie galt. Sexuelle Fortpflanzung bricht die Allelkombinationen auf, die sich in einer bestimmten Umwelt als erfolgreich erwiesen haben, und verteilt damit willkürlich genau die Gene, die unseren Eltern von Nutzen waren. In jeder Generation wird das Gendeck neu gemischt, sodass die Chance, die exakte Kopie eines Genies, einen neuen Mozart hervorzubringen, gleich null ist. Noch schlimmer sind die „zweifachen Kosten der Sexualität“. Bei der Teilung einer klonalen Zelle produziert sie zwei Tochterzellen, von der jede wieder zwei Töchter produziert, und so fort. Die Population wächst exponentiell. Wenn eine sexuelle Zelle zwei Tochterzellen produziert, müssen diese zu einem neuen Individuum verschmelzen, das zwei weitere Tochterzellen produzieren kann. Demnach verdoppelt sich eine asexuelle Population mit jeder Generation, während die Größe einer sexuellen Population gleich bleibt. Statt überdies eine hübsche Kopie des eigenen Selbst zu klonen, ergibt sich bei der sexuellen Fortpflanzung das Problem, einen Sexualpartner zu finden, mit allen emotionalen (und finanziellen) Kosten, die daraus erwachsen. Zudem verursachen die Männchen selbst Kosten. Würde man sich selbst klonen, wären all jene aggressiven, aufgeplusterten Männchen überflüssig – mit ihren Kraft proben, gefächerten Schwänzen und dem Machogehabe in Sitzungs sälen. So entsetzliche Geschlechtskrankheiten wie Aids oder Syphilis würden der Vergangenheit angehören, ebenso wie genetische Schma247
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rotzer in Gestalt von Viren und „springenden Genen“, die unsere Genome mit unnützem Gerümpel überfrachten. Rätselhafterweise ist Sex unter Eukaryoten aber allgegenwärtig. Man könnte vermuten, dass die Vorteile die Kosten nur unter bestimmten Bedingungen aufwiegen. In gewissem Maße trifft das zu; so kommt es vor, dass sich Mikroben rund 30 Generationen lang asexuell teilen, um dann gelegentlichem Sex zu frönen – typischerweise unter Stress. Doch Sex ist viel weiter verbreitet, als vernünftig erscheint. Vermutlich liegt das daran, dass sich der letzte gemeinsame Vorfahr der Eukaryoten bereits sexuell fortpflanzte und alle seine Nachkommen es ihm daher gleichtaten. Viele Mikroorganismen haben zwar keinen regulären Sex mehr, doch nur sehr wenige haben ihre Sexualität vollständig eingebüßt, ohne anschließend auszusterben. Nie Sex zu haben, bedeutet also, hohe Kosten einzugehen. Ein ähnliches Argument sollte für die ersten Eukaryoten gelten. Diejenigen, die nie Sex hatten – wohl all jene, die die Sexualität nicht „erfanden“ –, gingen das hohe Risiko ein auszusterben. Doch hier stoßen wir erneut auf das Problem des lateralen Gentransfers, der insofern der Sexualität ähnelt, als er Gene rekombiniert und „flexible Chromosomen“ erzeugt. Bis vor Kurzem hielt man Bakterien noch für die Großmeister des Klonens. Sie vermehren sich exponentiell. Ohne jede Einschränkung würde ein einziges E.-coliBakterium, das sich alle 30 Minuten verdoppelt, in drei Tagen eine Kolonie mit der Masse der Erde produzieren. Tatsächlich kann E. coli aber noch viel mehr. Die Bakterien können ihre Gene austauschen, indem sie über lateralen Gentransfer neue Gene in ihre Chromosomen aufnehmen und unerwünschte abgeben. Die Gene der Bakterien, denen Sie eine Magen-Darm-Grippe verdanken, unterscheiden sich womöglich zu 30 Prozent von denen derselben „Spezies“ in Ihrer Nase. Demnach genießen Bakterien die Vorzüge der Sexualität (flexible Chromosomen) wie auch die Geschwindigkeit und Unkompliziertheit des Klonens. Da bei ihnen jedoch nicht ganze Zellen miteinander verschmelzen und sie nicht in zwei Geschlechtern auftreten, bleiben ihnen viele Nachteile der Sexualität erspart. Es sieht so aus, als hätten sie sich aus beiden Alternativen das Beste herausgesucht. 248
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
Warum also hat sich dann bei den ersten Eukaryoten aus dem lateralen Gentransfer die Sexualität entwickelt? Arbeiten der mathematischen Populationsgenetiker Sally Otto und Nick Barton weisen auf einen unseligen Dreierbund von Faktoren hin, der in auffälligem Zusammenhang mit den Bedingungen beim Ursprung der Eukaryoten steht: Die Vorteile der Sexualität sind am größten, wenn die Mutationsrate hoch und der Selektionsdruck stark ist und in einer Population eine hohe Variation auftritt. Sehen wir uns zunächst die Mutationsrate an. Bei asexueller Fortpflanzung verstärkt eine hohe Mutationsrate die Ansammlung geringfügig schädlicher Mutationen sowie den Verlust von Variation aufgrund Selective Sweeps – die selektive Interferenz nimmt zu. Bei einer frühen Intron-Invasion müssen die ersten Eukaryoten einer hohen Mutationsrate ausgesetzt gewesen sein. Wie hoch genau, lässt sich schwer eingrenzen, doch ein Modell könnte eine Antwort liefern. Ich arbeite an diesem Problem mit Andrew Pomiankowski und Jez Owen, einem Doktoranden mit Physikausbildung, der sich für diese großen Fragen der Biologie interessiert. Jez entwickelt gerade ein Computermodell, um herauszufinden, wo Sex gegenüber dem lateralen Gentransfer punkten kann. Hier kommt auch noch ein zweiter Faktor ins Spiel: die Genomgröße. Selbst wenn die Mutationsrate gleich bleibt – sagen wir, eine Letalmutation („tödliche Mutation“) pro 10 Milliarden DNA-Buchstaben –, lässt sich ein Genom nicht unendlich erweitern, ohne dass es zu irgendeiner Art von Mutational Meltdown kommt. Zellen mit einem Genom, das weniger als 10 Milliarden Buchstaben umfasst, kämen in diesem Fall davon, doch Zellen mit einem viel größeren Genom würden sterben, weil sie eine Letalmutation ereilen würde. Der Erwerb von Mitochondrien bei der Entstehung der Eukaryoten muss beide Probleme verschärft haben – so gut wie sicher erhöhte dies die Mutationsrate und ermöglichte eine massive Ausdehnung der Genomgröße um mehrere Zehnerpotenzen. Es kann durchaus sein, dass Sexualität die einzige Lösung für dieses Problem war. Im Prinzip könnte lateraler Gentransfer durch Rekombination eine selektive Interferenz verhindern, doch Jez’ Arbeiten legen nahe, dass dem Grenzen gesetzt sind. Je größer das Genom ist, 249
Teil III: Komplexität
desto schwieriger wird es, das „richtige“ Gen durch den lateralen Gentransfer zu erwischen – ein reines Zahlenspiel. Dass ein Genom über alle benötigten Gene verfügt und diese voll funktionsfähig sind, lässt sich nur gewährleisten, indem alle Gene erhalten bleiben und sie regelmäßig über das gesamte Genom hinweg rekombiniert werden. Das geht nicht mit lateralem Gentransfer, sondern nur mit Sex – „totalem Sex“, der die Rekombination über das ganze Genom umfasst. Wie stark ist der Einfluss der Selektion? Auch hier sind möglicherweise die Introns von Bedeutung. Bei modernen Organismen sind die klassischen Selektionsdrücke, die Sexualität begünstigen, Parasiteninfektionen und variable Umwelten. Selbst dann muss der Druck stark sein, damit Sexualität gegenüber Klonen den Vorzug erhält – beispielsweise müssen Parasiten weit verbreitet sein und den Organismus schwächen. Zweifellos galten diese Faktoren auch für die ersten Eukaryoten, aber diese mussten sich zudem schon früh einer schwächenden Intron-Invasion, also parasitischer Gene, erwehren. Warum sollten mobile Introns die Evolution von Sexualität antreiben? Weil eine Rekombination über das gesamte Genom hinweg die Varianz erhöht – dabei entstehen einige Zellen mit Introns an riskanten Stellen und andere mit Introns an weniger gefahrvollen Stellen. Dann kann die Selektion die übelsten Zellen ausmerzen. Lateraler Gentransfer ist nur Stückwerk und kann keine systematische Variation erzeugen, bei der manche Zellen ihre Gene reparieren, während andere überdurchschnittlich viele Mutationen davontragen. In seinem brillanten Buch Mendel’s Demon hat Mark Ridley Sexualität mit der neutestamentlichen Betrachtungsweise der Sünde verglichen: So wie Christus für die gesamten Sünden der Menschheit gestorben sei, könne die sexuelle Fortpflanzung die gesamten Mutationen einer Population in einem einzigen Sündenbock zusammenführen und diesen dann kreuzigen. Auch der Grad der Variation zwischen Zellen könnte mit Introns zusammenhängen. Sowohl Bakterien als auch Archaeen besitzen gewöhnlich ein einziges ringförmiges Chromosom, während Eukaryoten mehrere gestreckte Chromosomen haben. Warum? Eine simple Erklärung lautet: Introns können Fehler erzeugen, wenn sie sich ins 250
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Genom spleißen und wieder herausschneiden. Gelingt es ihnen nicht, die beiden Enden eines Chromosoms nach dem Herausschneiden wieder zu verbinden, entsteht eine Lücke im Chromosom. Eine einzelne Lücke in einem ringförmigen Chromosom ergibt ein gestrecktes Chromosom; mehrere Lücken ergeben mehrere gestreckte Chromosomen. Auf diese Weise könnten von mobilen Introns produzierte Rekombinationsfehler den frühen Eukaryoten zu mehrfachen gestreckten Chromosomen verholfen haben. Das bescherte den Eukaryoten höchstwahrscheinlich verheerende Probleme mit dem Zellzyklus. Die Zellen müssen jeweils unterschiedlich viele Chromosomen besessen haben, die jeweils verschiedene Mutationen oder Deletionen aufwiesen. Zudem übernahmen sie wohl neue Gene und DNA von ihren Mitochondrien. Kopierfehler hätten zweifellos zur Duplikation von Chromosomen geführt. Es ist schwer vorstellbar, was lateraler Gentransfer mit alldem zu tun haben könnte. Standardmäßige bakterielle Rekombination – das Aneinanderlagern von Chromosomen und das Aufladen fehlender Gene – hätte jedoch auf jeden Fall bewirkt, dass Zellen zur Anhäufung von Genen und Merkmalen neigten. Nur die sexuelle Fortpflanzung konnte funktionsfähige Gene ansammeln und nicht funktionierende loswerden. Diese Tendenz zum Ansammeln neuer Gene und DNA durch Sex und Rekombination ist eine einfache Erklärung für die Vergrößerung früher eukaryotischer Genome. Eine solche Genanhäufung muss einige Probleme mit genetischer Instabilität gelöst haben, während die energetischen Vorteile durch den Besitz von Mitochondrien bedeuteten, dass, anders als bei den Bakterien, keine Energiekrise zu erwarten war. All dies sind natürlich Spekulationen, doch die Möglichkeiten lassen sich mithilfe mathematischer Modelle eingrenzen. Wie gelang den Zellen die physische Teilung ihrer Chromosomen? Eine denkbare Antwort liefert die Maschinerie, die Bakterien zur Trennung großer Plasmide nutzen – mobile „Genkassetten“, die für Merkmale wie eine Antibiotikaresistenz codieren. Bei der Bakterienteilung werden große Plasmide üblicherweise an einem Gerüst aus Mikrotubuli (Proteinfilamenten) getrennt, das der von Eukaryoten genutzten Spindel ähnelt. Es ist gut vorstellbar, dass die Maschinerie 251
Teil III: Komplexität
zur Plasmidtrennung von frühen Eukaryoten mit Beschlag belegt wurde, um damit ihre vielfältigen Chromosomen zu teilen. Nicht nur Plasmide werden auf diese Weise getrennt – einige Bakterienarten teilen anscheinend auch ihre Chromosomen mithilfe relativ dynamischer Spindeln, statt dafür wie üblich die Zellmembran zu nutzen. Vielleicht verschaffen uns bessere Stichproben der prokaryotischen Welt mehr Hinweise darauf, wie die physischen Ursprünge der Chromosomenteilung durch Mitose und Meiose bei den Eukaryoten ausgesehen haben könnten. Das Verschmelzen von Zellen kommt bei Bakterien mit einer Zellwand, soweit wir wissen, praktisch nicht vor, bei einigen Archaeen allerdings schon. Der Verlust der Zellwand hätte die Wahrscheinlichkeit einer Fusion zweifellos erhöht; tatsächlich verschmelzen L-FormBakterien, die ihre Zellwand verloren haben, recht bereitwillig miteinander. Die Anzahl der Kontrollmechanismen in Bezug auf Zellfusion bei modernen Eukaryoten lässt auch darauf schließen, dass ihre Vorfahren kaum davon abgehalten werden konnten zu fusionieren. Es ist sogar möglich, dass frühe Fusionen von Mitochondrien gefördert wurden, wie der geniale Evolutionsbiologe Neil Blackstone dargelegt hat. Die Mitochondrien befanden sich in einer misslichen Lage. Als Endosymbionten konnten sie nicht ihre Wirtszellen verlassen und einfach in eine weitere eindringen – ihr eigener evolutionärer Erfolg hing vom Wachstum ihrer Wirte ab. Waren diese aufgrund von Mutationen geschädigt und nicht fähig zu wachsen, waren die Mitochondrien ebenfalls zur Untätigkeit verdammt und nicht in der Lage, sich auszubreiten. Was aber, wenn sie irgendwie die Fusion mit einer anderen Zelle anregen könnten? Das ist eine Win-win-Situation. Die Wirtszelle erwirbt ein komplementäres Genom und ermöglicht dadurch Rekombination oder einfach die Maskierung von Mutationen auf bestimmten Genen mit potenziell unversehrten Kopien der gleichen Gene – die Vorteile der Auszucht. Weil das Verschmelzen von Zellen das erneute Wachstum der Wirtszelle ermöglichte, konnten die Mitochondrien auch wieder sich selbst kopieren. Es ist also denkbar, dass die frühen Mitochondrien für Sex agitierten!46 Das hätte vielleicht ihr unmittelbares Problem gelöst, 252
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
aber ironischerweise zugleich ein neues, noch umfassenderes geschaffen: den Wettbewerb zwischen Mitochondrien. Seine Lösung war möglicherweise genau jener andere rätselhafte Aspekt der Sexualität – die Evolution von zwei Geschlechtern.
Zwei Geschlechter „Kein praktischer Biologe mit wissenschaftlichem Interesse an sexueller Fortpflanzung käme auf die Idee, eingehend die Konsequenzen für Organismen mit drei oder mehr Geschlechtern zu untersuchen; doch was sonst sollte er tun, um herauszufinden, warum es eigentlich immer zwei sind?“ So Ronald Fisher, einer der Gründerväter der Evolutionsgenetik. Die eindeutige Klärung des Problems steht noch aus. Theoretisch scheinen zwei Geschlechter die unvorteilhafteste aller denkbaren Lösungen zu sein. Stellen Sie sich vor, wir hätten alle das gleiche Geschlecht – dann könnten sich alle miteinander paaren. Mit einem Schlag hätten wir die Zahl unserer potenziellen Sexualpartner verdoppelt. Das würde doch bestimmt alles viel einfacher machen! Und wenn die Menschen aus irgendeinem Grund gezwungen wären, mehr als ein Geschlecht zu entwickeln, dann müssten drei oder vier besser als zwei sein. Auch wenn wir uns nur mit Vertretern anderer Geschlechter paaren könnten, wäre es dann möglich, sich mit zwei Dritteln oder drei Vierteln der Population fortzupflanzen statt nur mit einer Hälfte. Natürlich wären nach wie vor zwei Partner erforderlich, aber es gibt keinen triftigen Grund, warum diese Partner nicht vom selben Geschlecht oder mehreren anderen Geschlechtern oder auch Hermaphroditen sein dürften. Warum das problematisch wäre, verdeutlichen zum Teil die praktischen Schwierigkeiten beim Sex von Hermaphroditen: Keiner der Partner möchte die Kosten des „Weiblichseins“ tragen. Zwittrige Spezies wie Plattwürmer versuchen auf alle erdenklichen, teils bizarre Arten, die eigene Befruchtung zu verhindern, und tragen offene Schlachten mit ihren Penissen aus, wobei die Spermien klaffende Löcher in die Haut des Besiegten brennen. Das ist Naturgeschichte in Aktion, führt aber nicht über eine zirkuläre Argumentation hinaus, 253
Teil III: Komplexität
denn diese setzt bereits voraus, dass das Weiblichsein mit größeren biologischen Kosten einhergeht. Warum aber sollte das so sein? Wo liegt der eigentliche Unterschied zwischen männlich und weiblich? Die Kluft dazwischen ist tief und hat nichts mit X- und Y-Chromosomen zu tun, erst recht nicht mit Eizellen und Spermien. Zwei Geschlechter oder zumindest zwei Paarungstypen finden sich auch in einzelligen Eukaryoten, etwa in einigen Algen und Pilzen. Ihre Gameten sind mikroskopisch klein und die beiden Geschlechter lassen sich mit dem Auge nicht unterscheiden, führen aber dennoch zu einer Differenzierung wie der zwischen Mann und Frau. Eine der grundlegendsten Unterscheidungen zwischen den beiden Geschlechtern betrifft die Vererbung der Mitochondrien – das eine Geschlecht gibt seine Mitochondrien weiter, das andere nicht. Diese Unterscheidung gilt gleichermaßen für den Menschen (alle unsere Mitochondrien stammen von unserer Mutter, 100 000 an der Zahl in einer einzigen Eizelle) und für Algen wie Chlamydomonas. Obwohl solche Algen identische Gameten (oder Isogameten) produzieren, vererbt nur ein Geschlecht seine Mitochondrien; das andere muss die Demütigung hinnehmen, dass seine Mitochondrien von innen verdaut werden. Genauer gesagt: Die mitochondriale DNA wird verdaut. Problematisch sind offenbar die mitochondrialen Gene, nicht die morphologische Struktur. So sind wir mit der äußerst sonderbaren Situation konfrontiert, dass Mitochondrien allem Anschein nach für Sex streiten, wie wir soeben gesehen haben, dabei aber nicht herauskommt, dass sie sich von Zelle zu Zelle ausbreiten, sondern die Hälfte von ihnen verdaut wird. Was geht hier vor? Die drastischste Möglichkeit ist ein egoistischer Konflikt. Zwischen Zellen, die genetisch alle gleich sind, gibt es keine wirkliche Konkurrenz. So lassen sich unsere Zellen im Zaum halten, damit sie kooperieren und unseren Körper bilden. Alle unsere Zellen sind genetisch identisch – wir sind gigantische Klone. Genetisch verschiedene Zellen hingegen konkurrieren miteinander, wobei sich manche Mutanten (Zellen mit genetischen Veränderungen) zu Krebszellen entwickeln. Etwas ganz Ähnliches geschieht, wenn sich genetisch verschiedene Mitochondrien in derselben Zelle vermischen. Diejeni254
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gen Zellen oder Mitochondrien, die sich am schnellsten replizieren, setzen sich meistens durch, selbst wenn dies für den Wirtsorganismus schädlich ist, weil es eine Art mitochondrialen Krebs erzeugt. Das liegt daran, dass Zellen autonome selbst replizierende Einheiten sind und immer bereit zu wachsen und sich zu teilen, sobald sie die Gelegenheit dazu haben. Der französische Nobelpreisträger François Jacob hat einmal gesagt, jede Zelle träume davon, zwei Zellen zu werden. Überraschend ist nicht, dass das oft passiert, sondern dass sie lange genug in Schach gehalten werden können, um ein menschliches Wesen zu formen. Aus diesen Gründen spielt man gewissermaßen mit dem Feuer, wenn man zwei Populationen von Mitochon drien in ein und dieselbe Zelle sperrt. Diese Idee ist schon einige Jahrzehnte alt und trägt die Handschrift von einigen der berühmtesten Evolutionsbiologen, unter anderem die von Bill Hamilton. Sie ist jedoch nicht unumstritten. So gibt es bekanntermaßen einige Ausnahmen, bei denen sich Mitochondrien frei vermischen und dies nicht immer in einer Katastrophe endet. Zudem ergibt sich ein praktisches Problem. Nehmen wir an, eine mitochondriale Mutation geht mit einem replikativen Vorteil einher. Das mutierte Mitochondrium vermehrt sich stärker als der Rest. Das hat entweder tödliche Folgen, was bedeutet, dass die Mutanten gemeinsam mit der Wirtszelle sterben, oder nicht, sodass sich die Mutanten in der Population ausbreiten. Jegliche genetische Barriere gegen diese Ausbreitung (beispielsweise die Veränderung eines nukleären Gens, die das Vermischen der Mitochondrien verhindert) muss rasch errichtet werden, um den ersten Mutanten in flagranti zu erwischen und auszuschalten. Wenn nicht genau das richtige Gen zum richtigen Zeitpunkt aktiv wird, ist es zu spät. Wurde der Mutant bereits fixiert, war alles umsonst. Evolution ist blind und kann nicht in die Zukunft schauen. Sie sieht den nächsten mitochondrialen Mutanten nicht voraus. Und es gibt noch einen dritten Punkt, der mich vermuten lässt, dass sich rasch replizierende Mitochondrien gar nicht so schlimm sind – die Tatsache, dass Mitochondrien nur so wenige Gene behalten haben. Es mag viele Gründe dafür geben, doch einer ist sicherlich die auf Mitochondrien wir255
Teil III: Komplexität
kende Selektion für schnelle Replikation. Das bedeutet, dass es zahlreiche Mutationen gegeben hat, die die mitochondriale Replikation im Laufe der Zeit beschleunigt haben. Sie wurden durch die Evolution der beiden Geschlechter nicht eliminiert. Aus diesen Gründen hatte ich in einem früheren Buch eine neue Hypothese vorgelegt: Vielleicht hängt das Problem eher damit zusammen, dass sich die mitochondrialen Gene an die Gene im Nukleus anpassen müssen. Darauf gehe ich im nächsten Kapitel näher ein. Im Moment genügt folgende zentrale Feststellung: Damit die Atmung richtig funktioniert, müssen die Gene in den Mitochondrien und die im Zellkern miteinander kooperieren, und Mutationen im einen oder anderen Genom können die physische Fitness stark beeinträchtigen. Ich hatte die Vermutung, dass uniparentale Vererbung, bei der nur ein Elternteil seine Mitochondrien weitergibt, die Koadaptation der beiden Genome fördern könnte. Die Idee erscheint mir plausibel, aber dabei wäre es geblieben, wenn nicht Zena Hadjivasiliou, eine kluge Mathematikerin mit aufkeimendem Interesse an Biologie, bei mir und Andrew Pomiankowski promoviert hätte. Zena konnte tatsächlich aufzeigen, dass uniparentale Vererbung die Koadaptation der mitochondrialen und nukleären Genome fördert. Das hat ganz einfache Gründe und lässt sich an den Auswirkungen einer Stichprobenentnahme festmachen – ein Thema, das faszinierend vielgestaltig immer wieder von Belang ist. Angenommen, eine Zelle besitzt 100 genetisch verschiedene Mitochondrien. Man nimmt eins von ihnen, steckt es ganz allein in eine andere Zelle und kopiert es, bis man wieder 100 Mitochondrien hat. Abgesehen von ein paar Mutationen sind diese Mitochondrien alle miteinander identisch. Klone. Nun macht man das Gleiche mit dem nächsten Mitochondrium und fährt fort, bis man alle 100 kopiert hat. Jede der 100 neuen Zellen beherbergt nun eine andere Population von Mitochondrien, von denen einige gut, einige schlecht sind. Man hat die Varianz zwischen diesen Zellen erhöht. Hätte man einfach die ganze Zelle 100-mal kopiert, besäße jede Tochterzelle annähernd den gleichen Mix aus Mitochondrien wie die Elternzelle. Die natürliche Selektion könnte nicht zwischen ihnen differenzie256
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ren – sie wären einander zu ähnlich. Doch durch die Stichprobenentnahme und das Klonen der Stichprobe hat man ein Spektrum an Zellen erzeugt, von denen einige fitter als das Original sind und andere weniger fit. Dies ist ein extremes Beispiel, aber es verdeutlicht den Sinn der uniparentalen Vererbung. Indem sie nur einem der beiden Elternteile einige Mitochondrien entnimmt, erhöht die uniparentale Vererbung die Varianz der Mitochondrien zwischen befruchteten Eizellen. Diese größere Variation ist für die natürliche Selektion besser erkennbar, die die schlechtesten Zellen dann aussortieren kann, sodass die besseren übrig bleiben. Die Fitness der Population nimmt im Laufe der Generationen zu. Interessanterweise hat Sexualität im Grunde genau den gleichen Vorteil, doch diese erhöht die Varianz der nukleären Gene, während zwei Geschlechter die Varianz der Mitochondrien zwischen Zellen erhöhen. Oder so dachten wir zumindest. Unsere Studie beinhaltete den direkten Vergleich der Fitness mit und ohne uniparentale Vererbung; dabei hatten wir jedoch nicht berücksichtigt, was passieren würde, wenn ein Gen für uniparentale Vererbung in einer Population biparentaler Zellen, in der beide Gameten die Mitochondrien weitergeben, auftauchte. Würde es zur Fixierung des Gens kommen? In diesem Falle hätte man zwei Geschlechter geschaffen: Ein Geschlecht würde seine Mitochondrien vererben und beim anderen würden sie getötet. Wir erweiterten unser Modell, um diese Möglichkeit zu testen. Sicherheitshalber verglichen wir unsere Koadaptations-Hypothese mit den Ergebnissen aus einem egoistischen Konflikt, wie oben besprochen, sowie aus einer simplen Anhäufung von Mutationen.47 Die Resultate waren verblüffend und, zumindest anfänglich, enttäuschend. Das Gen breitete sich nicht aus, von Fixierung ganz zu schweigen. Das Problem war, dass die Fitnesskosten von der Anzahl der mutierten Mitochondrien abhängen: je mehr Mutanten, desto höhere Kosten. Andererseits ist auch der Nutzen der uniparentalen Vererbung von der Mutationslast abhängig, nun aber mit umgekehrten Vorzeichen: Je weniger Mutanten, desto geringerer Nutzen. Anders gesagt, sind Kosten und Nutzen der uniparentalen Vererbung nicht 257
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fix, sondern verändern sich mit der Zahl der Mutanten in der Population. Und die lässt sich mit nur wenigen Durchgängen uniparentaler Vererbung senken (Abbildung 29). Wir fanden heraus, dass uniparentale Vererbung die Fitness einer Population tatsächlich in allen drei Modellen verbesserte. Sobald sich aber das Gen für uniparentale Vererbung in einer Population auszubreiten beginnt, schwindet sein
Abbildung 29: Das „Aussickern“ von Fitnessvorteilen bei der Vererbung von Mitochondrien Ausgangspunkt sind Gameten mit unterschiedlichen Versionen (Allelen) eines bestimm ten Gens im Zellkern, bezeichnet als A und a. Gameten mit a geben ihre Mitochondrien weiter, wenn sie mit a-Gameten verschmelzen. Gameten mit A sind „uniparentale Mu tanten“: Verschmilzt ein A-Gamet mit einem a-Gameten, gibt nur der A-Gamet seine Mitochondrien weiter. Bei der ersten hier dargestellten Paarung verschmelzen ein AGamet und ein a-Gamet, wobei eine Zygote mit beiden nukleären Allelen (Aa) entsteht, aber alle Mitochondrien vom A-Gameten stammen. Enthält der a-Gamet einige defekte Mitochondrien (graue Färbung), werden diese durch die uniparentale Vererbung elimi niert. Die Zygote bringt nun zwei Gameten hervor, einen mit dem A-Allel und einen mit dem a-Allel. Beide verschmelzen jeweils mit einem a-Gameten, der defekte (graue) Mi tochondrien enthält. Bei der oberen Kreuzung erzeugen die A- und a-Gameten eine AaZygote, wobei alle Mitochondrien vom A-Gameten stammen und die defekten (grauen) Mitochondrien dadurch eliminiert werden. Bei der unteren Kreuzung verschmelzen zwei a-Gameten, und die defekten Mitochondrien werden an die aa-Zygote weitergegeben. Beide neuen Zygoten (Aa und aa) bilden danach Gameten. Die a-Mitochondrien sind nun in mehreren Durchgängen uniparentaler Vererbung „aufgereinigt“ worden. So wird die Fitness der biparentalen Gameten verbessert – der Fitnessvorteil „sickert“ durch die Po pulation und stoppt durch die Fixierung letztlich seine eigene Verbreitung.
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Nutzen, bis er von den Nachteilen ausgeglichen wird; der gravierendste Nachteil ist dabei, dass uniparentalen Zellen zur Paarung ein kleinerer Anteil der Population als vorher zur Verfügung steht. Der Tauschhandel erreicht ein Gleichgewicht, wenn knapp 20 Prozent der Population uniparental sind. Hohe Mutationsraten könnten den Anteil auf bis zu 50 Prozent der Population hochtreiben. Die andere Hälfte der Population könnte sich jedoch weiterhin untereinander paaren, sodass sich, wenn überhaupt, drei Geschlechter ausprägen. Unter dem Strich befördert die mitochondriale Vererbung nicht die Evolution von zwei Paarungstypen. Uniparentale Vererbung erhöht die Varianz zwischen Gameten, was die Fitness verbessert, doch dieser Vorteil allein ist nicht so gravierend, dass er zur Entwicklung von Paarungstypen führen würde. Nun – weil das meine eigene Idee unmittelbar widerlegte, gefiel es mir nicht sonderlich. Wir versuchten alles Erdenkliche, damit sie doch noch funktionierte, doch schließlich musste ich eingestehen, dass es keine realistischen Bedingungen gibt, unter denen ein uniparentaler Mutant die Evolution von zwei Paarungstypen bewirken könnte. Verschiedene Paarungstypen müssen sich aus einem anderen Grund entwickelt haben.48 Nichtsdestoweniger existiert uniparentale Vererbung. Unser Modell wäre schlichtweg falsch, wenn wir das nicht erklären könnten. Genau genommen zeigten wir: Wenn aus einem anderen Grund tatsächlich bereits zwei Paarungstypen existierten, dann könnten bestimmte Umstände – genauer, eine große Anzahl von Mitochondrien und eine hohe mitochondriale Mutationsrate – die uniparentale Vererbung fixieren. Diese Schlussfolgerung schien unstrittig zu sein, und unsere Erklärung war besser mit den bekannten Ausnahmen von uniparentaler Vererbung in der natürlichen Welt zu vereinbaren. So ließ sich auch begründen, warum uniparentale Vererbung unter vielzelligen Organismen praktisch universell ist, also unter Tieren wie uns, die im Allgemeinen sehr viele Mitochondrien und hohe Mutationsraten aufweisen. Dies ist ein schönes Beispiel für die Wichtigkeit mathematischer Populationsgenetik: Hypothesen müssen formal überprüft werden, mit allen erdenklichen Verfahren. In diesem Fall zeigte ein forma259
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les Modell eindeutig, dass sich uniparentale Vererbung nur dann in einer Population fixieren kann, wenn es bereits zwei Paarungstypen gibt. Damit waren wir einem strengen Beweis so nahe, wie uns möglich war. Doch es war noch nicht alles verloren. Die Grenze zwischen Paarungstypen und „echten“ Geschlechtern (bei denen sich männliche und weibliche Individuen deutlich unterscheiden) ist verschwommen. Viele Pflanzen und Algen haben sowohl Paarungstypen als auch Geschlechter. Vielleicht war unsere Definition von Geschlecht fehlerhaft und wir hätten eigentlich die Evolution von echten Geschlechtern statt von zwei vordergründig identischen Paarungstypen untersuchen sollen. Könnte uniparentale Vererbung die Differenzierung zwischen echten Geschlechtern bei Tieren und Pflanzen erklären? In diesem Falle hätten sich Paarungstypen möglicherweise aus anderen Gründen entwickelt, während die mitochondriale Vererbung die Evolution von echten Geschlechtern herbeigeführt hätte. Ehrlich gesagt, klang das nicht sehr überzeugend, aber es lohnte sich, einmal genauer hinzuschauen. Wir rechneten nicht im Geringsten mit der Offenbarung, die uns erwartete. Und diese Antwort ergab sich genau deshalb, weil wir eben nicht von der normalen Annahme ausgingen, uniparentale Vererbung sei universell, sondern von den enttäuschenden Ergebnissen unserer eigenen vorangegangenen Studie.
Unsterbliche Keimbahn, sterblicher Körper Tiere besitzen zahlreiche Mitochondrien, und wir nutzen sie ununterbrochen als Energielieferanten für unseren unter Strom stehenden Lebensstil; daraus folgen dann hohe mitochondriale Mutationsraten. Richtig? Mehr oder weniger. In jeder Zelle haben wir Hunderte oder Tausende Mitochondrien. Die genaue Mutationsrate kennen wir nicht (weil sich diese nicht direkt messen lässt), aber wir wissen, dass unsere Mitochondriengene über viele Generationen hinweg etwa 10- bis 50-mal schneller evoluieren als die Zellkerngene. Folglich sollte die Fixierung der uniparentalen Vererbung bei Tieren schnell erfolgen. In unserem Modell stellten wir in der Tat fest, dass uniparentale 260
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ererbung bei vielzelligen Organismen leichter fixiert wird als bei V einzelligen. Alles wie erwartet. Dabei vom Menschen auszugehen, kann uns jedoch schnell in die Irre führen. Die ersten Tiere waren nicht wie wir – sie glichen eher Schwämmen oder Korallen, sessilen, also festgewachsenen, Filtrierern, die sich, zumindest in adulter Form, nicht fortbewegen. Es überrascht nicht, dass sie nur wenige Mitochondrien besitzen und die Mutationsrate niedrig ist – auf jeden Fall niedriger als bei den nukleären Genen. An diesem Punkt setzte Arunas Radzvilavicius an, ein weiterer talentierter Physiker, den die großen Fragen der Biologie faszinieren. Man fragt sich allmählich, ob die interessantesten physikalischen Probleme mittlerweile in der Biologie angesiedelt sind. Arunas stellte fest, dass einfache Zellteilung in vielzelligen Organismen einen ähnlichen Effekt hat wie uniparentale Vererbung: Sie erhöht die Varianz zwischen Zellen. Wieso? Bei jedem Durchgang der Zellteilung wird die Population der Mitochondrien zufällig auf die Tochterzellen verteilt. Gibt es einige Mutanten, so ist die Wahrscheinlichkeit gering, dass sie genau gleich verteilt werden – viel wahrscheinlicher ist, dass die eine Tochterzelle einige Mutanten mehr erhält als die andere. Wiederholt sich das über viele Zellteilungsdurchgänge hinweg, ist das Ergebnis größere Varianz; einige Urururenkelzellen werden schließlich eine größere Mutationslast erben als andere. Ob das von Vorteil oder von Nachteil ist, hängt davon ab, welche Zellen die schlechten Mitochondrien erben und wie viele es davon gibt. Schauen wir einmal, wie das bei einem Schwamm ist, dessen Zellen sich alle sehr ähneln. Er besitzt nicht viele differenzierte Gewebe, die auf bestimmte Aufgaben spezialisiert sind, wie Hirn- und Darmgewebe. Wenn man einen lebenden Schwamm in Stückchen zerschneidet (machen Sie das bitte nicht zu Hause), kann er sich aus diesen Kleinteilen regenerieren. Das ist möglich, weil Stammzellen, die praktisch in allen Ecken lauern, sowohl neue Keimzellen als auch neue somatische Zellen (Körperzellen) hervorbringen können. In dieser Hinsicht ähneln Schwämme Pflanzen – beide trennen nicht schon früh in ihrer Entwicklung eine spezialisierte Keimbahn ab, 261
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sondern produzieren Gameten aus Stammzellen in zahlreichen Geweben. Dieser Unterschied ist entscheidend. Wir Menschen haben eine spezialisierte Keimbahn, die zu einem frühen Zeitpunkt der Embryonalentwicklung separiert und gut versteckt angelegt wird. Ein Säugetier würde normalerweise niemals Keimzellen aus Stammzellen in der Leber erzeugen. Schwämme, Korallen und Pflanzen hingegen können aus vielen verschiedenen Körperregionen neue Sexualorgane hervorbringen, die Gameten produzieren. Es gibt Erklärungen für diese Unterschiede, die auf dem Wettbewerb zwischen Zellen beruhen, aber sie sind nicht sehr überzeugend.49 Arunas fand heraus, dass all diese Organismen etwas gemeinsam haben: Sie weisen nur wenige Mitochondrien und eine niedrige mitochondriale Mutationsrate auf. Und die wenigen Mutationen, die tatsächlich auftreten, lassen sich durch Segregation eliminieren. Das geht folgendermaßen: Wie erwähnt, erhöhen mehrfache Durchgänge der Zellteilung die Varianz zwischen Zellen. Das gilt auch für Keimzellen. Wenn diese schon früh in der Entwicklung des Organismus abgespalten werden, können sie sich nicht stark voneinander unterscheiden – die wenigen Zellteilungsdurchgänge schaffen nicht viel Varianz. Werden Keimzellen aber zufällig aus adulten Geweben ausgewählt, bestehen viel größere Unterschiede zwischen ihnen (Abbildung 30). Mehrfache Runden der Zellteilung bedeuten, dass einige Keimzellen mehr Mutationen ansammeln als andere. Manche werden nahezu perfekt sein, andere ein Bild des Jammers – zwischen ihnen besteht eine hohe Varianz. Genau das braucht die natürliche Selektion: Nun kann sie alle schlechten Zellen aussortieren, sodass nur die guten überleben. Im Laufe der Generationen verbessert sich die Qualität der Keimzellen; diese zufällig aus adulten Geweben auszuwählen, funktioniert besser, als sie wegzusperren, sie also schon früh in der Entwicklung „auf Eis zu legen“. Demnach ist eine größere Varianz vorteilhaft für die Keimbahn, kann sich auf die Gesundheit eines adulten Organismus jedoch verheerend auswirken. Schlechte Keimzellen werden von der Selektion eliminiert, sodass die besseren zur Produktion der nächsten Generation übrig bleiben. Aber was ist mit schlechten Stammzellen, die neue adulte Gewebe hervorbringen? Diese werden häufig dysfunkti262
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Abbildung 30: Zufällige Segregation erhöht die Varianz zwischen Zellen Besitzt eine Zelle zu Beginn eine Mischung verschiedener Mitochondrientypen, die ver doppelt und dann ungefähr gleichmäßig auf zwei Tochterzellen verteilt werden, werden die Anteile bei jeder Zellteilung leicht variieren. Mit der Zeit verstärken sich diese Unter schiede, da jede Zelle eine zunehmend unterschiedliche Population von Mitochondrien enthält. Wenn die letzten Tochterzellen auf der rechten Seite zu Gameten werden, dann hat die wiederholte Zellteilung den Effekt, dass sie die Varianz zwischen den Gameten erhöht. Einige dieser Gameten haben eine sehr gute Qualität und einige eine sehr schlechte, womit sie für die natürliche Selektion besser sichtbar werden. Das ist genau der gleiche Effekt wie bei der uniparentalen Vererbung und eine rundum gute Sache. Wenn die Zellen auf der rechten Seite hingegen Progenitor- oder Vorläuferzellen sind, die neue Gewebe oder Organe entstehen lassen, dann hat diese erhöhte Varianz katast rophale Auswirkungen. Manche Gewebe werden gut funktionieren, während andere ver sagen, was die Fitness des gesamten Organismus untergräbt. Eine Möglichkeit, die Vari anz zwischen Gewebevorläuferzellen zu senken, ist die Erhöhung der Mitochondrienzahl in der Zygote, sodass ursprünglich viel mehr Mitochondrien auf die Tochterzellen aufge teilt werden. Das lässt sich durch die Vergrößerung der Eizelle erreichen, was zu „Aniso gamie“ (große Eizelle, kleines Spermium) führt.
onale Gewebe erzeugen, die möglicherweise nicht in der Lage sind, den Organismus zu erhalten. Die Fitness des gesamten Organismus hängt von der Fitness seines schwächsten Organs ab. Wenn ich einen Herzinfarkt erleide, spielt die Funktion meiner Nieren keine Rolle – meine gesunden Organe sterben gemeinsam mit dem Rest. Somit hat 263
Teil III: Komplexität
die Erhöhung der mitochondrialen Varianz in einem Organismus sowohl Vor- als auch Nachteile, und der Nutzen für die Keimbahn kann sehr wohl durch den Schaden für den Körper in seiner Gesamtheit aufgehoben werden. Wie stark dieser negative Effekt ist, hängt von der Anzahl der Gewebe und der Mutationsrate ab. Je mehr verschiedene Gewebe ein adulter Organismus aufweist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich alle besonders schädlichen Mitochondrien in einem lebensnotwendigen Gewebe ansammeln. Bei nur einer einzigen Gewebeart hingegen ist das kein Problem, da keine Wechselbeziehung besteht – es gibt keine Organe, deren Versagen die Funktion des gesamten Individuums gefährden. Bei einem einfachen Organismus mit einer einzigen Gewebeart ist eine höhere Varianz also zweifelsfrei von Vorteil. Sie wirkt sich günstig auf die Keimbahn und nicht besonders nachteilig auf den Körper aus. Wir sagten daher voraus, dass bei den ersten Tieren, mit (vermutlich) niedrigen mitochondrialen Mutationsraten und sehr wenig verschiedenen Gewebearten, biparentale Vererbung und keine abgespaltene Keimbahn vorgelegen haben sollte. Doch als die frühen Tiere ein wenig komplexer wurden und mehr unterschiedliche Gewebearten aufwiesen, hatte die erhöhte Varianz innerhalb des Körpers verheerende Folgen für die adulte Fitness, weil sie unausweichlich gute wie auch schlechte Gewebe hervorbrachte – das HerzinfarktSzenario. Um die adulte Fitness zu erhöhen, muss die mitochondriale Varianz gesenkt werden, damit alle entstehenden Gewebe ähnliche, überwiegend gute Mitochondrien erhalten. Die Varianz in adulten Geweben senkt man am einfachsten, indem man die Eizelle von Beginn an mit mehr Mitochondrien ausstattet. Statistisch gesehen ist die Varianz niedriger, wenn eine große Gründerpopulation auf zahlreiche Empfänger aufgeteilt wird, statt eine kleine Population wiederholt zu verdoppeln und dann auf die gleiche Zahl an Empfängern aufzuteilen. Unter dem Strich ist es also von Vorteil, die Eizelle zu vergrößern und immer mehr Mitochon drien hineinzupacken. Unseren Berechnungen zufolge verbreitet sich ein Gen, das für größere Eizellen codiert, in einer Population einfacher vielzelliger Organismen, weil es die Varianz zwischen adulten 264
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
Geweben senkt und so potenziell verheerende Unterschiede in der Funktion bereinigt. Andererseits ist eine geringere Varianz nicht gut für Gameten, die sich immer ähnlicher werden und daher für die natürliche Selektion nicht mehr so gut sichtbar sind. Wie lassen sich diese beiden widerstreitenden Tendenzen in Einklang bringen? Ganz einfach! Das Problem wird gelöst, wenn nur einer der beiden Gameten, nämlich die Eizelle, an Größe zunimmt, während die andere schrumpft und zum Spermium wird. Die große Eizelle senkt die Varianz zwischen den Geweben, was die adulte Fitness verbessert, während der Ausschluss der Mitochondrien aus dem Spermium letztlich zu uniparentaler Vererbung führt, bei der nur ein Elternteil seine Mitochondrien weitergibt. Wie erwähnt, erhöht die uniparentale Vererbung der Mitochondrien die Varianz zwischen den Gameten und verbessert auf diese Weise deren Fitness. Anders gesagt: Vom denkbar einfachsten Ausgangspunkt ausgehend, führt Anisogamie (unterschiedliche Gameten, Spermium und Eizelle) im Verbund mit der darauffolgenden uniparentalen Vererbung gemeinhin zu Organismen mit mehr als nur einer Gewebeart. Ich muss unterstreichen, dass die Voraussetzung all dessen eine niedrige mitochondriale Mutationsrate ist. Das ist bekanntermaßen bei Schwämmen, Korallen und Pflanzen der Fall, aber nicht bei den „höheren“ Tieren. Was geschieht, wenn die Mutationsrate ansteigt? Der Vorteil einer verzögerten Keimzellenproduktion ist nun aufgehoben. Unser Modell zeigt, dass sich Mutationen rasch anhäufen, sodass spät entwickelte Keimzellen mit Mutationen durchsetzt sind. Laut dem Genetiker James Crow sind das größte Gesundheitsrisiko aufgrund von Mutationen, dem eine Population ausgesetzt ist, zeugungsfähige alte Männer. Glücklicherweise sorgt die uniparentale Vererbung dafür, dass Männer ihre Mitochondrien grundsätzlich nicht weitergeben. Bei einer höheren Mutationsrate ist festzustellen, dass sich ein Gen für die frühe Abspaltung der Keimbahn in einer Population ausbreitet: Das Separieren einer früh entwickelten Keimbahn, wobei die weiblichen Gameten auf Eis gelegt werden, schränkt die Anhäufung mitochondrialer Mutationen ein. Ebenso sollten spezifische Anpassungen 265
Teil III: Komplexität
bevorzugt werden, die die Mutationsrate der Keimbahn senken. Wie mein Kollege John Allen gezeigt hat, werden Mitochondrien in der weiblichen Keimbahn anscheinend tatsächlich deaktiviert und in den ersten Eizellen, die während der frühen Embryonalentwicklung der Eierstöcke separiert werden, versteckt. Er behauptet schon seit Langem, die in Eizellen befindlichen Mitochondrien seien genetische „Schablonen“, die in inaktivem Zustand eine geringere Mutationsrate aufwiesen. Unser Modell bestätigt diese Annahmen für moderne schnelllebige Tiere mit zahlreichen Mitochondrien und sehr hohen Mutationsraten, aber nicht für ihre langsam lebigeren Vorfahren oder für weiter gefasste Gruppen wie Pflanzen, Algen und Protisten. Was bedeutet all dies? Es bedeutet erstaunlicherweise: Allein die mitochondriale Variation erklärt die Evolution vielzelliger Organismen mit Anisogamie (Spermien und Eizellen), uniparentaler Vererbung und einer Keimbahn, in der weibliche Keimzellen schon früh in der Entwicklung abgespalten werden – was zusammengenommen die Grundlage aller sexuellen Unterschiede zwischen männ lichen und weiblichen Organismen bildet. Die Vererbung von Mitochondrien kann, mit anderen Worten, die meisten realen physischen Unterschiede zwischen den beiden Geschlechtern erklären. Auch der egoistische Konflikt zwischen Zellen mag eine Rolle spielen, aber das ist nicht zwingend – die Evolution der KeimbahnSoma-Differenzierung lässt sich auch ohne Bezug auf egoistischen Konflikt nachvollziehen. Entscheidend ist, dass unser Modell eine Abfolge von Ereignissen spezifiziert, die ich zu Beginn nicht erwartet hätte. Ich hatte geglaubt, uniparentale Vererbung sei der ursprüngliche Zustand, danach werde sich die Keimbahn entwickeln und die Evolution von Spermium und Eizelle sei mit der Divergenz der beiden Geschlechter verknüpft. Stattdessen impliziert unser Modell, dass der ursprüngliche Zustand die biparentale Vererbung war; als Nächstes entstand Anisogamie (Spermium und Eizelle), dann die uniparentale Vererbung und zum Schluss die Keimbahn. Ist diese andere Reihenfolge korrekt? Noch gibt es zu beiden Alternativen kaum Informationen. Es ist jedoch eine explizite Vorhersage, die sich überprüfen lässt, und 266
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
das wird uns hoffentlich noch gelingen. Dabei sollte man zuerst bei Schwämmen und Korallen nachschauen. Beide Gruppen besitzen Spermien und Eizellen, aber keine abgespaltene Keimbahn. Würden sie eine entwickeln, wenn wir eine höhere mitochondriale Mutationsrate selektieren würden? Einige Schlussfolgerungen sollen das Bild abrunden. Warum sollte die mitochondriale Mutationsrate steigen? Ein erhöhter Umsatz von Zellen und Proteinen, der physische Aktivität anzeigt, würde dazu führen. Die Oxygenierung der Meere kurz vor der kambrischen Explosion begünstigte die Evolution aktiver bilateralsymmetrischer Tiere. Deren größere Aktivität hätte ihre mitochondriale Mutationsrate ansteigen lassen (die mithilfe phylogenetischer Vergleiche messbar ist), und das hätte bei diesen Tieren zur Abspaltung einer spezialisierten Keimbahn führen müssen. Das war der Ursprung der unsterblichen Keimbahn und des sterblichen Körpers – der Ursprung des Todes als geplantem und vorherbestimmtem Schlusspunkt. Die Keimbahn ist insofern unsterblich, als Keimzellen sich unendlich teilen können. Sie altern oder sterben nie. Jede Generation trennt früh in ihrer Entwicklung eine Keimbahn ab, die die Zellen hervorbringt, aus denen die nächste Generation erwächst. Einzelne Gameten können zwar Schädigungen davontragen, aber die Tatsache, dass Babys jung geboren werden, bedeutet, dass allein Keimzellen jenen Kern der Unsterblichkeit in sich tragen, den Organismen wie Schwämme offenbaren, indem sie sich aus kleinen Stückchen regenerieren. Sobald diese spezialisierte Keimbahn sicher im Verborgenen verstaut wird, kann sich der Rest des Körpers jeweils spezifischen Aufgaben widmen, ohne dadurch eingeschränkt zu werden, dass er unsterbliche Stammzellen erhalten muss. Zum ersten Mal tauchen Gewebe auf, die sich nicht regenerieren können, wie etwa das Gehirn. Das austauschbare Soma. Diese Gewebe haben eine begrenzte Lebensdauer, die davon abhängt, wie lange der Organismus braucht, um sich zu reproduzieren. Das wiederum ist davon abhängig, wie schnell das Tier die Geschlechtsreife erreicht, von seiner Entwicklungsgeschwindigkeit, seiner voraussichtlichen Lebensspanne. Erstmals ist der Tauschhandel zwischen Sexualität und Tod 267
Teil III: Komplexität
zu beobachten, die Wurzeln des Alterns. Damit beschäftigen wir uns im nächsten Kapitel. In diesem Kapitel haben wir die Auswirkungen der Mitochon drien auf die Eukaryotenzelle erkundet, von denen einige dramatischer Natur waren. Rufen wir uns noch einmal die zentrale Frage ins Gedächtnis: Warum entwickelten alle Eukaryoten eine ganze Reihe gemeinsamer Merkmale, die weder Bakterien noch Archaeen aufweisen? Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass Prokaryoten durch ihre Zellstruktur und insbesondere den Bedarf nach Genen, die die Atmung kontrollieren, eingeschränkt sind. Der Erwerb von Mitochondrien verwandelte die selektive Landschaft für die Eukaryoten, er ermöglichte die Ausdehnung ihres Zellvolumens und ihrer Genomgröße um vier oder fünf Zehnerpotenzen. Der Auslöser war die seltene Endosymbiose zwischen zwei Prokaryoten, fast schon ein verrückter Zufall, doch die Folgen waren sowohl schwerwiegend als auch vorhersagbar. Schwerwiegend, weil eine Zelle ohne Zellkern akut Gefahr läuft, von der DNA und den genetischen Parasiten (Introns) ihrer eigenen Endosymbionten überschwemmt zu werden. Vorhersagbar, weil sich die Reaktion der Wirtszelle in jeder Phase – der Entwicklung eines Zellkerns, der Sexualität, zweier Geschlechter und einer Keimbahn – von der Warte der klassischen Evolutionsgenetik aus nachvollziehen lässt, auch wenn der Ausgangspunkt ein sehr ungewöhnlicher ist. Einige der in diesem Kapitel vorgestellten Ideen werden sich vielleicht als falsch herausstellen, so wie meine Hypothese über die Entwicklung von zwei Geschlechtern. In diesem Falle erwies sich der bessere Einblick in die Zusammenhänge jedoch als viel ertragreicher als erhofft, weil er stattdessen die Keimbahn-Soma-Unterscheidung, die Ursprünge von Sexualität und Tod, erklärte. Die zugrunde liegende Logik, herausgearbeitet dank strenger mathematischer Modelle, ist zugleich schön und vorhersagbar. Mit großer Wahrscheinlichkeit verfolgt das Leben auch anderswo einen ähnlichen Weg zur Komplexität. Diese Sicht auf die vier Milliarden Jahre alte Geschichte des Lebens verortet die Mitochondrien mitten im Zentrum der Evolution eukary268
6 Sexualität und die Ursprünge des Todes
otischer Zellen. In den letzten Jahren ist die medizinische Forschung zu einer ganz ähnlichen Sichtweise gelangt: Nun geht man davon aus, dass Mitochondrien Phänomene wie den Zelltod (Apoptose), Krebs, degenerative Erkrankungen oder Fruchtbarkeit maßgeblich mitbestimmen. Meine Argumente dafür, dass Mitochondrien tatsächlich Dreh- und Angelpunkt der Physiologie sind, rufen jedoch den Unwillen einiger medizinischer Forscher hervor; man hält mir vor, ich lasse eine ausgewogene Sicht auf die Dinge vermissen. Schaue man sich eine menschliche Zelle unter dem Mikroskop an, sehe man ein wunderbar arbeitendes Getriebe, und die Mitochon drien seien nur ein, wenn auch wichtiges, Rädchen darin. Aber das ist nicht die Sichtweise der Evolution. Die Evolution betrachtet Mitochondrien als gleichwertige Partner beim Ursprung des komplexen Lebens. Alle eukaryotischen Merkmale, die gesamte Zellphysiologie, hat sich im darauffolgenden Tauziehen zwischen diesen beiden Partnern, den Mitochondrien und der eukaryotischen Zelle, entwickelt. Dieses Tauziehen hält bis zum heutigen Tage an. Im letzten Teil des Buches werden wir erfahren, inwiefern auf dieser Wechselbeziehung unsere Gesundheit, Fruchtbarkeit und Langlebigkeit beruht.
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Teil IV: Vorhersagen
7 Die Kraft und die Herrlichkeit
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hristus Pantokrator: Weltenherrscher. Selbst jenseits der orthodoxen Ikonografie kann es keine größere künstlerische Herausforderung geben als ein Porträt von Christus in seinen „beiden Naturen“, gleichzeitig Gott und Mensch, der strenge, aber liebende Richter der gesamten Menschheit. In seiner linken Hand trägt er vermutlich das Johannes-Evangelium. „Ich bin das Licht der Welt. Wer mir nachfolgt, wird nicht wandeln in Finsternis, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Angesichts dieser ernsten Aufgabe ist es nicht verwunderlich, dass der Pantokrator eher melancholisch blickt. Aus der Sicht des Künstlers reicht es nicht, den Geist Gottes in dem Gesicht eines Menschen einzufangen: Dies muss in Form eines Mosaiks geschehen, im Inneren eines Doms, hoch oben über dem Altar einer eindrucksvollen Kathedrale. Ich kann mir gar nicht vorstellen, welches Geschick es erfordert, die Perspektive genau richtig hinzubekommen, Licht und Schatten eines lebendigen Gesichts einzufangen, winzige Steinchen mit Bedeutung auszustatten, jedes Steinchen ohne Wissen um seinen Platz im großen Ganzen, aber doch entscheidend für den Gesamtentwurf. Ich bin mir völlig bewusst, dass kleine Fehler den ganzen Eindruck zerstören und dem Schöpfer einen unbeabsichtigt komischen Ausdruck verleihen können, doch wenn ein Werk so gelungen ist wie das in der Kathedrale von Cefalù auf Sizilien, erkennt selbst ein nicht religiöser Mensch 270
7 Die Kraft und die Herrlichkeit
das Antlitz Gottes, ein ewiges Denkmal für das Genie längst vergessener Kunsthandwerker.50 Ich bin nicht etwa dabei, in irgendeine unerwartete Richtung abzuschweifen. Mich fasziniert die Anziehung, die Mosaike auf den menschlichen Geist ausüben, und dazu parallel die erstaunliche Bedeutung von Mosaiken in der Biologie – könnte es eine unterbewusste Verbindung zwischen der Modularität von Proteinen und Zellen und unserem Sinn für Ästhetik geben? Unsere Augen bestehen aus Millionen von Fotorezeptoren, Stäbchen und Zapfen: Jeder Rezeptor wird durch einen Lichtstrahl an- oder abgeschaltet und erzeugt ein mosaikartiges Bild. Dieses Bild wird vor unserem geistigen Auge als neuronales Mosaik rekonstruiert, heraufbeschworen aus in einzelne Teile zerlegten Merkmales des Bildes – Helligkeit, Farbe, Kontrast, Kanten, Bewegung. Mosaike sprechen uns teilweise auch deshalb so an, weil sie die Realität für unseren Geist in einer ähnlichen Weise zerlegen. Zellen können dies tun, weil sie modulare Einheiten sind, lebende Kacheln, jede mit ihrem eigenen, entscheidend wichtigen Platz, ihrer eigenen Aufgabe, 40 Billionen kleine Einheiten, aus denen sich ein wunderbares dreidimensionales Mosaik aufbaut, ein menschliches Wesen. In der Biochemie reicht die Analogie mit einem Mosaik noch tiefer. Denken Sie zum Beispiel an Mitochondrien. Die großartigen respiratorischen Proteine, die Elektronen von organischer Substanz (Nahrung) auf Sauerstoff übertragen, während sie Protonen über die Mitochondrienmembran pumpen, sind Mosaike, die aus mehreren Untereinheiten bestehen. Die größte Untereinheit, Komplex I, besteht aus 45 separaten Proteinen, von denen jedes aus vielen Hundert, zu einer langen Kette verbunden Aminosäuren aufgebaut ist. Diese Komplexe gruppieren sich oft zu größeren Ensembles, sogenannten Superkomplexen, die Elektronen wie ein Trichter zum Sauerstoff lenken. Viele Tausend Superkomplexe, jeder von ihnen ein individuelles Mosaik, schmücken die majestätische Kathedrale des Mitochondriums. Die Qualität dieser Mosaike ist von entscheidender Bedeutung. Ein komischer Pankrator ist vielleicht nichts zum Lachen, doch kleine Fehler in der Position einzelner Teilchen in Atmungsproteinen 271
Teil IV: Vorhersagen
können eine Last sein, so schrecklich wie eine biblische Strafe. Wenn auch nur eine einzige Aminosäure – ein einziges Steinchen im ganzen Mosaik – nicht an der richtigen Stelle sitzt, kann das schwere Muskel- und Hirnschäden sowie einen frühen Tod zur Folge haben: eine mitochondriale Erkrankung. Der Schwergrad solcher Erbleiden und das Alter, in dem sie ausbrechen, lassen sich nur sehr schwer vorhersagen; sie hängen davon ab, welches „Mosaiksteinchen“ genau betroffen ist und wie oft, doch sie alle spiegeln die zentrale Stellung der Mitochondrien für unsere Existenz wider. Mitochondrien sind also Mosaike, und ihre Qualität ist eine Frage von Leben und Tod, aber das ist noch nicht alles. Wie der Pantokrator sind die Atmungsproteine insofern einzigartig, als dass sie „zwei Naturen“ haben, die mitochondriale und die nukleäre, und das sollte besser eine Verbindung sein, die im Himmel geschlossen wurde. Die eigenartige Anordnung der Atmungskette – der Zusammenschluss von Proteinen, die Elektronen von Nahrungsteilchen auf Sauerstoff überträgt – ist in Abbildung 31 dargestellt. Die meisten der Kern proteine in der inneren Mitochondrienmembran (dunkler schattiert) werden von Genen codiert, die in den Mitochondrien selbst liegen. Die übrigen Proteine (heller schattiert) werden von Genen im Zellkern (Nukleus) codiert. Diese seltsame Tatsache ist seit Anfang der 1970er-Jahre bekannt, als erstmals klar wurde, dass das mitochon driale Genom zu klein ist, um für die meisten Proteine zu codieren, die in den Mitochondrien zu finden sind. Die alte Vorstellung, dass Mitochondrien noch immer unabhängig von ihren Wirtszellen sind, ist daher Unsinn. Ihre scheinbare Autonomie – sie vermitteln den unheimlichen Eindruck, sich zu replizieren, wann immer es ihnen in den Sinn kommt – ist eine Illusion. Tatsache ist, dass ihre Funktion von zwei separaten Genomen abhängt. Sie können nur dann wachsen oder funktionieren, wenn sie vollständig mit Proteinen ausgerüstet sind, die von beiden Genomen codiert werden. Lassen Sie mich unterstreichen, wie seltsam das ist. Die Zellatmung – ohne die wir innerhalb weniger Minuten sterben würden – ist von mosaikartigen Atmungsketten abhängig, die sich aus Proteinen zusammensetzen, welche von zwei unterschiedlichen Genomen 272
7 Die Kraft und die Herrlichkeit
codiert werden. Um zum Sauerstoff zu gelangen, müssen Elektronen eine Atmungskette von einem „Redoxzentrum“ zum nächsten hinunterwandern. Gewöhnlich akzeptieren Redoxzentren nur jeweils ein einziges Elektron bzw. geben es weiter – das sind die Trittsteine, die wir in Kapitel 2 diskutiert haben. Die Redoxzentren sind tief ins Innere der respiratorischen Proteine eingebettet, wobei ihre genaue Position von der Struktur der Proteine abhängt, also von der Sequenz der Gene, die für die Proteine codieren, und damit von dem mitochondrialen wie dem nukleären Genom. Wie bereits erwähnt, wandern Elektronen mittels eines Effekts, der als Durchtunneln oder Quantentunneln bezeichnet wird. Sie erscheinen und verschwinden von jedem Zentrum mit einer Wahrscheinlichkeit, die von mehreren Faktoren abhängig ist – der „Zugkraft“ von Sauerstoff (genauer: dem Reduktionspotenzial des nächsten Redoxzentrums), dem Abstand
Abbildung 31: Die mosaikartig zusammengesetzte Atmungskette Proteinstruktur von Komplex I (links), Komplex III (Mitte links), Komplex IV (Mitte rechts) sowie der ATP-Synthase (rechts), alle eingebettet in die innere Membran der Mitochondrien. Die dunkleren, weitgehend in der Membran gelegenen Untereinheiten werden von Genen codiert, die in den Mitochondrien selbst liegen, während die helleren, meist peripher oder außerhalb der Membran gelegenen Untereinheiten von Genen codiert werden, die im Zellkern liegen. Diese beiden Genome werden im Rahmen der Evo lution auf ganz unterschiedliche Weise übermittelt – die mitochondrialen Gene werden asexuell von der Mutter zur Tochter weitergegeben, während Zellkerngene in jeder Ge neration durch sexuelle Fortpflanzung neu gemischt (rekombiniert) werden; zudem sammeln mitochondriale Gene (bei Tieren) Mutationen mit einer Geschwindigkeit ein, die die Rate bei nukeären Genen bis um das Fünfzigfache übersteigen kann. Trotz dieser Neigung zur Auseinanderentwicklung gelingt es der natürlichen Selektion in der Regel, dysfunktionale Mitochondrien zu eliminieren und über Milliarden Jahre eine annähernd perfekte mitochondriale Funktion sicherzustellen.
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Teil IV: Vorhersagen
zwischen benachbarten Redoxzentren und der Belegung (ob das nächste Zentrum bereits von einem Elektron besetzt ist). Der genaue Abstand zwischen Redoxzentren ist entscheidend wichtig. Quantentunneln findet nur über sehr kurze Entfernungen von rund 14 Å statt (erinnern Sie sich daran, dass ein Ångström [Å] etwa dem Durchmesser eines Atoms entspricht). Redoxzentren, die weiter getrennt sind, könnten genauso gut unendlich weit voneinander entfernt sein, da die Wahrscheinlichkeit, dass ein Elektron den Abstand zwischen ihnen überwindet, gegen null geht. Innerhalb des kritischen Bereichs hängt die Rate des Überspringens vom Abstand der beiden Zentren ab. Und der hängt wiederum davon ab, wie die beiden Genome miteinander interagieren. Mit jedem Ångström Entfernung zwischen Redoxzentren sinkt die Geschwindigkeit des Elektronentransfers etwa um einen Faktor 10. Lassen Sie es mich noch einmal sagen: Die Rate des Elektronentransfers nimmt pro 1 Å zusätzlichem Abstand zwischen Redoxzentren um das Zehnfache ab! Das entspricht in etwa der Größenordnung elektrischer Wechselwirkungen zwischen benachbarten Atomen, beispielsweise den „Wasserstoffbindungen“ zwischen negativ und positiv geladenen Aminosäuren in Proteinen. Wenn eine Mutation die Identität einer Aminosäure in einem Protein verändert, kann es zum Bruch alter oder zur Bildung neuer Wasserstoffbindungen kommen. Ganze Geflechte von Wasserstoffbindungen können sich ein wenig verschieben, einschließlich solcher, die ein Redoxzentrum in seiner korrekten Position halten. Es könnte sich durchaus um rund ein Ångström verlagern. Die Folgen solcher geringfügigen Verlagerungen werden durch Quantentunneln vergrößert: Ein Ångström in dieser oder jener Richtung könnte den Elektronentransfer um eine Zehnerpotenz verlangsamen oder beschleunigen. Das ist einer der Gründe, warum mitochondriale Mutationen so katastrophale Auswirkungen haben können. Diese prekäre Anordnung wird dadurch verschärft, dass das mitochondriale und das nukleäre Genom kontinuierlich divergieren (auseinanderstreben). Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, dass die Evolution von Sex und von zwei Geschlechtern vermutlich 274
7 Die Kraft und die Herrlichkeit
mit dem Erwerb von Mitochondrien in Zusammenhang steht. Um die Funktion individueller Gene in großen Genomen aufrechtzuerhalten, ist geschlechtliche Fortpflanzung nötig, während zwei Geschlechter helfen, die Qualität der Mitochondrien zu erhalten. Die unvorhergesehene Konsequenz war, dass sich diese beiden Genome evolutionär völlig unterschiedlich entwickelten. Die Gene im Zellkern werden durch Sex in jeder Generation neu kombiniert, während die mitochondrialen Gene via Eizelle von Mutter zu Tochter weiterge geben werden und es selten, wenn überhaupt, zur Rekombination kommt. Noch schlimmer, evoluieren Mitochondriengene, was die Rate ihrer Sequenzveränderung im Lauf von Generationen angeht, 12- bis 15-mal schneller als Zellkerngene, zumindest im Tierreich. Das bedeutet, dass Proteine, die von mitochondrialen Genen codiert werden, vergleichsweise rascher und in anderer Weise verändert werden als Proteine, die von Genen im Kern codiert werden; dennoch müssen beide über Ångström-Distanzen miteinander in Wechselwirkung treten, damit der Elektronentransfer über die Atmungskette klappt. Man kann sich kaum ein umständlicheres Arrangement für einen Prozess vorstellen, der für das Leben eine so zentrale Stellung einnimmt – Atmung, die Lebenskraft! Wie konnte es zu so einer Situation kommen? Es gibt nur wenige bessere Beispiele für die Kurzsichtigkeit der Evolution. Diese verrückte Lösung war wahrscheinlich unausweichlich. Erinnern Sie sich an den Ausgangspunkt – Bakterien, die im Inneren anderer Bakterien leben. Wir haben gesehen, dass komplexes Leben ohne eine solche Endosymbiose unmöglich ist, denn nur autonome Zellen sind in der Lage, überflüssige Gene zu verlieren, sodass letztlich nur solche Gene übrig bleiben, die nötig sind, um die Atmung lokal zu kontrollieren. Das klingt durchaus vernünftig, doch die einzige Grenze für Genverlust setzt die natürliche Selektion – und die Selektion wirkt sowohl auf die Wirtzellen als auch auf die Mitochon drien. Was führt zu Genverlust? Zum Teil einfach die Replikationsgeschwindigkeit: Die Bakterien mit den kleinsten Genomen vermehren sich am schnellsten, was im Lauf der Zeit in der Regel dazu führt, dass sie dominieren. Die Replikationsgeschwindigkeit kann 275
Teil IV: Vorhersagen
jedoch nicht den Transfer von Genen in den Kern erklären, lediglich den Verlust von Genen aus den Mitochondrien. Im vorangegangenen Kapitel haben wir gesehen, warum mitochondriale Gene in den Kern gelangen – einige Mitochondrien sterben ab und schütten ihre DNA in die Wirtszelle aus, die sie in ihren Kern aufnimmt. Das lässt sich kaum stoppen. Ein Teil dieser DNA im Kern erwirbt nun eine Zielsequenz, einen Adresscode, der das Protein zurück zu den Mitochondrien schickt. Das mag sich grotesk anhören, doch es trifft tatsächlich für fast alle der 1500 bekannten Proteine zu, deren Ziel die Mitochondrien sind; offensichtlich ist es nicht so schwierig. Es muss eine Übergangssituation geben, bei der Kopien desselben Gens gleichzeitig in den überlebenden Mitochondrien und im Kern vorhanden sind. Letztlich geht eine der beiden Kopien verloren. Mit Ausnahme der 13 Proteincodierenden Gene, die unseren Mitochondrien verblieben sind (< 1 Prozent ihres ursprünglichen Genoms), blieb die nukleäre Kopie erhalten, und die mitochondriale Kopie zog den Kürzeren. Das klingt nicht nach Zufall. Warum wird die nukleäre Kopie bevorzugt? Es gibt mehrere plausible Gründe, aber noch keine überzeugende Antwort. Ein möglicher Grund ist die männliche Fitness. Da Mitochondrien in der weiblichen Linie, von Mutter zu Tochter, weitergegeben werden, ist es nicht möglich, mitochondriale Varianten zu selektieren, die die männliche Fitness begünstigen, denn sämtliche Gene in den männlichen Mitochondrien, die zufällig die männliche Fitness steigern, werden ja nicht weitergegeben. Ein Transfer dieser mitochondrialen Gene in den Zellkern, wo sie von beiden Geschlechtern weitergegeben werden, könnte daher die männliche wie auch die weibliche Fitness verbessern. Gene im Zellkern werden darüber hinaus in jeder Generation durch geschlechtliche Fortpflanzung neu gemischt, was die Fitness unter Umständen noch weiter steigert. Und dann ist da noch die Tatsache, dass mitochondriale Gene rein physisch Platz brauchen, der sich besser durch die Atmungsmaschinerie oder andere Prozesse nutzen ließe. Und schließlich entstehen bei der Atmung freie Radikale, die bei der benachbarten mitochon276
7 Die Kraft und die Herrlichkeit
drialen DNA Mutationen auslösen könnten; wir werden später noch auf die Auswirkungen freier Radikale auf die Zellphysiologie zurückkommen. Alles in allem gibt es sehr gute Gründe dafür, dass Gene aus den Mitochondrien in den Kern transferiert wurden; so gesehen ist es erstaunlicher, dass überhaupt Gene in den Mitochondrien verblieben sind. Warum ist das so? Die ausgleichende Kraft, die wir in Kapitel 5 diskutiert haben, ist die Erfordernis, dass Gene die Atmung lokal kontrollieren. Erinnern Sie sich, dass das elektrische Potenzial über der dünnen inneren Mitochondrienmembran 150–200 Millivolt beträgt, was einer Feldstärke von 30 Millionen Volt pro Meter entspricht, äquivalent einem Blitzschlag. Gene sind nötig, um dieses kolossale Membranpotenzial in Antwort auf Veränderungen von Elektronenfluss, Sauerstoffangebot, ADP- und ATP-Verhältnis, Anzahl der respiratorischen Proteine usw. zu kontrollieren. Wenn ein Gen, das benötigt wird, um die Atmung in dieser Weise zu kontrollieren, in den Kern transferiert wird und es seinem Proteinprodukt nicht gelingt, rechtzeitig zurück in die Mitochondrien zu gelangen, um eine Katastrophe zu verhindern, dann endet das natürliche „Experiment“ genau an dieser Stelle. Tiere (und Pflanzen), die dieses spezielle Gen nicht an den Kern weitergaben, überleben, während diejenigen, die das falsche Gen transferierten, mitsamt ihrer misskonfigurierten Gene sterben. Die Selektion ist blind und gnadenlos. Ständig werden Gene aus den Mitochondrien in den Kern weitergegeben. Entweder das neue Arrangement ist von Vorteil und das Gen bleibt in seinem neuen Zuhause, oder die Sache funktioniert nicht – dann ist die Strafe nicht selten der Tod. Letztlich gingen fast alle mitochondrialen Gene verloren oder wurden in den Kern transferiert, sodass nur eine Handvoll wichtiger Gene in den Mitochondrien verblieb. Das ist die Basis unserer mosaikartig zusammengesetzten Atmungskette – blinde Selektion. Sie funktioniert. Ich bezweifle, dass ein intelligenter Ingenieur einen solchen Entwurf vorgelegt hätte, doch vermutlich war es angesichts der Notwendigkeit einer Endosymbiose zwischen Bakterien der einzige Weg für die natürliche Selektion, eine komplexe Zelle zu 277
Teil IV: Vorhersagen
entwickeln. Diese umständliche Lösung war notwendig. In diesem Kapitel wollen wir die Konsequenzen der mosaikartigen Mitochon drien untersuchen: In welchem Maße erlaubt diese Notwendigkeit, die Merkmale komplexer Zellen vorauszusagen? Ich möchte zeigen, dass die Selektion von mosaikartigen Mitochondrien tatsächlich einige der verblüffendsten gemeinsamen Merkmale aller Eukaryoten erklären kann. Von uns allen. Zu den vorhergesagten Ergebnissen der Selektion gehören Auswirkungen auf unsere Gesundheit, unsere Fitness, Fruchtbarkeit und Langlebigkeit, selbst auf unsere Geschichte als Spezies.
Die Entstehung der Arten Wie und wo greift die Selektion an? Wir wissen, dass sie es tut. Viele Gensequenzen zeigen eindeutige Beweise für eine lange Geschichte der Selektion, die auf eine Koadaptation mitochondrialer und nukleärer Gene hinwirkt. Die beiden Gensätze ändern sich in korrespondierender Weise. Wir können die Veränderungsraten mitochondrialer und nukleärer Gene im Lauf der Zeit vergleichen – beispielsweise über die Millionen Jahre, die Schimpansen von Menschen oder Gorillas trennen. Wir sehen sofort, dass sich die Gene, die direkt miteinander interagieren – zum Beispiel diejenigen, die für Proteine in der Atmungskette codieren –, etwa mit derselben Geschwindigkeit verändern, während andere Gene im Kern generell sehr viel langsamer evoluieren. Eine Veränderung in einem mitochondrialen Gen führt in der Regel einfach zu einer kompensatorischen Veränderung bei einem interagierenden nukleären Gen oder umgekehrt. Daher wissen wir, dass Selektion in irgendeiner Form stattgefunden hat; die Frage ist nur, welche Prozesse solche Koadaptionen geformt haben. Die Antwort liegt in der Biophysik der Atmungskette selbst. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn das mitochondriale und das nukleäre Genom nicht richtig zusammenpassen. Die Elektronen treten wie gehabt in die Atmungskette ein, doch die nicht aufeinander abgestimmten Genome codieren für Proteine, die nicht gut zusammenarbeiten. Dadurch werden einige elektrische Interaktionen zwischen Amino278
7 Die Kraft und die Herrlichkeit
säuren (Wasserstoffbindungen) gestört, was zur Folge hat, dass ein oder zwei Redoxzentren nun vielleicht ein Ångström mehr Abstand haben als normal. Infolgedessen wandern die Elektronen nur mit einem Bruchteil ihrer normalen Geschwindigkeit die Atmungskette hinab zum Sauerstoff. Sie beginnen, sich in den ersten beiden Redoxzentren anzusammeln und kommen nicht weiter, weil die weiter abwärts gelegenen Redoxzentren bereits besetzt sind. Die Atmungskette wird stark reduziert, das heißt, die Redoxzentren füllen sich mit Elektronen (Abbildung 32). Die ersten paar Redoxzentren sind EisenSchwefel-Cluster. Das Eisen wird von der Fe3+- in die Fe2+-Form verwandelt (oder wie man sagt, zu Fe2+ reduziert), die direkt mit Sauerstoff zu einem negativ geladenen Superoxid-Radikal O2.- reagieren kann. Der Punkt symbolisiert hier ein einzelnes ungepaartes Elek tron, das definierende Merkmal eines freien Radikals. Und damit gelangt der Fuchs in den Hühnerstall. Es gibt in diesem Zusammenhang verschiedene Mechanismen; vor allem das Enzym Superoxid-Dismutase ist es, das rasch eine Akkumulation von Superoxid-Radikalen auflöst. Die Menge an solchen Enzymen ist jedoch sorgfältig abgestimmt. Zu viel würde das Risiko bergen, ein höchst wichtiges lokales Signal zu inaktivieren, das ein wenig wie ein Feueralarm arbeitet. Freie Radikale wirken wie Rauch: Damit, dass man den Rauch eliminiert, ist das Problem noch nicht gelöst. In diesem Fall besteht die Schwierigkeit darin, dass zwei Genome nicht optimal zusammenarbeiten. Der Elektronenfluss ist gestört, und das erzeugt Superoxid-Radikale – ein Rauchzeichen.51 Oberhalb einer gewissen Schwelle oxidieren freie Radikale nahe gelegene Membranlipide, vor allem Cardiolipin, was zur Freisetzung des Atmungsproteins Cytochrom c führt, das normalerweise locker an Cardiolipin gebunden ist. Das bringt den Fluss der Elektronen völlig zum Erliegen, denn sie müssen Cytochrom c als „Trittstein“ benutzen, um zum Sauerstoff zu gelangen. Entfernt man Cytochrom c, so können die Elektronen das Ende der Atmungskette nicht mehr erreichen. Ohne Elektronenfluss steht auch die Protonenpumpe still, und das heißt, dass das elektrische Membranpotenzial bald kollabieren wird. Daher haben wir es mit drei Veränderungen des Elektronen279
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flusses in der Atmungskette zu tun: Erstens verlangsamt sich der Elektronenfluss, und daher sinkt auch die Rate der ATP-Synthese. Zweitens reagieren die stark reduzierten Eisen-Schwefel-Cluster mit Sauerstoff, sodass eine Vielzahl freier Radikale entsteht, was wiederum Cytochrom c von seiner Anbindung an die Membran löst. Und drittens: Wenn nichts getan wird, um diese Veränderungen zu kompensieren, kollabiert das Membranpotenzial (Abbildung 32). Ich habe gerade eine seltsame Reihe von Umständen beschrieben, die Mitte der 1990er-Jahre entdeckt und damals mit „allgemeiner Verblüffung“ registriert wurden. Dies ist der Auslöser für den programmierten Zelltod, die Apoptose. Wenn eine Zelle eine Apoptose durchmacht, begeht sie im Rahmen eines sorgfältig choreografierten Balletts, des zellulären Äquivalents des sterbenden Schwans, Selbstmord. Statt einfach auseinanderzufallen und zu
Abbildung 32: Mitochondrien und Zelltod A zeigt den normalen Elektronenfluss die Atmungskette hinab zum Sauerstoff (welliger Pfeil), wobei der Strom von Elektronen die Protonenextrusion durch die Membran an treibt und der Protonenfluss durch die ATP-Synthase (rechts) seinerseits die ATP-Syn these antreibt. Die hellgraue Farbe der drei Atmungsproteine in der Membran zeigt an, dass die Komplexe nicht stark reduziert sind, da sich Elektronen nicht in den Komplexen ansammeln, sondern rasch an den Sauerstoff weitergereicht werden. B zeigt die konzer tierten Effekte eines verlangsamten Elektronenflusses als Resultat einer Inkompatibilität zwischen mitochondrialem und nukleärem Genom. Ein langsamer Elektronenfluss führt zu einem geringeren Sauerstoffkonsum, einer geringeren Protonenpumpleistung, sin kendem Membranpotenzial (weil weniger Protonen gepumpt werden) und einem Zusam menbruch der ATP-Synthese. Die Akkumulation von Elektronen in der Atmungskette wird durch die dunklere Schattierung der Proteinkomplexe angezeigt. Der stark redu zierte Zustand von Komplex I erhöht die Reaktivität mit Sauerstoff, was zur Bildung von freien Radikalen wie Superoxid (O2.- führt.. C: Wenn das Problem nicht innerhalb von Minuten gelöst wird, reagieren die freien Radikale mit den Membranlipiden einschließ lich Cardiolipin, was die Freisetzung von Cytochrom c nach sich zieht (dem kleinen Pro tein, das in A und B locker mit der Membran assoziiert ist und nun in C freigesetzt wird). Der Verlust von Cytochrome c unterbindet den Elektronenfluss zum Sauerstoff völlig, was dazu führt, dass die respiratorischen Komplexe noch stärker reduziert werden (nun schwarz abgebildet), der Austritt freier Radikale steigt und das Membranpotenzial sowie die ATP-Synthese kollabieren. Gemeinsam setzen diese Faktoren den programmierten Zelltod in Gang und führen zur Apoptose.
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verrotten, wird bei der Apoptose von innen heraus eine ganze Armee von Proteinexekutoren, proteolytische Enzyme, sogenannte Caspasen, in Gang gesetzt. Diese zerstückeln die Riesenmoleküle der Zelle – DNA, RNA, Kohlenhydrate und Proteine. Die Zellfragmente werden in kleinen Membranpäckchen oder Bläschen abgeschnürt und an umliegende Zellen verfüttert. Innerhalb weniger Stunden sind alle Hinweise auf die frühere Existenz der Zelle verschwunden, so gründlich aus der Geschichte getilgt wie eine KGBVertuschung am Bolschoi. Eine Apoptose erscheint im Kontext eines vielzelligen Organismus durchaus sinnvoll. Es ist notwenig, Gewebe während der Em bryonalentwicklung „auszudünnen“ sowie geschädigte Zellen zu entfernen und zu ersetzen. Was eine große Überraschung war, war die zentrale Rolle der Mitochondrien, vor allem des Bona-fide-Atmungsproteins Cytochrom c. Warum in aller Welt sollte der Verlust von Cytochrom c aus den Mitochondrien als Signal für den Zelltod dienen? Seit Entdeckung dieses Mechanismus hat sich das Rätsel nur noch vertieft. Wie sich inzwischen herausgestellt hat, ist dieselbe Folge von Ereignissen – fallender ATP-Spiegel, Aussickern von freien Radikalen, Verlust von Cytochrom c und Zusammenbruch des Membranpotenzials – über alle Eukaryoten konserviert. Pflanzenzellen und Hefen begehen auf exakt dasselbe Signal hin Selbstmord. Das hatte niemand erwartet. Dieses Phänomen ergibt sich jedoch als unausweichliche Konsequenz der Selektion für zwei Genome aus den Grundprinzipien – es ist als universelle Eigenschaft komplexen Lebens vorhersagbar. Lassen Sie uns zu unseren Elektronen zurückkehren, die eine nicht richtig zusammenpassende Atmungskette hinunterwandern. Wenn die mitochondrialen und die nukleären Gene nicht richtig zusammenarbeiten, ist das natürliche biophysikalische Ergebnis Apo ptose. Das ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie die natürliche Selektion einem Prozess den Feinschliff gibt, dessen Ablauf sie nicht verhindern kann: Eine natürliche Tendenz wird per Selektion ausgefeilt und wird schließlich zu einem komplexen genetischen Mechanismus, der tief in seinem Inneren einen Hinweis auf seinen Ur282
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sprung birgt. Damit große komplexe Zellen überhaupt funktionieren, bedarf es zweier Genome. Sie müssen gut zusammenarbeiten oder die Atmung versagt. Wenn sie nicht richtig zusammenarbeiten, wird die Zelle per Apoptose eliminiert. Das kann man heute als eine Form von funktioneller Selektion gegen Zellen mit nicht zusammenpassenden Genomen ansehen. Um es nochmals mit den Worten des russischstämmigen Biologen Theodosius Dobzhansky zu sagen: „Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn außer im Licht der Evolution.“ Also verfügen wir über einen Mechanismus für die Eliminierung von Zellen mit nicht zusammenpassenden Genomen. Umgekehrt werden Zellen, deren Genome gut zusammenarbeiten, von der natürlichen Selektion nicht eliminiert. Im Lauf der Evolution führt dies genau zu dem Ergebnis, das wir sehen: die Koadaptation von mitochondrialem und nukleärem Genom, in dem Sinne, dass Sequenzveränderungen in einem Genom durch Sequenzveränderungen in dem anderen kompensiert werden. Wie im vorangegangenen Kapitel bereits erwähnt, erhöht die Präsenz von zwei Geschlechtern die Varianz der weiblichen Keimzellen – unterschiedliche Eizellen enthalten überwiegend klonale Mitochondrienpopulationen, wobei verschiedene Eizellen verschiedene Mitochondrienklone vervielfältigen. Einige dieser Klone werden vor dem neuen nukleären Hintergrund der befruchteten Eizelle gut funktionieren, andere weniger gut. Diejenigen, die nicht ausreichend gut arbeiten, werden per Apoptose eliminiert; diejenigen, die gut funktionieren, überleben. Was genau überleben? In vielzelligen Organismen ist die allgemeine Antwort Entwicklung. Ausgehend von einer befruchteten Eizelle (Zygote) teilen sich Zellen und bilden ein neues Individuum. Der Prozess wird präzise kontrolliert. Zellen, die im Lauf der Entwicklung unerwartet an Apoptose sterben, bringen das ganze Entwicklungsprogramm in Gefahr und können zu einer Fehlgeburt, einem Scheitern der Embryonalentwicklung führen. Das ist nicht unbedingt eine schlechte Sache. Aus der nüchternen Perspektive der natürlichen Selektion ist es viel besser, eine Entwicklung im Frühstadium zu stoppen, bevor zu viele Ressourcen für das neue Individuum verschwendet wurden, statt die Entwicklung bis zur Geburt weiter283
Teil IV: Vorhersagen
laufen zu lassen. Im letzteren Fall würde der Nachwuchs mit Unvereinbarkeiten zwischen mitochondrialen und nukleären Genen geboren, was zu einer mitochondrialen Erkrankung, Gesundheitsproblemen und einem frühen Tod führen kann. Andererseits verringert eine frühe Beendigung der Entwicklung – das Opfern eines Embryos, falls schwere Inkompatibilitäten zwischen mitochondrialem und nukleärem Genom auftreten – ganz offensichtlich die Fruchtbarkeit. Wenn sich ein hoher Prozentsatz der Embryonen nicht bis zur Geburtsreife entwickelt, ist das Ergebnis Unfruchtbarkeit. Die Vor- und Nachteile in diesem Zusammenhang spielen für die natürliche Selektion eine entscheidende Rolle: Fitness versus Fertilität. Es muss ganz einfach ausgefeilte Kontrollen im Hinblick darauf geben, welche Unvereinbarkeiten Apoptose und Tod auslösen und welche toleriert werden. All das wirkt ein wenig trocken und theoretisch. Spielt es tatsächlich eine Rolle? Ja! – zumindest in einigen Fällen, und die könnten die Spitze eines Eisbergs bilden. Das beste Beispiel stammt von Ron Burton am Scripps Marine Research Institute, der seit mehr als einem Jahrzehnt an mitochondrial-nukleären Unvereinbarkeiten bei dem marinen Ruderfußkrebs (Copepoda) Tigriopus californicus arbeitet. Copepoden sind kleine Krebse, die man in den Gezeitentümpeln von Santa Cruz Island in Südkalifornien findet. Burton hat zwei Populationen dieser Copepoden gekreuzt, die von entgegengesetzten Seiten der Insel stammen und – obgleich sie nur wenige Meilen voneinander entfernt lebten – seit Jahrtausenden reproduktiv isoliert waren. Burton und seine Kollegen listen nun auf, was bei der Paarung der beiden Populationen als „hybrid breakdown“ – eine verminderte Vitalität in der Folgegeneration – bezeichnet wird. Interessanterweise finden sich kaum Auswirkungen in der ersten Generation, dem Ergebnis einer einfachen Kreuzung zwischen den beiden Populationen. Kreuzt man ein aus dieser Paarung hervorgegangenes Hybridweibchen jedoch anschließend mit einem Männchen der ursprünglichen Elterngeneration (Parentalgeneration), sind dessen Nachkommen sehr krank, in einem „erbärmlichen Zustand“, wie Burton es in einem seiner Artikel ausdrückt. Wenn die Ergebnisse 284
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auch streuten, war die Fitness dieser Hybriden im Durchschnitt stark reduziert – ihre ATP-Synthese war um rund 40 Prozent geringer, und das spiegelte sich in einer ähnlich verringerten Überlebensrate, Fertilität und (einer längeren) Entwicklungszeit wider (in diesem Fall einer längeren Zeit bis zur Metamorphose, die von der Körpergröße und daher von der Wachstumsrate abhängt). Dieses ganze Problem ließ sich durch ein simples Experiment der Unverträglichkeiten zwischen mitochondrialen und nukleären Genen zuordnen – indem männliche Hybridnachkommen mit Weibchen aus der ursprünglichen maternalen Population rückgekreuzt wurden. Die Nachkommen aus dieser Kreuzung wiesen wieder die volle normale Fitness auf. Beim umgekehrten Experiment – Kreuzung weiblicher Hybridnachkommen mit Männchen aus der ursprünglichen Parentalgeneration – zeigten sich hingegen keine positiven Auswirkungen auf die Fitness. Die Nachkommen blieben kränklich, tatsächlich ging es ihnen schlechter als zuvor. Die Ergebnisse lassen sich leicht interpretieren: Die Mitochondrien stammen stets von der Mutter und müssen, um richtig zu funktionieren, mit Genen im Kern zusammenarbeiten, die denjenigen der Mutter ähnlich sind. Durch Kreuzung mit Männchen aus einer genetisch eigenständigen Population werden die maternalen Mitochondriengene mit paternalen Zellkerngenen gepaart, die nicht gut zu ihnen passen, was die Zusammenarbeit stört. Bei der Kreuzung in der ersten Generation wird das Problem noch nicht so deutlich, weil 50 Prozent der Gene noch immer von der Mutter kommen, und diese arbeiten gut mit den maternalen Mitochondriengenen zusammen. In der zweiten Hybridgeneration passen nun aber bereits 75 Prozent der nukleären Gene nicht mehr zu den Mitochondriengenen, und es kommt zu einem ernsthaften Rückgang der Fitness. Kreuzt man anschließend Hybridmännchen mit Weibchen der ursprünglichen maternalen Population, so führt dies dazu, dass 62,5 Prozent der nukleären Gene nun von der mütterlichen Population stammen und zu den Mitochondriengenen passen. Die Gesundheit wird völlig wiederhergestellt. Die umgekehrte Kreuzung hat jedoch den entgegengesetzten Effekt: Nun passen die maternalen Mitochondrien mit rund 87,5 Pro285
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zent der nukleären Gene nicht zusammen. Kein Wunder, dass die Nachkommen ein kränklicher Haufen sind! Hybrid breakdown – hybrider Vitalitätsverlust. Die meisten von uns sind mit der Vorstellung von einem hybriden Vitalitätsgewinn vertraut. Auskreuzen ist von Vorteil, weil das Risiko bei nicht verwandten Individuen geringer ist, dieselben Mutationen auf denselben Genen zu teilen; daher sind die von Mutter und Vater ererbten Kopien eher komplementär und ergänzen sich, was die Fitness erhöht. Der hybride Vitalitätsgewinn ist jedoch begrenzt. Kreuzungen zwischen eigenständigen Arten führen in der Regel zu Nachkommen, die nicht lebensfähig oder steril sind. Das ist hybrid breakdown. Die Fortpflanzungsbarrieren zwischen nahe verwandten Arten sind weitaus durchlässiger, als die Lehrbücher uns glauben machen wollen – Arten, die einander in freier Wildbahn aus verhaltensbiologischen Gründen ignorieren, paaren sich oft erfolgreich in Gefangenschaft. Die traditionelle Definition einer Art – das Unvermögen, bei Kreuzungen zwischen Populationen fertile Nachkommen zu produzieren – gilt für viele nahe verwandte Arten einfach nicht. Nichtsdestotrotz verändern sich Populationen im Lauf der Zeit, zwischen ihnen bauen sich Fortpflanzungsbarrieren auf, und schließlich führen Kreuzungen tatsächlich nicht mehr zu fruchtbaren Nachkommen. Diese Barrieren beginnen sich bei Kreuzungen zwischen Populationen derselben Art zu zeigen, die lange Zeit reproduktiv isoliert waren, wie Ron Burtons Copepoden. In diesem Fall lässt sich der Zusammenbruch vollständig den Unverträglichkeiten zwischen mitochondrialen und nukleären Genen zuschreiben. Könnten ähnliche Inkompatibilitäten allgemeiner bei der Entstehung von Arten zu einem hybriden Vitalitätsverlust führen? Ich vermute, dass es so ist. Dabei handelt es sich natürlich nur um einen Mechanismus unter vielen, doch andere Beispiele für „mitonukleäre“ Vitalitätsverluste sind für ein breites Artenspektrum berichtet worden, von Fliegen und Wespen über Weizen, Hefe bis zu Mäusen. Die Tatsache, dass dieser Mechanismus daraus erwächst, dass zwei Genome in geeigneter Weise zusammenarbeiten müssen, besagt implizit, dass eine Artbildung (Speziation) bei Eukaryoten zwangläufig ist. 286
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Selbst dann sind die Effekte in manchen Fällen ausgeprägter als in anderen. Das liegt offenbar an der Veränderungsrate der mitochondrialen Gene. Bei den Copepoden evoluieren die mitochondrialen Gene bis zu 50 Mal schneller als die Gene im Zellkern. Bei der Taufliege Drosophila evoluieren die Gene in den Mitochondrien hingegen deutlich langsamer, kaum doppelt so schnell wie die Gene im Kern. Entsprechend ist der mitonukleäre Vitalitätsverlust bei Copepoden ausgeprägter als bei Taufliegen. Die schnellere Veränderungsrate führt zu mehr Sequenzunterschieden innerhalb einer bestimmten Zeitspanne und damit bei Kreuzungen zwischen verschiedenen Populationen zu einem höheren Inkompatibilitätsrisiko zwischen Genomen. Warum die mitochondrialen Gene bei Tieren eigentlich deutlich schneller evoluieren als die Kerngene, ist unbekannt. Doug Wallace, ein Pionier der Mitochondriengenetik, argumentiert, Mitochondrien stellten die Frontlinie der Adaptation dar. Rasche Veränderungen der mitochondrialen Gene ermöglichen Tieren, sich rasch an veränderte Klimata und Nahrungsquellen anzupassen, erste Schritte, die den langsameren morphologischen Anpassungen vorausgehen. Mir gefällt diese Idee, obwohl es bisher wenig überzeugende Belege dafür oder dagegen gibt. Wenn Wallace jedoch recht hat, dann begünstigt es die Anpassung, wenn ständig neue Varianten mitochondrialer Gene „auf den Markt“ kommen, an denen die Selektion angreifen kann. Dadurch, dass diese Veränderungen die ersten sind, die eine Anpassung an eine neue Umgebung erleichtern, gehören sie auch zu den ersten Vorboten der Artbildung. Das korrespondiert mit einer seltsamen alten Regel, die der unvergleichliche J. B. S. Haldane, einer der Gründerväter der Evolutionsbiologie, aufgestellt hat. Eine Neuinterpretation dieser Regel spricht dafür, dass mitonukleäre Koadaptation tatsächlich eine wichtige Rolle beim Ursprung der Arten und unserer eigenen Gesundheit spielen könnte.
Geschlechtsbestimmung und die Haldane-Regel Haldane war bekannt für seine denkwürdigen Formulierungen, und 1922 stellte er diese bemerkenswerte Regel auf: 287
Teil IV: Vorhersagen
Wenn bei den Nachkommen zweier unterschiedlicher Tierrassen ein Geschlecht fehlt, selten oder steril ist, ist dies immer das heterozygote [heterogametische] Geschlecht.
Es wäre einfacher gewesen, wenn er „männlich“ gesagt hätte, aber das wäre tatsächlich weniger dramatisch gewesen. Das Männchen ist bei Säugern heterozygot oder heterogametisch, was besagt, dass das Männchen zwei verschiedene Geschlechtschromosomen hat – ein X- und ein Y-Chromosom. Säugerweibchen haben zwei X-Chromosomen und sind daher in Bezug auf ihre Geschlechtschromosomen homozygot (homogametisch). Bei Vögeln und einigen Insekten ist es genau umgekehrt. Hier ist das Weibchen heterogametisch und hat ein W- und ein Z-Chromosom, während das Männchen zwei Z-Chromosomen hat und homogametisch ist. Stellen Sie sich eine Kreuzung zwischen einem Männchen und einem Weibchen aus zwei eng verwandten Arten vor, die lebensfähige Nachkommen erzeugen. Aber nun schauen Sie sich diese Nachkommen genauer an: Sie sind alle weiblich oder alle männlich, oder wenn beide Geschlechter präsent sind, ist eines der beiden Geschlechter steril oder sonstwie geschädigt. Haldanes Regel besagt, dass dieses Geschlecht bei Säugern das männliche, bei Vögeln hingegen das weibliche sein wird. Der Katalog von Beispielen, die seit 1922 zusammengetragen wurden, ist eindrucksvoll: Viele Hundert Fälle aus zahlreichen Stämmen bestätigen diese Regel, und es gibt für ein Gebiet wie die Biologie, das so geprägt von Ausnahmen ist, bemerkenswert wenig Ausnahmen. Es sind verschiedene plausible Erklärungen für die Haldane-Regel vorgetragen worden; da aber keine alle Fälle erklären kann, ist auch keine von ihnen intellektuell völlig befriedigend. Zum Beispiel wirkt die sexuelle Selektion stärker auf Männchen, die um die Aufmerksamkeit der Weibchen konkurrieren müssen (technisch gesprochen, existiert unter Männchen eine größere Varianz im Fortpflanzungserfolg als unter Weibchen, was männliche Sexualmerkmale für die Selektion deutlicher sichtbar macht). Das wiederum macht Männchen bei einer Kreuzung zwischen verschiedenen Populationen anfälliger für einen Vitalitätsverlust durch Hybridisierung (hybrid breakdown). Das Pro 288
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blem ist, dass damit nicht erklärt wird, warum Vogelmännchen weniger anfällig für diese Art von Vitalitätsverlust sind als Weibchen. Eine weitere Schwierigkeit ist, dass Haldanes Regel wahrscheinlich über bloße Geschlechtschromosomen hinausgeht, die bei einem breiteren Blick auf die Evolution lokal beschränkt aussehen. Viele Reptilien und Amphibien haben überhaupt keine Geschlechtschromosomen, sondern das Geschlecht ihrer Nachkommen wird von der Temperatur bestimmt; aus Eiern, die bei höheren Temperaturen bebrütet werden, schlüpfen Männchen, gelegentlich ist es auch umgekehrt. Angesichts ihrer grundlegenden Bedeutung sind die Mechanismen der Geschlechtsbestimmung im Tierreich tatsächlich verblüffend variabel. Das Geschlecht kann von Parasiten, von der Anzahl der Chromosomen oder von Hormonen, von Umwelteinflüssen, Stress, Populationsdichte oder sogar den Mitochondrien bestimmt werden. Die Tatsache, dass eines der beiden Geschlechter in der Regel von Kreuzungen zwischen Populationen stärker beeinträchtigt wird, selbst wenn das Geschlecht gar nicht von Chromosomen bestimmt wird, spricht für einen tiefer liegenden Mechanismus. Allein schon die Tatsache, dass die Mechanismen der Geschlechtsbestimmung derart variieren, aber es durchgängig zwei Geschlechter gibt, lässt vermuten, dass es irgendeine konservierte, zugrunde liegende Basis der Geschlechtsbestimmung (des Prozesses, der die männliche oder weibliche Entwicklung antreibt) gibt, den unterschiedliche Gene lediglich begleiten. Eine mögliche grundlegende Basis ist die Stoffwechselrate. Schon die alten Griechen wussten, dass Männer ganz buchstäblich heißer sind als Frauen – die „Hot-male“-Hypothese. Bei Säugern wie Mäusen und Menschen ist der früheste Unterschied zwischen den beiden Geschlechtern die Wachstumsrate: Männliche Embryonen wachsen ein wenig rascher als weibliche, ein Unterschied, den man schon innerhalb weniger Stunden nach der Empfängnis mit einem Lineal messen kann (aber versuchen Sie das definitiv nicht zu Hause). Auf dem Y-Chromosom bestimmt beim Menschen das SRY-Gen die männliche Entwicklung, und es beschleunigt das Wachstum, indem es einige Wachstumsfaktoren anschaltet. An diesen Wachstumsfaktoren 289
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ist nichts Geschlechtsspezifisches: Sie sind normalerweise bei beiden Geschlechtern aktiv, doch ihr Aktivitätsniveau ist im männlichen Geschlecht etwas höher als im weiblichen. Mutationen, die die Aktivität dieser Wachstumsfaktoren erhöhen und damit das Wachstum beschleunigen, können eine Geschlechtsveränderung induzieren und weiblichen Embryonen, denen ein Y-Chromosom (oder das SRY-Gen) fehlt, eine männliche Entwicklung aufzwingen. Umgekehrt können Mutationen, die deren Aktivität verringern, den entgegengesetzten Effekt haben und männliche Embryonen mit einem völlig funktionsfähigen Y-Chromosom in weibliche umwandeln. All das spricht dafür, dass die Wachstumsrate die wahre Kraft hinter der Geschlechtsentwicklung ist, zumindest bei Säugern. Die Gene halten nur die Zügel und können im Lauf der Evolution leicht ersetzt werden – ein Gen, das die Wachstumsrate festlegt, wird von einem anderen Gen ersetzt, das dieselbe Wachstumsrate festlegt. Die Vorstellung, dass Männchen eine größere Wachstumsrate haben, korrespondiert erstaunlich gut mit der Tatsache, dass die Temperatur darüber entscheidet, welches Geschlecht sich bei Amphibien und Reptilien wie Alligatoren entwickelt. Diese beiden Parameter sind korreliert, weil die Stoffwechselrate teilweise auch von der Temperatur abhängt. Innerhalb gewisser Grenzen verdoppelt sich die Stoffwechselrate in etwa, wenn ein Reptil seine Körpertemperatur (beispielsweise durch Sonnenbaden) um 10 °C erhöht, und das führt wiederum zu einer erhöhten Wachstumsgeschwindigkeit. Auch wenn es (aus verschiedenen subtilen Gründen) nicht immer so ist, dass sich bei höheren Temperaturen Männchen entwickeln, ist die Verbindung zwischen Geschlecht und Wachstumsgeschwindigkeit, ob nun von Genen oder der Temperatur festgelegt, evolutionär stärker konserviert als irgendein spezieller Mechanismus. Wie es aussieht, ist es einigen opportunistischen Genen von Zeit zu Zeit gelungen, die Zügel für die Entwicklungskontrolle zu ergreifen und eine Entwicklungsrate vorzugeben, die eine männliche oder weibliche Entwicklung induziert. Das ist übrigens ein Grund, warum Männer das Verschwinden des Y-Chromosoms nicht zu fürchten brauchen – seine Funktion wird wahrscheinlich von irgendeinem anderen Fak290
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tor übernommen werden, vielleicht einem Gen auf einem anderen Chromosom, das die höhere Stoffwechselrate festlegt, die für die männliche Entwicklung nötig ist. Das könnte auch die seltsame Verletzlichkeit der äußeren Hoden bei Säugern erklären; die richtige Temperatur einzustellen, ist viel tiefer in unserer Biologie verankert als männliche Hodensäcke. Diese Ideen waren, muss ich gestehen, eine Offenbarung für mich. Die Hypothese, dass das Geschlecht letztlich durch die Stoffwechselrate bestimmt wird, ist über mehrere Jahrzehnte von Ursula Mittwoch entwickelt worden, einer Kollegin am UCL, die mit 90 Jahren noch immer bemerkenswert aktiv ist und wichtige Artikel veröffentlicht. Ihre Artikel sind nicht so bekannt, wie sie es eigentlich sein sollten, vielleicht deshalb, weil Messungen von „uncoolen“ Parametern wie Wachstumsrate, Embryonengröße, gonadaler DNA und gonadalem Proteingehalt in der Ära der Molekularbiologie und Gensequenzierung altmodisch erschienen. Nun, da wir in eine neue Ära der Epigenetik eintreten (welche Faktoren kontrollieren die Genexpression?), finden ihre Ideen mehr Anklang und erhalten hoffentlich ihren gebührenden Platz in der Geschichte der Biologie.52 Aber wie hängt all das mit Haldanes Regel zusammen? Sterilität oder Nicht-Lebensfähigkeit korrespondieren mit einem Funktionsverlust. Jenseits einer gewissen Schwelle versagt das Organ oder der Organismus. Die Grenzen der Funktion hängen von zwei simplen Kriterien ab – die metabolischen Ansprüche, die erfüllt werden müssen, um die Aufgabe zu bewältigen (z. B. Spermien herzustellen), und die verfügbare Stoffwechselleistung. Wenn die verfügbare Leistung geringer ist als erforderlich, stirbt das Organ. In der subtilen Welt genetischer Netzwerke mögen diese Kriterien absurd grob erscheinen, dennoch sind sie entscheidend wichtig. Ziehen Sie sich eine Plastiktüte über den Kopf, und Sie reduzieren Ihre metabolische Leistung so stark, dass diese Leistung Ihre Bedürfnisse nicht mehr decken kann. In kaum einer Minute setzt die Funktion aus, zumindest im Gehirn. Die metabolischen Ansprüche, die Ihr Gehirn und Ihr Herz stellen, sind hoch; diese Organe sind die ersten, die dann sterben. Zellen in Ihrer Haut oder Ihrem Darm können deutlich länger überleben, sie stellen weitaus geringere 291
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Ansprüche. Der restliche Sauerstoff reicht aus, um ihren metabolischen Bedarf noch stunden- oder gar tagelang zu erfüllen. Aus der Sicht der Zellen, aus denen wir bestehen, ist Tod kein Alles-oder-nichts-Phänomen, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Wir sind eine Konstellation von Zellen, und sie sterben nicht alle auf einmal. Diejenigen mit dem größten Bedarf können ihn generell als Erste nicht mehr decken. Genau das ist das Problem bei mitochondrialen Krankheiten. Bei den meisten spielt neuromuskuläre Degeneration eine Rolle, die Gehirn und Skelettmuskulatur in Mitleidenschaft ziehen, im Wesentlichen die Gewebe mit der höchsten Stoffwechselrate. Der Sehsinn ist besonders empfindlich: Die Stoffwechselrate von Zellen in der Netzhaut und im Sehnerv ist die höchste im Körper überhaupt, und mitochondriale Erkrankungen wie die erbliche lebersche Opticusatrophie schädigt den Sehnerv und führt zu Blindheit. Es ist schwierig, Allgemeingültiges über Mitochondriopathien zu sagen, da ihre Ausprägung von vielen Faktoren abhängt – dem Typ der Mutation sowie der Anzahl der Mutanten und ihrer Verteilung zwischen den Geweben. Aber davon abgesehen bleibt die Tatsache bestehen, dass mitochondriale Erkrankungen vorwiegend diejenigen Gewebe betreffen, die den höchsten metabolischen Bedarf haben. Angenommen, Zahl und Typ von Mitochondrien in zwei Zellen sind identisch, sodass sie über die gleichen Fähigkeiten zur ATP-Synthese verfügen. Wenn die metabolischen Ansprüche, die an diese beiden Zellen gestellt werden, unterschiedlich sind, wird auch das Ergebnis unterschiedlich sein (Abbildung 33). Nehmen wir an, dass die metabolischen Ansprüche, die an die erste Zelle gestellt werden, gering sind. Sie kann diese Ansprüche problemlos erfüllen, produziert mehr als genug ATP und verbraucht es für welche Aufgabe auch immer sie haben mag. Nun stellen Sie sich vor, dass die Ansprüche, die an die zweite Zelle gestellt werden, viel höher sind – tatsächlich übersteigen sie ihre maximale Kapazität zur ATP-Produktion. Die Zelle müht sich, den Bedarf zu decken, ihre gesamte Physiologie darauf abgestimmt, diese hohe Leistung zu erbringen. Elektronen fließen in die Atmungsketten, aber deren Kapazität ist zu gering: Die Elektronen strömen schneller ein, als sie wieder ausströmen können: 292
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A
B
Abbildung 33: Das Schicksal hängt von der Fähigkeit ab, den Bedarf zu decken Zwei Zellen mit äquivalenter mitochondrialer Kapazität, die unterschiedlichen Ansprü chen gegenüberstehen. In A ist der Bedarf mäßig (symbolisiert durch die Pfeile), und die Mitochondrien können ihn problemlos decken, ohne zu stark reduziert zu werden (angezeigt durch die hellgraue Schattierung). In B ist der Bedarf zunächst ebenfalls mäßig, steigt dann aber auf ein deutlich höheres Niveau. Der Elektronen-Input in die Mitochondrien steigt entsprechend, doch ihre Kapazität ist ungenügend, und die At mungskomplexe werden stark reduziert (dunkle Schattierung). Wenn die Kapazität nicht rasch gesteigert werden kann, führt dies zum Zelltod durch Apoptose (wie in Abbildung 32 dargestellt).
Die Redoxzentren werden stark reduziert und reagieren mit Sauerstoff, sodass freie Radikale entstehen. Diese oxidieren die umliegenden Membranlipide, wodurch Cytochrom c freigesetzt wird. Das Membranpotenzial sinkt. Die Zelle stirbt durch Apoptose. Das ist noch immer eine Form der funktionalen Selektion, selbst in einem Gewebeumfeld, denn Zellen, die ihren metabolischen Bedarf nicht decken können, werden eliminiert, sodass diejenigen übrig bleiben, die es können. Natürlich verbessert das Entfernen von Zellen, die nicht richtig funktionieren, nur dann die allgemeine Gewebefunktion, wenn sie durch neue Zellen aus der Stammzellenpopulation ersetzt werden. Ein großes Problem bei Neuronen und Muskelzellen ist, dass sie in der Regel nicht ersetzt werden können. Wie könnte eine Nervenzelle ersetzt werden? Unsere Lebenserfahrung ist in synaptischen Netzwerken niedergeschrieben, wobei jedes Neuron bis zu 10 000 293
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Synapsen ausbilden kann. Wenn ein Neuron durch Apoptose stirbt, sind dessen synaptische Verbindungen für immer verloren, zusammen mit all der Erfahrung und Persönlichkeit, die vielleicht in ihnen steckte. Dieses Neuron ist unersetzbar. Tatsächlich sind, wenn auch weniger offensichtlich nötig, alle endgültig differenzierten Gewebe unersetzbar; ihre Existenz ist ohne die im vorangegan genen Kapitel diskutierte tiefgreifende Unterscheidung zwischen Keimbahn und Soma unmöglich. Bei der Selektion geht es stets um die Nachkommen. Wenn Organismen mit großen und unersetzbaren Gehirnen mehr lebensfähige Nachkommen hinterlassen als solche mit kleinen und ersetzbaren Gehirnen, werden sie gedeihen. Nur wenn sich Keimbahn und Soma unterscheiden lassen, kann die Selektion in dieser Weise arbeiten, doch wenn sie es tut, wird der Körper austauschbar. Die Lebensspanne wird endlich. Und Zellen, die ihre metabolischen Anforderungen nicht erfüllen können, töten uns am Ende. Darum spielt die Stoffwechselrate eine derart wichtige Rolle. Bei Zellen mit einer höheren Stoffwechselrate ist die Wahrscheinlichkeit größer, dass sie bei derselben mitochondrialen Leistung ihren Bedarf nicht decken können. Nicht nur mitochondriale Erkrankungen, sondern auch normales Altern und altersbedingte Krankheiten betreffen am ehesten die Gewebe mit dem höchsten metabolischen Bedarf. Und um den Kreis zu schließen – das Geschlecht mit dem höchsten metabolischen Bedarf. Männchen haben einen rascheren Stoffwechsel als Weibchen (zumindest bei Säugern). Wenn die Mitochondrien irgendeinen genetischen Defekt aufweisen, wird sich dieser Defekt vor allem in dem Geschlecht mit der höheren Stoffwechselrate bemerkbar machen – im männlichen. Einige mitochondriale Erkrankungen sind tatsächlich bei Männern häufiger als bei Frauen: Die erbliche lebersche Opticusatrophie, beispielsweise, tritt bei Männern fünfmal häufiger auf, und die Parkinson-Erkrankung, die ebenfalls eine starke mitochondriale Komponente aufweist, ist doppelt so häufig. Männer sollten auch stärker von mitonukleären Unverträglichkeiten betroffen sein. Wenn es durch Auskreuzung zwischen reproduktiv isolierten Populationen zu solchen Unverträglichkeiten kommt, sollte das Resul294
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tat ein hybrid breakdown sein. Daher ist ein hybrider Vitalitätsverlust in dem Geschlecht mit der höheren Stoffwechselrate stärker ausgeprägt und innerhalb dieses Geschlechts in den Geweben mit der höchsten Stoffwechselrate. Und wieder handelt es sich dabei um eine vorhersagbare Konsequenz der Erfordernis von zwei Genomen bei allen komplexen Lebewesen. Diese Überlegungen bieten eine wunderbare und einfache Erklärung für die Haldane-Regel: Das Geschlecht mit der höchsten Stoffwechselrate ist mit höherer Wahrscheinlichkeit steril oder nicht lebensfähig. Aber stimmt das oder ist es überhaupt wichtig? Eine Idee kann wahr, aber trivial sein, und nichts von dem ist inkompatibel mit anderen Gründen für die Haldane-Regel. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Stoffwechselrate der einzige Grund sein sollte, aber liefert sie einen wichtigen Beitrag? Ich glaube schon. Beispielsweise ist wohlbekannt, dass hohe Temperaturen einen hybrid breakdown verschärfen. Wenn man den Rotbraunen Reismehlkäfer (Tribolium castaneum) mit der eng verwandten Art Tribolium freeman kreuzt, sind die Hybridnachkommen bei ihrer normalen Aufzuchttemperatur von 29 °C gesund – werden sie jedoch bei 34 °C aufgezogen, entwickeln (in diesem Fall) die Weibchen deformierte Antennen und Beine. Diese Form von Temperaturempfindlichkeit ist weit verbreitet und führt oft zu geschlechtsspezifischer Sterilität; sie lässt sich am besten im Hinblick auf die Stoffwechselrate verstehen. Oberhalb einer gewissen Bedarfsschwelle beginnen bestimmte Gewebe, Schaden zu nehmen. Zu diesen speziellen Geweben gehören häufig die Geschlechtsorgane, vor allem die männlichen, in denen die Spermienproduktion lebenslang anhält. Ein bemerkenswertes Beispiel findet man bei Pflanzen, die sogenannte cytoplasmatisch-männliche Sterilität. Die meisten Blütenpflanzen sind Zwitter, doch ein großer Teil zeigt männliche Sterilität, was zu zwei „Geschlechtern“ führt – Zwitter und weibliche Pflanzen, bei denen das männliche Geschlecht steril ist. Dieses Missgeschick wird von Mitochondrien hervorgerufen und gewöhnlich als Ausdruck eines egoistischen Konflikts (selfish conflict) interpretiert.53 Molekulare Daten sprechen jedoch dafür, dass die männli295
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che Sterilität möglicherweise einfach die Stoffwechselrate widerspiegelt. Der Pflanzenforscher Chris Leaver in Oxford hat gezeigt, dass die Ursache für cytoplasmatisch-männliche Sterilität bei Sonnenblumen ein Gen ist, das für eine einzige Untereinheit des Enzyms ATP-Synthase in den Mitochondrien codiert. Das Problem ist in diesem Fall ein Fehler bei der Rekombination, der einen relativ kleinen Anteil (wichtig: nicht alle) der ATP-Synthase-Enzyme betrifft. Das senkt die maximale Rate der ATP-Synthese. In den meisten Geweben sind die Effekte dieser Mutation nicht nachweisbar – nur die männlichen Sexualorgane, die Staubbeutel, degenerieren. Sie degenerieren, weil die Zellen, aus denen sie bestehen, durch Apoptose sterben, wobei es zu einer Freisetzung von Cytochrom c aus ihren Mitochondrien kommt, genau wie bei uns. Die Staubbeutel sind offenbar das einzige Gewebe der Sonnenblume mit einer Stoffwechselrate, die so hoch ist, dass sie eine Degeneration auslösen kann: Nur dort gelingt es den fehlerhaften Mitochondrien nicht, ihren metabolischen Bedarf zu decken. Das Ergebnis ist eine männchenspezifische Sterilität. Ähnliche Befunde sind von der Taufliege Drosophila berichtet worden. Durch Kerntransfers aus einer Zelle in eine andere ist es möglich, (cytoplasmatische) Hybridzellen (Cybriden) zu erzeugen, in denen das Kerngenom mehr oder weniger identisch ist, die Mitochondriengene sich jedoch unterscheiden.54 Führt man dies mit Eizellen durch, entstehen Fliegenembryonen, die genetisch identisch sind, was ihren nukleären Hintergrund angeht, jedoch Mitochondriengene verwandter Arten tragen. Die Ergebnisse unterscheiden sich in Abhängigkeit von den Mitochondriengenen in bemerkenswerter Weise. Im besten Fall ist mit den frisch geschlüpften Fliegen alles in Ordnung. Im schlimmsten Fall sind die Männchen – bei Drosophila das heterogametische Geschlecht – steril. Am interessantesten sind die intermediären Fälle, wo die Fliegen auf den ersten Blick gesund erscheinen. Ein näherer Blick auf die Genaktivität in verschiedenen Organen zeigt jedoch, dass es in den Hoden Probleme gibt. Mehr als 1000 Gene in den Hoden und akzessorischen Sexualorganen sind bei Fliegenmännchen aufreguliert. Was da genau passiert, ist noch nicht so recht verstanden, doch mei296
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nes Erachtens ist die einfachste Erklärung, dass diese Organe nicht mit den metabolischen Anforderungen fertigwerden, die an sie gestellt werden. Ihre Mitochondrien sind nicht völlig kompatibel mit den Genen im Kern. Zellen in den Hoden mit ihrem hohen metabolischen Bedarf geraten physiologisch unter Stress, und dieser Stress ruft eine Antwort hervor, die einen wesentlichen Teil des Genoms involviert. Wie bei der cytoplasmatisch-männlichen Sterilität in Pflanzen sind nur die metabolisch „unter Druck“ stehenden Geschlechtsorgane betroffen – und nur bei Männchen.55 Wenn all das der Fall ist, warum sind dann bei Vögeln die Weibchen betroffen? Für sie gilt summa summarum dieselbe Argumentation, jedoch mit einigen interessanten Abweichungen. Bei einigen wenigen Vögeln, vor allem Greifvögeln, ist das Weibchen größer als das Männchen und wächst daher vermutlich auch schneller. Aber das gilt nicht universell. Wie Ursula Mittwoch in ihren frühen Arbeiten gezeigt hat, überholen bei Hühnern die Ovarien nach einem langsamen Start in der ersten Woche die Hoden im Wachstum. In diesen Fällen wäre die Vorhersage, dass die Vogelweibchen unter Sterilität statt Nicht-Lebensfähigkeit leiden sollten, weil nur ihre eigenen Sexualorgane rascher wachsen. Aber das ist nicht der Fall. Was Haldanes Regel betrifft, laufen die meisten Fälle bei Vögeln offenbar tatsächlich auf Nicht-Lebensfähigkeit statt auf Sterilität hinaus. Das verblüffte mich, bis mir Geoff Hill, ein Spezialist für die sexuelle Selektion bei Vögeln, letztes Jahr seinen Artikel über die HaldaneRegel bei Vögeln zuschickte. Hill wies darauf hin, dass einige nukleäre Gene, die für Atmungsproteine bei Vögeln codieren, auf dem ZChromosom liegen (erinnern Sie sich daran, dass bei Vögeln die Männchen über zwei Z-Chromosome verfügen, die Weibchen hingegen über ein Z- und ein W-Chromosom, was sie zu dem heterogametischen Geschlecht macht). Warum spielt das eine Rolle? Wenn Vogelweibchen nur eine einzige Kopie des Z-Chromosoms erben, erhalten sie auch nur eine einzige Kopie mehrerer entscheidend wichtigen Mitochondriengene, und sie erben diese von ihrem Vater. Wenn die Mutter den Vater nicht sorgfältig auswählte, dann könnte es sein, dass ihre Mitochondriengene nicht zu der einzelnen Kopie seiner 297
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Kerngene passen. Der Zusammenbruch könnte augenblicklich eintreten und lebensbedrohlich sein. Hill argumentiert, dass dieses Arrangement dem Weibchen die Last auferlegt, seinen Partner mit größter Sorgfalt auszusuchen oder eine hohe Strafe zu zahlen (seine weiblichen Nachkommen sterben). Das wiederum könnte das leuchtende Gefieder und die bunte Zeichnung männlicher Vögel erklären. Wenn Hill recht hat, signalisiert das detaillierte Muster des Gefieders den mitochondrialen Typ: Es wird angenommen, dass scharfe Abgrenzungen in der Musterung scharfe Abgrenzungen im mitochondrialen DNA-Typ widerspiegeln. Daher benutzen die Weibchen die Zeichnung der Männchen als Leitfaden für Kompatibilität. Aber ein Männchen des richtigen Typs kann dennoch ein recht armseliges Exemplar sein. Hill argumentiert, dass die lebhafte Färbung des Gefieders die Mitochondrienfunktion reflektiert, da die meisten Pigmente in den Mitochondrien synthetisiert werden. Ein kräftig gefärbtes Männchen muss über mitochondriale Spitzengene verfügen. Gegenwärtig sprechen nur wenige Belege für diese Hypothese, doch sie vermittelt ein Gefühl dafür, wie als allgegenwärtig und stark sich der Druck für eine mitonukleäre Koadaptation herausstellen könnte. Es ist ein ernüchternder Gedanke, dass die Erfordernis von zwei Genomen für komplexes Leben so verschiedenartige evolutionäre Rätsel wie den Ursprung der Arten, die Entwicklung von Geschlechtern und die lebhafte Färbung männlicher Vögel erklären könnte. Und vielleicht reicht der Einfluss noch weiter. Wer bei der mitonukleären Inkompatibilität Fehler macht, wird bestraft, aber auch das Umgekehrte, das Erzielen einer guten Kompatibilität, ist mit Kosten verbunden. Die Kosten-Nutzen-Balance sollte sich je nach Spezies in Abhängigkeit vom aeroben Bedarf unterscheiden. Der Kompromiss wird, wie wir noch sehen werden, zwischen Fitness und Fertilität geschlossen.
Die Schwelle des Todes Stellen Sie sich vor, Sie könnten fliegen. Gramm für Gramm verfügen Sie über mehr als doppelt so viel Leistung wie ein Gepard in vollem Lauf, eine bemerkenswerte Kombination aus Stärke, aerober Kapazi298
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tät und geringem Gewicht. Sie haben keine Chance abzuheben, wenn Ihre Mitochondrien nicht in praktisch perfektem Zustand sind. Stellen Sie sich den Wettstreit um Platz in Ihren Flugmuskeln vor. Natürlich brauchen Sie Myofibrillen, die Gleitfilamente, die die Muskelkontraktion erzeugen. Je mehr davon Sie unterbringen, desto stärker werden Sie sein, denn die Stärke eines Muskels hängt wie bei einem Seil von seinem Querschnitt ab. Anders als ein Seil muss die Muskelkontraktion jedoch von ATP gespeist werden. Um die Kraftanstrengung deutlich länger als etwa eine Minute aufrechtzuerhalten, ist eine ATP-Synthese „vor Ort“ erforderlich. Das heißt, Sie benötigen Mitochondrien direkt hier in Ihrer Muskulatur. Sie brauchen Platz, der anderenfalls von mehr Myofibrillen eingenommen werden könnte. Mitochondrien benötigen zudem Sauerstoff. Das bedeutet Kapillaren, um Sauerstoff anzuliefern und Abfallprodukte abzutransportieren. Die optimale Raumaufteilung in einem aeroben Muskel beträgt rund ein Drittel für Myofibrillen, ein Drittel für Mitochondrien und ein Drittel für Kapillaren. Das gilt für uns, für Geparde und für Kolibris, die die bei Weitem höchste Stoffwechselrate aller Wirbeltiere haben. Das Fazit ist, dass wir die Leistung nicht einfach dadurch steigern können, dass wir mehr Mitochondrien ansammeln. Daher besteht die einzige Möglichkeit für Vögel, genug Leistung zu erzielen, um länger in der Luft zu bleiben, in „aufgeladenen“ Mitochondrien, die in der Lage sind, mehr ATP pro Sekunde und Flächeneinheit zu generieren als „normale“ Mitochondrien. Der Elektronenfluss von der Nahrung zum Sauerstoff muss rasch erfolgen. Das übersetzt sich in ein rasches Protonenpumpen und eine rasche ATP-Synthese, die nötig ist, um die hohe Stoffwechselrate aufrechtzuerhalten. Die Selektion muss an jedem Schritt angreifen und die Spitzenrate erhöhen, mit der jedes Protein arbeitet. Diese Raten können wir messen, und wir wissen, dass die Enzyme in den Mitochondrien von Vögeln tatsächlich schneller arbeiten als die von Säugern. Aber wie wir gesehen haben, sind die Atmungsproteine Mosaike und bestehen aus Untereinheiten, die von zwei unterschiedlichen Genomen codiert werden. Ein rascher Elektronenfluss hat eine starke Selektion auf eine gute Zusammenarbeit der beiden Genome hin, also 299
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auf eine mitonukleäre Koadaptation, zur Folge. Je größer der aerobe Bedarf, desto stärker muss die Selektion für Koadaptation sein. Zellen mit Genomen, die nicht gut zusammenarbeiten, werden per Apoptose eliminiert. Der vernünftigste Zeitpunkt für eine solche Selektion ist, wie wir gesehen haben, während der Embryonalentwicklung. Aus einer nüchternen theoretischen Perspektive ist es viel sinnvoller, die Embryonalentwicklung sehr früh zu beenden, wenn der Embryo inkompatible Genome besitzt, die nicht gut genug zusammenarbeiten, um ihm ausdauerndes Fliegen zu ermöglichen. Aber wie inkompatibel ist inkompatibel, wie schlecht ist schlecht? Vermutlich gibt es eine Schwelle, ein Punkt, an dem die Apoptose ausgelöst wird. Oberhalb dieser Schwelle reicht der Elektronenfluss durch die mosaikartige Atmungskette einfach nicht aus – er kann den Job nicht erledigen. Individuelle Zellen und in Erweiterung der ganze Embryo sterben durch Apoptose. Umgekehrt erfolgt der Elek tronenfluss unterhalb dieser Schwelle schnell genug. Wenn das so ist, dann folgt daraus, dass die beiden Genome gut zusammenarbeiten. Die Zellen und in Erweiterung der ganze Embryo begehen keinen Selbstmord. Vielmehr läuft die Entwicklung weiter, und wenn alles gut geht, wird ein gesundes Küken geboren, dessen Mitochondrien „vorgetestet“ und für fit befunden wurden.56 Der entscheidende Punkt ist, dass „zweckgemäß“ mit dem Zweck variieren muss. Wenn der Verwendungszweck Fliegen ist, müssen die Genome fast perfekt zusammenpassen. Der Nachteil einer hohen aeroben Kapazität ist eine geringe Fruchtbarkeit. Eine größere Zahl von Embryonen, die bei einem weniger hochgesteckten Ziel hätten überleben können, müssen auf dem Altar der Perfektion geopfert werden. Wir können die Folgen sogar in den mitochondrialen Gensequenzen sehen. Ihre Veränderungsrate ist bei Vögeln geringer als bei den meisten Säugern (mit Ausnahme von Fledermäusen, die dasselbe Problem wie Vögel haben). Flugunfähige Vögel, die nicht denselben Zwängen ausgesetzt sind, haben eine höhere Veränderungsrate. Der Grund, warum die meisten Vögel geringe Veränderungsraten aufweisen, ist, dass sie ihre mitochondriale Sequenz bereits für das Fliegen optimiert haben. Abweichungen von dieser idealen Sequenz werden kaum toleriert 300
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und daher in der Regel von der Selektion eliminiert. Wenn ein Großteil der Veränderungen eliminiert ist, verändert sich das, was übrig bleibt, relativ wenig. Was ist, wenn wir ein niedrigeres Ziel anpeilen? Nehmen wir an, ich wäre eine Ratte und hätte keinerlei Interesse am Fliegen. Es wäre dumm, den größten Teil meiner prospektiven Nachkommen auf dem Altar der Perfektion zu opfern. Wir haben gesehen, dass der Trigger für Apoptose – funktionelle Selektion – der Austritt von freien Radikalen ist. Ein träger Elektronenfluss in der Atmungskette zeigt eine schlechte Kompatibilität zwischen mitochondrialem und nukleärem Genom an. Die Atmungskette wird stark reduziert, und freie Radikale sickern aus. Cytochrom c wird freigesetzt, und das Membran potenzial sinkt. Wäre ich ein Vogel, würde diese Kombination eine Apoptose auslösen. Meine Nachkommen würden immer wieder bereits im Embryonalstadium sterben. Aber ich bin eine Ratte und möchte das nicht. Was wäre, wenn ich durch einen Taschenspielertrick das Signal der freien Radikale „ignoriere“, das den Tod meiner Nachkommen ankündigt? Ich erhöhe die Todesschwelle, das heißt, ich kann das Austreten von mehr freien Radikalen tolerieren, bevor eine Apoptose ausgelöst wird. Ich gewinne einen unschätzbaren Vorteil: Der größte Teil meiner Nachkommen überlebt bis zur Geburt. Ich werde fruchtbarer. Aber welchen Preis zahle ich für meine höhere Fruchtbarkeit? Sicherlich werde ich niemals fliegen können. Allgemeiner gesprochen, meine aerobe Kapazität wird begrenzt sein. Die Chance, dass die Anpassung zwischen mitochondrialen und nukleären Genen bei meinen Nachkommen optimal ist, ist gering. Das führt direkt zu einer anderen wichtigen Kosten-Nutzen-Paarung – Anpassungsfähigkeit versus Krankheit. Erinnern Sie sich an Doug Wallace’ Hypothese, dass die rasche Evolution von Mitochondriengenen bei Tieren ihre Anpassung an unterschiedliche Klimata und Nahrungsquellen erleichtert. Wir wissen nicht, wie oder ob dies wirklich funktioniert, aber es wäre überraschend, wenn nicht zumindest ein Körnchen Wahrheit darin steckte. Die erste Anpassungslinie stellt einen Zusammenhang zwischen Ernährung und Körpertemperatur her (wir werden nicht lange 301
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überleben, wenn wir die Grundbedürfnisse nicht befriedigen können), und Mitochondrien spielen für beide eine absolut zentrale Rolle. Die Leistung der Mitochondrien basiert weitgehend auf ihrer DNA. Unterschiedliche DNA-Sequenzen bedingen unterschiedliche Leistungs niveaus. Einige funktionieren unter Umständen besser in kühleren, andere in wärmeren Lebensräumen oder bei höherer Feuchtigkeit oder bei einer besonders fettreichen Ernährung, und so weiter. Hinweise, die auf der offensichtlich nicht zufälligen geografischen Verteilung unterschiedlicher Typen mitochondrialer DNA in menschlichen Populationen basieren, sprechen dafür, dass tatsächlich eine Selektion in bestimmten Lebensräumen existiert, aber dabei handelt es sich wirklich um wenig mehr als Hinweise. Dennoch gibt es, wie gerade besprochen, in der mitochondrialen DNA von Vögeln zweifellos weniger Variation als bei Säugern. Die Tatsache, dass die meisten Abweichungen von der optimalen Sequenz für das Fliegen von der Selektion eliminiert worden sind, bedeutet, dass eine weniger stark variierende mitochondriale DNA übrig bleibt – daher hat die Selektion weniger Spielraum, eine mitochondriale Variante zu wählen, die zufällig in kälterer Umgebung oder bei fettreicher Ernährung besonders gut funktioniert. Es ist in dieser Hinsicht seltsam, dass Vögel häufig Wanderungen unternehmen, statt eine saisonale Veränderung der Umweltbedingungen hinzunehmen. Wäre es möglich, dass ihre Mitochondrien besser in der Lage sind, die Strapazen einer Wanderung mitzutragen, als in der harscheren Umgebung zu funktionieren, der sie sich gegenübersehen würden, wenn sie an Ort und Stelle blieben? Umgekehrt weisen Ratten deutlich mehr Variation auf, und das sollte sie grundsätzlich mit dem Rohmaterial für bessere Anpassung versorgen. Ist das wirklich so? Ehrlich, ich weiß es nicht, obgleich Ratten wirklich ziemlich anpassungsfähige Biester sind. Darum kommt man nicht herum. Aber natürlich hat mitochondriale Variation ihren Preis – Krankheit. Bis zu einem gewissen Grad lässt sich dies durch Selektionsdruck auf die Keimbahn vermeiden, durch den Eizellen mit mitochondrialen Mutationen ausgesiebt werden, bevor sie reif werden. Einiges spricht für eine solche Selektion – schwere Mitochondrien302
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mutationen werden in der Regel im Verlauf mehrerer Generationen eliminiert, während weniger schwere Mutationen fast unendlich lang mitgeschleppt werden können, zumindest bei Mäusen und Ratten. Aber denken Sie noch einmal über diese Bemerkung nach – mehrere Generationen! Der Selektionsdruck ist ziemlich schwach. Wenn Sie mit einer schweren mitochondrialen Krankheit geboren werden, ist der Gedanke wenig tröstend, dass Ihre Enkelkinder, falls Sie denn solche haben sollten, krankheitsfrei sein könnten. Selbst wenn die Selektion tatsächlich gegen Mitochondrienmutationen in der Keimbahn angeht, ist dies noch keine Garantie gegen Mitochondriopathien. Unreife Eizellen haben keinen etablierten nukleären Background. Nicht nur, dass sie viele Jahre in einem Schwebezustand gehalten werden und mitten in der Meiose eine Pause einlegen – an diesem Punkt müssen auch noch die väterlichen Gene in Rechnung gezogen werden. Eine Selektion auf eine mitonukleäre Koadaptation kann erst auftreten, nachdem die reife Eizelle vom Spermium befruchtet worden und ein neuer, genetisch einzigartiger Zellkern entstanden ist. Hybrid breakdown wird nicht von mitochondrialen Mutationen hervorgerufen, sondern von Inkompatibilitäten zwischen mitochondrialen und nukleären Genen, die alle in irgendeinem anderen Kontext völlig funktionstüchtig sind. Wir haben bereits gesehen, dass eine starke Selektion gegen mitonukleäre Inkompabilitäten zwangsläufig das Unfruchtbarkeitsrisiko erhöht. Wenn wir nicht unfruchtbar werden wollen, müssen wir den Preis akzeptieren – ein höheres Krankheitsrisiko. Auch diese Gleichung zwischen Fruchtbarkeit und Krankheit ist ein vorhersagbares Ergebnis, das sich aus der Notwendigkeit zweier Genome ergibt. Daher gibt es eine hypothetische Todesschwelle (Abbildung 34). Oberhalb dieser Schwelle stirbt die Zelle und in Erweiterung der gesamte Organismus durch Apoptose. Unterhalb der Schwelle überleben Zelle und Organismus. Notwendigerweise variiert diese Schwelle von Art zu Art. Bei Vögeln und Fledermäusen und anderen Gruppen mit hohen aeroben Anforderungen muss die Schwelle niedrig sein – selbst eine mäßige Rate freier Radikale, die aus geringfügig dysfunktionalen Mitochondrien aussickern (mit leichten Inkompabilitäten zwischen 303
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mitochondrialem und nukleärem Genom), signalisiert Apoptose und Beendigung der Embryonalentwicklung. Bei Ratten und Faultieren und Stubenhockern mit niedrigem aerobem Bedarf liegt die Schwelle höher: Eine mäßige Rate aussickernder freier Radikale wird nun toleriert, nicht optimal funktionierende Mitochondrien sind nun akzeptabel, und der Embryo entwickelt sich. Beides hat Vor- und Nachteile. Eine niedrige Schwelle geht mit einer hohen aeroben Fitness und einem geringen Krankheitsrisiko einher, doch zum Preis einer verringerten Fruchtbarkeit und Anpassungsfähigkeit. Eine hohe Schwelle führt zu einer geringen aeroben Kapazität und einem erhöhten Krankheitsrisiko, im Gegenzug aber auch zu größerer Fertilität und Anpassungsfähigkeit. Dies sind Begriffe, mit denen man jonglieren kann: Fruchtbarkeit. Anpassungsfähigkeit. Aerobe Fitness. Krankheit. Wir können dem Kern der natürlichen Selektion nicht viel näher kommen als das. Ich wiederhole nochmals. All diese Tauschhandel erwachsen zwangsläufig aus dem Bedarf an zwei Genomen. Ich habe dies gerade eine hypothetische Todesschwelle genannt, und das ist sie. Gibt es sie wirklich? Und wenn ja, ist sie tatsächlich wichtig? Denken Sie nur einmal an uns selbst. Offenbar enden 40 Prozent aller Schwangerschaften mit einem sogenannten „frühen okkulten Abort“. „Früh“ heißt in diesem Kontext sehr früh – innerhalb der ersten Schwangerschaftswochen und in der Regel, bevor die ersten offensichtlichen Schwangerschaftszeichen auftreten. Die betroffenen Frauen wissen gar nicht, dass sie schwanger waren. Und „okkult“ heißt „verborgen“ – nicht klinisch nachgewiesen. Im Allgemeinen wissen wir nicht, warum so etwas geschieht. Dieser Abort wird von keinem der üblichen Verdächtigen hervorgerufen – wie Chromosomen, die sich nicht trennten und zu einer „Trisomie“ führen. Könnte es sich um ein bioenergetisches Problem handeln? Das lässt sich nur schwer beweisen oder widerlegen, doch in dieser schönen neuen Welt der raschen Genomsequenzierung sollte es möglich sein, dies herauszufinden. Die emotionale Belastung einer Unfruchtbarkeit hat einige recht ungesunde Forschungsbemühungen in diejenigen Faktoren sanktioniert, die das Embryonenwachstum fördern. Das schockierend plumpe Mittel, einem schwächelnden Embryo ATP zu inji304
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Abbildung 34: Die Todesschwelle Die Schwelle, bei der das Aussickern freier Radikale den Zelltod (Apoptose) auslöst, sollte in Abhängigkeit von der aeroben Kapazität zwischen verschiedenen Arten variieren. Bei Organismen mit einem hohen Sauerstoffbedarf müssen mitochondriales und nukleäres Genom sehr gut aufeinander abgestimmt sein. Eine schlechte Abstimmung verrät sich durch eine hohe Rate an freien Radikalen, die aus der dysfunktionalen Atmungskette aussickern (siehe Abbildung 32). Wird eine sehr gute Abstimmung verlangt, sollten Zellen besonders empfindlich auf Lecks reagieren, aus denen freie Radikale austreten; selbst kleine Lecks signalisieren, dass die Abstimmung nicht ausreicht, und leiten die Apoptose ein (niedrige Schwelle). Wenn der Sauerstoffbedarf hingegen gering ist, lässt sich durch Töten der Zelle nichts gewinnen. Solche Organismen tolerieren höhere Konzentrationen an freien Radikalen, ohne eine Apoptose auszulösen (hohe Schwelle). Die Vorhersagen für eine hohe bzw. niedrige Schwelle sind in den Seitenteilen aufgeführt. Es wird ange nommen, dass Tauben eine niedrige Todesschwelle haben, Ratten hingegen eine hohe. Beide haben dieselbe Körpergröße und denselben Grundumsatz, doch Tauben wei sen eine viel geringere Rate an freien Radikalen auf. Wir wissen zwar nicht, inwieweit diese Vorhersagen zutreffen, doch es ist auffällig, dass Ratten nur drei bis vier Jahre alt werden, Tauben hingegen 30 Jahre.
zieren, kann dessen Überleben verlängern. Ganz offensichtlich spielen bioenergetische Faktoren eine Rolle. Aus dem gleichen Grund sind diese Abgänge vielleicht „das Beste“. Vielleicht weisen diese Embryonen mitonukleäre Inkompatibilitäten auf, die eine Apoptose auslösen. Die Evolution sollte man nicht mit moralischen Maßstäben messen. Ich kann nur sagen, dass ich meine eigenen Jahre gemeinsa305
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mer Sorge (zum Glück inzwischen vorüber) nicht vergessen werde, und wie die meisten Menschen möchte ich wissen, wo die Ursachen dafür liegen. Ich vermute, dass ein großer Teil früher okkulter Aborte auf mitonukleäre Inkompabilitäten zurückgeht. Aber es gibt noch einen anderen Grund, der dafür spricht, dass Todesschwellen wirklich wichtig sind. Es gibt einen letzten, indirekten Preis, den Arten mit einer hohen Todesschwelle zu zahlen haben – eine raschere Alterung und eine größere Neigung zu altersbedingten Krankheiten. Bei dieser Aussage werden sich bei einigen Experten die Nackenhaare sträuben. Eine hohe Schwelle bedeutet eine hohe Toleranz gegenüber freien Radikalen, bevor eine Apoptose eingeleitet wird. Das heißt, dass Arten mit einer geringen Sauerstoffkapazität, wie Ratten, mehr freie Radikale produzieren sollten. Und umgekehrt Arten mit einer hohen Sauerstoffkapazität, wie Tauben, weniger freie Radikale freisetzen sollten. Ich habe diese Arten bewusst ausgewählt. Sie haben fast die gleiche Körpermasse und den gleichen Grundumsatz. Allein aufgrund dieser Tatsachen würden die meisten Biologen vorhersagen, dass sie eine ähnliche Lebenserwartung haben. Doch wie Gustavo Barja in Madrid in seinen Arbeiten überzeugend nachgewiesen hat, erzeugen Tauben in ihren Mitochondrien viel weniger freie Radikale als Ratten.57 Die Freie-Radikale-Theorie des Alterns argumentiert, dass Altern vom Austreten freier Radikale bewirkt wird: Je rascher freie Radikale produziert werden und aussickern, desto rascher altern wir. Die Theorie hat ein schlechtes Jahrzehnt hinter sich, macht in diesem Fall jedoch eine klare Vorhersage – Tauben sollten viel länger als Ratten leben. Und das tun sie. Eine Ratte hat eine Lebenserwartung von drei bis vier Jahren, eine Taube von fast drei Jahrzehnten. Ist die Freie-Radikale-Theorie des Alterns also doch korrekt? In ihrer ursprünglichen Formulierung ist die Antwort einfach: nein. Doch ich denke, dass sie in einer subtileren Form richtig ist.
Die Freie-Radikale-Theorie des Alterns Die Freie-Radikale-Theorie geht auf die Strahlenbiologie der 1950erJahre zurück. Ionisierende Strahlung spaltet Wasser in kurzlebige 306
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„Molekülfragmente“ mit ungepaarten Elektronen: freie Sauerstoff . radikale. Einige davon, wie das berüchtigte Hydroxyl-Radikal (OH ), sind in der Tat sehr reaktionsfreudig, andere, wie das Superoxid-Radikal (O2.-) sind im Vergleich dazu regelrecht zahm. Die Pioniere der Theorie der freien Radikale – Rebeca Gerschman, Denham Harman und andere – erkannten, dass sich dieselben freien Radikale ganz ohne Strahlung direkt aus Sauerstoff bilden können, tief drinnen in den Mitochondrien. Sie sahen freie Radikale als grundsätzlich schädlich an, in der Lage, Proteine zu schädigen und DNA zu mutieren. All das ist richtig – das können sie. Schlimmer noch, könne sie lange Kettenreaktionen in Gang setzen, bei denen sich ein Molekül nach dem anderen (in der Regel Membranlipide) ein Elektron packt und in den empfindlichen Zellstrukturen wütet. Freie Radikale, so die Theorie, rufen letztlich eine ganze Kaskade von Schäden hervor. Stellen Sie sich das bildlich vor. Aus den Mitochondrien treten freie Radikale aus, die mit Nachbarmolekülen aller Art reagieren, einschließlich der nahe gelegenen DNA. In der Mitochondrien-DNA sammeln sich Mutationen an, die die DNA teilweise funktionsuntüchtig machen und zu Atmungsproteinen führen, die noch mehr Radikale produzieren. Sie schädigen mehr Proteine und DNA, und es dauert nicht lange, bis sich die Fäulnis bis zum Kern ausbreitet, was in einer „Fehlerkatastrophe“ mündet. Schauen Sie sich die demografischen Grafiken über Krankheiten und Mortalität an, und Sie werden feststellen, dass ihre Häufigkeit im Alter zwischen 60 und 100 Jahren exponentiell steigt. Die Vorstellung von einer Fehlerkatastrophe (einer Schädigung, die sich aus sich selbst speist) scheint zu dieser Grafik zu passen. Und die Idee, dass der gesamte Alterungsprozess von Sauerstoff angetrieben wird, also genau dem Gas, das wir zum Leben brauchen, entbehrt nicht einer gewissen schrecklichen Faszination. Wenn freie Radikale schlecht sind, dann sind Antioxidantien gut. Antioxidantien unterbinden die schädlichen Wirkungen freier Radikale, blockieren die Kettenreaktionen und verhindern so die Ausbreitung des Schadens. Wenn freie Radikale für den Alterungsprozess verantwortlich sind, dann sollten Antioxidantien ihn verlangsamen, den Ausbruch von Krankheiten verzögern und vielleicht das Leben 307
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verlängern. Einige berühmte Wissenschaftler, allen voran Linus Pauling, glaubten an den Antioxidantien-Mythos. Er nahm jeden Tag mehrere Löffel Vitamin C ein und erreichte tatsächlich das hohe Alter von 92 Jahren, aber das liegt noch immer völlig im normalen Bereich, einschließlich einiger Leute, die ihr ganzes Leben lang geraucht und getrunken haben. So einfach ist es offenbar nicht. Diese Schwarz-Weiß-Sicht freier Radikale und Antioxidantien wird in vielen Hochglanzmagazinen und Gesundheitsläden noch immer propagiert, obgleich die meisten Forscher auf diesem Gebiet bereits vor langer Zeit erkannt haben, dass sie falsch war. Eines meiner Lieblingszitate stammt von Barry Halliwell und John Gutteridge, Autoren des klassischen Lehrbuchs Free Radicals in Biology and Medicine: „Ab den 1990er-Jahren war klar, dass Antioxidantien kein Wundermittel gegen Altern und Krankheit sind, und nur Randgebiete der Medizin gehen noch immer mit dieser Vorstellung hausieren.“ Die Theorie der freien Radikalen ist eine dieser wunderbaren Ideen, die von hässlichen Fakten zerstört werden. Und wirklich, die Fakten sind hässlich. Nicht ein einziger Grundsatz der Theorie, wie sie ursprünglich formuliert wurde, hat einer genauen experimentellen Prüfung standgehalten. Es gibt keine systematischen Messungen, die belegen könnten, dass in den Mitochondrien mit zunehmendem Alter mehr freie Radikale produziert werden. Es kommt zu einem leichten Anstieg in der Zahl mitochondrialer Mutationen, doch mit Ausnahme von begrenzten Geweberegionen ist das Niveau solcher Mutationen normalerweise überraschend gering und liegt deutlich unter demjenigen, von dem bekannt ist, dass es Mitochondriopathien hervorruft. Einige Gewebe zeigen Hinweise auf eine Schadanhäufung, aber nichts, was einer Fehlerkatastrophe ähneln würde, und die Kausalkette ist fragwürdig. Antioxidantien verlängern das Leben höchstwahrscheinlich nicht und schützen auch nicht vor Krankheiten. Ganz im Gegenteil. Die Idee war so durchschlagend, dass viele Hunderttausend Patienten im Lauf der letzten Jahrzehnte an klinischen Tests teilgenommen haben. Die Ergebnisse waren eindeutig. Die Einnahme von hohen Dosen Antioxidantien in Form von Nahrungsergänzungsmitteln stellt ein mäßiges, aber permanentes Risiko dar. Die 308
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Wahrscheinlichkeit zu sterben ist höher, wenn man antioxidativ wirkende Nahrungsergänzungsmitttel einnimmt. Viele langlebige Tierarten weisen in ihren Geweben niedrige Konzentrationen von antioxidativ wirkenden Enzymen auf, bei kurzlebigen Tieren ist diese Konzentration hingegen deutlich höher. Bizarrerweise können Prooxidantien tatsächlich die Lebensspanne von Tieren verlängern. Zusammengenommen ist es daher nicht verwunderlich, dass der größte Teil der Karawane auf dem Gebiet der Gerontologie weitergezogen ist. Ich habe all dies ausführlicher in früheren Büchern diskutiert und würde mir gerne zugute halten, dass es vorausschauend war, bereits 2002 in meinem Buch Oxygen die Vorstellung abzulehnen, dass Antioxidantien den Alterungsprozess verlangsamen, aber um ehrlich zu sein, das war es nicht. Schon damals stand das Menetekel an der Wand. Der Mythos kam durch eine Mischung von Wunschdenken, Habgier und Mangel an Alternativen zustande. Warum denke ich dann noch immer, werden Sie sich vielleicht fragen, dass eine subtilere Theorie der freien Radikale richtig sein könnte? Dafür gibt es mehrere Gründe. In der Originaltheorie fehlen zwei entscheidende Faktoren: Signalgebung und Apoptose. Wie bereits erwähnt, sind Signale von freien Radikalen – einschließlich Apoptose – für die Zellphysiologie von zentraler Bedeutung. Diese Signale mit Antioxidantien zu blockieren, ist riskant und kann die ATP-Synthese in Zellkulturen unterdrücken, wie Antonio Enriquez und seine Kollegen in Madrid gezeigt haben. Höchstwahrscheinlich optimieren Signale von freien Radikalen die Atmung innerhalb individueller Mitochondrien, indem sie die Anzahl der Atmungskomplexe und damit die respiratorische Kapazität erhöhen. Da Mitochondrien einen großen Teil ihrer Zeit damit verbringen, miteinander zu fusionieren und sich dann wieder zu trennen, übersetzt sich die Produktion von mehr Komplexen (und mehr Kopien mitochondrialer DNA) in die Produktion von mehr Mitochondrien – und das bezeichnet man als mitochondriale Biogenese.58 Ein Aussickern von freien Radikalen kann daher die Anzahl der Mitochondrien erhöhen, die wiederum mehr ATP herstellen! Umgekehrt verhindert eine Blockade freier Radikale mit Antioxidantien eine mitochondri309
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ale Biogenese; daher sinkt die ATP-Synthese, wie von Enriquez gezeigt (Abbildung 35). Antioxidantien können die Energieverfügbarkeit unterminieren. Aber wir haben gesehen, dass höhere Austrittsraten an freien Radikalen, oberhalb der Todesschwelle, Apoptose auslösen. Optimieren freie Radikale also die Atmung oder eliminieren sie Zellen per Apo ptose? Tatsächlich ist das nicht ein solcher Widerspruch, wie es klingt. Freie Radikale signalisieren das Problem, dass die respiratorische Kapazität relativ zum Bedarf niedrig ist. Wenn sich das Problem durch Herstellung von mehr respiratorischen Komplexen lösen lässt, die die respiratorische Kapazität erhöhen, dann ist alles in Ordnung. Wenn dies das Problem nicht löst, bringt sich die Zelle um und entfernt ihre vermutlich defekte DNA aus dem Pool. Wenn die geschädigte Zelle (via Stammzelle) durch eine schöne neue Zelle ersetzt wird, dann ist das Problem gelöst oder vielmehr ausgemerzt worden. Diese zentrale Rolle der Signalgebung per freie Radikale bei der Optimierung der Atmung erklärt, warum Oxidantien das Leben nicht verlängern. Sie können die Atmung in Zellkulturen unterdrücken, weil dort die normalen Schutzmaßnahmen des Körpers fehlen. Im Körper werden massive Dosen von Antioxidantien wie Vitamin C kaum resorbiert und wirken durchfallfördernd. Jeder Überschuss, der tatsächlich ins Blut gelangt, wird rasch mit dem Urin wieder ausgeschieden. Die Blutwerte sind stabil. Das heißt nicht, dass man Antioxidantien in Nahrungsmitteln, vor allem Gemüse und Obst, meiden sollte – man braucht sie. Man kann sogar von Nahrungsergänzungsmitteln profitieren, wenn man sich unausgewogen ernährt oder unter Vitaminmangel leidet. Aber antioxidative Nahrungsergänzungsmittel auf eine ausgewogene Ernährung (mit Pro- und Antioxidantien) „draufzusetzen“, ist kontraproduktiv. Wenn der Körper Antioxidantien erlaubte, in hoher Konzentration in die Zellen zu gelangen, würden sie dort Verwüstungen anrichten und wären durch den von ihnen verursachten Energiemangel potenziell lebensgefährlich. Daher lässt der Körper sie nicht in die Zellen herein. Ihre Konzentration innerhalb und außerhalb der Zellen wird sorgfältig kontrolliert.
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Abbildung 35: Antioxidantien können gefährlich sein Die Grafiken zeigen die Ergebnisse eines Experiments mit Hybridzellen oder Cybriden. In allen Fällen sind die Gene im Kern fast identisch; der Hauptunterschied liegt in der mi tochondrialen DNA. Es gibt zwei Typen mitochondrialer DNA: einer von derselben Mäu selinie wie die Kerngene (oben, ROS niedrig) und der andere von einer verwandten Zuchtlinie mit einer Reihe von Unterschieden in ihrer mitochondrialen DNA (Mitte, ROS hoch). ROS steht für Reactive Oxygen Species (Reaktive Sauerstoffspezies) und ent spricht der Rate der aus den Mitochondrien austretenden freien Radikale. Die Rate der ATP-Synthese wird durch die großen Pfeile dargestellt und ist in den Cybriden mit nied rigem und mit hohem ROS identisch. Der Cybrid mit dem niedrigen ROS erzeugt diese ATP-Menge jedoch problemlos und produziert dabei nur wenig freie Radikale (angezeigt durch kleine „Explosionen“ in den Mitochondrien) und eine niedrige Kopierzahl mito chondrialer DNA (Schlangenlinien). Im Gegensatz dazu produziert der Cybrid mit hohem ROS mehr als die doppelte Rate an freien Radikalen und das Doppelte der Kopierzahl mitochondrialer DNA. Der Austritt der freien Radikale startet offenbar die Atmung. Diese Interpretation wird durch die untere Grafik gestützt: Antioxidantien senken die Rate, mit der freie Radikale austreten, reduzieren aber auch die Kopierzahl der mito chondrialen DNA und, was kritisch ist, die Rate der DNA-Synthese. Daher stören Anti oxidantien die Signalgebung der freien Radikale, die die Zellatmung optimiert.
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Und Apoptose eliminiert durch das Ausmerzen geschädigter Zellen die Beweise für die Schädigung. Die Kombination aus Signalen freier Radikale und Apoptose bringt die meisten Vorhersagen der ursprünglichen Theorie der freien Radikale durcheinander, die lange vor Klärung dieser Prozesse formuliert wurde. Aus diesen Gründen finden wir keinen anhaltend erhöhten Austritt freier Radikale, keine große Zahl von Mitochondrienmutationen, keine Häufung oxidativer Schäden, keine Vorteile von Antioxidantien und auch keine Fehlerkatastrophe. All das erscheint völlig plausibel und erklärt, warum die Vorhersagen der ursprünglichen Freie-Radikale-Theorie des Alterns weitgehend falsch waren. Aber es gibt keinen Hinweis darauf, warum die Freie-Radikale-Theorie dennoch richtig sein könnte. Warum sollten freie Radikale, wenn sie so gut reguliert und vorteilhaft sind, überhaupt irgendetwas mit dem Altern zu tun haben? Nun, sie können die Varianz in der Lebensspanne verschiedener Arten erklären. Wir wissen seit den 1920er-Jahren, dass die Lebensspanne tendenziell mit der Stoffwechselrate variiert. Der exzentrische Biometriker Raymond Pearl betitelte einen frühen Artikel zu dem Thema „Warum träge Menschen länger leben“. Das tun sie nicht, im Gegenteil. Aber das war Pearls Einführung in seine berühmte Rate-of-Living-Theorie („Lebensratentheorie“), an der tatsächlich etwas dran ist. Tiere mit einer niedrigen Stoffwechselrate (oft große Arten wie Elefanten) leben in der Regel länger als Tiere mit einer hohen Stoffwechselrate, wie Mäuse und Ratten.59 Die Regel stimmt gewöhnlich, wenn man sie innerhalb von Großgruppen wie Reptilien, Säugern und Vögeln anwendet, passt aber nicht besonders gut, wenn sie zwischen diesen Gruppen angewandt wird; daher ist die Idee in Misskredit geraten oder wird zumindest ignoriert. Aber tatsächlich gibt es eine einfache Erklärung, die wir bereits angesprochen haben – Austritt freier Radikale. In ihrer ursprünglichen Fassung sah die Freie-Radikale-Theorie des Alterns freie Radikale als unvermeidliches Nebenprodukt der Zellatmung an; man nahm an, dass rund 1–5 Prozent des Sauerstoffs zwangsläufig in freie Radikale umgewandelt werden. Aber das war in zweierlei Hinsicht falsch. Erstens wurden alle klassischen Messun312
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gen an Zellen oder Geweben durchgeführt, die atmosphärischen Sauerstoffkonzentrationen ausgesetzt waren, viel höher als diejenigen, denen die Zellen im Körper ausgesetzt sind. Die tatsächlichen Austrittsraten könnten mehrere Zehnerpotenzen niedriger liegen. Wir wissen einfach nicht, inwieweit sich dieser Unterschied auf die Relevanz der Ergebnisse auswirkt. Und zweitens ist der Austritt freier Radikale kein unvermeidliches Nebenprodukt der Zellatmung – es ist ein beabsichtigtes Signal, und die Leckrate variiert enorm zwischen verschiedenen Arten, Geweben, Tageszeit, Hormonstatus, Kalorienaufnahme und körperlicher Betätigung. Wenn man sich körperlich betätigt, verbraucht man mehr Sauerstoff, daher steigt die Menge freier Radikale, richtig? Falsch! Sie bleibt konstant oder sinkt sogar, denn der Anteil von austretenden Radikalen relativ zum aufgenommenen Sauerstoff sinkt beträchtlich. Das ist so, weil der Elektronenfluss in der Atmungskette sich beschleunigt, was bedeutet, dass die respiratorischen Komplexe weniger stark reduziert werden und daher weniger wahrscheinlich direkt mit Sauerstoff reagieren (Abbildung 36). Die Details spielen hier keine Rolle. Der Punkt ist, dass es keine einfache Beziehung zwischen der Lebensrate und der Produktion freier Radikale gibt. Wir haben festgestellt, dass Vögel weitaus länger leben, als sie auf der Basis ihrer Stoffwechselrate eigentlich „sollten“. Sie haben eine hohe Stoffwechselrate, setzen aber relativ wenig Radikale frei und leben lang. Die zugrunde liegende Korrelation ist diejenige zwischen der Produktion freier Radikale und Lebensspanne. Korrelationen sind berüchtigt als Leitfaden für Kausalbeziehungen, doch diese ist zweifellos eindrucksvoll. Könnte hier ein kausaler Zusammenhang bestehen? Betrachten Sie die Folgen der Signalgebung per freie Radikale in den Mitochondrien: Optimierung der Zellatmung und Eliminierung dysfunktionaler Mitochondrien. Die Mitochondrien, die die meisten freien Radikale produzieren, stellen die meisten Kopien von sich her, eben weil die Signale der freien Radikale das respiratorische Defizit dadurch kompensieren, dass sie die Kapazität erhöhen. Aber was ist, wenn das respiratorische Defizit nicht eine Verschiebung von Angebot und Nachfrage, sondern eine Inkompatibi313
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Abbildung 36: Warum Ruhe schlecht für Sie ist Die traditionelle Sicht der Freie-Radikale-Theorie des Alterns ist, dass bei der Zellatmung ein kleiner Teil von Elektronen aus der Atmungskette „aussickert“, um direkt mit Sauer stoff zu reagieren und freie Radikale wie das Superoxid-Radikal (O2.- ) zu bilden. Da Elek tronen rascher fließen und wir mehr Sauerstoff verbrauchen, wenn wir uns bewegen, hat man angenommen, dass sich die Produktion freier Radikale bei körperlicher Betätigung erhöht, selbst wenn der Anteil der austretenden Elektronen gleich bleibt. Das ist aber nicht der Fall. Die obere Grafik zeigt die tatsächliche Situation während körperlicher Be tätigung: Der Elektronenfluss durch die Atmungskette ist rasch, denn ATP wird rasch verbraucht. Das erlaubt Protonen, durch die ATP-Synthase zu fließen, was das Membran potenzial senkt, was wiederum die Atmungskette veranlasst, die Leistung der Protonen pumpen zu erhöhen, was Elektronen rascher die Atmungskette hinab zum Sauerstoff zieht, was eine Anhäufung von Elektronen in den respiratorischen Komplexen verhindert und ihren reduktiven Status (hellgraue Schattierung) senkt. Das heißt, dass bei körper licher Betätigung nur wenige freie Radikale produziert werden. Das Umgekehrte gilt in Ruhe, denn die untere Grafik zeigt, dass es bei Inaktivität zu einem höheren Austritt an Radikalen kommen kann. Ein geringer ATP-Verbrauch bedeutet ein hohes Membran potenzial, und es wird schwierig, Protonen zu pumpen; daher füllen sich die respiratori schen Komplexe allmählich mit Elektronen (dunkelgraue Schattierung) und setzen mehr Radikale frei. Am besten nimmt man also die Beine in die Hand.
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lität mit dem Kern widerspiegelte? Einige mitochondriale Mutationen sind tatsächlich altersabhängig, was zu einer Mischung verschiedener Mitochondrientypen führt, von denen einige besser mit den Kerngenen zusammenarbeiten als andere. Daher gibt es ein Problem. Die besonders inkompatiblen Mitochondrien produzieren tendenziell die meisten freien Radikale und stellen daher die meisten Kopien ihrer selbst her. Das kann eine von zwei Konsequenzen haben. Entweder die Zelle stirbt via Apoptose, was ihre Last an mitochondrialen Mutationen eliminiert, oder sie tut es nicht. Lassen Sie uns zunächst überlegen, was passiert, wenn die Zelle stirbt. Entweder wird sie ersetzt oder nicht. Wenn sie ersetzt wird, ist alles gut. Aber wenn sie nicht ersetzt wird, zum Beispiel im Gehirn oder im Herzmuskel, verliert das Gewebe langsam an Masse. Weniger Zellen müssen dieselbe Arbeit erledigen und werden damit unter stärkeren Druck gesetzt. Sie geraten unter physiologischen Stress, wodurch sich die Aktivität von vielen Tausend Genen ändert, wie in den Hoden jener Taufliegen mit mitonukleären Unverträglichkeiten. In keinem Stadium dieses Prozesses haben freie Radikale notwendigerweise Proteine geschädigt oder zu einer Fehlerkatastrophe geführt. Alles wird von subtilen Signalen freier Radikale in den Mitochon drien angetrieben, aber das Ergebnis ist Gewebeverlust, physiologischer Stress und Veränderungen in der Genregulation – alles Veränderungen, die mit dem Altern einhergehen. Was passiert, wenn eine Zelle nicht durch Apoptose stirbt? Wenn ihr Energiebedarf gering ist, kann er auch von mangelhaften Mitochondrien oder durch Gärung zur Produktion von Milchsäure gedeckt werden (was oft irrigerweise als anaerobe Atmung bezeichnet wird). Hier haben wir ein Beispiel für die Anhäufung von mitochondrialen Mutationen in Zellen, die „altern“. Diese Zellen wachsen nicht mehr, können sich aber störend in Geweben auswirken, weil sie selbst unter Stress stehen und oft chronische Entzündungen und eine Fehlregulation von Wachstumsfaktoren hervorrufen. Das stimuliert Zellen, die auf jeden Fall wachsen wollen, wie Stammzellen, Gefäßzellen und so weiter, und regt sie dazu an zu wachsen, wenn sie besser nicht wachsen sollten. Wenn man Pech hat, können 315
Teil IV: Vorhersagen
sie sich zu Krebs entwickeln, in den meisten Fällen eine altersbedingte Krankheit. Es lohnt sich zu betonen, dass dieser ganze Prozess von Energiedefiziten angetrieben wird, die letztlich von Signalen freier Radikale innerhalb der Mitochondrien ausgelöst werden. Unverträglichkeiten, die sich mit zunehmendem Alter anhäufen, unterminieren die Leistungsfähigkeit der Mitochondrien. Diese Sichtweise unterscheidet sich grundlegend von der konventionellen Freie-Radikale-Theorie, denn sie basiert nicht auf oxidativer Schädigung in den Mitochondrien oder anderswo (auch wenn sie so etwas nicht ausschließt; es ist nur einfach nicht nötig). Da freie Radikale, wie bereits erwähnt, als Signale zur Erhöhung der ATP-Synthese wirken, ist die Vorhersage, dass Antioxidantien nicht wirken sollten; sie verlängern die Lebensdauer nicht und schützen auch nicht vor Krankheit, denn sie würden die Energieverfügbarkeit unterminieren, wenn sie denn jemals Zugang zu den Mitochondrien erhielten. Mit dieser Sichtweise lässt sich auch die exponentielle Zunahme von Krankheit und Mortalität in Abhängigkeit vom Alter erklären: Die Gewebefunktion kann über viele Jahrzehnte langsam abnehmen und schließlich unter die Schwelle sinken, die für eine normale Funktion erforderlich ist. Wir können Anstrengungen immer schlechter bewältigen, und schließlich ist auch eine passive Existenz nicht mehr möglich. Dieser Prozess läuft bei jedermann über die Jahrzehnte ab, in denen wir sterben, und führt zu dem exponentiellen Abfall in den Grafiken der Bestatter. Was können wir also im Hinblick auf das Altern tun? Ich habe gesagt, dass Raymond Pearl unrecht hatte: Träge Menschen leben nicht länger – körperliche Betätigung ist vorteilhaft. Gleiches gilt innerhalb gewisser Grenzen für eine Kalorienreduktion und eine kohlenhydrat arme Ernährung. Beides fördert eine physiologische Stressreaktion (wie es auch Prooxidantien tun), die tendenziell defekte Zellen und schlecht funktionierende Mitochondrien eliminiert, was das Überleben kurzfristig fördert, aber im Allgemeinen auf Kosten einer gesenkten Fertilität.60 Wieder stoßen wir auf die Verbindung zwischen aerober Kapazität, Fruchtbarkeit und Langlebigkeit. Aber es gibt zwangsläufig eine Grenze bei dem, was man durch Modulation der 316
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eigenen Physiologie erreichen kann. Wir haben eine maximale Lebensspanne, die durch unsere Evolutionsgeschichte vorgegeben wird und die letztlich von der Komplexität synaptischer Verbindungen in unserem Gehirn sowie der Stammzellenpopulation in anderen Geweben abhängig ist. Von Henry Ford heißt es, er habe eine Schrotthalde besucht, um festzustellen, welche Teile ausgemusterter Fords noch funktionsfähig waren, und dann darauf bestanden, diese unnötig langlebigen Teile in neuen Modellen durch billigere Versionen zu ersetzen, um Kosten zu sparen. Genauso ergibt es aus Sicht der Evolution keinen Sinn, eine große und dynamische Population von Stammzellen in der Darmschleimhaut zu unterhalten, wenn sie niemals gebraucht werden, weil unser Gehirn das erste Teil ist, das versagt. Im Endeffekt sind wir von der Evolution für unsere zu erwartende Lebensspanne optimiert worden. Ich bezweifele, dass wir jemals einen Weg finden werden, durch bloße Feinabstimmung unserer Physiologie deutlich länger als 120 Jahre zu leben. Evolution ist jedoch eine andere Sache. Erinnern Sie sich an die variable Todesschwelle. Arten mit hohem Sauerstoffbedarf wie Vögel und Fledermäuse haben eine niedrige Schwelle: Selbst eine mäßige Produktion von freien Radikalen löst in der Embryonalentwicklung eine Apoptose aus, und nur die Nachkommen mit einer geringen Radikalenproduktion entwickeln sich bis zur Geburtsreife. Diese geringe Rate an freien Radikalen korrespondiert aus Gründen, die wir bereits diskutiert haben, mit einer langen Lebenserwartung. Umgekehrt haben Tiere mit einem geringen Sauerstoffbedarf wie Ratten und Mäuse eine höhere Todesschwelle, tolerieren höhere Konzentrationen an freien Radikalen und haben eine geringere Lebenserwartung. Das führt zu einer direkten Vorhersage: Eine Selektion für eine höhere aerobe Kapazität über Generationen sollte zu einer verlängerten Lebensspanne führen. Und das ist tatsächlich der Fall. Ratten, beispielsweise, lassen sich nach ihrer Kapazität selektieren, in einem Laufrad zu laufen. Wenn man die besten Läufer jeder Generation miteinander kreuzt und dasselbe mit den schlechtesten Läufern tut, steigt die Lebensspanne in der Gruppe mit der hohen Kapazität und sinkt in der Gruppe mit der niedrigen Kapazität. Im 317
Teil IV: Vorhersagen
Verlauf von zehn Generationen erhöhen die guten Läufer ihre aerobe Kapazität relativ zu den schlechten Läufern um 350 Prozent und leben fast ein Jahr länger (ein großer Unterschied, wenn man bedenkt, dass Ratten normalerweise nur rund drei Jahre alt werden). Ich nehme an, dass eine ähnliche Selektion während der Evolution von Fledermäusen und Vögeln und allgemein bei Endothermen (warmblütigen Tieren) stattfand, was ihre Lebenserwartung letztlich um eine Zehnerpotenz steigerte.61 Wir wünschen vielleicht nicht, auf dieser Basis Eigenselektion zu betreiben, das erinnert allzu sehr an Eugenik. Selbst wenn es tatsächlich funktionieren sollte, würde ein solches Social Engineering mehr Probleme schaffen als lösen. Aber vielleicht haben wir das tatsächlich schon getan. Im Vergleich zu anderen Großen Menschenaffen haben wir eine hohe aerobe Kapazität. Und wir leben tatsächlich deutlich länger als sie – wir leben fast doppelt so lang wie Schimpansen und Gorillas, die eine ähnliche Stoffwechselrate haben. Vielleicht verdanken wir das unseren prägenden Jahren als Spezies, als unsere Vorfahren Gazellen über die afrikanische Savanne jagten. Vielleicht macht Ihnen dieser Dauerlauf keinen besonderen Spaß, aber es hat uns als Art geformt. Doch kein Nutzen ohne Kosten. Aus der einfachen Betrachtung des Bedarfs für zwei Genome können wir vorhersagen, dass unsere Vorfahren ihre aerobe Kapazität steigerten, ihren Output an freien Radikalen senkten, sich ein Fruchtbarkeitsproblem einhandelten und ihre Lebenserwartung erhöhten. Wie viel Wahrheit steckt in all dem? Es handelt sich um eine überprüfbare Hypothese, die sich als falsch herausstellen könnte. Sie erwächst jedoch zwangsläufig aus dem Bedarf an mosaikartigen Mitochondrien, eine Vorhersage, die ihrerseits wiederum auf dem Ursprung der eukaryotischen Zelle beruht, welche bei einer einzigen Gelegenheit vor fast zwei Milliarden Jahren die energetischen Einschränkungen überwand, die Bakterien bakteriell halten. Kein Wunder, dass die untergehende Sonne über den Steppen Afrikas noch immer eine so starke emotionale Wirkung auf uns ausübt. Sie verbindet uns durch eine wunderbare, wenn auch ein wenig verwundene Kausalkette direkt mit den Ursprüngen des Lebens auf unserem Planeten. 318
Epilog: Aus der Tiefe
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M
ehr als 1200 Meter tief im Pazifik vor der japanischen Küste liegt ein Unterwasservulkan namens Myojin Knoll. Auf der Suche nach interessanten Lebensformen durchkämmt ein Team japanischer Biologen diese Region seit mehr als einem Jahrzehnt. Nach eigenen Angaben fanden sie nichts wirklich Überraschendes, bis sie im Mai 2010 einige Borstenwürmer (Polychaeten) entdeckten, die einen hydrothermalen Schlot besiedelten. Nicht die Würmer waren das Interessante, sondern die Mikroorganismen, die sie beherbergten. Nun, um genau zu sein, einer der Mikroorganismen – eine Zelle, die einem Eukaryoten sehr ähnlich sah, bis die Forscher genauer hinschauten (Abbildung 37). Dann wurde die Zelle zu einem wirklich faszinierenden Rätsel. Eukaryot bedeutet so viel wie „echter Zellkern, und diese Zelle weist eine Struktur auf, die auf den ersten Blick wie ein normaler Zellkern aussieht. Darüber hinaus besitzt sie andere gewundene innere Membranen und einige Endosymbionten, bei denen es sich um Hydrogenosomen handeln könnte, abgeleitet von Mitochondrien. Wie eukaryotische Pilze und Algen hat sie eine Zellwand, während ihr Chloroplasten fehlen, was bei einem Tiefseeorganismus nicht verwunderlich ist. Die Zelle ist mittelgroß, rund 10 Mikrometer lang und 3 Mikrometer breit; damit ist ihr Volumen rund 100-mal größer als dasjenige eines typischen Bakteriums wie E. coli. Der Kern ist groß und nimmt fast die halbe Zelle ein. Ein kurzer Blick zeigt, dass sich die Zelle nicht leicht in eine bekannte Gruppe einordnen lässt, aber sie ist eindeutig eukaryotisch. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Gensequenzierung, möchte man meinen, bis man dieser Zelle ihren Platz im Baum des Lebens zuweisen kann. Aber was ist, wenn man nochmals hinschaut? Alle Eukaryoten haben einen Zellkern, das stimmt, doch in allen bekannten Fällen ist dieser Zellkern gleich aufgebaut. Er hat eine doppelte Membran, die kontinuierlich in andere Zellmembranen übergeht, einen Nukleolus, wo ribosomale RNA synthetisiert wird, ausgeklügelte Kernporenkomplexe und eine elastische Lamina, und die sorgfältig in Proteinen 319
Teil IV: Vorhersagen
Abbildung 37: Ein einzigartiger Mikroorganismus aus der Tiefsee Ist das ein Prokaryot oder ein Eukaryot? Er hat eine Zellwand (CW), eine Plasmamembran (PM) und einen Zellkern (N), der von einer Kernmembran (NM) umgeben ist. Zudem be herbergt der Organismus mehrere Endosymbionten (E), die ein wenig wie Hydrogenoso men aussehen. Er ist recht groß, etwa 10 Mikrometer lang; der Kern ist ebenfalls groß und nimmt fast 40 Prozent des Zellvolumens ein. Also eindeutig ein Eukaryot. Aber halt! Die Kernmembran ist einfach, keine Doppelschicht. Es gibt keinen Kernporenkomplex, nur gelegentliche Lücken. Im Kern und außerhalb des Kerns finden sich Ribosomen (fle ckig graue Regionen). Die Kernmembran geht kontinuierlich in andere Membranen und selbst in die Plasmamembran über. Die DNA liegt in Form dünner Filamente – nicht in Chromosomen wie bei Eukaryoten – vor und hat einen Durchmesser von 2 Nanometern wie bei Bakterien. Also eindeutig kein Eukaryot. Ich vermute, dass dieser rätselhafte Or ganismus tatsächlich ein Prokaryot ist, der bakterielle Endosymbionten erworben hat und nun die eukaryotische Evolution wiederholt, größer wird, sein Genom anschwellen lässt und das Rohmaterial für Komplexität ansammelt. Aber dies ist das einzige Beispiel, und ohne eine Genomsequenz werden wir das Rätsel vielleicht niemals lösen.
verpackte DNA bildet Chromosomen – relativ dicke Chromatinfasern von 30 Nanometern Durchmesser. Wie wir in Kapitel 6 gesehen haben, findet die Proteinsynthese an Ribosomen statt, die stets außerhalb des Kerns liegen. Genau darauf basiert die Unterscheidung zwischen Zellkern und Cytoplasma. Was ist also mit der Zelle von Myojin Knoll? Sie hat eine einfache Kernmembran mit einigen Lücken. Keine Kernporen. Die DNA be320
Epilog: Aus der Tiefe
steht aus dünnen Filamenten von etwa 2 Nanometern Durchmesser wie bei Bakterien, nicht aus dicken eukaryotischen Chromosomen. Im Kern gibt es Ribosomen. Ribosomen im Kern! Und auch Ribosomen außerhalb des Kerns. Die Kernmembran geht an mehreren Stellen in die Plasmamembran über. Die Endosymbionten könnten Hydrogenosomen sein, aber einige von ihnen zeigen auf einer 3-D-Rekonstruktion eine schraubenförmige bakterielle Morphologie. Sie sehen eher wie in jüngerer Zeit erworbene Bakterien aus. Während die Zelle innere Membranen aufweist, gibt es nichts, was an ein endoplasmatisches Retikulum, einen Golgi-Apparat oder ein Cytoskelett erinnert, alles klassische eukaryotische Merkmale. Mit anderen Worten ähnelt diese Zelle in keiner Weise einem modernen Eukaryoten. Sie weist lediglich eine oberflächliche Ähnlichkeit auf. Was ist sie also? Die Autoren wussten es nicht. Sie nannten das Geschöpf Parakaryon myojinensis, wobei der neue Begriff „Parakaryot“ auf seine Zwischenstellung verweist. Ihr Artikel, der im Journal of Electron Microscopy erschien, trägt einen der spannendsten Titel, die ich jemals gelesen habe: „Prokaryot oder Eukaryot? Ein einzigartiger Mikroorganismus aus der Tiefsee“. Nachdem die Frage wunderbar formuliert war, bringt uns der Artikel der Antwort kaum näher. Eine Genomsequenzierung oder selbst eine Analyse der ribosomalen RNA würde einen gewissen Einblick in die wahre Identität der Zelle erlauben und hätte diese weitgehend übersehene wissenschaftliche Fußnote in einen Nature-Artikel mit einem hohen Impact-Faktor verwandelt. Aber sie hatten ihr einziges Exemplar in Schnitte zerlegt. Alles, was sie mit Sicherheit sagen können, ist, dass sie in 15 Jahren und unter 10 000 elektronenmikroskopischen Schnitten noch nie etwas auch nur annähernd Ähnliches gesehen haben. Sie haben seitdem auch nichts Ähnliches wiedergesehen. Und auch niemand sonst. Was ist sie also? Die ungewöhnlichen Merkmale könnten ein Präparationsartefakt sein – eine Möglichkeit, die angesichts der schwierigen Geschichte der Elektronenmikroskopie nicht von der Hand zu weisen ist. Andererseits, wenn die Merkmale nur Artefakte sind, warum ist dieses Exemplar dann so seltsam und so einzigartig? Und warum sehen die Strukturen in sich so „plausibel“ aus? Ich wette, 321
Teil IV: Vorhersagen
dass es kein Artefakt ist. Das lässt uns drei Alternativen. Es könnte sich um einen stark abgeleiteten Eukaryoten handeln, der seine normale Struktur veränderte, während er sich an einen ungewöhnlichen Lebensstil – auf dem Rücken eines Tiefseewurms an einem hydrothermalen Schlot hockend – anpasste. Aber das ist unwahrscheinlich. Eine Vielzahl anderer Zellen lebt unter ähnlichen Umständen, und sie haben sich nicht derart verändert. Im Allgemeinen verlieren stark abgeleitete Eukaryoten archetypische eukaryotische Merkmale, aber die, die übrig bleiben, sind noch immer erkennbar eukaryotisch. Das gilt beispielsweise für alle Archaezoen, diese angeblich lebenden Fossilien, die einst als primitive Zwischenglieder galten, bis sich herausstellte, dass sie von voll ausgebildeten Eukaryoten abstammten. Wenn Parakaryon myojinensis tatsächlich ein stark abgeleiteter Eukaryot ist, dann unterscheidet er sich in seinem Grundbauplan radikal von allem, was wir bisher gesehen haben. Ich glaube nicht, dass das zutrifft. Alternativ könnte es sich tatsächlich um ein lebendes Fossil handeln, ein „echtes Archaezoon“, das sich an seine Existenz klammerte und das unter den konstanten Bedingungen in der Tiefsee nicht nötig hatte, das moderne Spektrum eukaryotischer Accessoires zu entwickeln. Dieser Erklärung neigen die Autoren des Artikels zu, aber ich halte auch das für unwahrscheinlich. Der Organismus lebt in keiner sich nicht verändernden Umgebung: Er siedelt auf dem Rücken eines Polychaeten, eines komplexen vielzelligen Eukaryoten, der in der Frühevolution der Eukaryoten zweifellos noch nicht existierte. Die geringe Populationsdichte – nach vielen Jahren der Schleppnetz-Suche wurde nur eine einzige Zelle gefunden – lässt mich auch bezweifeln, dass er zwei Milliarden Jahre unverändert überstanden haben könnte. Kleine Populationen sind höchst aussterbegefährdet. Wenn sich die Population ausdehnt, schön, aber wenn nicht, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor der statistische Zufall dafür sorgt, dass sie ausstirbt. Zwei Milliarden Jahre sind eine sehr lange Zeit – rund 30-mal länger als die Zeitspanne, die der Quastenflosser (Coelacanthus) als lebendes Fossil in der Tiefsee überlebt hat. Jeder echte Überlebende aus der Frühzeit der Eukaryoten müsste 322
Epilog: Aus der Tiefe
mindestens so zahlreich sein wie die realen Archaezoen, um eine so lange Zeit zu überdauern. Das lässt eine letzte Möglichkeit übrig. Um es mit den Worten des Meisterdetektivs Sherlock Holmes zu sagen: „Wenn man das Unmögliche ausgeschlossen hat, muss das, was übrig bleibt, die Wahrheit sein, so unwahrscheinlich sie auch klingen mag.“ Auch wenn die anderen Optionen keineswegs unmöglich sind, ist diese dritte zweifellos die interessanteste: Es handelt sich um einen Prokaryot, der Endosymbionten erworben hat und dabei ist, sich in eine Zelle zu verwandeln, die einem Eukaryoten ähnelt, also in gewisser Weise eine Rekapitulation der Evolution. Meines Erachtens ergibt das viel mehr Sinn. Es erklärt sofort, warum die Populationsdichte gering ist; wie bereits erwähnt, sind Endosymbiosen zwischen Prokaryoten selten und stecken voller logistischer Schwierigkeiten.62 Es ist keineswegs einfach, Selektion, die auf der Ebene der Wirtszelle arbeitet, und den Endosymbionten in einer „jungfräulichen“ Endosymbiose zwischen Prokaryoten unter einen Hut zu bringen. Das wahrscheinlichste Schicksal für eine solche Zelle ist das Aussterben. Eine Endosymbiose zwischen Prokaryoten erklärt auch, warum diese Zelle verschiedene Merkmale aufweist, die eukaryotisch aussehen, es aber bei näherem Hinschauen nicht sind. Sie ist relativ groß, hat ein Genom, das wesentlich größer aussieht als das irgendeines anderen Prokaryoten und das in einem „Zellkern“ mit inneren Membranen liegt, und so weiter. Das sind alles Merkmale, die sich nach unserer Vorhersage in Prokaryoten mit Endosymbionten aus Grundprinzipien entwickeln würden. Ich würde eine kleine Summe darauf verwetten, dass diese Endosymbionten bereits einen großen Teil ihres Genoms verloren haben, denn ich habe dargelegt, dass nur der Prozess des endosymbiontischen Genverlusts die Expansion des Wirtszellgenoms bis zum eukaryotischen Niveau fördern kann. Genau das spielt sich offenbar hier gerade ab: Eine entsprechende extreme Genomasymmetrie fördert eine unabhängige Entwicklung morphologischer Komplexität. Sicherlich ist das Genom der Wirtszelle groß und nimmt rund ein Drittel der Zelle ein, die bereits 100-mal größer ist als E. coli. Dieses Genom liegt in einer Struktur, die, oberflächlich betrachtet, stark an einen Zellkern erin323
Teil IV: Vorhersagen
nert. Seltsamerweise sind nur einige Ribosomen aus der Struktur ausgegrenzt. Heißt das, dass die Intron-Hypothese falsch ist? Das ist schwer zu sagen, denn die Wirtszelle hier könnte ein Bakterium sein, kein Archaeon, und daher weniger empfindlich auf den Transfer von mobilen bakteriellen Introns reagieren. Die Tatsache, dass sich unabhängig ein nukleäres Kompartiment entwickelt hat, spricht für die Annahme, dass hier ähnliche Kräfte am Werk sind und aus dem gleichen Grund auch in großen Zellen mit Endosymbionten operieren. Wie steht es mit den anderen eukaryotischen Merkmalen wie Sex und Paarungstypen? Ohne eine Genomsequenz können wir dazu nichts sagen. Wie bereits erwähnt, ist dies das verlockendste Rätsel überhaupt. Wir können nichts weiter tun als abwarten; das ist ein fester Bestandteil der niemals endenden Unsicherheit in der Wissenschaft. Das ganze Buch war ein Versuch vorherzusagen, warum das Leben so ist, wie es ist. In erster Näherung sieht es so aus, als rekapituliere Parakaryon myojinensis möglicherweise einen Parallelpfad in Richtung komplexes Leben, ausgehend von bakteriellen Vorfahren. Ob ein Organismus irgendwo im Universum demselben Pfad folgt, hängt von Ausgangspunkt ab – dem Ursprung des Lebens selbst. Ich habe argumentiert, dass auch dieser Ausgangspunkt durchaus rekapituliert werden könnte. Alles Leben auf der Erde ist chemiosmotisch und abhängig von Protonengradienten über Membranen, um den Kohlenstoff- und den Energiestoffwechsel anzutreiben. Wir haben die möglichen Ursprünge und Konsequenzen dieses merkwürdigen Merkmals diskutiert. Wir haben gesehen, dass Leben eine kontinuierlich wirkende Triebkraft braucht, eine permanente chemische Reaktion, die als Nebenprodukt reaktive Zwischenprodukte erzeugen, darunter Moleküle wie ATP. Solche Moleküle treiben energieaufwendige Reaktionen an, die Zellen ausmachen. Dieser Fluss von Kohlenstoff und Energie muss, als das Leben entstand, noch größer gewesen sein, denn das war vor der Evolution biologischer Katalysatoren, die den Strom des Metabolismus kanalisierten. Nur sehr wenige natürliche Lebensräume können die Anforderungen für Leben erfüllen – einen kontinuierlichen, hohen Strom von Kohlenstoff und nutzbarer Energie 324
Epilog: Aus der Tiefe
durch mineralische Katalysatoren, eingeengt in ein natürlicherweise mikrokompartimentalisiertes System, in der Lage, Produkte zu konzentrieren und Abfälle zu entsorgen. Auch wenn es andere Lebensräume geben mag, die diese Kriterien erfüllen, ist dies bei alkalinen hydrothermalen Schloten sicherlich der Fall, und solche Schlote sind wahrscheinlich auf feuchten Gesteinsplaneten überall im Universum recht häufig. Die Einkaufsliste für Leben im Bereich dieser Schlote ist kurz: Gestein (Minerale wie Olivin), Wasser und CO2, drei der allgegenwärtigsten Substanzen im Universum. Geeignete Bedingungen für die Entstehung von Leben könnten gegenwärtig allein in unserer Milchstraße auf rund 40 Milliarden Planeten gegeben sein.63 Alkaline hydrothermale Schlote gehen mit einem Problem und einer Lösung einher. Sie sind reich an H2, aber das Gas reagiert nicht bereitwillig mit CO2. Wie wir gesehen haben, könnten natürliche Protonengradienten über dünne halbleitende mineralische Barrieren theoretisch die Bildung von organischen Substanzen und letztlich das Auftreten von Zellen in Poren der Schlote antreiben. Wenn das so ist, dann hängt Leben von Anfang an von Protonengradienten (und Eisen-SchwefelClustern) ab, um die kinetischen Barrieren für die Reaktion zwischen H2 und CO2 zu überwinden. Um auf natürlichen Proteingradienten zu wachsen, brauchten diese frühen Zellen poröse Membranen, die in der Lage waren, die für Leben notwendigen Moleküle zurückzuhalten, ohne sich von dem Energie liefernden Protonenfluss abzuschneiden. Das wiederum verhinderte ein Verlassen der Schlote, es sei denn durch die engen Tore einer strikten Folge von Ereignissen, die einen Antiporter erforderten und die die Koevolution von aktiven Ionenpumpen sowie modernen Phospholipidmembranen ermöglichten. Erst dann konnten Zellen den Schlot verlassen und die Ozeane und Felsen der frühen Erde besiedeln. Wir haben gesehen, dass diese strikte Folge von Ereignissen die paradoxen Eigenschaften von LUCA erklären könnte, dem letzten allgemeinen gemeinsamen Vorfahren des Lebens, wie auch die tiefe Kluft zwischen Bakterien und Archaeen. Und nicht zuletzt können diese strengen Anforderungen erklären, warum alles Leben auf der Erde chemiosmotisch ist – warum dieses seltsame Merkmal genauso universell ist wie der genetische Code selbst. 325
Teil IV: Vorhersagen
Dieses Szenario – eine Umwelt, die, kosmisch gesehen, häufig ist, aber einen Satz strikter Einschränkungen aufweist, die das Endergebnis regulieren – lässt es wahrscheinlich erscheinen, dass Leben anderswo im Universum ebenfalls chemiosmotisch ist und sich daher parallelen Gelegenheiten und Zwängen gegenübersieht. Chemiosmotische Kopplung verleiht Leben eine unbegrenzte metabolische Flexibilität und ermöglicht Zellen, praktisch alles zu „essen“ und zu „veratmen“. Genauso, wie Gene durch lateralen Gentransfer weitergegeben werden können, weil der genetische Code universell ist, kann auch die Werkzeugkiste für metabolische Anpassungen an ganz unterschied liche Umweltbedingungen weitergereicht werden, da alle Zellen ein gemeinsames Operationssystem benutzen. Es würde mich erstaunen, wenn wir nicht irgendwo im Universum einschließlich unseres Sonnensystems Bakterien fänden, die alle in ähnlicher Weise funktionieren, mit Energie versorgt von Redox-Chemie und Protonengradienten über Membranen. Das lässt sich aus den Grundprinzipien ableiten. Aber wenn das stimmt, dann wird komplexes Leben irgendwo im Universum genau den gleichen Zwängen gegenüberstehen wie Eukaryoten auf der Erde – Außerirdische sollten ebenfalls Mitochondrien haben. Wie bereits erwähnt, haben alle Eukaryoten einen gemeinsamen Vorfahren, der sich nur ein einziges Mal durch eine seltene Endosymbiose zwischen Prokaryoten entwickelte. Wir wissen von zwei derartigen Endosymbiosen zwischen Bakterien (Abbildung 25) – drei, wenn wir Parakaryon myojinensis mitzählen –, daher wissen wir, dass Bakterien auch ohne Phagozytose ins Innere von anderen Bakterien gelangen können. Vermutlich hat es im Verlauf von mehr als vier Milliarden Jahren Tausende, wenn nicht Millionen solcher Fälle gegeben. Es ist ein Engpass, aber kein strikter. Auf jeden Fall ist seitens der Endosymbionten ein Genverlust zu erwarten, seitens der Wirtszelle hingegen eine Tendenz zur Größenzunahme sowie zu einer höheren genomischen Komplexität – genau das, was wir bei Parakaryon myojinensis sehen. Aber wir würden auch einen intimen Konflikt zwischen Wirtszelle und Endosymbiont erwarten – das ist der zweite Teil des Flaschenhalses, ein doppelter Angriff, der die Evolution von komplexem Leben wirklich schwierig macht. Wir haben 326
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gesehen, dass sich die ersten Eukaryoten höchstwahrscheinlich rasch in kleinen Populationen entwickelten; schon die Tatsache, dass der gemeinsame Vorfahr der Eukaryoten so viele Merkmale aufweist, von denen keines bei Bakterien zu finden ist, spricht für eine kleine, instabile sexuelle Population. Falls Parakaryon myojinensis tatsächlich, wie ich vermute, die eukaryotische Evolution wiederholen sollte, ist seine extrem geringe Populationsdichte (nur ein einziges Exemplar in 15 Jahren Suche) vorhersagbar. Das wahrscheinlichste Schicksal der Zelle ist Aussterben. Vielleicht wird sie sterben, weil es ihr nicht gelungen ist, alle Ribosomen aus dem Kern auszuschließen oder weil sie noch keinen Sex „erfunden“ hat. Oder vielleicht wird sie wider alle Wahrscheinlichkeit Erfolg haben und für das Aufkommen einer zweiten Eukaryotenlinie auf der Erde sorgen. Ich denke, aus all dem können wir den vernünftigen Schluss ziehen, dass komplexes Leben im Universum selten ist – es existiert keine intrinische Tendenz in der natürlichen Selektion, Menschen oder andere komplexe Lebensformen hervorzubringen. Weitaus wahrscheinlicher ist es, auf dem bakteriellen Niveau der Komplexität stehen zu bleiben. Ich kann dem keine statistische Probabilität zuordnen. Manche mögen die Existenz von Parakaryon myojinensis als Ermutigung ansehen – eine multiple Entstehung von Komplexität auf der Erde bedeutet, dass komplexes Leben anderswo im Universum häufiger sein könnte. Vielleicht. Sicherer bin ich mir bei der Aussage, dass die Evolution von komplexem Leben aus energetischen Gründen eine Endosymbiose zwischen zwei Prokaryoten erfordert; das ist ein seltenes Ereignis, das einem verrückten Zufall irritierend nahe kommt, und er wird durch den anschließenden Intimkonflikt zwischen Zellen nur noch verschärft. Danach kommt wieder die übliche natürliche Selektion ins Spiel. Wir haben gesehen, dass sich viele Eigenschaften, die Eukaryoten teilen, vom Zellkern bis zum Sex, von Grundprinzipien ableiten lassen. Wir können noch ein ganzes Stück weiter gehen. Die Evolution von zwei Geschlechtern, die Unterscheidung zwischen Keimbahn und Soma, der programmierte Zelltod, mosaikartige Mitochondrien und der Tauschhandel zwischen aerober Fitness und Fruchtbarkeit, Anpassungsfähigkeit und Krankheit, 327
Teil IV: Vorhersagen
Altern und Tod, all diese Merkmale erwachsen vorhersagbar aus der Ausgangssituation, das heißt, einer Zelle in einer Zelle. Könnte sich das alles wiederholen? Ich denke, ein großer Teil davon schon. Den Energieaspekt in die Evolution zu integrieren, ist seit Langem überfällig, und dieser Ansatz ist dabei, die natürliche Selektion auf eine besser vorhersagbare Basis zu stellen. Energie ist weitaus weniger nachsichtig als Gene. Schauen Sie sich um. Diese wunderbare Welt reflektiert die Macht von Mutation und Rekombination, genetischer Veränderung – die Basis der natürlichen Selektion. Sie teilen einige Gene mit dem Baum vor Ihrem Fenster, doch Ihr Weg und der des Baumes haben sich bereits sehr früh in der Evolution der Eukaryoten getrennt, nämlich vor 1,5 Milliarden Jahren, und jeder folgte seinem eigenen Kurs, ermöglicht durch unterschiedliche Gene, dem Produkt von Mutationen, Rekombination und natürlicher Selektion. Sie können sich fortbewegen und erklettern hoffentlich auch noch gelegentlich Bäume; diese wiegen sich sanft im Wind und wandeln die Luft in mehr Bäume um, der größte Zaubertrick aller Zaubertricks. All diese Unterschiede sind in Genen festgeschrieben, Gene, die von Ihrem gemeinsamen Vorfahr stammen, nun aber zum größten Teil bis zur Unkenntlichkeit abgewandelt sind. All diese Veränderungen fanden im langen Lauf der Evolution statt und wurden selektiert. Gene sind fast unendlich tolerant: Alles, was möglich ist, wird ermöglicht. Aber dieser Baum hat auch Mitochondrien, die in ganz ähnlicher Weise wie seine Chloroplasten arbeiten, endlos Elektronen Aberbillionen von Atmungsketten hinabschicken und Protonen durch Membranen pumpen, wie sie es schon immer getan haben. Wie Sie es schon immer getan haben. Diese selben pendelnden Elektronen und Protonen haben Sie von der Gebärmutter an erhalten: Ihre Zellen pumpen 1021 Protonen pro Sekunde, jede Sekunde, ohne Pause. Sie haben ihre Mitochondrien via Eizelle von Ihrer Mutter erhalten, ihr kostbarstes Geschenk, das Geschenk des Lebens, das ununterbrochen Generation für Generation weitergegeben wird und bis zu den ersten Regungen des Lebens in hydrothermalen Schloten vor vier Milliarden Jahren zurückreicht. Jeder Eingriff in diese Reaktion ge328
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schieht auf eigene Gefahr. Cyanid (Blausäure) hemmt den Fluss von Elektronen und Protonen und bringt Ihr Leben zu einem abrupten Ende. Altern tut dasselbe, aber langsamer und sanfter. Tod ist das Aufhören des Elektronen- und Protonenflusses, der Kollaps des Membranpotenzials, das Erlöschen der ununterbrochen brennenden Flamme. Wenn Leben nicht mehr als ein Elektron ist, das nach einem Ruheplatz sucht, dann ist der Tod nicht mehr als ein Elektron, das zur Ruhe kommt. Dieser Energiefluss ist erstaunlich und gnadenlos. Jede Veränderung über Minuten oder Sekunden kann dem ganzen Experiment ein Ende bereiten. Sporen können in einen metabolischen Dornröschenschlaf verfallen, aus dem sie mit etwas Glück wieder erwachen. Aber wir Übrigen … unser Leben basiert auf denselben Prozessen, die schon die ersten lebenden Zellen mit Energie versorgten. Diese Prozesse haben sich niemals grundlegend geändert, wie könnten sie auch? Leben ist etwas für die Lebenden. Leben braucht einen ununterbrochenen Strom von Energie. Kaum überraschend legt der Energiefluss dem Verlauf der Evolution straffe Zügel an und bestimmt, was möglich ist und was nicht. Es kann nicht überraschen, dass Bakterien weiterhin tun, was Bakterien eben tun, und nicht in der Lage sind, ernsthaft an der Flamme herumzubasteln, die sie wachsen, sich teilen und neues Terrain erobern lässt. Es ist nicht überraschend, dass der eine glückliche Zufall, der sich tatsächlich als Erfolg erwies, diese singuläre Endosymbiose zwischen Prokaryoten, nicht mit der Flamme herumspielte, sondern sie in vielen Kopien in sämtlichen eukaryotischen Zellen entzündete, woraus letztlich alles komplexe Leben entstand. Es ist nicht überraschend, dass es für unsere Physiologie und unsere Evolution entscheidend wichtig ist, diese Flamme am Leben zu erhalten, was viele Eigenarten unserer Vergangenheit und unseres heutigen Lebens erklärt. Was für ein Glück, dass unser Gehirn, die unwahrscheinlichste biologische Maschine im ganzen Universum, nun zu einer Leitung für diesen rastlosen Energiefluss geworden ist, dass wir darüber nachdenken können, warum das Leben so ist, wie es ist. Möge die protonenmotorische Macht mit Ihnen sein! 329
Glossar aerobe Atmung – unsere eigene Form der Atmung, bei der Energie aus der Reaktion zwischen Nahrung und Sauerstoff genutzt wird, um Arbeit zu leisten: Bakterien können auch anorganische Substanzen (Mineralien) oder Gase mit Sauerstoff „verbrennen“. Siehe auch anaerobe Atmung und Atmung. alkaliner hydrothermaler Schlot – Schlottyp, gewöhnlich am Meeresgrund, der warme alkalische (basische) Flüssigkeiten ausstößt, die reich an Wasserstoffgas sind; spielte wahrscheinlich eine entscheidende Rolle bei der Entstehung des Lebens. Allel – Variante eines Gens in einem Genom oder in einer Population. Aminosäure – einer von 20 separaten molekularen Bausteinen, die sich zur Bildung eines Proteins (das oft Hunderte von Aminosäuren enthält) kettenförmig miteinander verbinden. anaerobe Atmung – umfasst die vielen alternativen, bei Bakterien häufigen Formen der Atmung, bei denen andere Moleküle als Sauerstoff (beispielsweise Nitrat oder Sulfat) benutzt werden, um Nahrung, anorganische Substanzen oder Gase zu „verbrennen“ (oxidieren). Siehe auch aerobe Atmung und Atmung. Ångström (Å) – Längeneinheit, die in der typischen Größenordnung von Atomradien liegt; sie beträgt ein Zehnmilliardstel eines Meters (10 -10 m); ein Nanometer hat die zehnfache Länge, ein milliardstel Meter (10 -9 m). Antiporter – Transporter-Protein in der Biomembran, das nach Art einer Drehtür ein geladenes Atom (Ion) durch die Membran hindurch gegen ein anderes austauscht, beispielsweise ein Proton (H+) gegen ein Natriumion (Na+). Apoptose – „programmierter“ Zelltod; ein Energie verbrauchender, von Genen codierter Prozess, bei dem eine Zelle sich selbst abbaut. Archaea (Archaeen) – eine der drei großen Domänen des Lebens; die anderen beiden sind die Bakterien und die Eukaryoten (zu denen auch der Mensch gehört). Archaeen sind Prokaryoten, denen ein echter Zellkern mit seinen Chromosomen sowie die meisten anderen hoch spezialisierten Strukturen fehlen, die man bei komplexen Eukaryoten findet. Archaezoa (Archaezoen) – nicht mit Archaeen zu verwechseln! Archaezoen sind einfache, einzellige Eukaryoten, die früher irrigerweise für „Missing Links“, fehlende Glieder in der evolutionären Kette, zwischen Bakterien und komplexeren eukaryotischen Zellen gehalten wurden. Atmung (Respiration) – der Prozess, bei dem Nährstoffe „verbrannt“ (oxidiert) werden, um Energie in Form von ATP zu erzeugen. Elektronen werden von Nahrungsteilchen oder anderen Elektronenspendern (wie Wasserstoff) gelöst und auf Sauerstoff oder andere Oxidantien (wie Nitrat) übertragen; dies geschieht in einer Reihe von Schritten, die man als Atmungskette bezeichnet. Die freigesetzte Energie wird verwendet, um Protonen über eine Membran zu pumpen; dadurch wird eine protonenmotorische Kraft erzeugt, die ihrerseits die ATP-Synthese antreibt. Siehe auch anaerobe Atmung und aerobe Atmung.
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ATP – Adenosintriphosphat, die biologische Energie-„Währung“, die von allen bekannten Zellen genutzt wird. ADP (Adenosindiphosphat) ist das Abbauprodukt, das entsteht, wenn ATP „verbraucht“ wird; die bei der Atmung produzierte Energie wird dazu eingesetzt, um Phosphat (PO43-) wieder mit ADP zu verknüpfen, sodass erneut ATP entsteht. Acetylphosphat ist eine einfacher aufgebaute biologische Energie-„Währung“ (mit zwei Kohlenstoffatomen), die ähnlich wie ATP genutzt wird und möglicherweise durch geologische Prozesse auf der frühen Erde entstanden sein könnte. ATP-Synthase – ein bemerkenswertes rotierendes Motorprotein, eine Nanoturbine, die in der Membran sitzt und den Protonenfluss nutzt, um die Synthese von ATP aus ADP anzutreiben. Bakterien – eine der drei großen Domänen des Lebens; die anderen beiden sind die Archaeen und die Eukaryoten (zu denen auch der Mensch gehört). Wie die Archaeen sind Bakterien Prokaryoten, denen ein echter Zellkern zur Speicherung ihrer DNA und die meisten anderen hoch spezialisierten Strukturen fehlen, die man bei komplexen Eukaryoten findet. chemiosmotische Kopplung (auch: Chemiosmose) – Prozess, bei dem Energie aus der Atmung benutzt wird, um Protonen durch eine Membran zu pumpen; der Protonenfluss zurück durch Proteinturbinen in der Membran (ATP-Synthase) treibt dann die Bildung von ATP an. Daher ist die Atmung durch einen Protonengradienten mit der ATP-Synthese „gekoppelt“. Chloroplast – spezielles Kompartiment in Pflanzenzellen und Algen, in dem die Fotosynthese stattfindet; stammt ursprünglich von fotosynthetischen Bakterien ab, sogenannten Cyanobakterien. Chromosom – zopfartige Struktur, die aus eng in Proteine gewickelter DNA besteht und während der Zellteilung sichtbar wird; Menschen verfügen über 23 unterschiedliche Chromosomenpaare, die zwei Kopien all unserer Gene enthalten. Ein unverknäultes Chromosom macht gerade eine Rekombination durch, sodass unterschiedliche Genkombinationen (Allele) entstehen. Cytoplasma (Zellplasma) – die gelartige Substanz in den Zellen mit Ausnahme des Zellkerns; das Cytosol ist eine wässrige Lösung, die die inneren Zellkompartimente wie Mitochondrien umgibt. Das Cytoskelett ist das dynamische Proteinskelett im Zellinneren, das sich umbilden kann, wenn die Zelle sich verformt oder teilt. dissipative Struktur – stabile physische Struktur, die eine charakteristische Form annimmt, wie in einem Whirlpool, einem Hurrikan oder einem Jetstream, und durch einen ständigen Energiezufluss aufrechterhalten wird. DNA – Desoxyribonukleinsäure, das Erbmaterial in Form einer Doppelhelix; parasitische DNA ist DNA, die sich auf Kosten des individuellen Organismus selbst kopieren kann. dynamisches Gleichgewicht – potenziell reaktiver Zustand, in dem Moleküle, die miteinander reagieren „wollen“, dies noch tun müssen. Organische Materie und Sauerstoff befinden sich im Ungleichgewicht – wenn sie die Gelegenheit erhält (beispielsweise, wenn man ein Streichholz anzündet), brennt organische Materie.
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egoistischer Konflikt (selfish conflict) – metaphorischer Zusammenstoß der Interessen zweier eigenständiger Einheiten, beispielsweise zwischen Endosymbionten oder Plasmiden und einer Wirtszelle. Elektron – subatomares Teilchen, das eine negative Ladung trägt. Ein Elektronenakzeptor ist ein Atom oder Molekül, das ein oder mehrere Elektronen aufnimmt; ein Elektronendonator gibt Elektronen ab. endergonisch – eine Reaktion, die einen Input an freier Energie („Arbeit“, keine Wärme) erfordert, damit sie stattfinden kann. Eine endotherme Reaktion erfordert Wärme, um stattzufinden. Endosymbiose – symbiotische Beziehung (gewöhnlich basierend auf einem Austausch von Stoffwechselprodukten) zwischen zwei Zellen, bei der ein Partner physisch im Inneren des anderen lebt. Entropie – Zustand molekularer Unordnung, der einem chaotischen Zustand entgegenstrebt. Enzym – ein Protein, das eine bestimmte chemische Reaktion katalysiert und deren Geschwindigkeit im Vergleich zum unkatalysierten Zustand oft um einen Faktor von mehreren Millionen erhöht. Eukaryot – jeder Organismus, der aus einer oder mehr Zellen besteht, die einen Zellkern und andere spezialisierte Strukturen wie Mitochondrien enthält: Alle komplexen Lebensformen, einschließlich Pflanzen, Tiere, Pilze, Algen und Protisten wie Amöben bestehen aus eukaryotischen Zellen. Eukaryoten bilden eine der drei großen Domänen des Lebens; die anderen beiden sind die einfacheren prokaryotischen Domänen der Bakterien und der Archaeen. exergonisch – eine Reaktion, bei der freie Energie entsteht, die Arbeit leisten kann. Eine exotherme Reaktion setzt Wärme frei. FeS-Cluster – Eisen-Schwefel-Cluster, ein kleines salzartiges Kristall, das aus einem Gitter aus Eisen- und Schwefelatomen besteht (gewöhnlich handelt es sich um die Verbindung Fe2S2 oder Fe4S4) und sich im Zentrum vieler wichtiger Proteine findet, einschließlich einiger, die für die Atmung eine Rolle spielen. Fettsäure – ein langkettiges Kohlenhydratmolekül, typischerweise eine Kette aus 15–20 verknüpften Kohlenstoffatomen, das in den Lipidmembranen von Bakterien und Eukaryoten zu finden ist; trägt immer eine Säuregruppe an einem Ende. Fixierung – wenn eine bestimmte Form eines Gens (Allels) bei sämtlichen Individuen einer Population anzutreffen ist. Fotosynthese – die Umwandlung von Kohlendioxid in organische Substanz, wobei Sonnenenergie dazu dient, aus Wasser (oder einer anderen Substanz) Elektronen zu gewinnen und diese letztlich auf Kohlendioxid zu übertragen. freie Energie – Energie, die für Arbeit zur Verfügung steht (keine Wärme). freies Radikal – ein Atom oder Molekül mit einem ungepaarten Elektron (das es instabil und damit reaktionsfreudig macht); freie Sauerstoffradikale, die bei der Atmung entstehen, spielen wahrscheinlich eine Rolle bei Altern und Krankheiten. Gärung – das ist keine anaerobe Atmung! Gärung ist ein rein chemischer Prozess der ATP-Erzeugung, ohne dass dabei Protonengradienten über Membranen oder die ATP-Synthase eine Rolle spielen. Unterschiedliche Organismen nut-
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zen leicht unterschiedliche Stoffwechselwege; wir erzeugen aus Glucose Milchsäure als Abfallprodukt, Hefen Alkohol. Gen – DNA-Abschnitt, der für ein Protein codiert (oder ein anderes Produkt wie regulatorische RNA). Das Genom umfasst die Gesamtheit der Gene in einem Organismus. Geschlechtsbestimmung – die Prozesse, die die männliche bzw. weibliche Entwicklung steuern. Intron – ein „Abstandshalter“ innerhalb eines Gens, der nicht für ein Protein codiert und gewöhnlich vor der Proteinherstellung aus dem Code-Skript (mRNA) entfernt wird. Mobile Introns sind genetische Parasiten, die sich wiederholt innerhalb eines Genoms kopieren können; eukaryotische Introns leiten sich offenbar von einer Vermehrung mobiler bakterieller Introns früh in der Evolution der Eukaryoten ab, gefolgt von einer mutationsbedingten Veränderung. Keimbahn – die spezialisierten Geschlechtszellen (Gameten) in Tieren (wie Spermien und Eizellen), die allein die Gene weitergeben, aus denen in jeder Generation neue Individuen entstehen. lateraler Gentransfer – Transfer einer (gewöhnlich) kleinen Zahl von Genen von einer Zelle eines Individuums in die eines anderen Individuums oder die Aufnahme von nackter DNA aus der Umgebung. Lateraler Gentransfer ist ein Austausch von Genen innerhalb gleichzeitig lebender Organismen; bei der vertikalen Vererbung wird das gesamte Genom kopiert und bei der Zellteilung an die Tochterzellen desselben Organismus weitergegeben. LUCA – last universal common ancestor, etwa „letzter allgemeiner gemeinsamer Vorfahr“ aller heute lebenden Zellen, dessen hypothetische Eigenschaften sich durch Vergleich der Eigenschaften moderner Zellen rekonstruieren lassen. Meiose – der Prozess der Reduktionsteilung bei der geschlechtlichen Vermehrung; dabei entstehen Gameten mit einem einzigen vollständigen Chromosomensatz (sie sind also haploid) statt mit den doppelten Chromosomensätzen der Elternzellen (diploid). Die Mitose ist die normale Form der Zellteilung bei Eukaryoten; dabei werden die Chromosomen zunächst verdoppelt, anschließend mithilfe eines mikrotubulären Spindelapparats getrennt und auf zwei Tochterzellen verteilt. Membran – eine dünne fetthaltige Schicht, die alle Zellen umgibt (aber auch im Inneren von Zellen zu finden ist); sie besteht aus einer „Lipiddoppelschicht“, bei der jeweils der hydrophobe („wasserabweisende“) Anteil nach innen und der hydrophile („wasserliebende“) Anteil jeweils nach außen weist. Metabolismus (Stoffwechsel) – die Gesamtheit lebenserhaltender chemischer Reaktionen in lebenden Zellen. Mitochondrien – die eigenständigen „Kraftwerke“ in eukaryotischen Zellen, die sich von α-Proteobakterien ableiten und ein kleines, aber sehr wichtiges eigenes Genom aufweisen. Mitochondriale Gene sind diejenigen Gene, die sich innerhalb der Mitochondrien befinden. Unter mitochondrialer Biogenese versteht man die Replikation oder das Wachstum neuer Mitochondrien, was auch die Mitwirkung von Genen im Zellkern erfordert.
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monophyletische Radiation – das Auffächern zahlreicher Arten, ausgehend von einem einzigen gemeinsamen Vorfahren (oder einem einzelnen Stamm), vergleichbar den Speichen eines Rades, die von einer zentralen Nabe ausgehen. Mutation – bezieht sich gewöhnlich auf die spezifischen Sequenzen eines Gens, kann aber auch andere genetische Veränderungen einschließen, wie zufällige Deletionen (Verluste) oder Duplikationen (Verdopplungen) von DNA-Abschnitten. Nukleotid – einer der Bausteine, die kettenförmig aufgereiht DNA und RNA bilden; es gibt einige verwandte Nukleotide, die als Kofaktoren in Enzymen wirken und spezifische Reaktionen katalysieren. ortholog – das ist ein identisches Gen mit derselben Funktion bei unterschiedlichen Arten (Spezies), die sich einen gemeinsamen Vorfahren teilen. Oxidation – das Entfernen eines oder mehrerer Elektronen von einem Teilchen (Atom, Ion, Molekül), das dadurch oxidiert wird. paralog – das ist ein Gen, das durch Genduplikation innerhalb desselben Genoms gebildet wurde und sich unabhängig weiterentwickelt. Ähnliche paraloge Gene lassen sich auch bei unterschiedlichen Spezies finden, die alle auf einen gemeinsamen Vorfahren zurückgehen. Phagozytose – das physische Verschlingen einer Zelle durch eine andere Zelle, die ihre Beute in eine Nahrungsvakuole einschließt, wo sie verdaut wird. Bei der Osmotrophie wird die Nahrung außerhalb von Zellen verdaut, gefolgt von der Resorption kleiner Verbindungen, wie sie von Pilzen praktiziert wird. pH-Wert – Maß für den Säuregehalt einer Flüssigkeit, speziell für die Konzentration von Protonen: Säuren weisen einen hohen Protonengehalt auf (was ihnen einen niedrigen pH-Wert unter 7 verleiht); Basen haben hingegen einen geringen Protonengehalt, was ihnen einen hohen pH-Wert (7–14) verleiht; reines Wasser hat einen neutralen pH-Wert von 7. Plasmid – kleiner DNA-Ring in Bakterien und Hefen, der parasitisch in eine andere Zelle einwandern kann; Plasmide können ihren Wirtszellen auch nützliche Gene liefern (beispielsweise Gene, die eine Antibiotikaresistenz vermitteln). polyphyletische Radiation – das Auffächern zahlreicher Arten, ausgehend von einer Reihe evolutionär unterschiedlicher Vorfahren (verschiedene Stämme), vergleichbar den Speichen zahlreicher Räder, die von zahlreichen Naben ausgehen. Prokaryot – allgemeine Bezeichnung für einfache Zellen, denen ein echter Zellkern fehlt (wörtlich „vor dem Kern“); dazu zählen Bakterien und Archaeen, zwei der drei Domänen des Lebens. Protein (Eiweiß) – Kette von Aminosäuren, die in einer präzisen Anordnung miteinander verknüpft sind, in der sich die Sequenz der DNA-Buchstaben in einem Gen widerspiegelt; ein Polypeptid ist eine kürzere Kette von Aminosäuren, deren Anordnung nicht spezifiziert werden muss. Protisten – einzellige Eukaryoten, darunter einige sehr komplexe Formen, mit bis zu 40 000 Genen und einer Durchschnittsgröße, die diejenige von Bakterien mindestens um den Faktor 15 000 übersteigt. Der Begriff Protozoen
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(wörtlich „erste Tiere“) ist zwar anschaulich, aber überholt. Er bezog sich auf Protisten wie Amöben, die sich wie Tiere verhalten können. Proton – subatomares Teilchen mit einer positiven Ladung. Ein Wasserstoffatom besteht aus einem einzelnen Proton und einem einzelnen Elektron; der Verlust des Elektrons führt zu einem Wasserstoffkern, dem positiv geladenen Proton, das als H+ (das H stammt von Hydrogen, „Wasserstoff“) dargestellt wird. Protonengradient – Differenz in der Protonenkonzentration auf beiden Seiten einer Membran; die protonenmotorische Kraft ist die elektrochemische Kraft, die aus der kombinierten Differenz von elektrischer Ladung und H+Konzentration über der Membran resultiert. Redoxprozess – der kombinierte Prozess von Reduktion und Oxidation, der auf den Transfer von Elektronen von einem Donator auf einen Akzeptor hinausläuft. Ein Redoxpaar ist ein spezifischer Elektronendonator samt einem spezifischen Akzeptor; ein Redoxzentrum erhält ein Elektron, bevor es dieses weitergibt, fungiert also sowohl als Akzeptor als auch als Donator. Reduktion – das Hinzufügen von einem oder mehreren Elektronen zu einem Teilchen (Atom, Ion oder Molekül), das dadurch reduziert wird. Rekombination – der Austausch eines DNA-Abschnitts gegen einen äquivalenten Abschnitt aus einer anderen DNA-Sequenz. Bei der Meiose entstehen durch Rekombination unterschiedliche Kombinationen von Genen (spezifisch Allele). Replikation – die Verdopplung (Duplikation) einer Zelle oder eines Moleküls (typischerweise DNA), um zwei Tochterkopien herzustellen. Ribosomen – „Proteinfabriken“, wie man sie in allen Zellen findet; sie wandeln das (von der DNA kopierte) RNA-Code-Skript (mRNA) in ein Protein mit der korrekten Sequenz von Aminosäure-Bausteinen um. RNA – Ribonukleinsäure; eine enge Verwandte der DNA, aber mit zwei kleinen chemischen Veränderungen, die ihre Struktur und ihre Eigenschaften beeinflussen. RNA findet man in drei Hauptformen: messenger-RNA (mRNA, ein Code-Skript, kopiert von der DNA), transfer-RNA (tRNA, die Aminosäuren gemäß dem genetischen Code anliefert) und ribosomale RNA (rRNA, die die „Maschinen- und Gerüstteile“ in den Ribosomen stellt). RNA-Welt – hypothetisches Frühstadium der Evolution, in dem RNA gleichzeitig als Schablone für ihre eigene Replikation (anstelle von DNA) und als Katalysator fungiert, der die Reaktionen (anstelle von Proteinen) beschleunigt. Schneeball Erde (Snowball Earth) – eine globale Vereisung mit Gletschern am Äquator bis in Meeresspiegelhöhe; es wird angenommen, dass so etwas im Lauf der Erdgeschichte mehrmals vorgekommen ist. „Selective Sweep“ – starke Selektion für eine bestimmte Genvariante (Allel), die schließlich alle anderen Varianten aus einer Population eliminiert. Serpentinisierung – eine chemische Reaktion zwischen bestimmten Gesteinen (magnesium- und eisenreiche Minerale, wie Olivin) und Wasser, die zu stark alkalischen Fluiden führt, welche gesättigt in Wasserstoffgas vorkommen. sexuelle Fortpflanzung – Fortpflanzungszyklus, bei dem durch Zellteilung per Meiose haploide Gameten gebildet werden, gefolgt von der Verschmelzung von männlichen und weiblichen Gameten, sodass eine befruchtete Eizelle entsteht.
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Substrat – Substanzen, die für das Zellwachstum erforderlich sind und von Enzymen in andere biologische Moleküle umgewandelt werden. Thermodynamik – Zweig der Physik, der sich mit Wärme, Energie und Arbeit befasst; die Thermodynamik steuert die Reaktionen, die unter einer Reihe von bestimmten Bedingungen auftreten können. Die Kinetik definiert die Rate, mit der solche Reaktionen tatsächlich stattfinden. Thermophorese – die Konzentration von Teilchen aufgrund von Temperaturgradienten oder Konvektionsströmen. Transkription – die Bildung eines kurzen DNA-Code-Skripts (sogenannte mRNA), abgelesen von der DNA, als erster Schritt zur Synthese eines neuen Proteins. Translation – das physische Zusammenfügen eines neuen Proteins (an einem Ribosom), bei dem die präzise Aufeinanderfolge von Aminosäuren durch ein RNA-Code-Skript (mRNA) spezifiziert wird. uniparentale Vererbung – die systematische Vererbung von Mitochondrien von nur einem von zwei Elternteilen, typischerweise von der Eizelle, nicht vom Spermium; unter biparentaler Vererbung versteht man die Vererbung von Mitochondrien beider Eltern. Varianz – ein Maß für die Größe der Abweichung vom Mittelwert. Ist die Varianz gleich null, sind alle Werte identisch; wenn die Varianz klein ist, liegen alle Werte nahe am Mittelwert; eine hohe Varianz deutet auf eine große Streubreite von Werten hin. Zellkern (Nukleus) – das „Kontrollzentrum“ komplexer (eukaryotischer) Zellen, das den größten Teil der zelleigenen Gene in Form von Chromosomen beherbergt (einige Gene befinden sich auch in den Mitochondrien).
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ieses Buch steht am Ende einer langen persönlichen Reise und markiert zugleich einen erneuten Aufbruch. Die erste Reise begann mit der Arbeit an einem früheren Buch: Power, Sex, Suicide – Mitochondria and the Meaning of Life, das 2005 bei Oxford University Press erschien. Damals setzte ich mich zum ersten Mal mit den Fragen auseinander, um die es auch hier wieder geht – die Ursprünge komplexen Lebens. Großen Einfluss darauf hatten die exzellenten Arbeiten von Bill Martin über die Entstehung der eukaryotischen Zelle sowie seine ebenso fundamentalen Studien mit dem bahnbrechenden Geochemiker Mike Russell über den Ursprung des Lebens und die schon sehr früh divergierende Entwicklung von Archaeen und Bakterien. Alles, was ich in diesen beiden Büchern sage, gründet auf dem Boden, den diese beiden Giganten der Evolutionsbiologie bereitet haben. Einige der hier entwickelten Ideen stammen jedoch von mir. Ein Buch zu schreiben, erweitert das eigene Bewusstsein, und es bereitet mir ein unvergleichliches Vergnügen, mich dabei an ein breites Publikum zu wenden – ich muss meine Gedanken ordnen und versuchen, mich so auszudrücken, dass mir meine eigenen Überlegungen klar werden. Das konfrontiert mich unmittelbar mit den Dingen, die mir noch unverständlich sind, und einige davon erweisen sich faszinierenderweise allgemein als bislang unerforschtes Terrain. Infolgedessen erfüllte Power, Sex, Suicide mehr oder weniger die Aufgabe, einige neue Ideen zu entwickeln, die mich seitdem nicht mehr losgelassen haben. Ich habe diese Ideen auf Tagungen und an Universitäten in der ganzen Welt vorgetragen und dabei allmählich gelernt, mit klugen Einwänden umzugehen. Meine Hypothesen gewannen an Kontur, wie auch meine generelle Überzeugung von der großen Bedeutung der Energie für die Evolution; zugleich verabschiedete ich mich von einigen lieb gewonnenen Vorstellungen. Doch so gut eine Idee auch 337
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sein mag – zur wahren Wissenschaft wird sie erst, wenn man sie als klare Hypothese formuliert und prüft. Das schien ein Wunschtraum zu bleiben, bis das University College London 2008 einen neuen Preis für „aufstrebende Denker“ aussetzte, um die Entwicklung revolutionärer Ideen zu fördern. Der geistige Vater des Provost’s Venture Research Prize war Professor Don Braben, ein Energiebündel, der seit Langem für „akademische Freiheit“ kämpft. Laut Braben ist Wissenschaft grund legend unvorhersagbar und lässt sich nicht reglementieren, so sehr die Gesellschaft auch wünschen mag, die Ausgabe von Steuergeldern in bestimmte Bahnen zu lenken. Wirklich umwälzende Ideen kommen fast immer aus Ecken, aus denen man sie am wenigsten erwartet hätte – so viel ist sicher. Solche Ideen bewirken nicht nur weitreichende Veränderungen in ihrer wissenschaftlichen Disziplin, sondern auch in der allgemeinen Ökonomie, die vom wissenschaftlichen Fortschritt angetrieben wird. Es ist daher von außerordentlichem gesellschaftlichem Interesse, Forscher allein aufgrund der Überzeugungskraft ihrer Ideen – mögen sie auch noch so wenig greifbar erscheinen – zu fördern, statt einen mutmaßlichen Nutzen für die Menschheit im Visier zu haben. Letzteres funktioniert selten, denn bahnbrechende neue Erkenntnisse kommen gewöhnlich von außerhalb eines streng abgesteckten Wissenschaftsbereiches. Die Natur schert sich nicht um von Menschen gesteckte Grenzen.64 Glücklicherweise kam ich als Bewerber für das UCL-Programm infrage. Ich hatte ein Buch voller Ideen, die dringend der Prüfung bedurften, und zu meiner Freude konnte ich Don Braben schließlich davon überzeugen. Don, dem ich unendlich dankbar bin, war zwar die treibende Kraft hinter der Verleihung des Preises, doch ebenso viel verdanke ich der Großzügigkeit und der wissenschaftlichen Weitsicht von Professor David Price, dem Vice Provost for Research an der UCL, und dem damaligen Provost Professor Malcolm Grant, die das Programm und mich persönlich unterstützt haben. Großen Dank für seine Hilfe schulde ich auch Professor Steve Jones, der mich in der Abteilung für Genetik, Evolution und Umwelt, die er 338
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damals leitete, willkommen hieß – es war die perfekte Umgebung für die von mir geplanten Forschungen. Das ist nun sechs Jahre her. Seitdem habe ich so viele Probleme aus so unterschiedlichen Blickwinkeln wie möglich in Angriff genommen. Die Venture-Research-Förderung erstreckte sich über drei Jahre; das reichte mir, um die weitere Marschrichtung festzulegen, und bot mir eine Außenseiterchance auf weitere Fördermaßnahmen, um meine Arbeiten fortführen zu können. Hier bin ich dem Leverhulme Trust zu großem Dank verpflichtet, der meine Forschungen über den Ursprung des Lebens in den letzten drei Jahren unterstützt hat. Nur wenige Organisationen sind bereit, einen völlig neuartigen experimentellen Ansatz zu fördern, mit allen Kinderkrankheiten, die das mit sich bringt. Glücklicherweise bringt unser kleiner Benchtop-Reaktor für die Mission „Ursprung des Lebens“ nun erste aufregende Ergebnisse hervor, die ohne den Trust undenkbar gewesen wären. Dieses Buch liefert eine erste Quintessenz aus diesen Untersuchungen; es ist der Beginn einer neuen Reise. Natürlich bin ich bei meiner Arbeit nicht allein. Viele Ideen diskutiere ich ausgiebig mit Bill Martin, Professor für Molekulare Evolution an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Er hat immer Zeit für mich und inspiriert mich mit seiner Energie und seinen Ideen, während er zugleich keine Gnade mit schlechten Argumenten oder Ignoranz kennt. Ich hatte das Privileg, gemeinsam mit Bill mehrere Artikel schreiben zu dürfen, die, wie ich glaube, wichtige Beiträge zu unserem Forschungsbereich sind. Einen Artikel mit Bill zu verfassen, ist zweifellos ein Erlebnis, das so intensiv ist und so viel Vergnügen bereitet wie kaum etwas anderes. Und noch eine wichtige Lektion habe ich von Bill gelernt: Überfrachte ein Problem nie mit allen erdenklichen Möglichkeiten, die in der realen Welt unbekannt sind; konzentriere dich immer auf das, was Leben, wie wir es kennen, tatsächlich tut, und dann frage nach dem Warum. Genauso herzlich danke ich Andrew Pomiankowski, Professor für Genetik am UCL, besser bekannt als POM. POM ist ein Evolutionsgenetiker, dem die Denktraditionen dieser wissenschaftlichen Disziplin bestens vertraut sind. Er hat mit Legenden wie John 339
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aynard Smith und Bill Hamilton zusammengearbeitet. POM verM eint ihre unerbittliche Präzision mit einem Blick für die ungelösten Probleme der Biologie. Wenn ich ihn davon überzeugt habe, dass der Ursprung komplexer Zellen ein ebensolches Problem ist, dann hat er mir die abstrakte, aber schlagende Argumente liefernde Welt der Populationsgenetik nahegebracht. Sich aus solch entgegengesetzten Blickwinkeln zu den Wurzeln komplexen Lebens vorzuarbeiten, war ungeheuer erhellend und hat großen Spaß gemacht. Ein weiterer guter Freund am UCL, mit nie versiegenden Einfällen, Enthusiasmus und Expertise, ist Professor Finn Werner. Finn geht die betreffenden Fragen aus einer wieder ganz anderen Perspektive an – der der Strukturbiologie, genauer, der Molekularstruktur von RNA-Polymerasen. Diese Enzyme gehören zu den ältesten und großartigsten molekularen Maschinen, die uns einiges über die Anfänge des Lebens erzählen können. Jedes Gespräch und jede Plauderei beim Essen mit Finn wirkt belebend und weckt meine Lust auf neue Herausforderungen. Außerdem hatte ich das große Glück, mit einer Reihe begabter Doktoranden und Postdoktoranden zusammenarbeiten zu dürfen, die die Untersuchungen immer wieder vorangebracht haben. Sie lassen sich in zwei Gruppen einteilen – die einen machen sich die Hände beim praktischen Umgang mit dem chemischen Reaktor schmutzig, und die anderen bringen ihre mathematischen Fähigkeiten beim Erforschen der Evolution eukaryotischer Merkmale zum Tragen. Insbesondere danke ich Dr. Barry Herschy, Alexandra Whicher und Eloi Camprubi für die Durchführung komplizierter chemischer Versuche im Labor und ihre Zielstrebigkeit sowie Dr. Lewis Dartnell, der bei der Entwicklung des Reaktor-Prototyps half und die Experimente in Gang brachte. Für ihre Beteiligung an diesem Unternehmen danke ich auch Julian Evans, Professor für Werkstoffchemie, und John Ward, Professor für Mikrobiologie, die ihre Zeit, Kompetenz und Laborressourcen für das Reaktorprojekt und die begleitende Supervision von Studierenden zur Verfügung gestellt haben. Sie waren meine treuen Mitstreiter bei diesem Abenteuer. 340
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Die Doktoranden und Postdoktoranden der zweiten Gruppe, die mathematische Modelle erstellen, sind aus einem beispiellosen Promotionsprogramm des UCL hervorgegangen, das bis vor Kurzem vom Engineering and Physical Sciences Research Council finanziert wurde. Dieses Programm trägt den schönen Namen CoMPLEX, was kurioserweise für Centre for Mathematics and Physics in the Life Sciences and Experimental Biology steht. Zu den CoMPLEX-Doktoranden, die mit POM und mir zusammenarbeiten, gehören Dr. Zena Hadjivasiliou, Victor Sojo, Arunas Radzvilavicius, Jez Owen sowie neuerdings auch Dr. Bram Kuijper und Dr. Laurel Fogarty. Alle hatten zunächst nur vage Ideen und münzten diese in strenge mathematische Modelle um, die verblüffende Einblicke in reale biologische Vorgänge bieten. Es ist eine aufregende Reise, und ich habe mittlerweile aufgegeben, irgendwelche Ergebnisse vorherzusagen. Inspiriert wurden die Arbeiten anfänglich von Professor Rob Seymour, der über Biologie mehr wusste als die meisten Biologen und zugleich ein hervorragender Mathematiker war. Tragischerweise starb Rob 2012 mit 67 Jahren an Krebs. Eine ganze Generation von Studierenden liebte ihn. Dieses Buch beruht auf den Aufsätzen, die ich in den vergangenen sechs Jahren zusammen mit diesen ganz unterschiedlichen Forschern veröffentlicht habe (insgesamt rund 25 Beiträge, siehe die Literaturhinweise). In ihm spiegelt sich aber zudem eine noch viel längere Zeitspanne mit Überlegungen und Diskussionen auf Tagungen und bei Seminaren, per E-Mail oder in der Kneipe, die allesamt meine Ansichten geformt haben. Vor allem muss ich Professor Mike Russell danken, dessen revolutionäre Ideen zum Ursprung des Lebens die nachrückende Generation von Forschern inspiriert haben und der mit seiner Beharrlichkeit auch in schweren Zeiten für uns alle ein Vorbild ist. Ebenso danke ich Professor John Allen, dessen Hypothesen über evolutionäre Biochemie uns den Weg gewiesen haben. Zudem ist John seit jeher ein unerschrockener Verfechter der akademischen Freiheit, was ihm in jüngerer Zeit teuer zu stehen gekommen ist. Ich danke Professor Frank Harold, der mehrere wunderbare Bücher über die Synthese von Bioenergetik, Zellstruktur 341
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und Evolution verfasst hat und dessen vorurteilslose Skepsis mich stets anstachelt, noch einen Schritt weiterzugehen, Professor Doug Wallace, dessen Auffassung von der mitochondrialen Energetik als zentralem Impulsgeber für Alterung und Krankheit visionär und inspirierend ist, und Professor Gustavo Barja, der einen so klaren Durchblick durch das Dickicht aus Missverständnissen über freie Radikale und Altern hat, dass ich immer zuerst ihn um Rat frage. Und nicht zuletzt möchte ich Dr. Graham Goddard danken, dessen Ermutigung und Offenheit meinem Leben vor vielen Jahren eine neue Richtung gewiesen haben. Natürlich sind diese Freunde und Kollegen nur die Spitze des Eisbergs. Es ist mir unmöglich, all jenen, die mein Denken beeinflusst haben, ausführlich zu danken, aber ich bin ihnen allen zu tiefer Dankbarkeit verpflichtet. In zufälliger Reihenfolge: Christophe Dessimoz, Peter Rich, Amandine Marechal, Sir Salvador Moncada, Mary Collins, Buzz Baum, Ursula Mittwoch, Michael Duchen, Gyuri Szabadkai, Graham Shields, Dominic Papineau, Jo Santini, Jürg Bähler, Dan Jaffares, Peter Coveney, Matt Powner, Ian Scott, Anjali Goswami, Astrid Wingler, Mark Thomas, Razan Jawdat und Sioban Sen Gupta, alle am UCL; Sir John Walker, Mike Murphy und Guy Brown (Cambridge); Erich Gnaiger (Innsbruck); Filipa Sousa, Tal Dagan und Fritz Boege (Düsseldorf); Paul Falkowski (Rutgers); Eugene Koonin (NIH); Dianne Newman und John Doyle (Caltech); James McInerney (Maynooth); Ford Doolittle und John Archibald (Dalhousie); Wolfgang Nitschke (Marseille); Martin Embley (Newcastle); Mark van der Giezen und Tom Richards (Exeter); Neil Blackstone (Northern Illinois); Ron Burton (Scripps); Rolf Thauer (Marburg); Dieter Braun (München); Tonio Enríquez (Madrid); Terry Kee (Leeds); Masashi Tanaka (Tokio); Geoff Hill (Auburn); Ken Nealson und Jan Amend (Southern California); Tom McCollom (Colorado); Chris Leaver und Lee Sweetlove (Oxford); Markus Schwarzländer (Bonn); John Ellis (Warwick); Dan Mishmar (Ben Gurion); Matthew Cobb und Brian Cox (Manchester); Roberto Motterlini und Roberta Foresti (Paris) sowie Steve Iscoe (Queens, Kingston). Ich danke euch allen! 342
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Zutiefst dankbar bin ich auch einer Handvoll Freunde und Familienanhörigen, die mein Buch in Teilen (oder ganz) gelesen und kommentiert haben. Insbesondere meinem Vater Thomas Lane, der seine eigene Arbeit als Autor von Büchern über Geschichte immer wieder unterbrochen hat, um große Teile meines Buches zu lesen und meinen Schreibstil zu verfeinern, Jon Turney, der ebenfalls großzügig seine Zeit für hilfreiche Anmerkungen opferte, während er selbst mit Schreibprojekten beschäftigt war; Markus Schwarzländer, dessen Enthusiamus mich aus manchem Tief wieder herausgeholt hat, sowie Mike Carter, der als Einziger meiner Freunde jedes einzelne Kapitel aller meiner Bücher gelesen sowie pointiert und scharfsinnig kommentiert hat und mich gelegentlich sogar von einem Kurswechsel überzeugen konnte. Und auch wenn keiner von ihnen dieses Buch (bislang) gelesen hat, danke ich Ian AcklandSnow, Adam Rutherford und Kevin Fong für gemeinsame Mahlzeiten und gute Gespräche im Pub. Sie wissen genau, dass das Leib und Seele zusammenhält. Ich muss wohl nicht betonen, dass dieses Buch außerordentlich von der Kompetenz meiner Agentin und meiner Verleger profitiert hat. Sehr dankbar bin ich Caroline Dawnay von United Agents, die an dieses Projekt von Anfang an geglaubt hat, Andrew Franklin von Profile Books, dessen redaktionelle Anmerkungen immer ins Schwarze treffen und das Buch viel schlagkräftiger gemacht haben, Brendan Curry von Norton, der mit scharfem Blick Passagen entdeckte, denen es an Verständlichkeit mangelte, und Eddie Mizzi, dessen sensibles Lektorat erneut sein gutes Urteilsvermögen und breit gefächertes Wissen unter Beweis stellte. Sein Eingreifen hat mich vor mehr Peinlichkeiten bewahrt, als ich zugeben möchte. Ein großes Dankeschön auch an Penny Daniel, Sarah Hull, Valentina Zanca und dem Team von Profile Books, die dieses Buch durch den Druck und auf den Markt manövriert haben. Und zu guter Letzt ist meine Familie an der Reihe. Meine Frau, Dr. Ana Hidalgo, hat gemeinsam mit mir alles für dieses Buch getan, hat jedes Kapitel mindestens zweimal gelesen und mir immer wieder den weiteren Weg gewiesen. Ich vertraue ihrem 343
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rteilsvermögen und Wissen mehr als meinem eigenen, und alle U guten Seiten meiner Bücher sind ihrer natürlichen Selektion zu verdanken. Ich kann mir keine bessere Art zu leben vorstellen, als zu versuchen, das Leben zu ergründen, doch schon jetzt weiß ich: Mein eigener Lebensinhalt und der Quell meiner Freude sind Ana, unsere wundervollen Söhne Eneko und Hugo sowie die anderen Mitglieder unserer Familie in Spanien, England und Italien. Dieses Buch entstammt der glücklichsten Zeit meines Lebens.
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Anmerkungen 1 Es wird vehement darüber gestritten, ob all diese nicht codierende DNA überhaupt irgendeinen nützlichen Zweck erfüllt. Manche behaupten, dies sei der Fall und der Begriff „Junk-DNA“ gehöre abgeschafft. Andere verweisen auf den „Zwiebeltest“: Wenn die meiste nicht codierende DNA einen nützlichen Zweck erfüllt, warum braucht eine Zwiebel dann fünfmal mehr davon als ein Mensch? Meiner Meinung nach wäre das Verwerfen des Begriffs voreilig. Junk („Gerümpel“) ist nicht dasselbe wie Müll. Müll wirft man sofort weg; Gerümpel lagert man in der Garage, in der Hoffnung, dass man es eines Tages noch gebrauchen kann. 2 Es gibt noch ein drittes, instabiles Isotop, 14 C; es ist radioaktiv und hat eine Halbwertszeit von 5570 Jahren. Man verwendet es häufig zur Datierung von menschlichen Artefakten. Zur Bestimmung über geologische Zeiträume ist es jedoch nicht geeignet und daher für unsere Zwecke unerheblich. 3 Dieses Methan wurde durch methanogene Bakterien, genauer: Archaeen, erzeugt, die vor über 3,4 Milliarden Jahren in großen Mengen vorkamen, wenn man den Isotopensignaturen glauben darf (Methanogene produzieren ein besonders starkes Signal). Wie bereits erwähnt, war Methan kein wichtiger Bestandteil der irdischen Uratmosphäre. 4 In diesem Kapitel spreche ich der Einfachheit halber meist nur von „Bakterien“, obwohl ich damit Prokaryoten meine, zu denen Bakterien und Archaeen gehören, wie ich in der Einführung erläutert habe. Gegen Ende des Kapitels kommen wir auf die besondere Bedeutung der Archaeen zurück. 5 Das ist nicht ganz richtig. Aerobe Atmung erzeugt fast eine Größenordnung an nutzbarer Energie mehr als Gärung, aber Gärung ist genau genommen überhaupt keine Atmung. Echte anaerobe Atmung nutzt andere Substanzen als Sauerstoff, etwa Nitrat, als Elektronenakzeptor, und diese Substanzen erzeugen fast ebenso viel Energie wie
Sauerstoff. Diese Oxidantien können sich jedoch nur in einer aeroben Welt so stark ansammeln, dass sie Atmung ermöglichen, weil sie zu ihrer Bildung Sauerstoff brauchen. Das bedeutet: Selbst wenn Wassertiere mithilfe von Nitrat statt Sauerstoff atmen würden, könnten sie dies nach wie vor nur in einer sauerstoffreichen Welt tun. 6 Die Vorstellung von warmblütigen Pflanzen mag überraschen, aber man kennt dieses Phänomen von vielen unterschiedlichen Blütenpflanzen. Vermutlich hilft es ihnen, über die Abgabe bestimmter Substanzen Bestäuber anzulocken. Denkbar ist auch, dass es bestäubende Insekten gewissermaßen mit Wärme belohnt, die Entwicklung der Blüten fördert und vor niedrigen Temperaturen schützt. Einige Pflanzen, wie die Indische Lotusblume (Nelumbo nucifera), sind sogar zur Wärmeregulierung fähig; sie erfühlen Temperaturänderungen und regulieren die zelluläre Wärmeerzeugung, um die Gewebetemperatur keinen großen Schwankungen auszusetzen. 7 All diese Begriffe sind mit intellektuellem und emotionalem Ballast befrachtet, der sich über Jahrzehnte angehäuft hat. Ohnehin sind die Bezeichnungen Archaebakterien und Archaeen genau genommen nicht korrekt, weil diese Domäne nicht älter als die Bakterien ist. Ich bevorzuge die Begriffe Archaeen und Bakterien – zum einen, weil sie die verblüffend fundamentalen Unterschiede zwischen den beiden Domänen hervorheben, und zum anderen, weil sie schlichtweg einfacher sind. 8 Natürlich brauchen sie auch Minerale wie Nitrate und Phosphate. Viele Cyanobakterien (die bakteriellen Vorläufer der pflanzlichen Organellen für die Fotosynthese, also der Chloroplasten) können Luftstickstoff binden, will sagen: Sie können eher reaktionsträgen, gasförmigen reinen Stickstoff (N2) in die reaktionsfreudigere und nutzbare Verbindung Ammoniak überführen. Pflanzen haben diese Fähigkeit nicht mehr und müssen sich auf die Freigebigkeit ihrer Umwelt verlassen, etwa in Form symbioti-
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Anmerkungen scher Bakterien in den Wurzelknöllchen bei den Leguminosen, die diese mit aktivem Stickstoff versorgen. Ohne diese äußere biochemische Maschinerie könnten Pflanzen, wie die Viren, weder wachsen noch sich fortpflanzen. Parasiten eben! 9 Ähnliches geschieht, wenn ein Stern entsteht: In diesem Fall bewirkt die zwischen den Materieteilen wirkende Schwerkraft einen örtlich begrenzten Rückgang der Unordnung, doch die gewaltige Menge durch Kernfusion frei werdender Wärme steigert die Unordnung anderswo im Sonnensys tem und im Universum. 10 Ein recht „menschliches“ Beispiel für solche Konservierung ist die Vasa, ein prachtvolles schwedisches Kriegsschiff aus dem 17. Jahrhundert, das 1628 bei seiner Jungfernfahrt vor Stockholm sank und 1961 gehoben wurde. Sie wurde wunderbar konserviert, während die Abwässer der immer größer werdenden Stadt in die Bucht geleitet wurden. Tatsächlich wurde sie in, nun ja, Scheiße konserviert, denn der im Abwasser frei werdende Schwefelwasserstoff verhinderte, dass Sauerstoff die kostbaren Holzschnitzereien des Schiffs angreifen konnte. Seit der Hebung der Vasa kämpft man um ihren Erhalt. 11 Das ist ein interessanter Aspekt der Evolution der Endothermie oder Warmblütigkeit. Zwar besteht nicht notwendigerweise ein Zusammenhang zwischen dem größeren Wärmeverlust warmblütiger Lebewesen und der größeren Komplexität, doch trifft es zu, dass größere Komplexität letztlich mit einem größeren Wärmeverlust bezahlt werden muss. Endotherme Organismen könnten daher im Prinzip eine größere Komplexität entwickeln als ektotherme („kaltblütige“), und das tun auch viele. Ein Beispiel dafür sind vielleicht die kompliziert gebauten Gehirne mancher Vögel und Säugetiere. 12 1 Ångström (Å) entspricht 10 –10 m oder einem Zehnmilliardstel Meter. In der Technik ist an die Stelle dieser Maßeinheit heute fast immer der Nanometer (nm) getreten, der 10 –9 m misst, doch für die Beschreibung der Abmessungen von Proteinen ist sie immer noch von Nutzen. 14 Å entsprechen 1,4 nm. Die meisten Redoxzentren in der Atmungskette liegen in Abständen von 7
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bis 14 Å zueinander, einige wenige bis zu 18 Å. Man könnte auch sagen, dass sie 0,7 bis 1,4 nm Abstand zueinander haben, aber so ausgedrückt wirkt die Dimension auf uns irgendwie kleiner. Die innere Mitochondrienmembran ist 60 Å dick – ein tiefer Ozean aus Lipiden im Vergleich zu mageren 6 nm! Maßeinheiten beeinflussen durchaus unsere Vorstellung von den Abständen. 13 Nicht nur ATP. Der Protonengradient ist ein Allzweck-Kraftfeld, mit dem auch die Rotation der Flagellen bei den Bakterien (nicht aber den Archaeen) und der aktive Molekültransport in die und aus den Zellen angetrieben und das zur Wärmeerzeugung verbraucht wird. Es spielt im Rahmen des programmierten Zelltodes (Apoptose) zudem eine wichtige Rolle für das Leben und Sterben von Zellen. Zu all dem später mehr. 14 Ich bin insofern privilegiert, als mein Büro auf demselben Flur liegt wie das von Peter Rich, der dem Glynn Institute nach Peter Mitchells Eintritt in den Ruhestand vorstand und es schließlich als Glynn Laboratory of Bioenergetics ans University College London holte. Er und seine Forschungsgruppe arbeiten über die dynamischen Wasserkanäle, die Protonen durch Komplex IV (die Cytochromoxidase) leiten, den letzten Atmungskettenkomplex, in dem Sauerstoff zu Wasser reduziert wird. 15 Darin besteht einer der Nachteile der anoxygenen Fotosynthese – die Zellen schließen sich letztlich selbst in den eigenen Abfallprodukten ein. Manche gebänderten Eisensteine (banded iron formations) sind durchsetzt mit winzigen, bakteriengroßen Löchern, die vielleicht genau das dokumentieren. Im Gegensatz dazu ist Sauerstoff zwar potenziell toxisch, aber ein viel günstigeres Abfallprodukt, da er als Gas einfach abdiffundiert. 16 Wie können wir so sicher sein, dass es so herum war und sich nicht die Atmung von der Fotosynthese ableitet? Weil die Atmung bei allen Lebewesen auftritt, Fotosynthese aber nur bei einigen wenigen Bakteriengruppen. Wenn der letzte allgemeine gemeinsame Vorfahr Fotosynthese betrieben hätte, dann hätten die meisten Bakteriengruppen und alle Archaeen diese wertvolle Fähigkeit verlieren müssen. Das wäre nicht
Anmerkungen sparsam gewesen, um es milde auszudrücken. 17 Lipide bestehen aus zwei Anteilen: einem hydrophilen Kopf und zwei oder drei hydrophoben „Schwänzen“ (bei Bakterien und Eukaryoten Fettsäuren, bei Archaeen Isopren). Dank dieser Zweiteilung können Lipide Doppelschichten statt Fetttröpfchen ausbilden. Der Lipidkopf ist bei Archaeen und Bakterien derselbe, Glycerin, doch nutzen sie jeweils spiegelbildlich geformte Isomere. Das wirft ein interessantes Licht auf die oft zitierte Tatsache, dass alle Lebewesen in der DNA linksdrehende Aminosäuren und rechtsdrehende Zucker verwenden. Diese „Händigkeit“ wird häufiger mit einer abiotischen Bevorzugung des einen Isomers gegenüber dem anderen erklärt als mit einer Selektion auf der Ebene biologischer Enzyme. Der Umstand jedoch, dass Archaeen und Bakterien die gegensätzlichen Isomere des Glycerins benutzen, zeigt, dass Zufall und Selektion vermutlich eine große Rolle spielten. 18 Aufgrund der chemischen Zusammensetzung von Zirkonen und ältesten Gesteinen vermutet man heute, dass die frühe, durch vulkanische Gase geprägte Erdatmosphäre relativ neutral war und vor allem aus Kohlendioxid, Stickstoff und Wasserdampf bestand. 19 Die unverfängliche Formulierung „plausible ursprüngliche Bedingungen“ verschleiert tatsächlich so einige Verfehlungen. Oberflächlich bedeutet sie einfach nur, dass die jeweils genutzten Komponenten und Versuchsbedingungen durchaus in der Frühzeit der Erde hätten vorliegen können. Es ist gewiss plausibel, dass in den Meeren des Hadaikums Zyanid vorkam, und auch, dass die Temperaturen auf der noch jungen Erde von mehreren Hundert Grad (an hydrothermalen Schloten) bis hin zu Minusgraden reichten. Das Problem besteht darin, dass realistische Konzentrationen von organischen Verbindungen in einer Ursuppe weitaus geringer sind als die, mit denen man im Labor arbeitet. Außerdem sind Hitze und zugleich Frostkälte in ein und derselben Umgebung kaum glaubhaft, kurzum: Ja, all diese Bedingungen können irgendwo auf dem Planeten geherrscht haben, aber sie konnten die präbiotischen
chemischen Reaktionen nur antreiben, wenn der gesamte Planet als eine Einheit gesehen wird, auf dem eine Reihe zusammenhängender Experimente so abläuft wie in einem Chemielabor. Und das ist höchst unplausibel. 20 Ich habe die Ursuppe so dargestellt, als sei sie „made on Earth“, durch Blitzeinschläge oder UV-Strahlung. Eine alternative Quelle organischer Verbindungen ist der Eintrag aus dem Weltall durch chemische Panspermie. Organische Moleküle kommen ohne Zweifel im Weltraum und auf Asteroiden in Massen vor, und bestimmt erfolgte ein beständiger Zustrom von organischen Molekülen auf die Erde durch Meteoriten. Aber nach ihrer Landung müssen sich diese organischen Verbindungen in den Ozeanen gelöst haben; bestenfalls haben sie damit eine Ursuppe angereichert. Das bedeutet, dass die chemische Panspermie keine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung des Lebens bietet: Sie krankt an denselben unlösbaren Problemen wie die Theorie von der Ursuppe. Die Freisetzung kompletter Zellen, wie sie von Fred Hoyle, Francis Crick und anderen vermutet wurde, ist ebenfalls keine Lösung, sondern verlagert das Problem nur. Wir werden vielleicht nie genau sagen können, wie das Leben auf der Erde entstand, aber wir können den Prinzipien auf den Grund gehen, die das Entstehen lebender Zellen hier oder anderswo lenken. Die Panspermie befasst sich überhaupt nicht mit diesen Prinzipien und ist daher irrelevant. 21 Damit berufe ich mich auf Ockhams Rasiermesser, die philosophische Grundlage jeglicher Wissenschaft: Gehe stets von den einfachsten natürlichen Ursachen aus. Diese Antwort mag sich als falsch herausstellen, aber wir sollten uns erst eingehender damit beschäftigen, wenn es nachgewiesenermaßen notwendig ist. Schon möglich, dass wir letztlich himmlische Maschinerien zur Erklärung des Ursprungs der Replikation he ranziehen müssen, wenn alle anderen Optionen widerlegt wurden (was ich bezweifle); doch bis dahin sollten wir die Dinge nicht über das nötige Maß hinaus vervielfältigen. Das ist einfach eine Methode, an ein Problem heranzugehen, doch der bemerkenswerte Erfolg der Wissenschaft beweist, dass diese Methode sehr effektiv ist.
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Anmerkungen 22 Ein geläufiges Beispiel ist der Alkoholgehalt von Wein, der durch alkoholische Gärung allein nicht mehr als 15 Prozent erreichen kann. Wenn sich der Alkohol bildet, blockiert er den Fortgang der Reaktion (Gärung) und verhindert somit die Bildung von noch mehr Alkohol. Wird der Alkohol nicht entzogen, kommt die Gärung zum Stillstand: Der Wein hat ein thermodynamisches Gleichgewicht erreicht (er ist zur Ursuppe geworden). Spirituosen wie etwa Brandy werden durch Destillation von Wein hergestellt, wobei eine höhere Alkoholkonzentration erreicht wird. Ich glaube, wir sind die einzige Lebensform, die es bei der Destillation zur Perfektion gebracht hat. 23 Ich meine eigentlich nicht Proteine, sondern Polypeptide. Die Abfolge der Aminosäuren in einem Protein ist durch ein Gen in der DNA festgelegt. Ein Polypeptid ist eine Kette von Aminosäuren, die mit denselben Bindungen miteinander verknüpft sind, doch ist es meist viel kürzer (manchmal nur wenige Aminosäuren lang), und seine Sequenz muss nicht durch ein Gen festgeschrieben sein. Kurze Polypeptide bilden sich in Anwesenheit eines chemischen „dehydrierenden“ Agens wie Pyrophosphat oder Acetylphosphat – beides plausible abiotische Vorläufer des ATP – spontan aus Aminosäuren. 24 Wächtershäuser veränderte die Vorstellungen vom Ursprung des Lebens. Er verwarf die Theorie von der Ursuppe mit sehr deutlichen Worten und ließ sich mit Stanley Miller auf einen langen und erbitterten Disput in den Fachjournalen ein. Hier eine Breitseite von Wächtershäuser, nur für den Fall, dass jemand Wissenschaft in irgendeiner Weise für leidenschaftslos halten sollte: „Die Theorie von der präbiotischen Ursuppe sieht sich verheerender Kritik ausgesetzt, weil sie unlogisch, mit der Thermodynamik unvereinbar, chemisch und geochemisch nicht plausibel, nicht im Einklang mit Biologie und Biochemie und experimentell widerlegt ist.“ 25 Leider muss ich berichten, dass inzwischen auch Mike Russell dieser Ansicht ist. Er hat vergeblich versucht, CO2 zur Reaktion mit H2 zu zwingen und so Formaldehyd und Methanol zu erzeugen, und heute hält er dies nicht mehr für möglich. Heute benennt
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er – gemeinsam mit Wolfgang Nitschke – andere Moleküle, vor allem (in Schloten erzeugtes) Methan und Stickstoffmonoxid (das wohl durchaus in den frühen Weltmeeren vorkam) als Antrieb für den Ursprung des Lebens, und zwar über einen Prozess, der den Abläufen bei heutigen methanotrophen Bakterien ähnlich ist. Bill Martin und ich sind anderer Meinung, aus Gründen, auf die ich hier nicht weiter eingehen will. Bei Interesse werden Sie bei Sousa et al. (siehe Literaturverzeichnis) fündig. Diese Frage ist alles andere als trivial, denn die Lösung hängt vom Oxidationsstatus des frühen Ozeans ab. Sie ist aber experimentell überprüfbar. Ein großer Fortschritt der letzten etwa zehn Jahre ist gerade, dass die Theorie von den alkalinen hydrothermalen Schloten nun sehr ernsthaft von einer stetig wachsenden Zahl von Wissenschaftlern in Betracht gezogen wird, die vor einem ähnlichen konzeptionellen Hintergrund spezifische und gezielt überprüfbare Hypothesen formulieren und diese auch im Experiment überprüfen. Genau so soll es in der Wissenschaft sein, und ich bezweifle nicht, dass sich jeder von uns gern einen Fehler im Detail nachweisen lassen würde, natürlich immer in der Hoffnung, dass der gesamte Rahmen fest und sicher steht. 26 Na gut, wenn es Ihnen Kopfzerbrechen bereitet … Das Redoxpotenzial wird in Millivolt gemessen. Stellen Sie sich eine Elektrode aus Magnesium vor, die in ein Becherglas mit Magnesiumsulfatlösung getaucht wird. Magnesium neigt stark zur Ionenbildung und entlässt daher weitere Mg2+-Ionen in die Lösung. Auf der Elektrode bleiben Elektronen zurück. Das bewirkt eine negative Ladung, die relativ zu einer StandardWasserstoffelektrode gemessen werden kann. Diese ist eine inerte Platinelektrode in einer Wasserstoffatmosphäre, die bei pH 0 (ein Gramm Protonen pro Liter) und 25 Grad Celsius in eine Lösung von Protonen getaucht wird. Werden die Magnesiumund die Standard-Wasserstoffelektrode mit einem Draht verbunden, strömen Elektronen von der negativ geladenen Magnesiumelektrode zu der relativ dazu positiv (eigentlich nur weniger negativ) geladenen Wasserstoffelektrode. Es entsteht gasförmiger Wasserstoff durch Absonderung von Proto-
Anmerkungen nen aus der Säure. Magnesium hat tatsächlich ein sehr negatives Redoxpotenzial (–2,37 Volt, um genau zu sein) im Vergleich zur Standard-Wasserstoffelektrode. Beachten Sie, dass all diese Werte bei pH 0 gelten. Im Text sage ich, dass das Redoxpotenzial von Wasserstoff bei –414 mV bei pH 7 liegt. Das ist so, weil das Redoxpotenzial mit jeder weiteren pH-Einheit um etwa –59 mV negativer wird (siehe Text). 27 Siehe Einführung. Die Ribosomen sind die proteinbildenden Nanomaschinen in allen Zellen. Diese großen Molekülkomplexe haben zwei Untereinheiten (eine große und eine kleine), die ihrerseits aus einem Gemisch von Proteinen und RNA bestehen. Die „ribosomale RNA der kleinen Untereinheit“ ist es, die von Woese sequenziert wurde, zum Teil deshalb, weil sie relativ leicht zu gewinnen war (jede Zelle enthält Tausende von Ribosomen), zum Teil aber auch, weil die Proteinsynthese eine Grundlage des Lebens und somit universell konserviert ist; dabei bestehen nur geringe Unterschiede beispielsweise zwischen Menschen und Bakterien an hydrothermalen Schloten. Es ist immer schwer, die Grundsteine eines Gebäudes oder einer Disziplin zu ersetzen, und aus ganz ähnlichen Gründen werden Ribosomen nur selten zwischen Zellen transferiert. 28 Wir erinnern uns: Bakterien und Archaeen bilden die beiden großen Domänen der Prokaryoten, die sich morphologisch stark ähneln, aber in ihrer Biochemie und Genetik grundlegende Unterschiede aufweisen. 29 Und das tun sie bis heute. Mehr oder weniger identische Eisen-Schwefel-(FeS-)Cluster findet man in unseren Mitochondrien, mehr als ein Dutzend von ihnen in jeder Atmungskette (siehe Abbildung 8 zu Komplex I), also Zehntausende in jedem Mitochondrium. Ohne sie wäre keine Atmung möglich, und wir wären binnen Minuten erstickt. 30 Da die pH-Skala logarithmisch ist, entspricht eine pH-Einheit einer Veränderung der Protonenkonzentration um den Faktor zehn. Unterschiede dieser Größenordnung in einem derart kleinen Raum scheinen vielleicht unmöglich, doch das sind sie keineswegs, weil Flüssigkeiten beim Durchströmen von Poren in Mikrometergröße be-
stimmte Fließeigenschaften zeigen. Die Strömung kann in solchen Fällen „laminar“ erfolgen, mit geringen Turbulenzen und wenig Durchmischung. Die Porengrößen bei alkalinen hydrothermalen Schloten bewirken oft eine Kombination aus turbulenter und laminarer Strömung. 31 Der Umstand, dass entwicklungsgeschichtlich alte Enzyme auf einen niedrigen Na+und hohen K+-Gehalt optimiert sind (bei für beide Ionen durchlässigen Membranen), kann dem russischen Bioenergetiker Armen Mulkidjanian zufolge nur bedeuten, dass die Zellen auf das Ionengleichgewicht des sie umgebenden Mediums optimiert wurden. Da die frühen Ozeane viele Natrium- und wenige Kaliumionen enthielten, kann seiner Meinung nach das Leben seinen Ursprung nicht in den Weltmeeren genommen haben. Nun, wenn er recht hat, dann muss ich unrecht haben. Mulkidjanian verweist auf terrestrische geothermale Systeme mit hohen K+- und niedrigen Na+-Konzentrationen, doch diese werfen eigene Probleme auf (in seinem Modell wird die Synthese organischer Moleküle durch eine Zinksulfid-Fotosynthese angetrieben, die in der Realität unbekannt ist). Aber sollte es für die natürliche Selektion wirklich unmöglich sein, Proteine über einen Zeitraum von vier Milliarden Jahren zu optimieren, oder sollten wir davon ausgehen, dass das ursprüngliche Ionengleichgewicht für jedes Enzym ideal war? Wenn es möglich ist, die Enzymfunktion zu optimieren, wie könnte dies angesichts durchlässiger früher Membranen abgelaufen sein? Der Einsatz von Antiportern in natürlichen Protonengradienten bietet da eine zufriedenstellende Lösung. 32 Aufmerksame Leser mögen sich die Frage stellen, warum Zellen nicht einfach Na+ pumpen. Tatsächlich ist es besser, Na+ durch eine durchlässige Membran zu pumpen als H+, aber mit zunehmender Undurchlässigkeit der Membran geht dieser Vorteil verloren. Der Grund dafür ist etwas schwer verständlich: Die einer Zelle zur Verfügung stehende Energie hängt vom Konzentrationsunterschied beiderseits der Membran ab, nicht von der absoluten Ionenkonzentration. Da die Na+-Konzentration im Ozean so hoch ist, muss zur Auf-
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Anmerkungen rechterhaltung der Differenz in Höhe von drei Größenordnungen zwischen Zellinnerem und Außenraum eine viel größere Menge Na+ ausgepumpt werden als H+, was den Vorteil des Na+-Pumpens bei einer Membran, die für beide Ionen relativ undurchlässig ist, wieder aufhebt. Interessanterweise pumpen Zellen, die in Schloten leben, wie Methanogene und Acetogene, oft Na+. Ein möglicher Grund ist, dass hohe Konzentrationen organischer Säuren, wie Essigsäure, die Permeabilität der Membran für H+ erhöhen und es damit profitabler machen, Na+ zu pumpen. 33 Für den Fall, dass Sie mehr über diesen kuriosen Prozess der Elektronen-Bifurkation wissen möchten: Zwei separate Reaktionen werden miteinander gekoppelt, sodass der schwierige (endergonische) Schritt durch eine günstigere (exergonische) Reaktion angetrieben wird. Eines der beiden Elektronen von H2 reagiert sofort mit einem „leichten“ Ziel, was das andere zwingt, einen schwierigeren Schritt zu bewältigen, nämlich die Reduktion von CO2 zu organischen Molekülen. Die Proteinmaschinerie, die die Elektronen-Bifurkation ausführt, enthält zahlreiche Eisen-Nickel-Schwefel-Cluster. Bei Methanogenen trennen diese im Grunde mineralischen Strukturen die Elektronenpaare des H2-Moleküls auf und fügen eines davon letztlich CO2 zu, sodass organische Verbindungen entstehen, während das andere an ein Schwefelatom geht – das „leichtere“ Ziel, das den gesamten Prozess antreibt. Im Methan (CH4) werden die beiden Elektronen letztlich wieder vereint. Methan wird als Abfallprodukt in die Umwelt abgegeben, ihm verdanken die Methanogene ihren Namen. Der Prozess der ElektronenBifurkation verläuft also überraschenderweise als Kreislauf. Die Elektronen des H2 sind eine kurze Zeit lang getrennt, doch am Ende landen sie alle beim CO2 und reduzieren es zum Methan, das sofort verworfen wird. Konserviert wird nur ein Teil der Energie, die bei den exergonischen Schritten der CO2-Reduktion freigesetzt wird, und zwar in Gestalt eines H+-Gradienten über einer Membran (eigentlich ist es bei Methanogenen normalerweise ein Na+-Gradient, aber H+ und Na+ lassen sich über den Antiporter leicht austauschen). Unterm Strich
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wirkt die Elektronen-Bifurkation als Protonenpumpe und regeneriert, was die Schlote gratis liefern. 34 Genau genommen kann es das eigentlich schon, weil ein einzelnes Gen aus zwei verschiedenen Stücken mit unterschiedlicher phylogenetischer Geschichte zusammengespleißt sein kann. Im Normalfall geschieht dies aber nicht, und beim Versuch, Entwicklungsgeschichte anhand einzelner Gene zurückzuverfolgen, machen sich Phylogenetiker üblicherweise nicht daran, gegenteilige Verläufe zu rekonstruieren. 35 Die weitaus schnellste und zuverlässigste Methode, um die Endprodukte der Gärung zu beseitigen, ist, sie durch Atmung zu verbrennen. Das Endprodukt CO2 entweicht einfach über Diffusion in die Luft oder schlägt sich als Carbonatgestein nieder. Aus diesem Grunde ist Gärung großenteils von Atmung abhängig. 36 Für diese Vergleiche muss man die Stoffwechselrate jeder einzelnen dieser Zellen sowie das Zellvolumen und die Genomgröße kennen. Falls Sie denken, dass 50 Bakterien und 20 Eukaryoten für einen derartigen Vergleich nicht viel sind, bedenken Sie bitte die Schwierigkeiten, die die Erhebung aller genannten Informationen für jeden einzelnen Zelltyp bereitet. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen die Stoffwechselrate gemessen wurde, nicht aber die Genomgröße oder das Zellvolumen, oder umgekehrt. Dennoch scheinen die Werte, die wir der Literatur entnommen haben, recht tragfähig zu sein. Wenn Sie sich für die detaillierten Berechnungen interessieren, siehe Lane und Martin (2010). 37 Das Volumen einer Kugel variiert mit dem Kubik des Radius, wohingegen die Oberfläche mit dem Quadrat des Radius variiert. Beim Vergrößern des Kugelradius wächst das Volumen daher schneller als die Oberfläche, was die Zelle vor folgendes Problem stellt: Ihre Oberfläche wird in Relation zu ihrem Volumen kleiner. Abhilfe schafft die Veränderung der Form – so sind viele Bakterien stäbchenförmig, wodurch sie in Relation zu ihrem Volumen eine größere Oberfläche erhalten. Bei einer Ausdehnung um mehrere Größenordnungen schaffen solche Formveränderungen jedoch nur geringfügig Abhilfe.
Anmerkungen 38 Die Tatsache, dass Prokaryoten andere Zellen nicht durch Phagozytose verschlingen können, dient gelegentlich als Begründung dafür, dass die Wirtszelle eine Art „primitiver“ Phagozyt gewesen sein „muss“ – und nicht etwa ein Prokaryot. Diese Argumentation ist aus zwei Gründen problematisch. Erstens entspricht sie einfach nicht der Wahrheit – wir kennen seltene Beispiele für in Prokaryoten lebende Endosymbionten. Zweitens kommen Endosymbionten bei Eukaryoten zwar verbreitet vor, entwickeln sich jedoch keineswegs routinemäßig zu Organellen wie Mitochondrien. Tatsächlich sind Mitochondrien und Chloroplasten die einzigen bekannten Beispiele, obwohl es (zweifellos) Tausende oder Millionen anderer Gelegenheiten gegeben hat. Die Entstehung der eukaryotischen Zelle war ein einmaliges Ereignis. Wie in Kapitel 1 erwähnt, muss eine befriedigende Erklärung verdeutlichen, warum es einmalig war. Sie sollte plausibel sein, aber nicht so plausibel, dass man sich fragt, warum es nicht mehrfach passiert ist. Eine Endosymbiose zwischen Prokaryoten kommt selten vor, jedoch nicht so selten, dass sie allein die Einzigartigkeit des Ursprungs von Eukaryoten erklären könnte. Wenn man hingegen die ungeheuren energetischen Profite aus der Endosymbiose zwischen Prokaryoten im Zusammenhang mit den schwerwiegenden Problemen betrachtet, die sich ergeben, wenn verschiedene Lebenszyklen miteinander in Einklang zu bringen sind (darauf gehen wir im nächsten Kapitel ein), lässt sich diese evolutionäre Einmaligkeit erklären. 39 Um diese Zahlen in Relation zu setzen: Tierzellen produzieren im Allgemeinen Actinfilamente mit einer Rate von rund 1–15 Mikrometern pro Minute, wohingegen einige Foraminiferen Geschwindigkeiten von 12 Mikrometern pro Sekunde erreichen können. Dabei handelt es sich allerdings um die Zusammensetzung vorgefertigter Actinmonomere, nicht um die De-novo-Synthese von Actin. 40 Mit dem Ausdruck vertraut machte mich John Reid, früherer britischer Staatsminister für die Streitkräfte. Nachdem er mein Buch Life Ascending (dt. Leben) gelesen hatte, lud er mich zum Tee im House of Lords ein. Meine Versuche, meinem höchst wissbegie-
rigen Gastgeber die dezentralisierte Regulierung der Mitochondrien zu erklären, ließen sich offensichtlich wunderbar auf den militärischen Bereich übertragen. 41 Es gibt einen aufschlussreichen bakteriellen Vorläufer für das Verbrennen von ATP – das sogenannte ATP- oder Energie-Spilling (to spill = „verschütten“). Der Begriff trifft den Nagel auf den Kopf: Einige Bakterien sind in der Lage, bis zu zwei Dritteln ihres gesamten ATP-Vorrats für einen fortgesetzten unnützen Ionenfluss durch die Zellmembran und andere ebenso sinnlose Kunststückchen zu verschwenden. Warum? Eine mögliche Antwort lautet: Dies sorgt für ein gesundes Gleichgewicht zwischen ATP und ADP, was wiederum die Kontrolle des Membranpotenzials und des Austritts freier Radikale gewährleistet. Es zeigt erneut, dass Bakterien eine Menge ATP übrig haben – ihnen droht keinerlei Energieengpass. Das Energie-pro-Gen-Problem offenbart sich nur bei ihrer Ausdehnung auf Eukaryotengröße. 42 Ich behaupte nicht, dass ein Anstieg der Sauerstoffkonzentration die Evolution von Tieren befeuerte (wie in Kapitel 1 erörtert), sondern dass er große Tiere zu einem aktiveren Verhalten befähigte. Das Sprengen der energetischen Ketten förderte eine polyphyletische Radiation vieler verschiedener Tiergruppen; Tiere hatten sich jedoch schon vor der kambrischen Explosion entwickelt, bevor die starke Sauerstoffzunahme im ausgehenden Präkambrium erfolgte. 43 Okay, fast nichts. Einige Introns haben bestimmte Funktionen erworben – sie binden an Transkriptionsfaktoren, und manchmal fungieren sie selbst als RNA, wobei sie die Proteinsynthese und die Transkription anderer Gene stören. Die epochemachende Diskussion über die Funktion der nicht codierenden DNA ist in vollem Gange. In einigen Aspekten ist diese zweifellos funktional, doch ich schließe mich den Zweiflern an, die argumentieren, die Sequenzen des (menschlichen) Genoms seien großenteils keinen aktiven Beschränkungen unterworfen, und darum hätten diese Teile keine Funktion, die von ihrer Abfolge vorgegeben würden. Im Großen und Ganzen heißt das, dass sie funktionslos sind. Müsste ich einen Tipp abgeben, so würde ich sagen, dass viel-
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Anmerkungen leicht 20 Prozent des menschlichen Genoms funktional sind und der Rest mehr oder weniger „Junk“ ist. Das schließt jedoch nicht aus, dass er irgendeinem anderen Zweck dient, zum Beispiel als Lückenfüller. Wie wir wissen, schreckt die Natur vor der Leere zurück. 44 Varianten eines Gens heißen „Allele“. Spezifische Gene finden sich immer in der gleichen Position auf einem Chromosom, dem „Locus“; die tatsächliche Sequenz eines spezifischen Gens kann jedoch zwischen Individuen variieren. Kommen bestimmte Varianten in einer Population verbreitet vor, bezeichnet man sie als Allele. Allele sind polymorphe Varianten des gleichen Gens am gleichen Locus. Von Mutanten unterscheiden sie sich in der Häufigkeit. Neue Mutationen treten in einer Population in geringer Menge auf. Wenn sie sich als vorteilhaft erweisen, können sie sich in der Population ausbreiten, bis dieser Vorteil durch irgendeinen Nachteil ausgeglichen wird. Sie sind zu Allelen geworden. 45 Die effektive Populationsgröße spiegelt den Umfang der genetischen Variation in einer Population wider. Beim Auftreten einer Parasiteninfektion entspricht eine klonale Population im Grunde einem einzigen Individuum, weil jegliche parasitische Anpassung, die den Angriff auf ein bestimmtes Gen ermöglicht, die Infizierung der gesamten Population bedeuten könnte. Große sexuelle Populationen hingegen weisen gemeinhin viel genetische Variation in ihren Allelen auf (obwohl sie alle die gleichen Gene haben). Aufgrund dieser Variation sind einige Organismen wahrscheinlich gegen diese spezielle Parasiteninfektion resistent. Die effektive Populationsgröße ist demnach größer, auch wenn die Zahl der Individuen gleich ist. 46 Blackstone hat sogar einen möglichen Mechanismus vorgeschlagen, der auf der Biophysik der Mitochondrien beruht: Wirtszellen, deren Wachstum durch Mutationen behindert wird, haben einen geringen ATP-Bedarf und wandeln daher wenig ATP wieder in ADP um. Weil der Elektronenfluss bei der Atmung von der ADP-Konzentration abhängt, hat die Atmungskette die Tendenz, Elektronen anzuhäufen und reaktionsfreudiger zu werden, wodurch sich
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freie Sauerstoffradikale bilden (mehr da rüber im nächsten Kapitel). Bei einigen heute vorkommenden Algen regt der Austritt von freien Radikalen aus Mitochondrien die Bildung von Gameten und Sex an; diese Reaktion lässt sich durch Gabe von Antioxidantien stoppen. Könnte es sein, dass freie Radikale die Membranfusion direkt ausgelöst haben? Möglich ist es. Man weiß, dass Strahlenschäden über einen Mechanismus unter Beteiligung freier Radikale zu einer Membranfusion führen. Auf diese Weise hätte ein natürlicher biophysikalischer Prozess als Grundlage einer nachfolgenden natürlichen Selektion gedient. 47 Mathematisch gesehen erwiesen sich alle drei Theorien als Varianten voneinander: Jede ist von der Mutationsrate abhängig. In einem einfachen Mutationsmodell hängt die Rate der Mutantenanhäufung natürlich von der Mutationsrate ab. Entsprechend gilt: Wenn ein egoistischer Mutant entsteht, repliziert er sich ein wenig schneller als der Wildtyp, was bedeutet, dass sich der neue Mutant in der Population ausbreitet. Mathematisch entspricht das einer höheren Mutationsrate; anders gesagt, gibt es in einem gegebenen Zeitraum mehr Mutanten. Das Koadaptationsmodell hat das gegenteilige Ergebnis. Die effektive Mutationsrate wird niedriger, weil sich die nukleären Gene an die mitochondrialen Mutanten anpassen können, weswegen diese nun keinen Schaden mehr anrichten und infolgedessen nach unserer Definition keine Mutanten mehr sind. 48 Es gibt zahlreiche andere Möglichkeiten, von verlässlicher Auszucht bis zu Signalgebung und Pheromonen. Wenn sich zwei Zellen sexuell fortpflanzen, müssen sie sich zunächst einmal finden und sicherstellen, dass sie mit der richtigen Zelle verschmelzen – einer anderen Zelle derselben Spezies. Gewöhnlich finden Zellen einander über „Chemotaxis“, was bedeutet, dass sie ein Pheromon produzieren, im Grunde einen „Geruch“, und sich an einem Konzentrationsgradienten entlang auf die Quelle dieses Geruchs zubewegen. Produzieren beide Gameten das gleiche Pheromon, kann das für Verwirrung sorgen. Dann kommt es oft vor, dass sie in kleinen Kreisen herumschwimmen und ihrem eigenen Geruch folgen. Ge-
Anmerkungen meinhin ist es günstiger, wenn nur ein Gamet ein Pheromon produziert und der andere darauf zuschwimmt. Insofern könnte der Unterschied zwischen Paarungstypen mit dem Problem der Partnerfindung zusammenhängen. 49 So hat der Entwicklungsbiologe Leo Buss behauptet, dass Tierzellen, die ja mobil sind, in einem egoistischen Versuch der Gesetzesübertretung mit höherer Wahrscheinlichkeit in die Keimbahn eindringen als Pflanzenzellen, deren lästige Zellwand sie praktisch bewegungsunfähig macht. Aber trifft das auch auf Korallen und Schwämme zu, die aus wunderbar mobilen Tierzellen bestehen? Wohl kaum. Doch diese besitzen ebenso wenig eine Keimbahn wie Pflanzen. 50 Der Bau der Kathedrale von Cefalù wurde 1131 begonnen, 40 Jahre nach Beendigung der Eroberung Siziliens durch die Normannen im Jahr 1091 (ein Feldzug, der 1061 begann und sich über 30 Jahre erstreckte, bevor es zu der berühmteren normannischen Eroberung von England kam). Die Kathedrale wurde von König Roger II. als Dank für die Rettung bei einem Schiffsuntergang vor der Küste erbaut. Die wunderbaren Kirchen und Paläste des normannischen Siziliens kombinieren archetypische normannische Architektur mit byzantinischen Mosaiken und arabischen Kuppeln. Der Pantokrator in Cefalù wurde von byzantinischen Kunsthandwerkern geschaffen, und manche Experten meinen, er sei sogar dem berühmten Pantokrator in der Hagia Sophia im damaligen Konstantinopel (heute Istanbul) überlegen. Wie dem auch sei, ein Besuch lohnt sich auf jeden Fall. 51 Die meisten Lecks an freien Radikalen gehen tatsächlich auf Komplex I zurück. Der Abstand zwischen den Redoxzentren in Komplex I spricht dafür, dass dies absichtlich so ist. Erinnern Sie sich an das Prinzip des Quantentunnelns: Elektronen „springen“ von einem Zentrum zum nächsten, wobei die Erfolgswahrscheinlichkeit von der Entfernung, der Belegung und dem „Zug“ des Sauerstoffs (dem Reduktionspotenzial) abhängt. Innerhalb von Komplex I gibt es einen frühen Abzweig in der Bahn des Elektronenflusses. Auf der Hauptbahn liegen die meisten Zentren 11 Ångström voneinander entfernt, daher springen die
Elektronen gewöhnlich rasch von einem zum nächsten. Die alternative Bahn ist eine Sackgasse – die Elektronen können herein, aber nur schwer wieder heraus. Am Verzweigungspunkt haben die Elektronen die „Wahl“: Die Entfernung zum nächsten Re doxzentrum beträgt auf dem Hauptweg rund 8 Å, und zum alternativen Zentrum rund 12 Å (Abbildung 8). Unter normalen Bedingungen folgt der Elektronenfluss der Hauptbahn. Doch wenn diese Bahn mit Elektronen verstopft ist – wenn sie also stark reduziert ist –, sammeln sich nun Elektronen im alternativen Zentrum an. Dieses alternative Zentrum liegt an der Peripherie und reagiert leicht mit Sauerstoff zu Superoxid-Radikalen. Messungen zeigen, dass dieses FeS-Cluster die Hauptquelle für den Austritt freier Radikale in der Atmungskette ist. Ich sehe darin einen Mechanismus, ein solches Leck als warnendes „Rauchsignal“ zu fördern, wenn der Elektronenfluss zu langsam ist, um den Bedarf zu decken. 52 Mittwoch verweist auf ein paralleles Problem, was sich auf echte Hermaphroditen (Zwitter) bezieht – Menschen, die mit einem Satz weiblicher und männlicher Geschlechtsorgane geboren werden, zum Beispiel mit einem Hoden auf der rechten und einem Eierstock auf der linken Seite. Diese Kombination ist viel wahrscheinlicher als die umgekehrte. Kaum ein Drittel der Menschen mit echtem Hermaphroditismus tragen den Hoden links und den Eierstock rechts. Der Unterschied kann kaum genetische Gründe haben. Mittwoch hat gezeigt, dass die rechte Seite in der kritischen Periode etwas schneller wächst als die linke, daher ist es wahrscheinlicher, dass sie Männlichkeit entwickelt. Interessanterweise ist es bei Mäusen genau umgekehrt – die linke Seite wächst ein wenig schneller und entwickelt eher Hoden. 53 Die Mitochondrien werden in der weiblichen Linie weitergegeben, in den Eizellen, nicht via Spermien. Zwitter reagieren theoretisch auf Geschlechtsdeformationen durch Mitochondrien besonders empfindlich. Aus deren Sicht ist das männliche Geschlecht eine genetische Sackgasse – der letzte Platz, wo ein Mitochondrium enden „möchte“, ist in den Staubbeuteln. Es liegt
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Anmerkungen daher in ihrem Interesse, die männlichen Sexualorgane zu sterilisieren, um ihre Passage in eine weibliche Pflanze sicherzustellen. Viele bakterielle Parasiten bei Insekten, wie Buchnera und Wolbachia, spielen ein ähnliches Spiel – sie können das Geschlechterverhältnis bei Insekten völlig verzerren, indem sie selektiv Männchen töten. Die zentrale Bedeutung von Mitochondrien für den Wirtsorganismus bringt es mit sich, dass sie weniger Spielraum als bakterielle Parasiten haben, Männchen durch einen derartigen egoistischen Konflikt zu töten, doch sie könnten nichtsdestotrotz Sterilität verursachen oder Männchen selektiv schädigen. Ich denke jedoch, dass Konflikt eine geringere Rolle bei Haldanes Regel spielt, denn jener kann nicht erklären, warum Weibchen bei Vögeln (und Mehlkäfern) stärker betroffen sein sollten. 54 Solche Cybriden werden in Zellkulturexperimenten häufig eingesetzt, denn sie erlauben präzise Messungen der Zellfunktion, vor allem der Atmung. Nicht zusammenpassende mitochondriale und nukleäre Gene zwischen Arten reduzieren die Respirationsrate und erhöhen, wie schon erwähnt, den Austritt an freien Radikalen. Das Ausmaß des funktionellen Defizits hängt von der genetischen Distanz ab. Cybriden, die aus der mitochondrialen DNA von Schimpansen und menschlichen Kerngenen geschaffen wurden (ja, das ist tatsächlich gemacht worden, aber nur in Zellkulturen), zeigen, dass die Rate der ATPSynthese etwa die Hälfte derjenigen in normalen Zellen beträgt. Cybriden zwischen Mäusen und Ratten weisen überhaupt keine funktionelle Atmung auf. 55 Diese Annahme könnte ein wenig seltsam erscheinen: Haben die Hoden tatsächlich eine höhere Stoffwechselrate als andere Gewebe wie Herz, Gehirn oder Flugmuskulatur? Nicht unbedingt. Das Problem ist die Kapazität, die den Bedarf decken muss. Es könnte sein, dass der Spitzenbedarf in den Hoden tatsächlich höher ist oder dass die Anzahl der Mitochondrien, die in Anspruch genommen werden, um diesen Bedarf zu decken, geringer ist, sodass die Belastung pro Mitochondrium größer ist. Das ist eine einfache, überprüfbare Vorhersage, doch meines Wissens ist sie nicht getestet worden.
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56 Ich vermute, dass das Freie-Radikal-Signal irgendwann in der Embryonalentwicklung bewusst verstärkt wird. Beispielsweise kann das Gas Stickoxid (NO) an Cytochrom oxidase binden, den letzten Komplex der Atmungskette, was den Austritt von freien Radikalen und die Wahrscheinlichkeit einer Apoptose vergrößert. Wenn NO irgendwann in der Embryonalentwicklung in großer Menge produziert würde, wäre die Folge eine Verstärkung des Signals oberhalb der Schwelle, was das Ende für Embryonen mit inkompatiblen Genomen bedeuten würde – ein Kontrollpunkt. 57 Gustavo Barja hat festgestellt, dass die Rate aussickernder freier Radikale bei Vögeln wie Tauben und Wellensittichen im Verhältnis zum aufgenommenen Sauerstoff bis um das Zehnfache niedriger ist als bei Ratten und Mäusen; die tatsächlichen Raten variieren zwischen den Geweben. Barja fand auch, dass die Lipidmembranen von Vögeln widerstandsfähiger gegen oxidative Schädigung sind als die von flugunfähigen Säugern, und diese Resistenz spiegelt sich in weniger oxidativer Schädigung von DNA und Proteinen wider. Insgesamt lassen sich Barjas Ergebnisse nur schwer anders interpretieren. 58 Ich nenne dies „reaktive Biogenese“ – individuelle Mitochondrien reagieren auf ein lokales Signal freier Radikale, das anzeigt, dass die Atmungskapazität zu gering ist, um den Bedarf zu decken. Die Atmungskette wird stark reduziert (mit Elektronen verstopft). Elektronen können entkommen und direkt mit Sauerstoff zu Superoxid- Radikalen reagieren. Diese interagieren mit Proteinen in den Mitochondrien, die die Replikation und das Kopieren von Mito chondriengenen kontrollieren, welche als Transkriptionsfaktoren bezeichnet werden. Einige Transkriptionsfaktoren sind „redoxsensitiv“, d. h., sie enthalten Aminosäuren (wie Cystein), die Elektronen abgeben oder aufnehmen können und dadurch oxidiert oder reduziert werden. Ein gutes Beispiel ist die mitochondriale Topoisomerase-1, die den Zugang von Proteinen zur mitochondrialen DNA kontrolliert. Die Oxidation eines kritischen Cysteins in diesem Protein erhöht die mitochondriale Biogenese. Daher erhöht ein lokales Signal freier Radikale
Anmerkungen (das die Mitochondrien niemals verlässt) die mitochondriale Kapazität und steigert die ATP-Produktion relativ zum Bedarf. Diese Art von lokalem Signal in Antwort auf rasche Änderungen im Bedarf könnte erklären, warum Mitochondrien ein kleines Genom zurückbehalten haben (siehe Kapitel 5). 59 Das sieht wie ein Widerspruch aus – größere Arten haben in der Regel eine niedrigere Stoffwechselrate pro Gramm Körpermasse, doch ich habe gesagt, dass männliche Säuger größer sind und eine höhere Stoffwechselrate haben, also genau das Umgekehrte. Innerhalb einer Art sind die Masseunterschiede trivial im Vergleich zu den vielen Größenordnungen, die zwischen verschiedenen Arten liegen; auf dieser Skala sind die Stoffwechselraten von erwachsenen Lebewesen derselben Art praktisch identisch (obgleich Kinder tatsächlich eine höhere Stoffwechselrate haben als Erwachsene). Die sexuellen Unterschiede in der Stoffwechselrate, über die ich zuvor gesprochen habe, beziehen sich auf Unterschiede in den absoluten Wachstumsraten in bestimmten Entwicklungsstadien. Wenn Ursula Mittwoch recht hat, sind diese Unterschiede so subtil, dass sie Entwicklungsunterschiede auf der rechten versus der linken Körperseite erklären können, siehe Fußnote 3. 60 Und schlimmer. Die beste Weise, schlecht funktionierende Mitochondrien zu eliminieren, besteht darin, den Körper zu zwingen, sie zu benutzen und ihre TurnoverRate zu erhöhen. Beispielsweise erzwingt eine fettreiche Ernährung tendenziell die Benutzung von Mitochondrien, während eine Ernährung reich an Kohlenhydraten erlaubt, mehr Energie durch Gärung bereitzustellen, ohne die Mitochondrien so stark zu belasten. Wenn Sie jedoch unter einer Mitochondrienkrankheit leiden (und wir alle entwickeln im Alter fehlerhafte Mitochondrien), dann kann dieses Umschalten zu viel sein. Einige Patienten mit Mitochondrienkrankheiten, die zu einer „ketogenen Diät“ übergegangen sind, fielen ins Koma, weil ihre geschädigten Mitochondrien die
Energie nicht bereitstellen können, die für ein normales Leben ohne die Hilfe von Gärung nötig ist. 61 Ich diskutiere das Wechselspiel zwischen aerober Kapazität und der Evolution von Endothermie ausführlicher in Power, Sex, Suicide und Life Ascending (deutsch: Leben). Ich kann Ihnen diese Bücher nur dreist empfehlen, wenn Sie mehr dazu wissen wollen. 62 Die Endosymbionten in Parakaryon myojinensis befinden sich im Inneren einer Struktur, die die Autoren als „Phagosomen“ (Vakuolen in der Zelle) bezeichnen, trotz Vorhandensein einer intakten Zellwand. Sie vermuten, die Wirtszelle sei einst ein Phagozyt gewesen, habe später aber seine Fähigkeit zur Phagozytose verloren. Das muss nicht unbedingt so sein. Schauen Sie sich Abbildung 25 nochmals an. Diese intrazellulären Bakterien sind in ganz ähnliche „Vakuolen“ eingeschlossen, doch in diesem Fall handelt es sich bei der Wirtszelle eindeutig um ein Cyanobakterium und daher nicht um eine Phagozytose. Dan Wujek schreibt diese Vakuolen, die die Endosymbionten umgeben, Schrumpfungsprozessen bei der Präparation für die Elektronenmikroskopie zu, und ich vermute, dass die „Phagosomen“ bei Parakaryon myojinensis ebenfalls ein Schrumpfungsartefakt sind und nichts mit Phagozytose zu tun haben. Wenn das stimmt, dann gibt es keinen Grund anzunehmen, dass diese ancestrale Wirtszelle ein komplexerer Phagozyt war. 63 Daten des Weltraumteleskops Kepler sprechen dafür, dass einer von fünf sonnenartigen Sternen in der Galaxie einen „erdgroßen“ Planeten in der habitablen Zone aufweist, was zu den hochgerechneten 40 Milliarden geeigneten Planeten in der Milchstraße führt. 64 Falls Sie mehr darüber erfahren wollen: Braben hat seine Argumente in mehreren überzeugenden Büchern dargelegt; das neueste trägt den Titel Promoting the Planck Club: How Defiant Youths, Irreverent Researchers and Liberated Universities Can Foster Prosperity Indefinitely (Wiley 2014).
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Bildnachweis Abbildung 1: Abgedruckt mit Genehmigung von: Martin W. Mosaic bacterial chromosomes: a challenge en route to a tree of genomes. BioEssays 21: 99–104 (1999). 12 Abbildung 3: Abgedruckt mit Genehmigung von: (A) Fawcett D. The Cell. WB Saunders, Philadelphia (1981). (B) Mark Farmer, University of Georgia. (C) Newcastle University Biomedicine Scientific Facilities; (D) Peter Letcher, University of Alabama. 35 Abbildung 4: Abgedruckt mit Genehmigung von: (A) Katz LA. Changing perspectives on the origin of eukaryotes. Trends in Ecology and Evolution 13: 493–497 (1998). (B) Adam RD, Biology of Giardia lamblia. Clinical Reviews in Microbiology 14: 447–75 (2001). 38 Abbildung 5: Abgedruckt mit Genehmigung von: Koonin EV. The origin and early evolution of eukaryotes in the light of phylogenomics. Genome Biology 11:209 (2010). 41 Abbildung 6: Abgedruckt mit Genehmigung von: Soh EY, Shin HJ, Im K. The protective effects of monoclonal antibodies in mice from Naegleria fowleri infection. Korean Journal of Parasitology. 30: 113–123 (1992). 44 Abbildung 7: Abgedruckt mit Genehmigung von: Singer SJ, Nicolson GL. The fluid mosaic model of the structure of cell membranes. Science 175: 720–31 (1972). 58 Abbildung 8: Abgedruckt mit Genehmigung von: (A) Sazanov LA, Hinchliffe P. Structure of the hydrophilic domain of respiratory complex I from Thermus thermophiles. Science 311: 1430–1436 (2006). (B) Baradaran R, Berrisford JM, Minhas GS, Sazanov LA. Crystal structure of the entire respiratory complex I. Nature 494: 443–48 (2013). (C) Vinothkumar KR, Zhu J, Hirst J. Architecture of mammalian respiratory complex I. Nature 515: 80–84 (2014). 67 Abbildung 9: Abgedruckt mit Genehmigung von: Fawcett D. The Cell. WB Saunders, Philadelphia (1981). 72 Abbildung 10: Abgedruckt mit Genehmigung von: David S Goodsell. The Machinery of Life. Springer, New York (2009). 74 Abbildung 11: Abgewandelt mit Genehmigung von: Russell MJ, Martin W. The rocky roots of the acetyl CoA pathway. Trends in Biochemical Sciences 29: 358063 (2004). 105 Abbildung 12: Abgedruckt mit Genehmigung von Deborah S Kelley und der Oceanography Society; Oceanography 18 September 2005. 107 Abbildung 13: Abgedruckt mit Genehmigung von: (A-C) Baaske P, Weinert FM, Duhr S, et al. Extreme accumulation of nucleotides in simulated hydrothermal pore systems. Proceedings National Academy Sciences USA 104: 9346–9351 (2007). (D) Herschy B, Whicher A, Camprubi E, Watson C, Dartnell L, Ward J, Evans JRG, Lane N. An origin-of-life reactor to simulate alkaline hydrothermal vents. Journal of Molecular Evolution 79: 213–27 (2014). 111
Bildnachweis
Abbildung 14: Abgedruckt mit Genehmigung von: Herschy B, Whicher A, Camprubi E, Watson C, Dartnell L, Ward J, Evans JRG, Lane N. An origin-of-life reactor to simulate alkaline hydrothermal vents. Journal of Molecular Evolution 79: 213–27 (2014). 118 Abbildung 15: Abgewandelt mit Genehmigung von: Woese CR, Kandler O, Wheelis ML. Towards a natural system of organisms: proposal for the domains Archaea, Bacteria, and Eucarya. Proceedings National Academy Sciences USA 87: 4576–4579 (1990). 124 Abbildung 16: Abgedruckt mit Genehmigung von: Sousa FL, Thiergart T, Landan G, Nelson-Sathi S, Pereira IAC, Allen JF, Lane N, Martin WF. Early bioenergetic evolution. Philosophical Transactions Royal Society B 368: 20130088 (2013). 127 Abbildung 17: Abgewandelt mit Genehmigung von: Sojo V, Pomiankowski A, Lane N. A bioenergetic basis for membrane divergence in archaea and bacteria. PLOS Biology 12(8): e1001926 (2014). 139 Abbildung 19: Abgewandelt mit Genehmigung von: Sojo V, Pomiankowski A, Lane N. A bioenergetic basis for membrane divergence in archaea and bacteria. PLOS Biology 12(8): e1001926 (2014). 147 Abbildung 21: Abgedruckt mit Genehmigung von: Thiergart T, Landan G, Schrenk M, Dagan T, Martin WF. An evolutionary network of genes present in the eukaryote common ancestor polls genomes on eukaryotic and mitochondrial origin. Genome Biology and Evolution 4: 466–485 (2012). 165 Abbildung 22: Abgedruckt mit Genehmigung von: Williams TA, Foster PG, Cox CJ, Embley TM. An archaeal origin of eukaryotes supports only two primary domains of life. Nature 504: 231–236 (2013). 166 Abbildung 23: (A) und (B) Abgedruckt mit Genehmigung von Esther Angert, Cornell university; (C) und (D) von Heide Schulz-Vogt, Leibnitz Institute for Baltic Sea Research, Rostock. In: Lane N, Martin W. The energetics of genome complexity. Nature 467: 929–934 (2010); und Schulz HN. The genus Thiomargarita. Prokaryotes 6: 1156–1163 (2006). 177 Abbildung 24: Ursprünglich von Lane N, Martin W. The energetics of genome complexity. Nature 467: 929–934 (2010); abgewandelt in Lane N. Bioenergetic constraints on the evolution of complex life. Cold Spring Harbor Perspectives in Biology doi: 10.1101/cshperspect.a015982 CSHP (2014). 178 Abbildung 25: Abgedruckt mit Genehmigung von: (Top) Wujek DE. Intracellular bacteria in the blue-green-alga Pleurocapsa minor. Transactions of the American Microscopical Society 98: 143–145 (1979). (Bottom) Gatehouse LN, Sutherland P, Forgie SA, Kaji R, Christellera JT. Molecular and histological characterization of primary (beta-proteobacteria) and secondary (gamma-proteobacteria) endosymbionts of three mealybug species. Applied and Environmental Microbiology 78: 1187 (2012). 182 Abbildung 26: Abgedruckt mit Genehmigung von: Fawcett D. The Cell. WB Saunders, Philadelphia (1981). 195 Abbildung 27: Abgewandelt mit Genehmigung von: Alberts B, Bray D, Lewis J, et al. Molecular Biology of the Cell. 4th edition. Garland Science, New York (2002). 203
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Bildnachweis
Abbildung 29: Abgedruckt mit Genehmigung von: Hadjivasiliou Z, Lane N, Seymour R, Pomiankowski A. Dynamics of mitochondrial inheritance in the evolution of binary mating types and two sexes. Proceedings Royal Society B 280: 20131920 (2013). 224 Abbildung 31: Abgedruckt mit Genehmigung von: Schindeldecker M, Stark M, Behl C, Moosmann B. Differential cysteine depletion in respiratory chain complexes enables the distinction of longevity from aerobicity. Mechanisms of Ageing and Development 132: 171–197 (2011). 240 Abbildung 34: Lane N. Bioenergetic constraints on the evolution of complex life. Cold Spring Harbor Perspectives in Biology doi: 10.1101/ cshperspect.a015982 CSHP (2014). 266 Abbildung 35: Basiert auf Daten von Moreno-Loshuertos R, Acin-Perez R, Fernandez-Silva P, Movilla N, Perez-Martos A, Rodriguez de Cordoba S, Gallardo ME, Enriquez JA. Differences in reactive oxygen species production explain the phenotypes associated with common mouse mitochondrial DNA variants. Nature Genetics 38: 1261–1268 (2006). 272 Abbildung 37: Abgedruckt mit Genehmigung von: Yamaguchi M, Mori Y, Kozuka Y, et al. Prokaryote or eukaryote? A unique organism from the deep sea. Journal of Electron Microscopy 61: 423–31 (2012). 282
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Register A Acetogene 153, 155, 174-78, 350 Acetyl CoA 154ff., 164f., 173f. Actin 211 Allen, John 214, 266 Amoeba proteus 205 Antioxidantien 307ff. Antiporter 167-171, 173f., 176, 178, 330 Apoptose 269, 281-84, 293f., 296, 300317, 330 Atmung 13, 22, 39, 78ff., 92ff., 217, 310 Atmungskette 80, 82ff., 96ff., 137, 200, 215, 273, 278ff., 314 Atmungskettenkomplexe 85ff., 102, 152, 160, 293 Autotrophie 193 B Barja, Gustavo 306 Baross, John 121 Barton, Nick 249 Battley, Edwin H. 70 Baum des Lebens 49, 142, 144, 185, 231, 319 Biogenese 309 Biparentale Vererbung 264, 266 Blackstone, Neil 225 Blitzschlag 88, 97, 108f., 277 Burton, Ron 284, 286 Buss, Leo 353 C Cairns-Smith, Graham 114 Camprubi, Eloi 138 Cavalier-Smith, Tony 48, 50, 182 Chemiosmotische Hypothese 91 Chemiosmotische Kopplung 99, 103, 193f., 196, 220, 326, 331 Christus Pantocrator 270 Copley, Shelley 158 Crick, Francis 14, 30, 90, 107f. Crow, James 265
D Darwin, Charles 23, 57, 142 De Duve, Christian 155 Dobzhansky, Theodosius 283 Doolittle, Ford 230 Doppelmembran 50, 223ff., 242 Drosophila 287, 296 E E. coli (Escherichia coli) 16, 78, 145, 199, 203, 228, 248, 319 Ech (energy-converting hydrogenase) 159f., 163f., 171, 173, 175ff. Ediacara-Fauna 40 Elektronenakzeptosr 121, 204, 215, 332 Elektronendonator 121, 195, 332 Embly, Martin 191f. Endosymbiose 18ff., 47, 190, 207ff., 219ff., 222f., 323 Energiestoffwechsel 157, 175 Entropie 29, 66, 70-76, 79, 97, 112, 133, 332 Eozyten-Hypothese 192 Epulopiscium 203ff. Euglena 45 Evolutionäre Konvergenz 175 F Fawcett, Don 224 Ferredoxine 132, 159, 165, 176f. Fisher, Sir Ronald 253 Fitness 245f., 256-259, 263ff., 276, 278, 284ff., 298, 304, 327 „flexible“ Chromosomen 228, 245, 247f. Fortpflanzung 59, 103, 142, 222, 228, 243, 245, 253 Fortpflanzungsbarrieren 286 Fortpflanzungszyklus 243 Fossilien 34, 36, 40, 322 Fluoreszierender (organischer) Farbstoff 130, 139
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Register Ford, Henry 317 G Gameten 243f., 261f., 265ff., 283 Garner, David 155 Gärung 90, 95, 100, 193, 315, 332 Gerschmann, Rebeca 307 Gentransfer 59f., 98f., 142ff., 147ff, 175, 183, 188ff., 208, 228, 238, 242, 248ff., 326 Geschlechtsbestimmung 287, 289 Geschlechtschromosomen 288 Giardia 48f., 228f. Gibbs, J. Willard 75 Goodsell, David 89 Große Sauerstoffkatastrophe 35,37 Gutterridge, John 308 H Hadjivasiliou, Zena 256 Haeckel, Ernst 11 Haldane, J B S 287 Haldane-Regel 287ff., 291, 295, 297 Halliwell, Barry 308 Hamilton, Bill 340 Harman, Denham 307 Harold, Frank 198 Hermaphrodit 253, 353 Herschy, Barry 138 Hill, Geoff 297 Hooke, Robert 10 Huber, Claudia 156 “hybrid breakdown” 284, 286, 288, 295, 303 Hydrophobie 71ff., 118, 214, 333 Hydrothermale Schlote 35, 120, 124, 126ff., 140f., 159, 325 I Intron 52, 230-243, 249, 251, 268, 324, 333 Ionenpumpe 178, 325 Isotopenfraktionierung 34, 38 J Jacob, François 255 „Junk“ DNA 345
380
K Kambrische Explosion 43, 181 Keimbahnen 23, 43, 223, 260ff., 264268, 294, 302f., 327 Kernmembran 240ff., 320f. Kinetische Barrieren 97, 133f. Klonen 227, 245, 248, 250, 257 Kluyver, Albert 12 Körpertemperatur 290, 301 Komplexes Leben 62, 64, 210, 275, 298, 324, 326 Koonin, Eugene 53, 235, 237, 240 Kuhn, Thomas 92 L lateraler Gentransfer 59f., 98f., 142ff., 147ff., 175, 183, 188ff., 208, 228, 238, 242, 248ff., 326 Lebensspanne 267, 294, 309, 312f., 317 lebende Fossilien 322 Letalmutation 249 Lipidmembran 72, 162, 167, 170f. M Männchen 247, 284f., 288ff., 296ff., Maynard Smith, John 340 McCollom, Tom 133 McIneray, James 188 Membran 22, 45, 59, 70, 82ff., 87ff., 97ff., 101ff., 116, 137, 112, 149ff., 157ff., 162, 164ff., 170ff., 178ff., 195f., 200ff., 210, 215ff., 222, 240ff., 273, 281, 314, 323ff. Membranlipide 72, 168, 178, 279, 293, 307 Membranpermeabilität 160ff., 166, 169, 171 Membranpotenzial 161, 216, 277, 279, 281f., 301, 314, 328 Metabolismus 324 Metazoa 53 Methan 33, 37f., 63, 94ff., 107, 117, 128f., 133f., 164, 195 Methanogene 134, 148, 153, 159, 164ff., 174ff., 194 Mitochondrien 13, 18ff., 25, 45, 48ff., 56, 83, 86f., 160, 186ff., 206, 209,
Register 211ff., 226, 238ff., 249ff., 254ff., 260ff., 271ff., 281ff., 289, 293ff., 299ff., 306ff., 311ff., 326ff., Mitochondriengene 214ff., 260, 285, 296f., 301 Mitochondrienmembran 86, 160, 271f., 275, 277 Mitochondrienmutationen 303, 312 Mitochondrienproteine 213 Mitose 54, 210, 252 Mitosome 50, 216 mobile Introns 231ff., 237f., 250 monophyletische Radiation 43, 51, 63f., Mutation 44, 227, 233f., 244, 246ff., 255ff., 265, 290 Mutationsrate 231, 249, 259ff., 265 N NADH 177 natürliche Selektion 9, 31, 90, 107, 142, 156, 164, 173, 207, 246, 262, 273, 282ff., 287f., 299ff., 327f. Neuronen 293 Nickel 118, 123f., 132, 175 nukleäres Gen 255ff., 273, 278ff., 297, 303 Nukleotid 75, 108, 112ff., 129f. Nukleus 11, 20, 23, 256, 272 O Olivin 126f., 141, 325 Organellen 13, 46, 184, 216 Orgel, Leslie 83 Otto, Sally 246 Owen, Jez 249 Oxidation 37, 79, 177 P Paraloge 236ff. Parasit 50, 68, 226, 231ff., 239, 250, 268 Pauling, Linus 308 Pazifik 319 Phagozytose 18, 42, 48, 58, 121, 182, 191, 209 pH-Gradient 161, 163, 169 Photosynthese 36ff., 97f., 152, 193, 210 Phylogenetik 52f., 55, 153, 191
phylogenetische Revolution 14f., 21 phylogenetischer Baum 16, 144f., 147, 191 Pilz 182, 209, 235, 254 Plasmamembran 320 Plasmide 68, 217ff., 251f. Plattentektonik 12f. Polymerisation 198 Polypeptide 118, 159 polyphyletische Radiation 42, 44 Prionen 73 Prokaryoten 18, 57, 62, 100, 151, 180ff., 189ff., 197, 207, 220ff., 240, 320, 323 Proteinmaschine 48, 77, 83 Protonengradient 82f., 86, 92f., 98ff., 128, 136, 140f., 157ff., 162ff., 173ff., 193, 324ff. Protonenpumpe 87, 152, 160, 166f., 170, 176f., 279 Q Quantentunnel 80, 273f. R Redoxpaar 96, 98, 195 Redoxreaktion 79, 82, 93, 99, 135 Redoxzentren 84f., 97f., 273f., 279, 293 Reduktionspotenzial 273 Replikation 100, 106ff., 112ff., 150, 172, 178, 256 Replikationsgeschwindigkeit 275 Replikatoren 30, 108, 113f. Reproduktion 227 Ribosome 15, 45, 100, 198ff., 230, 240, 320 RNA 108, 113f., 118f., 232 RNA-„Scheren“ 232 S Säugetiere 58, 60, 237 Samen 69, 74 Sauerstoff 37ff., 42, 74, 85, 96ff., 121, 133, 271ff., 279, 281, 299, 313f. Sauerstoffkatastrophe 38, 41, 47, 60 Schneeball Erde 37, 181 Schwämme 43, 261, 267 Schwarzes Loch, Metapher 7f., 53, 221
381
Register Segregation 262f. Selbstorganisation 111, 153 Selektion 57, 244ff., 256, 263, 275, 278, 302, 317 Selektionsdruck 39, 172, 249f., 302 Serpentinit 126 Sporen 69, 74, 329 „springende“ Gene 68, 231 SRY-Gen 289f. Stanier, Roger 12 Sterilität 291, 295ff. Stoffwechsel 202, 207, 235 Stoffwechselrate 197f., 205ff., 289ff Stromatolithen 36 Superkomplexe 271 Symbiose 101, 121 T Temperatur 33, 55, 75, 101f., 124, 133, 289ff., 295 Thermodynamik 29, 69f., 108, 113, 132f. Thermophorese 129ff., 139, 157 Todesschwelle 301, 303ff., 310, 317 Transkription 192, 240 Translation 101, 151f., 169, 192, 240 Tribolium 295 U Ubichinon 80, 87 Unikonta 51 Ursuppe 63, 106ff., 117 UV-Strahlung 82, 97, 109
382
V Vakuole 45, 49, 202ff. Varianz 244, 250, 256, 261ff., 312 vertikale Vererbung 142, 148 Vielzelligkeit 43, 58 Viren 30, 67ff., 221, 232 Vitamine 68 Vögel 58, 144f., 288f., 297, 303, 312 W Wächtershäuser, Günter 122, 126, 135f.., 156 Walker, John E. 92 Wallace, Doug 287, 301 Wasser 37, 69ff., 98, 105, 115, 126, 168 Wasserstoff 120, 133, 139, 194, 218, 274 Wheeler, John Archibald 140 X X-Chromosom 288 Y Y-Chromosom 246, 288ff. Yellowstone-Nationalpark 120 Z Zellkern 13, 45, 49, 52, 62, 212, 222ff., 235ff., 240ff., 272, 303, 319 Zelltod 281 Zirkon 32f., 95 Zweigeschlechtlichkeit 103 Zwergmitochondrien 55
Über den Inhalt Warum ist das Leben so, wie es ist? In den letzten vier Milliarden Jahren haben sich einfache Bakterien ein einziges Mal zu höherem Leben entwickelt. Und alle komplexen Lebewesen teilen sich seitdem eine Reihe merkwürdiger Eigenschaften: von Sex über das Altern bis zum Sterben. Aber wenn das Leben sich auf einem anderen Planeten entwickelt hätte, wäre die Geschichte genauso abgelaufen oder vollkommen anders? Nick Lane liefert eine neue Sicht auf die Entwicklungsgeschichte des Lebens und bietet überzeugende Lösungen für einige der ungeklärten Rätsel der Evolution, die Wissenschaftler seit Jahrzehnten beschäftigen. Seine Antwort liegt in der Energie, einer elektrischen Spannung, die die Entwicklung des höheren Lebens anstieß und von der auch heute noch alles Leben zehrt. Seine Erklärungen geben vielen seltsamen Wendungen der Lebensgeschichte einen Sinn und beantworten die großen, offenen Fragen der Evolution. Damit ist das Buch „nichts weniger, als eine neue Geschichte des Lebens“ (Nature).
Über den Autor Nick Lane arbeitet am Department of Genetics, Evolution and Environment am University College in London und beschäftigt sich mit der Evolution der Organismen. Er ist der Autor mehrerer Sachbücher. Für seinen ebenfalls bei Theiss erschienen Band »Leben – Verblüffende Erfindungen der Evolution« wurde er mit dem Preis der Royal Society für das beste Sachbuch des Jahres ausgezeichnet.