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German Pages 415 [432] Year 2006
Otto Graf Lambsdorff Der Freiheit verpflichtet
Otto Graf Lambsdorff
Der Freiheit verpflichtet Reden und Aufsätze 1 9 9 5 - 2 0 0 6
In Würdigung seiner Verdienste als Vorstandsvorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung herausgegeben von Jürgen Morlok
©
Lucius & Lucius • Stuttgart • 2006
Die
Fr
Bibliographische I n f o r m a t i o n d e r D e u t s c h e n Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar
ISBN 3-8282-0361-2 978-3-8282-03612-7
© Lucius & Lucius Verlagsgesellschaft m b H Stuttgart 2006 Gerokstraße 51 • D-70184 Stuttgart www.luciusverlag.com
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Satz: Sibylle Egger, Stuttgart Druck und Bindung: Druckerei Pustet, Regensburg
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Vorwort von Prof. Dr. Jürgen Morlok, Vorsitzender des Kuratoriums der Friedrich-Naumann-Stiftung
Als Otto Graf Lambsdorff im Jahr 1995 den Vorstandsvorsitz der Friedrich-NaumannStiftung übernahm, war er noch aktiver Abgeordneter des Deutschen Bundestages. Als Wirtschaftsminister und wirtschaftspolitischer Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion verschafften ihm die Schärfe seiner Analysen und die Klarheit seines an ordnungspolitischen Grundsätzen ausgerichteten Kampfes für die Marktwirtschaft große Anerkennung unter den Liberalen, aber auch bei den politischen Gegnern und in der Öffentlichkeit. Doch das Spektrum seiner politischen Interessen reichte während seines gesamten politischen Lebens weit über das Feld der Wirtschaftspolitik hinaus. So war ihm das Eintreten für die Menschenrechte überall auf der Welt immer besonders wichtig, die Probleme des ineffizienten und überbürokratisierten deutschen Sozialstaates beschäftigten ihn ebenso wie die notwendige Reform des föderalen Systems. In seiner Funktion als Vorstandsvorsitzender der liberalen Stiftung in Deutschland, der Friedrich-Naumann-Stiftung, bezog Otto Graf Lambsdorff immer wieder Position zu wichtigen politischen Fragen. Dabei wurde er in beispielhafter Weise dem Auftrag einer politischen Stiftung gerecht, politische Bildung zu vermitteln und dabei jenseits des oft kurzlebigen Parteienstreits über den Tag hinaus zu denken. Er verschaffte damit liberalen Positionen große öffentliche Aufmerksamkeit und gab gleichzeitig der inhaltlichen Arbeit unserer Stiftung klare Leitlinien. Doch er wirkte weit über die die Stiftung und den organisierten Liberalismus hinaus, stieß Diskussionen an und beeinflusste die öffentliche Meinung zu wichtigen Zukunftsfragen nachhaltig. Im vorliegenden Band sind einige der Reden und Beiträge für Zeitungen und Zeitschriften zusammengefasst, in denen er als streitbarer Liberaler für eine Ordnung der Freiheit und Verantwortung überall auf der Welt eintritt. Sie spiegeln die aktuellen politischen Auseinandersetzungen in Deutschland und in der internationalen Politik ebenso wieder wie die Schwerpunkte der Arbeit der Friedrich-Naumann-Stiftung, die er führte und nach außen repräsentierte. Die Arbeit für Freiheit und Menschenrechte ist seit ihrer Gründung im Jahr 1958 ein Hauptanliegen unserer Stiftung. Deshalb stehen die Beiträge zu diesem Thema am Beginn des Bandes. Für Graf Lambsdorff sind die individuellen Rechte jedes einzelnen Menschen der Kern des liberalen Gesellschaftsbildes. Ihre Verletzung kann nicht tole-
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Vorwort
riert werden — weder aus wirtschaftlichen Interessen noch aus Achtung einer falsch verstandenen Souveränität von Staaten über ihre Bürger. Deshalb steht die Forderung nach einer an den Menschenrechten orientierten Interpretation des Völkerrechts im Mittelpunkt vieler Reden und Artikel. Dieses Thema hat im Zeitalter der globalen terroristischen Bedrohung noch an Bedeutung gewonnen. Gleichermaßen wichtig ist ihm die Achtung von Minderheiten — auch das war und ist ein wesentliches Ziel der liberalen Stiftung. Auch nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Politik hat sich Graf Lambsdorff nicht aus der wirtschaftspolitischen Debatte verabschiedet. Dort hat seine Stimme nach wie vor großes Gewicht, weltweit kennt man ihn als entschiedenen Freihändler. Nicht ohne Schärfe wendet er sich in mehreren hier abgedruckten Reden und Aufsätzen gegen die protektionistischen Tendenzen in den wohlhabenden Industriestaaten, die die Entwicklungsländer um große Chancen bringen. Die wirtschaftliche Zukunft Deutschlands und Europas liegt für ihn in einer marktwirtschaftlichen Ordnung, die er zunehmend gefährdet sieht. Das wird auch in den Reden und Artikeln deutlich, in denen es um die Steuer- und die Sozialpolitik geht. Dem Thema Föderalismus hat sich Graf Lambsdorff während des vergangenen Jahrzehnts besonders ausführlich und tiefgehend gewidmet. Er war Vorsitzender einer Expertenkommission, die detaillierte Vorschläge für die Reform des föderalen Systems in Deutschland und für die zukünftige Ordnung Europas machte. In seinem konsequenten Eintreten für Subsidiarität und Wettbewerb scheute er den Meinungsstreit nicht, der zuweilen bis weit in die liberale Familie hineinreichte. Es ist nicht zuletzt sein Verdienst, dass sich in letzter Zeit das Problembewusstsein für die Mängel unseres föderalen Systems entscheidend vertieft hat und die Reformbereitschaft gewachsen ist. Politik kann nur auf der Basis eines tiefen Verständnisses der eigenen Geschichte und Kultur verantwortungsvoll gestaltet werden. Die Vielfalt der Interessen von Graf Lambsdorff in diesem Bereich macht ein umfangreicher Abschnitt des vorliegenden Buches deutlich. So setzt er sich mit großen Freiheitsdenkern wie Wilhelm Röpke, Friedrich August von Hayek oder James Madison auseinander, beschäftigt sich mit der deutschen Geschichte und würdigt große liberale Politiker. Den Abschluss des Bandes bildet die Außen- und Europapolitik. Seine zahlreichen internationalen Kontakte und die große Anerkennung und Aufmerksamkeit, die er weltweit genießt, zeigen, wie sehr er sich um eine globale Ordnung der Freiheit verdient gemacht hat. Die Texte zur Europa- und Außenpolitik zeigen aber auch, wie viel Arbeit noch vor uns liegt, bis die Menschen überall auf der Welt in Freiheit und Sicherheit leben können. Ich bin überzeugt, dass Otto Graf Lambsdorff auch nach seinem Ausscheiden aus dem Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung seine Stimme weiter für die Freiheit erhebt.
Vorwort
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So werden wir auch in Zukunft noch möglichst oft in den Genuss des Lesevergnügens und der intellektuellen Herausforderung kommen, die seinen Reden und Artikeln innewohnt. PS: Mein besonderer Dank gilt Dr. Horst Wolfgang Boger, Dr. Detmar Doering, Sascha Tamm und Dr. Horst Werner, jenen Mitarbeitern des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung, die bei der Zusammenstellung der Reden und Beiträge Otto Graf Lambsdorffs mitgewirkt haben.
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Inhalt Vorwort von Prof. Dr. Jürgen Morlok
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Freiheit und Menschenrechte Nach Terror und Krieg: Mehr und nicht weniger Freiheit! (2001)
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Mehr Menschenrechte, weniger Staatenrecht (2003)
7
Begrüßungsrede für den Dalai Lama (2003)
9
So machen sie uns zu Betrügern (2004)
12
Marktwirtschaft und Menschenrechte - ein Widerspruch? (2004)
15
Freiheit als höchster Verfassungswert. Gegen die Inflation von Rechten (2005)
21
Für Freihandel Protektionismus: Der moderne Imperialismus (1995)
30
Für den Freihandel begeistern! (2000)
39
Mit Hartnäckigkeit für die richtige Sache! Der Freihandel nutzt nicht nur den Reichen und schadet nicht den Armen (2001)
45
Auch bei der Globalisierung ist die Politik das Problem und nicht die Lösung (2002)
49
Die marktwirtschaftliche Ordnung Liberale Konzepte gegen die Armut: Marktwirtschaft und Freiheit (1996)
54
Die liberale Marktwirtschaft. Möglichkeiten und Grenzen im Sozialstaat (1999)
61
Der Konsument und seine Freiheit (2000)
66
Reform und Transformation: Die Soziale Marktwirtschaft (2001)
72
Die moralische Verantwortung in der Marktwirtschaft (2001)
79
Der Unternehmer in der Sozialen Marktwirtschaft (2002)
89
Soziale Marktwirtschaft — gestern, heute, morgen (2002)
95
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Inhalt
Deutschland in der Krise - Auswege, Perspektiven (2003)
104
Ein ordnungspolitischer Aufbruch für Deutschland (2004)
110
Globalisierung. Mächtige Wirtschaft - machtlose Politik? (2004)
120
Wettbewerb, Wachstum, Wohlstand - Für eine konsequente marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands (2005)
127
Mehr Freiheit wagen (2005)
137
Der Staat Vorsichtig optimistische Betrachtungen über den Staat (1997)
142
Zur Lage: Gute Absichten, wenig Taten. Die tieferen Ursachen des Reformstaus müssen zum Thema werden (1998)
151
Dezentralisierte Demokratie — begrenzte Demokratie? (2004)
156
Steuern und Steuerpolitik Vom Zehnten der Bibel zum Spitzensteuersatz: Anmerkungen zur Steuergesetzgebung (1996)
164
Die konfiszierte Freiheit. Die Krise des Steuerstaates und die Grenzen der Machbarkeit (1998)
171
Politik als Kunst des Unmöglichen? — Aus Visionen eine liberale Bürgergesellschaft schmieden (2005)
179
Der Sozialstaat in der Krise „Not Ours to Give!" Was man in der Arbeitsmarktpolitik und am Sozialstaat reformieren sollte (1997)
190
Einleitung zum Buch „Freiheit und soziale Verantwortung" (2001)
196
Überwindet Deutschland den Reformstau? (2003)
199
Bürgergeld statt Kombilohn (2006)
208
Föderalismus in Deutschland und Europa Brauchen wir einen neuen Föderalismus? (1998)
214
Subsidiarität ernst genommen! Liberale Prinzipien einer europäischen Verfassungsordnung (1998)
224
Inhalt
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Das Spiel braucht neue Regeln! Nach der Steuerreform ist die Föderalismusdebatte wichtiger denn je (2000)
237
Zur Lage: Welches Europa? (2001)
240
Föderalismus und Reform (2002)
245
Die Reform des deutschen Föderalismus (2002)
255
Zeit, neu nachzudenken... Das Scheitern des „Verfassungsgipfels" der EU eröffnet auch Chancen (2004)
262
Die föderale Finanzverfassung für einen bürgernahen, handlungsfähigen und innovativen Bundesstaat (2004)
268
Föderalismus: Eine Verfassung der Freiheit in Einheit und Vielfalt (2005) . . .
272
Kultur u n d Geschichte Eröffnung der Wolfgang-Natonek-Akademie (1996)
280
Warum nicht triumphieren? Der Tag der Deutschen Einheit und die Freiheit (1997)
287
150 Jahre liberale Revolution in Europa (1998)
295
Freiheit stirbt scheibchenweise. Friedrich August von Hayeks Werk enthält wertvolle Lektionen für Politiker (1999)
300
Verfassungen sind Menschenwerk. 50 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland (1999)
303
Wirtschaftspolitik für den Menschen. Vor 100 Jahren wurde Wilhelm Röpke geboren (1999)
314
Eine immer noch aktuelle Lektion für Verfassungsväter. Vor 250 Jahren wurde James Madison, der Architekt der amerikanischen Verfassung, geboren (2001)
317
Ordnung in Freiheit: Tradition und Zukunft der mitteldeutschen Kultur-und Wirtschaftsregion (2002)
321
Hoffnung und Ernüchterung — zwei Seiten einer Medaille. 12 Jahre nach der deutschen Vereinigung (2002)
327
Literatur und Politik (2003)
337
Der „allumgreifende Vorrang der Freiheit". Werner Maihofer zum 85. Geburtstag (2003)
339
Walter Scheel zum 85. Geburtstag (2004)
343
Historische Verantwortung aus deutscher Sicht (2004)
347
XII
Inhalt
Bildung als Grundlage einer freien Gesellschaft (2005)
355
Einigkeit und Recht und Freiheit: Der Einheit in Freiheit verpflichtet (2005)
359
Kunst und Kultur als Wirtschafts- und Standortfaktor (2005)
366
Außen- u n d Europapolitik Der Schatz im Weinberg: Konvergenz für eine Stabilitätsgemeinschaft (1998)
374
Europa vor ordnungspolitischen Herausforderungen - Probleme und Chancen der Erweiterung (2004)
381
Transatlantische Beziehungen vor dem Hintergrund eines sich wandelnden Amerikabildes in Europa (2002)
389
Begrüßung zur Truman-Lecture (2002)
398
Frieden und Globalisierung (2003)
402
Unsere neuen Nachbarn in Europa (2003)
409
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Freiheit und Menschenrechte
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Freiheit und Menschenrechte
Nach Terror und Krieg: Mehr und nicht weniger Freiheit! Vortrag auf einer Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung in Washington, 5. November 2001 Es war schon ein merkwürdiges Spektakel, wie nach den grauenvollen Anschlägen in New York und Washington am 11. September deutsche Intellektuelle und solche, die sich in der Politik zu ihrem Sprachrohr machen, den Terror zu einer Folge von Freihandel und Neoliberalismus uminterpretierten. So etwas war zu erwarten. Oskar Lafontaine brachte schon kurz nach den Anschlägen auf den Punkt, was die Angehörigen einer im Geist von „68" sozialisierten Generation so denken: „Deregulierung, Privatisierung, Green Card für Techniker, Pilotenscheine für ein paar Dollar, Niederlassungsfreiheit für jedermann und leere Staatskassen untergraben innere und äußere Sicherheit." So ließ er in der Bild-Zeitung verlauten. Und er blieb damit leider Gottes nicht alleine. Gerade in Deutschland wich die einhellige Trauer und Empörung über die grauenvollen Terroranschläge in Amerika schnell dem verhaltenen Ausleben eingefahrener anti-amerikanischer und anti-kapitalistischer Reflexe — oft in larmoyant pazifistischem Gewände. Irgendwie sei die wilde Marktwirtschaft wohl doch der tiefere Grund des Terrors. Überhaupt: Die Menschen der Welt wehrten sich halt dagegen, dass man ihnen weltweit McDonalds und koffeinhaltige Kaltgetränke oktroyiert habe. So stellt man sich schon wieder einmal die Frage, warum eigentlich Schriftsteller in den Augen der Öffentlichkeit immer noch als besondere Autoritäten in Fragen der Politik betrachtet werden (wozu sie per se nicht mehr qualifiziert sind als z. B. Klempner oder Angehörige anderer, weniger beachteter Berufe.), wenn man in der Schweiz den Erzähler Thomas Hürlimann mit folgendem Spruch hört: „Das Überschwemmen der ganzen Welt mit Cola-Dosen, das musste irgendwann auch zu Gegenreaktionen führen." Die liberale Marktwirtschaft ist also mal wieder an allem Schuld. Dahinter steckt nicht nur die obskure Philosophie, dass man nur ein wenig weltweite Sozialarbeit leisten müsse, um dem Terror den Boden zu entziehen. Dahinter steckt vor allem eine falsche Einschätzung darüber, wie weit die Globalisierung überhaupt in der Welt fortgeschritten sei - sowohl was ihre Tiefe als auch ihre Ausbreitung angeht. Selbst in der „Ersten Welt" ist die Globalisierung (im Sinne freier, integrierter Märkte) keineswegs vollständig. Die meisten Länder, so auch die Bundesrepublik, haben eine Staatsquote von über 50%. Sie leiden meist eher unter den Folgen zu teurer Sozialsysteme und Bürokratien. Eine „neoliberal" privatisierte Rentenversicherung
Nach Terror und Krieg: Mehr und nicht weniger Freiheit
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könnte die Probleme, die unsere staatliche vor sich hat, gar nicht erst produzieren. In einem „neoliberal" befreiten Arbeitsmarkt gäbe es nicht die fast 4 Million Arbeitslosen, die wir heute in Deutschland haben. Immer noch scheint es so, dass man ungestraft von Marktversagen reden darf, wenn eigentlich Staatsversagen vorliegt. Sieht man sich die „Brutstätten" des Terrors im Nahen Osten und im islamischen Teil Südasiens an, so muss man feststellen, dass die Menschen dort unter allem möglichen leiden, nur nicht darunter, von McDonalds in ihren Essgewohnheiten vergewaltigt zu werden. Ein Blick auf den von der Friedrich-Naumann-Stiftung mit herausgegebenen Index „Economic Freedom of the World", der empirisch den Grad der Wirtschaftsfreiheit in 123 Ländern untersucht, zeigt, dass diese Länder zu den abgeschlossensten und unfreiesten Ökonomien der Welt gehören. Manche — etwa Afghanistan oder auch Saudi Arabien — sind so unbeschreiblich, dass ihr Freiheitsgrad gar nicht messbar ist. Eigentlich müssten sie also aus Sicht der Anti-Globalisierer wahre Paradiese sein. Sind sie aber nicht. Im Gegenteil: die Welt wäre ein besserer Platz, könnte man in Kandahar ungestört Hamburger kaufen und in Riyads Straßen Mädchen in Pariser Mode sehen. Global wie auch in Deutschland selbst sollten wir also gerade jetzt zum Prinzip Freiheit stehen. Die alte Weisheit, dass die beste Sozialpolitik in einer guten Wirtschaftspolitik bestehe, hat schließlich noch immer eine Menge für sich. Nicht nur deshalb, weil erst erwirtschaftet werden muss, was man verteilen oder gar umverteilen will, sondern vor allem auch deshalb, weil der Markt gerade den Schwachen viel mehr Chancen bietet, als es die kleingläubigen und/oder regulierungssüchtigen Sozialingenieure wahrhaben wollen. Hier lohnt sich noch einmal der Blick in die Studie „Economic Freedom of the World", um zu sehen, welche soziale Kraft das Prinzip der Freiheit entfachen kann. Korreliert man nämlich den Grad wirtschaftlicher Freiheit, wie er sich empirisch anhand von Daten über Steuerraten, Staatsquoten und anderen Faktoren messen lässt, dann stellt man fest, dass die freiesten Marktwirtschaften langfristig das größte Wachstum erwirtschaften. Nun könnte man einwenden, dass hohe Wachstumsraten ja immer noch unsozial verteilt werden könnten. Der Vergleich zeigt aber, dass es gerade die unfreiesten Länder sind, bei denen die Einkommensunterschiede zwischen den Ärmsten und den Reichsten am größten sind und sogar noch wachsen. Menschen in freien Ländern leben länger, leiden weniger unter Korruption, stehen im „Human Development Index" der Vereinten Nationen besser da, verfugen über deutlich mehr Einkommen und schneiden beim Armutsindex der UN ebenfalls besser ab. Alles, was man heutzutage in vielen Medien so an Klischees über Globalisierung, Marktwirtschaft und Freihandel hört, entbehrt an empirischer Grundlage.
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Freiheit und Menschenrechte
Allerdings stimmt die von Globalisierungsgegnern gerne angeführte Behauptung, dass die Wohlstands schere zwischen armen und reichen Ländern sich weite. Sieht man aber genauer hin, so zeigt sich, dass es genau die unfreiesten Ländern sind — also die Länder, die sich der Globalisierung nicht durch Liberalisierungen öffneten, wie etwa Algerien und Burma — deren Abstand zu den reichen Ländern wächst. Im unfreiesten Fünftel der untersuchten Länder erwirtschafteten die Menschen 1999 im Durchschnitt einen Lohn von 2210 US$, im freiesten Fünftel waren es 19.846 US$. Das Fazit aus solchen Erkenntnissen kann nur lauten: Wir brauchen nicht weniger Globalisierung, sondern mehr. Das Prinzip der Freiheit kann sich schließlich gar nicht genug auf diesem verbreiten. Der militärischen Aktion gegen die Taliban und bin Laden in Afghanistan muss ein nüchternes Nachdenken über die Weltwirtschaftsordnung folgen, das auch an einigen Tabus rüttelt. Insofern ist es eine glückliche Fügung, dass in den USA mit George W. Bush ein Präsident im Amte ist, der sehr prononciert freihändlerisch denkt. Zugegeben, auch unter ihm kam es zu „Sündenfällen" wie der Erhöhung der Schutzzölle für die Stahlindustrie, aber sie sind der innenpolitische Preis, den Bush zahlen muss, um überhaupt ein Mandat für seine Politik im Kongress zu bekommen. Inzwischen scheint es immerhin gewisse Chancen zu geben, dass er das angestrebte „fast track"-Mandat bekommt, wenngleich er wohl dabei höchst bedenkliche Eingeständnisse in Bezug auf Umwelt- und Sozialstandards machen muss, um die Demokraten (die vergessen haben, dass sie einstmals die große Freihandelspartei waren) zur notwendigen Zustimmung zu bewegen. Dieses Mandat ermöglicht es ihm, Freihandelsabkommen dem Kongress als ganzes „Paket" vorzulegen, das nicht mehr von Lobbygruppen in seine Bestandteile „aufgeschnürt" werden kann. Nur so kann Amerika, das immer noch der wichtigste „global player" in der Weltwirtschaft ist, eine rationale und liberale Handelspolitik verfolgen. Es ist Aufgabe der Europäer — und insbesondere Deutschlands — zusammen mit Amerika, den Freihandel weltweit zu stärken, wobei vor allem die Abmachung der Uruguay-Runde, die Zölle der „Ersten Welt" im Agrar- und Textilsektor gegenüber der „Dritten Welt" zu senken, eingelöst werden müsste. Bei allen beeindruckenden Schulterschlüssen, die wir seitens der Bundesregierung gegenüber den USA nach den Terroranschlägen gesehen habe, und für die Bundeskanzler Schröder durchaus großes Lob verdient, muss man sich Sorgen machen, ob in der Handelspolitik nicht doch langfristige Bruchstellen existieren, die zur Zeit nur durch den Eindruck der Schreckensmeldungen aus New York und Washington und dem Krieg in Afghanistan überlagert werden. In einer sich immer stärker integrierenden und zusammenwachsenden Welt wie der unsrigen verdienen derartige Bruchstellen höchste Aufmerksamkeit. Insofern war die
Nach Terror und Krieg: Mehr und nicht weniger Freiheit
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WTO-Ministerkonferen2 in Quatar im November ein interessanter Prüfstein für die zukünftigen Entwicklungen, der zu verhaltenem Optimismus berechtigt. Dass hier eine neue Handelsrunde lanciert wurde, ist genau das richtige Signal zur richtigen Zeit. Es ist an der Zeit, dass die Bundesregierung (und auch andere EURegierungen) hier den liberalen Gleichklang mit Amerika findet. Auch Amerika ist kein über aller Kritik stehendes Freiheitsparadies. Aber in vielen Politikfeldern ist man dort zweifellos im konzeptionellen Bereich weiter als in Europa — und dies vor allem in Fragen internationaler Handels- und Wirtschaftspolitik. Hier scheint es gerade bei der deutschen Bundesregierung zu hapern. Das Drängen von EntrwicHungsministerin Wieczorek-Zeul auf Einführung von Sozial- und Umweltstandards in die WTO-Agenda steht im Gegensatz zu dem erklärten Willen der US-Regierung und den meisten Ländern der Dritten Welt, genau dies nicht zu tun, weil es in Wirklichkeit ausgesprochen unsoziale Ausgrenzungsmechanismen der übersättigten europäischen Wohlfahrtsstaaten gegenüber den Armen der Welt etablieren würde. In Quatar haben sich die Europäer damit nicht durchsetzen können, aber vom Tisch ist das Projekt damit aber noch nicht. Die Regierungen in Deutschland und Frankreich scheinen mittlerweile die erstarkende Anti-Globalisierungspanik von Organisationen wie „attac" als Teil ihrer Wahlstrategien einzubeziehen. Das kann zum Liebäugeln mit bedenklichen Ideen führen. Weil sie wegen der derzeitigen Impraktikabilität einer solchen Maßnahme die Einführung einer sogenannten „Tobin-Steuer" auf den internationalen Kapitalverkehr schlichtweg nicht beschließen konnten, haben die beiden Regierungen auch davon abgesehen, entsprechende Gesetze zu verabschieden. Aber eine tiefe Sympathie für dieses Lieblingsprojekt der Anti-Globalisierer, die arg zu denken gibt, haben sie geäußert. Abgesehen davon, dass eine solche Steuer nur sinnvoll wäre, wenn sie weltweit eingeführt würde (was eine ungeheuere und nicht wünschenswerte globale Machtkonzentration zur Folge hätte), wäre sie auch kontraproduktiv im Sinne der Anliegen ihrer Befürworter. Eine solche Steuer würde vor allem den Spielraum kleiner „Player" im Kapitalmarkt beengen, und daher gerade die großen „Player" stärken, die man doch eigentlich damit schwächen wollte.
Nun, in der Praxis steht diese Steuer ja auch nirgendwo auf der Agenda. Unmittelbar wichtiger ist daher, was in Quatar lanciert wurde. Man kann immerhin zufrieden sein, dass man unter dem Druck der Ereignisse immerhin davon abgesehen hat, die Konferenz platzen zu lassen (Seattle!) und sogar — wenn auch in vager Form — dem Einstieg in den Ausstieg aus der bestehenden Agrarpolitik zugestimmt hat. Dies war ein kleiner Schritt, aber einer in die richtige Richtung. Aber es muss noch viel Arbeit geleistet werden, um zu einer besseren Welt-Ordnungspolitik zu kommen.
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Freiheit und Menschenrechte
Es gehörte vor den Terroranschlägen in Deutschland ja schon fast zum guten Ton, sich recht hochnäsig über die Torheit des permanent als „schießwütigen Sheriff diffamierten George W. Bush und seiner Regierung (die in Wirklichkeit ein sehr erfahrenes und hochprofessionelles Team ist) auszulassen, und den neuen „Isolationismus" der USA anzuprangern. Letzteres erfolgt sowieso nach dem Motto, „was immer die USA tun, es ist böse". Denn vermehrter außenpolitischer Aktivismus wird von denselben Menschen genauso kritisiert. Der vermeintliche „Isolationismus" ist in Wirklichkeit eine Fortsetzung der bisherigen Weltpolitik in einer verantwortungsvollen Weise, die Abschied von einer Ideologie nimmt, die alle Probleme der Welt durch Sozialtherapie von oben lösen will, das aber letztlich gar nicht kann. Wenn also die Regierung Bush die Segnungen der verschiedenen UN-Gipfel zu Umweltund Sozialproblemen etwas skeptischer beurteilt als die europäischen Länder und dies mit einer konstruktiven Freihandelsperspektive verbindet, dann verdient dies mehr als die reflexartige moralische Entrüstung, die es hierzulande stets erntete. Die internationalen gouvernmentalen Organisationen sind (mit Ausnahme der WTO) fast samt und sonders zu Plattformen eines pseudo-moralisch verbrämten und unkontrollierten Interventionismus geworden. Dies darf und sollte man ab und zu mal sagen. Die Grundlagen, auf denen beispielsweise die Umweltbeschlüsse von Kyoto gefasst worden sind, sind unter Wissenschaftlern durchaus umstritten. Da sie in der Praxis weit reichende wirtschaftliche und soziale Konsequenzen mit sich brächten, darf man sie hinterfragen. Und dies ist nur ein Beispiel von vielen. Wir sollten die neuen Konstellationen, die sich aus den Terroranschlägen und ihren Folgen ergeben, dazu nutzen, uns dem amerikanischen Diskurs über die Weltordnung in etwas objektiverer Weise zu nähern als dies bisher geschah.
Mehr Menschenrechte, weniger Staatenrecht
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Mehr Menschenrechte, weniger Staatenrecht Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 3/2003 Das Völkerrecht und die Vereinten Nationen sind in die Kritik geraten — und das teilweise zu Recht. Nachdem sich die Aufgeregtheit der öffentlichen Debatten im Vorfeld und während des Krieges im Irak inzwischen etwas gelegt hat, wird der Blick auf die entscheidenden Probleme klarer. Es geht nicht mehr nur darum, die Vereinigten Staaten mit Argumenten zu diskreditieren, die sich oft an Absurdität gegenseitig überboten, sondern es entstehen ernsthafte Auseinandersetzungen über eine moderne Interpretation des Völkerrechts und über die Rolle der UNO. Der Kampf gegen Terrorismus und die Bedrohung durch aggressive Diktaturen erfordert Mechanismen, die gleichzeitig den Selbstverteidigungsinteressen der bedrohten Staaten entgegenkommen und allgemein anerkannte Konfliktschlichtungsmechanismen bieten. Davon sind wir noch weit entfernt. Obwohl viele Politiker der UNO gern einen Heiligenschein verleihen, muss doch darauf hingewiesen werden, dass ein erfreulicherweise geringer werdender, aber immer noch beträchtlicher Teil der stimmberechtigten Mitglieder Diktaturen sind, die in keiner Weise demokratisch legitimiert sind. In naher Zukunft sehe ich keine Organisation, die über die Mittel verfügt, Staaten wirkungsvoll vor den entsprechenden Bedrohungen zu schützen und diese Mittel auch einzusetzen. Die NATO könnte diese Rolle spielen, doch hat auch sie in letzter Zeit ein Bild der Uneinigkeit gezeigt. Die immer wieder geforderte gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik kann, wenn sie denn die zahlreichen innereuropäischen Widersprüche überwindet, nur eine Politik mit den USA sein. Alle Ideen, ein „Gegengewicht" zu den Vereinigten Staaten zu schaffen, sind für die Herstellung einer globalen Friedensordnung kontraproduktiv. Sicherheit lässt sich nur mit den Vereinigten Staaten und nicht gegen sie erreichen. Man darf sich auch keinen Illusionen darüber hingeben, dass die oft an kurzfristigen nationalen Interessen ausgerichtete Politik vieler Länder schnell zu ändern wäre. Gerade deshalb ist es wichtig, sich wenigstens auf ein Mindestmaß an Wertmaßstäben zu verständigen, an denen sich außen- und sicherheitspolitisches Handeln zu orientieren hat. Es ist offensichtlich, dass diejenigen Länder, die eine Gefahr für ihre Nachbarn und für die internationale Sicherheit darstellen, immer auch zu den Ländern gehören, in denen die Menschenrechte mit Füßen getreten werden. Deren Regierungen werden von einer Interpretation des Völkerrechts begünstigt, die Souveränität und daraus folgend die Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten über alles andere
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Freiheit und Menschenrechte
stellt. Während aus offensichtlichen Gründen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges bei der Verabschiedung der Charta der Vereinten Nationen besonderer Wert auf die Vermeidung von Kriegen und die Sicherung des Status quo gelegt wurde, ist die moderne Interpretation des Völkerrechtes inzwischen auf dem Weg zu einer Ordnung des Schutzes auch der individuellen Rechte. UNO-Generalsekretär Kofi Annan fasste diese Tendenz in die Worte: „The Charter protects the sovereignty of peoples. It was never meant as a license to trample on human rights and human dignity. Sovereignty implies responsibility, not just power." Der Weg einer neuen Interpretation des Souveränitätsbegriffes muss weitergegangen werden, denn noch zu viele Regierungen betrachten die Bevölkerung ihrer Länder als ihr Eigentum, mit dem nach Belieben verfahren werden kann. Nichteinmischung haben bis heute noch alle Staaten gefordert, die politische Gegner oder nationale Minderheiten unterdrücken. Ein aktuelles Beispiel dafür ist das Regime von Mugabe in Zimbabwe; in den 90er Jahren gab es unter anderem die jugoslawische Regierung unter Milosevic, deren Grausamkeiten gegenüber der albanischen Bevölkerung erst im letzten Moment — vielleicht zu spät - gestoppt werden konnten. In vielen derartigen Fällen hat sich auch die UNO als unfähig erwiesen, das Leben und die Würde der betroffenen Menschen zu schützen. Wenn die Möglichkeiten gestärkt werden, Regierungen für die Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen, die sie in den Grenzen ihrer Länder begehen, ist das ein entscheidender Beitrag zu einer Friedensordnung. Das bis heute weit verbreitete Wegschauen mag zwar in einigen Fällen zu kurzfristiger Ruhe geführt haben, zu langfristiger Stabilität jedoch nicht. Damit soll nicht einem ausufernden Interventionismus das Wort geredet werden. Militärisches Eingreifen muss auf gravierende Fälle der Bedrohung und der Verletzung der Rechte der Menschen beschränkt bleiben, in denen andere Mittel ausgeschöpft sind. Doch gerade für die anderen Methoden, die Staaten dazu bewegen können, sich an die grundlegenden Prinzipien des Zusammenlebens zu halten, ist ein hohes Maß an Einigkeit zwischen den anderen Ländern notwendig, das wir zu oft vermissen mussten. So ist die Geschichte des Irak-Konfliktes auch eine Geschichte des immer wieder nachlassenden Druckes durch Mitglieder der UNO und des Sicherheitsrates, der Uneinigkeit und der Unglaubwürdigkeit von Drohkulissen. Alle Anstrengungen, die für den Schutz der Menschenrechte und zur Öffnung von Gesellschaften unternommen werden, sind auch ein Beitrag zum Frieden, da sie dem Terrorismus den Nährboden entziehen und die Gefährlichkeit von Regierungen verringern. Gleiches gilt für den Kampf für freie Märkte: Nur auf diese Weise gewinnen die Menschen in vielen Ländern die Aussicht auf Wohlstand und Entwicklung.
Begrüßungsansprache für den Dalai Lama
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Begrüßungsansprache für den Dalai Lama (2003) Begrüßungsansprache anlässlich des Vortrags von S. H. Tenzin Gyatso, dem 14. Dalai Lama, an der Humboldt Universität, Berlin, 18. Oktober 2003 Freiheit leben - Frieden sichern! - das ist das Motto unserer heutigen Veranstaltung, mit der wir auf eine mehr als zehnjährige erfolgreiche Zusammenarbeit zwischen der Friedrich-Naumann-Stiftung und unserem exiltibetischen Partner, der Assembly of Tibetan People's Deputies, zurückblicken. Ich freue mich persönlich, wie auch im Namen der Friedrich-Naumann-Stiftung, unseren Redner und Ehrengast des heutigen Tages, Seine Heiligkeit Tenzin Gyatso, den 14. Dalai Lama willkommen zu heißen. Es ist eine Auszeichnung und Ehre, Sie heute bei uns zu haben. Wir bewundern Ihre Geduld — verbunden mit Ihrer Entschlossenheit. Sie haben den Weg der Gewaldosigkeit und des Dialogs gewählt. Es ist ein Weg, der nicht das Ziel im Detail fesdegt, sondern der sich auf das Wesentliche konzentriert: Weitreichende Freiheiten für das tibetische Volk im Rahmen einer Verständigung mit China zu erlangen. Ihr Anliegen, das Anliegen des tibetischen Volkes, bewegt viele Menschen überall auf der Welt, und dies vor allem wegen des Ansatzes, den Sie gewählt haben: Frieden statt Gewalt, Frieden statt bewaffnetem Kampf, Frieden für Freiheit. Das wichtigste Kapital, das Sie haben, ist Ihre Glaubwürdigkeit, die auf Ihrem klaren Bekenntnis zur Gewaldosigkeit gründet, und Ihre Bereitschaft, Befürchtungen und Interessen der anderen Seite bei der Formulierung Ihrer Ziele zu berücksichtigen. Dahinter steht die Einsicht, dass dauerhafter Frieden nur durch Versöhnung erreicht werden kann. Eine Versöhnung zwischen Chinesen und Tibetern würde den Weg für ein neues Miteinander ebnen, das den Tibetern wesentliche Freiheitsrechte innerhalb Chinas sichert. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht. China hat sich gewandelt. In Bezug auf wirtschaftliche Freiheiten ist es freier als je zuvor — das Ergebnis ist ein wirtschaftlicher Boom. Auch in China stellt sich dabei heraus: Freiheit in der Wirtschaft führt tendenziell zu mehr Freiheit in anderen gesellschaftlichen Bereichen. Wir sind Zeugen der ersten wichtigen Schritte zur Rechtsstaatlichkeit in China — und zwar aus einem sehr praktischen und einsichtigen Grund: Rechtsstaatlichkeit ist, was Handel und Investitionen benötigen, um zu florieren. Wir müssen China gegenüber aber immer wieder deutlich machen, dass Rechtsstaatlichkeit sich nicht auf die wirtschaftliche Sphäre beschränken darf. Fundament jeder
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Freiheit und Menschenrechte
Rechtsordnung muss die Allgemeine Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen sein, die jeden Menschen als Träger von unveräußerlichen Rechten anspricht und damit einen persönlichen Freiraum definiert, der dem Zugriff der Staatsgewalt entzogen ist. Die Allgemeinen Menschenrechte sind kein Luxus, den man sich erst bei Erreichen eines bestimmten materiellen Wohlstandes leisten kann. Sie sind Voraussetzung einer harmonischen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Bundespräsident Rau hat dies während seines Besuches in der Volksrepublik China in beeindruckender Offenheit betont. In der Universität Nanjing sagte er wörtlich: „Bei allen Schwierigkeiten und bei allem Verständnis für die Geschichte und Tradition eines Landes bleibt aber unsere unerschütterliche Uberzeugung, dass die Menschenrechte universelle Bedeutung haben und weltweit gelten müssen. Wenn es um die fundamentalen Rechte der Person geht, um Leben und Freiheit, um Schutz vor Folter, vor willkürlichem Freiheitsentzug und vor Diskriminierung, eben das, was die Voraussetzungen für den „aufrechten Gang" sind, dann kann es in der Grundhaltung kein Relativieren, keine Kompromisse geben." Freiheit, basierend auf individuellen Rechten, beinhaltet natürlich auch Verantwortung und Pflichten. Freiheit ist die Voraussetzung für Verantwortung. Es sind der freie Wille und die eigenen Entscheidungen, die einen verantwortlich handeln lassen. In einer freiheitlichen Gesellschaft ist der einzelne gefordert, die Konsequenzen seiner Entscheidungen zu bedenken und sie zu tragen. Verantwortungslosigkeit ist dagegen dort am größten, wo Menschen unter dem Deckmantel von Befehl und Gehorsam ihr Menschsein vergessen und an unmenschlichsten Taten mitwirken. Die großen Verbrechen der Menschheitsgeschichte sind in unfreien Gesellschaften begangen worden, und die Unfreiheit hat die Menschen mit der Zeit auch moralisch korrumpiert, weit über den engeren Kreis der Herrschenden hinaus. Dies gehört zu den bittersten historischen Erfahrungen unseres Landes und meiner Generation. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass Freiheitlichkeit und Friedfertigkeit einen inneren Zusammenhang haben. Wenn das tibetische Volk grundlegende Freiheiten wieder gewonnen hat, ist die Welt einen Schritt näher an einer internationalen Ordnung, die wir Liberale unterstützen, an einer Welt mit ungehindertem Austausch zwischen freien Völkern, in der Konflikte auf friedlichem Weg gelöst werden. Wir hoffen, dass unsere Zusammenarbeit mit unseren tibetischen Partnern weiter gedeiht. Seit über 10 Jahren unterstützen wir sie beim Aufbau demokratischer Strukturen und in der Vertretung ihres Anliegens in aller Welt, nicht zuletzt durch die Mitorganisation der vierten Internationalen Konferenz der Tibet-Unterstützungsgruppen, zu deren Eröffnung wir heute Abend nach Prag reisen werden. Wir wollen
Begrüßungsansprache für den Dalai Lama
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damit einen sinnvollen Beitrag zu Ihrem Bemühen leisten, Freiheit und Frieden für das tibetische Volk in einem gewandelten China zu erreichen. Es gibt Zeichen, dass China sich verändert - wir wollen hoffen, dass dies sich als zutreffend erweist. Wir wollen hoffen, dass China erkennt, dass eine Versöhnung mit den Tibetern China stärkt — denn nur das Land ist wahrhaft stark, dem seine Bürger freiwillige Loyalität entgegenbringen, nicht das, das diese Loyalität durch Polizei und Militär erzwingen muss.
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So machen sie uns zu Betrügern Erschienen in: Cicero - Magazin für politische Kultur, April 2004 Vor der überbordenden Abgabenflut flüchten die Reichen in die Steuerhinterziehung, die Armen in die Schwarzarbeit. Die Unmoral ist in Deutschland alltäglich. Eine Gesellschaft freier Menschen, so hat einmal der Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek gesagt, sei so etwas wie eine Privatrechtsgesellschaft. In ihr leben Menschen in freier Verbindung und geschützt durch vertragliche Beziehungen. Auch eine solche Gesellschaft kann nicht den Menschen zum Engel mutieren lassen. Schlechte Menschen wird es immer geben. Indes, eine solche freie Gesellschaft kann erzieherisch wirken und Moral und Gemeinsinn stärken. Diese Einsicht steht in Gegensatz zu allem, was an vorgefertigten Denkschablonen verbreitet wird. Dort herrscht die Vorstellung, dass die „neoliberale" Freiheit für alle moralischen Verfehlungen unserer Zeit verantwortlich sei. Dabei zeigt selbst oberflächliche Betrachtung, dass die allseits beklagten Phänomene von Sittenverfall und zunehmendem Verbrechen über Jahrzehnte mit dem Ausbau des Umverteilungsstaats einhergingen - und eben nicht mit Marktwirtschaft und der vermeintlichen Zunahme der Armut. Warum ist das so? Eine Gesellschaft, die Freiheit und Vertrag in den Mittelpunkt ihres Ethos stellt, baut auf persönliche Verantwortung und Rechenschaftspflicht. Pflichten sind darin nicht nur einfach Pflichten, sondern im hohen Maße Selbstverpflichtungen. Sie sind daher für das Individuum einsichtig und von den Mitmenschen klar beurteilbar. Ein Vertrag, ein Hilfsangebot, ein Versprechen — ein Mensch, der sie macht, kann sich selbst an seinen Ansprüchen messen und messen lassen. Der heutige Staat hat sich von diesem friedvollen Ideal so weit entfernt wie selten zuvor. Ein wuchernder Wohlfahrtsstaat hat die Privatrechtsgesellschaft überlagert. Die Pflichten sind kaum noch als Selbstverpflichtungen wahrzunehmen. Sie werden durch das Spiel der Interessengruppen in der Politik fremdbestimmt. Das, was dabei herauskommt, ist undurchschaubar. Nicht einmal Worthülsen wie „soziale Gerechtigkeit" können darüber hinwegtäuschen, dass es keinen klaren Maßstab mehr gibt, an dem sich die Ansprüche unseres Systems messen lassen können. Das betrifft sowohl den Staat selbst als auch den Bürger. Der Bürger, der sich hohen Kosten und einer undurchschaubaren Regelflut gegenübersieht, reagiert: Er befolgt Regeln immer mehr nur noch selektiv und nach eigenem Gutdünken. Es geht nicht um schwere Verbrechen, es geht um die alltägliche Gewohnheitsunmoral, die sich überall breit macht. Ein einfaches Beispiel: In einer
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Stadt, in der Parkverbote nur an einsichtigen Stellen aufgestellt werden, wird es wenig Parksünder geben. Dort, wo der Schilderwald keine Möglichkeiten mehr zulässt, wird falsch geparkt und am Ende das Falschparken sogar habituell. Es handelt sich nicht um ein kleines Problem. Die Korruption in Staatsapparaten ist weltweit auf dem Vormarsch. Sie richtet Schäden in Milliardenhöhe an. Kulturelle Determinanten (die im „Süden" seien halt so oder ähnliche Stereotypen) taugen hier kaum zur Erklärung. Das Liberale Institut der Friedrich-Naumann Stiftung ist (zusammen mit 53 Forschungseinrichtungen aus aller Welt) Mitherausgeber der jährlich erscheinenden Studie „Economic Freedom of the World". Darin wird anhand messbarer Kriterien (etwa dem Höchststeuersatz) die wirtschaftliche Freiheit in 123 Ländern der Welt gemessen und verglichen. Wenn man diese Ergebnisse mit den Untersuchungen des weltweiten Korruptionsindex von Transparency International korreliert, kommt man zu einem beeindruckenden Resultat. Wo mehr Freiheit herrscht, fällt auch die Bewertung von Transparency International besser aus. Die freiesten Wirtschaften der Welt sind am wenigsten korrupt. Wo Unfreiheit herrscht, herrscht auch Korruption. Der Befund kann eigentlich niemanden überraschen, der sich näher damit befasst. Behindert die Obrigkeit Menschen in unerträglicher Weise in ihrem täglichen Schaffen, dann sind diese gezwungen, sich Freiräume zu erkaufen — Korruption als Volkssport. Die beunruhigende Tendenz, dass Korruption in Deutschland langsam, aber beständig zunimmt, könnte damit zu tun haben, dass in Deutschland Markt und Freiheit immer mehr abgebaut werden. Deutschland fällt in der Rangliste des „Economic Freedom of the World" seit Jahren ab. Vom sechsten Rang im Jahre 1970 stürzte Deutschland auf Platz 20 im Jahre 2003 ab — Tendenz fallend. Der Musterknabe von einst, der das „Wirtschaftswunder" hervorbrachte, ist heute bestenfalls Mittelmaß. Die Erosion der Moral ist allgegenwärtig. Obwohl Schätzungen von rund 72 Milliarden Euro sprechen, die dem Staat jährlich verloren gehen, praktiziert inzwischen fast jedermann Steuerhinterziehung als „Kavaliersdelikt". Auch hier ist die Erklärung einfach. Ein Staat, der zu hohe Steuern erhebt, sie völlig undurchschaubar organisiert und das den Bürgern abgezwungene Geld auch noch verschwenderisch ausgibt, kann schlichtweg nicht mehr auf die Steuermoral seiner Bürger bauen. Steuerhinterziehung wird zunehmend als legitimer Selbstschutz vor staatlicher Raubgier verstanden. Die Rebellion der Bürger gegen Bürokratie und Abgabeflut lässt auch die Schwarzarbeit wuchern. Illegale Beschäftigung erreichte 1975 knapp sechs Prozent des Bruttoinlandproduktes. 2003 waren es schon gut 17 Prozent. Wieder ging der Verfall der Sitten mit dem Verfall der wirtschaftlichen Freiheit einher.
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Appelle an die Tugend helfen nicht weiter. Unser ganzes System ist darauf angelegt, den Tugendhaften als den Dummen dastehen zu lassen. Auf die Dauer erodiert so jede gesellschaftliche Moral. Die Menschen empfinden ihr Tun nicht einmal ganz zu Unrecht als reine Notwehr. Man kann sich nur wundem, dass die Drohung der Bundesregierung, die Schwarzarbeit zu kriminalisieren, nicht zum Aufschrei unter den Frauen geführt hat. Studien beweisen, dass die geringen Fortschritte Deutschlands in der Vereinbarkeit von Familie und Berufsleben weniger mit der Anzahl der Tagesschulen zusammenhängen als mit der Höhe der Lohnnebenkosten. Ein Vergleich mit den USA, wo die Nebenkosten geringer sind, zeigt, dass dort die Verdienstmöglichkeiten für Frauen besser sind als in Deutschland. 40 Prozent aller Akademikerinnen verdienen dort mehr als ihre Ehemänner — in Deutschland kaum denkbar. Dazu kommt, dass sich auch normal verdienende Frauen mit ihrem Nettolohn Serviceleistungen wie Kinderbetreuung leisten können, ohne dass ihr Einkommen von den Bruttoarbeitskosten der Serviceanbieter aufgezehrt wird. So gesehen ist hierzulande die Schwarzarbeit — eben die „illegale" Putzfrau oder das Kindermädchen — tatsächlich für Frauen ein Weg, sich im diskriminierenden Wohlfahrtsstaat ein wenig Gleichberechtigung zu ermöglichen. Der Hochsteuer- und Umverteilungsstaat produziert in Deutschland inzwischen einen Sozialleistungsmissbrauch im Volumen von etwa 145 Milliarden Euro im Jahr — und er untergräbt auch die Großzügigkeit: Vergleichende Studien des Fräser Institute in Vancouver in kanadischen und US-amerikanischen Bundesstaaten zeigen, dass die Bereitschaft der Bürger, Geld für gemeinnützige Zwecke auszugeben, in dem Maße abnimmt, wie die Steuerquote zunimmt. Kein Wunder, dass gerade in Deutschland die Schwäche der Mäzenatenkultur beklagt wird. Wer in der Politik mehr Gemeinsinn anmahnt, sollte aber nicht über „soziale Pflichtjahre" oder ähnliche Zwangsmittel sinnieren, sondern die Steuern senken. Das eigentliche Problem ist ein Staat, der sich moralisch gibt, aber Unmoral produziert. So entsteht ein Teufelskreis. Denn nicht nur der Bürger wird durch den Staat verdorben, sondern auch der Staat selbst. Um bei den Beispielen zu bleiben: Ein großer Schilderwald sorgt für viele Falschparker. Der Staat wird dies nur durch schikanöse Kontrollen kompensieren. Überregulierungen führen zu mehr Korruption. Die Staatsbeamten werden Regeln erfinden, die an sich sinnlos sind, aber zu mehr Bestechung einladen. Die Steuern sind so hoch, dass sie zu Hinterziehung verführen. Der Staat hört auf, die Privatsphäre zu respektieren und schnüffelt in unseren Konten herum. Hohe Lohnkosten schaffen schwarze Märkte. Der Staat — dumpf und berechenbar! — antwortet mit Kriminalisierung und neuen Überwachungskompetenzen. Orwells „Großer Bruder" ist näher, als man denkt.
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Marktwirtschaft und Menschenrechte - ein Widerspruch? Vortrag auf der Tagung „Globalisierung — Chancen für weltweite Entwicklung", Umweltforum Berlin, 22. Oktober 2004 Der Schutz der Menschenrechte und die Marktwirtschaft sind eng miteinander verbunden. Sie können auf Dauer nicht allein existieren. Das sollte in einem Land, das seinen Wohlstand und seine gesellschaftliche Stabilität einer Ordnung der Freiheit verdankt, die beide Prinzipien verbindet, eine Selbstverständlichkeit sein. Doch in der Öffentlichkeit wird oft so über dieses Thema diskutiert, als ob Marktwirtschaft und Menschenrechte Gegensätze seien. Die „Kälte" des Marktes wird mit den individuellen Rechten der Menschen konfrontiert. Das ist besonders dann zu beobachten, wenn es um die Globalisierung und ihre Auswirkungen geht. Einerseits wird behauptet, die Menschen würden durch den Übergang zur Marktwirtschaft entrechtet und der kapitalistischen Ausbeutung schutzlos ausgeliefert. Auf der anderen Seite wird argumentiert, dass für die wirtschaftliche Entwicklung in vielen Regionen individuelle Rechte oder gar demokratische Institutionen eher schädlich seien. Beides ist falsch und lässt sich mit zahlreichen Fakten leicht widerlegen. Beispielsweise hat sich in Chile in den letzten beiden Jahrzehnten die Menschenrechtssituation grundlegend verbessert. Das Land verfugt schon länger über eine marktwirtschaftliche Ordnung. Dazu zählt auch ein System der Altersvorsorge, das für viele andere Länder beispielgebend ist. Im „Economic Freedom of the World"-Report rangiert das Land stabil im oberen Fünftel der Rangliste. Inzwischen sind in Chile aber auch die individuellen und die politischen Rechte in hohem Maße garantiert. Von der angesehenen NGO Freedom House hat Chile in diesem Jahr die zweithöchste mögliche Bewertung erhalten. Ahnliches lässt sich von Südkorea, Taiwan oder vielen anderen Ländern sagen. Die Zahlen sprechen Bände: 46% der Weltbevölkerung leben in Ländern, die ihre individuellen und politischen Rechte garantieren. Doch diese 46% erzeugen 89% des Bruttosozialproduktes der Welt. Was folgt daraus für die Politik? Lassen Sie mich diese Frage in zwei Teilen beantworten. Zunächst möchte ich auf die politischen Veränderungen eingehen, die in vielen Entwicklungsländern notwendig sind und die von uns nach Kräften unterstützt werden sollten. Anschließend werde ich auf einen Problemkreis eingehen, der aus meiner Sicht nach mindestens ebenso wichtig für eine Globalisierung ist, die denjenigen Menschen zugute kommt, die heute noch in Armut leben: Was muss
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getan werden, um eine Weltwirtschaftsordnung zu schaffen, die einen möglichst freien Zugang zu allen Märkten gewährleistet? Wie kann erreicht werden, dass Handelsbarrieren fallen und damit gerade die Entwicklungsländer ihre Chancen auf den weltweiten Märkten nutzen können? Hier haben wir noch eine große Bringschuld. Doch zunächst zurück zur Situation in den Entwicklungsländern selbst. Die Menschenrechtssituation in einem Land kann sich nur dauerhaft verbessern, wenn es auch wirtschaftlichen Fortschritt und mehr Wohlstand gibt. Andererseits ist der Schutz der individuellen Rechte eine notwendige Voraussetzung für die Dynamik einer Marktwirtschaft. Lassen Sie mich das an einem Begriff verdeutlichen, mit dem in Deutschland immer noch viele ein Problem haben, am Begriff des Eigentums. Ich möchte an dieser Stelle nicht in die Diskussion darüber einsteigen, inwieweit die Menschenrechte auf die klassischen negativen Freiheitsrechte beschränkt werden müssen. Ich bin allerdings sehr skeptisch gegen jede Uberdehnung des Menschenrechtsbegriffs, die sich in den verschiedensten so genannten sozialen Rechten manifestiert. Eines steht jedoch fest: Eines der grundlegenden Rechte jedes Menschen ist das Recht auf Eigentum. Der große englische Philosoph John Locke, dessen dreihundertsten Todestag wir in der nächsten Woche begehen, leitete sogar aus dem Eigentumsrecht jedes Menschen an sich selbst alle anderen Rechte ab. Auch aus meiner Sicht muss das Recht auf Eigentum der Kern jeder freiheitlichen Rechtsordnung sein. Die Marktwirtschaft ist die einzige wirtschaftliche Ordnung, die sich mit individuellen Eigentumsrechten vereinbaren lässt. Sie ist gleichzeitig aber auch auf eine funktionierende Eigentums Ordnung angewiesen. Wie Hernando de Soto eindrucksvoll gezeigt hat, ist es gerade das Fehlen von garantierten und übertragbaren Eigentumsrechten, das vielen Ländern bis heute den Weg zu wirtschaftlichem Erfolg versperrt. Nur wenn das Eigentum der Menschen gegen Ubergriffe, seien sie krimineller Natur oder durch die Staaten selbst vollzogen, geschützt ist, kann eine Marktwirtschaft funktionieren. Ganz im Gegensatz zu den Vorwürfen vieler ihrer Gegner ist sie eben kein Chaos ohne Regeln, sondern ein kompliziertes Institutionengefüge, in dem die Rechte der Einzelnen eine ganz entscheidende Rolle spielen. Marktteilnehmer treten miteinander in Wettbewerb, gehen dabei Risiken ein, können aber gleichzeitig von ihrer Arbeit und ihrem Wissen profitieren. Unternehmergeist und Leistungsbereitschaft als Grundlagen des Wohlstandes werden durch positive Anreize befördert. Menschen dagegen, deren körperliche Unversehrtheit, deren Freiheit und deren Eigentum nicht geschützt sind, werden sehr viele Ressourcen zu deren Schutz und nicht für eine produktive Tätigkeit verwenden. Das ist ein Zustand, den wir heute in vielen Entwicklungsländern vorfinden. Menschen, deren Rechte nicht geschützt
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sind, werden in vielen Fällen überhaupt von eigener Initiative abgehalten. Der Rechtsstaat ist also essentiell für die Entwicklung eines Landes. Moderne Gesellschaften können nur erfolgreich sein, wenn sie innovativ sind und sich an die schnell wechselnden Rahmenbedingungen, die heute durch die Globalisierung gesetzt werden, anpassen können. Gerade weil die Globalisierung auch Risiken mit sich bringt, weil sie Menschen und ganze Gesellschaften zu sehr schnellen Veränderungen zwingt, ist ein stabiler Rechtsstaat so notwendig. Oft wird unterschätzt, dass die Garantie des Eigentums und der individuellen Rechte auch für die politischen Rechte von großer Bedeutung ist. Eigentum macht Menschen unabhängiger. Sie treffen ihre politischen Entscheidungen anders als diejenigen, deren Überleben von staatlichen Leistungen abhängt. Nur der öffentlich ausgetragene Meinungsstreit und der faire Wettbewerb um die politische Macht ermöglichen die Dynamik, die eine Gesellschaft heute braucht, um im weltweiten Wettbewerb nicht den Anschluss zu verlieren. Das gleiche gilt für die Wertordnungen, die eine wesentliche Rolle für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft spielen. Sie werden nicht durch staatliche Gebote und Verbote erhalten, sondern durch die Weiterentwicklung von Traditionen und eine öffentliche Diskussion, in der sie immer wieder in Frage gestellt werden. Meinungsfreiheit, Presse- und Koalitionsfreiheit sind also ebenfalls essentiell für den langfristigen Erfolg von Gesellschaften. An dieser prinzipiellen Einschätzung ändert sich auch nichts durch Beispiele, in denen autoritäre Regimes eine gewisse Zeit mit Marktwirtschaften einhergingen. Je dynamischer eine Wirtschaft wird, desto größer wird der Druck, gesellschaftliche Erstarrung und hemmende Machtstrukturen zu überwinden. Hier soll nicht der Eindruck entstehen, als wären Menschenrechte vor allem als Garanten von wirtschaftlicher Entwicklung wichtig. Gerade für Liberale sind sie der Ausgangspunkt ihres gesamten politischen Denkens. Der Liberalismus ist als Bewegung für die Freiheitsrechte der einzelnen Bürger entstanden, als Bewegung zur Abwehr von illegitimen Machtansprüchen von staatlichen Herrschern. Deshalb sind wir als Liberale auch heute nicht bereit, die Menschenrechte gegen wirtschaftlichen Fortschritt oder deutsche Export- und Investitionsinteressen aufzurechnen. Sowohl der Schutz der Menschenrechte als auch die Ordnung der Marktwirtschaft sind aus meiner Sicht nicht auf einen bestimmten Kulturkreis beschränkt, sondern die richtigen Prinzipien für die ganze Welt. Wie viele Untersuchungen zeigen, unter ihnen der von der Friedrich-Naumann-Stiftung mit herausgegebene „Economic Freedom Report", geht es den Menschen in Marktwirtschaften erheblich besser. Das bezieht sich nicht nur auf ihr Einkommen, sondern auch auf ihre Lebenserwartung, ihren Bildungsstand und vieles mehr. Von dieser Wohlstandssteigerung profitieren nicht zuletzt die Ärmsten. Auch ihr Einkommen steigt in etwa parallel zum Durch-
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schnittseinkommen. Das heißt für viele, dass sie sich aus der absoluten Armut befreien können. Das zeigt auch, dass die Kritik an ökonomischer Ungleichheit im Kern verfehlt ist. Große Einkommensunterschiede sind ein Teil der Marktwirtschaft und ihres Anreizsystems. Doch die wirtschaftliche Dynamik, die bei richtig gesetzten Rahmenbedingungen entsteht, verbessert die Lage der Armen viel stärker als Umverteilung und Egalitarismus. Letzterer hat in der Konsequenz noch immer zur Verarmung ganzer Länder geführt. Gerade wenn also das Hauptaugenmerk auf die Armen gelegt wird, muss daraus ein entschiedenes Plädoyer für mehr Marktwirtschaft folgen. In letzter Zeit waren positive Veränderungen in der öffentlichen Diskussion zu diesem Thema zu bemerken. Für die deutsche Entwicklungspolitik lässt sich Einiges aus dem bisher Gesagten ableiten. Schon länger ist bekannt, dass viele große Projekte an den Rahmendingungen vor Ort scheitern. Es war oft zu beobachten, dass Menschen nicht zu eigenem Handeln ermutigt wurden, sondern zu Almosenempfängern der entwickelten Länder gemacht wurden. Diese Politik hat vor allem den herrschenden Eliten in vielen Entwicklungsländern genutzt, den Ärmsten der Armen dagegen, wenn überhaupt, nur zeitweise und in geringem Maße. Hauptziel jeder Entwicklungspolitik muss es sein, Menschen dabei zu helfen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Das können diese nur, wenn sie in den Genuss der fundamentalen Menschenrechte und einer marktwirtschaftlichen Ordnung kommen. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil betone ich noch einmal: Marktwirtschaft eröffnet gerade den Armen neue Chancen. Für sie sind Rechtsstaat und Eigentumsrechte die einzige Chance, dauerhaft ihre Situation zu verbessern. Doch entwicklungspolitische Zusammenarbeit, die sich vor allem auf die Weiterentwicklung von Institutionen konzentriert, ist kompliziert und stößt auf viele Widerstände in den einzelnen Ländern. Das erfahren sowohl die Friedrich-NaumannStiftung als auch die anderen politischen Stiftungen immer wieder. Trotzdem ist, wenn Sie mir ein wenig Werbung in eigener Sache gestatten, gerade die Arbeit der Stiftungen besonders wichtig. Sie arbeiten genau in dem Bereich, der entscheidend für die zukünftige Entwicklung ist. Sie unterstützen verschiedene gesellschaftliche und politische Gruppierungen, sie tragen damit direkt zur Öffnung von Gesellschaften bei. Sie beraten bei der Reform oder Einführung von Institutionen, sie bieten Dialogmöglichkeiten bei Konflikten. Dabei sollen nicht einfach die Lösungen aus Deutschland oder Europa exportiert werden. Wenn ich vorhin sagte, dass Marktwirtschaft und Menschenrechte die richtigen Rezepte für die ganze Welt seien, so heißt das nicht, dass überall exakt die gleichen Formen der Organisation gewählt werden müssen. Das wäre unsinnig und schädlich.
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Die grundlegenden Prin2ipien müssen in Formen realisiert werden, die sowohl an die Traditionen anschließen als auch den besonderen Bedingungen eines Landes gerecht werden. Doch dieser Verweis auf die verschiedenen Traditionen darf nicht, wie das oft geschieht, zur Rechtfertigung aller möglichen Formen von Unterdrückung missbraucht werden. Verletzungen der grundlegenden Menschenrechte sind durch nichts zu rechtfertigen oder zu verharmlosen. Das gilt für die Folter oder die Rechdosigkeit von Frauen genauso wie für die Unterdrückung von ethnischen oder religiösen Minderheiten D o c h jetzt zum zweiten wichtigen Komplex, der für eine Globalisierung notwendig ist, die langfristig allen Menschen zugute kommt. Die reichen Industriestaaten haben eine Verpflichtung, die wahrscheinlich wichtiger ist als alles, was wir auf dem Gebiet der Entwicklungspolitik tun können. Wir müssen aufhören, den aufstrebenden Ländern unsere Märkte zu verschließen und damit deren Bevölkerungen riesige Wohlfahrtschancen zu rauben. Wenn wir — zu Recht — Marktwirtschaft predigen, müssen wir uns auch an diese Regeln halten. Es gibt Berechnungen, die zeigen, dass die Verluste, die Entwicklungsländer durch diese Politik erleiden, um ein Mehrfaches höher sind als die gewährte Entwicklungshilfe. Allerdings stehen auch die Entwicklungsländer in der Pflicht, Handelshemmnisse abzubauen. Das wichtigste Instrument dazu ist die W T O . Bilaterale oder regionale Handelsabkommen können kein Ersatz für die W T O sein. Sie bringen zwar den beteiligten Ländern eine Liberalisierung des Handels, haben aber eine wettbewerbsverzerrende Wirkung für alle anderen Länder. Multilaterale Lösungen bieten auch mehr Schutz für kleinere und schwächere Partner, deren Interessen in regionalen Verbünden gegen übermächtige Partner sehr viel schwerer durchzusetzen sind. Schließlich lenken regionale Verhandlungen die politische Aufmerksamkeit von den umfassenden Liberalisierungen ab, die im Rahmen der W T O möglich sind. Bis zu diesen ist es noch ein weiter Weg, wenn es auch jetzt wieder einigen Grund zum Optimismus gibt. Das sogenannte „Juli-Paket" des Allgemeinen Rates der W T O bietet Chancen für die weiteren Verhandlungen. Die E U hat sich endlich bei den Agrarexportsubventionen etwas bewegt. Doch hier steckt, wie bei anderen Verhandlungsgegenständen, der Teufel im Detail. Noch immer betragen die durchschnittlichen Zölle der OECD-Länder auf die landwirtschaftlichen Produkte der Entwicklungsländer 15%. Im Gegensatz dazu gab es beim Marktzugang für NichtAgrarprodukte noch keine Fortschritte. Dieser ist jedoch für Länder auf dem Weg der Industrialisierung von besonderer Bedeutung. Gerade in Bereichen wie der Textilindustrie hat der wirtschaftliche Aufschwung vieler Länder seinen Anfang genommen. Leider ist parallel zu den langsamen Fortschritten bei den WTO-Verhand-
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lungen viel Protektionismus in neuem Gewand zu beobachten — sei es als AntiDumping-Regeln oder als Durchsetzung von so genannten Sozialstandards. Unter dem Label des Anti-Dumpings wird in vielen Fällen sowohl von der EU als auch von den USA Klientelpolitik für inländische Großunternehmen gemacht. Hier mangelt es an klaren Regelungen und Definitionen, die den Missbrauch verringern. Sozialstandards sind ebenfalls schädlich — gerade wegen ihres wohlklingenden Namens. Sie sind ein Instrument, das vielen Ländern ihre Wettbewerbsvorteile raubt, aber den Ärmsten, die es zu schützen vorgibt, überhaupt nichts nützt. Deshalb ist die Bezeichnung „handelspolitischer Imperialismus", mit der der indische Finanzminister diese Politik einmal belegte, vollkommen gerechtfertigt. Diese gleichmacherische Politik ist Wettbewerbs- und damit Wohlstands feindlich. Auch in den Vereinigten Staaten sind in letzter Zeit verstärkt protektionistische Tendenzen zu beobachten. Die Stahlzölle sind nur ein Beispiel. Es stimmt auch bedenklich, wenn der Präsidentschaftskandidat John Kerry auf Distanz zum Instrument der Fast-Track-Authority bei Handelsabkommen geht, dem er im Senat noch zugestimmt hatte. Solange die wohlhabenden Industriestaaten nicht mehr leisten, um die WTO-Verhandlungen voran zu bringen, solange sie nicht ihre Märkte weiter öffnen, gehen große Wohlstandschancen verloren. Durch eine Politik, die die mangelnde Reformbereitschaft und Dynamik der reichen Volkswirtschaften auf dem Rücken ärmerer Staaten zu kompensieren versucht, wird der ganze Prozess der Globalisierung in Frage gestellt. Große Teile der Globalisierungskritik beziehen sich nämlich auf Phänomene, die nicht auf zu viel Marktwirtschaft und Freiheit, sondern auf zu wenig davon zurückzuführen sind. Das bedeutet, dass der Kampf gegen Protektionismus und für eine Weiterentwicklung der Welthandelsordnung gleichzeitig ein Kampf für mehr Wohlstand und Freiheit ist. Er ist neben dem Eintreten für Marktwirtschaft und Menschenrechte überall auf der Welt der wichtigste Beitrag, den wir leisten können, um immer mehr Menschen auf der Welt ein eigenverantwortliches Leben in Würde zu ermöglichen. Nur die Dynamik des Wettbewerbs eröffnet den Menschen die Möglichkeit, dauerhaft der Armut zu entkommen.
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Freiheit als höchster Verfassungswert. Gegen die Inflation von Rechten Vortrag auf dem Karlsruher Verfassungsdialog der FriedrichNaumann-Stiftung, 3. Juni 2005 Zu den Dingen, die mich in meinem langen politischen Leben besonders beeindruckt haben, gehört die Debatte um die Reform der Verfassung im Jahre 1994, die der deutschen Wiedervereinigung folgte. „Besonders beeindruckt" heißt allerdings hier nicht „positiv beeindruckt". Vielleicht wäre „erschüttert" das bessere Wort. Damals hätte es jedem klugen Beobachter schon klar werden müssen, dass wir in Zukunft nicht mehr vor vereinzelten politischen Problemen stehen würden, sondern vor einer strukturellen Krise, die von der politischen Klasse kaum mehr gelöst werden könnte. Anders ausgedrückt: Das Heute war im Gestern schon sichtbar. Zu den von der Politik freudig diskutierten vermeintlichen Kernthemen unserer Verfassungsordnung gehörte damals die Einführung des Rechtes auf Mitmenschlichkeit. Die Idee wurde von zahlreichen Politikern sämtlicher Parteien eifrig unterstützt. Konsequent durchdacht wäre ein solches Recht auf Mitmenschlichkeit nicht mehr oder weniger als ein positiver Anspruch, der mit gesetzlichen Mitteln gegenüber den Mitbürgern durchgesetzt werden kann, und der diese Mitbürger dann selbst im Bereich intimster persönlicher Grundhaltungen Zwang aussetzte. Dass Gesetze dazu dienen, Personen vor Gewalt durch andere Personen zu schützen, leuchtet jedem rechtsstaatlich gesonnenem Liberalen ein. Dass man ihn dann auch noch zu einer positiven Einstellung und zur ständigen Hilfsbereitschaft zwingen soll, steht allerdings im krassen Widerspruch hierzu. Letztlich werden hier theoretisch recht willkürliche Eingriffe legitimiert. Falls sich die Autoren dieser Idee überhaupt tiefere Gedanken gemacht haben, werden sie es wohl nicht ganz so brutal gemeint haben. Es sollte halt irgendwie netter zugehen im Lande. Dass in Wirklichkeit der gegenseitige Drangsalisierungskoeffizient im Lande dadurch zugenommen hätte, das wurde geflissentlich übersehen. Aber ist es nicht gerade die klassische Aufgabe einer Verfassung, uns vor so etwas zu schützen? Das ist nur ein Beispiel für die Konfusion, die sich offenbar schon seit längerem im Ordnungsdenken in Deutschland breitmacht. Sie war damals gottlob so groß, dass sie sich selbst neutralisierte. Bekanntlich fand die große Grundgesetzreform nicht statt. Darüber kann man nur froh sein. Die auf die Mitmenschlichkeit folgenden Favoriten in der Diskussion wären die Festschreibung der „inneren Einheit" per Gesetz und die Verankerung von Tierrechten gewesen. Dass die Verfassungsdiskussion der neuen Freiheit der Bürger in der ehemaligen DDR folgte, schien vergessen. Auch dass die strukturellen Heraus-
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forderungen der Wiedervereinigung eigentlich geradezu drängten, den Freiheitsgedanken auch im Grundgesetz zu stärken, schien vergessen. Und so ist es im Grunde seither geblieben. Nun ist eine Verfassung stets so etwas wie die Grundlegung des Selbstverständnisses eines Gemeinwesens. Sie zeigt, welches Ideal der gesamten Rechtsordnung zugrunde liegt. Zugleich soll sie dieser Rechtsordnung langfristige Orientierung und Stabilität geben. Das fuhrt eigentlich fast schon automatisch zu einem liberalen Ansatz. Die Alternative dazu wäre in jedem Fall die Erweiterung von Machtspielräumen, die willkürlich genutzt werden können. Dies kann nur dann verhindert werden, wenn es ein klares und schlüssiges Prinzip gibt, das machtbegrenzend wirken soll, und das möglichst wenig interpretierbar ist. Dies kann schlechterdings nur die Freiheit des Einzelnen und der Schutz friedlich erworbenen Eigentums sein. Eine solchermaßen auf dem Prinzip der Freiheit beruhende Ordnung ist allen konkurrierenden Ordnungen weit überlegen. So belegt die unter anderem vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung mit herausgegebene Studie „Economic Freedom of the World", die den Grad wirtschaftlicher Freiheit in 123 Ländern anhand zahlreicher Kriterien - von der Staatsquote zu den Außenhandelsbeschränkungen — misst, dass Freiheit zur Verbesserung fast aller Lebensfaktoren führt. Menschen in freien Ländern haben eine erheblich höhere Lebenserwartung als die in unfreien. Sie verfügen über mehr Einkommen. Unter ihnen ist das Analphabetentum weniger verbreitet. Die Kindersterblichkeit ist geringer. Die Korruption in den Behörden auch. Dies sind die messbaren Fakten. Es gibt über diese ökonomischen Vorzüge der Freiheit sicher noch andere, die nicht so klar messbar sind. Die Qualität von Kultur gehört sicher dazu. Freie Individualität, so haben aber liberale Autoritäten wie Wilhelm von Humboldt überzeugend dargelegt, fördere kulturelle Vielfalt und damit kulturelle Überlegenheit gegenüber verordneter Einförmigkeit. Das klingt plausibel und gilt nicht nur für die Kultur. Bruno Frey, ein Schweizer Ökonom, hat vor einiger Zeit die gut begründete These aufgestellt, dass Menschen in freien Demokratien mehr Glück in ihrem Leben empfänden. Betrachtet man das Ganze also von diesem Standpunkt aus, bleibt es eigentlich schwer verständlich, warum die Freiheit sich nicht schon überall als das leitende Prinzip aller Ordnungen durchgesetzt hat. Weder im Rest der Welt im Allgemeinen noch in Deutschland im Speziellen scheint dies aber der Fall zu sein. Um dies zu verstehen, sollten wir uns vielleicht erst einmal von der Idee lösen, dass wir die Freiheit primär einigen philosophischen oder ökonomischen Theorien verdanken. Vielmehr sollte man sich dem Gedanken nähern, dass alle unsere schönen Theorien wohl erst der Ausfluss und die Rationalisierung wesentlich länger zurückliegender
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kultureller Erfahrung sind. Es handelt sich um einen zivilisatorischen Lernprozess, der uns zur Freiheit brachte. Eine offene, verschiedene Lebensauffassungen akzeptierende, nach abstrakten Verfassungsregeln funktionierende Gesellschaft ist uns nicht angeboren. In der Entwicklungsgeschichte des Menschen ist sie eher der Ausnahmefall. Die geschlossene Horde, der Drang zur Bevorzugung der eigenen Lebensauffassungsgemeinschaft, der Wunsch nach intimer Solidarität sind wohl tief in unserem Instinkdeben eingegraben. Von der ihm eigenen Fähigkeit, sich von diesen Instinkten zu lösen, und sich damit vielleicht erst vom „inneren Hordentier" zu emanzipieren, wurde der Mensch erst durch die schrittweise Erfahrung überzeugt, dass ihm Offenheit, abstraktes Denken und Vielfalt ganz konkreten Nutzen erbringt — mehr Wohlstand und Artvermehrung. Wir haben es also bei der liberalen Ordnung mit einem erlernten Uberbau über einem illiberalen Unterbau zu tun. Der Überbau kann durch starke Rechtstraditionen und kulturelle Ideale allerdings sehr stark und wirkungsvoll verankert werden. Die klassischen liberalen Demokratien, etwa die USA, Großbritannien oder die Schweiz, liefern dafür gute Beispiele. Während andere Demokratien oft Krisenanfällig waren, konnten diese sich selbst in den finsteren Zwischenkriegsjahren als überall in Europa die liberalen Demokratien starben, erhalten. In Deutschland ist uns die freiheitliche Tradition ganz offensichtlich nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Freiheit wird immer noch mit Egoismus gleichgesetzt, dem ein nationales Sonderbewusstsein entgegengesetzt werden muss. Die Aussicht, dass Freiheit möglicherweise gar überhand nehmen könnte, wird mit xenophoben Ausbrüchen beantwortet, die sowohl auf der linken wie der rechten Seite des politischen Spektrums immer recht ähnlich klangen. Es zieht sich so ein merkwürdiger Hang zum antiliberalen Kulturchauvinismus durch die deutsche Geschichte. Was Ende des 19. Jahrhunderts der vom Händlergeist utilitaristisch verseuchte Engländer war, wurde danach das jüdische Finanzkapital und heute der vermeintliche „Neoliberalismus" der Amerikaner. Liberalismus ist offensichtlich etwas, das von Außen kommt. Solch ein kulturelles Gepäck auf den kollektiven Schultern macht es nicht gerade einfach, Freiheit als obersten Verfassungswert fest zu etablieren. Das sollte niemanden abschrecken, weil jedermann weiß, dass dies eine Aufgabe ist, die geradezu geschichtlich ist und langen Atem voraussetzt. Ganz ohne Optimismus sollte man auch sein, denn die Fortschritte, die seit dem Zweiten Weltkrieg gemacht worden sind, sind schließlich insgesamt beeindruckend. Es gibt Erfolge, aus denen man lernen kann. Das auf freiheitlichem Fundament ruhende Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit etwa. Es gibt indes ein strukturelles Problem, das gar nicht einmal „typisch deutsch" ist. Es hat etwas damit zu tun, dass die liberale Freiheitsidee vielleicht manchmal zu erfolgreich ist. Das Erfolgsgeheimnis einer freien Gesellschaft besteht darin, dass sie
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materielle Ziele wie Wohlstand und persönliche Entfaltung durch eine Ordnung erreicht, die gar nicht auf diese Ziele ausgerichtet ist. Diese Ordnung stellt letztlich nur durch allgemeine Regeln gesicherte Offenheit der Ziele zur Verfügung. Die Tatsache aber, dass sie damit die materiellen Ziele besonders effizient zu erreichen scheint, verführt unweigerlich zu der Vorstellung, diese Ziele müssten auch strukturell das Ziele der politischen Ordnung sein. Die Idee von Politik als Weg zum Wohlstand oder zumindest als Weg zu dessen Bewahrung rückt so schnell in den Mittelpunkt. Anders gesagt: Das, was die freie Ordnung geschaffen hat, und was nur sie wahren kann, soll nun einer weniger freiheitlichen überantwortet werden. So erklärt sich der Umstand, dass nun die „negativen" Rechte, die die offene Ordnung eigentlich garantieren, immer mehr durch „positive" Anspruchsrechte ersetzt werden. Diese können theoretisch unbegrenzt inflationiert werden. Selbst negative Rechte wie das Recht auf Arbeit, das eigentlich nur die Vertragsfreiheit vor Berufsverboten schützen könnte, werden positiv umgedeutet, so dass sie etwa den einklagbaren Anspruch auf einen bestimmten Arbeitsplatz enthielten. Die neue, aber zugleich geradezu erschreckend anachronistische Klassenkampfrhetorik, mit der der anstehende Bundestagswahlkampf eröffnet wurde, gibt zur Sorge Anlass, dass die Versuche zunehmen werden, derartige Ansprüche in Grundrechtsinitiativen zu verwandeln. Überhaupt scheint es in letzter Zeit so eine Art Retrokult in Sachen Realsozialismus zu geben, der sich nicht nur im modischen T-Shirt ausdrückt, auf dem das Konterfei eines der unerträglichsten Terroristen und Henkersknechte des Kommunismus, nämlich Che Guevara, prangt. Bei der Diskussion um den Europäischen Verfassungsvertrag, den man eigentlich nur kritisieren kann, weil er in Teilen zuviel Zentralisierung beinhaltet und zuviel Freiheit einschränkt, werden bereits wieder ernsthaft Dinge vorgeschlagen, von denen man geglaubt habe, sie seien bereits unwiederbringlich auf der Abfalldeponie der Geschichte gelandet. Organisierte Globalisierungsgegner kritisieren bereits, dass überhaupt die unternehmerische Freiheit in dem Entwurf aufgenommen wurde. Dafür wird kritisiert, dass die Mitbestimmung und das Recht auf Arbeit — von der Frauenquote ganz zu schweigen — nicht als Grundrechte festgeschrieben wurden. Wer die Diskussionen auf der linken Seite unseres Parteienspektrums oder gar die der Ablehnung vorausgehende Diskussion im Nachbarland Frankreich mitverfolgt hat, wird sehen, dass diese Ideen sich leider eben nicht mehr auf kleine, vom Aussterben bedrohte Sektierergrüppchen beschränken. Aber es sind nicht nur die vordergründig ökonomischen Vorteile, die man in Form realer oder angeblicher Rechte durchzusetzen versucht.
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Es wäre falsch, das Augenmerk nur auf die neuerliche linke Nostalgiewelle zu richten. Es gibt auch neuere Entwicklungen, die langfristig wesentlich bedrohlicher werden könnten. In den letzten Jahren ist ein Trend entstanden, der sich nur noch im Kontext einer echten Luxusgesellschaft erklären lässt. Der Arme oder sozial Marginalisierte spielt dabei nur noch eine periphere Rolle. Altmodischer Klassenkampf ist hier nicht mehr en vogue, schon weil die Verfechter meist einkommensstärkeren Schichten angehören. Die Advokaten des „Rechtes auf Mitmenschlichkeit" waren vielleicht die Pioniere dieses Trends. Es geht dabei wohl um so etwas wie die sozialtechnische Umgestaltung des ganzen gesellschaftlichen Beziehungsgeflechts. Bisweilen begrenzt sich das noch auf quasifreiwillige Selbstbindungen, hinter denen aber durchaus politischer Druck steht. Ein Beispiel dafür ist die Verpflichtung von Unternehmen auf die so genannte „corporate social responsibility". Es wird erwartet, das niemand mehr frei aus eigennützigen Motiven heraus handelt, sondern stattdessen nur noch das Gemeinwohl anstrebt. Daraus können sich ökonomische nicht sinnvolle Zielsetzungen, ein Verlust von Freiheit, aber vor allem wohl eher ein gerüttelt Maß an Heuchelei ergeben, das so zum Primärmerkmal der Gesellschaft wird. Inzwischen genügen pseudo-freiwillige Selbstbindungen nicht mehr. Das innere Gute des Menschen muss anscheinend heraus gezwungen werden. Das Antidiskriminierungsgesetz liefert ein Beispiel dafür. Dieses Gesetz kann schwerwiegendste Eingriffe in den privaten Entscheidungsraum zur Folge haben, die man gar nicht alle erwähnen kann. Fast jede private Wahlentscheidung stellt eine Diskriminierung dar. An wen ich meine Wohnung vermiete, wen ich heirate, welche Krawatte ich kaufe. Diskriminierung ist in hohem Maße ein Freiheitsrecht, das es eigentlich zu schützen gilt. Abzulehnen ist im Wesentlichen nur die Form der Diskriminierung, die die Gleichheit vor dem Recht bedroht. Nun gibt es sicher auch Formen privat betriebener Diskriminierung, die nicht wünschenswert sind. Die deutsche Geschichte hält hier viele Lehren bereit. Es darf auf keinen Fall wieder Restaurants geben, an deren Tür das Schild „Juden unerwünscht" hängt. Aber solche Missbräuche sind bereits durch die bestehende Gesetzeslage ausreichend gebannt. Der Anspruch der Antidiskriminierer von heute geht über diese Missbrauchsbekämpfung hinaus. Es geht um eine vollständige Gesellschaftsumgestaltung. Es ist in den Medien vielfach bemerkt worden, dass es sich bei dem Entwurf der Bundesregierung zum Antidiskriminierungsgesetz um eine verschärfte Umsetzung von Vorgaben der EU handelt. Darüber könnte man aus föderaler und subsidiärer Sicht bereits Bedenken anmelden. Schwerer wiegt, dass die Ansprüche, die sich aus dem Antidiskriminierungsgesetz ergeben, auf der europäischen Ebene bereits Verfassungsrang bekommen sollen. „Antidiskriminierung" ist im Entwurf des Verfassungsvertrags bereits klar festgeschrieben. Bei der nun wohl unausweichlich gewor-
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denen Neudiskussion des Entwurfs sollte man sich dieses Aspektes auch einmal deutlicher annehmen. Der damit betriebenen Inflation von Rechten kann man aus liberaler Sicht nur mit Skepsis begegnen. Dies regt mich zu einer weiteren Feststellung an, nämlich dass supranationale Instanzen besonders dazu neigen, die Inflation bisweilen sogar recht exzentrischer Grundrechtsansprüche zu betreiben. Je weiter sie sich von demokratischer und kulturell tief legitimierter Herrschaft entfernen, desto mehr neigen sie dazu. Insbesondere dort, wo UN-nahe Instanzen oder die „Weltgemeinschaft" im allgemeinen, wie man das wohl nennt, die Chance echter Exekutiv- und Legislativgewalt in die Hände bekommen, können deren Vertreter Gutmenschenprojekte durchziehen, die sie in ihren Heimatländern niemals durchsetzen könnten. Die Frauenquote im Parlament gibt es deshalb in Bosnien, aber nicht dort, wo die Urheber dieser Idee herkommen. Woran liegt das? Es liegt wohl daran, dass die Demokratie- und Bürgerfeme dieser Instanzen und ihr überhöhtes Image dazu führen, dass wohl organisierte und finanziell bestens ausgestattete Lobbygruppen, die sich heute meist hochtrabend „die Zivilgesellschaft" nennen, hier uneingeschränktere Zugriffsmöglichkeiten auf politische und materielle Ressourcen haben als sonst wo im politischen Betrieb. Das nutzt ihnen selbst, ermöglicht ansonsten Unmögliches. Man könnte sagen, dass das ja nur andere anginge und nicht uns. Indes so manches, was an UN-Gipfeln entsteht, weht dann auch zu uns in die bodenständigen Täler herab. Der UN-Weltfrauenkonferenz von Peking 1995 verdanken wir zum Beispiel ein Konzept, dass unbemerkt auch in Deutschland von der Versuchs- in die Umsetzungsphase übergeht, nämlich das „Gender Mainstreaming" — etwas, wofür es nicht einmal ein deutsches Wort gibt. Die Arbeitsgemeinschaft Sozialdemokratischer Frauen definiert dies korrekt so: „Wenn das Gender Mainstreaming-Prinzip zur Anwendung kommen soll, dann werden alle Beteiligten an Entscheidungsprozessen — also Männer und Frauen, dazu verpflichtet, die gegenwärtig existierenden Strukturen in der jeweiligen Organisation daraufhin zu überprüfen, ob sie geschlechtsspezifische Benachteiligungen zur Folge haben, und geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um diese gegebenenfalls zu überwinden." So weit so gut. Das klingt nett, heißt aber, dass es bald nichts mehr in unserem Leben geben wird, dass nicht entweder mit Quotierungs- oder Fördermaßnahmen versehen ist. Und zwar bis in die letzten Mikrobereiche! Schon gibt es in Berlin Feldversuche, bei öffentlichen Bibliotheken in der Kinderbuchsektion das unterschiedliche Ausleihverhalten von Jungen und Mädchen zu korrigieren. Die EU-Richtlinie über den UnisexTarif bei Versicherungen entspringt demselben Geist. Wir sprechen über etwas sehr Reales, nicht über ein Luftschloss der UN. Das gibt einen Vorgeschmack darauf, wie hier Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für Sozialregulierer zulasten von Freiheit geschaffen werden sollen. Der Clou dabei ist, dass der konkrete Verdacht einer konkre-
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ten Diskriminierung gar nicht mehr für die Begründung von Antidiskriminierungsmaßnahmen herhalten muss. Da unsere Gesellschaft laut dem dahinter liegenden Weltbild per se diskriminierend strukturiert ist, nützt der Hinweis nicht, dass bestimmte Ungleichheiten eventuell auf freien und selbstbestimmten Entscheidungen - etwa beim Ausleihen eines Buches — basieren. Man kann nur hoffen, dass in der Praxis nicht alles so schlimm eintrifft wie es geplant wurde. Gegen diese, im Geist des scheinbar Guten entstandene Art der Vermehrung von Rechtsansprüchen anzugehen, verlangt ein hohes Maß an intellektuellem Mut. Haben wir ihn nicht, so wird die Verkrustung und Vermachtung unserer Gesellschaft immer mehr zunehmen. Gerade im Namen der Rechte der Menschen muss man sich dagegen wehren. Zum Glück leiden die neuen Sozialtechnikprogramme dieser Art an einem Defekt, den sie mit den alten Klassenkampfideen der Vergangenheit gemeinsam haben. Sie werden vielfach unbezahlbar sein. Es setzt sich immer mehr die alternativlose Überzeugung durch, dass ein Mehr an Anspruchsrechten zu einer Gesellschaft führt, die sich bald auch keine berechtigten Ansprüche mehr leisten kann. Damit wird klar: Um auch in den Herzen der Bürger die Freiheit als obersten Verfassungswert verankern zu können, müssen wir mehr Freiheit wagen. An Freiheit erfreut sich, wer Freiheit bekommt. Auf keinen Fall dürfen wir an einem Wettbewerb um noch mehr festgeschriebene Rechte teilnehmen. Vielleicht, so möchte ich einmal vielleicht ein wenig unvorsichtig und ohne verfassungsjuristische Skrupel theoretisieren, sollten wir von vornherein gar nicht mehr von Rechten, sondern von Freiheiten reden, weil dies den Kern des Ganzen genauer trifft. Auf jeden Fall sollten wir uns nicht der modischen „Rechteindustrie" anschließen, sondern vielmehr die anstehenden ordnungspolitischen Debatten auf der Basis freiheitlicher Prinzipien führen. Die Föderalismusdiskussion, die nach der Bundestagswahl mit Sicherheit wieder anstehen wird, bietet hierfür eine große Chance. Die vermischten Kompetenzen zwischen Bund und Ländern begünstigt ebenso wie die Unübersichtlichkeit der Finanzausgleiche das Wachsen von Ansprüchen. Und die Lehre des zuvor gesagten ist schließlich diese: Bürger- und Demokratieferne produziert Anreize, die falschen Rechtsansprüche zu inflationieren. Ein echter non-zentralistischer Föderalismus wäre dagegen eine willkommene Abhilfe. Womit wir wieder am Ausgangspunkt sind. Die Rechtsordnung einer offenen Gesellschaft versucht nicht, Ziele zu verwirklichen, sondern den Rahmen zu setzen, innerhalb dessen sich Menschen Ziele setzen können. Verfassungsrechte, die Ziele festschreiben, sind daher nie ganz auszuschließen, aber mit Vorsicht zu genießen. Uber all den Aufgaben, die die Politik in unserem Land des Reformstaus in Zukunft
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zu bewältigen hat, sollte man diese Pflege der offenen Rechtsordnung als besonders hervorragend wahrnehmen. Die Freiheit sollte dabei der oberste Wert sein.
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Protektionismus: Der moderne Imperialismus Vortrag vor dem Berlin-Meeting der Friedrich-Naumann-Stiftung am 24. September 1995 Die Idee, dass Protektionismus etwas mit Imperialismus zu tun haben könnte, mag heutzutage nicht jedem geläufig sein. Eher scheint für viele das Gegenteil davon der Fall zu sein. Freihandel — der unbeschränkte Kapitalismus auf internationaler Ebene — sei fons et origo allen imperialistischen Übels. Wer die Geschichte der Freihandelsidee allerdings unvoreingenommen studiert, wird schnell klüger. In der Tat verdanken wir der Freihandelsbewegung des 19. Jahrhunderts wohl überhaupt die ersten moralischen Zweifel am Imperialismus überhaupt. Waren in der vor-liberalen Ära des Merkantilismus Krieg und Eroberung - die damalige Form der Ausbeutung— die unausweichliche Folge der zugrundeliegenden ökonomischen Ideen, so brach sich mit dem Beginn der liberalen Bewegung vor allem in England eine Politik Bahn, die den Imperialismus nicht nur moralisch verdammte, sondern auch zugleich seine wirtschaftlichen Grundlagen unterminieren wollte. Schon Adam Smiths recht offene Sympathie für die nach Unabhängigkeit strebenden amerikanischen Kolonien, die er 1776 in seinem klassischen Werk „The Wealth of Nations" zeigt, deutet bereits auf den Zusammenhang hin. Es waren die heute zu Unrecht vielgeschmähten Manchesterliberalen des 19. Jahrhunderts, die die Gedanken von Freihandel, allgemeinem Volkswohlstand, Frieden und Anti-Imperialismus zu einer großen Bewegung verschmolzen. Richard Cobden, einer der führenden Köpfe der Manchesterliberalen, machte in einem Brief von 1842 deutlich, dass es ihm nicht um bloße ökonomische Vorteile für sein Land oder gar eine „bürgerliche Kapitalistenschicht" (wie man den Manchesterliberalen oft unterstellt) ging: „... die Kolonialpolitik Europas war die Hauptursache von Kriegen in den letzten einhundertundfünfzig Jahren. Wiederum, der Freihandel wird unweigerlich, indem er die wechselseitige Abhängigkeit der Länder untereinander sichert, den Regierungen die Macht entreißen, ihre Völker in den Krieg zu stürzen." Am Ende des Kampfes der Freihandelsbewegung stand eine Welt, in der das Ende von Krieg, Kolonialismus und Imperialismus zum Greifen nahe schienen. Der Ökonom John Maynard Keynes hat es in seiner Schrift „The Economic Consequences of the Peace" 1919 farbig dargestellt: „Was für ein außerordentliches Zwischenspiel in dem wirtschaftlichen Fortschritt des Menschen war doch das Zeitalter, das im August 1914 endete. Der größere Teil der Bevölkerung arbeitete freilich hart und hatte eine niedrige Lebenshaltung, war aber allem Anschein nach mit diesem Lose einigermaßen zufrieden. Denn für jeden irgend über den Durchschnitt Fähigen und
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Willenskräftigen war der Aufstieg in die Mittel- und Oberklasse möglich, denen das Leben mit geringen Kosten und sehr wenig Mühe Bequemlichkeiten und Annehmlichkeiten weit hinaus über den Gesichtskreis der reichsten und mächtigsten Monarchen anderer Zeitalter bot... Die Pläne der Politik des Militarismus und Imperialismus, der Nebenbuhlerschaft von Rassen und Kulturen, der Monopole, Handelsbeschränkungen und Ausschließungen, die die Schlange in diesem Paradiese spielen sollten, waren wenig mehr als Gerede in seiner Tageszeitung und schienen fast keinen Einfluss auf den gewöhnlichen Lauf des geschäftlichen und wirtschaftlichen Lebens zu üben, dessen Internationalisierung praktisch fast vollendet war." Doch die Katastrophe von 1914, die dieser liberalen Vision ein Ende bereitete, kam nicht von ungefähr. Die Gegner hatten bereits unmerklich das von den Liberalen gewonnene Terrain zurückerobert. In Deutschland begann es 1878 mit Bismarcks Abkehr vom Freihandel, der sich leider auch bald viele Liberale anschlössen. Fast alle europäischen Mächte folgten dem Beispiel. Schlimmer als die Feinde waren dabei — damals wie heute — die falschen Freunde. Der hohe moralische Anspruch der Freihandelsbewegung des 19. Jahrhunderts hat es wohl bewirkt, dass selbst diejenigen, die liberalem Gedankengut sonst sehr offen feindselig gegenüberstehen, diese Feindschaft in diesem Falle nicht so deutlich zur Schau stellen. In der Tat wagen selbst die größten Kritiker wirtschaftlicher Freiheit bis heute nur selten, sich offen zum Protektionismus zu bekennen. Oft genug haben sich die Gegner daher selbst mit dem Bekenntnis zum Freihandel geschmückt, um so Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen, die weder den hohen moralischen Zielen der Freihandelsbewegung noch praktisch dem Freihandel halfen. Es mag wie eine Ironie der Geschichte klingen, dass ausgerechnet die Imperialisten, denen der Kampf der Manchesterliberalen hauptsächlich gegolten hatte, sich als erste dieser Tarnkappe bedienten. Unzählige andere folgten ihnen darin, wobei jeder mit dazu beitrug, dass heute der moralische Glanz des Wortes Freihandel nicht mehr ganz in dem hellen Licht erstrahlt, wie er es zu Beginn tat. Mehr der Missbrauch der Idee als die Idee selbst hat dazu beigetragen. Sir John Seeley, der wohl bedeutendste literarische Vertreter des aggressiven Imperialismus Englands Ende des 19. Jahrhunderts hat es in seinem 1883 veröffentlichten Buch „The Expansion of England" vorexerziert. Er schreibt dort: „Der Handel mag für sich selbst genommen den Frieden favorisieren, aber wenn der Handel durch einen Regierungserlass künstlich aus einem vielversprechenden Territorium ausgeschlossen ist, dann favorisiert der Handel genauso natürlich den Krieg." Damit, so Seeley, würde der freie Handel auch des expansiven Staates bedürfen, um sich Bahn zu brechen. Der Wettbewerb der Staaten wäre nur eine Folge des Wettbewerbes in der Wirtschaft. Daher: „Aber untrennbar mit der Stimulierung des Handels war die Stimulierung der internationalen Rivalität verbunden. Das Ziel jeder Nation war es nun, ihren Handel zu erweitern, nicht in-
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dem sie auf die Wünsche der Menschheit wartete, sondern durch eine gan2 andere Methode, nämlich indem sie in den exklusiven Besitz eines reichen Teils der Neuen Welt kamen." Damit hat Seeley eine verzerrte Darstellung des Prinzips des freien Handels gegeben, die auch heute noch in den Köpfen vieler Politiker herumgeistert. Wir hören sie täglich. Es lohnt sich, ihnen in ihrem modernen Gewände nachzugehen, um dann herauszufinden, dass es sich nur um alte Fehler in neuer und verführerischer Aufmachung handelt. Um es gleich vorweg zu sagen. Der Eroberungsimperialismus der Weltmächte zur Zeit Seeleys ist heute natürlich - hoffentlich - nur noch ein Randproblem. Der moderne Imperialismus des Protektionismus geht heute wesentlich subtiler vor. Doch im Kern sind die rechtfertigenden Argumente die gleichen geblieben. So zum Beispiel die These, dass es für den freien Markt auch eines einheitlich geregelten politischen Raumes bedürfe, die den Annahmen Seeleys zugrunde liegt. Vom martialischen Beiwerk bereinigt, finden wir sie zum Beispiel bei vielen sich marktwirtschaftlich gebenden Ideen der Eurokratie in Brüssel wieder. Wie steht es zum Beispiel mit den vielen Beschwörungen der Europäischen Kommission, dass die sogenannte „Harmonisierung" Vorbedingung eines einheitlichen Marktes sei? Während im Bereich der europäischen Produktverordnungen der Harmonisierung durch die Judikative wenigstens einige kleine Fesseln angelegt wurden, so scheint nun in den Bereichen Sozial- und Steuerpolitik der politische Aktionismus angesagt zu sein. Dabei ist es doch gerade der große Vorteil des Freihandels, dass er sich unter den Bedingungen konkurrierender politischer Systeme auch noch günstig auf die politischen Regeln selbst auswirkt. Ich wage zu behaupten, dass uns eine umfassende Harmonisierung der Steuersysteme insgesamt langfristig höhere Steuerlasten bringt, weil bisher die Aussicht, dass durch Kapitalabwanderung in andere Länder die Staatseinnahmen sinken, die Finanzminister wenigstens etwas zügelte. Auch kann man bezweifeln, ob einheitliche Regeln tatsächlich immer Transaktionskosten sparen. Gilt dies wirklich, wenn diese Einheitsregeln hinterher dem Wettbewerb entzogen sind? Kurz: Man kann mit Recht sagen, dass der Freihandel nicht unbedingt einheitliche Regeln braucht, aber die politischen Regeln brauchen den Freihandel. Man sollte also auch diese bescheidene und noch friedvolle Form von Seeleys imperialistischer Forderung nach Erzwingung einheitlicher Marktvoraussetzungen „von oben" mit Vorsicht genießen. Auch eine andere Vorstellung des Imperialisten Seeley geistert immer noch in den Köpfen vieler Menschen herum. Es ist der Glaube, dass der freie Handel selbst die politische Expansion fördert, weil er sie angeblich zum Überleben brauche. Es hat im Laufe der Geschichte zahlreiche Versuche gegeben, diese unhaltbare These mit missbrauchter ökonomischer Theorie zu untermauern. Es gelang nicht. Die leninistische Theorie, dass die chronischen Überproduktionskrisen der kapitalistischen
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Marktwirtschaft die Erzwingung neuer Absatzmärkte nötig mache, ist ein Beispiel hierfür. Hier wurde nicht nur das schon 1803 von dem französischen Ökonomen Jean-Baptiste Say entdeckte und nach ihm benannte „Saysche Theorem" ignoriert, dass besagt, dass Produktion immer auch Nachfrage schaffe, weshalb allgemeine Absatzkrisen in einer wirklichen Marktwirtschaft fast unmöglich seien. Es wurde auch ignoriert, dass die Kapitalexporte und Exportzuwächse der europäischen Mächte auch zu Lenins Zeiten weiterhin hauptsächlich in die angeblich monopolisierten und gesättigten Märkte Europas, Amerikas und Australiens flössen — und nicht in die Kolonien. Auch erwiesen sich Kolonien von Anfang an entweder als gar nicht oder wenig profitabel. Gewinne durch die Kolonien basierten hauptsächlich auf Spekulation oder offener Protektion durch den Staat. Oft steckte dahinter schon ein offen protektionistischer Gedanke, nämlich dass es durch Sicherung von Rohstoffen darum ginge, weitgehend autark zu werden, um dann im Wirtschaftskrieg mit anderen Großimperien besser zu bestehen. Gehässige Kommentatoren könnten in der forcierten Schaffung von Großhandelsblöcken (NAFTA, EU etc.), die ursprünglich dem Freihandel dienen sollten, sich aber zunehmend abschotten, einen Parallelfall in der Gegenwart sehen. Wie dem auch sei, die ursächliche Verknüpfung von militärischer Expansion und vermeintlich konsequentem Freihändlertum, die Seeley hier postuliert, hat in besonderem dazu beigetragen, dass lange Zeit diejenigen Länder, die nachweislich den freien Handel am ehesten benötigten, ihm am feindlichsten gegenüberstanden. Seit den 60er Jahren war das Schlagwort vom „Neokolonialismus" der Kampfslogan des armen Südens (meist frühere Kolonien, die die praktische Seite von Seeleys Thesen nur allzu gut kannten) gegen den reichen Westen. Es ist menschlich nachvollziehbar, dass sie Freihandel mit dem Recht des Stärkeren gleichsetzten. Ökonomisch korrekt ist es dennoch nicht. Der Freihandel war, wie seine frühe europäische Geschichte schon zeigt, immer ein Instrument der Schwachen. So wie es beim Kampf der englischen Manchesterliberalen um Cobden vor allem die Arbeiter waren, die die Sache des Freihandels von Herzen unterstützten, so hätten die Länder der Dritten Welt eigentlich auch von Herzen freihändlerisch sein müssen. Indes, bis tief in die 80er Jahre waren es vor allem die reichen Industrieländer, die in der Entwicklungspolitik dem Prinzip der Marktöffnung (zumindest verbal) Vertrauen schenkten, während die ärmeren Länder tiefes Misstrauen gegenüber jeglichem Freihandel hegten. Dass die Industrieländer es in der Praxis selbst nie so ernst mit Marktöffnungen gegenüber der Dritten Welt meinten, trug mit zur Unterminierung des hohen moralischen Anspruchs des Freihändlertums bei. Am Ende standen in den frühen 80er Jahren Ideen wie die des damaligen UNESCO-Generalsekretärs M'Bow, dass es sogar einer protektionistischen Kontrolle des internationalen Medienmarktes bedürfe, um die Poli-
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tiker der Dritten Welt vor angeblich unfairer Berichterstattung durch westliche Medien zu schützen. Genau wie eine solche „neue Weltmedienordnung" nur dazu gedient hätte, menschenverachtende Regime zu stabilisieren, und die Unterdrückung zu verlängern, so hätte auch jeder andere Protektionismus nur Not verlängert. Das häufig zu hörende Argument - es wurde unglücklicherweise von einem Deutschen, nämlich Friedrich List, erfunden - , dass die „jungen" Industrien unterentwickelter Länder erst geschützt werden müssten, um dann wettbewerbstauglich zu werden, hat dabei verheerende Wirkungen gezeigt. Wie ich einmal an anderer Stelle sagte: „Hinter Schutzzäunen finden keine Verbesserungen statt." Im Gegenteil, es ist sogar einigermaßen sicher, dass sich dabei hinter dem Zaun nicht derjenige durchsetzen wird, der wirtschaftlich konkurrenzfähig ist, sondern derjenige, der den besten Umgang mit der Politik pflegt. Oder, wie es Ende des vorigen Jahrhunderts der amerikanische Ökonom Henry George ausdrückte: „Das, was echte junge Industrien sind, hat kaum mehr Chance im Kampf um staatliche Förderung als es junge Ferkel gegenüber ausgewachsenen Schweinen am Fresstrog haben." Indes, es scheint sich doch der Glaube aller von sich eingenommenen Ökonomen zu bewahrheiten, dass ökonomische Kräfte sich langfristig immer gegen irrige Ideen durchsetzen. In vielen Ländern der Dritten Welt — insbesondere in Lateinamerika und Asien — scheint der marktwirtschaftliche und freihändlerische Reformprozess wesentlich dynamischere Ausmaße anzunehmen als in der sogenannten Ersten Welt. Der in New York lehrende indische Ökonom Jagdish Bhagwati spricht sogar von einer „ironischen Umkehr" (ironic reversal), nämlich dass heute diejenigen reichen Länder des „Nordens", die einst auf „mehr Markt" im internationalen Handel drängten, an dessen Wohltaten zweifelten, während die Länder des „Südens" immer mehr davon überzeugt seien. Das gibt — wenigstens in einem Bereich — Grund zur Hoffnung, dass die Menschheit doch lernfähig ist. Ein Grund, warum gerade die ökonomisch schwachen Länder nach langer Zeit den Freihandel für sich zu entdecken beginnen, mag in der moralischen Qualität — oder besser: dem moralischen Grundfehler — des Protektionismus liegen. Man kann es drehen und wenden — Protektionismus ist immer ein unentschuldbarer aggressiver Akt gegenüber anderen Menschen und Völkern. Er ist immer der Versuch, den eigenen Vorteil nicht in der freiwilligen Kooperation, sondern mit Gewalt zu suchen. Er dient fast immer dazu, anderen Menschen eine nicht gewollte Politik aufzuzwingen. Dies entspricht eindeutig imperialistischer Logik. Imperialistischer Logik entspricht es auch, diesen unausweichlichen Umstand mit moralisierenden Floskeln zu beschönigen. Sir John Seeley liefert ein schönes Beispiel im Stile des alten Imperialismus, wenn er meint, dass die von Großbritannien vereinnahmten Länder in Indien bloße „Räuberstaaten" (robber states) gewesen seien, weshalb das Imperium auch aus
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einem „philanthropischen Verlangen, enormen Übeln ein Ende zu bereiten" zusammen erobert worden sei. Auch heutiger Protektionismus ist eine Politik, die klar und ohne Umschweife Menschen anderer Länder in aggressiver Weise schädigt. Derzeit gibt es in der Bundesrepublik eine Diskussion über ein so genanntes Entsendegesetz, das billigen ausländischen Arbeitskräften den Zugang zum deutschen Baugewerbe verunmöglichen soll. Dies wird mit Solidarität gegenüber der hohen Arbeitslosigkeit deutscher Arbeitnehmer in diesem Sektor begründet. Ich will die wirtschaftlichen Folgen dieser Maßnahme, die sicher bald ähnliche Wünsche in anderen Branchen aufkommen lässt, nicht diskutieren. Es wird damit der deutschen Volkswirtschaft sicher enormer Schaden zugefügt. Was aber mehr verwundert, ist, dass niemand ein Wort über die portugiesischen und anderen Arbeiter verliert, die so um ihr Brot gebracht werden. „Soziale" Rhetorik hat es offenbar fertig gebracht, einen Gewaltakt zu kaschieren. Am Prinzip hat sich seit Seeleys Tagen nichts geändert. Ich habe bisher sehr viel Mühe darauf verwendet, die Parallelen zwischen den klassischen Imperialismus vom Type Seeleys und den subtilen Formen moderner Protektionismen darzulegen. Dies könnte den Eindruck erwecken, es hätte seit dem 19. Jahrhundert keinen wirklichen Erkenntnisfortschritt mehr gegeben. Dem ist nicht so! Zumindest, was die moralische Beschönigung aggressiver Bevormundungspolitik angeht, haben die Protektionisten unserer Zeit durchaus schöpferisch gewirkt. Ihr neuester Kampfslogan beweist dies: „Fair Trade". Der Begriff wurde schon einmal Ende des 19. Jahrhunderts von englischen Protektionisten verwendet, die sich verbal zum Freihandel bekannten, aber meinten, er könne nur funktionieren, wenn sich alle anderen auch daran hielten. Ansonsten müsse man „reziprok" mit Gegenmaßnahmen beginnen. Man braucht sich mit dieser Idee nicht lange aufzuhalten. Nähme man sie ernst, wäre der Beginn freihändlerischer Politik bis an das Ende der Geschichte verschoben. Ernst gemeint ist die Sache darüber hinaus auch meistens nicht. Mit den „Gegenmaßnahmen" soll meist nicht wirklich Freihandel erzwungen werden, sondern das eigene protektionistische Interesse weiter gefördert werden. Man nehme nur den Kampf der Clinton-Administration in den USA gegen das angeblich protektionistische Japan im Disput um den Markt von Automobilteilen. Japan zum Freihandel zu zwingen war das Schlagwort; Quoten für die amerikanischen Hersteller auf dem japanischen Markt zu sichern, das eigentliche Ziel. Wirtschaftlich fügt jeder reziproke „Gegenprotektionismus" dem Schaden, den der Protektionismus anrichtet, noch den Schaden eines zusätzlichen Protektionismus bei. Milton Friedman verglich dieses Szenario einmal mit zwei Leuten, die in einem Boot sitzen. Einer von ihnen bohrt ein Loch in den Boden, worauf das Boot langsam zu sinken beginnt. Um diesen Schaden wieder zu beheben, bohrt der andere ein zweites Loch hinein, damit das Wasser wieder ablaufen kann. Wer an diesem Bild zweifelt,
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dem sei das Studium der Geschichte der amerikanischen Politik des „reziproken" Gegenprotektionismus in der Zwischenkriegszeit empfohlen, die in dem berühmten Smoot-Hawley Tariff Act von 1930 kulminierte. Die Folge dieses Acts war die Aufhebung der Meistbegünstigungsklauseln in fast allen Industrieländern, ein auf nationalen Egoismen beruhenden internationaler Handelskrieg, der dazu führte, dass das Gesamtvolumen des Welthandels 1938 um 60% unter dem von 1929 lag. Die so hervorgerufene Verschärfung der Wirtschaftsdepression mag letztlich sogar den Aufstieg des Totalitarismus in Europa und den Weltkrieg mit verursacht haben. Man muss aber zugeben, dass diejenigen, die sich im späten 19. Jahrhundert mit dem Begriff Fair Traders schmückten, mit dem Konzept „reziproker Gegenmaßnahmen" immerhin eine klare — wenn auch falsche — Idee verkörperten. Der heutige neue Fair Trader hat diese Schwäche erkannt und beseitigt. Gegen klare Ideen kann man schließlich auch klare Argumente anführen. Dies kann dem Träger falscher Ideen das Leben schwer machen. Unklare Ideen können sich hingegen vor Kritik schützen. Genau diesen Effekt macht sich der moderne Fair Trader zunutze. Schließlich klingt das Wort „fair" recht nett; niemand kann emstlich dagegen sein. Man könnte dies natürlich als Aufforderung zum freien Zugang aller zu allen Märkten betrachten, aber dann würde der Begriff „fair" dem Begriff „free" nichts hinzufügen. Er wäre überflüssig. In Wirklichkeit handelt es sich bei dem Begriff Fair Trade um ein vages Konzept zur Legitimierung von ad hoc-Eingriffen in den freien Handel, wenn dessen Ergebnisse irgendwie von irgendwem als „diskriminierend" oder „schädlich" eingeschätzt werden. Dahinter liegt ein — ebenfalls vages — Konzept von „ökonomischer Gerechtigkeit". Diese hat nichts mit wirklicher Gerechtigkeit zu tun. Sie ähnelt vielmehr dem Begriff der „sozialen Gerechtigkeit", den einst der große liberale Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek einer gnadenlosen Kritik unterzog. Während die „adjektivlose" Gerechtigkeit als Regelgerechtigkeit, die die Gleichheit vor dem Recht postuliert, klare Grenzen von Macht definiert, definiert eine „ökonomische" oder „soziale" Gerechtigkeit nichts. Sie liefert der Politik eine „Rechtfertigung", in prinzipienloser Weise Sonderinteressen zulasten der Allgemeinheit zu bedienen. Der amerikanische Publizist James Bovard spricht in diesem Zusammenhang von einem „Fair Trade-Schwindel" (Fair Trade Fraud), der eine vorteilhafte Politik für die Allgemeinheit vortäusche, in Wirklichkeit aber eine „KanonenbootÖkonomie" sei, die vor allem der Mehrheit der eigenen Konsumenten Schaden zufüge. In letzter Zeit sind noch einige „herzerweichende" Varianten hinzugekommen. Es sind die Forderungen nach „sozialen Standards" und die Besorgnis über die „Umwelt". Was die sozialen Standards angeht, so werden diese leider nicht nur auf UN-Gipfeln, die (noch?) keinen allzu großen Einfluss auf die Politik haben, gefordert. Auch innerhalb des wichtigsten Instrumentes zur Sicherung des freien Welthandels, der WTO, wird heftig über die so genannte „Social Clause" diskutiert. Da-
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gegen sollten wenigstens einige Vorbehalte erwähnt werden. Wenn es der WTO wirklich um die Idee internationalen Wettbewerbs geht, muss sie erkennen, dass gerade die Vielfalt von Regeln ein wesentlicher Teil dieses Wettbewerbs ist. Umgekehrt können erzwungene „universelle" Standards in Wirklichkeit nur die protektionistischen Interessen derer reflektieren, die sich bei den Verhandlungen durchgesetzt haben, während andere Länder benachteiligt werden. Es gibt neben dem ökonomischen Argument auch ein moralisches. Dass es bei der Vielfalt von Menschen und Kulturen keine universellen Standards geben kann, scheint irgendwie kaum jemanden zu stören. Selbst in angeblich so klaren Fällen wie des Verbotes von Kinderarbeit, können die Folgen katastrophal sein. Gerade für die angeblich so Geschützten könnte es in manchen Ländern Hunger und Not bedeuten. Man kann sich die Frage stellen: Lauert da nicht wieder ein Stück Imperialismus um die Ecke, der versucht, die Werte und Normen einiger — meist wohlhabender — Länder anderen Ländern aufzuzwingen? Die gleiche Frage stellt sich auch im Bereich „Ökologie". Hier ist nicht ganz ohne Grund in manchen Ländern der Dritten Welt das Schlagwort vom „Öko-Imperialismus" aufgekommen. Dazu vorweg: Zunächst einmal ist Freihandel die beste internationale Umweltpolitik, weil der vielfach beobachtbare Protektionismus der Industrieländer die ärmeren Länder zum Raubbau an Ressourcen treibt. Auch kann nur er in den Ländern der Dritten Welt denjenigen Wohlstand schaffen, der die Menschen so weit aus der Not befreit, dass sie sich ein genügendes Umweltbewusstsein leisten können. Es besteht die Gefahr, dass universelle Umweltregeln genau diesen Prozess unterminieren. Auf jeden Fall werden sich die Länder der Dritten Welt stets bevormundet fühlen - vor allem, wenn man bedenkt, dass letztlich von diesen Ländern verlangt wird, dass sie ihre ökonomischen Kapazitäten einschränken müssen, weil wir, die Industrieländer, die Luft verschmutzen. Bei aller Notwendigkeit des Umweltschutzes sollte diese moralische Komponente nicht vergessen werden. Sie sehen, dass die Gegner des Freihandels häufig die Moral — so schwammig sie auch sein mag — im Munde führen. Dass die Befürworter des Freihandels dies wesentlich seltener tun — obwohl sie es mit erheblich mehr Berechtigung könnten! — ist bedauerlich. Der Freihandel braucht aber alle moralische Kraft, um die Widerstände gegen ihn zu überwinden. Er muss sich an die einfache Weisheit erinnern, die 1860 der Anführer der deutschen Freihandelsbewegung, John Prince-Smith, verkündete: „Zwang in den volkswirthschaftlichen Verkehr einführen, heißt Willkür an die Stelle von Gerechtigkeit setzen." Starke egoistische Interessengruppen stehen ihm im Wege. Auch die wirtschaftlich sinnvolle Option, etwa in einer Welt des Protektionismus unilaterale Freihandelsmaßnahmen zu wagen, bedarf des Mutes und der Überzeugungskraft. Dabei kann es sehr hilfreich sein, die Mitmenschen daran zu erinnern,
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dass in jeder Form von Protektionismus auch ein kleines Stück äußerst anachronistischer Imperialismus steckt. In der Tat, der Protektionismus ist die moderne Form des Imperialismus. Wir können auch ohne ihn auskommen.
Für den Freihandel begeistern!
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Für den Freihandel begeistern! Vortrag auf der Konferenz „Ordnungspolitik in der Weltwirtschaft" des Walter-Eucken-Institutes und der Friedrich-Naumann-Stiftung, Berlin 16.-17. November 2000 Wir leben in einer Zeit, in der viele meinen, historische Zwangsläufigkeiten führten im Guten wie im Bösen unweigerlich zu einer völlig entfesselten freien Weltmarktwirtschaft. Das Wort „Globalisierung" ist für viele zum Synonym die Realitäten unserer Zeit geworden. Aus allen Gazetten schallt es, dass das Informationszeitalter gekommen sei, in dem Staatsmacht wehrlos vor individueller Vernetzung kapitulieren müsse. Auch die Jugend, so beobachten manche, sei irgendwie nicht mehr das, was sie mal war. Statt mit der Mao-Bibel in der Hand gegen den Kapitalismus zu demonstrieren wie damals anno 68, säße sie lieber im Container oder schaute anderen dabei zu. Als Anhänger des freien Welthandels müsste ich mich über derartiges eigentlich in ungehemmten Freudenausbrüchen ergehen. Und hätte ich nicht alles Recht dazu? Tatsächlich ist der Freihandel ja - zumindest oberflächlich betrachtet - überall auf dem Vormarsch. Sieht man die Entwicklung von der Gründungszeit des GATT bis heute an, so wird man feststellen, dass seither die Zölle weltweit massiv gesunken sind. Das Ausmaß dieser Senkung ist selbst dann noch recht imposant, wenn man berücksichtigt, dass einiges davon wieder durch versteckte nicht-tarifäre Handelshemmnisse aufgehoben wurde. Warum also nicht selbstzufrieden triumphieren? Was stört denn an diesem Bild? Es stört schlichtweg, dass der gesunde Optimismus, der jeden Liberalen auszeichnen sollte, durch einen überzogenen Optimismus ersetzt wurde, der das kritische Nachdenken lähmt. Auf beiden Seiten des politischen Spektrums — also bei den Globalisierern und den Globalisierungsgegner — werden Szenarien über das Ausmaß der in Zukunft zu erwartenden Liberalisierungen in die Medien gesetzt, die keiner rationalen Erwartung mehr entsprechen. Den Gegnern mag dies nützen. Die hemmungslose Übertreibung wird von ihnen zum Horrorgemälde umgemalt. Das „Ende der Arbeit" wird prognostiziert, die Vertiefung der Kluft zwischen armen und reichen Ländern, die 2/3-Gesellschaft und die totale kulturelle Nivellierung, wobei wieder einmal Amerika als Feindbild herhalten muss. Dieses Zerrbild hat dazu geführt, dass eine Linke sich am Leben erhalten konnte, die es sich offenbar leisten kann, die Tatsache des Zusammenbruchs des Sozialismus im Jahre 1989 schlicht zu ignorieren. Auf der liberalen Seite hat die hemmungslose Übertreibung zwar auch ihre motivierende Wirkung - das steht außer Zweifel. Aber sie hat auch dem Gegner Material
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geliefert, weil so getan wurde als ob die totale Marktwirtschaft bereits Realität sei. In Wirklichkeit hat der Staat noch immer in fast allen Bereichen ein großes Wort mitzureden. Aber die Probleme, die sich in der Realität meist aus dem Staatsversagen ergeben, werden dank der überzogenen Globalisierungseuphorie logischerweise von den meisten Menschen dem Markt zugeordnet. Schlimmer wiegt noch, dass das überzogene Szenario ein Gefühl von Sicherheit vorspiegelt, auch dann, wenn man sich bereits auf dünnen Eis bewegt. Dazu gehört der Glaube, die neuen Informationstechnologien hätten eine historische Entwicklung eingeleitet, die gesetzmäßig und unaufhaltsam in die Richtung von mehr Freiheit und weniger Staatsmacht laufe. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die Kontrolle des Staates über das physisch immaterielle Gut „Information" heute erschwert ist. Es ist zu hoffen und zu wünschen, dass gerade die verbliebenen totalitären oder semi-totalitären Diktaturen dieser Welt — China sei erwähnt - dies zu spüren bekommen. Auch kann nicht bestritten werden, dass die beschleunigte Kommunikation auch die beschleunigte Integration der Weltwirtschaft zur Folge hatte. Das ist gut so. Aber es gibt auch Kehrseiten. Jedem, der sich auch nur ein wenig mit der Ökonomie politischer Entscheidungen befasst hat, wird zu dem Schluss kommen, dass staatliche Instanzen ein Machtvakuum nicht tolerieren werden, selbst wenn dieses Vakuum segensreiche Wirkungen zeitigt. W o durch eine freie und vernetzte Wirtschaft im globalen Raum ein solches Vakuum entsteht, wird bald die heiße Luft der Politik — ebenfalls global — einströmen. Es ist eine Frage natürlicher Anreize für Machtexpansion, die dazu führt, dass der wirtschaftlichen Globalisierung bereits jetzt schon die politische Globalisierung folgt. Sie tut dies in noch recht irregulärer Weise und in vielen verschieden Verkleidungen, aber mit zunehmender Effizienz. Anfänge einer Weltjustiz werden immer sichtbarer. Die internationale Gemeinschaft greift energischer in regionale Konflikte ein und nimmt anschließend sogar die internen Verhältnisse der betreffenden Länder als Gegenstand eifrigen „social engineerings" in Beschlag. Auch wirtschaftliche Großmächte übernehmen — oder soll ich sagen: usurpieren — immer mehr die Rolle des Weltgerichts. In keinem Winkel der Welt ist man mittlerweile mehr sicher vor der amerikanischen Anwältelobby. Auch die E U bemüht sich, souveräne Außenstehende wie die Schweiz oder Liechtenstein so zu drangsalieren, dass sie ihre Steuer- und Bankgesetze immer mehr den Interessen der Finanzminister ausgesprochener Hochsteuerländer anpasst. Überhaupt: Der Wettbewerb der finanzund wirtschaftspolitischen Systeme scheint in Brüssel eine äußerst unpopuläre Idee zu sein — ein Übel, dass es auszumerzen gilt.
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Noch schlimmer ist fast noch die Indienstnahme öffentlicher Macht für private Zwecke. Auf internationaler Ebene scheint sich hier mittlerweile eine regelrechte Form des Imperialismus in kleinen Schritten breit zu machen. Das Stichwort hierzu heißt „NGOs". Das Wort „non-governmental Organisation" in seiner eigentlichen Bedeutung hat ja für Liberale einen guten Klang. Betroffene Bürger organisieren etwas selbst anstatt auf den Staat zu warten. Die Realität der NGOs ist heute in vielen (zugegebenermaßen nicht allen) Fällen freilich eine andere. Es handelt sich meist um Gruppen, die es gar nicht abwarten können, vom Staat oder von supranationalen Staatsverbänden gefördert und mit Privilegien versehen zu werden. Ihre interessenpolitische Ausrichtung wird meist mit einer moralisierenden Pose so gut überspielt, dass es ihnen immer leichter gelingt, politische Instanzen regelrecht zu infiltrieren und mit allerlei Anliegen zu beglücken. In Bosnien und Kosovo haben sie im Schutze der OSZE den politischen Prozess so sehr im Griff, dass sie der Bevölkerung Dinge oktroyieren können, die sie im eigenen Lande nie durchsetzen könnten — etwa die Frauenquote im Parlament. Im Namen einer „Civil Society" — einer Bürgergesellschaft — sind die NGOs gerade dabei das Wachsen einer echten Bürgergesellschaft von unten zu zerstören. In solch einem politischen Weltklima gedeiht eine gute Wirtschaftspolitik — genauer: Ordnungspolitik — nur schlecht, weder im Inland noch in der Weltwirtschaft. Wenn die klassischen Ordoliberalen wie Walter Eucken manchmal einen starken Staat forderten, dann taten sie dies ja nicht, um den Staat möglichst energisch Interessenpolitik betreiben zu lassen. Im Gegenteil: Stark war für sie nur ein Staat, der den Interessengruppen widerstehen konnte. Das infernalische Chaos bei der großen WTO-Versammlung in Seatde hat uns vielleicht einen Vorgeschmack auf die Zukunft gegeben. Für die marktwirtschaftlichen Optimisten der neuen Informationstechnologien muss es ein Schock gewesen sein, dass die Feinde des freien Welthandels vernetzt, kommunikativ, flexibel und ökonomisch effizient agierten, während die Institutionen, die den freien Welthandel durchsetzen sollten, wie plumpe Dinosaurier träge durch die Landschaft stapften. Man vergisst leicht, dass das gewünschte Abspecken des Staates ja von diesem selbst durch politische Entscheidungen durchgeführt werden muss. Die Liberalisierung hängt daher von der Entscheidungsfahigkeit des Staates ab. Da ist er seinen Gegnern zunehmend — und zwar zunehmend wegen der IT-Revolution — unterlegen. Dies führt aber offenbar nicht nur zum Abbau von Staatstätigkeit, sondern auch zur Staatsausweitung. Mit Hilfe der neuen Technologien können sich nun nicht mehr nur die Großverbände, sondern auch marginalste Mikro-Interessen im politischen Prozess festsetzen.
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Die WTO war schlecht beraten, dass sie die NGO-Koalition, die ihr so schwer zu schaffen macht, zuvor in ihre Arbeit integriert hat, indem sie ihr den Beobachterstatus verschaffte. Auf der WTO-Homepage findet man ein stolz angekündigtes Link zur NGO-Homepage. Dabei verweist die WTO darauf, dass die NGOs ihrer Arbeit nutzten, weil sie die „Civil Society" repräsentierten. Diese Bezeichnung kann man zu Recht als anmaßend bezeichnen, aber als kämpferischer Slogan der NGOs wirkt er offenbar. Ich stelle mir bang die Frage, wie lange man ihnen einen Status verweigern kann, der über den bloßen Beobachterstatus hinausgeht — jetzt, wo man ihnen erst einmal eine medienwirksame Plattform innerhalb der WTO verschafft hat. Wie sehr es den NGOs und ihren verbündeten Demonstranten in Seatde gelungen ist, Macht zu ergreifen, zeigt sich immer deutlicher. Mittlerweile hat der Druck der Straße es geschafft, dass sich kaum noch ein Gastgeberland für WTO-Konferenzen mehr findet. Im nächsten Jahr wäre eine solche Konferenz fallig, doch die WTO wusste bis vor kurzem immer noch nicht wo. Das einzige Land, das überhaupt Interesse angemeldet hat, nämlich Quatar, zog zunächst voller Angst zurück, um dann nur mit Not doch noch dazu bewogen zu werden. Es herrscht offenbar überall eine Atmosphäre der Angst. Die Macht der NGOs in und über die WTO nimmt zu. Man kann nur warnen. Die WTO als zwischenstaatliche Organisation würde durch die Einbeziehung der NGOs rechtlich denaturiert. Die Aufgabe der Sicherung eines Ordnungsrahmens für den freien Welthandel wäre gefährdet, die Uberfrachtung der Agenda mit sozial- und umweltpolitischen Belangen wäre unausweichlich. Dies wäre alles noch erträglich, wenn sich die politischen Träger der WTO und des freien Welthandels — und das sind immer noch die nationalen Regierungen — als standfest erwiesen. Tun sie aber nicht! Vor allem die USA spielen schon seit einiger Zeit eher den Bremser. In der dortigen Politik nimmt protektionistischer Ungeist bei allen Parteien zu. Lediglich die sonnige Wirtschaftslage des Landes hat bisher verhindert, dass diese Tendenz bisher mit aller Macht zum Ausbruch kam. Auch in der EU bringt man es fertig, selbst die Banane zum schutzwürdigen Gemeininteresse hochzuspielen. Die Front der Dritten Welt ist zersplittert zwischen Liberalisierern und Blockierern. In manchen Regionen, die bereits große Fortschritte gemacht hatten, sind in letzter Zeit Rückschritte zu bemerken — etwa in Lateinamerika und in Neuseeland. Wir müssen einfach sehen, dass sowohl in der NGO-Szene als auch bei den Regierungen der Drang nach mehr Freihandel keineswegs so verbreitet ist wie es die Globalisierungsoptimisten meinen. Selbst dort, wo sich die Politik bisweilen offen für mehr Handelsliberalisierungen ausspricht, tut sie das selten aus Begeisterung. Sie tut es dann meist nur aus dem Geist der aktuell dominierenden politischen Philosophie des
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Dritten Weges, der Neuen Mitte, des Compassionate Conservatism, von New Labour oder unter welchem Namen sie auch immer firmiert. Diese Philosophie ist nicht ideologisch gegen Handelsliberalisierungen, sondern gibt sich pragmatisch. Das heißt — spätestens, wenn sich die Konjunktur in den USA abschwächt, was zur Zeit der Fall zu sein scheint —, dass im Einzelfall auch jede andere Richtung einschlagbar ist, vor allem wenn die Meinungsumfragen dies zu fordern scheinen. Man sollte auch genau hinhören. Dort, wo die Politik heutzutage sich zur Befürwortung von Handelsliberalisierungen hinreißen lässt, betont sie fast immer, dass die Globalisierung eine Herausforderung und ein Risiko sei, dem man sich stellen müsse. Freihandel wird so zur bloßen grausigen Notwendigkeit. Man muss, obwohl man nicht will, weil es sonst noch schlimmer würde — so das gängige Argument. Das ist nicht gerade ein Zeichen von Begeisterung. Hier muss angesetzt werden. Eine freie Weltwirtschaftsordnung kann nur gedeihen, wenn die Akteure an sie glauben. Dazu bedarf es zweierlei Dinge: Überzeugen und begeistern. Erstens, was das Uberzeugen angeht: Wir benötigen eine klar formulierte Vision. Das ist es auch, was ich mir von dieser Konferenz verspreche. Ich verspreche mir eine Vision, in der Protektionismus keinen Platz mehr hat. Ich verspreche mir eine Vision, in der der Freihandel in einen gerechten Ordnungsrahmen eingebettet ist, der niemanden — und vor allem nicht die Dritte Welt, gegenüber der die Erste Welt immer noch hohe Schutzzäune errichtet hat — diskriminiert. Ich verspreche mir eine Vision, in der die politische Einflussnahme von Sonderinteressen und wirtschaftlichpolitische Vermachtung in strikten Grenzen gehalten wird. Zweitens: Mit einer überzeugenden Vision wie dieser wäre vielleicht auch Begeisterung zu schaffen. Nun entspricht die begeisterte Emphase meist nicht dem Naturell der Ökonomen, die sich heute für den Freihandel einsetzen. Von so etwas wie Freihandel begeistert sein — geht das überhaupt? Unsere Vorfahren in der Blütezeit des Freihandels haben es uns vorgemacht. Ihr Enthusiasmus grenzte bisweilen sogar an religiöse Verzückung. Es ist heute kaum mehr vorstellbar, wie ein Zeitgenosse und Freund Adam Smiths, der große Staatsmann und Schriftsteller Edmund Burke 1795 ungestraft schreiben konnte: „Die Gesetze des Handels sind die Gesetze der Natur und damit die Gesetze Gottes." Oder versetzen wir uns zurück in die Zeit vor dem Fall der Getreidezölle in England im Jahre 1846 als die Freihandelsbewegung fast ihren Zenit erreicht hatte. Ohne Lacher vom Publikum zu ernten, konnte damals auf einer Massenversammlung Sir John Bowring, einer der führenden Freihändler und Agitator gegen die Zölle, ausrufen: „Jesus Christus — das ist der Freihandel! Der Freihandel — das ist Jesus Christus!"
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Zugegeben: Das geht auch mir ein wenig zu weit — obwohl ich zugeben muss, dass manche Statements unserer heutigen Amtskirchen zu sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen schon bisweilen in mir den Wunsch aufkommen lassen, dass doch ein wenig von diesem Geist auch in die Theologie unserer Zeit hinübergerettet werden möge. Ich glaube, wir müssen aufhören, unsere Idee vom freien Welthandel ausschließlich in den Begriffen der theoretischen Ökonomie zu präsentieren. Wir müssen klar machen, dass Freihandel der einzige Weg aus der Not der Dritten Welt ist, und dass diese Not fast immer das Werk finsterer autoritärer Regime ist, die sich durch das Mittel der staatlichen Kontrolle der Wirtschaft selbst bereichern. Wenn sich im Augenblick die Schere zwischen armen und reichen Ländern öffnet, dann nur, weil es zu wenig und nicht zuviel freien Welthandel gibt. Wir müssen auch klar machen, dass der freie Handel ein Garant des Friedens in der Welt ist, ein Instrument des Ausgleichs. Wir müssen klar machen, dass im Gegensatz dazu Protektionismus immer ein Akt der Gewalt ist — egal in welchen sozialpolitischen Schleier er sich hüllt. Wir müssen vor allem klar machen, dass der Freihandel ein großes Freiheitsthema ist. Die Freiheit, um die es geht, ist unteilbar. Der Freihandel ist ein Teil — und zwar ein elementarer Teil — des universellen Rechts des Menschen auf seine Freiheit und auf seine Selbstbestimmung. Es geht um die große Idee der Menschenrechte. Wenn wir für sie nicht mehr begeistern können, für was dann?
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Mit Hartnäckigkeit für die richtige Sache! Der Freihandel nutzt nicht nur den Reichen und schadet nicht den Armen Leicht veränderte Fassung des Artikels „Mehr statt weniger Freihandel. Offene Märkte - die Quelle des Wohlstands", erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung, Nr.94, 24. April 2001, S.23 Wo der Freihandel debattiert wird, da wird oft demonstriert. Daran haben wir uns gewöhnt. Ungewohnt wäre allenfalls, wenn dabei nicht gegen, sondern für den Freihandel demonstriert würde. Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass dies nicht so sein muss. Als in England in den 1840er Jahren die Freihandelsbewegung gegen die „Corn Laws" (Getreidezölle) agitierte, die die Lebenskosten der Arbeiter unerträglich verteuerten, um einer kleinen Großgrundbesitzerschicht zu nutzen, da musste in Manchester extra ein großes Gebäude, die „Free Trade Hall", errichtet werden, um den Demonstranten Platz zu schaffen. Und in London versammelten sich über Jahre Woche für Woche Tausende Demonstranten im Covent Garden, um das Ende eines Protektionismus zu fordern, der eine unerträgliche Bürde auf den Schultern der Armen bedeutete. Mit dem Fall der „Corn Laws" begann nicht nur in England, sondern in ganz Europa und in Amerika die große Ära des Freihandels. Es wurde die erste Stufe dessen, was wir heute Globalisierung nennen, gezündet. Die Freihandelsbewegung fand unter der inspirierten Führung von Richard Cobden und John Bright gleichermassen die Unterstützung der Geschäftswelt und der Arbeiterschaft. Sie begeisterte sogar die Dichter und Intellektuellen der Zeit. Der Freihandel war die Parole der aufgeklärten Öffentlichkeit. Natürlich gab es auch Kritiker, aber die waren damals fast machdos gegen Cobdens and Brights Liga für den freien Handel und den Enthusiasmus, den sie hervorrief. Wir leben heute in anderen Zeiten. Die Kritiker des Freihandels sind immer noch da, aber der Enthusiasmus der Freihändler scheint doch irgendwie abhanden gekommen zu sein. Selbst wenn man mit ihnen nicht übereinstimmt, kann man nicht umhin, die Kritiker des Freihandels wegen ihrer sturen Hartnäckigkeit zu bewundern. Seit jener Zeit, in der Cobden und Bright wirkten, wurde das gleiche Argument immer wieder wiederholt und wiederholt und nochmals wiederholt: Der Freihandel diene nur denen, die schon reich seien und noch reicher werden wollten. Die Armen würden geradezu absichtlich ärmer gemacht, wenn ungehemmte Marktkräfte auf sie losgelassen würden. Mit der Zeit wurde dieses Argument in den verschiedensten Verkleidungen präsentiert — einer nationalistischen, einer sozialistischen oder heute einer politisch korrekten. Im Kern blieb es jedoch immer das gleiche. Die ständige Wiederholung dieses Arguments über mehr als 150 Jahre hat ihm keinen
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größeren Wahrheitsgehalt verliehen, aber sie hat offensichtlich dazu beigetragen, es tief in Hirn und Herz der Menschen zu verankern. Sieht man sich aber in historischer Perspektive die Gesamtbilanz derer an, die jedes mal prophezeiten, dass Handelsliberalisierungen die Verarmten noch mehr verarmen ließen, so findet man schnell ein Massengrab falscher Vorhersagen. Tatsächlich war der klassische Liberalismus, unter dem der Freihandel so sehr blühte, die erfolgreichste wirtschaftspolitische Strategie der Weltgeschichte. Im 19. Jahrhundert hat sie dem Gespenst der Hungersnöte in Europa ein Ende bereitet. Dies ist eine historische Leistung ohnegleichen, denn Hungersnöte wurden zuvor als das unausweichliche Los der Menschheit gesehen. Wir vergessen, dass es zum Beispiel im 18. Jahrhundert in Frankreich alleine neun Hungersnöte gab, die mehr als 5% der Bevölkerung auslöschten. Wenn wir bei der liberalen Epoche des 19. Jahrhunderts zu sehr an die Romane von Dickens denken, übersehen wir zu leicht, dass in jenen Tagen diese Art von Elend endgültig beendet wurde. Seit 1847 hat es in Europa keine Hungersnot in Friedenszeiten mehr gegeben Der Freihandel war nicht die Ursache, sondern die Antwort auf das Elend. Wenn wir heute noch Hungerkatastrophen sehen, dann finden wir sie nur noch in nicht-kapitalistischen, nicht-liberalen und nichtmarktwirtschaftlichen Diktaturen wie Nordkorea. Die Freihandelsära macht zum ersten Mal in der Geschichte den Wohlstand für alle zur realen Möglichkeit. Das freie Märkte die Quelle des Wohlstands sind, ist schlichtweg wahr. Die Fakten und Daten sprechen dafür. Die Friedrich-NaumannStiftung ist zusammen mit dem kanadischen Fräser Institute und ca. 50 anderen Instituten Herausgeber einer jährlichen Studie unter dem Titel „Economic Freedom of the World", die auf eine Idee des Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman zurückgeht. Diese Studie soll den Grad wirtschaftlicher Freiheit in 118 Ländern messen und vergleichen. Messbare Indikatoren wie Steuerrate, Staatsquote oder der Umfang von Handelsrestriktionen werden dabei zusammengefasst, um den Platz jedes Landes im Freiheitsranking aufzuzeigen. Das ist nicht nur von akademischem Interesse. Die Studie weist klar nach, dass es eine deutliche Korrelation zwischen wirtschaftlicher Freiheit und Wirtschaftswachstum gibt. Je schwerer die Bürde des Staates auf den Schultern des Einzelnen, desto stagnierender die Wirtschaft. Darüber hinaus zeigt die Korrelation des Ranking von „Economic Freedom of the World" mit anderen Lebensstandardkriterien als den bloßen Wachstumsraten, dass die ökonomisch freiesten Länder der Welt weniger Analphabetentum, weniger Korruption und eine höhere Lebenserwartung aufweisen als die unfreiesten. Dies alleine sollte eigentlich genügen, um jeder Form des ökonomischen Kollektivismus eine Absage zu erteilen.
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Aber was ist mit denen, die nicht „mitrennen" können? Wir hören immer wieder, dass sich die Schere zwischen armen und reichen Ländern immer mehr weitet. Es mag überraschend klingen, aber es ist wahr: Die Schere weitet sich. Es gibt in der Dritten Welt Länder mit stagnierenden oder gar negativen Wachstumsraten, während die meisten Industrieländer zumindest moderat wachsen. Aber diese Aussage gewinnt erst an sachlicher Substanz, wenn man sie wiederum in Zusammenhang zum Grad ökonomischer Freiheit bringt. Man sieht dann, dass die Gruppe der ärmsten und wachstumsschwächsten Länder fast identisch ist mit der Gruppe, die ihre Wirtschaft nicht geöffnet haben und die permanent die Freiheit ihrer Bürger beschneiden. Ja, es gibt Völker, die nicht „mitrennen" können, aber sie sind nicht Opfer von Globalisierung und Freihandel. Sie sind Opfer ihrer eigenen Regierungen! Als Ganzes gesehen, so könnte man nun einwenden, sagen Wachstumsraten nicht viel über die interne Verteilung von Wohlstand. In den Industrieländern, so vernimmt man aus den Medien, mag die Liberalisierung der Wirtschaft bisweilen neue Arbeitsplätze geschaffen haben, aber dabei handle es sich eben nur um unqualifizierte „Billigjobs" oder besser noch „Mcjobs", um dem Ganzen noch den üblichen antiamerikanischen Beiklang zu geben. Die „working poor" sind das neue Stereotyp, das den Kämpfern gegen Globalisierung und Freihandel links und rechts die rhetorische Munition soll. Selbst wenn dieses Stereotyp der Realität entspräche, wäre es immer noch besser als die Ausgrenzung der wenig Qualifizierten aus dem Arbeitsmarkt, die durch die Tarifkartelle der überdimensionierten Wohlfahrtstaaten in Europa praktiziert wird. Aber es ist — jedenfalls in der Form, wie es uns generell präsentiert wird — nicht einmal wahr. Nicht nur, dass die neuen Technologien keine Jobs zerstörten, sie schufen mehr und bessere. Diejenigen Länder, die ihre Märkte einigermaßen öffneten, sahen eher eine gesteigerte Nachfrage nach hoch qualifizierten Mitarbeitern als für die schlecht qualifizierten. In den USA, die ja gemeinhin als schlechtes Beispiel herhalten müssen, waren 55% der Jobs, die zwischen 1983 und 1996 entstanden, hoch qualifiziert, rund 32% erforderten mittlere Qualifikationen, während lediglich 18% niedrig qualifizierte Jobs waren. Manchmal sollte man sich doch an die Fakten halten, um herauszufinden, was hinter den verbreiteten Klischees über Globalisierung steckt. Gibt es also nichts mehr zu tun? Ist die Weltwirtschaft mitderweile erfolgreich auf den Autopiloten umgestellt? Haben, wie manche Zeitgeistpropheten meinen, die nationalen Regierungen vollständig ihren Zugriff auf die Wirtschaft verloren? Lauert die Anarchie schon um die Ecke? Wiederum zeigt sich, dass der ganze Diskurs über Globalisierung von allen möglichen Klischees und Plattitüden verseucht ist. Der Staat wird nicht verschwinden. Er kann immer noch Probleme in Angriff nehmen. Es gibt zunehmend internationale staatliche oder quasi-staatliche Strukturen für die Probleme, die von nationalen Regierungen nicht gelöst werden können. Es ist eher
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zu befürchten, dass wir bereits zu viele staatliche Gutmenschen auf der internationalen Szene haben als zu wenige. Die Gefahr ist nicht, dass staatliche Institutionen — ob national oder international — die Kontrolle verlieren. Die Gefahr ist eher, dass sie die Kontrolle behalten, um dann das Flugzeug in die falsche Richtung zu steuern. Was man auf manchen UNGipfeln hört ist beängstigend. Das gegenwärtige Meinungsklima, das immer mehr von sogenannten „NGOs" (Non-Governmental Organisations), die gegen den Freihandel agitieren und von der Medienberichterstattung über Demonstrationen gegen Globalisierung geprägt wird (Stichworte: Seatde und Davos), ist einem vernünftigen Vorgehen in der Politik nicht eben günstig. Die WTO darf zum Beispiel nicht durch sozial- und umweltpolitische Agenden überfrachtet werden. Ja, es gibt unendlich viel Elend in dieser Welt. Die beste Strategie zur Abhilfe dagegen ist jedoch, dass man mit den wesentlichen Kernaufgaben des Staates beginnt, bevor man anderen Völkern die westlich-europäischen Standards des Wohlfahrtsetatismus und der Öko-Ideologie aufpfropft. Diese Aufgaben sind Frieden, Rechtsstaatlichkeit und Freihandel. Wir sollten vorsichtig sein mit allem, was darüber hinausgeht. Staatliche Institutionen sollten sich der Vielfalt menschlicher Zivilisation anpassen — und nicht umgekehrt. Das Subsidiaritätsprinzip sollte so konsequent wie möglich angewandt werden. Ein friedlicher Wettbewerb ist nicht nur für die Wirtschaft vorteilhaft, er tut auch staatlichen Institutionen gut. Wir sollten daher die internationale Harmonisierung der Politik nicht zu weit treiben, sondern darauf beschränken, dass das Recht des Einzelnen auf Freiheit nicht verletzt wird. Erinnern wir uns daran, was geschah als die große liberale Ära des Freihandels des 19. Jahrhunderts endete, und langsam dem Protektionismus wich. Jeder schien damals optimistisch. Es könne nichts mehr schief laufen, glaubten die Menschen — wohl noch im Juli 1914. Es war nichtsdestoweniger der Vorabend eines Jahrhunderts, das von Krieg, Völkermord und Totalitarismus dominiert war. Lasst uns diesen Fehler nicht wiederholen. Vielleicht sollten die Freihändler unserer Zeit von ihren Vorgängern aus der Zeit Cobdens und Brights lernen, um ihr Selbstbewusstsein und ihren Idealismus wiederzuentdecken. Oder sie sollten von der Hartnäckigkeit ihrer heutigen Gegner lernen, die ihre Argumente wieder und wieder herunterbeten, bis jedermann sie glaubt — selbst wenn sie der falschen Sache dienen. Um wie viel besser würde diese Strategie wirken, diente sie der richtigen Sache?
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Auch bei der Globalisierung ist die Politik das Problem und nicht die Lösung Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 3/2002 Bundespräsident Rau hat in Berlin eine viel beachtete Rede über das Thema „Globalisierung" gehalten. Er machte darin auf die Ängste aufmerksam, die viele Menschen noch immer mit diesem Begriff verbinden. Es war keine gewiss keine Brandrede gegen die Globalisierung. Dies zeigt die Forderung, Marktschranken gegenüber der Dritten Welt (insbesondere im Agrarbereich) abzubauen. Leider wurde dieser Gedankengang nicht immer konsequent weiter verfolgt. So bleibt ein höchst zwiespältiger Eindruck bestehen. Die öffentlichen Reaktionen zeigten dies. Durch den Bundespräsidenten bestätigt fühlten sich nur die Globalisierungsgegner. Der Bundespräsident sieht die Aufgabe der Zukunft darin, dass die Kräfte des Marktes durch Regeln in gute Bahnen gelenkt werden. Das ist eine höchst triviale Aussage, die ihren Appeal nur dadurch gewinnen kann, dass sie jenen, die sich weltweit für freie Märkte einsetzen, unterschwellig unterstellt, sie kennten keine Regeln der Moral mehr. Damit ist dem Bundespräsident der Applaus von der falschen Seite — etwa Organisationen wie „attac" — gewiss. Der stellenweise durchaus differenzierenden Linie seiner Argumentation wird dies aber nicht gerecht. Wer Regeln für den Markt aufstellen will, muss zunächst einmal erkennen, wo denn überhaupt der Markt „versagt" hat, und wo es in Wirklichkeit um Politikversagen geht. Sowohl bei vielen Globalisierungskritikern als auch in der Rede von Bundespräsident Rau bleibt der Begriff „Globalisierung" in dieser Hinsicht völlig vage. Wenn etwa angeführt wird, dass es in Afrika nur 0,3% aller Internetanschlüsse der Welt gibt, so ist dies nicht die Folge einer durch den freien Markt verursachten Armut. In Afrika dominiert nicht der Markt, sondern die Staats- und Plünderungswirtschaft. In vielen Ländern unterbinden die Machthaber im Interesse des Machterhalts die Ausbreitung moderner elektronischer Kommunikationsmittel. Wie eine Ironie der Geschichte mutet es daher an, dass Somalia — trotz Armut und Bürgerkrieg! — zu den afrikanischen Ländern gehört, in denen es eine große Dichte an modernen Kommunikationsmitteln gibt, und zwar nur deswegen, weil keine Zentralregierung ihre Verbreitung mehr unterbinden kann. Man darf die Verhältnisse in diesem Land gewiss nicht beschönigen, aber auch hier gilt, was schon Thomas Jefferson vor rund 200 Jahren feststellte, nämlich dass die Übel von zu wenig Staat geringer seien als die Übel von zuviel Staat.
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Auch die Schuldenkrise der Dritten Welt wird vom Bundespräsidenten zu Recht als besorgniserregend bezeichnet. Aber liegt hier wirklich „Marktversagen" vor? Haben nicht vielmehr politische Institutionen wie Weltbank und IWF durch marktferne Währungsstützungen und Finanzspritzen oft Überbewertungen von DrittweltWährungen produziert, die faule Kredite, Fehlinvestitionen und anschließende Zusammenbrüche zur Folge hatten? Wurden nicht so unverantwortlich wirtschaftende Staatsregime künstlich am Leben gehalten? Die letztere Frage deutet auf ein ernstes Problem hin. Es ist in der Tat so, dass sich in den letzten Jahren die Schere zwischen den ärmsten und den reichsten Ländern dieser Welt geweitet hat. Aber sind diese ärmsten Länder wirklich Opfer des freien Handels? Sieht man sich diese Länder genauer an, so stellt man fest, dass es ausnahmslos Länder sind, die sich von der Globalisierung abgeschottet haben und ihren Bürgern keine wirtschaftliche Freiheit gewähren. Dies haben internationale Studien über Wirtschaftsfreiheit, wie etwa der jährliche Report „Economic Freedom of the World", klar bewiesen. Verbunden ist der Mangel an wirtschaftlicher Freiheit meist obendrein noch mit einer furchtbaren Bilanz in Sachen Menschenrechte. Die Armen dieser Welt sind nicht so sehr Opfer des Marktes, sondern die Opfer ihrer eigenen Regierungen. Besonders ins Visier nimmt der Bundespräsident auch die freien Kapitalmärkte. Damit greift er ein Lieblingsthema der Anti-Globalisierer auf. Und wie es heute unter Sozialdemokraten üblich ist, greift er gleich auch in völlig unverbindlicher Weise deren Lieblingsrezept auf, nämlich die berühmte „Tobin-Steuer", mit der weltweit Devisentransaktionen belegt werden sollen. Abgesehen davon, dass dieser Vorschlag realitätsfern ist, und dass er durch seine abschreckende Wirkung auf kleine Kapitalmarktsegmente ausgerechnet jene großen Spieler stärken würde, die wirklich Unordnung in den Weltkapitalmarkt bringen können, stimmt auch das Feindbild hier nicht. Natürlich können schlechte Finanz- und Geldpolitiken bestimmter Länder und supranationaler Währungshüter dazu führen, dass Spekulationsblasen entstehen. Dies gilt nicht nur für Drittweltländer. Auch die Politik mancher Zentralbanken in Erstweltländern gibt da zu denken. Aber dies lässt die Freiheit des Kapitalmarktes eher in einem positiven Licht erscheinen, schafft sie doch einen zusätzlichen Druck auf die Politik, sich in soliden Bahnen zu bewegen. Ansonsten wird die Dimension des Problems meistens übertrieben. Auch hier hätte man sich vielleicht mäßigende Worte gewünscht. Dass nur rund 20% des weltweiten Volumens des Devisenhandels realwirtschaftliche Transaktionen betreffen, klingt bedrohlicher als es ist. Meist steckt dahinter nur der Versuch von Verkäufern, die beim Verkauf ihrer Waren ein Zahlungsziel einräumen, ihr Währungsrisiko über die Banken abzusichern. Im Übrigen hat es in den letzten Jahren kaum irgendwelche Probleme in den großen Währungsblöcken gegeben, die auf volatile Devisenmärkte zurückzuführen ist.
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Warum, so muss man sich angesichts der Faktenlage fragen, findet die Globalisierung denn nun soviel Widerstand? Offensichtlich gibt es einen tief verwurzelten freiheitsfeindlichen Reflex in unserem Lande. Was nicht unmittelbar kontrollierbar ist, muss einfach gefährlich sein. Dass es im Weltwirtschaftssystem noch fruchtbringende Freiräume gibt, die nicht restlos politischer Macht unterworfen sind, wird als beunruhigend empfunden. Dabei sollten die Erfahrungen übermäßiger politischer Macht im Wirtschaftsleben (und nicht nur dort!) eher gegenteilige Befürchtungen hervorrufen. Leider ist der prinzipiell richtige Ruf nach „Regeln für den Markt" zum Schlachtruf derer geworden, die nun den starken Staat auch global wollen — mit Regeln gegen den Markt! Dabei drohen von der politischen Globalisierung genau die Gefahren, die man der wirtschaftlichen Globalisierung unterstellt — etwa Instabilität und kulturelle Nivellierung. Dass die Globalisierungsgegner bei allen billigen Solidaritätsgesten für die fernen Indios in Chiapas nur den europäischen Wohlfahrtsstaat als Einheitsmodell der Welt verordnen wollen, ist nicht nur aus wirtschaftlicher, sondern auch aus kultureller Sicht beunruhigender als die durch freiwilliges Konsumentenverhalten erfolgende Verbreitung amerikanischer Hamburgerrestaurants. Bezeichnend ist, dass diejenige internationale Organisation, die sich um echte Regeln für den Markt kümmert, nämlich die WTO, am meisten unter den Beschuss der Globalisierungsgegner geraten ist, während andere Organisationen - die World Health Organisation sei genannt — ungeschoren davonkommen, obwohl bei ihnen ordnungspolitisch blinder Interventionismus gegen den Markt vorherrscht. Nein, was schon im eigenen Land wahr ist, ist auch in der globalen Wirtschaft wahr: Politik ist meist das Problem und nicht die Lösung.
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Die marktwirtschaftliche Ordnung
Liberale Konzepte gegen die Armut: Marktwirtschaft und Freiheit Vortrag auf der Konferenz „Liberale Konzepte gegen die Armut", Managua/Nicaragua am 11. Juli 1996 Wie käme sie zustande, so fragte der amerikanische Ökonom Henry George im Jahre 1879, „die Fortdauer des Mangels inmitten wachsenden Reichtums"? Die Frage bringt in prägnanter Weise zum Ausdruck, was wohl auch heute (über 100 Jahre danach) die Menschen in vielen Teilen der Welt bedrückt. In Henry Georges Zeit hatte man meist noch eine liberale Antwort bereit, wenn es um diese Frage ging. Henry George selbst hielt den Freihandel für das zentrale Element jeder Politik der Armutsbekämpfung. Er glaubte an einen Staat, der sich in seinem Tun auf das Nötigste beschränkte — auch wenn er dabei fälschlich meinte, ein solcher Staat sei nur zu erhalten, wenn Grund und Boden nicht vererbbar seien. Eine Landreform durch die einzige in seinem Minimalstaat verbliebene Steuer — eine konfiskatorische Erbschaftssteuer auf Grundbesitz — würde erst die Basis für wirtschaftlichen Fortschritt schaffen, schrieb er in seinem Buch „Progress and Poverty". Unglücklicherweise war es ausschließlich jenes einzige Element staatlichen Umverteilungsunwesens in Georges Werk, das zu Beginn des Jahrhunderts die Sozialrevolutionären Bewegungen gerade in Lateinamerika inspirierte. Der im Grunde liberale Kern des Georgeschen Denkens fiel schon bald dem Vergessen anheim. Ich erwähne dies, weil es symptomatisch für die Geisteshaltung ist, die unser Jahrhundert geprägt hat. Gerade in Bezug auf das Thema der Armutsbekämpfung ist dieses Jahrhundert von einem Verlust an liberalem Optimismus befallen gewesen, der seinesgleichen sucht. Dass Freiheit — insbesondere wirtschaftliche Freiheit — in irgendeiner Weise mit Armutsbekämpfung zu tun haben könnte, wurde vergessen. Im Gegenteil: Freiheit wurde schnell und voreilig als Ursache von Armut diskriminiert und zur Sache der „Reichen" erklärt. Schlimm wurde es, wenn Intellektuelle in den Industrieländern sich dabei ihr eigenes imaginiertes Lateinamerika vor Augen hielten. Der autoritäre Wirtschaftsdiktator (man denke an Peron in Argentinien) und der sozialistische Guerrillakämpfer wurden zu einem Teil einer sozialromantischen und sentimentalen Folklore, deren Inhalt lautete: Weg mit der „kapitalistischen" Freiheit im Namen der sozialen Gerechtigkeit für die Armen! Ich brauche nicht auf die Vagheit der Idee der „sozialen Gerechtigkeit" hinweisen. Der große liberale Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek hat vor Jahren zu Recht darauf hingewiesen, dass diese Vagheit eine Einladung zur Ausübung willkürlicher Macht sei. Ich glaube, es war der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llo-
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sa, der einmal den Intellektuellen der Industrieländer vorwarf, sie würden den Völkern der Dritten Welt ein System empfehlen, unter dem sie selbst nie leben möchten. Die Folgen des antiliberalen Aberglaubens sind offenkundig. Sie sind in der Tat so offenkundig, dass es einer ebenso offenkundigen ideologischen Verbohrtheit bedarf, um sie zu übersehen. Kein Regime, das wirtschaftliche und politische Freiheit unterdrückte, hat je wirklich den Armen gedient. Ich möchte daher als ersten Merksatz formulieren: Es besteht eine nachweisbare Korrelation zwischen Unfreiheit und Armut. Der Zusammenbruch der totalitären Systeme des Sowjetimperiums, der wohl hauptsächlich auf eine mangelnde wirtschaftliche Leistungsfähigkeit zurückzuführen war, zeigt dies. Man braucht aber nicht einmal dieses extreme Beispiel zu nehmen. Die verschiedenen Bastardformen von Staats- und Marktwirtschaft, die seither in allen Teilen der Welt zum Normalfall gehören, bieten mehr und relevanteren Stoff für die Untersuchung. Eine Anfang des Jahres herausgegebene Studie unter dem Titel „Economic Freedom of the World", die von mehreren internationalen Forschungsinstituten, darunter das Liberale Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung, erarbeitet wurde, hat hier wichtige Ergebnisse erbracht. In dieser Studie wurde der Grad ökonomischer Freiheit in 103 Ländern anhand zahlreicher Kriterien wie Steuerquote, Inflation, Freiheit des Außenhandels, Rechtssicherheit oder Staatsanteil an der Wirtschaft untersucht. Ich will sie nicht mit Zahlen langweilen. Ich skizziere nur die wichtigsten Ergebnisse. Das erste Ergebnis ist, dass jene 6 Länder, die sich im letzten Jahrzehnt am kontinuierlichsten zu einer Politik wirtschaftlicher Freiheit entschieden hatten, auch zu den Top Ten in Sachen Pro-Kopf-Einkommen gehörten. Ihr Durchschnitts-Pro-KopfBruttosozialprodukt war 10-mal so hoch wie das der 6 kontinuierlich unfreiesten Länder. Diejenigen 7 Entwicklungsländer — darunter Chile, Mauritius, Singapur und Portugal — die zwischen 1975 und 1985 in ihrer Politik den größten Zuwachs an ökonomischer Freiheit zu verzeichnen hatten, erreichten seither im Durchschnitt eine jährliche Wachstumsrate von 3,9%. Es konnte auch nachgewiesen werden, dass die in den letzten 20 Jahren leider wachsende Wohlstandskluft zwischen Industrieländern und Dritter Welt mit einer Tendenz korrespondierte, in der die ersteren sich immer mehr und die letzteren sich immer weniger Wirtschaftsfreiheit zugestanden. Nur Entwicklungsländer, die sich dieser Tendenz entzogen, prosperierten auch. Ich denke, das sollte genügen, um nun getrost einen zweiten Merksatz formulieren zu können: Es besteht eine nachweisbare Korrelation zwischen Freiheit und Wohlstand. Dies ist eigentlich keine neue Erkenntnis, obwohl sie erst in den letzten 10 Jahren wiederentdeckt wurde. Wir, die Menschen des 20. Jahrhunderts - dem Jahrhundert, in dem Regierungen unendlich mehr Massenmord begingen und viel öfter Massenhunger als politische Waffe einsetzten als in jedem anderen Jahrhundert — neigen dazu, das liberale 19. Jahrhundert mit einer gewissen hochnäsigen Verachtung zu
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betrachten. Sicher, es hat auch damals soziale Probleme gegeben, die eine unqualifizierte Verherrlichung verbieten. Aber eine Errungenschaft wird man dem 19. Jahrhundert fairerweise nicht absprechen können. In ihrem Kampf gegen den absolutistischen Stände- und Privilegienstaat wussten die Liberalen genau, was staatliches Wirtschaften im Gegensatz zu freiem Wirtschaften bedeutet. Staatliche Politik ist, so wussten sie, immer gewalttätige Politik zur Begünstigung der einen zu Lasten der anderen. Der französische Ökonom Frédéric Bastiat brachte dies 1850 auf den Punkt als er den Begriff des „gesetzlichen Plünderns" einführte und meinte: „Der Staat ist eine große Fiktion, in der jedermann auf Kosten von jedermann zu leben versucht." Seither hat sich der Staat in vielen Fällen demokratisiert und damit zum Besseren entwickelt. Die Gesetze des Wirtschaftens hat er damit aber nicht verändern können. Demokratie alleine garantiert keinen Wohlstand. Der Wunsch aller, auf Kosten aller zu leben, ist auch weiterhin Fiktion. Sie ist gefährlich, weil sie diejenigen begünstigt, die das Spiel der Macht und der Politik beherrschen. Dies sind in den seltensten Fällen die Armen. Nicht der Markt, wie vielfach behauptet wird, bedeutet das Recht des Stärkeren, sondern die Politik. Selbst in Regimen, die - man muss annehmen, dass sie es zunächst ehrlichen Herzens taten — die Sozialrevolution zugunsten der Armen betrieben, haben sehr schnell Machtcliquen, Parteiapparate und Verteilungsbürokratien die Macht und den Reichtum an sich gerissen. Nicht ohne Grund haben wir erfahren müssen, dass überall, wo sich sozialistische Regime etablierten, die Armen sehr schnell ärmer waren als in konkurrierenden kapitalistischen Regimen. Man braucht nur Guatemala etwa mit Nicaragua zu vergleichen. Im Zeitraum von 1975 bis 1994 hatte Nicaragua ein schrumpfendes Pro-Kopf-Einkommen. Trotz einer etwas restriktiveren Handelspolitik in den 80er Jahren hatte Guatemala, das sich einen vergleichsweise wesentlich höheren Grad an wirtschaftlicher Freiheit erlaubt hatte, stetige Wachstumsraten zu verzeichnen. Sicher gibt es noch viel zu tun. Die seit einigen Jahren einsetzenden wirtschaftlichen Liberalisierungsmaßnahmen müssen sicher noch forciert werden, um dem Land weitere Teilsiege im Kampf gegen die Armut zu ermöglichen. Die 1995 in ihrem Lande verabschiedeten Verfassungsänderungen zur Sicherung der Währungsstabilität, die die Zentralbank davor schützen, bloßes Instrument unverantwortlicher staatlicher Kreditaufnahme zu werden, sind ein ermutigendes Zeichen in Richtung stabiler Wirtschaftsfreiheit. Aber das Problem ist nicht nur, dass politische Macht immer die Tendenz hat, die politisch Mächtigen zu begünstigen. Selbst dem „guten" Umverteilungsstaat, der das eigentlich Unmögliche wahr macht, und den Selbstbereicherungstendenzen eine Absage erteilt, ist kaum Erfolg beschieden. Abgesehen davon, dass so viel Zurückhaltung wohl schon als übermenschlich zu bezeichnen ist, gibt es auch einfache ökonomische Gesetzmäßigkeiten, die dem Erfolg im Wege stehen. Die hauptsächli-
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che Gesetzmäßigkeit ist dabei die Möglichkeit rationaler Kostenkalkulation in einem funktionierenden Markt, die keiner politischen Umverteilungsstelle gegeben ist. In einer Marktwirtschaft sind Preise Signale für den Einzelnen über bestehende Knappheiten. Sie ermöglichen ihm, sein spezifisches Wissen in einen Wirtschaftsprozess einzubringen, den er in seiner Gänze nicht überschauen kann. Staatliche Maßnahmen können sowohl das Preissignal verfalschen als auch das verstreute spezifische Wissen ungenutzt lassen. Letzteres ist sogar schlichtweg unvermeidbar. Es hat notwendigerweise Effizienzverluste zur Folge, die sich gerade ein armes Land nicht leisten kann. Der Staat begeht beim Umverteilen und Planen immer, um es mit Friedrich August von Hayek zu sagen, eine Anmaßung von Wissen. Was daraus folgt, sollte jedem klugen Kopf einleuchten, wenn er sich an eine Devise hält, die Frédéric Bastiat einmal ausgegeben hat. Man solle sich, so meinte er, immer fragen, „was man sieht und was man nicht sieht." Staatliche Wohltaten sind immer in ihrem wohltätigen Effekt konzentriert sichtbar. Die viel größeren negativen Nebeneffekte sind selten konzentriert verteilt und daher „unsichtbar". Zudem sind sie zeitlich meist von ihrer eigentlichen Ursache, dem Staatseingriff, entfernt, so dass die Menschen diese Ursache übersehen, und instinktiv dem Markt die Schuld geben. Sie können Bastiats Satz auf jedes Gebiet staatlicher Wirtschaftspolitik übertragen — es funktioniert immer. Eine durch Protektionismus geschützte Großindustrie sieht man. Die dadurch geschädigten Konsumenten und die vielen bankrotten Kleinunternehmen sieht man nicht. Den durch deficit spending und inflationäre Geldpolitik erwirkten strohfeuerartigen Wirtschaftsboom sieht man. Dass die Dauerrezession danach die gleiche Ursache hat, sieht man nicht. Der Beispiele ließen sich unzählige aufzählen. Sie alle tragen mit zum Wachstum und zur Konsolidierung von Armut bei. Kaum eine Regierung ist dabei ohne Schuld. Die Regierungen der erfolgreichen Industrieländer sind hier kaum nachahmenswerte Musterknaben. Es sei der in Europa und den USA betriebene Agrarprotektionismus genannt. Als er eingeführt wurde, sah man die Hilfe für die Bauern. Man übersah die (zugunsten einer verschwindend kleinen Minderheit) geschädigten Konsumenten im eigenen Land und das Elend, das man dem Agrarsektor in der Dritten Welt zufügte. Es bleibt hinzuzufügen, dass der politische Drang, Sichtbares zu leisten, und unsichtbare Schäden geflissentlich zu ignorieren auch in der 1. Welt enorme Probleme geschaffen hat. Gewerkschaftliche Lohnpolitik, die „sichtbar" organisierte Arbeiter begünstigte, aber „unsichtbar" unorganisierte arbeitslos machte; oder staatliche Beschäftigungspolitik, die „sichtbare" Jobs schuf, aber den Arbeitsmarkt so verzerrte, dass auf „unsichtbare" Weise strukturelle Arbeitslosigkeit entstand, sind nur einige Beispiele. Sie führten, dass auch dort mittlerweile eine wachsende Armut unter Dauerarbeitslosen entsteht.
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Wenn heute viele Menschen die Armut in der Dritten Welt als Produkt von Markt und Liberalismus bezeichnen, übersehen sie dabei viele Fakten. Zum Ersten: Gerade die Dritte Welt war nie ein Paradies wirtschaftlicher Freiheit. Im Gegenteil, sie war das Testfeld für alle möglichen groß angelegten politischen Sozialexperimente. Sie kamen zum Teil von „außen", etwa durch den IMF und die Weltbank von ihrer Gründerzeit bis in die 70er Jahre. Heute versuchen gerade diese Institutionen — nachdem sie die zuvor „unsichtbaren" Folgen ihrer Politik erkannt hatten — mit äußerst schmerzhafter Medizin ihr Tun rückgängig zu machen, indem sie die verschuldeten Länder zu wirklichen Liberalisierungsmaßnahmen drängen. Andere Experimente waren hausgemacht. Bei allen entwicklungspolitischen Fehlleistungen der Industrieländer, die es gab und gibt, scheint mir eine einseitige Schuldzuweisung unangebracht. Sie würde nur dazu führen, dass Strukturmängel in den Entwicklungsländern unangetastet blieben, wo in Wirklichkeit Reform angesagt wäre. Bei einer solchen Reform ist eine klare Einsicht in liberale Prinzipien notwendig — gerade, wenn es um die Bekämpfung der Armut geht. Man kann die Fakten über die Korrelation von Freiheit und Wirtschaftswachstum, die in der schon erwähnten Studie „Economic Freedom of the World" enthalten sind, noch historisch ergänzen. Dann erst wird das Ausmaß der Leistungen des Liberalismus in der Bekämpfung der Armut sichtbar. Wir wissen, wie die Situation der Armen vor jenem großen Zeitalter des Liberalismus im 19. Jahrhundert war. Selbst im reichen Europa war diese Situation schlimmer als sie es heute in den meisten armen Ländern ist. Der amerikanische Wirtschaftspublizist Henry Hazlitt hat es einmal treffend zusammengefaßt: „Die Geschichte der Armut ist beinahe die Geschichte der Menschheit. Die alten Schriftsteller haben uns nur wenige besondere Berichte davon hinterlassen. Sie nahmen sie als gegeben hin. Armut war das normale Los." In jedem Jahrhundert erfuhr Europa schreckliche Hungersnöte. Allein in Frankreich waren es im 18. Jahrhundert neun größere, von denen die im Jahre 1709 5% der Bevölkerung das Leben kostete und die von 1788 zum Ausbruch der Revolution beitrug. Als nach dem von Dickens treffend beschriebenen Ausgreifen des Pauperismus in England und den schrecklichen Hungersnöten in Irland, die alleine 1847 250.000 Menschenleben kosteten, die liberale Bewegung in England an Schwung gewann, war dies ein historisches Ereignis ungeahnten Ausmaßes. Nachdem die englische Freihandelsbewegung nach dem Fall der protektionistischen Getreidegesetze 1846 die wirtschaftspolitische Agenda der gesamten europäischen Politik zu inspirieren begann, war sicher noch nicht alle Not am Ende. Aber eines wurde erreicht: Seit dem Ende der 1840er Jahre hat es in Europa nicht eine einzige Hungersnot in Friedenszeiten gegeben. In historischer Perspektive ist dies eine Leistung, die einen größeren Nachruhm verdient hätte als sie es tatsächlich tat. Stattdessen wurden die Urheber dieser Leistung, die so genannten Manchester-Liberalen, von Historikern als
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herzlose Erfüllungsgehilfen bourgeoiser Interessen diffamiert — obwohl sie die einzigen Liberalen waren, die je echten Rückhalt in der Arbeiterschaft hatten. Es wäre besser, den Manchester-Liberalismus als Beispiel für erfolgreiche Entwicklungspolitik zu sehen. Nicht nur, dass die Liberalen damals den Hunger besiegt hatten, sie hatten auch die richtigen Mittel dazu gefunden: Befreiung der Wirtschaft von staatlichen und ständischen Fesseln und Freihandel. Mehr noch: Seither hat keine Volkswirtschaft die Armut besiegen können, die nicht wenigstens größtenteils diesem Weg folgte. Diese Einsichten sind vor allem deswegen wichtig, weil es immer noch viele staatliche Barrieren sind, die einer wirklichen Bekämpfung von Armut im Wege stehen, und die eine klassisch liberale Politik nötiger den je erscheinen lassen. Man kann dies bei der extremsten Form der Not, der Hungerkatastrophe, sehen. Ich wage die Behauptung, dass es in diesem Jahrhundert (und den meisten davor) keine Hungersnot gegeben hat, die nicht auf politische Gewaltakte und Fehlleistungen zurückging. Nicht eine einzige! Aber auch bei der „normalen" alltäglichen Armut in der Dritten Welt steht staatliche Gewalt fast immer im Hintergrund. Man sieht es nicht nur daran, dass die meisten der ärmsten Länder häufig auch eine recht schlechte Bilanz in Sachen „Rechtsstaatlichkeit" ihrer Politik haben. Auch wirtschaftspolitisch herrsche - so schrieb es der peruanische Ökonom Hernando des Soto in seinem Buch „El Otro Sendero" 1989 — gerade in den armen Ländern Lateinamerikas immer noch der Merkantilismus. Es ist jene exklusive Privilegienpolitik, die der Liberalismus in Europa bis aufs Messer bekämpfte. Was die Sache aber noch schlimmer macht, ist, dass sich die Merkantilisten heute teilweiser Liberalisierungen (nur dort, wo es ihren Interessen nutzt) bedienen. Das Resultat ist eine Politik, die verhindert, dass sich die Marktkräfte wirklich zugunsten der Armen entfalten. Außerdem diskreditiert sie den Liberalismus, dem nun alle möglichen Missstände angelastet werden — Missstände, die doch nur Ausdruck seiner unvollkommenen Realisierung sind. Es ist daher wichtig, dass der Liberalismus nicht ein kleiner Wurmfortsatz veralterter Privilegienpolitik wird. Er muss sich wieder als fortschrittliche Macht gegen den merkantilistischen Privilegienstaat begreifen lernen. Nicht nur die Wirtschaft, sondern auch der Staat selbst muss dabei ins Visier der Reformer genommen werden. Durchdachte konstitutionelle Reform, Dezentralisierung von Macht und ein Justizwesen, das Rechtssicherheit garantiert, rücken dabei als unter Wirtschaftsliberalen bisweilen etwas vernachlässigte Ziele in den Vordergrund. Der Einfluss von Sonderinteressen auf den politischen Prozess muss zumindest eingeschränkt werden — wenngleich kaum Hoffnung besteht, dass er irgendwo je völlig beseitigt werden kann. Ich könnte es gleich in einen dritten Merksatz umformulieren: Damit die Freiheit sich zugunsten der Armen bewähren kann, bedarf es eines Rechtsstaates, bei dem alle Menschen vor dem Recht gleich sind.
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Ein solcher Rechtsstaat wird sich bei seinem wirtschafts- und sozialpolitischen Tun deutlich zurückhalten. Natürlich wird er die Armut nie restlos beseitigen. Dazu ist schon die Definition von Armut viel zu subjektiv. In Deutschland halten sich viele für arm, die in Guatemala als geradezu wohlhabend gelten würden. Allen politischen und staatlichen Definitionen von Armut, die meist von komparativen Kriterien (wie z. B. das untere Fünftel der Gesellschaft) ausgehen, haftet etwas Willkürliches an. Sie führen meist zu etwas überhöhten Zahlen. Selbst, wenn man ihnen uneingeschränkt Glauben schenkte, hieße dies nicht, dass man deshalb liberale Prinzipien über Bord werfen dürfe, um wieder in heftige politische Umverteilungsaktivität zu verfallen. Neben der Wirtschafts- und Rechtsstaatspolitik muss auch die Sozialpolitik sorgfältig überdacht werden. Gerade hier ist das Bastiatsche „Was-man-sieht-und-was-mannicht-sieht" besonders wichtig. Die abstrakte Vision eines „Staates" oder einer „Gesellschaft", die die Not durch ihr Geld lindert, scheint uns zu „sichtbar" zu sein, während wir oft nicht sehen, dass dieses Geld von konkreten Menschen erzwungen wird, und diese Erzwingung großen wirtschaftlichen Schaden verursacht. Daher mein vierter Merksatz: Es sollte auch in der Sozialpolitik nicht versucht werden, den einzelnen zur Abwälzung von Kosten zu ermutigen. Auch hier kann langfristig nicht „jedermann auf Kosten von jedermann" leben. Lateinamerika hat hier in den letzten Jahren oft mehr reformerischen Mut gezeigt als das in Polit-Sklerose verfallene Europa. Ich denke an die Umstellung des Rentensystems auf ein Kapitaldeckungsverfahren und die Privatisierung dieses Systems in Chile. So etwas wäre in Deutschland, wo das Abwälzen von Kosten auf künftige Generationen mittlerweile zur sozialpolitischen Pflichtübung geworden ist, zur Zeit nicht einmal ansatzweise denkbar. Last, not least, sollte Sozialpolitik die Bedürftigen nicht in ihre Abhängigkeit bringen. Das liberale Ziel ist schließlich nicht die Versorgung als Selbstzweck, sondern die Konstituierung auch des ärmsten Mitbürgers als ein selbstbestimmtes Wesen, das Stolz auf seine eigene Existenz ist, und das diese Existenz auch moralisch selbständig wahrnehmen kann. Es war der ehemalige neuseeländische Wirtschaftsminister Sir Roger Douglas, der einmal sagte, mit liberalen Mitteln könne man noch am besten die eigentlichen Ziele der Sozialisten erreichen. Auch das ist keine neue Erkenntnis. Um es mit Henry George zu sagen: „Ich wollte beweisen, dass das ,laissez-faire' in seiner echten Bedeutung den Weg zu einer Verwirklichung der edlen Träume des Sozialismus eröffnet."
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Die liberale Marktwirtschaft. Möglichkeiten und Grenzen im Sozialstaat Vortrag auf dem Deutsch-Russischen Forum, St. Petersburg, 4. Oktober 1999 Die Zeiten ändern sich. Und mit den Zeiten ändern sich die Fragen, die sich die Menschen stellen. Ich erinnere mich noch selbst an Zeiten, da hätte man die Frage, die man mir für meinen heutigen Redebeitrag vorgegeben hat, mit Erstaunen aufgenommen. Man hätte wohl nicht so selbstverständlich gefragt, wie man denn die liberale Marktwirtschaft in das Gefüge der Sozialpolitik einpassen könnte. Vielmehr hätte man gefragt, ob und wie man vielleicht ein wenig von einer sozialen Komponente in die Marktwirtschaft einfließen lassen könnte, um eine humanere Ordnung entstehen zu lassen. Ganz offensichtlich: die Koordinaten in unserem wirtschaftspolitischen Denken haben sich verschoben. Dass dabei heute die paternalistische Kategorie der Sozialpolitik und nicht die wirtschaftliche Leistung in Freiheit heute den eigentlichen Ausgangspunkt bildet, kann man mit gutem Grund bedauern. Auch Menschen voll des inbrünstigsten liberalen Fortschrittsglaubens werden wohl nicht jede Veränderung für einen Weg in die richtige Richtung halten. Doch was immer man von dieser Veränderung im Denken hält, man kann nicht bestreiten, dass sie der realistische Nachvollzug dessen ist, was weitgehend die ökonomische Wirklichkeit dieser Welt ausmacht. Im Namen des Sozialen hat der Staat im Laufe der letzten Jahrzehnte immer größere Teile — mittlerweile sogar den größten Teil — der Produktivkraft seiner Bürger okkupiert. Warum sollte er das nicht tun? Diese Frage wird wohl jeder irgendwann einmal zu hören bekommen, der für mehr Marktwirtschaft plädiert. Schließlich käme das Geld ja den Armen und Notleidenden zu Gute. Die Antwort auf solche, meist gutgemeinten Einwände, muss immer zwei Seiten haben — eine ethische und eine ökonomische. Da der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hauptsächlich auf erwiesener ökonomischer Leistungsunfähigkeit der staatlichen Kommandowirtschaft erfolgte, hat sich die antikapitalistische Linke in letzter Zeit mehr auf die ethische Argumentation zurückgezogen. Die Entmoralisierung der Gesellschaft durch den Markt, so hört man, verlange nach mehr staatlichen Eingriffen. Das ist nicht nur kurios, weil man sich ja zu Recht fragen kann, ob ein ineffizientes interventionistisches Wirtschaftssystem, das immer Wohlfahrtsverluste mit sich bringt, nicht auch unethisch ist. Das eigentliche ethische Problem geht aber tiefer. Es besteht in dem Gegensatz, den
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Franz Oppenheimer, der Lehrer Ludwig Erhards, ausgemacht hat, als er von den ökonomischen und den politischen Mitteln zum Lebenserhalt sprach. Ökonomische — also marktwirtschaftliche — Erwerbung basiert immer auf freiwilligem Vertrag. Die politische Aneignung ist, selbst unter Bedingungen einer sozialen Krisensituation, immer mit der Anwendung von Zwang und der Enteignung von Vermögen, das andere erwirtschaftet haben, verbunden. Es mag soziale Lagen geben, in denen eine Gemeinschaft kaum anders kann, als zu diesem politischen Mittel zu greifen. Trotzdem kann und darf das politische Zwangsmittel nicht vorrangig werden oder gar zum Selbstzweck erhoben werden. Es ist vielmehr als ethisches Postulat zu verstehen, dass den ökonomischen Mitteln, dem kooperativen und auf Freiwilligkeit basierenden Weg, der Vorrang gebührt. Es mag zwar der heutigen Faktenlage nicht mehr entsprechen, aber es wäre auch moralisch wünschenswert, wenn man vom Sozialstaat in der Marktwirtschaft sprechen würde statt von der Marktwirtschaft im Sozialstaat. Das bringt mich zu den ökonomischen Aspekten. Die zwangsweise Umwandlung von privaten Gütern zum öffentlichen Sozialgut setzt fast immer unausweichlich Anreize in Kraft, Ressourcen überzubenutzen. Die chronische Pleite der meisten sozialen Versicherungssysteme in der Bundesrepublik — allen voran das Rentensystem — zeugen davon. Die Tatsache, dass derartiges weltweit zu beobachten ist, spricht dafür, dass es sich hier um einen prinzipiellen Systemdefekt handelt. Außerdem setzt ein System, dass das ökonomische durch das politische Wirtschaften ersetzt, Anreize, die Sphäre des Staates permanent zu erweitern. Die Aussicht, Transaktionskosten zu sparen und womöglich ein arbeitsloses Einkommen zu erwerben, ist zu verführerisch. Der zum Wohlfahrtsstaat mutierte Sozialstaat wird zur Droge, die selbst dann noch süchtig macht, wenn sich die Nettobilanz der Wohlfahrtsgewinne durch politische Umverteilung ins Negative verschiebt — wie das Beispiel der Schweden zeigt, die sich immer noch an den Wohlfahrtsstaat klammern, obwohl er bereits auf breiter Front die Quelle der Verarmung geworden ist. Das Schlimme ist also, dass politische Verteilung immer expansive Dynamiken hervorruft, die obendrein auch noch schwer korrigierbar und reformierbar sind. Davon können wohl nicht nur die Reformer in Russland ein Lied singen, die sich seit Jahren um eine Systemtransformation bemühen. Man braucht nur die gegenwärtige deutsche Regierung fragen, was es heißt, in einem im Vergleich zur Sowjetwirtschaft noch harmlosen Sozialstaat einmal eingeleitete Fehlentwicklungen zu korrigieren. Last, not least: Erfahrung und ökonomische Analyse bestätigen, dass die politische Umverteilung keineswegs zu dem vielgepriesenen — als Begriff aber immer schwammig gebliebenen — Zustand der „sozialen Gerechtigkeit" führt. Der größte Teil des Umverteilten geht wohl fast überall nicht an die wirklich Notleidenden. Auch in Deutschland hat die Zahl der Obdachlosen nicht mit dem Anwachsen der Staatsquo-
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te abgenommen. Im Gegenteil: Der wohlmeinende Staat hat zum Beispiel durch die von ihm gewählte Form der Tarifautonomie zum Phänomen der Ausgrenzung erheblich beigetragen. Politische Umverteilung nützt in erster Linie dem politisch Geschickten, nicht dem Armen. Überhaupt ist die politische Art des Wirtschaftens, die ja für sich oft genug reklamiert, Ordnving und Berechenbarkeit in das vermeintliche Chaos des spontanen Marktes zu bringen, in Wirklichkeit höchst unberechenbar und unordentlich — schon alleine, weil ihr der Preismechanismus als Steuerungsmechanismus fehlt. Dadurch wird der Staat selbst in den Händen von Wohlmeinenden schnell zur Gefahr für das Wohl der Menschen. Dies alles lässt die Bilanz des Sozialstaates gegenüber der Marktwirtschaft auf einmal keineswegs mehr so strahlend aussehen. Selbst derjenige, dem (wie eigentlich jedem anständigen Menschen) die notlindernden Grundanliegen der Sozialpolitik am Herzen liegen, müsste sich Gedanken machen, wie er dem Sozialstaat Grenzen setzen kann. Denn engere Grenzen für den sozialen Aktivismus des Staates geben Raum für mehr Möglichkeiten. Diese bestehen weniger darin, dass ein Staat, der sich durch die Überbenutzung seiner Ressourcen pleite gewirtschaftet hat, auch mehr Geld ausgeben kann. Sie bestehen eher darin, dass wirtschaftliche Freiheit mehr Möglichkeiten bietet, auch ohne Zwang ein gutes und würdiges Leben zu führen. Denn: Menschen, deren Freiheitsrechte durch den Staat geschützt sind, wirtschaften besser. Der vom Liberalen Institut der Friedrich-Naumann-Stiftung mitherausgegebene Jahresreport „Economic Freedom of the World" - eine Studie, die den wirtschaftlichen Freiheitsgrad in 119 Ländern vergleicht — hat nachgewiesen, dass ein Zusammenhang zwischen Marktfreiheit und Wirtschaftswachstum besteht. Korrelationen zwischen den Ergebnissen dieses Reports und anderen Lebensqualitätskriterien haben sich ebenfalls als überzeugend dargestellt. In den wirtschaftlich freiesten Ländern der Welt gibt es weniger Analphabeten, eine geringere Kluft zwischen arm und reich, eine höhere Lebenserwartung und nicht annähernd so viel Korruption wie in den unfreiesten. Man braucht nur die „ratings" unserer beiden Länder - Russland und Deutschland zu betrachten, um sich die Konsequenzen daraus vor Augen zu führen. Deutschland gehört unter den modernen westlichen Industrienationen — allem Gejammere vom alles beherrschenden Neoliberalismus zum Trotz, das man heutzutage so oft hört — zu der ökonomisch am wenigsten liberalisierten. Zwischen 1990 und 1997 fiel es von Platz 9 auf Platz 17 im Vergleich zu anderen Ländern zurück. Es ist zugleich das Industrieland mit der höchsten Steuerquote und der höchsten Arbeitslosenquote. Noch schlimmer steht es um Russland. Noch unterhalb des Rangs 111 angesiedelt, ist eine präzise Einstufung aufgrund des allgemeinen Zustands von Staat und Wirt-
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Schaft gar nicht mehr möglich, weil nicht einmal mehr die präzise Datenerfassung funktioniert. Dass im öffentlichen Bewusstsein beider Länder — bei allen sonstigen Unterschieden - jeder soziale Missstand a priori auf die Marktwirtschaft zurückgeführt wird, grenzt angesichts solcher Fakten ans Lächerliche. Nicht lächerlich, sondern traurig ist, dass dieser öffentliche Bewusstseinsstand in Demokratien zugleich auch die Politik in die falsche Richtung lenkt. Man verstehe mich nicht falsch. Der Staat hat wichtige Aufgaben. Sie bestehen aber primär darin, das friedliche Miteinander der Menschen in Freiheit zu sichern — und dies auch in der ökonomischen Sphäre. Weder die sozialen Probleme Russlands noch die wesentlich geringeren Probleme Deutschlands lassen sich durch mehr politisches Wirtschaften lösen. Mehr als jede sozialstaatliche Existenzsicherung tut gerade in Russland die durchgängige Etablierung und Durchsetzung des Rechtsstaats not. Der Rechtsstaat wäre die wohl bei weitem größte soziale Tat, die diesem Land widerfahren könnte. Seine Einführung würde die mittlerweile notorisch gewordene Privilegienwirtschaft, die falschlich unter den Namen „Kapitalismus" oder „Marktwirtschaft" firmiert, beenden. Diese Privilegienwirtschaft ist es, die durch das Kartell von Politik und Wirtschaft, zur eigentlichen Bürde der Menschen geworden ist — nicht nur in Russland, sondern in verschiedenem Umfang nahezu überall. Dass es trotzdem auch einer über den Rechtsstaat hinausgehenden sozialen Sicherung bedarf, wird man wohl kaum in Frage stellen. Es gibt unverschuldetes Elend. Die vollkommenste Wirtschaftsordnung wird dies nicht verhindern können. Es ist im Bereich des Machbaren, dass es nirgendwo mehr auf der Welt Hunger geben muss, deshalb sollten wir ihn auch nicht mehr zulassen. Auch kann der Staat den rechtlichen Rahmen so gestalten, dass soziale Eigenvorsorge besser funktioniert. Das im 19. Jahrhundert eingeführte deutsche Genossenschaftsrecht, das den Genossenschaften eine eigene Rechtsform und ein eigenes Haftungsrecht gab, ist ein klassisches Beispiel. Es ermöglichte Millionen von Menschen eine würdige, selbstbestimmte Existenz. Der Sozialstaat soll eben nicht gegen den Markt wirken, sondern mit ihm. Die liberale Marktwirtschaft im Sozialstaat ist ein Unding ohne Überlebenschance. Der Sozialstaat, der nahtlos in die liberale Marktwirtschaft integriert ist, ist der einzige gangbare Weg. Das Soziale darf der Freiheit des einzelnen, der Selbstverantwortung und der aus ihr gespeisten Menschenwürde nicht Abbruch tun. Er muss Teil des Rahmens sein, innerhalb dessen sich Freiheit und Selbstverantwortung zu einer offenen Ordnung entfalten können. Ludwig Erhard, der viel zitierte, doch selten verstandene Architekt des Wirtschaftswunders der deutschen Nachkriegszeit, antwortete auf die Frage, was denn das „Soziale" an seiner „Sozialen Marktwirtschaft" sei, stets, dass das „Soziale" darin beste-
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he, dass es einen für alle nutzbaren und vollständigen Wettbewerb in der Wirtschaft gebe. Diesen freien Wettbewerb zu sichern sei, so Erhard, die sozial- und wirtschaftspolitische Hauptaufgabe eines Staates, der sich ernsthaft dem Motto „Wohlstand für alle" (das übrigens nicht von Erhard selbst stammt, sondern von einem Russen, nämlich Fürst Kropotkin) verschrieben hat. Er hatte Recht. Eine Marktwirtschaft, deren Produktivität vom Staat aufgefressen wird, und deren wesentliche Steuerungsmechanismen außer Kraft gesetzt sind, kann auch durch die beste Politik nicht mehr sozial gemacht werden. Deutschlands und Russlands Reformer merken es immer wieder auf ihre Weise: Den Markt funktionstüchtig zu machen, um „Wohlstand für alle" zu schaffen, ist ein hartes Stück Arbeit für die Politik — vor allem dort, wo es nur wenige kulturelle Voraussetzungen dafür gibt. Sie sollte sich daher nicht noch mehr Ballast aufladen. Macht sie ihre Arbeit richtig, macht der Bürger schon das seine.
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Der Konsument und seine Freiheit Kolloquiumsbeitrag (2000); veröffentlicht in: Hardy Bouillon/ Detmar Doering (Hrsg.), Geschützt oder gefangen? Der Konsument und seine Freiheit, Trier 2002 Es ist schon irgendwie eine traurige Geschichte von Hochmut und Niedergang, die man erzählen muss, wenn man sich mit dem Thema „Der Konsument und seine Freiheit" beschäftigt. Seinen ersten großen Auftritt in der Historie begann der Konsument als der große Held der freien Marktwirtschaft, ja vielleicht der Held der freien Gesellschaft überhaupt. Heute ist er am Gängelband. Schlimmer noch: Knechtung kann immerhin Anlass zu trotzigem Widerspruch oder Märtyrerstolz sein. Doch der gegängelte Konsument von heute findet sein Gängelband als ökosoziales Modezubehör bisweilen geradezu schick — so schick, dass er sich manchmal sogar willig als argumentative Keule gegen die freie Wirtschaftsordnung instrumentalisieren lässt, nicht einmal wissend, dass er sich so selbst schadet. Wie gesagt: eine traurige Geschichte. Gehen wir zurück zum Anfang dieser Geschichte. Die großen Ökonomen der liberalen Frühzeit von Adam Smith bis Frédéric Bastiat widmeten sich mit besonderer Liebe dem Thema „Konsumenten". Sie waren für sie die natürlichen Gegenspieler der Produzenten und Händler. Diese waren die Schurken in dem grandiosen Theater des Handels und Wandels und trachteten stets danach, staatliche Privilegien einzuheimsen, die ihnen ermöglichten, den Konsumenten mit geringem Aufwand um seine Geldbestände zu erleichtern. Wenn sich Unternehmer irgendwo einmal träfen, so wusste Adam Smith schon 1776 zu berichten, ende dies fast immer in einer „Verschwörung gegen das Publikum" — und mit diesem „Publikum" meinte er ganz eindeutig die Konsumenten. Die Liberalen des 19. Jahrhunderts zogen daraus klare Konsequenzen. Sie hatten noch die Missstände des absolutistischen Merkantilismus vor Augen, in dem Manufakturen staatlich gefördert wurden, um das Staatssäckel mit Gold zu füllen, während das Volk hungerte. Als es den englischen Manchesterliberalen gelang, bei ihrem Kampf gegen die Getreideschutzzölle 1846 die Arbeiterschaft zu mobilisieren, da konnten sie noch mit Erfolg an den Arbeiter als Konsumenten, nicht an den Arbeiter als Gegenstand eines sozialstaatlichen Paternalismus appellieren. Protektionismus, so konnten sie überzeugend nachweisen, verteuere die Lebenshaltungskosten und treffe vor allem die Ärmsten. Auch in heutigen volkswirtschaftlichen Lehrbüchern taucht der Konsument immer wieder als derjenige auf, der eigentlich das Hauptopfer staatlichen Interventionismus'
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zu Gunsten der Produzenten sei, und der deshalb generell zur Kategorie der Verfechter von mehr Marktfreiheit zu rechnen sei. Das ist natürlich nicht völlig falsch. Bei dem Dauerbrenner der deutschen Diskussion über Konsumentenrechte, dem Ladenschlussgesetz, ist es ja so, dass das Produzenten- bzw. Händlerinteresse die Konsumentenfreiheit mit Füßen tritt. Es ist aber eben auch nicht völlig richtig. Um den Konsumenten herum hat sich ein dicht geflochtener Kranz von Gesetzen, Vorschriften und Institutionen gebildet, der den Konsumenten in eine Rolle hindefiniert, die keineswegs mehr so eindeutig bei ihm Widerstandsgeist erweckt. Manches davon erweckt beim Konsumenten den trügerischen Eindruck, der Staat wolle ihn nicht mehr schädigen — wie einst mit den Getreidezöllen —, sondern schützen und fördern. So schafft man ein Klima, in dem gesunde Feindbilder verschwimmen und Konsumentenwiderstand geschwächt wird. Man hat inzwischen als Beobachter des Ganzen sogar aufgehört, sich zu wundern, dass so wenig Konsumentenprotest zu vernehmen ist. Im Gegenteil: Man ist höchst verwundert, wenn sich tatsächlich etwas tut. Ich kann kaum verhehlen, dass mich der vehemente Volksunmut über die Ökosteuer — auch wenn er sich dann doch nicht als so kraftvoll erwies, das Projekt zu stoppen — gleichsam überrascht und erfreut hat. In den vielen Fällen haben in den letzten Jahren aber eher Zweifel gerade unter den Konsumenten überwogen, wenn es um ihre Freiheitsspielräume ging. Man erinnere sich, welche Vorbehalte es in der Öffentlichkeit gab, als man erstmals anfing, den Telekommunikationssektor zu liberalisieren. Heute sieht jedermann, dass dies unbegründet war. Dies zeigt aber, dass der Konsument heute oft vom freien Markt zunächst nur Schlechtes annimmt. Der Prozess, wie aus dem Helden der Freiheit der weitgehend domestizierte Staatsschützling wurde, verlief fast unmerklich. Man vermag kaum zu sagen, wann er anfing. Deswegen ist meine Datierung auf das Jahr 1871 so gut wie jede andere. In diesem Jahr veröffentlichte der Publizist Julius Faucher einen kleinen Aufsatz unter dem Titel „Auf kosmopolitischer Fahrt". Faucher war zu seiner Zeit einer der bekanntesten deutschen Vertreter dessen, was man „Manchestertum" nennt. Er war ein ultraliberaler und radikal freihändlerischer Liberaler, der die Freiheit des Konsumenten und die jedes anderen Menschen vehement verteidigte. Auf einer Reise nach England, so schrieb er, habe er gesehen, dass der soziale Fortschritt unter den Arbeitern wesentlich davon abhinge, dass sie mit dem Lohn, den sie bekamen, verantwortungsvoll umgingen. Man begann mit zunehmender Aufklärung einzusehen, dass man sein Geld nicht am Zahltag sofort in der Kneipe vertrinken sollte, was zuvor einer der größten sozialen Missstände war. Optimistisch fuhr Faucher fort: „Die arbeitenden Klassen in England sind jetzt zu nicht geringem Theile, freilich ohne es zu ahnen, oder ohne es sich einzugestehen, auf den richtigen Weg zur Lösung der
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.sozialen Frage', welche die Wissenschaft schon gelöst hat, gerathen; sie lernen das, was gerade sie am wenigsten verstanden — sie lernen konsumieren." Das klingt harmlos und war ohne Zweifel im Sinne einer freien Marktwirtschaft gedacht. Es wäre falsch, Faucher im Nachhinein vorzuwerfen, er hätte gar eine staatssozialistische Lawine ins Rollen gebracht. Er hatte ja recht: Der Konsum ist Motor sozialen Fortschritts. Das Beispiel soll nur zeigen, was für kleine Ursachen große Wirkungen hervorbringen können. Sie haben es bei dem Satz von Faucher wahrscheinlich gar nicht gemerkt. Er sagte, man müsse konsumieren lernen. „Lernen!" Das war unvorsichtig. „Lernen" ist das falsche Stichwort, wenn es an die falschen Leute gerät. Sein Zeitgenosse Nietzsche wusste es besser als er einmal sagte, dass „schenken", „helfen" und „lehren" die Vorstufen von „herrschen" seien. Richtig ist, dass wenn — auch ohne böse Absicht — das Wort „lernen" erst einmal gefallen ist, die „Lehrenden" nicht mehr fern sind — und damit die „Herrschenden". Sie kamen denn auch — zunächst als freiwillige Berater in Genossenschaften und wohltätigen Institutionen, dann als Interessenvertreter in der Politik, die nach mehr Staat riefen. Auch das nahm sich anfänglich recht harmlos aus, war es aber nicht. Auf Schutz vor Betrug, ein unverfänglich und plausibel wirkendes Anliegen, beschränkte sich das Fordern noch. Das Abzahlungsgesetz von 1894, das dem Kreditbetrug vorbauen sollte, war ein erster Anfang. Dagegen konnte man eigentlich gar nicht sein. Wer mag schon Kredithaie? Doch, wie jeder weiß, niemand darf dem Staat seinen kleinen Finger reichen, der seinen Arm behalten will. Selbst in einem so einfachen Fall wie der Vermeidung von Betrug kann sich der Staat schnell vergaloppieren. Das gilt nicht nur für die Regulierung des Kreditsektors, wo sich die Regelungsdichte seit der Verabschiedung des Verbraucherkreditgesetzes von 1991 enorm erhöht hat. Nein, die Regulierung geht bis ins Triviale bis sie alle Lebensbereiche stranguliert. Immer wird dabei vorausgesetzt, der Konsument habe sein Metier — das Konsumieren — noch nicht gelernt oder sei sowieso überhaupt nicht in der Lage dazu. Eine solche Annahme dient selten dem Konsumenten, der durchaus lernfähig ist, sondern den Lehrenden und Herrschenden, die so ihr Einkommen sichern. Wie weit ins Triviale die Regelei geht, zeigt das Markennamensrecht. Stück für Stück haben deutsche Juristen bei ihrem emsigen Bestreben, den Konsumenten vor Irreführung zu schützen, das von ihnen formulierte Verbraucherleitbild verändert. Sollte einst der gesunde Durchschnittsverstand als Maßstab genommen werden, was die Verwechselung von Produktnamen anging, so wurde seit den 70er Jahren der „flüchtige, unaufgeklärte Verbraucher" allen Urteilen zu Grunde gelegt. Weil der Vokal A zu oft darin vorkam, musste etwa ein Kunsdeder namens „Alcantara" vom Markt verschwinden, weil man es mit der Modemarke „Max Mara" verwechseln könnte.
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Weil es offenbar häufig vorkam, dass ein Arzt den Patienten mit dessen Hund verwechselte, durfte ein Humanmedikament namens „Calibret" nicht vertrieben werden, weil sein Name von dem der Tiermedizin „Canimed" ununterscheidbar sei. Dass man in einem deutschen Gericht vor einiger Zeit den „Schöller Nucki" und „Lucky Whip" für wechslungs fähig hielt, verwundert da nicht mehr. Gottlob ist gerade die EU - genauer: der Europäische Gerichtshof — dabei, den „durchschnittlich informierten, aufmerksamen und verständigen Durchschnittsverbraucher" wieder einzuführen. Das ermöglicht aber sicher immer noch unsinnigen Missbrauch beim Konsumentenschutz vor Betrug. Vor allem weiß man nie, ob die EU nicht nationale Missbräuche manchmal nur deshalb bekämpft, um sich selbst erst einmal Kompetenzen anzueignen, die später dann genutzt werden, um ebendiese Missbräuche gleich europaweit zu verbreiten. Einen Vorgeschmack lieferte ja schon der Versuch, die Tabakwerbung in der EU zu verbieten. Abgesehen davon, dass Werbeverbote dieser Art generell übelste Konsumentenbevormundung sind und obendrein die Meinungsfreiheit erheblich einschränken, handelte es sich um einen überaus plumpen Versuch, dem sowieso schon schwächlich konstruierten Subsidiaritätsgebot in der EU endgültig das Lebenslicht auszupusten. Zum Glück war der Versuch zu plump, so dass selbst der EuGH, der sonst gerne dem europäischen Zentralismus huldigt, vor einigen Tagen diesem Treiben ein Ende setzte. Das ist schön, weil es wirklich keinen Grund gibt, diese Frage auf EU-Ebene zu regeln. Dieser Sieg des Subsidiaritätsprinzips sollte uns aber nicht selbstzufrieden machen. Die nationalen Regierungen — besonders die unsrige — dürfen dies nicht dazu nutzen, um zwar subsidiärer, aber um so hemmungsloser Werbung zu verbieten. Nicht nur der EU, sondern allen staatlichen Institutionen sollte man das Verbieten verbieten. Im Gegenteil: Wäre es nicht Zeit, über die Aufhebung bestehender Werbeverbote nachzudenken statt über die Einführung neuer? Bieten Werbeverbote für Ärzte und Rechtsanwälte wirklich Konsumentenschutz oder verbauen sie nicht nur Konsumentenfreiheit? Noch ist es leider nicht so weit. Der Vorrang des - oft nur vermeintlichen — Konsumentenschutzes über die Idee der Konsumentenfreiheit ist tief und institutionell im politischen System verankert. Dies ist zum Teil ein Werk der kapitalismuskritischen 68er-Generation. Sie trieben in der Öffentlichkeit eine Zeitlang mit Erfolg das Zerrbild des Konsumenten auf die Spitze. Nicht nur leichte Lernunfähigkeit und flüchtiges Urteilsvermögen wurden dem Konsumenten unterstellt, sondern die schwer pathologischen Merkmale eines krankhaft Drogenabhängigen. Durch „Konsumterror", so hieß es damals, sei der Konsument in den „Konsumrausch" verfallen.
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Ich habe damals vergeblich in Supermärkten Ausschau gehalten nach herumtorkelnden Hausfrauen, die mit zittrigen Händen und glasigen Augen Erdbeerkonfitüre im 500-Kilopack in ihre Einkaufswagen warfen. Aber die manchmal von solchen Alltagserfahrungen wie „Lebensmitteleinkauf' abgehobene Politik nahm in Kenntnis ihres gesunden bürokratischen Eigeninteresses das Thema „Konsumrausch" gerne auf. Damit gab es schließlich neuen Regulierungsbedarf, neue Steuergeldquellen und neue Pöstchen. Eine Unmenge von staatlich geförderten Konsumentenschutzorganisationen wurden ins Leben gerufen — ein Trend, der sich durch die Öko-Bewegung in den 80er Jahren noch verstärkte. Behörden richteten zusätzliche Abteilungen ein. 1972 führte das Bundeswirtschaftsministerium einen Verbraucherbeirat ein — fünf Jahre bevor ich Wirtschaftsminister wurde, weshalb ich meine Hände in Unschuld wasche. Bald darauf folgten das Landwirtschaftsministerium mit seinem Verbraucherausschuss und die EG-Kommission mit ihrem Verbraucherrat. Nicht alles, was dort gemacht wurde war per se schlecht. Dennoch: Alles dies hat die Eindeutigkeit der einst so klar gegensätzlichen Begriffspaare Produzenteninteresse / Protektionsinteresse und Konsumenteninteresse / Freiheitsinteresse verschwimmen lassen. Das Bild der klassischen Ökonomie vom Gegensatz zwischen Produzenten und Konsumenten ist heute so nicht mehr aktuell. Der Konsument ist aus diesem ganzen Prozess nicht unschuldig hervorgegangen, sondern fordert im gegebenen Moment ebenso hemmungslos staatliche Vergünstigungen ein wie der Produzent. Der Höhepunkt des Ganzen ist seine Krönung zum König. Das Schlagwort vom „König Kunde" wird oft auch treuen Marktwirtschaftlern beschworen. Dabei gibt es ihn gerade in der Marktwirtschaft nicht — und es sollte ihn gerade dort nicht geben. Der Begriff „König" ist untrennbar mit der Idee von „Herrschen" verbunden. Es wäre schrecklich, würde das Verhältnis des Konsumenten zum Produzenten mit Herrschaft und Zwang verbunden — und umgekehrt. Das meiste im modernen Konsumentenschutz zielt leider genau darauf ab. Wo der Markt frei ist, ist dies jedenfalls nicht so. Versuchen Sie es doch selbst! Gehen Sie in eines dieser in der Tat sehr kundenfreundlichen Schnellrestaurants, die ihrem Namen nach zu schließen wohl aus Schottland in Massen zu uns gekommen sein müssen. Versuchen Sie dort statt eines flachen Fleischklopses in weichem Brötchen eine Sachertorte mit Sahne und anschließend — wenn Ihnen danach der Sinn steht — ein Glas französischen Champagners zu bestellen. Sie können königliche Edikte erlassen wie Sie wollen — Sie werden das alles nicht bekommen. Keinen Champagner — und wenn doch, dann allenfalls im Pappbecher. Aber haben Sie ein Recht, zu erzwingen, was Sie wünschen? Dass die Marktwirtschaft uns mit den Annehmlichkeiten des Lebens versorgt, hat nichts da-
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mit zu tun, dass irgendwer königlich herrscht. Es ist ein unendlich komplexer Wettbewerbs- und Entdeckungsprozess, in dem unzählige Produzenten, Vertreiber und Konsumenten — viele davon in mehreren Rollen gleichzeitig — untereinander aushandeln und ausprobieren wie dem jeweiligen Vorteil gedient werden kann. Der Markt ist ein freies Spiel. Er ist keine Monarchie, sondern eine echte Republik. Der Konsument hat hier keine hervorgehobene Rolle als Held, als König oder als unmündiger Zögling. Er hat an einer unteilbaren Freiheit Anteil. So sollte man die Sache betrachten. Diskriminierungen, Begünstigungen, Protektionen oder Vermachtungen durch den Staat oder staatlich geförderte Machtkonglomerate - etwa die Berufsverbände — gefährden diese Freiheit permanent. Es scheint mir, dass in letzter Zeit die Stimmung zu Gunsten von mehr Freiheit ein wenig zunimmt. Allenthalben sieht man, wie das Ladenschlussgesetz (und auch das Haarschneideverbot bei Vollmond, von dessen Existenz man erst letztens erfuhr) mit Nadelstichen durchlöchert wird, nachdem der Gesetzgeber immer noch nicht den Mut findet, es rückstandslos zu beseitigen. Das Internet trägt dazu bei. Noch weigert sich etwa das Apothekerkartell mit Erfolg, Medikamentenhandel übers Netz laufen zu lassen und damit mehr Wettbewerb und Kundenfreundlichkeit zu ermöglichen. Aber dies wird wohl durch die technischen Gegebenheiten schnell unterlaufbar sein. So wird es in vielen Bereichen gehen, obwohl ich davor warne, jetzt zu naiv auf einen angeblich unaufhaltsamen Trend zu bauen. Wir dürfen uns nicht selbstzufrieden zurücklehnen und auch das Ziel nicht aus den Augen verlieren. Der Konsument bedarf nicht der Bevorzugung und nicht der Benachteiligung, er bedarf der Freiheit — wie alle Menschen.
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Reform und Transformation: Die Soziale Marktwirtschaft Vortrag auf dem Kolloquium des Walter Eucken Instituts und der Friedrich-Naumann-Stiftung „Reform und Transformation", Prag, 6. März 2001 Es gab Zeiten, da beneidete die ganze Welt Deutschland um die Soziale Marktwirtschaft. Das scheint heute nicht mehr der Fall zu sein. Stattdessen werden Diskussionen darüber geführt, ob nicht ein vermeintliches „angelsächsisches Modell" die bessere Alternative sei, wobei es oft zu Missverständnissen über das kommt, was sowohl in Amerika als auch in Deutschland passiert. Dass Deutschland in den letzten zwei Jahrzehnten ein reformmüdes Land mit im internationalen Vergleich hohen Arbeitslosenzahlen und niedrigen Wachstumsraten war, hat den Eindruck verstärkt, dass es mit den Tugenden der Sozialen Marktwirtschaft wohl nicht so weit her sein könne. Aber ist daran wirklich die Soziale Marktwirtschaft schuld? Das Problem der Sozialen Marktwirtschaft scheint mir heute das folgende zu sein: Erstens: Sie hat die falschen Freunde. Zweitens: Sie hat die falschen Feinde. Die falschen Freunde dominieren leider heute die politische Praxis in Deutschland. Für sie bedeutet der Begriff „Sozial", dass man der Marktwirtschaft beliebig wohlfahrtsstaatliche Elemente aufpfropfen kann, wenn es guter Wille oder der Druck organisierter Interessengruppen verlangen. Eine solche Auffassung geht davon aus, dass das Leben von Staates Gnaden irgendwie moralisch dem Leben auf eigenen Beinen zu bevorzugen sei. Mit Sozialer Marktwirtschaft hat das nichts zu tun. Die falschen Feinde haben viele konkrete Probleme der Praxis zwar im Visier, lasten sie aber dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als solchem an. Sie preisen die „freie", wenn nicht gar die „adjektivlose" Marktwirtschaft. Die Soziale Marktwirtschaft ist aus dieser Sicht nur noch ein schwächliches Kompromissprodukt, in dem der Markt mit dem Sozialismus vermischt werde. So sehr ich die Kritik vieler solcher Feinde der Sozialen Marktwirtschaft an der real-existierenden Wirtschaftspolitik in Deutschland teile, so sehr möchte ich mich dagegen verwahren, dass dies dem Konzept der Sozialen Marktwirtschaft anzulasten ist. Man kann — wenn man die Diskussion um bloße Worte liebt - darüber streiten, ob die Verwendung des Begriffs Soziale Marktwirtschaft immer noch sinnvoll ist, weil diejenigen, die diesen Begriff in der Politik permanent missbrauchen, leider zur Zeit die Meinungshoheit innehaben. Ich glaube allerdings, dass der Begriff wegen der Verbindung mit dem deutschen „Wirtschaftswunder" der Nachkriegszeit und seinem Architekten Ludwig Erhard immer noch sinnvoll verwendbar ist. Aber es geht nicht um Worte, es geht um die
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Sache. Was die Sache angeht, da sollte eigentlich jeder, dem die freie Marktwirtschaft am Herzen liegt, dankbar sein, für das, was die Theorie der Sozialen Marktwirtschaft für ihn leisten kann. Wer sich die Mühe macht, die Schriften und gesammelten Reden Ludwig Erhards zu studieren, stellt fest, dass Erhard scheinbar wahllos sowohl den Begriff „Soziale Marktwirtschaft" als auch den Begriff „Freie Marktwirtschaft" zur Beschreibung seines wirtschaftspolitischen Erfolgsrezeptes verwendete. War dies Ausdruck mangelnder gedanklicher Klarheit? Wohl kaum, denn Erhard war einer der ökonomisch versiertesten Staatsmänner, die Deutschland je hervorgebracht hat. Nein, Erhard sah hier schlichtweg keinen Widerspruch. Die Soziale Marktwirtschaft war für ihn ein Mittel, den freien Markt überhaupt erst herzustellen. Keiner der Schöpfer der Sozialen Marktwirtschaft, zu denen so große Ökonomen wie Walter Eucken oder Wilhelm Röpke gehörten, hat sich dessen schuldig gemacht, was überschwenglich „adjektivlose" Marktwirtschafder ihnen gerne unterstellen. Sie haben nicht die von John Stuart Mill im 19. Jahrhundert erdachte Trennung von Produktion, die dem Markt überlassen werden solle, und der Distribution, die der Staat regeln könne, übernommen. Der Markt war für sie — ganz im Geiste der marginalistischen „Osterreichischen Schule" der Nationalökonomie — etwas Ganzes und Unteilbares. Im Grunde wollten sie - trotz allen kritischen und oft überzogenen Anmerkungen, die sie manchmal über den Liberalismus des 19. Jahrhunderts machten — dasselbe, was der klassische Liberalismus immer schon wollte, nämlich eine Rahmenordnung, in der sich der Markt ungehindert und unverzerrt entfalten kann — etwa durch ein Eigentums- oder Vertragsrecht. Dahinter steckt die Erkenntnis, die heute jedem modernen Ökonomen der Public Choice-Schule völlig selbstverständlich vorkommen dürfte, aber früher eben nur sehr unvollkommen durchdacht worden war: Nämlich, dass Märkte nicht isoliert existieren, sondern mit politischen Institutionen und gesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung stehen. Man kann träumen, dass Märkte in einem anarchokapitalistischen Rahmen ohne Staat funktionieren. Da gäbe es dann die Freie Marktwirtschaft pur. Ob solch eine Vision, von der vielleicht jeder echte Liberale ab und zu mal träumt, irgendwie stabil und praktikabel sein könnte und von allen Kritikern des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft überhaupt als wünschbar erachtet wird, bleibt jedoch zweifelhaft. In der realen Welt, in der wir uns schließlich — und daran muss man manche Leute ja ab und zu erinnern — hier und heute befinden, ist eine „Freie Marktwirtschaft" ohne diese Rahmenbedingungen eine bloße leere Theoriehülse. Walter Eucken hat in seinem großartigen Buch über die „Grundlagen der Wirtschaftspolitik", das 1952 posthum erschien, von der „Interdependenz der Ordnungen" von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft gesprochen, die es stets zu beachten gelte. Die Interdependenz
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erfordert, dass diese Sphären nicht gegeneinander wirken, sondern in einem harmonischen Verhältnis zueinander stehen sollen. Um ein Negativbeispiel zu nehmen: Wer eine Planwirtschaft will, braucht — wenn sie überhaupt einigermaßen funktionieren soll — dazu ein stimmiges totalitäres Regime in der Politik. Positiv: Wer eine Marktwirtschaft will, der braucht einen Rechtsstaat mit begrenzter Machtsphäre. Das ist der Clou des Ganzen: Soziale Marktwirtschaft bedeutet, dass der Staat marktkonform agiert. Das ist das absolute Gegenteil dessen, was man dem Konzept gerne unterstellt. Es geht eben nicht darum, der Marktwirtschaft staatliche Interventionismen aufzupfropfen und den Marktprozess zu verzerren. Es geht darum, dass der Markt optimal - und damit sozial zum Wohle aller - funktioniert. Wir sehen in vielen Drittwelt-Ländern und auch in vielen Transformationsländern des ehemaligen Sowjetimperiums, dass gut gemeinte marktliberale Maßnahmen in einem nicht liberalen politischen Umfeld verheerende Folgen haben können. Die Freigabe von Preisen in Russland zu Beginn der Transformation, die im Rahmen einer nicht-privatisierten Wirtschaft ohne Rechtsrahmen und ohne jeglichen Wettbewerb erfolgte, war im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft eine unsoziale Tat. Auch fuhrt zum Beispiel ein freies Preisspiel, das an sich ja wünschenswert ist, unter einem protektionistischen Außenhandelsregime zu etwas, das man ehrlicherweise Ausbeutung nennen sollte. Ein Bereich, in dem es mit den selbsternannten Verfechtern der freien oder adjektivlosen Marktwirtschaft Differenzen geben könnte, ist die Frage eines unabhängigen Rechtsbereichs des Wettbewerbs- und Kartellrechts. Ist es richtig, dass der Staat Wettbewerb schaffen soll, wo der doch eigentlich urwüchsig entstehen sollte? Ich gebe zu, auch dieser Bereich hat in Form des Konzeptes der „managed competition", das im Augenblick gerade die sinnvolle Privatisierung der Elektrizitätswirtschaft in Kalifornien als angebliches „Marktversagen" diskreditiert, seinen Missbrauch in der praktischen Politik erfahren. In Deutschland waren die Theoretiker und Praktiker der Sozialen Marktwirtschaft in der Tat sehr besorgt über Kartelle und Monopole. Ich gebe zu, dass da manches überzogen klang. Die Frage ist in der Tat erlaubt, ob ein wirklich sozial und ökonomisch unverträgliches Monopol oder Kartell in einer freien Marktwirtschaft überhaupt entstehen oder sich lange erhalten kann. Um fair zu sein, sollte aber hinzugefügt werden, dass auch die Väter der Sozialen Marktwirtschaft genau wussten, dass Kartelle und Monopole meist Folgen staatlichen Eingriffs und staatlicher Patronage sind. So stellte etwa Wilhelm Röpke in aller Klarheit dar, dass der Protektionismus „der Vater aller Kartelle" sei. Würden Röpke, Erhard oder Eucken auferstehen und in das heutige Deutschland zurückkehren, sie wären entsetzt über die Vermachtung der deutschen Wirtschaftspolitik durch künstliche Kartelle. Sie wären entsetzt über das gesetzliche Tarifkartell von Großverbänden der Arbeitgeber und den Gewerkschaften, das eine verheerende Lohnstruktur
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und unzählige gravierende Marktabschottungen produziert hat. Mit Fug und Recht kann man behaupten, dass dieses Ausgrenzungskartell für den Großteil der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland verantwortlich ist. Genau gegen solche Formen der unsozialen Machtausübung im Wirtschaftsprozess muss der Verfechter der Sozialen Marktwirtschaft Sturm laufen. Solange es überhaupt eine Interdependenz zwischen Markt und Staat gibt - eine Interdependenz die de facto unabschaffbar ist —, solange bedarf es auch eines permanenten Nachdenkens darüber, wie Markt und Wettbewerb politisch gesichert werden sollen. Es ist angesichts der Tatsache, dass jeder Staat per se den Markt verfälscht, verzerrt und korrumpiert, sinnvoll, dass es im politischen System institutionalisierte Mechanismen der Selbstkorrektur gibt, um Fehlentwicklungen begegnen. In diesem Sinne hat ein eigenes Wettbewerbsrecht seinen Platz in jeder Wirtschaftsordnung, der es um den echten freien Markt gelegen ist. Was die Väter der Sozialen Marktwirtschaft also leisteten, ist nichts anderes als eine echte Theorie der Wirtschaftspolitik in einer Marktwirtschaft. Dabei hatten sie ein Problem, das sie oft selbst nicht wahrhaben wollten, dass aber nicht nur der Sozialen Marktwirtschaft anhaftet, sondern auch der freien — solange sie nicht offen anarchistisch gedacht ist. Kein staatliches System kann je wirklich das Ideal der Marktkonformität erreichen — auch nicht in einem auf den Schutz der inneren und äußeren Sicherheit reduzierten Minimalstaat, den die Anhänger der freien oder adjektivlosen Marktwirtschaft wollen. Das Ideal der Marktkonformität oder -neutralität lässt sich nie absolut, sondern nur komparativ erreichen. Auch in der adjektivlosen Marktwirtschaft müssen zum Beispiel irgendwie Steuern erhoben werden. Steuern sind aber a priori nicht marktkonform. Andererseits braucht die Marktwirtschaft — auch die freie — einen Staat; der nun einmal zwangsläufig mit Steuern finanziert wird. Das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft liefert hier aber einen klaren Ansatz, wie man den zwangsläufig auftretenden Schaden politisch minimieren kann. Es ist nicht nur — wie es die Anhänger der freien Markwirtschaft ja durchaus mit Recht fordern — eine Lehre der verringerten Quantität der Staatseingriffe. Es ist darüber hinaus eine Lehre der verbesserten Qualität auf das Notwendige reduzierter Eingriffe. Damit kann man in vielen Bereichen die unter realistischen Umständen freiest-mögliche Marktwirtschaftspolitik erreichen. Man weiß, dass — wenn schon Steuern nötig sind — die Konsumbesteuerung immer noch weniger schädlich ist als die Einkommensbesteuerung. Man weiß, dass im Umweltschutz handelbare Emissionsrechte effizienter sind als detaillierte technische Vorgaben. Man weiß, dass Bildungsgutscheine und Wettbewerb bessere Schulen schaffen als ein Monopol des Staates. Man weiß, dass ein Sozialsystem besser auf genossenschaftlicher Basis oder Privatversicherung beruhen sollte, anstatt auf staatli-
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chen Zwangssystemen, die künftige Generationen belasten. Man weiß das alles, und sollte die Politik entsprechend gestalten. Uber die institutionelle Ausstattung des Staates zu diesem Zweck haben Ökonomen wie Wilhelm Röpke schon in den 50er Jahren Ideen entwickelt, die wir erst heute richtig zu schätzen beginnen. Seine Idee, dass zu einer wettbewerbsorientierten Marktwirtschaft auch ein Staat gehöre, der durch Dezentralisierung selbst dem Wettbewerb ausgesetzt sein sollte, hat durch den zunehmenden Zentralismus der Europäischen Union an Aktualität gewonnen. Röpke hat sich, nebenbei bemerkt, schon Anfang der 60er Jahre recht skeptisch über das europäische Projekt allzu großer politischer Integration geäußert. Wir sehen heute in vielen Transformationsländern des Bereichs der ehemaligen kommunistischen Gewaltherrschaft, dass es in der Politik oft gerade an dem fehlt, was die Theoretiker der Sozialen Marktwirtschaft so richtig als Ergänzung des sonst blutleer bleibenden Konzepts der freien Marktwirtschaft anführten, nämlich der Blick für das Ganze, für die gesamten Ordnungsbedingungen von Wirtschaft und Gesellschaft. Dies verlangt dem Politiker, der mit dieser Aufgabe betreut ist, eine umfassende Vision ab. Bei der Durchsetzung seines Transformationsprojektes hatte es Ludwig Erhard allerdings leichter als die Reformer in Osteuropa heute. Die 12 Jahre nationalsozialistischer Tyrannei bis 1945 hatten die Reste einer bürgerlichen Kultur noch nicht so tiefgreifend zerstört wie die Jahrzehnte des Kommunismus in Osteuropa. Sowohl bei den staatlichen Vorbedingungen — es gab zum Beispiel auch unter Hitler noch das Bürgerliche Gesetzbuch, das Aktiengesetz und die Konkursordnung — als auch bei den Gesellschaftlichen Bedingungen — es gab noch so etwas wie ein Unternehmertum — waren noch Voraussetzungen da, auf denen aufgebaut werden konnte. Auch befand sich Ludwig Erhard, als er 1948 die Soziale Marktwirtschaft und das Wirtschaftswunder lancierte, in einer eigentümlich günstigen Situation. Die berühmte Währungsreform, die wieder stabiles Geld einführte, war von den Westalliierten gleich selbst organisiert worden. Die Reform, die das Ganze dann mit Leben erfüllt hat, nämlich die Freigabe der Preise, hat Erhard als Vorsitzender des Wirtschaftsrates in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ebenfalls unter alliiertem Besatzungsrecht überaus autoritär angeordnet. Damals — im Juni 1948 — fragte der USMilitärsbefehlshaber General Clay den Direktor für Wirtschaft ganz entsetzt: „Herr Professor, Sie haben unsere Vorschriften eingeschränkt." Erhards Antwort: „Nein, Herr General, ich habe sie abgeschafft." Die autoritäre Herrschaft hat die Kohärenz der Durchsetzung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft stark befördert. Die damaligen Vorgänge erinnern an Gottfried Haberlers wundervollen Aufsatz „How to be a benevolent dictator." Erhard
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selbst bemerkte einmal, dass ihm all dies unter den Bedingungen des später parlamentarischen Betriebs in Deutschland nie gelungen wäre. Aber er hätte nie im Traum daran gedacht, anderes als den demokratischen Rechtsstaat zu wollen. Damit komme ich zu einem oft vergessenen Punkt. Bei der „Interdependenz der Ordnungen" geht es ja nicht nur um den Zusammenhang von Staat und Markt Auch die Gesellschaft spielt als Ordnungspotenz eine Rolle. Freiheit muss von den Menschen allgemein akzeptiert und selbstbewusst erlebt sein, oder sie ist gefährdet. Eine Demokratie ist — bei allen Problemen, die auch sie schafft — immer noch die beste (oder wie Churchill meinte, die am wenigsten schlechte) Regierungsform, um ein solches Bürgerbewusstsein zu schaffen. Es bedarf einer „Bürgergesellschaft", wobei ich hier nicht missverstanden werden möchte. Im politischen Diskurs wird „Bürgergesellschaft" oder „civil society" häufig — wohl nicht nur in Deutschland, sondern auch in Tschechien — recht platt mit „mehr politischer Mitbestimmung" gleichgesetzt. So einfach ist das nicht. Auch die Sphäre der Demokratie muss — wie alle Machtausübung — beschränkt werden. Selbstbestimmung geht immer vor Mitbestimmung. Es geht vielmehr darum, dass der Bürger eine Verantwortung empfindet, stolz auf Eigenleistung zu sein, und seine Probleme nicht bequem auf das Abstraktum „Gesellschaft" abzuwälzen. In diesem Sinne schätze ich Margaret Thatchers Bemerkung: „There is no such thing as society." Die USA und die Schweiz sind sicher Vorbilder für ein liberales Verständnis von Bürgergesellschaft. In vielem von dem, was ich bisher gesagt habe, werden Anhänger der Marktwirtschaft — egal ob mit oder ohne Adjektiv — übereinstimmen. Doch muss es denn ausgerechnet der Begriff „sozial" sein, der hier als Adjektiv angehängt wird? Ich bin mir wohl bewusst, dass ich mich hier in offenen Widerspruch zu einem von mir sehr bewunderten liberalen Denker stelle, nämlich Friedrich August von Hayek. Hayek sagte, das Wort „sozial" habe nicht nur keinen Sinn, sondern es beraube auch noch jedes Wort seines Sinnes, an den es angehängt würde. Es sei ein „Wieselwort". Dementsprechend sei eine „Soziale Marktwirtschaft" eben keine Marktwirtschaft mehr. Ich gebe zu, dass Hayek Recht hatte, was den heute gängigen Gebrauch des Wortes „sozial" angeht. Da ist es in der Tat nur eine pseudo-moralische Floskel, die zur Einforderung von Ansprüchen gegenüber der Politik verwendet wird. Hayek meint, er habe alle Quellen studiert, und nur derartiges gefunden. Gemessen an diesem Anspruch Hayeks verwundert es fast, dass er dabei ausgerechnet eine Stelle bei dem von ihm sonst so hochgehaltenen Edmund Burke aus dem Jahre 1790 übersehen hat. Sie stellt jene klare Verbindung der Begriffe „Freiheit" und „sozial" her, die Hayek leugnet. Ich zitiere: „Die Freiheit, die ich meine, ist die soziale Freiheit. Es ist der Stand der Dinge, in dem die Freiheit durch die Gleichheit der Begrenzung gesi-
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chert ist; eine Verfassung der Dinge, in der die Freiheit keines Menschen und keiner menschlichen Gemeinschaft und keiner Anzahl von Menschen Mittel zum Übergriff gegen die Freiheit irgendeiner Person oder irgendeiner Gruppe von Personen in der Gesellschaft finden kann. Diese Art von Freiheit ist in der Tat ein anderer Name für Gerechtigkeit, festgelegt durch weise Gesetze und gesichert durch wohlgestaltete Institutionen." Man vergesse nicht: das Wort „sozial" leitet sich aus dem lateinischen „societas" ab, also „Gesellschaft". Eine soziale Maßnahme kommt eben der gesamten Gesellschaft zugute. Sie kann sich dabei in einer Welt divergierender Einzelinteressen eigentlich nur am allgemeinen Freiheitspostulat orientieren. Die Bedienung von Partikularinteressen, die man heute mit dem Begriff „sozial" verbindet, stellt schon rein etymologisch einen Wortmissbrauch dar. Hayek hatte unrecht: Eigentlich handelt es sich hier um einen klaren Begriff, der nur leider für ein dubioses politisches Ziel umfunktioniert wurde. Ich kann verstehen, dass Ökonomen, die den Missbrauch des Begriffes in der Politik täglich sehen, heute lieber Euckens Terminus „Ordnungspolitik" statt „Soziale Marktwirtschaft" verwenden. Sie tun damit auch nichts unrechtes, denn es geht ja auch genau darum, die Ordnungen von Gesellschaft, Politik und Marktwirtschaft in Einklang zu bringen. Die Chance, ein populäres Schlagwort zu werden, hat dieser Begriff aus der trockenen Ökonomensprache allerdings wohl kaum. Da fährt man mit der Sozialen Marktwirtschaft doch noch besser. Oder man verfahre wie Erhard, der die freie und die Soziale Marktwirtschaft auf sein Banner schrieb. Sehen wir den Begriff „Soziale Marktwirtschaft" als die Chance für ein umfassendes Programm der Freiheit. Es steckt dahinter immer noch ein wenig Glanz von Utopie und unrealisiertem Erbe. Dass Deutschland heute kein wirtschaftspolitisches Musterland mehr ist, hat nichts damit zu tun, dass dort die Soziale Marktwirtschaft herrscht. Es hat eher etwas damit zu tun, dass wir sie noch nicht wirklich ausprobiert haben.
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Die moralische Verantwortung in der Marktwirtschaft Vortrag auf der Veranstaltung des Schweizerischen Instituts für Auslandsforschung „Moral und Moralismus in Politik und Wirtschaft", Zürich, 13. November 2001 Aufklärung über den moralischen Gehalt der Marktwirtschaft tut not. Nach dem 11. September gilt das erst recht. Denn mit dem World Trade Center, dem Pentagon und dem als Ziel verfehlten Weißen Haus galt der infame Angriff den Symbolen globaler Marktwirtschaft und einer internationalen offenen Zivilgesellschaft. Getroffen hat dieser Angriff Tausende Menschen als Opfer, als ihre Verwandten, Freunde und Nachbarn aus fast allen Ländern. Als wäre dieser heimtückische Mord nicht schon infam genug, wird auch noch versucht, die moralische Verantwortung abzuwälzen: Für den menschenverachtenden Terror werden als moralische Rechtfertigungen die allzu vertrauten Hinweise auf Ungerechtigkeiten „der Globalisierung" und „des Kapitalismus" bemüht. Wenn die Täter und ihre Hintermänner solche Rechtfertigungen suchen, dann kann das jedenfalls nicht überraschen. Aber alarmierend sind die mit Globalisierungs- und Kapitalismus-Verteufelung, mit Anti-Amerikanismus geschickt verpackten Reaktionen von Intellektuellen auf den Terror. Im jüngsten „London Review of Books" klingt das bei Mary Beard so: „Wie taktvoll man es auch immer verpacken mag, die Amerikaner haben es selbst herausgefordert." Terry Eagleton öffnet die Verpackung etwas, indem er die Frontlinie nach dem 11. September als „eine Auseinandersetzung zwischen dem Kapitalismus und dem Irak oder eine Version davon" beschreibt. Weil „Kapitalismus" der übliche Kampfbegriff in der polemischen Auseinandersetzung mit der Marktwirtschaft ist, bleibt in der langen Liste von Schuldzuweisungen auch im „London Review of Books" genügend Geruch von Amoraütät an der Marktwirtschaft hängen. Damit kein Moralist von Selbstzweifeln geplagt werden könnte, wird vom arabischen Intellektuellen Edward Said der selbstkritische Teil nur im Kairoer „AI Ahram" abgedruckt: Toleranter gegen andere und deutlicher auf Seiten einer säkularen Politik sollten die Araber sein. Dagegen klang diese selbstkritische Differenzierung dem „London Review of Books" offenbar schon zu sehr nach einem Plädoyer für die offene Gesellschaft. Jedenfalls wurde in London nur die Schuldzuweisung an die Adresse der USA abgedruckt. Wiederum: Weil die USA für eine offene Gesellschaft stehen, bleibt auch hier moralische Verantwortung für die Übel dieser Welt an der Marktwirtschaft hängen.
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Solche diffusen Anschuldigungen kennt man von mancher Begleitmusik einiger Non Governmental Organizations: Globalisierung und globale Marktwirtschaft wird praktisch mit Ungerechtigkeit gleichgesetzt. Dem Moralisten reicht dann als empirischer Beweis, dass mit der Globalisierung die Kluft zwischen Arm und Reich noch größer geworden sei. Das mag so sein. Aber es müsste dabei zumindest klar sein, dass wir Globalisierung seit über 500 Jahren haben. Globalisierung beginnt nicht erst vor über 10 Jahren, indem das neue Wort „Globalisierung" in den Medien das Wort „Internationalisierung" verdrängt hat. Und in über 500 Jahren Globalisierung haben es viele arme Entwicklungsländer zu Wohlstand gebracht: kleine Länder wie die Schweiz oder Preußen, große Länder wie die Vereinigten Staaten oder Japan. Aber die meisten Entwicklungsländer sind von solchem Wohlstand nicht nur weit entfernt, Menschen leben in bitterster Not und ohne Hoffnung auf ein menschenwürdiges Leben. Wenn nach dem jüngsten Welternährungsbericht heute über 800 Millionen Menschen in schlimmstem Hunger vegetieren, dann ist das zweifellos eine moralische Herausforderung ersten Ranges. Und es kann dann auch nicht überraschen, wenn Ungerechtigkeit beklagt wird. Was aber sind die Ursachen für den Wohlstand oder die Armut der Nationen? Was sind die Ursachen unbestreitbar skandalöser Ungerechtigkeit? Nicht erst seit den gewalttätigen Demonstrationen von Seattle, Prag oder Genua gegen die Institutionen der Weltwirtschaftsordnung wird in mehr oder minder diffuser Form die moralische Verantwortung für fast alle Übel dieser Welt der Marktwirtschaft angelastet. Seit der reale Sozialismus weltweit bis zum Zusammenbruch heruntergewirtschaftet und viel menschliches Elend zurückgelassen hat, ist es in der modernen Medien-Landschaft umso leichter geworden, die Marktwirtschaft moralisch auf die Anklagebank zu setzen. Allzu oft genügt es nämlich, unbestreitbare oder vermeintliche Tatsachen, die jeden Rechtschaffenen empören, in einem Atemzug oder in einem symbolischen Bild mit Marktwirtschaft zu verbinden. Im Kurzschluss ist für den Moralisten, aber auch für den oberflächlichen Beobachter die Frage nach der Ursache und der moralischen Verantwortung der Marktwirtschaft geklärt. Das fallt umso leichter, seitdem es außer Kuba und Nordkorea ja kaum noch ideologisch bekennende sozialistische Wirtschaftssysteme als Adressaten für moralische Verantwortung gibt. Nichts ist geklärt, wie schon der Heilige Augustinus gewarnt hat: „Die Sache haben sie gesehen, aber die Ursache nicht erkannt." Wer der moralischen Verpflichtung zu solidarischer Hilfe und zu einer fairen Weltwirtschaftordnung gerecht werden will, muss zumindest die Ursachen der Übel richtig erkennen. Erst dann kann man Menschen mit den richtigen Taten statt mit falschen Worten helfen.
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Darum geht es für mich letztlich auch in Ihrer Veranstaltungsreihe „Moral und Moralismus in Politik und Wirtschaft". Aufklärung gegen falschen Moralismus und für moralisches Handeln hat heute eine zusätzliche Dimension gewonnen: Eine Koalition für globale Marktwirtschaft schmieden, die sich auf die moralischen Fundamente der Marktwirtschaft gründet, die beiträgt, Armut, Unrecht, Unfreiheit und Intoleranz zu überwinden. Mit dem Ende des Kalten Krieges sind außen- und sicherheitspolitische Koalitionen gegen den Terror leichter geworden. Das ist wichtig, reicht aber nicht auf Dauer. Es muss uns auch gelingen, die Menschen von der moralischen Überlegenheit marktwirtschaftlicher Ordnungen zu überzeugen: auch für die Uberwindung der ökonomischen Ursachen von Armut, Intoleranz und Gewalt. Das ist keine leichte Aufgabe. Darum versuche ich, präzise zu sein wie z. B. Adam Smith in seinen beiden Aufklärungen „Eine Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Wohlstands der Nationen" und „Die Theorie der moralischen Gefühle": Erstens: Moralische Verantwortung tragen nur Sie und ich, wir alle. „Die Marktwirtschaft" kann keine Verantwortung tragen, auch nicht „die Soziale Marktwirtschaft". Deswegen spreche ich von der moralischen Verantwortung in der Sozialen Marktwirtschaft. Das sage ich in diesem Hörsaal nicht nur, weil ich „methodologischer Individualist" bin. Auch meine Lebenserfahrung und meine Erfahrung als Politiker geben Wilhem Röpke recht: Röpke hat hier in der Schweiz vor über 50 Jahren in seinem Buch „Internationale Ordnung" für „Föderalismus — national und international" vor den intellektuellen und moralischen Fallstricken des „Begriffsrealismus" gewarnt. Es ist für die Sache der Moral und für das Erkennen der tatsächlichen Ursachen von Übeln höchst gefährlich, wenn wir die Verantwortung von Menschen verstecken hinter abstrakten Begriffen, ganz so, als wären „die Marktwirtschaft" oder „die Schweiz" handelnde Personen. Wohl unbeabsichtigt, hat Papst Johannes Paul II. vor 10 Jahren einen Test darauf gemacht, wie leicht sich selbst Intellektuelle in den Fallstricken des Begriffsrealismus verfangen: In seiner Enzyklika „CENTESIMUS ANNUS" empfiehlt er „den Ländern der Dritten Welt... ein Wirtschaftssystem, das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmens, des Marktes, des Privateigentums und der daraus folgenden Verantwortung für die Produktionsmittel, der freien Kreativität des Menschen im Bereich der Wirtschaft anerkennt". Er hält es für passender bei einem solchen Wirtschaftssystem von „Marktwirtschaft" oder einfach „freier Wirtschaft" zu sprechen." Der Papst hatte aber bei der Vorstellung seiner Enzyklika vor allem Unternehmern in Lateinamerika recht heftig in ihr individuelles Gewissen geredet. Das genügte dem größten Teil der Kommentatoren, das moralisch fundierte Höchstlob der marktwirtschaftlichen Ordnung in Kritik an der
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Marktwirtschaft zu verdrehen. Zu den rühmlichen Ausnahmen gehörten auch damals die Zürcher Zeitungen. So ist denn auch die Kommentierung intellektueller Fehlurteile durch den Nobelpreisträger George Stiegler mit der Vorsicht eines „Never say never again" zu genießen: „Der Intellektuelle hat niemals eine freundliche Haltung gegenüber dem Markt eingenommen: für ihn war der Markt immer ein Ort für grobe Menschen und unedle Motive." Und so manche Unternehmer-Kommentierung ist ja auch wie Labsal für den Marktverächter. So gehört zu den prominenten Zitaten die Selbsteinschätzung des berühmten Erfinder-Unternehmers Howard Hughes: „Es versteht sich von selbst, dass man nicht zugleich hohe Prinzipien und hohe Profite haben kann." Sie wissen, wie vorsichtig man gerade bei Bewertungen sein muss, die mit „natürlich", „zweifellos" oder „ Es versteht sich von selbst" eingeleitet werden. Es versteht sich eben nicht von selbst, dass moralisches und wirtschaftliches Handeln im Gegensatz zueinander stehen müssen. Und umgekehrt ist es noch lange keine als moralisch zu preisende Sache, wenn ein Monopolist seinen monopolistischen VerhaltensSpielraum für Mildtätigkeit nutzt. Da müsste zumindest erst geprüft werden, ob dieser Monopolist nur das temporäre, partielle Leistungsmonopol eines SchumpeterUnternehmers auf offenen Märkten hat. Dagegen haben liberale Ökonomen seit Alfred Marshall nichts, selbst wenn durchaus nicht jeder monopolistische Verhaltens Spielraum für moralisch wertvolle Zwecke genutzt wird. Erst recht sind Marktwirtschaftler beim moralischen Gewinn recht illusionslos, wenn Manager auf die so beliebten Ethik-Seminare für mehr Moral im Markt geschickt werden. Dort kann man denn lernen und für Hochglanz auf den Oko- und Sozial-Bilanzen nutzen, wie man aus der Siemens AG einen wohltätigen „Bürger Siemens" macht. Bei so viel offenbartem — nicht verstecktem — Begriffsrealismus bliebe für Siemens nur der Trost, dass es dem „Bürger Siemens" ja nie so ergehen könnte wie Ludwig XVI., nachdem er zum „Bürger Capet" befördert wurde. Im Shanty geht das so: „King Louis got his head cut off, which spoiled his Constitution." Für mehr Moral im Markt vertrauen wir eher darauf, dass offene Wettbewerbsmärkte monopolistische Verhaltens-Spielräume einengen und so auch die hohen Profite von Howard Hughes abschmelzen. Dann brauchte er für diese Sorge wenigstens nicht seine abenteuerlichen Fehlinvestitionen, die ihm seine Monopolspielräume aus einer Verkettung von Geschick und Glück erst möglich gemacht hatten. Bei freiem Marktzugang locken hohe Gewinne Newcomer und Außenseiter, geben Ansporn zu Erfindungen und neuen Entdeckungsverfahren. Dann müssen neue Gewdnne immer wieder durch Leistung erwirtschaftet werden. Und für die moralische Bewertung ist
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diese Leistung vieler Unternehmer und ihrer Mitarbeiter die Grundlage aller sozialen und kulturellen Leistung. Es lohnt sich vielleicht gerade vor dem realen Hintergrund eines von den „schrecklichen Vereinfachern" hochstilisierten Konflikts zwischen Islam und westlich geprägter Zivilgesellschaft an folgende vergessene Geschichte zu erinnern. Die Geschichte spielt wahrscheinlich in der Frühzeit des kanonischen und islamischen Zinsverbots und ist die Rahmenhandlung für die wohl bekannteste der vielgelesenen Geschichten aus 1001 Nacht: Sindbad der Seefahrer. Nur wird der Rahmen fast immer weggelassen, vielleicht weil er nicht in das marktfeindliche Konzept passt. Wir kennen das bereits vom Weglassen eines vorsichtigen arabischen Plädoyers für Selbstkritik und die Toleranz einer offeneren Gesellschaft im jüngsten „London Review of Books". Es ist gemäß der alten arabischen Weisheit eben schon alles einmal da gewesen. So auch die laute Klage des Lastenträgers Hindbad über alle soziale Ungerechtigkeit dieser Welt, als in Bagdads Mittagshitze Gesang und Wohlgerüche aus Sindbads kühlem Garten zu ihm dringen. Den Rest kennen Sie — oder doch nur fast. Denn Sindbads Reisen überzeugen fast 1000 Jahre vor „CENTESIMUS ANNUS" den armen Lastenträger in einer Zeit fundamentalistischer Kritik an der Ungerechtigkeit des Unternehmergewinns. Durch Handel und unternehmerische Entdeckung werden Wohlstand und neue Technologien verbreitet. Die Gewinne aus Sindbads Leistung und Risiko nähren Kultur und Arme der Stadt, Gewinnchancen müssen von Reise zu Reise immer wieder neu entdeckt werden, durch Leistung und mit Risiko müssen aus Marktchancen Wertschöpfung und Gewinne werden. Vielleicht hat bei dieser Aufklärung dem Lastenträgers Hindbad besonders geholfen, dass über solchem Markt und Handel Allahs Wohlgefallen waltet, das keine Ungerechtigkeit zulässt. Beim Erzähler von Sindbads Reisen kommt daher Allahs Segen nicht zu kurz. Diese Klärungen zur moralischen Verantwortung des Einzelnen gegen diffuse Anklagen „der Marktwirtschaft" oder „des Marktes" als amoralische Veranstaltungen dürfen auf der anderen Seite nicht zum Missverständnis verleiten, die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft habe mit moralischer Verantwortung nichts zu tun. Das führte nämlich zur bequemen Exkulpation jedes noch so menschenunwürdigen Systems nach dem noch immer aktuellen Motto: „Die sozialistische Planwirtschaft war ja nicht schlecht, wenn da nur die Benjamins, Ulbrichts, Mielkes oder Honneckers nicht gewesen wären." Nein: Die Gestaltung des Ordnungsrahmens dafür, dass der Mensch in Freiheit Verantwortung tragen kann, dass moralisches Verhalten gefördert wird, diese Gestaltung selbst ist eine zutiefst moralische Aufgabe. Darum geht es in meinem zweiten Punkt. Die geistigen Väter der Ordnung, die wir in Deutschland „Soziale Marktwirtschaft" nennen, haben ihr Werk als moralisches Anliegen verstanden. Ludwig Erhard hat in seiner Gedächtnisrede für einen dieser
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geistigen Väter, Wilhelm Röpke, am 17. Juni 1967 daran erinnert: „Ich habe bereits der geistigen Übereinstimmung mit Röpke Ausdruck gegeben, wenn ich darauf verwies, dass ein Bekenntnis zur Marktwirtschaft allein noch keine vollgültige Aussage ist, d. h. wenn damit nur die Technik des Systems anerkannt wird, die Frage aber nach der Gesinnung und dem moralischen Gehalt offen bleibt." Und Ludwig Erhard fuhr fort: „Das System der Marktwirtschaft findet erst dann einen klar erkennbaren gesellschaftspolitischen Ausdruck, wenn ihr moralisches Fundament wie auch ihre Sinngebung und Zielsetzung klar zu erkennen sind." Dieses Denken in den moralischen Kategorien von Freiheit, Verantwortung und Ordnung bleibt auch heute die Grundlage für die Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft. Noch einmal Ludwig Erhard: „Ja, man kann schlechthin sagen, dass dieses Ordnungsdenken das verbindende Element aller Nationalökonomen ist, die sich bewusst zum sogenannten ,Neo-Liberalismus' bekennen oder ihm doch .zugeordnet' werden." Sie können daraus auch bewerten, was von moralischen Anklagen zu halten ist, wenn sie sich als Adressaten nicht „die Marktwirtschaft" auswählen, sondern „den Neoliberalismus". Ich stehe in dieser geistig-moralischen Tradition der Sozialen Marktwirtschaft. Und wenn ich dennoch auch weiterhin einfach von der moralischen Verantwortung in der Marktwirtschaft spreche, dann hat das zwei unmissverständliche Gründe: 1. Es wagt ja keiner offen, der „Sozialen Marktwirtschaft" moralischen Gehalt abzusprechen, denn dagegen schützt ja im Kampf um Begriffe Alfred Müller-Armacks kluger Zusatz „Soziale" zu „Marktwirtschaft". In Ludwig Erhards ordnungspolitischer Tradition ist „Soziale Marktwirtschaft" der Name für die deutsche Wirtschaftsordnung. Ich halte nichts davon, mit jeder Mode oder mit jedem Parteiprogramm einen neuen Eigennamen für Deutschlands Wirtschaftsordnung zu kreieren, mal „Ökologische und Soziale Marktwirtschaft", dann „Neue Soziale Marktwirtschaft". 2. Wir sollten statt dessen all unsere Kreativität und allen politischen Mut, darauf verwenden, den konkreten Ordnungsrahmen unserer realen Marktwirtschaften so zu gestalten: •
dass er zum moralischen Fundament passt, zu ihrer „Sinngebung und Zielsetzung", wie Ludwig Erhard es formulierte,
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dass der Einzelne und die kleine, lokale Gemeinschaft für moralisches Handeln nicht überfordert werden,
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dass wir auf dem Wege zu Henri Bergsons Vision einer globalen „offenen Gesellschaft" der Ordnung in Freiheit vorankommen.
Von all dem sind wir noch weit entfernt. Und das erklärt viele berechtigte Kritik, die mit „der Marktwirtschaft", „dem Freihandel", „der Globalisierung" oder „dem Neo-
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liberalismus" allerdings die falsche Adresse hat. Wir haben heute nicht zuviel Marktwirtschaft, sondern zuwenig marktwirtschaftliche Ordnungspolitik. Was hier noch an ordnungspolitischer Gestaltung zu leisten ist, zeigt besonders deutlich jeder Blick auf die Verfassung des deutschen Steuer- und Sozialsystems, auf die föderale Ordnung und auf die Agrarprotektion — national, europäisch und international. Ich habe als deutscher Wirtschaftsminister Verantwortung getragen, als Anfang der 80er Jahre eine Welle marktwirtschaftlicher Erneuerung einsetzte: durch angebotsorientierte Reformen in Ländern wie Neuseeland, den Vereinigten Staaten, Großbritannien, den Niederlanden und Deutschland. Diese Welle ist jedenfalls in Deutschland verebbt in halbherzigen Reformansätzen und auch in Rückschritten, vor allem auf dem Arbeitsmarkt und bei der Reform des Steuer- und Sozialsystems. Und nicht alles Versagen kann mit den besonderen Problemen der deutschen Einheit entschuldigt werden. Die wieder gestiegene Abgabenlast des Wohlfahrtsstaats konfisziert durch Steuern und Zwangsbeiträge zu den Sozialversicherungen Freiheit. Denn sie tötet Bürgerverantwortung und freiwillige Solidarität des Einzelnen und der kleinen Solidargemeinschaft. Die Ziele des Wohlfahrtsstaats mögen noch so gut gemeint gewesen sein. Die Ergebnisse der dafür eingesetzten Mittel — Bevormundung der Bürger und Vergesellschaftung von Verantwortung — sind jedenfalls unsozial, auch weil sie Sozialbürokratien nähren und die Konzentration sozialer Hilfe auf tatsächlich Schwache erschweren. Zu dieser sozialen und moralischen Bilanz von zuwenig Marktwirtschaft und einer falschen Arbeitsteilung zwischen Bürger und Staat mit einer Staatsquote von rund 50% gehört auch das auf etwa 600 Mrd. DM geschätzte Volumen der deutschen Schattenwirtschaft. Das bedeutet eine gesellschaftlich und moralisch höchst brisante Spaltung des Marktes und der Freiheit. Die Möglichkeiten, hoher Abgabenbelastung durch legale „Steuergestaltung", oder illegale Transaktionen auszuweichen, sind im Prinzip seit dem Swiftschen Steuer-Einmaleins von 1728 bekannt. Und niemand dürfte behaupten, dass diese Spaltung irgendwelchen Vorstellungen der so oft beschworenen „sozialen Gerechtigkeit" oder eines angestrebten sozialen Ausgleichs genügt. Im Gegenteil: technisch ausgedrückt korreliert die Chance zur Abgabenvermeidung stramm positiv mit der Höhe des Einkommens und der Qualität des Steuerberaters. Der wohlfahrtstaatliche Teufelskreis könnte selbst den steuerehrlichsten Bürger in Versuchung fuhren, nicht mehr der Dumme zu bleiben, wenn der Staat von den Steuerehrlichen einen umso höheren Tribut fordert. Und das liegt nicht nur an legaler und illegaler Steuerverkürzung: Hohe Steuersätze drücken auch auf Leistungsmo-
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tivation, Investitionen, Arbeitsplätze, also auf das versteuerbare Einkommen. Das gehört zu den Zusammenhängen, die auch mit der Laffer-Kurve illustriert werden. Der marktwirtschaftliche Ausweg aus diesem Teufelskreis ist nicht die SymptomKur schärferer Kontrollen mit mehr Arbeitsplätzen für mehr Kontrolleure. Effizienter und auch moralisch überlegen ist es, gemäß dem Grundsatz „Weniger Staat — mehr Eigenverantwortung" die Therapie bei den Ursachen anzusetzen: •
den Staat auf seine hoheitlichen Kern-Funktionen zu konzentrieren, die auch ohne Überlastung der Bürger finanzierbar sind,
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dem Bürger mehr Freiheit geben, aber auch mehr Eigenverantwortung und freiwillige Solidarität zutrauen,
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das Steuersystem bei niedrigeren Steuersätzen vereinfachen, von den vielen zur Steuervermeidung einladenden Ausnahmen und Steuersubventionen befreien,
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mehr Markt für mehr Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt im globalen Wandel wagen,
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in der sozialen Sicherung den Marktbereich mit Wettbewerbspreisen für soziale Dienste und Vorsorge trennen vom Solidarbereich zielgenauer Hilfe bei geringen Einkommen,
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das Subsidiaritätsprinzip auch konsequent bei der Reform der föderalen Ordnung anwenden, endlich den politischen Mut zu Freihandel und Abrüstung bei Subventionen aufzubringen.
Ich habe solche Reformen wiederholt damit zusammengefasst, dass Deutschland wieder ordnungspolitische Nummer Eins werden muss. Die Schweiz kann eine solche Herausforderung im Standortwettbewerb zumindest dort mit Gelassenheit betrachten, wo es um die föderale Ordnung nach dem Subsidiaritätsprinzip und das dazu passende Steuersystem des Wettbewerbsföderalismus geht. Da ist der Schweizer Vorsprung groß, auch auf dem Weg zur konsequenten Umsetzung des Subsidiaritätsprinzip s in Europa. Das ist das Thema der nächsten Föderalismus-Kommission der Friedrich-Naumann-Stiftung, mit der ersten Sitzung in zwei Tagen. Föderalismus mit Subsidiarität ohne Wenn und Aber ist nicht irgendein Reformthema unter vielen. Die Föderalismus-Reform ist auch nicht nur die „Mutter aller Reformen" im Reformstau. Diese Glocke werden wir in Zukunft noch deutlicher hören. Aber gerade wenn es um den moralischen Gehalt der Marktwirtschaft geht, liegt am ehesten beim Subsidiaritätsprinzip der strategische Punkt. Das heißt hier „Interdependenz der Ordnungen" im Sinne von Walter Euckens Grundsätzen der Marktwirtschaft: der Interdependenz von Wirtschaftsordnung und Staatsordnung in einer liberalen Bürgergesellschaft
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Walter Eucken, wie Wilhelm Röpke geistiger Vater der deutschen Marktwirtschaft, hat eine solche Reduktion auf das Strategische am Napoleon-Zitat bei der Eroberung Toulons veranschaulicht: „Hier liegt Toulon!", soll Napoleon hartnäckig wiederholt haben, als er nicht auf die ganze Stadt zeigte, sondern auf die Reede als Schlüsselstellung zur Rück-Eroberung. Und mit dieser Hartnäckigkeit hat auch Wilhelm Röpke von der Schweiz aus für eine föderale Ordnung gemäß strenger Subsidiarität gekämpft: „Föderalismus - national und international" war nach dem Kriege sein Programm für eine „Internationale Ordnung" der Marktwirtschaft und der offenen Gesellschaft, seine Erfahrung des Schweizer Föderalismus. Die moralischen Wurzeln des Subsidiaritätsprinzips in der föderalen Ordnung reichen aber viel weiter zurück zur Res Publica Christiana und ihrer säkularisierten Form der Aufklärung. Ich will das am so häufig für moralische Vorwürfe gegen die Marktwirtschaft missbrauchten Bild von Adam Smith's „unsichtbarer Hand" verdeutlichen, die angeblich den Kräften des Marktes die ökologische Plünderung des Planeten überantwortet und kalte soziale Ungerechtigkeit gebiert. In Wahrheit geht es bei dieser „unsichtbaren Hand" um die moralische und informations-theoretische Grundlage von Subsidiarität als Ordnungsprinzip für menschliches Zusammenleben, das auch den Eigennutz in den Dienst der Allgemeinheit lenkt. Denn in der „Theorie der moralischen Gefühle" und im „Wohlstand der Nationen" hat die „unsichtbare Hand" die gleiche Grundlage, die der Inhaber des Lehrstuhls für Moralphilosophie und Aufklärer Adam Smith so beschreibt: „Jene Weisheit, welche das System der menschlichen Neigungen und Gefühle ebenso erfunden hat wie jeden Teil der Natur, scheint der Uberzeugung gewesen zu sein, dass der Vorteil jener großen Gemeinschaft der Menschheit dann am besten gefördert werden würde, wenn sie die Aufmerksamkeit eines jeden Individuums in erster Linie gerade auf jenen Teil derselben lenke, der am meisten innerhalb des Bereiches seiner Fähigkeiten ebenso wie seines Verständnisses gelegen ist." Das ist auch heute ein guter Grund, so viel soziale und politische Verantwortung so nahe wie möglich beim Einzelnen anzusiedeln, bei der kleinen, freiwilligen Solidargemeinschaft und der für den Bürger überschaubaren föderalen Ebene. So vorsichtig, wie Adam Smith in der „Theorie der moralischen Gefühle" die Überlegenheit von Subsidiarität begründet, so präzise weist er andererseits im „Wohlstand der Nationen" auch auf die ordnungspolitischen Bedingungen hin. Nur wenn diese Bedingungen erfüllt sind, wird - wie bei der optimalen Allokation von Kapital - der Bürger „in diesem wie auch in vielen anderen Fällen von einer unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu fördern, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigt hat." Wichtige dieser ordnungspolitischen Bedingungen dafür, dass die Marktwirtschaft neben höherer Effizienz auch ihren moralischen Gehalt beweist, habe ich bei der
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Forderung genannt, Deutschland müsse wieder ordnungspolitische Nummer Eins werden. Abschließend will ich in einem dritten Punkt vor dem Hintergrund der gerade eingeleiteten WTO-Liberalisierungsrunde in Doha Klartext zur globalen Dimension moralischer Verantwortung in der Marktwirtschaft sprechen. Es fallt leicht, auf den moralischen Skandal der kommunistischen Wirtschaftsordnung in Nordkorea zu zeigen. Wie wird es aber mit dem Skandal der AgrarProtektion und -Subvention auf Kosten armer Länder weitergehen, dem Rest an sozialistischer Planwirtschaft in der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU? Wie geht es weiter mit der Abrüstung von Agrarprotektion z.B. in Japan und den Vereinigten Staaten? Oder mit dem für reiche Industrieländer so „sensitiven" Bereich von Textilien und Bekleidung mit seinen Quotenregelungen? Worum es geht, scheint auch nach dem 11. September weder intellektuell im langfristigen Eigeninteresse noch moralisch begriffen zu sein. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man sieht, wie vor Doha die Verhandlungspositionen aufgebaut wurden. Für Freihandel nach dem Prinzip der Meistbegünstigung als Antwort einer offenen Zivilgesellschaft auf den Terror mangelt es offenbar noch an Aufklärung. Denn im Zweifel ist die Macht der Dummheit immer noch stärker als die Macht der Schlechtigkeit. Es gibt aber auch Grund für Optimismus: Es ist das Verdienst der liberalen Aufklärung, den Anwendungsbereich einer subsidiären Ordnung auf die ganze Welt auszudehnen: als Idee, als Vision für ein friedliches Zusammenleben der Völker in ihrer ganzen religiösen und kulturellen Vielfalt. Aber verwirklichen ließ sich diese globale föderale Ordnung der Subsidiarität bisher nicht. Denn sie ist untrennbar mit der marktwirtschaftlichen Ordnung einer offenen Gesellschaft verbunden. Davon sind wir global noch immer weit entfernt. Darum sind Subsidiarität und Marktwirtschaft heute für die globale Koalition der „unitas in necessariis", der Einheit in den notwendigen geistig-moralischen Grundlagen einer offenen Gesellschaft, wieder so aktuell geworden. Wird sich gegen alle protektionistische Engstirnigkeit und Engherzigkeit wenigstes diese Koalition von Vernunft und Moral durchsetzen? Es geht heute um die gleiche Suche, die Karl Jaspers 1962 anmahnte wie die Aufklärer seit Montesquieus „Persischen Briefen" von 1721. Aber der 11. September hat diese Suche zu einer Schicksalsfrage neuen Gewichts gemacht: „Wir suchen heute den Boden, auf dem Menschen aus allen Glaubensherkünften sich über die Welt hin sinnvoll begegnen könnten, bereit ihre je eigene geschichtliche Überlieferung neu anzueignen, zu reinigen und zu verwandeln, aber nicht preiszugeben." Marktwirtschaft, offene Gesellschaft und Subsidiarität sind dieser Boden.
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Der Unternehmer in der Sozialen Marktwirtschaft Rede anlässlich der Wissenschaftlichen Jahrestagung zur Gründungsforschung (G-Forum 2002), Wuppertal, 7. November 2002 Wenn man heutzutage vom Unternehmer in der Sozialen Marktwirtschaft redet, muss man unweigerlich mit einer umständlichen Erklärung beginnen. Das, was Ludwig Erhard und seine Mitstreiter einst schufen, ist leider mitderweile in die Hände der Gegner gefallen. Der Begriff der „Sozialen Marktwirtschaft" wird von den heutigen Sozialpolitikern fast ausschließlich in dem Sinne verwendet, dass man mit ihm jede marktwirtschaftliche Reform in unserem Lande empört zurückweisen kann. Er bedeutet nur noch, dass man einer nur mühsam akzeptierten Marktwirtschaft beliebig sozialpolitische Maßnahmen aufpfropfen kann. Ich möchte daher klarstellen, dass eine Soziale Marktwirtschaft nicht eine wahllos betriebene und ausufernde Sozialpolitik, sondern in allererster Linie eine echte Marktwirtschaft ist. Das „Soziale" in der Konzeption der „Sozialen Marktwirtschaft" ist es vor allem, die Vorteile des effizientesten Mechanismus unserer Wirtschaftsordnung, des Wettbewerbs, für alle Menschen wirksam werden zu lassen. Sozialpolitik darf in dieser Konzeption dem Markt nicht beliebig aufgepfropft werden, sondern muss möglichst so gestaltet sein, dass sie der Logik der Marktwirtschaft entspricht. Zwischen einer echten „Sozialen Marktwirtschaft" im ursprünglichen Sinne und der neuerdings oft von verzweifelten Liberalen beschworenen „adjektivlosen Marktwirtschaft" besteht ein geringerer Unterschied als gemeinhin angenommen. Wenn Wettbewerb der eigentliche Kern der Sozialen Marktwirtschaft ist, dann muss auch vom Unternehmer gesprochen werden. Friedrich August von Hayek, der große liberale Wirtschaftsnobelpreisträger, hat einmal vom Wettbewerb als „Entdeckungsverfahren" gesprochen. In einem unendlichen Meer von Chancen und Entscheidungsmöglichkeiten, dessen Umfang und Struktur sie kaum erahnen können, bewegen sich die Akteure des Wirtschaftsgeschehens, um mit Hilfe des Preismechanismus als Kompass den Weg zur richtigen Entscheidung und zur richtigen Chance zu finden. In diesem Meer dominiert, um es noch einmal mit Hayek zu sagen, das Unwissen — genauer gesagt: das verstreute Wissen aller Akteure, das von niemanden - und schon gar nicht vom Staat - in seiner Gänze erfasst werden kann. Und in diesem Meer gehört der Unternehmer zu den großen Entdeckern. Er hat dabei nicht nur Marktnischen für seine Produkte oder Diensüeistungen zu entdecken. Er hat zu entdecken, wie die optimale Struktur seines Unternehmens aussehen
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muss. Erst wenn er mit Glück und mit Können diese Aufgaben erledigt, kann sich der Erfolg einstellen. Eigentlich bewältigt der Unternehmer damit Unmögliches. Deswegen spricht man ja auch von unternehmerischer Risikobereitschaft. Das Risiko besteht eben darin, dass man nie weiß, ob, wie und warum man Erfolg hat. Mit dem Risiko des Nichtwissens muss man leben. Wer es allzu genau wissen will und zuviel darüber nachdenkt, wird daher unweigerlich abgeschreckt und vielleicht zur Sehnsucht nach den Sicherheiten des Beamtendaseins verführt. So muss ich jedenfalls die Ergebnisse einer amerikanischen Studie deuten. Kürzlich wurden nämlich 10 000 Absolventen des MBA an der Stanford University befragt. Es zeigte sich, dass diejenigen, die speziell Vorlesungen darüber besuchten, was Unternehmertum sei und wie man Unternehmer werde, mit einer besonders unterdurchschnittlichen Rate den Beruf des Unternehmers einschlugen. Ich kann nur hoffen, dass dem Forum Gründungsforschung ein größerer Erfolg beschieden ist als den Kollegen auf der anderen Seite des Großen Teiches. So wenig wir wissen, wie unternehmerischer Erfolg im Einzelfall zustande kommt, so sehr wissen wir, dass dieser Erfolg für die gesamte Wirtschaft essentiell ist. Ohne ihn ist wirtschaftliche Dynamik kaum vorstellbar. Der Unternehmer, so wissen wir, bündelt und institutionalisiert wirtschaftliche Aktivitäten mit seinem Unternehmen, um damit Transaktionskosten zu sparen. Das Unternehmen ist also prinzipiell ein gewaltiger Generator von Effizienz. Ist heute von Unternehmertum und Sozialer Marktwirtschaft die Rede, so hört man schon bald die Frage, worin denn die „soziale Funktion" des Unternehmers bestehe. Die Antwort darauf ist einfach: Es ist genau jene erwähnte Steigerung von wirtschaftlicher Effizienz. Es ist die Funktion als Motor von Wachstum und Wohlstand. Das wird manchen Menschen als Antwort nicht befriedigen. Vor ihrem Auge wird das von Ökonomen als bloßes Theoriemodell beschworene Bild vom kalt kalkulierenden homo oeconomicus auftauchen. Der ist natürlich nur eine Abstraktion. Unternehmer sind — wie wir alle — vielschichtige menschliche Wesen. Man kann Gewinnstreben und Wohlwollen in einer Person vereinigen. Von den Volksbildungsinitiativen eines Friedrich Harkort über die großen Kultureinrichtungen Andrew Carnegies hin zu den Stiftungen deutscher Unternehmen heute zieht sich das Wirken humanitär und philanthropisch engagierter Unternehmer. Ich glaube auch nicht an die klassenkämpferische Parole, dass zwischen Unternehmer und Arbeitnehmer notwendig ein ausbeuterisches Verhältnis besteht. Die meisten Unternehmer haben ein Interesse daran, dass die Arbeitnehmer gut gestellt sind. Diese Ansicht über den Menschen im Unternehmer wird aber nicht jeden befriedigen. Weil Philanthropie eine häufige, aber nie notwendig mit dem Unternehmertum verbundene Eigenschaft ist, wird es genügend Unternehmer geben, die als schwarze
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Schafe stigmatisiert werden können - zu Unrecht, da sie als Unternehmer immer noch eine für die Gesellschaft gewinnbringende Tätigkeit ausüben, und weil schließlich niemand ein Recht auf Philanthropie hat. Sie ist ihrem Wesen nach freiwillig. Die Erwartung des modernen Menschen scheint daher in Richtung einer durch Staatszwang erwirkten und von der Freiwilligkeit getrennten kollektivistischen Auffassung dessen zu tendieren, was man „sozial" nennt. Das hat zunächst einmal dazu geführt, dass der Begriff des „Sozialen" zugleich eine Waffe gegen das Unternehmertum und gegen die Marktwirtschaft geworden ist. Ich brauche es wohl kaum aufzuzählen: Der Unternehmer leidet heute an einer viel zu hohen Steuerquote, er leidet an kleinlichster Überregulierung und er leidet an Bürokratieüberwälzung, weil die operative Ausführung staatlicher Aufgaben wie die Einkassierung von Lohnsteuer und Sozialabgaben in bizarrer Weise zwangsprivatisiert wurde. Die amerikanische Schriftstellerin Ayn Rand sprach daher schon in den 70er Jahren von den Unternehmern als „verfolgter Minderheit". Hinzu kommt noch die Tarifautonomie mit ihren inflexiblen Flächentarifen. Am deutschen Tarifsystem erkennt man am deutlichsten, was passiert, wenn man das „Soziale" an der „Sozialen Marktwirtschaft" bloß interventionistisch im Sinne der Sozialpolitiker versteht, und nicht als eine Aufforderung zu einer konsequent marktwirtschaftlichen Politik. Die auf Freiwilligkeit basierenden Stützen des Sozialsystems im 19. Jahrhundert — der unternehmerische Philanthropismus und das auf Selbsthilfe bauende Genossenschaftswesen — mögen zwar für eine moderne Gesellschaft nicht immer hinreichend gewesen sein, aber sie waren ganz wesentlich so beschaffen, dass sie die Besonderheiten der Lage des einzelnen Unternehmens oder Akteurs mit einberechneten. Es geht nicht darum, das 19. Jahrhundert wieder aufleben zu lassen, aber ein wenig mehr von dieser Marktnähe muss auch unser Sozialsystem wieder erwerben. Gerade bei der Verregelung und Vereinheitlichung des Arbeitsmarktes zeigt sich, dass ein vielleicht einst zur Bändigung vermeintlicher unternehmerischer Auswüchse gedachtes System wegen seiner Marktferne diejenigen in Bedrängnis bringt, denen es eigentlich nutzen soll. Gemeint ist die arbeitende Bevölkerung, die immer mehr zur arbeitslosen Bevölkerung wird. Da nutzt auch das von Unternehmern in Gang gesetzte Wachstum — wenn es denn kommt — nichts. Deutschland gehört zu den Schlusslichtern, was den Beschäftigungseffekt von Wachstum angeht. Um magere 0,04% wuchs im letzten Jahrzehnt durchschnittlich die Zahl der Beschäftigten bei 1% zusätzlichem Wachstum. In den Niederlanden waren es dagegen 0,74% — also 18mal so viel wie in Deutschland. Es bleibt also dabei: Mehr Markt und mehr freies Unternehmertum sind schon per se der Grundpfeiler der Sozialen Marktwirtschaft. Trotzdem kann das Bild von den
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Unternehmern als „verfolgter Minderheit" in die Irre fuhren. Unser Sozialstaat ist nicht die in Gesetze gegossene Realisierung des hehren Ideals sozialer Gerechtigkeit, sondern basiert auf dem meist als „Ausgleich" verharmlosten Prinzip des Kuhhandels zwischen den Interessengruppen. In diesem Spiel sind Unternehmer nicht nur die armen Opfer. Auch sie profitieren manchmal von der Korrumpierung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Neben Subventionen und Förderungen anderer Art sei vor allem einmal das Kammerwesen genannt. Adam Smith hat einmal gemeint, wenn sich mehrere Unternehmer träfen, sei mit einer „Verschwörung gegen das Publikum" zu rechnen. Wir sind weiter als in den Tagen Adam Smiths. Wir haben die Verschwörungen fest institutionalisiert. Dies ermöglicht Unternehmern, unter sozialen Vorwänden wie Konsumentenschutz und Sicherung von Qualitäts- und Ausbildungsstandards, den Wettbewerb im eigenen Bereich weitgehend auszuschalten. Den durch die staatliche Gesetzgebung garantierten Machtspielraum können die in der berufsgenossenschaftlichen Selbstverwaltung Organisierten auch für eigene protektionistische Interessen nutzen. Er mag sich bisweilen selbst einreden, dass er dabei „sozial" sei, aber der so agierende Unternehmer ist nicht Teil, sondern Feind der echten „Sozialen Marktwirtschaft". Ich erinnere daher an die Worte Ludwig Erhards aus dem Jahre 1955, mit denen er energisch vor den Folgen warnte: „... da ist das Berufsordnungsstreben, da ist das Verlangen von Schutz nach Berufsbezeichnungen,... da ist das Ladenzeitengesetz. Ja, meine Damen und Herren, ist da wirklich jemand da, der noch zu behaupten wagt, dass alle diese Gesetze in letzter Konsequenz nicht naturnotwendig zu einer Minderung der persönlichen Verantwortung, zu einer Eindämmung der individuellen Risikobereitschaft, zu einem Erlahmen der Antriebskräfte und des Fortschrittswillens führen würde? Ich werde mich querlegen bis zum Äußersten; ich werde ganz bestimmt die ganze Öffentlichkeit, eben diese 50 Millionen Verbraucher, mobilisieren und ihnen vor Augen führen, welches Spiel hier gespielt werden soll." Das zeigt, dass eine richtig implementierte Ordnung der Marktwirtschaft ein echtes Mittel sozialen Ausgleichs ist. Auch wenn man immer wieder hört, dass die Marktwirtschaft nur den Unternehmern diene, so bleibt festzustellen, dass das Grundprinzip des Marktes - der Wettbewerb - eigentlich gerade für Unternehmer äußerst unbequem ist. Diese Unbequemlichkeit muss ihm erhalten bleiben. Der Wettbewerbsdruck und die Gefahr des Bankrotts gehören zum Unternehmertum in einer echten Sozialen Marktwirtschaft. Das bringt mich zu einem aktuellen Thema: Der Niedergang der new economy, den wir in der letzten Zeit beobachtet haben. Die new economy — bevor wir nun hämisch hinterher winken - hat entscheidendes für die Unternehmenskultur bewirkt. Sie hat flexiblere und humanere Arbeitsbedingungen ermöglicht. Sie hat zur Abfla-
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chungen von Unternehmenshierarchien geführt. Sie hat die Globalisierung vorangetrieben. Dies sind Prozesse, die auch trotz Pleitenwelle weiterwirken werden. Sie dienen auch der Entwicklung der Sozialen Marktwirtschaft. Vor allem hat die new economy in ihrer Hochphase das Unternehmertum und die Gründermentalität belebt. Hier hat besonders unter jungen Menschen ein nicht zu unterschätzender kultureller Paradigmenwechsel stattgefunden gegenüber dem anti-unternehmerischen Zeitgeist früherer Jahrzehnte. Diesen Paradigmenwechsel gilt es beizubehalten und weiterzuentwickeln. Dabei muss man allerdings auch von einigen großen Lebenslügen der new economy Abschied nehmen. Es stimmt, dass sich Wachstum oft um technische Neuerungen rankt. Es stimmt aber nicht, dass diese Neuerungen die wirtschaftlichen Wachstumsgesetze außer Kraft setzen können. Er gab sogar sich ernst nehmende Wirtschaftsautoren, die behaupteten, dass die neuen Technologien die Konjunkturzyklen abschaffen könnten. Zeit- und bedürfnisnah computerisierte Produktion und Lagerung verhindere Über- und Unterversorgung und beende damit die Inflation. Manchmal, so denke ich mir, war die Wirtschaftsesoterik der new economy-Apologeten nur schwer zu ertragen. Das Auf und Ab der Wirtschaft ist indes kaum eine Frage der Technik. Es ist eine Frage des Geldes und seiner Gesetzmäßigkeiten. Es handelt sich hierbei um eine existentielle Frage des Unternehmertums. Die von mir zuvor zitierte Aussage Hayeks, es ginge in der Marktwirtschaft um einen „Entdeckungsprozess" könnte den Eindruck erwecken, es handle sich beim Unternehmer nur um einen wissensbegeisterten Intellektuellen, der halt Informationen sammelt. Nein, was der Unternehmer braucht ist Geld beziehungsweise Kapital. Der „Entdeckungsprozess" ist vor allem eine Jagd nach Kapital. Das bekommt man nicht, wie die naive Schulbuchökonomie lehrt, durch Konsumverzicht und ein Hangeln von Tauschvorteil zu Tauschvorteil, sondern durch Verschuldung. Eine der großen sozialen Leistungen des Unternehmers ist die Vorfinanzierung von Produktion und Arbeit durch Kredit, was im Übrigen auch die Ausbeutungstheorien des Marxismus widerlegt. Mit der Verschuldung und dem Wunsch, ihr zu entkommen, wird der unternehmerische „Druck im Kessel" geschaffen, der erst den von Schumpeter beschworenen Prozess der „schöpferischen Zerstörung" in Gang setzt. Der peruanische Ökonom Hernando de Soto hat kürzlich in seinem Buch „The Mystery of Capital" dargelegt, wieso die Marktwirtschaft in vielen Entwicklungsländern nicht die erwünschten Resultate erbringt. Er kam zu dem Schluss, dass in den meisten Entwicklungsländern die Rechte an Grund und Boden so wenig gesichert seien, dass eine Beleihung von Grundbesitz nicht möglich sei. Deshalb entstehe auch kein Kleinunternehmertum; deshalb entstehe auch kein Mittelstand. De Soto hat hier wohl einen Eckpfeiler jeder zukünftigen Entwicklungspolitik aufgestellt. Seine Leh-
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ren sind auch für viele Transformationsländer von Interesse. Insbesondere in Russland könnte eine entsprechende Landreform ungeahnte wirtschaftliche Kräfte freisetzen. So wie sich de Soto das vorstellt wäre Kapital und Liquidität ganz marktwirtschaftlich an die Beleihung von Realwerten gebunden. Es würde im Regelfall nur in sinnvolle ökonomische Tätigkeiten ohne „Blasenbildung" investiert. Dieser Prozess der Schöpfung von Liquidität ist hierzulande durch die Politik verzerrt worden — und nicht nur hierzulande. Die Verschuldung — eigentlich einer der Motoren der Wirtschaft - ist zu ihrem Verhängnis geworden. Was die Dynamik des Unternehmertums fördern sollte, erweist ihm nun einen Bärendienst. Das gilt auch für das neue Wirtschaftswunderland Amerika, das — so glaube ich — sich auch wie wir auf eine längere Rezession einrichten sollte. Meiner Meinung nach hätten die jetzt stattfindenden Marktbereinigungen in wesentlich milderer Form schon vor Jahren stattfinden sollen, doch die Notenbanken verhinderten dies durch künstliche Liquiditätsausweitung. Die US-Notenbank tätigte noch direkte Eingriffe zur Stützung der Börse. Die Folge war eine Abkopplung des Aktienmarktes von der realwirtschaftlichen Entwicklung und eine enorme Verschuldung aller privaten und staatlichen Wirtschaftssegmente. Die Schulden sind die Bürde, die wir nun zu tragen haben, sowohl in der Wirtschaft als auch im Staat und seinen sozialen Sicherungssystemen. Was wir im Augenblick sehen, ist die Folge einer vielleicht gut gemeinten, aber falschen Wirtschaftsförderungspolitik. Angesichts dieser offenkundigen Problemlage scheint mir die Ankündigung seitens der Bundesregierung und EU-Kommissionspräsident Prodi, die Verschuldungskriterien des Stabilitätspaktes zu lockern, geradezu grotesk. Keine Frage: Der Unternehmer in einer Sozialen Marktwirtschaft darf nicht unnötig behindert werden. Er darf aber auch nicht künstlich gefördert und durch eine Politik der Kreditausweitung in die Falle getrieben werden. Dies erhöht die Fehllenkung von Kapital und Verschuldung und zu dem Glauben, Staat und Zentralbank stünden immer als Retter bereit. Es bedarf eines unverzerrten Kapitalmarkts. Der Unternehmer in der Sozialen Marktwirtschaft braucht vor allem die Freiheit und den unverzerrten Wettbewerb — nicht mehr und nicht weniger!
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Soziale Marktwirtschaft - gestern, heute, morgen. Kritische Anmerkungen aus aktuellem Anlass Vortrag aus Anlass des Wechsels im Vorstand der Ludwig-ErhardStiftung, Berlin, 15. Januar 2002 Die Soziale Marktwirtschaft Deutschlands ist in schlechter Verfassung. Die Zeit für eine ordnungspolitisch schlechte Verfassung kann schlechter kaum sein. Denn mit dem Euro stellt sich heute die Frage nach der künftigen Verfassung Europas mit neuem Nachdruck. Und für die nahe Zukunft fordert auch der anstehende Beitritt der mittel- und osteuropäischen Reformländer ordnungs-politische Antworten auf die Frage: Wie muss die Verfassung Europas aussehen, die zur erreichten Währungseinheit und zur angestrebten Einheit in der Außen- und Sicherheitspolitik ebenso passt wie zu Wohlstand und Sicherheit durch die produktive Freiheit und Vielfalt der Bürger Europas? Bei den Weichenstellungen als Antwort auf diese Frage ist im Wettbewerb der europäischen Ordnungskonzepte eine gute Verfassung der deutschen Sozialen Marktwirtschaft gefordert. Ich spreche von schlechter Verfassung Deutschlands in eben dem Sinne, in dem Ludwig Erhard vor 50 Jahren den Deutschen die Gefahren für die geistig-moralische Verfassung der Sozialen Marktwirtschaft vor Augen geführt hat. Mit all seiner Klarheit und mit allem Mut hat Ludwig Erhard die Verantwortung „bei jedem einzelnen selbst" angemahnt: Den Gefahren der schleichenden Sklerose und des schleichenden Verlusts der Freiheit durch Gruppen-Egoismus und Korporatismus könne mit Erfolg nur begegnet werden, wenn jeder seiner Verantwortung gerecht wird — der Bürger als Wähler, als Vorbild in seinem persönlichen Wirkungskreis und als Politiker. Alle ordnungspolitische Weitsicht Ludwig Erhards in der Tradition von Wilhelm Röpkes „Gesellschaftskrisis der Gegenwart" (1942) hat nicht verhindern können, dass die Soziale Marktwirtschaft in so schlechte Verfassung wie heute geraten konnte. Das hat nicht einmal die wachrüttelnde Provokation im Titel seines Beitrags verhindert: „Massenmenschen aus eigener Schuld". Gemessen an dieser Provokation, war sogar Ludwig Erhards Umgangston in der Kartell-Kontroverse mit Fritz Berg nahezu vornehm zurückhaltend. Und Ludwig Erhard nannte für seine Provokation den heute wieder so aktuellen Grund: „Der demokratische Staat hat nur so lange Bestand, als er von freien Menschen in Eigenverantwortung getragen wird." Ich ergänze diese politische Dimension des Problems um die bei Interdependenz der Ordnungen selbstverständliche wirtschaftliche und soziale Dimension: Die Soziale
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Marktwirtschaft kann nur so lange gut funktionieren, als sie von freien Menschen getragen wird. Die Soziale Marktwirtschaft als konkretes Wirtschaftssystem Deutschlands funktioniert heute schlecht. Präziser: Seit sich das konkrete Wirtschaftssystem nicht mehr dem Erhardschen Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft genähert, sondern davon in entscheidenden Bereichen zunehmend entfernt hat, konnte die Soziale Marktwirtschaft nicht gut funktionieren. Ludwig Erhard wusste, warum er schon 1952 die Köpfe der Deutschen mit seiner Art von provozierendem „Ruck-Aufruf wach halten wollte gegen die Gefahren für Freiheit und Eigenverantwortung in der Gefälligkeitsdemokratie. Denn Ludwig Erhard war auch bewusst: Die Marktwirtschaft ist robust, und das ist eine Stärke, die auch Gefahren birgt. Denn die Marktwirtschaft kann einzelne Mängel an ihrem Fundament und dazu noch selbst starke Belastungen lange aushalten, bevor der Bürger die Symptome der Gesellschaftskrise zu spüren bekommt, bevor diese Symptome z.B. als verfestigte Dauer-Arbeitslosigkeit und als erdrückende Abgabenlast in den Statistiken erscheinen. Das machte Ludwig Erhards Wachrütteln, seine Appelle, den Anfängen der Gefälligkeitspolitik für Sonderinteressen zu wehren, zwar umso dringlicher. Aber schon damals nach 1952 galt: Weil die Wähler erst viel später die schlechten Früchte früh gesäter Gefälligkeitspolitik verdauen müssen, werden rechtzeitige Appelle nicht ernst genommen. Und je länger die Zeit zwischen Saat und Ernte ist, desto leichter können sich Bürger und Politiker gegenseitig und sich selbst belügen, wenn es um die Ursachen guter oder schlechter Früchte geht. Das undurchschaubare UmverteilungsDurcheinander des deutschen Steuer- und Sozialsystems bietet dafür allen Spielraum und systematisch falsche Anreize. Ich komme darauf zurück. Dass die Zeit lang genug für kaum merkliche Veränderungen der Verhaltensweisen als Reaktion auf die Fehlanreize wurde, dafür sorgte eben auch die Robustheit der Marktwirtschaft. Denn der Motor der Marktwirtschaft lief noch rund genug — nicht zuletzt durch die frische Luft und den Geist von „Deutschlands Rückkehr zum Weltmarkt" unter Ludwig Erhard. So lange konnte sich trotz Schwindsucht bei der Anpassungsfähigkeit die Bilanz der Sozialen Marktwirtschaft zumindest im internationalen Vergleich noch sehen lassen. Rechtzeitige Warnungen vor den Folgen mangelnder Beweglichkeit im internationalen Standortwettbewerb hatten da keine Chancen. Und die guten Früchte robuster Marktwirtschaft schrieben sich andere zugute — auch die Verantwortlichen für Gefälligkeitspolitik. So hatten sich die Funktionsbedingungen der Marktwirtschaft bereits rapide verschlechtert, bevor noch hohe und zunehmend verfestigte Arbeitslosigkeit Anfang der 80er Jahre den wahren Zustand der Sozialen Marktwirtschaft unübersehbar
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machte. Über fast drei Jahrzehnte hatten sich in Deutschland Verhaltensweisen verbreitet und verfestigt, die so stark die Funktionsfähigkeit der Marktwirtschaft beschädigten, dass in einem strengen Sinne die Marktwirtschaft nicht mehr sozial sein konnte: Wenn Dauer-Arbeitslosigkeit für Millionen ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung verhindert, dann kann das nicht sozial sein. Wilhelm Röpke hat vor allem in seiner ordnungspolitischen Analyse des 18. und 19. Jahrhunderts den Schleier der Verwirrung, der sich über solche fundamentalen Veränderungen ausbreitet, mit der „historischen Interferenz" erklärt. Für die Jahrzehnte nach Ludwig Erhards Wachrütteln von 1952 heißt das vereinfacht und angelehnt an ein bei Röpke oft wiederkehrendes Bild: Während die Bürger noch immer die Früchte guter Saat und Kultivierung der Vergangenheit ernten, wird der Humus der Bürgertugenden rar, und immer neues Unkraut breitet sich im Garten der Marktwirtschaft aus. Zu dieser Interferenz trug auch bei, dass nach Ludwig Erhard vorübergehend ein neuer Stil der Wirtschaftspolitik als Mainstream dominierte. Zumindest passte das Langfristdenken der Ordnungspolitiker immer weniger zur kurzen Frist des Denkens von Wahltermin zu Wahltermin. Da konnte man ordnungspolitische Kassandras nicht gebrauchen. Dazu passte eher der neue globale Mainstream von „Machern", von keynesianischen Sozial- und Wirtschaftsklempnern. Das begann bereits, bevor noch mit dem MITI sogar die Dauer-Allianz zwischen Wirtschaftspolitik und organisiertem Sonderinteresse als bessere Zukunft für die Soziale Marktwirtschaft ernsthaft empfohlen wurde. Anfängliche Skepsis gegenüber punktuellem Interventionismus und eher instinktive Zweifel an solcher Machbarkeit bei Wirtschafts-Laien unter den Politikern waren schnell vergessen. Auch bis heute ist z.B. jede Spritze Kaufkraftstärkung just in time zu Wahlterminen willkommen. Die Kaufkrafttheorie der Löhne kann dabei getrost in der Mottenkiste bleiben. Es reicht, wenn wichtige wirtschaftliche Kennzahlen zur Arbeitslosigkeit oder zum Wirtschaftswachstum wenigstens so weit und so lange aufgebessert werden, dass sich die politische Bilanz einigermaßen frisieren lässt. Dann stört punktuelle Intervention einen Kanzler wenig — ob nun gerade in der Rolle als aktiver Macher oder mit der ruhigen Hand. Aber die ordnungspolitischen Kassandras stören dann umso mehr. Das änderte sich auch kaum, seitdem die Entzauberung keynesianischer Machbarkeit in den 70er Jahren Hans Friderichs bei seiner Synthese von „Mut zum Markt" und Ordnungspolitik mit besserer „Globalsteuerung" half. Und Hans Friderichs forderte nachdrücklich zum Umdenken gegen Verhaltensweisen und Einstellungen auf, die klar in Richtung auf Anspruchsinflation liefen. Aber der politische „Leidensdruck" steigender Arbeitslosigkeit, steigender Preise, steigender Abgabenlast und Neuver-
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schuldung genügte damals jedenfalls noch nicht für ordnungs-politische Reformen, die verfestigtes Anspruchsdenken und starre Arbeitsmärkte hätten aufbrechen können. So waren vor der Wende zur marktwirtschaftlichen Erneuerung von 1982 bereits 30 Jahre seit Ludwig Erhards Warnungen vor den Anfängen schleichender Erosion von Freiheit und Eigenverantwortung vergangen. Und 1982 hatte die LudwigErhard-Stiftung schon 15 Jahre auch da Kurs gehalten, wo es um die Symbiose von Bürgergeist, Marktwirtschaft und Moral in der Sozialen Marktwirtschaft ging. Wenn den Anfangen nicht ordnungspolitisch gewehrt wird, hat es auch die politische Gestaltung der konstituierenden Bedingungen für die Soziale Marktwirtschaft doppelt schwer: Die Medizin der marktwirtschaftlichen Erneuerung ist umso bitterer, wenn der für eine Wende nötige „Leidensdruck" erst durch schwere internationale Schocks groß genug werden muss. Und die Widerstände gegen marktwirtschaftliche Erneuerung lassen sich leichter organisieren, wenn selbst bittere Medizin keinen schnell spürbaren Erfolg verspricht, weil die Marktwirtschaft nicht mehr voll auf den Trumpf ihrer hohen Anpassungsfähigkeit setzen kann. Denn die Anpassung leisten oder verweigern die Bürger, je nachdem, an welche Anreize des Wirtschafts- und Sozialsystems sie gewöhnt wurden. Das Krisen-Bild des Jöhrschen Schaukelstuhls illustriert die Lage: Als die internationalen Schocks seit Ende der 70er Jahre verstärkt die deutsche Volkswirtschaft trafen, war die deutsche Marktwirtschaft längst nicht mehr der gute, auch harte Stöße verkraftende Schaukelstuhl von früher. Und sie stand auf einer schlechteren Grundlage. Es sind die Bürger selbst, die letztlich den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft ausmachen. Wie gut oder wie schlecht die Bürger gemäß den Spielregeln der Sozialen Marktwirtschaft zu spielen gelernt haben, erinnert an die allerdings viel offenkundigere Entwicklung der deutschen Fußball-Nationalmannschaft. Fast alle Beobachter waren sich im Fußball schon lange genug einig: Die deutsche Mannschaft spielt schlecht, aber dennoch erfolgreich z.B. durch ein Bierhoff-Tor. Die anderen spielen immer besser, schießen aber weniger Tore. Das hat sich nur bei den Tor-Erfolgen umkehrt. Dann hat man es schwer mit der Erneuerung in den Köpfen, bis gutes Spiel wieder zum Erfolg führt. Wenn wir heute eine Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft so dringend brauchen, dann unterscheiden sich Analyse und Konsequenzen daraus im Kern wenig von dem, was 1982 im Wende-Papier richtig war. Die Analyse passte zu Wilhelm Röpkes Interferenz-Überlegungen: „Die gegenwärtig besonders deutliche Vertrauenskrise ist nicht kurzfristig entstanden. Sie muss im Zusammenhang mit tief greifenden gesamtwirtschaftlichen Veränderungen gesehen werden, die zwar zumeist
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schon in einem längeren Zeitraum eingetreten sind, deren volle Problematik aber teilweise erst in den letzten Jahren ... deutlich geworden ist." Und das Wende-Papier gibt am Ende der Forderung nach grundlegender marktwirtschaftlicher Erneuerung Nachdruck im Sinne von Ludwig Erhards Wachrütteln von 1952: „Die Konsequenz eines Festklammerns an heute nicht mehr finanzierbaren Leistungen des Staates bedeutet nur die weitere Verschärfung der Wachstums- und Beschäftigungsprobleme sowie eine Eskalation in den Umverteilungsstaat, der Leistung und Eigenvorsorge zunehmend bestraft und das Anspruchsdenken weiter fördert — und an dessen Ende die Krise des politischen Systems steht." Es wäre zu bescheiden, wenn man ähnlich wie auf der Grabinschrift von Hugo Grotius für die marktwirtschaftliche Erneuerung nach 1982 bekennen würde: „Wir haben vieles versucht, aber nichts erreicht." Immerhin wurde z.B. bis zur deutschen Einheit die Staatsquote um gut 5 Prozentpunkte auf 44,6% gesenkt. Und vor allem wurden in dieser Zeit netto über 2 Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen. Der Bundeskanzler vergleicht in seiner Neujahrsansprache seine ArbeitsplatzErfolge — welche? — mit verlorenen Arbeitsplätzen in „den trüben 80er und 90er Jahren". Da trübt den Kanzler entweder sein Gedächtnis, oder er will eintrüben. Denn er selbst ist ja Unterzeichner des Manifests „Innovationen für Deutschland" mit seinem Lasso-Fang nach dem Wähler der „neuen Mitte" vom Mai 1997. Darin werden nämlich - in wieder anderer Abgrenzung — im Mittelstand „allein durch Neugründungen zwischen 1982 und 1994 5,357 Mio. neue Arbeitsplätze" und „ein beachtlicher Nettozuwachs von 1,409 Mio." gelobt. Tatsächlich trübe waren aber selbst diese 80er Jahre aus einem anderen Grund: Anders als in Neuseeland blieben in Deutschland grundlegende Reformen des Arbeitsmarktes und des Steuer- und Sozialsystems undurchsetzbar. Und im Programm fehlte die Föderalismus-Reform nach dem Subsidiaritätsprinzip ohne Wenn und Aber. Mehr als in anderen Staaten verebbte die Reformwelle nach der Wiedervereinigung. Diese Chance des Aufbruchs wurde nicht für marktwirtschaftliche Erneuerung genutzt. Im Gegenteil. Und so stehen wir heute unter erneut erschwerten weltwirtschaftlichen Bedingungen vor keiner geringeren Aufgabe als dem Versuch einer Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft. Viele Chancen des Aufbruchs zur Einheit sind für Erneuerung vertan worden. Manches mag sich mit besonderen Problemen der deutschen Einheit zwar erklären lassen. Aber politisch ist es damit nichts entschuldigt. Denn dass die Jahrzehnte des realen Sozialismus brauner und roter Farbe in Ostdeutschland nicht ohne Folgen hatten bleiben können, war klar. Umso beeindruckender ist die gewaltige Anpassungsleistung der Ostdeutschen, von denen sich nach wenigen Jahren bereits über 80% der Erwerbstätigen auf einen
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neuen Arbeitsplatz umgestellt hatten. Mangelnde Flexibilität im marktwirtschaftlichen Anpassungsprozess ist vor allem in den alten Bundesländern zu Hause. Das zeigt nicht nur der Vergleich zwischen der Anpassung bei der schwarzen Kohle im Westen und der braunen Kohle in Ostdeutschland. In diesem Wahljahr steht mehr noch als sonst zu befurchten, dass die kurze Sicht auf die aktuellen Wachstumszahlen jedes Interesse an ordnungspolitischem Langfristdenken verdrängt. Für die lange Frist wird es bei Bekenntnissen bleiben, die Folgen verfehlter Bildungspolitik auszubügeln. Hier ist es jedoch bemerkenswert, wie deutlich sich jüngst der Bundespräsident für mehr Wettbewerb in der Bildung ausgesprochen hat. Denn selbst manche Verfechter von mehr politischem Wettbewerb um die bessere politische Lösung im deutschen Föderalismus zögern ja, das Wort „Wettbewerbsföderalismus" zu verwenden. Es muss schlecht stehen um die Idee der Sozialen Marktwirtschaft, wenn schon das Wort „Wettbewerb" für eine ihrer konstituierenden Bedingungen erschreckt, sobald es um die politische Umsetzung von Reformen geht. Denn wo der Bürger beim Sport Zuschauer ist, da darf Wettbewerb für Höchstleistung sogar um die Tausendstelsekunde sein. Gewiss: Wettbewerb in der Wirtschaft birgt auch immer die Gefahr eines Verzehrs moralischer Reserven. Das haben die geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft in aller Klarheit erkannt. Und sie haben sich bei ihrem konsequenten Einsatz für Wettbewerb auf offenen Märkten nicht nur auf die Ordnung des Wettbewerbs beschränkt. Wilhelm Röpke forderte daher „einen um so kräftigeren politischmoralischen Rahmen", ... „einen starken und über den Interessentenhaufen stehenden Staat, eine hohe Wirtschaftsmoral, eine unzersetzte Gemeinschaft kooperationsbereiter, natürlich verwurzelter und sozial eingebetteter Menschen." Der Weg dahin lässt sich in einem Wort zusammenfassen: Subsidiarität. Das ist der soziale Grundgedanke auch beim Wettbewerbsföderalismus: Es muss so viel wie möglich an Gestaltungsfreiheit und Kompetenz dort angesiedelt werden, wo der Bürger nicht nur Zuschauer ist, sondern in Freiheit für sich und seine Nächsten Verantwortung trägt. „Deutschland muss eine größere Schweiz werden", ließe sich das zusammenfassen, angelehnt an Wilhelm Röpkes „Föderalismus, national und international" von 1949. Es wirkt wie einer der vielen Re-Importe deutscher Ordnungspolitik für die Soziale Marktwirtschaft in einer liberalen Bürgergesellschaft, wenn der amerikanische Präsident dies bei seinem Amtsantritt vor fast genau einem Jahr so formuliert hat: „Ich möchte, dass ihr euch wie Bürger verhaltet, nicht wie Zuschauer; verantwortliche Bürger, die Dienstgemeinschaften und ein Land mit Charakter bilden. Denn wenn in einem Land dieser Geist von Bürgertum fehlt, kann auch keine staatliche Wohlfahrt
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helfen." Ich füge hinzu: Wenn dieser Geist fehlt, kann auch die Soziale Marktwirtschaft nicht das leisten, wofür sie Ludwig Erhard wollte. Das neue Jahr hat mit einer privaten Initiative begonnen, die ich begrüße: „Deutschland packt's an". Was werden wir anpacken? Im strategischen Punkt, auf den es mir ankommt, zielt die Initiative — realistisch für ein Wahljahr — allerdings eher auf die kurze Frist, Deutschlands aktuelle Konjunkturschwäche. So heißt es z.B.: „Rezession beginnt in den Köpfen. Und genau da müssen wir sie stoppen." Natürlich muss die Konjunkturschwäche in den Köpfen überwunden werden und nicht durch Warten auf bessere Konjunktur in den USA in der Zuschauer-Rolle des hypnotisierten Kaninchens. Aber wie viele gute Konjunkturen hat Deutschland schon gehabt, ohne dass der Aufschwung für mutige Reformen genutzt wurde! Der Sockel der DauerArbeitslosigkeit hat sich danach verfestigt wie Anspruchsdenken und Gefalligkeitspolitik. Es hat eben nicht nur die Rezession, sondern auch die deutsche Krankheit, die Verweigerung von Reformen, in den Köpfen begonnen. Für eine wieder funktionsfähige Soziale Marktwirtschaft brauchen wir in den Köpfen, was Friedrich Naumann für den Liberalismus so formulierte: „Die Idee des Liberalismus muss erst wieder neu erarbeitet werden. Sie hat im Laufe der Zeit soviel an Klarheit und Magnetismus verloren, dass sie erst wieder wie neues Tageslicht vor der Bevölkerung aufsteigen muss." Wir brauchen also keine neue Soziale Marktwirtschaft, aber eine Renaissance ihrer Idee in den Köpfen der Bürger. Die Ludwig-Erhard-Stiftung hat dafür Vorbildliches geleistet. Was muss die Politik tun, damit die Idee der Sozialen Marktwirtschaft wieder mehr Köpfe der Bürger erreicht, damit die Soziale Marktwirtschaft dann auch wieder besser funktioniert? Die Reform des Föderalismus habe ich bereits angesprochen. Dabei geht es zunächst darum, dass die deutsche Politik überhaupt wieder handlungsfähiger wird, dass der Länder-Wettbewerb um die bessere Lösung in der Bildungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik hilft, Reform-Blockaden zu lösen. Dazu dient Subsidiarität ohne Wenn und Aber, mit größeren Gestaltungsräumen für Bürger-Verantwortung auch in den Gemeinden: Der deutsche Föderalismus braucht Subsidiarität bis zur „fußläufigen Demokratie". Dort gedeihen die Bürgertugenden der Eigenverantwortung und der vorgelebten Solidarität. Bei der Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft geht es eben auch um das, was Hans-Jürgen Beerfeltz „Rückkehr der Werte" nannte. Und die konsequente Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips fördert mehr als jede andere Politik Bürgersinn und moralisch wertvolles Handeln der Bürger, feit den Bürger gegen die Verlockungen der Gefalligkeitspolitik. Mit einer solchen Föderalismus-Reform wird Walter Eu-
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ckens gesamtwirtschaftliches Datum „rechtliche und soziale Organisation" also auf eine sehr komplexe Weise durch Ordnungspolitik verändert: •
Die Staatsverfassung Deutschlands wird in Richtung einer neuen Balance zwischen Einheit und Subsidiarität im Bundesstaat gestaltet.
•
Diese subsidiäre Staatsverfassung fördert die Einheit im Bundesstaat zweifach: durch mehr Handlungsfähigkeit im Gesamtinteresse des Bundesstaates und durch mehr freiwillige Solidarität und Bürgerverantwortung.
Ein Kanzler, der in diesem Sinne die Aufgabe einer Föderalismus-Reform in der nächsten Legislaturperiode angehen würde, hätte gute Aussicht, die Ludwig-ErhardMedaille zu gewinnen. Dieser Kanzler könnte nur übertroffen werden von einem, der neben der politischen Mehrheit auch den Mut hat, die Arbeitslosigkeit ohne Wenn und Aber zu bekämpfen. Mut heißt auch: ohne zaghaften Blick auf wohlorganisierte Sonderinteressen, sondern mit offenen Augen für den sozialen Skandal verfestigter Dauer-Arbeitslosigkeit. Für Millionen Bürger hat das bereits ein Leben ohne Chance auf Rückkehr in das soziale Milieu der Arbeitswelt und der eigenverantwortlichen Vorsorge bedeutet. Dabei liest sich das Rezept für bezahlbare Arbeitsplätze zunächst so einfach wie die verbale Mathematik eines Dreisatzes: 1. Der Kanzler sagt in der Neujahrsansprache: „Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu ermöglichen, ist mir und meinem Kabinett die vordringlichste Aufgabe." Denn alle sind sich einig: Die sozialste Politik heute sind mehr Arbeitsplätze. 2. Gute Wirtschaftspolitik ohne Chance auf Arbeitsplätze für alle gibt es nicht. 3. Daraus folgt Ludwig Erhards Devise: Gute Wirtschaftspolitik ist die beste Sozialpolitik, wenn sie soziale Chancen durch Arbeitsplätze schafft. Damit die Wirtschaftspolitik Chancen auf Arbeitsplätze für alle schaffen kann, ist heute die Reform des Tarifvertragsrechts für Flexibilität und Betriebsnähe notwendige Bedingung. Es kann den Arbeitnehmern insbesondere zugetraut werden, dass sie das Günstigkeitsprinzip in § 4 Absatz 3 Tarifvertragsgesetz sehr wohl auch im Interesse der Sicherheit ihrer Arbeitsplätze im Betrieb auslegen können. Dem mutigen Gesetzgeber und dem Kanzler legt das Bundesverfassungsgericht dabei jedenfalls keine Hürden der Tarifautonomie in den Weg. Das Bundesverfassungsgericht stellt vielmehr in seinem ersten Leitsatz der Entscheidung vom 27. April 1999 bei der Frage von Lohnsubventionen klar: „Gesetzliche Regelungen, die befristet Zuschüsse für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen an die Vereinbarung von untertariflichen Entgelten knüpfen (Lohnabstandsklauseln), greifen zwar in die Tarifautonomie der Arbeitnehmerkoalitionen ein, können aber zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit gerechtfertigt sein."
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Wer wird an der Tatsache von „Zeiten hoher Arbeitslosigkeit" zweifeln? Wer wird am Kanzlerwort zweifeln: „Arbeitsplätze zu erhalten und neue zu ermöglichen, ist mir und meinem Kabinett die vordringlichste Aufgabe."? Ich weiß: Die Reform des Tarifvertragsrechts ist Teil einer sehr komplexen Reform des deutschen Steuer- und Sozialsystems mit dem ordnungspolitischen Kern des Trennungsprinzips. Der Marktbereich der Wettbewerbspreise, sei es auf dem Arbeitsmarkt oder bei Gesundheitsleistungen, muss vom sozialen Bereich solidarischer, zielgenauer Hilfe getrennt werden. So sah es z.B. der Kronberger Kreis in seinem Wende-Konzept einer „Bürgersteuer" vor: Produktivitätsgerecht niedrige Lohnsätze auf dem Arbeitsmarkt werden aufgestockt zu ausreichenden Löhnen durch die Eigenleistung von mehr Arbeitsstunden und durch Lohn-Zuschüsse als Negativsteuer. Damit sich im Niedriglohnbereich nicht nur Sozialhilfe mit und ohne Schwarzarbeit lohnt. Ohne Chancen für alle auf dem Arbeitsmarkt wird es keine die Bürger überzeugende Renaissance der Sozialen Marktwirtschaft geben. Wie komplex auch immer die dafür notwendigen Reformen von der Bildungspolitik bis zur Senkung der Zwangsabgabenlast sein mögen: Es muss ein Anfang bei der Reform des Tarifvertragsrechts gemacht werden. Keinem Kanzler ist dies bisher gelungen. Das ist keine schlechte Motivation für Mut zur Tat.
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Deutschland in der Krise - Auswege, Perspektiven „Offenburg Wirtschaftsgespräche 2003" der Volksbank Offenburg, Offenburg, 24. Juni 2003 Ich will Ihnen von einem ganz außergewöhnlichen Land erzählen: Die Vögel in diesem Land flattern gebraten durch die Luft und fliegen den Bewohnern auf Wunsch schnurstracks in den Mund. Die Fische in den Seen sind vorgekocht oder -gebraten und kommen ans Ufer, damit sie leichter gefangen werden können. Süße Leckereien stehen den Bewohnern dieses Landes in ausreichender Menge zur Verfügung, da die Häuser mit Pfannkuchen gedeckt und mit allen nur erdenklichen Süßwaren dekoriert sind. Außerdem gibt es in diesem Land große Wälder, in denen im Buschwerk und auf den Bäumen die schönsten Kleider und Schuhe in allen Farben wachsen. Wer ein neues Kleidungsstück haben will, der geht einfach in den Wald und pflückt sich eins. Kurzum: Es mangelt einem an nichts! Alles, was man sich nur wünschen kann, steht den Bürgern dieses Landes in ausreichender Menge und gegen ein Minimum eigenen Zutuns zur Verfügung. Wohl jeder von Ihnen kennt dieses Märchen, es ist das viel zitierte Märchen vom Schlaraffenland! Generation um Generation wurde es weitergegeben und faszinierte kleine wie große Zuhörer. Schließlich konnte man sich ein Leben in kollektivem Uberfluss bei fast vollständigem Nichtstun nicht vorstellen. Denn soviel stand fest: Wohlstand musste erwirtschaftet werden. Oder anders formuliert: Von nichts kommt nichts. Und so arbeiteten die Deutschen fleißig jahrein, jahraus getreu dieser Einsicht und ließen das Märchen Märchen sein. Dieses Kalkül zahlte sich aus. Seit Jahrhunderten zählte das vergleichsweise rohstoffarme Deutschland zu den reichsten Nationen der Welt. Und selbst nach zwei verlorenen Kriegen stellte sich bereits in den 50er Jahren in Deutschland wieder bescheidener Wohlstand ein, zunächst nur für einige Wenige, später aber auch in breiteren Teilen der Bevölkerung. Einen ersten Höhepunkt fand diese Entwicklung aber Mitte der 60er Jahre: Produktions- und Exportdaten stiegen rasant, während die Arbeitslosenquote 1961 auf den bis dato historischen Tiefststand von 1% sank. Dank erheblicher Lohnzuwächse und einer aktiven staatlichen Sozialpolitik verbesserten sich die allgemeinen Lebensverhältnisse, so dass sich Alltag und Konsumverhalten deutlich veränderten. Ehemalige Luxusgüter wie Fernseher, Auto und Fernreise wurden einem immer größeren Personenkreis zugänglich. Das besondere, ja fast märchenhafte an dieser Entwicklung war aber, dass sich dieser kollektive Wohlstand unter immer geringerer individueller Anstrengung erzielen ließ.
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Arbeitete man früher noch von Morgens früh bis Abends spät, so verringerten sich die Wochenarbeitszeit dank technologischem Fortschritt und unterstützenden demografischen Entwicklungen sukzessive. Und so kann man sagen, dass man die märchenhaften Lebensumstände des Landes des kollektiven Überflusses in diesen Zeiten zwar nicht erreichte, ihnen jedoch näher rückte, als man sich dies jemals vorzustellen gewagt hatte. Aber springen wir nach unserem kleinen Ausflug in die Märchenwelt und Vergangenheit nun in die reale Gegenwart — ins Jahr 2003. Die Bundesrepublik ist eine der drei reichsten Volkswirtschaften der Welt; in Europa nimmt sie sogar den ersten Platz ein. Existentielle Sorgen gibt es nicht mehr. Erscheint dieser Zustand allein schon märchenhaft, so ist er dennoch zu übertreffen. Er wurde nämlich erreicht, obwohl in der Bundesrepublik die Wochenarbeitszeit mittlerweile auf einen Durchschnitt von 39 Stunden gefallen ist. Bei einer angenommenen Schlafzeit von 8 Stunden pro Tag kommen wir so auf 73 Stunden Freizeit je Woche! Erfolgreich konnten wir uns also noch enger an den Lebensstandard des Schlaraffenlandes annähern! Ob wir diesen nahezu märchenhaften Zustand aber auch in Zukunft für uns und unsere Kinder erhalten, geschweige denn weiter ausbauen können, erscheint mir mehr als fragwürdig: Deutschland steckt in einer tiefen Krise — ökonomisch und nicht zuletzt auch politisch. Insbesondere die Entwicklungen in den Bereichen Wirtschaftswachstum, Arbeitsmarktpolitik sowie das ausgeprägte Defizit im Staatshaushalt lassen mich besorgt in die Zukunft schauen. Im vergangenen Jahr mussten wir uns mit mageren 0,2% Wirtschaftswachstum begnügen. Damit belegten wir im europäischen Vergleich einmal mehr den letzten Platz und müssen uns nun endgültig eingestehen, dass andere Länder die internationale Konjunktureintrübung wesentlich besser verkraften als wir dies tun. Und auch die kontinuierlich nach unten korrigierten Prognosen für das laufende Jahr können uns Deutsche nicht aufatmen lassen: Nicht einmal 1% Wachstum traut man uns noch zu! Und selbst eine echte Rezession, die wir in den vergangenen Jahren noch verhindern konnten, ist vor dem Hintergrund der rezessiven Entwicklung, wie wir sie im ersten Quartal erleben mussten, nicht mehr undenkbar. Deutschlands Wohlstand nimmt somit nicht nur mehr relativ, d. h. gegenüber anderen Industriestaaten ab, sondern nähme bei einer echten Rezession auch absolut ab. Deutschland verkommt zum „schwachen Mann Europas". Wir wären wenn sich dies bewahrheiten sollte die erste Generation, die über den Verhältnissen ihrer Kinder gelebte hat. Ein zweites Symptom für den desolaten Zustand der Bundesrepublik ist die erschreckend hohe Arbeitslosigkeit in diesem Lande.
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Deutschland ist derzeit so weit wie nie zuvor von dem wirtschaftspolitischen Ideal Vollbeschäftigung entfernt. Zwar ist der deutsche Arbeitsmarkt seit rund dreißig Jahren durch ein Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage gekennzeichnet man könnte fast sagen, dass eine gewisse Grund-Arbeitslosigkeit zum Dauerproblem unserer aber auch anderer moderner Gesellschaften geworden ist. Aber gerade in den vergangen Jahren hat sich die Schere zwischen denen, die keine Arbeit haben, und der Zahl der offenen Stellen noch einmal massiv geöffnet. Im Mai standen nur noch 28 Millionen erwerbstätige Deutsche 4,3 Millionen Arbeitslosen gegenüber. Beziehen wir neben den Arbeitslosen die Kinder und Rentner in unsere Überlegung ein, so kommen wir sogar auf ein Verhältnis von 28 Millionen Erwerbstätigen gegenüber 54 Millionen Nicht-Erwerbstätigen! Das Prinzip der Nachhaltigkeit ist hier eindeutig verletzt. Eine deutliche positive Wende am Arbeitsmarkt ist darüber hinaus nicht in Sicht. Die Zahl der Arbeitslosen hat sich zwar im Mai gegenüber dem Vormonat um 4.000 Arbeitslose reduziert, von einer Trendwende kann jedoch nicht gesprochen werden. Und so habe ich für die optimistischen Äußerungen unseres Superministers Clement nur eine Deutung: Im Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit klammert man sich mittlerweile an jeden Strohhalm. Damit möchte ich einen gewissen (Zweck-) Optimismus nicht grundsätzlich schlechtheißen. Zur Lösung dieser Probleme reicht er aber nicht aus! Aber lassen Sie mich zum dritten Pferdefuß der deutschen Wirtschaft kommen: Dem beträchtlichen Defizit in den öffentlichen Haushalten. Mittlerweile ist - trotz einiger kurzer, zaghafter Versuche einer Haushaltskonsolidierung — eine Staatsverschuldung von insgesamt fast € 1.250 Milliarden zusammengekommen. Dieser Fehlbetrag wird sich bis zum Ende des Jahres sicherlich noch erhöhen, sind doch die Ausgaben, welche die rot-grüne Regierung vorsieht, durch steuerliche Einnahmen nicht zu decken. Dass eine zu geringe Höhe der Steuerlast hierfür nicht verantwortlich sein kann, muss ich Ihnen gegenüber, sehr verehrte Steuerzahler, sicherlich nicht anmerken. 204 Tage arbeitete der durchschnittliche Deutsche im vergangenen Jahr ausschließlich fürs Steuersäckel. Lediglich die verbleibenden 160 Tage arbeiten wir noch fürs eigene Portemonnaie. Verglichen mit dem EU-Durchschnitt arbeiten wir damit 33 Tage länger für den Staat, verglichen mit dem US-Pendant sogar 81 Tage. Trotz der beschriebenen immensen Steuerquote schwillt das deutsche Haushaltsloch immer weiter an. Diese Entwicklung steht jedoch im krassen Gegensatz zu den Maastricht-Kriterien — mit all den damit verbundenen fatalen Folgen. Denn die mangelhafte Finanzdisziplin mindert nicht nur die Erfolgschancen für den Standort Deutschland, sondern entwickelt sich zunehmend auch zu einer Zerreißprobe für die gesamte europäische Währungsunion. Welch Ironie des Schicksals: Schließlich drängte
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damals gerade Deutschland auf die Erfüllung und strikten Einhaltung sämtlicher Stabilitätskriterien. Die Symptome des Patienten Deutschland sind somit hinreichend klar: Die deutsche Wirtschaft wächst nicht mehr. Dafür steigt die Zahl der Arbeitslosen in diesem Land ungebremst und auch das öffentliche Defizit nimmt immer erschreckendere Ausmaße an. Was aber sind die Ursachen für diese Symptome? Und welche Kur ist die erfolgsversprechendste für eine baldige Genesung unserer Volkswirtschaft? Fragten Sie mich, sozusagen als Hausarzt Ihres Vertrauens, nach den Ursachen des Krankenbildes und nach dem entsprechenden Heilmittel, so erhalten Sie von mir eine klare Antwort. Alle Symptome unseres Wirtschaftssystems deuten auf eine bedenkliche Mangelerscheinung hin: Nämlich auf einen kollektiven Mangel an individuellem Fleiß! Denn die Vermutung unserer Vorfahren, „Von nichts kommt nichts", war die richtige. Ein Mindestmass an Fleiß jedes Einzelnen, zumindest aber einer ausreichend großen Anzahl an Bürgern, sicherte bis heute unseren Wohlstand. Doch das immer nähere Sich-Anlehnen an das liebgewonnene Märchen, erweist sich heute als fataler Irrglauben. Heute zeigt sich, dass unser bestehendes System zunehmend weniger Anreiz zum harten Arbeiten bietet. Als lediglich ein Beispiel hierfür möchte ich Ihnen die Auswirkungen der Entwicklung hin zum Kollektivlohn schildern. Von 100 Euro, die ein Unternehmer einnimmt, fließen mittlerweile bereits 66 Euro, also 2/3, in öffentliche Kassen. Summa summarum verbleiben so lediglich 33 Euro der ursprünglich eingenommenen 100 Euro als Individualeinkommen beim Unternehmer. Konsequente Folgerung aus diesem Beispiel ist, dass sich legale Arbeit nicht mehr lohnt. Dies erzeugt jedoch einen Teufelskreis: Denn je mehr Menschen zu dem Schluss kommen, dass sich Arbeiten in Deutschland nicht mehr lohnt, desto mehr Einnahmen fehlen dem Staat und zwingen ihn zu immer höheren Abgaben. Wie ist Deutschland aber aus der geschilderten Misere zu befreien? Meiner Ansicht nach bedarf es einer fundamentalen Rückbesinnung auf die folgenden drei liberalen Grundwerte: •
Freiheit und Eigenverantwortung,
•
Markt und Wettbewerb sowie
•
Soziale Gerechtigkeit.
Freiheit und Eigenverantwortung verstehen sich von selbst. Es geht darum, dass jeder Mensch über seine eigene Person und alles, was er friedlich und rechtgemäß erwirb, selbst verfugen darf. Wer frei ist, handelt auch eigenverantwortlich. Und dadurch, dass er es tut, handelt er fast automatisch auch wirtschaftlicher. Ludwig
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Erhards großer Lehrer Franz Oppenheimer hat einmal sehr feinsinnig zwei Arten von Erwerb gesprochen. Die eine sei der „ökonomische" Erwerb und der andere der „politische" Erwerb. Bei dem einen zähle Fleiß und Produktivität, während die andere per se parasitär und unproduktiv sei, meinte er. Da ist zweifellos etwas dran. Ein freier, eigenverantwortlicher Mensch kann kaum anders als produktiv sein. Die Freiheit, selbstbestimmt und unter der Achtung der Selbstbestimmung anderer zu handeln, ist der eigentliche Hauptmotor für wirtschaftlichen Fortschritt. Sie ist auch der Kernbegriff der Marktwirtschaft. In diesem Sinne muss natürlich die Politisierung unseres Wirtschaftslebens besorgniserregend sein. Statt das zu schaffen, was eine gute Wirtschaft schaffen soll, nämlich Produktion und Arbeit, legt die vom Staat politisierte Wirtschaft den Schwerpunkt auf die arbeitsfreie Rente oder das arbeitsfreie Privileg. „Der Staat", so sagte schon im 19. Jahrhundert der französische Ökonom Frédéric Bastiat, „ist eine große Fiktion, in der jedermann auf Kosten von jedermann zu leben versucht." Markt und Wettbewerb, um das nächste Begriffspaar zu nennen, sind sozusagen das Schmier- und Schubmittel für die Freiheit und die durch entfaltete Produktivität. Der Markt zwingt die Menschen, sich zu verschulden, zu investieren, ihre Leistungen zu verbessern, weil sie sich nur so im Wettbewerb behaupten können. Dadurch wird der Schub erhöht. Gleichzeitig ermöglicht aber die freie Entfaltung des einzelnen innerhalb von Markt und Wettbewerb auch Chancen. Im Gegensatz zur unflexiblen Staatsbürokratie kann der freie Marktteilnehmer situationsbezogenes und verstreutes Wissen nutzen, das einer zentralisierten Staatbürokratie nie zu Verfügung steht. Er nimmt teil am „Entdeckungsprozess" des Marktes, wie Friedrich August von Hayek einmal formulierte. Die Fähigkeit, dieses Wissen zu nutzen, ist sozusagen das Schmiermittel des Marktes. Sie werden überrascht sein, dass ich auch noch die „soziale Gerechtigkeit" als einen der liberalen Grundwerte genannt habe. Sie ist schließlich der Kampfslogan all derer, die gegen Freiheit und Markt zu Felde ziehen. Friedrich August von Hayek hat den Begriff zu Recht als „Wieselwort" bezeichnet, weil er keine klare Bedeutung mehr habe und der Zusatz „Sozial" dem Begriff „Gerechtigkeit" jeden klaren Sinn raube. Gerade wegen seiner Unklarheit lasse sich der Begriff deshalb, so Hayek, für jedes noch so abstruse Partialinteresse zu Lasten der Mitbürger in der Politik einsetzen, um ihm des Anschein höchster moralischer Güte zu verleihen. Insofern hat Hayek im lichte des gegenwärtigen Gebrauchs völlig Recht, dass man den Begriff einfach nicht mehr verwenden sollte. Wenn ich es dennoch tue, dann nur um zu zeigen, dass diejenigen, die den Begriff „soziale Gerechtigkeit" heute so freigiebig verwenden, selbst den verbliebenen Rest an Sinn, den der Begriff ursprünglich nämlich durchaus hatte, verdrehen. Schließlich leitet sich der Begriff „sozial", der hier der Gerechtigkeit beigefügt wird, von „Socie-
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tas", dem lateinischen Wort für Gesellschaft, ab. Und der ganzen Gesellschaft soll schließlich gedient sein - und nicht organisierten Interessen, die politische Macht zu ihren Zwecken missbrauchen. Es geht also um allgemeine und gleiche Regeln, die den Rahmen freien menschlichen Handelns bilden sollen. Dazu gehören Verfassung, Rechtsstaat, aber auch die Wettbewerbsordnung. In diesem Sinne haben die Väter der „sozialen Marktwirtschaft" ihn verstanden, als sie meinten, ein liberaler Staat sei nicht stark, weil er Gruppenegoismen diene, sondern weil er ihnen widerstehen könne. Aber dann wäre die „soziale Gerechtigkeit" zum Gegenteil dessen geworden, was die Politik heute darunter versteht. Sie wäre nichts anderes als Gerechtigkeit. Nach alldem, was ich jetzt gesagt habe, sieht man, dass die es durchaus verständlich ist, dass Menschen auf die Versprechungen derer ansprechen, die mit dem Versprechen „politischen" Erwerbs die Menschen ködern — jedenfalls kurzfristig verständlich. Die Vermeidung von Eigenverantwortung und Wettbewerbsdruck ist immer populär, hat aber immer fatale Folgen. An ihnen leiden wir heute. Und dieses Leiden lässt sich nicht mehr weg retouchieren und ist unübersehbar geworden. Daraus kann man Hoffnung schöpfen. Noch nie zuvor in den letzten Jahrzehnten sahen so viele Menschen ein: Es ist Zeit zum Umdenken.
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Ein ordnungspolitischer Aufbruch für Deutschland Vortrag aus Anlass der Verleihung der Hayek-Medaille in der Aula der Albert Ludwigs Universität, Freiburg, 25. Juni 2004 Selten waren sich Beobachter aus dem Ausland in ihrem Urteil über Deutschland so einig wie heute: Deutschlands wirtschaftlicher und weltpolitischer Sinkflug hält an und wird mit einer harten Landung im Mittelmaß enden, wenn nicht schnell etwas Dramatisches geschieht. Etwas Dramatisches wäre es, wenn heute so etwas wie ein Wunder geschehen würde. Und der alle Erwartungen übertreffende Film-Erfolg „Das Wunder von Bern" scheint aus deutscher Innensicht fast wie eine Bestätigung des Urteils vieler ausländischer Beobachter: Nicht eigene Kraft, nur ein Wunder könne Deutschland noch vor dem Absturz retten. Wirtschaftswunder sind aber noch viel seltener als Fußball-Wunder, wenn es sie überhaupt gibt. Denn der Erfolg von Ludwig Erhard hat mit einem Wunder noch viel weniger zu tun als Sepp Herbergers Weltmeisterschaft von Bern. Der Aufbruch der deutschen Wirtschaft hatte dafür um so mehr mit einer Befreiung der Köpfe durch den Erfolg von Bern zu tun: Auch dieser Erfolg und die Erfolge der Silberpfeile von 1954/55 haben den Deutschen vor 50 Jahren wieder Vertrauen in ihre eigene Kraft gegeben. Woher soll aber heute ein solcher Aufbruch kommen, wo vor allem für Ostdeutschland ein so tiefschwarzer Pessimismus bis in die Reihen des Sachverständigenrates um sich greift? So meinte Professor Bofinger vor 14 Tagen wörtlich: „Mir fällt wenig ein, was die Wirtschaftspolitik noch tun könnte." Das klingt gerade so, als habe die deutsche Wirtschaftspolitik bisher viel getan, für Ostdeutschland, für Deutschland, für Europa. Da aber muss man so genau hinsehen wie auf der Grabinschrift von Hugo Grotius („Ich habe vieles versucht, aber nichts erreicht."), wo er seinen pessimistischen Schlussstrich zieht, er habe letztlich nichts erreicht: Meint Grotius, dass er „viel" versucht habe oder dass er „vieles" versucht habe? In der ordnungspolitischen Tradition Freiburgs ist jedenfalls der Unterschied groß, ob die Wirtschaftspolitik viel versucht oder nur vieles. Mit Brutto-Transfers in Höhe von 1250 Mrd. Euro ist von der Förderung „industrieller Kerne" bis zur neuen Förderung der „Wachstumskerne" und „Leuchttürme" im Osten fast alles versucht worden, was „die Wirtschaftspolitik der Experimente" heute zu bieten hat. Aber auf eine „Verfassung der Freiheit", auf eine „Ordnung in Freiheit" im Sinne des Freiburger Imperativs, warten die Deutschen noch heute, vor allem in Ostdeutschland.
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Das mag hart klingen. Denn es ist auch vieles politisch Vernünftige getan worden, und die Ostdeutschen haben selbst aus manch politischer Unvernunft mit Fleiß und Flexibilität noch viel gemacht. Aber der Mut zu wirklich ordnungspolitischen Reformen für ganz Deutschland hat gefehlt: für eine wirklich föderale Verfassung Deutschlands, für ein Steuer- und Sozialsystem, das die Märkte von Umverteilungsaufgaben entlastet. Einen ordnungspolitischen Aufbruch für Deutschland wird es ohne solche Reformen nicht geben, und Deutschlands Wachstumsschwäche wird noch mehr Handelspartner in Europa und weltweit anstecken als bisher. Davon lenken heute viele selbsternannte Währungsexperten ab, wenn sie mit Stolz auf Deutschlands aktive Leistungsbilanz hinweisen. Daran erkenne man ja, wie hoch in Wirklichkeit die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts Deutschland sei. Wo solche Bewertungen nicht nur einfache politische Decklüge sind, liegt ihre Gefahr in der Unfähigkeit zu ordnungspolitischem Denken. Ordnungspolitik setzt zumindest den Versuch voraus, zu den Ursachen vorzustoßen, z.B. von Deutschlands aktiver Leistungsbilanz. An der schwachen Binnen-Nachfrage als Glied der Kausalkette käme man dann nicht vorbei. Und die Suche nach den Gründen schwacher Binnen-Nachfrage würde bald zur Ursache von Deutschlands Krankheit fuhren: Die Deutschen haben keine Verfassung der Freiheit, die ihre Stärken wieder zur Geltung bringt und die all die Schwächen ausmerzt, die wohlfahrtstaatliche Bevormundung und Versagen in der Bildungspolitik hinterlassen haben. Hier muss jeder ordnungspolitische Aufbruch für Deutschland ansetzen. Denn Ordnungspolitik heißt: 1.
Ursachen-Therapie,
2.
Beachtung der Interdependenz der Ordnungen,
3.
Verzicht auf jede Anmaßung von Wissen und Perfektion — bei aller Strenge der Maßstäbe an die Wirtschaftspolitik.
Man erkennt den Stil der Wirtschaftspolitik schon ganz äußerlich am Anteil langlebiger Gesetze an der Rechtsordnung als Orientierung für Bürger, Rechtsprechung und Politik. Dieser Anteil langlebiger Gesetze wie das Grundgesetz, das Bürgerliche Gesetzbuch, das Handelsgesetzbuch, das Bundesbankgesetz oder z.B. das GWB schrumpft zugunsten kurzlebiger Maßnahmegesetze und Verordnungen. Der Vormarsch kurzlebiger Gesetze ist gleichbedeutend mit dem Rückzug von Ordnungspolitik in Deutschland. Denn diese drastische Verschiebung auf Kosten von Langfristorientierung hat nichts zu tun mit der wichtigen ordnungspolitischen Daueraufgabe, die feine Balance zwischen notwendigem Fluss der Gesetzgebung und notwendiger Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung nachzujustieren. Dieser Verfall von Ordnungspolitik in Deutschland begann auch nicht erst mit dem Reformstau im Steuersystem, auf dem Arbeitsmarkt, in der Alters Sicherung, dem
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Gesundheitssystem und der Bildung. Die Flickschusterei als Ersatz für grundlegende Reformen in all diesen zentralen Feldern hat allerdings den Verfall von Ordnungspolitik in den letzten acht Jahren kräftig beschleunigt: Für die einzelnen Bürger und für die Wettbewerbsstärke Deutschlands insgesamt. Nirgendwo ist dieser Verlust von Nachhaltigkeit und Langfristorientierung der Politik für PlanungsSicherheit und Aufbruchstimmung der Deutschen klarer ablesbar als im Steuerrecht. Seit den Klagen, dass keine zehn Steuerexperten auch nur das deutsche Einkommensteuerrecht durchschauen können und dem Ruf nach einer drastischen Vereinfachung des Steuerrechts ist das Steuerrecht in den letzten Jahren noch undurchschaubarer und kurzlebiger geworden. Wo Planungs Sicherheit der Bürger für eigenverantwortliche Vorsorge so entscheidend ist wie in der Alterssicherung und in der Gesundheitsvorsorge, da lähmt heute stattdessen die Verunsicherung der Bürger wie noch nie. Das umso lautere, inflationäre Beschwören der Politik von neuer „Nachhaltigkeit" und „Zukunftsfähigkeit" in den Medien begleitet diese tiefe Verunsicherung als Krisensymptom bis hin zur Lächerlichkeit. In all dieser Verunsicherung werden heute sogar Stimmen laut, dass noch am ehesten die Verschiebung der Gesundheitsreform weitere Verunsicherung der Bürger vermeiden könne, gewissermaßen als dritt-, viert- oder fünftbeste Lösung für Ruhe als erste Bürgerpflicht. Wenn solche Resignation selbst Professor Rürup erfasst, dann ist es höchste Zeit für einen ordnungspolitischen Aufbruch in Deutschland. Seit die Wohlfahrtsökonomik der fünfziger Jahre Second-Best-Lösungen hoffähig machte, hat es die praktische Politik allzu oft nur bis zu allenfalls drittbesten Lösungen gebracht. Denn diese wohlfahrtsökonomischen Theorien haben es Politikern erleichtert, halbwegs guten Gewissens dünne Bretter zu bohren. „Second Best" verführt leicht dazu, als ein politisch angeblich unabänderliches Datum hinzunehmen, was in Wirklichkeit Gegenstand von Ordnungspolitik ist: Datenänderungspolitik als beste Politik; das ist Politik, die wieder an der Ursache unserer Probleme ansetzt. Mein Ceterum censeo bleibt die Reform des deutschen Föderalismus als Kern eines ordnungspolitischen Aufbruchs für Deutschland: Das ist die Reform für Reformfahigkeit auf allen Feldern, auf denen die Deutschen heute umso mehr gefordert sind: für ihre innere Einheit, in der erweiterten Europäischen Union und im globalen Wettbewerb. Den Geist und die Kraft dafür traue ich den Deutschen zu. Beim Mut der Politiker zu diesen Reformen, die Pflicht, Anstand und Verstand gebieten, habe ich aber noch Zweifel. In beidem, im Vertrauen in die Bürger und im noch nicht beseitigten Zweifel am Mut aller politisch Verantwortlichen, hat mich jüngst ein Vortrag meines Freundes Richard W. Fisher bestärkt, am 9. Juni auf der Jahres-
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tagung der Atlantik-Brücke. Das war also nach dem Tod von Ronald Reagan und vor der Europawahl mit ihren Folgen für das weitere Schicksal der Agenda 2010. Gerade hier in Freiburg will ich aber zunächst Euckens und Hayeks Geist des Hauses nutzen, um Politikern allgemein — und besonders in der Bundesstaatskommission — Mut zu machen, ohne sie über die Schwere ihrer Aufgabe hinweg zu täuschen. Manchem Sachverständigen in der Kommission könnte es auch helfen, Ordnungspolitik in der einfachen Sprache Walter Euckens zu begreifen, die mitunter etwas vom Charme einer Physik-Stunde in der „Feuerzangenbowle" hat: „Keine Maschine entsteht so, dass man willkürlich einzelne Guss-Stücke, Räder oder Röhren zusammensetzt. Die Maschine ist als Ganzes ein Zweckgebilde, und der Zweck erfordert, dass alle Teile in bestimmter Weise zusammengreifen. Auch die Wirtschaftsordnung ist ein Zweckgebilde, freilich ganz anderer Art. Wenn Wirtschaftspolitik punktuell getrieben wird, Stück für Stück, kasuistisch und fragmentarisch, dann handelt der Staat so wie der Mann, der willkürlich Eisenteile zusammensetzt." So biblisch einfach warnt Walter Eucken im dritten Buch seiner „Grundsätze der Wirtschaftspolitik" im Abschnitt „Ursachen des Scheiterns". Entsprechend kann man eine Verfassung für Handlungsfähigkeit, Freiheit und Bürgemähe im Bundesstaat nicht punktuell angehen, mit einer Entflechtung und einer Stärkung der Landtage nur bei den Aufgaben, die Frage der Entflechtung und Autonomie in der Finanzverfassung aber ausklammern, aus Angst schon vor dem bloßen Wort „Wettbewerb". Damit verlange ich nicht, dass die Bundesstaatskommission ein solch komplexes Problem interdependenter Ordnungen der bundesstaatlichen Verfassung schon dieses Jahr löst - und schon gar nicht vollkommen. Da machen Eucken und Hayek den Politikern und ihren sachverständigen Beratern Mut. Eucken macht das mit Immanuel Kants berühmtem Zitat, das zur Föderalismus-Reform besonders gut passt: „Diese Aufgabe ist daher die schwerste unter allen; ja ihre vollkommene Lösung ist unmöglich: Aus so krummem Holze als woraus der Mensch gemacht ist, kann nichts Gerades gezimmert werden. Und nur die Annäherung zu dieser Idee ist uns von der Natur auferlegt". Hayek stellt als ähnlichen Leitgedanken seiner „Verfassung der Freiheit" ein Zitat von Algernon Sidney voran: „Wir suchen nicht nach Vollkommenheit, da wir nur zu gut wissen, dass diese in menschlichen Dingen nicht zu finden ist, sondern nach jener Verfassung, die von den geringsten oder entschuldbarsten Unzulänglichkeiten begleitet ist." Ich weiß sehr wohl, wie weit nach so mancher „handwerklichen Panne" und systematischen Flickschusterei der Politik die Entschuldbarkeit von Unzulänglichkeiten gedehnt werden könnte. Immerhin: Auch im Umgang mit Fehlern der Politik haben
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die Deutschen noch „Maß und Mitte" zu lernen. Aber die Verbindung dieser ermutigenden Zitate mit dem strengen ordnungspolitischen Postulat sollte Politikern Mut machen, zumindest den ehrlichen Versuch einer Gesamtordnung aus einem Guss der Freiheit zu wagen. Das gilt für die Föderalismusreform ebenso wie für alle Reformen des Bildungssystems und des deutschen Steuer- und Sozialsystems: Punktuelle Korrekturen, Interventionen und Gängelungen der Bürger gehören jedenfalls nicht zu den „geringsten oder entschuldbarsten Unzulänglichkeiten". Die Fortsetzung punktueller Reparaturen wäre Kapitulation vor den Aufgaben, deren Notwendigkeit kein politisch Verantwortlicher leugnet. Deutschlands Not, die es zu wenden gilt, hat Botschafter Richard W. Fisher mit einer Klarheit beschrieben, die einen Texaner mit fast 30 Jahren internationaler Erfahrung und Liebe zu Deutschland auszeichnet. Er fühlt und bewundert noch immer die Größe und Kraft, die in den Deutschen steckt, aber er erkennt Deutschland und die Deutschen nicht wieder, die er noch in der Nacht vom 2. auf den 3. Oktober 1990 — auf den Stufen des Reichstags stehend — erlebt hat. Mit diesem Abstand der Zeit, mit der Nähe seiner Freundschaft und aller Erfahrung kosmopolitischer Urbanität des Diplomaten erlebt er Deutschland heute als ein ökonomisch geschwächtes Land, das trotz aller Ansätze in der Agenda 2010 vom Rückfall in das „Weiter so!" bedroht ist. Damit gefährde Deutschland den Wohlstand Europas, die Atlantische Allianz und das globale ökonomische Gleichgewicht. Es ist zwar wahr, was gerade deutsche Politiker als unersetzlichen Fortschritt herausstellen: Wir sind heute in Europa umzingelt von Freunden und können uns den Luxus erlauben, das für ein paar Stunden bei der Fußball-Europameisterschaft zu vergessen. Aber es gehört eben auch zur ganzen Wahrheit, woran Botschafter Fisher wie Hans Willgerodt vor einigen Jahren erinnerte: Diese Welt ist voller pfiffiger Wettbewerber. Von Estland bis Indien und China, von Irland bis Amerika und Japan sind Menschen begabt und fleißig, aber auch hungrig auf Freiheit und Wohlstand, wie es die Deutschen jedenfalls nach den Zweiten Weltkrieg waren, wie viele es wohl auch heute noch sind. Dafür muss die politische Führung den Deutschen eine Verfassung der Freiheit geben. Sonst erzwingt der Wettbewerb all dieser begabten und fleißigen Menschen den Anfang vom Ende der Politik des „Weiter so!" zu weitaus höheren Anpassungskosten und bei weitaus niedrigerem Wohlstand der Deutschen. Noch ist die politische Führung in Deutschland weit davon entfernt, den Deutschen die Vision einer marktwirtschaftlichen Erneuerung durch die Kraft der Freiheit zu geben. Diese Vision, die ein Volk inspirieren kann, ist möglich. In einer ökonomisch und psychologisch ähnlich schwierigen Lage ihrer Staaten ist es Ronald Reagan und Margaret Thatcher gelungen, dass Amerikaner und Briten wieder an ihre Stärken
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glaubten. Das ist gelungen trotz aller ökonomischen Fehler, die dabei gemacht wurden und die ich vor allem in der Handelspolitik durchaus nicht zu den „entschuldbarsten Unzulänglichkeiten" rechnen würde. Die Antwort politisch Verantwortlicher in Deutschland und Europa liegt immer noch zu nahe an der Forderung nach einer Mindeststeuer in den neuen EU-Ländern. Mit dieser Defensiv-Strategie und dem „Weiter so!" bei der Volksverdummung haben jedenfalls Politiker fast aller Parteien, der DGB-Chef und ausgerechnet der Beitrittskommissar Verheugen Europa- Wahlkampf gemacht. Bei so viel Macht der Dummheit in der Welt wäre das als Versuch der Volksverdummung schon schlimm genug. Wie viel schlimmer auf Erden wäre es aber, wenn es bei den Forderungen nach Mindeststeuern in der EU nicht um wohlfeile politische Lügen ginge, wenn also die von Politikern verbreitete Angst vor SteuerWettbewerb echt wäre? Im Himmel mag Dummheit ja noch verziehen werden, auf Erden bezahlen aber Menschen für politische Dummheit oder Mutlosigkeit. Denn das sollte jedenfalls zum Grundwissen eines jeden politisch Verantwortlichen gehören: Wettbewerb um die bessere politische Lösung schließt Solidarität nicht aus: weder bei der sozialen Sicherung noch im Bundesstaat. Und dass Wettbewerb einen rechtlichen und institutionellen Rahmen braucht, gehört zu den ElementarDefinitionen marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik. Das Bekenntnis zum Ordnungsrahmen für Wettbewerb hat gegen manche Fehldeutung im Übrigen auch Eucken und Hayek geeint. Wenn so viel bekannt wäre, wenn vielleicht auch noch etwas Wissen um das Problem des optimalen Steuersatzes vorausgesetzt werden könnte, ein wenig Swiftsches Steuer-Einmaleins mit einer LafferKurve für die Anschaulichkeit, dann dürfte die Angst vor Steuerwettbewerb auch in der Bundesstaatskommission nicht den Weg zu einer wirklich föderalen Verfassung verbauen. Wohin die Angst vor Steuerwettbewerb bei der Bundesregierung führt, zeigt folgender Vorgang. Am 2. Juni veranstalteten die Heritage Foundation, das Center for Freedom and Prosperity und die Friedrich-Naumann-Stiftung einen Roundtable zum Thema „Tax Competition" mit Vorträgen unter anderem von Mitarbeitern des Weltwirtschaftsinstitutes in Kiel, der Stiftung Marktwirtschaft, der slowakischen Hayek-Foundation und anderen. Diese Veranstaltung war Gegenstand einer Fragestunde des Deutschen Bundestages, in der die Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesministerium der Finanzen wörtlich erklärte: „Es wird von den Veranstaltern dieser Konferenz mindestens übersehen, wenn nicht sogar billigend in Kauf genommen, dass auf diese Weise auch Geldwäsche und kriminelle Aktivitäten an den Finanzmärkten geschützt werden, wenn man jeglichen Informationsaustausch auf gesetzlicher Grundlage ablehnt." Soviel zur Diskussions-Kultur in unserem Lande.
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Bei der Reform des deutschen Föderalismus geht es nicht nur um wirtschaftliche Effizienz. Zwar sollte keiner wirtschaftliche Effizienz gering schätzen, wenn er es mit Solidarität für die tatsächlich Schwachen wirklich ernst meint. Aber noch wichtiger ist Föderalismus in Deutschland, in Europa und international als Grundlage einer Zivilgesellschaft, die durch Bürgernähe der Politik auch die Tugenden bürgerschaftlichen Engagements stärkt, die lehrt, wie Konflikte gewaltfrei ausgetragen werden können, die Eigenverantwortung und freiwillige Solidarität stärkt. Eine noch so gut geschriebene Verfassung wird keine Verfassungswirklichkeit der Freiheit und Verantwortung ohne das „innere Dazutun der Bürger", wie dies der große Historiker Jakob Burckhardt formulierte. Aber in einer Welt unvollkommener Menschen, die weder Engel noch Teufel sind, kann eine gute Verfassung dieses „innere Dazutun der Bürger" fördern: durch Randbedingungen und Spielregeln für moralisches Verhalten der Bürger, für die Bildung bürgerlicher Tugenden in einem offenen Prozess des permanenten Lernens im Sinne des Humboldtschen Bildungsideals. Das Begreifen einer moralischen Wertordnung und das Handeln der Bürger gemäß diesen Werten setzt eine Verfassung der Freiheit voraus, die in ihrem Kern von den Bürgern begriffen und bejaht werden muss. Das ist der Beitrag marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik für „Markt mit Moral", der durch kein Ethik-Seminar für Manager ersetzt werden kann, der das Eigeninteresse der Bürger in ihrem Streben nach Glück in den Dienst der Allgemeinheit stellt. Darum geht es bei der so oft zitierten und regelmäßig so falsch interpretierten „unsichtbaren Hand" von Adam Smith. Sie ist die sichtbare Hand der Bürger, die all dies regelmäßig nur bei marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik leisten kann. Diese „unsichtbare Hand", die die sichtbare Hand der Bürger leitet, macht aber auch den engen Zusammenhang von marktwirtschaftlicher Ordnung, Freiheit, Verantwortung und Moral mit einer streng am Subsidiaritätsprinzip orientierten föderalen Verfassung deutlich. Gerade durch Hayek haben wir bei Adam Smith vieles in voller Bedeutung wiederentdeckt, was Voraussetzung für Lernerfolge durch möglichst ortsnahe Information, Kommunikation und Bewertung von Entscheidungen ist. Das gilt gerade auch für die Bildung von Bürgertugenden in einer föderalen Verfassung, die Entscheidungskompetenz und Verantwortung möglichst nahe beim Bürger ansiedelt, im Bereich „seiner Fähigkeiten ebenso wie seines Verständnisses." (Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle). In einer Verfassung, die das beachtet, steht es gut um Bürgertugenden ebenso wie um die Allokation von Arbeit, Kapital und Gütern. Dann wirkt bei Adam Smith „jene Weisheit" oder „unsichtbare Hand" sogar so, dass nicht einmal ein deutscher
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Parteivorsitzender auf den Einfall kommen kann, ein Unternehmer sei ein „vaterlandsloser Geselle", weil er im Ausland investiert. Denn dann ziehen ja relative Informationskosten Kapital so kräftig in das „Mutterland", dass Steuern und Reglementierung dort schon sehr schlimm sein müssen, bevor ein Unternehmer statt dessen Kapital dort anlegt, wo er sich nicht so gut auskennt wie zu Hause. Eine solche Verfassung verbürgt im „Wohlstand der Nationen" zugleich Vorrang des Privaten: „Der einzelne vermag ganz offensichtlich aus seiner Kenntnis der örtlichen Verhältnisse weit besser zu beurteilen, als es irgendein Staatsmann oder Gesetzgeber für ihn tun kann". Um all das geht es bei der „unsichtbaren Hand": in der „Theorie der ethischen Gefühle" und dem „Wohlstand der Nationen" von Adam Smith. Darum muss es auch beim Verfassungsvertrag für Europa gehen. Da darf sich die Diskussion nicht nur auf wichtige Fragen wie die „doppelte Mehrheit" nach unterschiedlichen Modellen beschränken. Bei ordnungspolitischen Anliegen wie der Geldwertstabilität und der Unabhängigkeit des Europäischen Systems der Zentralbanken zeichnen sich Härtungen des Vertragsentwurfs ab, wie sie die Friedrich-Naumann-Stiftung schon forderte, als jede Nachbesserung noch als politisch höchst unkorrektes „Aufschnüren des Pakets" verweigert wurde. Dafür versuchen die gleichen Verweigerer von ordnungspolitischen Härtungen einer künftigen Verfassung die Aufweichung des Verfassungsvertrags bei der Staatsverschuldung. Das ist aber nicht die einzige ordnungspolitische Herausforderung. Auch der italienische Ministerpräsident will nun die Europäische Zentralbank unter Kuratel stellen, wie das schlechte Tradition des DGB bei der Deutschen Bundesbank war und nun bei der Europäischen Zentralbank ist. Bei den industriepolitischen Vorstellungen des französischen Superministers und des deutschen Bundeskanzlers ist zu hoffen, dass dahinter wenigstens aufgeklärter Merkantilismus steckt. Marktwirtschaftliche Ordnungspolitik ist das jedenfalls nicht, genauso wenig wie die Neuauflage der deutsch-französischen Finanz-Achse für EUMindeststeuern, gegen Steuer-Wettbewerb in der Tradition Oskar Lafontaines. Zu all diesen Tendenzen passt, dass auch eine gemeinsame Wirtschaftspolitik inzwischen als notwendige Ergänzung und recht unverhohlen auch als Gegengewicht zur Europäischen Zentralbank gefordert wird. Der im Konventsentwurf ohnehin gestärkten Euro-Gruppe traut man genügend starkes Gegengewicht offenbar noch nicht zu. Es ist also höchste Zeit, dass auch das Tabu fallt, mit dem jede Härtung des Subsidian tätsprinzips im Verfassungsvertrag verhindert werden soll. Denn das stets problematische Signal war in Brüssel zum Regierungsgipfel wieder gesetzt worden: „Europa braucht einen Erfolg." „Augen zu und durch!" darf das beim Föderalismus in Europa nicht heißen. Auf keinen Fall dürfen die alten Praktiken europäischer Kompensation das Subsidiaritätsprinzip in Europa aushöhlen: Wenn Fortschritte in der
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Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik auf sich warten lassen, dann darf die übliche Angst vor europäischem „Stillstand" nicht zu mehr Zentralismus in Europa fuhren, z.B. nicht bei den Steuern und in der Sozialpolitik, nicht mit Keynesianismus, auch nicht mit neuer „Industriepolitik" im alten Schlauch französischer Planification. Zusammengefasst: Mit einigen Nachbesserungen mag der Konventsentwurf akzeptabel sein. Was die Regierungen im Kompromiss unterzeichnen, mag als Grundlage für eine ernsthafte Befassung der Parlamente und der Bürger akzeptabel sein für die Ratifizierung als „Vertrag über eine Verfassung für Europa" in den zwei Jahren nach Unterzeichnung. Aber was heute als Verfassungsentwurf vorliegt, ist ohne Nachbesserungen als eine „Verfassung für Europa" nicht akzeptabel. Hier muss und kann nachgebessert werden. Die übliche Desinformation der Bürger durch fast alle Medien, auf dem Regierungsgipfel in Brüssel habe „die Europäische Verfassung verabschiedet werden können", passt auch zu den Behauptungen, für einen Volksentscheid über eine künftige Verfassung sei es zu spät. Sogar peinlich ist es, wenn ausgerechnet in einer Besprechung der Festschrift für Ernst-Joachim Mestmäcker, den großen Schüler des großen Franz Böhm, im ersten Satz behauptet wurde: „In dieser Woche werden die Staats- und Regierungschefs wohl eine ,Verfassung für Europa' beschließen." Nein: es ist noch Zeit für eine gute Verfassung der Freiheit für Europa. Werner Weidenfeld könnte mit seiner Einschätzung des Mindest-Zeitraums für Nachbesserungen des Vertragsentwurfs oder des Verfassungsvertrags auf dem Wege zu einer „Verfassung für Europa" richtig liegen: Er rechnet mit einer zweiten Runde „in sechs, acht Jahren". Bis dahin hat jedes Land Europas genug zu tun, sein eigenes Haus in Ordnung zu bringen. Es geht in Deutschland und Europa darum, den Bürgern die Verfassung zu geben und durch Ordnungspolitik die Verfassungswirklichkeit zu gestalten, die Bürgertugenden fördert. Diese Tugenden werden es sein, die Europa in Vielfalt einen und stärken. Spätestens der Mangel an europäischer Gemeinsamkeit in der Außen- und Sicherheitspolitik auf dem Balkan und vor dem Irak-Krieg sollte auch davor bewahren, dass gefährliche Rivalität der Nationen nur auf die höhere Ebene Europas gehoben wird. Daran gemessen wären die Töne um Servan-Schreibers „Amerikanische Herausforderung" nur ein kleines Vorgeplänkel zum Zerreißen der transadantischen Wertebindungen. Wenn in einer der renommiertesten Tageszeitungen Deutschlands vor der Europawahl die Europäer vor die Entscheidung gestellt werden, „ob Europa bei der Gestaltung der Welt mitspricht oder ... zum politischen Wurmfortsatz Amerikas degeneriert", dann lässt sich das als Appell an Euro-Chauvinismus kaum über-
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bieten. Hier werden Risse im transatlantischen Bündnis deutlicher, als sie in vielen Äußerungen französischer und deutscher Politiker zumindest durchscheinen. Auch gegen solche Tendenzen steht Hayek. Er steht als Österreicher, als Ordnungspolitiker in Großbritannien und als Ordnungspolitiker auf Walter Euckens Freiburger Lehrstuhl für alle Tugenden, die zur Wertegemeinschaft der liberalen Bürgergesellschaft gehören. Mit seinen österreichischen und amerikanischen Freunden der Mont Pèlerin Society hat er sich für diese Wertegemeinschaft auch in den Vereinigten Staaten verdient gemacht. Mein Freund, Botschafter Richard W. Fisher, schloss in diesem Geiste seine Rede vor der Atlantik-Brücke mit einem Rat an die politische Führung Deutschlands. Ich möchte am Ende meines Vortrags diesen eng an die Bibel angelehnten Rat wörtlich wiederholen: „Germany's leaders need now to inspire the people of this great country by deeds, in addition to words. So, come, be serious and discipline yourselves. For the sake of Europe, the Adantic Alliance, and of the world. And ours. Get on with it. Now."
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Globalisierung: Mächtige Wirtschaft - Machtlose Politik? Vortrag auf der 1901 Economic Conference, 1. Dezember 2004, Zürich Verliert die Politik heute, im Zeitalter der Globalisierung, wirklich an Macht und werden die Unternehmen immer mächtiger? Diese Behauptung ist inzwischen so zum Allgemeinplatz geworden, dass kaum noch genauer nach ihrem Wahrheitsgehalt gefragt wird. Es lohnt sich also — wie so oft bei populären Aussagen in der Politik — genauer hinzusehen. Schnell drängen sich dabei weitere Fragen auf: Ist der behauptete Machtverlust überhaupt ein Grund zur Besorgnis? Wie muss eine Politik aussehen, die die Chancen der Globalisierung nutzt und zugleich mit dem Prinzip der individuellen Freiheit vereinbar ist? Bei den Anregungen, die ich Ihnen heute Abend zur Beantwortung dieser Fragen geben möchte, werde ich mit der Politik innerhalb der Nationalstaaten beginnen und anschließend auf die politischen Herausforderungen eingehen, die es auf globaler Ebene gibt. Eine Beobachtung ist richtig und scheint die These vom Machtverlust der Politik zu bestätigen: Die traditionellen Institutionen des Sozialstaates geraten zunehmend unter Druck, Steuersysteme sind verstärktem internationalen Wettbewerb um Investitionen und um Leistungsträger ausgesetzt. Man kann das beklagen. Doch nicht jeder Verlust an politischer Macht ist aus einer freiheitlichen Perspektive negativ zu bewerten — ganz im Gegenteil. Es zeigt sich, dass der Entscheidungsspielraum der Politik hauptsächlich dort eingeschränkt wird, wo es in den westlichen Wohlfahrtsstaaten in den letzten Jahrzehnten dramatische Fehlentwicklungen gegeben hat. Die Expansion des Sozialstaates von einer Grundsicherung gegen große Risiken hin zu einem Rundum-Versorgungspaket war genauso ein Irrweg wie ein Steuersystem, das in den meisten Ländern immer komplizierter und leistungshemmender wurde. Ihr Land, die Schweiz, konnte sich, wenigstens was Letzteres betrifft, dieser Entwicklung teilweise entziehen. Der zunehmende internationale Wettbewerb hat somit ohne Zweifel eine positive Wirkung, wenn er schneller die Probleme aufdeckt, die zwar allen im Prinzip bekannt waren, deren Lösung aber immer wieder auf die lange Bank geschoben wurde. Die auf Kosten kommender Generationen finanzierten Alterssicherungssysteme müssen so weit wie möglich auf ein Kapitaldeckungssystem umgestellt werden. Bei den Krankenversicherungen muss es mehr Wahlfreiheit, Wettbewerb und Eigenverantwortung geben. Die öffentlichen Haushalte müssen ins
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Gleichgewicht gebracht werden. Doch all das müsste auch ohne die Globalisierung geschehen, schon allein um unseren Nachkommen nicht vollkommen unzumutbare Lasten zu hinterlassen. Politische Fehlentscheidungen sind also die Ursache für die Zwänge, in die sich Deutschland und viele andere westliche Industriestaaten gebracht haben, und nicht der Prozess der Globalisierung. Das gilt auch dann, wenn es um die nationalen Wirtschaftspolitiken geht. In den letzten Jahren hat es einen Abbau von Subventionen und Protektionismus gegeben, zu dem verschiedene Faktoren beigetragen haben. Das führte tatsächlich zu einer Verringerung der Optionen, die den nationalen Regierungen zur Verfügung stehen. Doch es geht wieder genau um den Verlust derjenigen Handlungsmöglichkeiten, die ohnehin jeder ordnungspolitischen Vernunft widersprachen. Der Prozess des Abbaus von Subventionen und Handelshemmnissen darf nicht gebremst werden, wie es von verschiedenen Profiteuren gefordert wird. Ganz im Gegenteil: wir sollten alles tun, damit er mehr Fahrt aufnimmt. Das ist nicht nur im Sinne einer liberalen Wirtschaftspolitik und damit der langfristigen Mehrung unseres Wohlstandes. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit. Die Chancen für Länder, die erst auf dem Wege zu größerem Wohlstand sind, verbessern sich entscheidend, wenn sie freien Marktzugang erhalten und sich nicht mehr mit hoch subventionierten Konkurrenten aus den reichen Ländern auseinandersetzen müssen. Ein anderes Beispiel für den vermeintlichen Machtverlust der Politik ist der Wettbewerb der Steuersysteme, wie wir ihn derzeit in Europa, aber nicht nur dort erleben. Wenn Estland, die Slowakei oder andere neue Mitgliedsstaaten der EU ihre Steuersysteme radikal reformieren, so ist das erstens ihr gutes Recht und sollte zweitens als Beispiel für andere Länder dienen. So können wir uns von der Steuerreform in der Slowakei einiges abschauen. Damit meine ich nicht einmal so sehr die niedrigen Steuersätze, sondern vor allem die Klarheit und Einfachheit der Regeln. Die Slowakei hat bei der Verabschiedung ihres neuen Einkommens- und Unternehmensteuerrechts nicht etwa Schwäche gezeigt oder vor den Zwängen der Globalisierung kapituliert. Sie hat vielmehr gezeigt, dass einschneidende politische Veränderungen möglich sind, und sie hat gleichzeitig die Grundregeln der Ordnungspolitik befolgt. Sie hat abstrakte und einfache Regeln eingeführt, die sowohl den einzelnen Menschen als auch den Unternehmen Planungssicherheit geben. So werden Wettbewerb und Eigenverantwortung ermöglicht. Doch was haben viele Finanzminister der EU, unter ihnen der deutsche und der französische, dazu zu sagen? Sie verteufeln die Reformen und tun so, als würden die betreffenden Länder mit unfairen Methoden Investitionen anziehen. Sie selbst verteidigen dagegen ein System, das mit unzähligen Ausnahmen und Sonderregelungen
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allen Gruppen irgendwie entgegenkommt, aber letztlich allen schadet, indem es die wirtschaftliche Entwicklung abwürgt. An der vieldiskutierten Frage des Steuerwettbewerbs ist noch etwas anderes wichtig, auf das ich am Ende noch einmal zurückkommen werde. Auch Politik selbst braucht Wettbewerb. Der Wettbewerb ist, um es mit Friedrich August von Hayek zu sagen, das beste Entdeckungsverfahren. Das gilt für politische Institutionen, für Steuersysteme genauso wie für die Sozialversicherungen. Es ist ein großer Vorteil der Globalisierung, dass es leichter geworden ist, von den Erfolgen, aber auch von den Fehlern anderer zu lernen. Es wird schnell von unfairen Praktiken gesprochen, wenn es um andere geht. Tatsächlich tun z.B. die EU und ihre Mitgliedsstaaten noch vieles, damit Unternehmen und ganze Wirtschaftszweige von unseren Märkten ferngehalten werden. Das ist unfair und gleichzeitig ein verzweifelter Versuch, unproduktive Teile der Wirtschaft, die ihre Interessen gewöhnlich laut und machtvoll vertreten können, am Leben zu erhalten. Die Interessen von bestimmten Gruppen in den reichen Industriestaaten werden über die Interessen der Menschen in der übrigen Welt gestellt, denen Chancen genommen werden, ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Alle Beispiele, die oft als Beleg für einen Machtverlust der Politik angeführt werden und die ich bisher diskutiert habe, haben eines gemeinsam: Es geht um Politiken, die mit den Grundsätzen einer liberalen Politik nicht vereinbar sind. Es geht sowohl bei der Sozialpolitik als auch bei Subventionen und Handelshemmnissen um eine Politik, die auf staatliche Umverteilung oder Interventionen in den Markt setzt. Diejenigen, die den Machtverlust der Politik kritisieren, beklagen also vor allem, dass es weniger Spielraum für Staatsinterventionismus und Umverteilung gibt. Das ist aus liberaler Sicht überhaupt nicht zu kritisieren — trotzdem ist diese Position in der Öffentlichkeit populär. Viele Menschen glauben immer noch, dass bei Problemen beliebiger Art Regierungen die richtigen Instrumente hätten, um sie zu lösen. Das zeigt sich schnell, wenn große und bekannte Unternehmen von der Insolvenz bedroht sind oder einzelne Wirtschaftszweige in die Krise rutschen. Dann wird schnell und lautstark politisches Eingreifen gefordert. Gewöhnlich reagieren Politiker damit, dass sie die Lösung des Problems zur „Chefsache" machen. Doch das hat viel mit der Jagd nach Wählerstimmen und öffentlicher Zustimmung zu tun, aber wenig mit einer vernünftigen Politik. Es war eine verhängnisvolle Tendenz der letzten Jahrzehnte, dass viele Menschen zu glauben begannen, Regierungen seien für ein sehr großes Spektrum von Problemen zuständig - von der Altersvorsorge bis zur Sicherheit ihrer Arbeitsplätze.
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Dieses Vertrauen in die Politik musste notwendigerweise enttäuscht werden. Die Globalisierung hat diesen Prozess nur beschleunigt, ihn aber nicht allein bewirkt. Damit ist auch der Weg klar, um dem vermeintlichen Machtverlust entgegenzusteuern: Die Parlamente und Regierungen müssen sich wieder mehr darauf konzentrieren, ihrer Hauptaufgabe gerecht zu werden: einfache und verlässliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die es den Bürgern ebenso wie den Unternehmen ermöglichen, in eigener Verantwortung zu handeln und produktiv zu werden. Gleichzeitig sollten sich die die Parlamente wieder mehr Macht von den Regierungen und deren Beamtenapparaten zurückholen. Zur Lösung des Problems gehört auch, sich von den verschiedenen Interessengruppen unabhängiger zu machen. Es ist klar, dass das alles andere als einfach ist. Doch aus meiner Sicht ist es der einzige Weg, unseren entwickelten Demokratien langfristig Chancen im weltweiten Wettbewerb zu erhalten. Es ist auch der einzige Weg, auf dem politische Entscheidungsträger ihrer Verantwortung gegenüber dem ganzen Volk gerecht werden können. Dem steht die in vielen Ländern vorherrschende Befriedigung von Gruppeninteressen entgegen, die auch von den Unternehmen kraftvoll vorgebracht werden. Das führt uns wir zum zweiten Teil der Frage, die uns am heutigen Abend beschäftigt: Wird „die Wirtschaft", werden also die Unternehmen immer mächtiger? Auf den ersten Blick finden wir viele Indizien, um diese Frage mit ja zu beantworten. Wir kennen sie zum Teil aus den Klagen über den Machtverlust der Politik. Aber immer noch erhalten bestimmte Wirtschaftszweige gewaltige Subventionen oder werden durch Zölle oder andere Handelshemmnisse vor Konkurrenz geschützt — schauen wir nur auf die Werften in Europa oder die Stahlindustrie in den USA. Das sind nur zwei Beispiele unter viel zu vielen. Auch bei Investitionen werden gerade in so genannten strukturschwachen Gebieten gewaltige Zuschüsse gezahlt. Man sollte sich keinen Illusionen hingeben, was wirtschaftspolitische Präferenzen von Unternehmen angeht. Das freie Unternehmertum ist die Basis der Marktwirtschaft und auch — das wird oft vergessen — eine der Grundlagen einer freien Gesellschaft. Doch das heißt noch lange nicht, dass Unternehmen sich immer an der reinen Lehre der Ordnungspolitik orientieren. Wenn sie Chancen sehen, durch politischen Druck Wettbewerbsvorteile zu erreichen, so werden sie versuchen, diese zu nutzen. Das gilt besonders für Unternehmen, für die sich das Wettbewerbsumfeld verschlechtert. Sie werden verlangen, vor unliebsamer Konkurrenz geschützt oder mit Subventionen unterstützt zu werden. Die Anreize dafür sind von der Politik gesetzt worden. Das hat negative Folgen für diejenigen, die sich nicht so leicht Gehör verschaffen können — mittelständische Unternehmer oder ausländische Konkurrenten. Die
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Rahmenbedingungen, die für alle Unternehmen gemeinsam gelten, verbessern sich dagegen kaum. Das inflexible deutsche Arbeitsrecht zum Beispiel behindert Investitionen in allen Branchen gleichermaßen. Derartige Unzulänglichkeiten verstärken wiederum die Anreize, auf politischem Wege wenigstens einen Teil der Belastungen zu kompensieren. Wenn über die zunehmende Macht von Unternehmen gesprochen wird, werden oft Beispiele aus der dritten Welt herangezogen: so etwa aus Nigeria, wo verschiedene große Ölkonzerne starken Einfluss auf die Regierung ausüben, was zur Verschärfung der ökologischen und sozialen Probleme beiträgt, denen sich dieses rohstoffreiche Land gegenübersieht. Doch auch hier liegt das Hauptproblem auf der politischen Ebene, bei einer korrupten und gierigen politischen Klasse. Verstehen sie mich nicht falsch: Ich denke sehr wohl, dass auch Unternehmen eine moralische Verantwortung haben. Doch wesentlich sind die politischen Rahmenbedingungen, an denen sie ihr Handeln ausrichten. Hier liegen die Macht und die Verantwortung der Politik. Schnell wird klar, was das einzige Mittel gegen die zu große Macht einzelner Unternehmen — und anderer einflussreicher Gruppen — ist: Gleiche und möglichst wenig belastende Regeln für alle, Abschaffung von Privilegien für einzelne Wirtschaftszweige, mit welchen Argumenten diese auch immer verteidigt werden. Das ist genau das, was Adam Smith „unparteiische Politik" nannte. Der frühere neuseeländische Finanzminister Roger Douglas, ein großer Bewunderer von Adam Smith und Ludwig Erhard, sagte einmal, dass radikale Reformen nur durchsetzbar sind, wenn alle Sonderregelungen gleichzeitig und schnell abgeschafft werden. Das mag in den anders organisierten Demokratien Kontinentaleuropas schwieriger sein als in der angelsächsischen Welt. Das Erfolgsbeispiel Neuseeland, das sich in einem Jahrzehnt aus eine lange andauernden Lähmung löste und heute eine der dynamischsten Volkswirtschaften der Welt ist, zeigt aber, dass die Regierungen und Parlamente der Nationalstaaten durchaus nicht ohnmächtig sind. Sie können viel zum Wohl eines Landes und seiner Menschen beitragen, wenn sie sich auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und diese entschieden angehen. Staaten, die weiter falsche wirtschaftspolitische Konzepte verfolgen, werden dagegen immer weiter zurückbleiben. Die deutsche Wachstumsschwäche ist leider ein gutes Indiz dafür. Das heutige Thema hat, wie ich schon zu Beginn erwähnte, noch eine andere, mindestens ebenso wichtige Dimension: Die Globalisierung erfordert tatsächlich in einigen Bereichen weltweit gültige Rahmenbedingungen. Wir brauchen eine globale Ordnung des Freihandels. Das Instrument dafür kann nur die WTO sein. Bilaterale oder regionale Handelsabkommen können kein Ersatz sein. Sie bringen zwar den beteiligten Ländern eine Liberalisierung des Handels, haben aber eine Wettbewerbs-
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verzerrende Wirkung für alle anderen Länder. Multilaterale Lösungen bieten auch mehr Schutz für kleinere und schwächere Partner, deren Interessen in regionalen Verbünden gegen übermächtige Partner sehr viel schwerer durchzusetzen sind. Schließlich lenken regionale Verhandlungen die politische Aufmerksamkeit von den umfassenden Liberalisierungen ab, die im Rahmen der WTO möglich sind. Bei den WTO-Verhandlungen haben die Industriestaaten schon viele Möglichkeiten verpasst, den internationalen Ordnungsrahmen zu verbessern. Sie sind nicht allein schuld an den extrem langsamen Fortschritten, die im Rahmen der Doha-Runde gemacht werden. Ein großer Teil der Handelshemmnisse besteht zwischen den Entwicklungsländern selbst. Doch die Industriestaaten tragen eine besondere Verantwortung dafür, dass allen Ländern die Chancen offener Märkte offen stehen. Das so genannte „Juli-Paket" des Allgemeinen Rates der WTO bietet neue Chancen für die weiteren Verhandlungen. Die EU hat sich endlich bei den Agrarexportsubventionen etwas bewegt. Doch hier liegt, wie bei anderen Verhandlungsgegenständen, der Teufel im Detail. Noch immer betragen die durchschnittlichen Zölle der OECD-Länder auf die landwirtschaftlichen Produkte der Entwicklungsländer 15%. Im Gegensatz dazu gab es beim Marktzugang für Nicht-Agrarprodukte noch keine Fortschritte. Dieser ist jedoch für Länder auf dem Weg der Industrialisierung von besonderer Bedeutung. Gerade in Bereichen wie der Textilindustrie hat der wirtschaftliche Aufschwung vieler Länder seinen Anfang genommen. Weil die Industrialisierung der einzige Weg ist, Wohlstandssteigerungen für breite Massen zu erreichen, ist es besonders verwerflich, dass die von der EU errichteten Handelsschranken immer höher werden, je weiter die jeweiligen Produkte verarbeitet sind. Es ist bei weitem nicht alles sinnvoll, was unter dem Label „globaler Rahmenbedingungen" oder gar „globaler Ordnungspolitik" verkauft wird. Das gilt für das unsinnige, aber glücklicherweise kaum realisierbare Projekt der Tobin-Steuer ebenso wie für internationale Sozial- und Umweltstandards. Letztere erfreuen sich einer erstaunlich großen Zustimmung. Dabei wird gern verdrängt, dass sich hinter dem wohlklingenden Begriff „Sozialstandards" oft knallharte Wettbewerbsinteressen verbergen sowohl diejenigen von Ländern als auch die von großen internationalen Unternehmen. Derartige Standards führen heute zu weniger Lebenschancen und zu mehr Armut. Sie schützen und beruhigen viele satte Bürger der Wohlfahrtsstaaten, zerstören aber gleichzeitig die Möglichkeit für Millionen Menschen, aus bitterster Armut zu entkommen. Selbstverpflichtungen von Unternehmen auf bestimmte Standards können sinnvoll sein. Alle Versuche dagegen, auf der Basis von derartigen Standards neue Handelsbarrieren aufzubauen, sind strikt abzulehnen. Die Bezeichnung „handelspolitischer
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Imperialismus", mit der der indische Finanzminister diese Politik einmal belegte, ist vollkommen gerechtfertigt. Wenn man die Diskussionen über die Zukunft der globalen Institutionen verfolgt, beschleicht einen schnell der Verdacht, dass hier viele Fehler der Nationalstaaten wiederholt werden sollen. Interventionismus und Umverteilung sollen, da sie auf nationaler Ebene nicht mehr so richtig funktionieren, auf globaler Ebene wieder salonfähig gemacht werden. Das schon heute kaum noch überschaubare System von internationalen Organisationen soll mit mehr Kompetenzen und größeren Budgets ausgestattet werden; zuweilen geistert sogar die die Idee einer Weltregierung durch die Debatte. Das ist der falsche Weg. Gerade weil die Verhältnisse in vielen Teilen der Welt noch weit vom Idealzustand freier Gesellschaften und Märkte entfernt sind, brauchen wir den Wettbewerb auch auf dem Gebiet der politischen Institutionen. Er zeigt, wie erfolgreich Alternativen zu Staats- und Privilegienwirtschaft sind. Er erzeugt den notwendigen Druck hin zu Veränderungen. Das betrifft nicht nur die Wirtschaftspolitik, sondern auch den Weg zur Achtung der Menschenrechte und zu offenen Gesellschaften. Es liegt in der Macht der einzelnen Regierungen, in der Macht der Politik, sich diesem Wettbewerb zu stellen und gleichzeitig verlässliche weltweite Rahmenbedingungen für ihn zu schaffen.
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Wettbewerb, Wachstum, Wohlstand - Für eine konsequente marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands Rede in der Theodor Heuss-Akademie, Gummersbach, 26. April 2005 Ich will mit Ihnen darüber sprechen, wie vor dem aktuellen Hintergrund von heute eine Wende zur Freiheit durch marktwirtschaftliche Erneuerung aussehen muss. In zehn Schritten zu mehr Freiheit will ich zusammenfassen, was eine Reformregierung, die diesen Namen verdient, viel schneller und beherzter anpacken muss: Für Arbeitsplätze, Wachstum und Wohlstand in Freiheit. Dazu gehört selbstverständlich, wovon Regierung und Teile der Opposition unbedingt die dirigistischen und protektionistischen Finger lassen müssen - nicht nur heute: immer. Zur Illustration nenne ich nur das aktuelle Stichwort „Mindestlohn": Das wäre nicht nur ein Schritt weit weg von der Freiheit; das wäre auch ein Schritt abseits aller volkswirtschaftlichen Vernunft: Und wenn noch so viele Länder in Europa Mindestlöhne haben. Wir können von vielen dieser Länder Gutes übernehmen, nicht kopieren, aber Gutes lernen. Wenn wir in Deutschland aber zu den ordnungspolitischen Sünden gegen die Vernunft auch noch Mindesdöhne packen, dann Gute Nacht. Dann wäre mit Deutschlands Rückkehr zur ordnungspolitischen Nr. 1 auf Sicht auch die Vision von Wettbewerb, Wachstum und Wohlstand in Deutschland ausgeträumt. Ich bleibe aber optimistisch: Diesen Dreiklang einer marktwirtschaftlichen Erneuerung hat Deutschland nach der tiefen Krise von 1982 schon einmal geschafft: Sieben gute Jahre lang. Darum sind die Lehren aus dieser erfolgreichen Wende aktueller denn je, aber auch die Lehren aus der zweiten Wende, zu der es erst gar nicht kam. Mit meiner Streitschrift „Mut statt Missmut" von 1992 habe ich diese zweite Wende in den Köpfen und in der Politik recht drastisch angemahnt: nach den ersten Erfahrungen mit der deutschen Einheit. Ich meine damit die Zeit seit den Wahlen von 1990, seit denen Helmut Kohl immer gelang, was er „strategische Mehrheit" nannte. Und damit meinte er, dass die FDP nur mit CDU/CSU eine Mehrheit bilden konnte, niemals gegen CDU/CSU. Vor allem die mittelständischen Unternehmer unter Ihnen werden sich daran erinnern, was das damals bedeutet hat, z.B. konkret bei der Einführung der umlagefinanzierten Pflegeversicherung: Wahnwitz mit Methode, von Blüm und Dreßler gemeinsam landauf, landab erstritten.
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Die Hymne der großen Koalition der Reformverweigerer wurde damals auch noch im Duett von Blüm und Dreßler intoniert: „Das Gute an unserem Modell ist, dass auch die Arbeitgeber bezahlen müssen!" Spätestens seit sich Norbert Blüm und Horst Seehofer bei der Gesundheitsreform gegen die Union stellen, sind alle Zweifel beseitigt, dass diese Hymne nicht nur blanker Populismus war. Gegen das neue Draufsatteln bei den Lohnzusatzkosten durch eine umlagefinanzierte Pflegeversicherung konnten damals Kreishandwerkerschaften zusammen mit der FDP noch so geschlossen kämpfen: Der Kanzler setzte durch, was nicht nur Arbeitsplätze in Deutschland teurer machte. Die Langfristfolgen sehen wir heute viel klarer: Denn diese falsche Weichenstellung bei der Finanzierung der Pflegeversicherung stand bei Politikern wie Norbert Blüm nicht nur für Populismus, wie er heute mit den Mindesdohn-Forderungen und der unsäglichen Unternehmer-Schelte Münteferings erneut auflebt. Diese Weichenstellung steht auch ernsthaft für das Programm einer Republik, die nie Republik der Liberalen sein kann. Ordnungspolitisch steht diese Weichenstellung für das Programm eines Sozialstaats, der Subsidiarität, freiwillige Solidarität und Freiheit zugunsten von Umverteilung in Zwangsversicherungen aufgibt, die den Namen „Versicherung" nicht verdienen. Was an den gesetzlichen Sozialversicherungen ist denn noch Versicherung? Was ist denn tatsächlich solidarisch an diesen „Solidarversicherungen? Was ist denn sicher an der gesetzlichen Rentenversicherung, an der gesetzlichen Krankenversicherung? Sicher ist heute nur, dass die Bürger jedes Vertrauen in die Politik verloren haben. Und zwar in einem Maße, das selbst die Krise vor der Wende von 1982/83 übertrifft. Heute haben wir bei einer noch boomenden Weltwirtschaft eine anhaltende Schwäche der Binnennachfrage. Damals kam zur schwachen Binnenkonjunktur ein starker Rückgang der Auslandsnachfrage. Und 1982 ging es im Wendepapier schon auf der ersten Seite zehnmal um die Diagnose „Vertrauenskrise". Ich erinnere daran, weil das wichtig dafür ist, was Vorrang bei einer marktwirtschaftlichen Erneuerung haben muss, was notwendig ist für den schnellen Erfolg einer Wende für Deutschland heute. Denn wie dramatisch wird sich die Lage in diesem Land mit so großartigen Chancen erst darstellen, wenn das weltwirtschaftliche Wachstum schwächein sollte, bevor noch neue Zuversicht die deutsche BinnenNachfrage wieder belebt? Was muss also geschehen, bevor dann auch noch der deutsche Export als Stütze für Arbeitsplätze und Wachstum wegfällt? Was würde heute ein zeitliches Zusammenfallen von schwachem Wachstum in Deutschland mit weltwirtschaftlicher Wachstumsschwäche bedeuten? Für die Staatsfinanzen und für die notwendigen Investitionen in die Infrastruktur? Vor allem von den Kindergärten über die Schulen bis zur Exzellenz in Bildung und Forschung?
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Also stellt am Anfang aller Chancen auf Erfolg einer marktwirtschaftlichen Erneuerung wie 1982 die Aufgabe, Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen. 1982 hat eine neue Regierung einen Vertrauensvorschuss bekommen. Wie kann die Politik heute den nötigen Vertrauensvorschuss gewinnen? Erstens: Ich denke, dass Politiker heute ganz elementar begreifen müssen, dass Arbeitsplätze und Lehrstellen von Unternehmern geschaffen werden. Und dass sie das verstanden haben, müssen Politiker den Unternehmern als Botschaft glaubhaft vermitteln. Das Gegenteil von Vertrauen erreichen Politiker, wenn sie auf den globalen Steuerwettbewerb erst mit Mindeststeuern gegen ihren Lieblingsfeind „Steuerdumping" reagieren. Dasselbe gilt für den Schlagwort-Dauerbrenner „Lohndumping" mit dem Dauerbrenner „Mindestlohn". Und dann kommen die „Gipfel" zu Jobs, Innovation und Unternehmenssteuerreform. Die kläglichen Gipfelergebnisse vertreiben den Rest an Vertrauen. Zweitens: Es braucht Zeit, bevor bessere Bildung und Forschung ihre Früchte für Arbeitsplätze und Wohlstand tragen. Darum kann gar nicht früh genug gesät werden. Das gilt erst recht, weil zu viele Politiker offenbar nicht mehr wissen, wie bessere Erziehung, Ausbildung und Forschung von Eltern, Lehrern und Wissenschaftlern geleistet wird. Die Zeit pichtianischer Bildungsreformen mit ihrer Mengen-Ideologie der Abiturientenquoten und Studierendenzahlen, verbunden mit der 68er-Devise „fördern statt fordern" und Verteufelung von Wettbewerb, hat tiefe Spuren hinterlassen: Geringschätzung beruflicher Bildung, Mangel an Facharbeitern und Selbstständigen. Unter den 110.000 Qualifizierten, die jährlich Deutschland verlassen, sind aber auch 25.000 Wissenschaftler. Und von Estland bis Indien und China, von Irland bis Amerika und Japan sind Menschen begabt und fleißig, aber auch hungrig auf Freiheit und Wohlstand. Das heißt globaler Wettbewerb für Wachstum und Wohlstand heute. Noch ist die politische Führung in Deutschland weit davon entfernt, den Deutschen die Vision einer marktwirtschaftlichen Erneuerung durch die Kraft der Freiheit zu geben. Also muss die Politik erst wieder lernen, den Bürgern zu vertrauen, den Bürgern auch etwas zuzutrauen: •
den Unternehmern, die wissen, wie man Arbeitsplätze schafft,
•
den Eltern, den Lehrern und Wissenschaftlern, die Freiheit und eine leistungsfähige Infrastruktur brauchen, nicht „Innovationsgipfel" mit großspurig gedroschenem Stroh und pathetischen Ankündigungen.
Zu neuem Vertrauen gehört neben Mut auch Ehrlichkeit in der Politik. In meiner Streitschrift „Mut statt Missmut" habe ich mich dazu deutlich ausgedrückt:
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„Für zu viele Bürger frisst sich die Politik nur noch selber satt am Einheitsbrei pathetischer Beteuerungen ...Diese Streitschrift ist deshalb ein Angriff auf falsche Ansprüche, falsche Erwartungen und falsche Versprechungen. Wir müssen Schluss machen mit der Politik im Geschenkkarton. Zu oft haben die Bürger durchaus begeistert die Verpackung geöffnet und dann nichts als Luft gefunden." Das ist höchst überparteilicher Klartext. Jeder fange mit der Wende bei sich selber an. Dann klappt es auch wieder mit dem Vertrauen der Bürger in die Gestaltungsfähigkeit deutscher Politik. Hier sind zehn Schritte zu diesem Vertrauen:
1. Am Anfang muss ein schlüssiges ordnungspolitisches Konzept stehen. Wer das aus schlechter Tradition nicht hat, der muss erst recht vorher nachdenken und Langfristdenken erlernen. Nur so kann man widersprüchliche Stückwerkreformerei verhindern, die in Deutschland seit Jahren zur Regel geworden ist. Nur so erreicht man jene ordnungspolitische Stimmigkeit, die überhaupt Reformen zum Erfolg führen kann. Ansonsten wird sich eine Bundesregierung, die das Sozialsystem mit halbherzigen Reformen stabilisieren will, in Widersprüchen verfangen und mit jedem neuen Stückwerk eine neue Reform-Baustelle aufmachen. Die Folge: Steigende Verunsicherung der Bürger. Von Verlässlichkeit und Kalkulierbarkeit sozialer Sicherung keine Spur. Gleichzeitig wird freiwillige Eigenvorsorge bestraft, indem Lebensversicherungen, Aktien, Grundeigentum und Erben zu „Melkkühen" werden: Schleichende Enteignungen durch Besteuerung. Am Ende steht umso mehr Verlust an Vertrauen. Vor schwierigen Strukturanpassungen schafft man Vertrauen auch dadurch, dass von vornherein klar ist, was die Bürger an Chancen und Verlässlichkeit des Sozialstaats gewinnen. Mit Ehrlichkeit, Zuversicht und klarem Ziel der Reformen von Anfang an kann man die Herzen der Bürger für die Reformen gewinnen. Stattdessen aber werden im Reformstau die neuen Fundamente eines verlässlichen Sozialstaats zunächst als „grausame Notwendigkeit" verkauft. Damit ist im Keim die Unpopularität der Reformen bereits angelegt, für ihre Verwässerung und ihre teilweise Rücknahme. Jede strategische Gesamtperspektive verbindet dagegen von vornherein, was die Wähler und ihre Kinder an Chancen und Verlässlichkeit gewinnen, was die Bürger selbst dafür tun müssen, was sie sich selbst zutrauen können und wo aber auch solidarische Hilfe im Anpassungsprozess greifen wird. So verankert man auch den Wert von Freiheit und Eigenverantwortung in den Herzen der Menschen.
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2. Einfache Steuern, niedrige Steuersätze! Der Grund, warum man mit einem einfachen Steuerrecht als sofort anstehendem Reformschritt beginnen muss, ist einfach: Solche Reformkonzepte für einfache und damit gerechtere Steuern — mit niedrigeren Steuersätzen — liegen bereits in Gesetzesform vor. Am besten wäre die auch vom Beirat des Bundesfinanzministeriums vorgeschlagene Fiat Tax. Ein einheitlicher Steuersatz von ca. 30% genügt, wenn man gleichzeitig die Steuervergünstigungen als Ausnahmetatbestände abschafft. Wir stehen also eher vor einem Bildungsproblem: Denn für einfache und gerechte Steuern sind alle. Den Mindeststeuer-Vertretern, den Robin Hoods und den Mudosen ist beizubringen: Deutschland ist nicht schon deswegen ein Normalsteuerland, weil es in den OECD-Statistiken bei der Abgabenquote — und darin der Steuerquote - im Mittelfeld liegt. Wenn es um das Vertrauen der Bürger geht, ist Inkompetenz oft so gefahrlich wie Unehrlichkeit. Denn schon der Heilige Augustinus hat gelehrt, dass wir zuerst immer nach der Ursache fragen müssen. Das gilt natürlich auch für die Ursachen der relativ niedrigen OECD-Steuerquote Deutschlands. Und ist die Frage nach den Ursachen erst einmal gestellt, kennt doch jeder die Antworten: •
Ein Unternehmen in Konkurs zahlt keine Steuern.
•
Ein Unternehmen ohne Gewinne wenig Steuern.
•
Ein Arbeitsloser zahlt keine Steuern.
•
Mit Mini-Jobs allein zahlt man keine Steuern.
•
In der Schwarzarbeit zahlt man keine Steuern.
So viel zu den ganz einfachen Ursachen einer Steuerquote von gut 20%, mit der die tatsächliche Steuerbelastung in Deutschland vernebelt wird. Die Bürger erfahren Steuerbelastung nämlich ganz anders, und auch das hat einen einfachen Grund: Sie zahlen umso mehr Steuern, weil so viele gar keine Steuern zahlen, und das liegt an legalen Steuervermeidungen, Illegalitäten, aber eben auch an zu hohen Steuersätzen. Die Steuereinnahmen, die wir z.B. für Investitionen in Bildung und Forschung brauchen, fließen ja deswegen so kläglich, weil Steuern und Sozialabgaben, weil Steuern und Lohnzusatzkosten, in Deutschland so hoch sind. Auch das weiß man seit Swifts Steuer-Einmaleins von 1728, spätestens aber seit Adam Smith diesen Vorläufer der Laffer-Kurve 1776 in seinen „Wohlstand der Nationen" aufgenommen hat.
3. Ein flexibler Arbeitsmarkt für alle Um den ordnungspolitischen Zusammenhang von Steuerreform und Arbeitsplätzen geht es auch beim Reformkonzept des Bürgergelds. Es ist nun fast 40 Jahre her, dass
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diese deutsche Variante der Negativsteuer-Idee von Milton Friedman in den USKongress eingebracht worden ist. Eine schlanke Version davon, die Steuergutschriften (Earned Income Tax Credit) haben die USA mit großem Erfolg für NiedriglohnArbeitsplätze umgesetzt, in ähnlicher Form z.B. auch Großbritannien. Deutschland ist nicht einmal so weit und braucht doch mehr. Denn unser Dickicht steuerfinanzierter Sozialleistungen, Objektsubventionen, ABM und steuerfinanzierter Umverteilung in den Sozialversicherungen ist undurchdringlich. Es sichert dem Raffinierten Vorteile und lässt die wirklich Bedürftigen im Stich. Vor allem: Dieses verknotete Gewirr, durch das kein Bürger durchblickt, hält einfache Arbeit in der Sozialhilfe-Falle gefangen, in „Stütze" statt regulärer Arbeit, finanziert aus hohen Steuern der Arbeitenden. In Kombination mit Deutschlands starrem Tarifrecht ist heute einfache Arbeit zu teuer. Und den arbeitswilligen Arbeitslosen wird durch das Sozialdickicht und das Tarifkartell ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung verweigert. Das zu ändern war übrigens die ethische Begründung für die Negativsteuer-Idee des Chicagoer Liberalen Milton Friedman, der wie sonst vielleicht nur Hayek als Turbokapitalist verteufelt wird. In der deutschen Variante „Bürgergeld", wie sie zuletzt durch die Pinkwart-Kommission aktualisiert wurde, werden weiterhin möglichst alle steuerfinanzierten Sozialleistungen zu einem Universaltransfer gebündelt und beim Finanzamt mit der Einkommensbesteuerung verzahnt, mit kräftigen, einfach kalkulierbaren Anreizen, damit sich Arbeit statt „Stütze" lohnt: Der Leistungsfähige zahlt Steuern, der Bedürftige erhält als Grundleistung ohne Arbeit ein Bürgergeld, das deutlich geringer ist als bei regulärer Arbeit, die sich durch Freibeträge wieder lohnt. Wird zumutbare Arbeit als Gegenleistung verweigert, dann sind im neuen Bürgergeld-Konzept die Kürzungen der Grundleistung kräftiger. Darauf hat die Solidargemeinschaft der finanzierenden Steuerzahler Anspruch, und das senkt auch den Finanzierungsbedarf für die Anreize. Job-Center vor Ort kümmern sich um das, was ihre Fachleute besser können als das Finanzamt: Vermitdung in Arbeit, soziale Betreuung und Überprüfung der Bereitschaft, zumutbare Arbeit anzunehmen. Untrennbar gehört zu diesem Gesamtkonzept einer Reform der Einkommensbesteuerung ein flexibles Tarifvertragsrecht. Auch das kann politisch schnell umgesetzt werden, wenn man den Mut dazu aufbringt. Denn als Gesetzesentwurf liegt es seit Januar 2000 im Bundestag vor, inzwischen im Kern unterstützt auch durch die Union. Dazu gehört an erster Stelle das Betriebsverfassungsgesetz: Vereinbarungen zwischen Unternehmensführung und Belegschaftsvertretung müssen möglich sein, wenn sie freiwillig und mit 75% Mitarbeiterstimmen beschlossen werden.
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Außerdem: Neufassung des Günstigkeitsprinzips, Heraufsetzen des Schwellenwertes beim gesetzlichen Kündigungsschutz auf 20 Mitarbeiter und Einführung von Optionsmodellen für Tarifverträge. Wenn das — und noch mehr — für ein flexibles Tarifvertragsrecht und Entlastung von Bürokratie-Kosten für ganz Deutschland nicht schnell genug umgesetzt werden kann: Warum dann nicht in Nordrhein-Westfalen damit anfangen? Die Pionierrolle würde diesem Land wieder gut bekommen; sie hat das Land einmal stark gemacht und wird es wieder stark machen. NordrheinWestfalen als Vorreiter für ganz Deutschland! Im neuesten Index der Wirtschaftsfreiheit — „Economic Freedom of the World" — steht Deutschland auf Platz 94 bei der Freiheit des Arbeitsmarkts, auf dem vorletzten Platz, aber immerhin noch vor dem Senegal.
4. Wettbewerb statt Öko-Subventionen in der Energiepolitik Zur Energiepolitik kann ich mich in Nordrhein-Westfalen kurz fassen. Jeder Bürger spürt die Last hoher Energiepreise, nicht nur beim Autofahren mit einer Mineralölsteuerlast von 81 Cent pro Liter. Nach den Steinkohlesubventionen wird mit den Windrädern ein nicht minder kostentreibendes Subventionsfass gefüllt. Das kostet Arbeitsplätze. Damit muss Schluss gemacht werden. Wettbewerb als konstituierendes Prinzip der Sozialen Marktwirtschaft muss aber zusätzlich gerade im Energiebereich auf die Preise drücken, ordnungspolitische Rahmenbedingungen müssen gewährleisten, dass nicht an der Sicherheit der Energieanlagen gespart wird. Wettbewerb wird aber auch hier als bestes Entdeckungsverfahren Innovation in Deutschland voranbringen: marktwirtschaftliche Erneuerung.
5. Finanzverfassung für den sparsamen Staat Bei den Subventionen muss der sparsame Staat beginnen, nicht nur für die Steuerreform. Aber dabei darf der Staat nicht stehen bleiben. Mut auch zur Kürzung von Ausgaben ist gefordert, damit die politisch behauptete Priorität von Investitionen in eine effiziente Infrastruktur für die Bürger auch Wirklichkeit wird: von der Straße für Mobilität bis zur Schule für Bildung und der Universität für mehr Spitzenleistungen in der Forschung. Die Rückführung des Staates auf den harten Kern seiner Aufgaben in Richtung einer Staatsquote im Bereich von einem Drittel statt der Hälfte des Bruttoinlandsprodukts ist nicht nur wegen der Maastricht-Verschuldungsgrenzen wichtig. Notwendig ist Mut zu ehrlichen Prioritäten bei den Staatsausgaben für die Bürger, die durch ihre Leistung dafür sorgen, dass gerade der schlanke Staat durch mehr Eigenverantwortung stark ist.
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Auch dafür brauchen wir die „Mutter aller Reformen", die Reform der föderalen Ordnung Deutschlands für Subsidiarität, Wettbewerb um die bessere politische Lösung und die im Bundesstaat gebotene Solidarität. Aber ohne Schwächung der Starken, der Geber im föderalen Finan2ausgleich. Auch hier dürfen wir die europäische und globale Dimension nicht vergessen: Letzte Woche ist die Tschechische Republik offiziell von der Weltbank vom Nehmer- zum Geberland befördert worden. Und Prag liegt bei der Wertschöpfung pro Kopf zwar noch deutlich hinter Luxemburg Stadt, aber eben auch klar vor ostdeutschen Leuchttürmen wie Leipzig und Dresden.
6. Den Sozialstaat verlässlich machen In den Wiesbadener Grundsätzen der liberalen Bürgergesellschaft ist das „Bürgergeld Kernstück des liberalen Sozialstaats". Das hat nicht nur den Grund, dass ein Arbeitsplatz die beste soziale Absicherung ist, weil der Mensch auf eigenen Füßen steht. In der Kernidee geht es beim Bürgergeld auch darum, die Märkte bzw. Preise von Umverteilung zu endasten. Politisch gewollte, stets maßvolle Umverteilung gehört in das Steuer- und Transfersystem: konsequent orientiert an der Leistungsfähigkeit. Und darum brauchen wir auch eine grundlegende Reform der Alters Sicherung, der Pflegeversicherung und des Gesundheitssystems: Wahlfreiheit und Wettbewerb bei Pflicht zur Mindestsicherung für alle Bürger. Das muss die Antwort auf die „Bürgerversicherung" der Grünen sein. Bei der SPD besteht hier für ein verlässliches Sozialsystem noch besonderer Klärungsbedarf: Soll nun nach dem Konzept des Regierungsberaters und Wirtschaftweisen Rürup oder nach Münteferings Fachmann Lauterbach reformiert werden? Und was an Kompromissen wird schließlich bei der Union herauskommen? So jedenfalls wird kein Vertrauen der Bürger gewonnen; so wird rechtzeitige Vorsorge nicht gestärkt.
7. Bildung braucht Wettbewerb und Wahlfreiheit Ein exportorientiertes und rohstoffarmes Land benötigt vor allem eine Ressource — ihr Humankapital. Deutschlands schlechtes Abschneiden im internationalen PISATest hat die Menschen zwar wachgerüttelt, aber bei den Bildungspolitikern nicht immer die richtigen Reaktionen hervorgerufen. Es geht nicht nur um mehr Geld und erst recht nicht um Verteilungskämpfe zwischen Bund und Ländern, die im Dezember 2004 zum Scheitern der Bundesstaatskommission beigetragen haben. Unser Bildungssystem leidet schon seit langem an Überpolitisierung und staatlichem Reformeifer. Der Bürger weiß am Besten, was richtig ist.
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Was benötigt wird, ist mehr Autonomie der Bildungseinrichtungen, mehr Privatinitiative, auch mehr Eigenfinanzierung durch die Bürger: Studiengebühren und Stipendien wie in fast allen erfolgreichen Staaten. Und Deutschland braucht mehr Wettbewerb zwischen den Bildungseinrichtungen und zwischen den Bildungspolitiken der Länder: auch wie fast in allen Staaten, die heute Erfolg in Bildung und Forschung haben. Gelernt haben das die Reformer z.B. der Schweiz und der Vereinigten Staaten vor allem von Deutschland. An diese Spitze muss Deutschland wieder zurück.
8. Föderalismus radikal reformieren Das Scheitern der Bundesstaatskommission an Fragen der Bildung hatte nicht zuletzt den Grund, dass eine Reform der föderalen Finanzverfassung mit klarer Trennung der Kompetenzen und Steuer-Autonomie erst gar nicht ernsthaft angepackt wurde. Denn natürlich hängt an der Staatsaufgabe über die Ausgabenseite auch die Finanzierung. Der Reformstillstand, den wir schon seit langem beklagen, ist Folge von Blockaden, die aufgebrochen werden müssen. Wie das geht, hat die Friedrich-Naumann-Stiftung in fünf Föderalismus-Manifesten für Deutschland und Europa aufgezeigt. Auch die Stiftungsallianz „Bürgernaher Bundesstaat aller politischen Stiftungen, der LudwigErhard-Stiftung, der Stiftung Marktwirtschaft und der Bertelsmann Stiftung wird sich daher nach dem Neustart der Bundesstaatskommission weiter für eine Reform des deutschen Föderalismus einsetzen.
9. Europa muss Motor der Liberalisierung werden Der europäische Wirtschaftsraum bietet ungeheure Chancen für Deutschland. Der EU-Verfassungsvertrag kann dazu durch Stärkung der politischen Handlungsfähigkeit und des Subsidiaritätsprinzips beitragen. Das gilt jedenfalls im Vergleich zum Vertrag von Nizza. Aber dieser Schritt zur ordnungspolitischen Reform des EUVertragswerks ist noch keine Verfassung für Europa. Dafür muss nachgebessert werden. Der Drang zu Zentralismus und Kompetenzanmaßung bleibt bestehen. Stärkung der Handlungsfähigkeit darf nicht Mehrheitsentscheide in allen Politikfeldern heißen. Nicht bei den Steuern gegen Steuerwettbewerb, für einheitliche Sozialpolitik oder für eine europäische Industriepolitik, schon gar nicht für Politik französisch-planifikatorischen Typs. Und es reicht auch nicht, dass immerhin das Ziel „Geldwertstabilität" in den Zielkanon von Art. 3 des Verfassungsvertrags aufgenommen wurde.
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Weiterhin ist die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank als Institution eigener Art nicht hinreichend gesichert, das System der Europäischen Zentralbanken mit der Deutschen Bundesbank. Dabei geht es um viel, und das nicht nur für die Deutschen. Denn eine auf stabilen Geldwert verpflichtete, unabhängige Zentralbank gehört zu den konstituierenden Prinzipien der Sozialen Marktwirtschaft. Nur mit diesen Prinzipien wird Europa ein Motor der Freiheit werden, für Wettbewerb, Wachstum und Wohlstand.
10. Politik für eine lernende Gesellschaft Zum Schluss auch dieser Schritt zur marktwirtschaftlichen Erneuerung: Es geht dabei um einen Schritt, der alle Reformschritte begleiten muss. Das ist wie beim eingangs geforderten Vertrauen der Politik in den Bürger, das wieder Vertrauen der Bürger in die Politik schaffen soll. Die lange Geschichte von einem, der auszog, die Welt zu verbessern, endet nicht überraschend damit, dass er bei sich selber anfangen muss. Das muss auch die Politik lernen, wenn sie innovativer Teil einer lernenden Gesellschaft sein will. Heute dominiert noch immer viel zu oft, was die Wirtschaftswissenschaftler Wolfram Engels und Jürgen B. Dönges „pathologisches Lernen" genant haben. Nur der Zyniker sähe immerhin auch in solchem Lernen einen Fortschritt: Statt Bürger für Freiheit zu ermutigen und aktiv die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen einer offenen Gesellschaft zu gestalten, gilt leider zu oft: Erst in der äußersten Not wird gehandelt — oder auf Druck einer Entscheidung des Verfassungsgerichts, mit festem Termin für die politische Umsetzung. Ansonsten wird mutlos gezaudert, bis die „Schmerzensgrenze" 8 auf der nach oben offenen Nöte-Grenze erreicht ist. Damit muss Schluss sein. Politik für eine lernende Gesellschaft setzt voraus, was auch die FöderalismusReform als „Reform für die Reformfähigkeit endlich beflügeln würde: Politiker müssen den Mut aufbringen, die Freiheit zum Leitmotiv ihres Handelns zu machen. Die Politik muss gerade junge Menschen wieder für die Freiheit begeistern können. Dafür müssen Politiker die Liebe zur Freiheit in all ihrem Gestalten vorleben. Dann wird die Freiheit des Einzelnen als Grundprinzip wieder zur glanzvollen Perspektive. Dann haben die Deutschen das leidige „Weiter so!" endlich überwunden.
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Mehr Freiheit wagen Beitrag in der Reihe „Streitfall Marktwirtschaft", Rheinischer Merkur, 18. August 2005 Ist Deutschland eine Marktwirtschaft? Diese Frage mag viele verwundern, die heute eher die angeblichen Auswüchse von Kapitalismus und Neoliberalismus kritisieren und nicht die zunehmende Abkehr von den Prinzipien der Marktwirtschaft. Doch sie ist mehr als berechtigt. Auf vielen Gebieten wird in Deutschland nicht auf Wettbewerb und Eigenverantwortung vertraut, sondern auf umfassende Regulierungen und Interventionen. Beispiele dafür sind neben viele anderen das Tarifrecht, die Sozialversicherungen, aber auch die Schulen und Universitäten. Der Staat interveniert in viele wirtschaftliche Aktivitäten: er subventioniert sterbende Industriezweige, er fördert bestimmte Formen der Energieerzeugung, er überzieht die Unternehmer mit ausufernden Detailregelungen. Das heißt noch nicht, dass Deutschland eine Staatswirtschaft ist, aber von einer wirklichen Marktwirtschaft haben wir uns ein ganzes Stück entfernt. Und genau das ist der Grund für die hohe Arbeitslosigkeit und das fehlende Wirtschaftswachstum. Doch bis heute fehlt es am politischen Willen, wirklich auf Freiheit und Wettbewerb zu setzen, auch wenn das der Öffentlichkeit schwer zu vermitteln ist und sich der Erfolg nicht sofort einstellen kann. Für publikumswirksame kurzfristige Interventionen ist die Bundesregierung immer gut, doch nicht für langfristig angelegte ordnungspolitische Weichenstellungen. So wird erst eine Kampagne gegen das so genannte Lohndumping losgetreten, dann eine gegen das Steuerdumping, das angeblich von einigen gerade der EU beigetretenen Ländern auf Kosten Deutschlands betrieben wird. Die Antworten sind schnell zur Hand: Mindesdöhne und Steuerharmonisierung oder genauer gesagt: Gleichmacherei. Das ist wettbewerbsfeindlich, schafft keinen neuen Arbeitsplatz in Deutschland und lenkt nur davon ab, dass wir zuerst unsere eigenen Hausaufgaben machen müssen, um langfristig unseren Wohlstand bewahren zu können. Wenn notwendige Reformen angegangen werden, dann bleiben sie von vornherein halbherzig, werden im Gezerre der verschiedenen Interessengruppen, das sich heute vor allem in Kommissionen und auf „Gipfeln" abspielt, bis zur Unkenntlichkeit abgeschwächt und schließlich von den Bürokratien während der Umsetzung beerdigt. Deshalb ist Ludwig Erhards Kommentar aus dem Jahr 1974 leider noch mindestens so aktuell wie damals: „Was sind das für Reformen, die uns Wände voll neuer Gesetze, Novellen und Durchführungsverordnungen bringen? Liberale Reformen sind es
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jedenfalls nicht. Es sind Reformen, die in immer ausgeklügelterer Form Bürger in neue Abhängigkeiten von staatlichen Organen bringen, wenn nicht sogar zwingen." Damit hätte er sich auf Hartz IV beziehen können, ein Reförmchen, das zwar teilweise in die richtige Richtung geht, aber von einer wirklichen Befreiung des Arbeitsmarktes noch weit entfernt ist. All das zeigt, wie wenig die Grundlagen langfristig erfolgreicher Wirtschaftspolitik verstanden werden und zum Allgemeingut geworden sind. Es fehlt überall an ordnungspolitischem Denken. Es fehlt an Vertrauen in die Marktwirtschaft und damit an Vertrauen in die Fähigkeit der Menschen, für sich selbst Verantwortung zu übernehmen. Eine prosperierende Volkswirtschaft braucht keinen Staat, der sich in die Entscheidungen seiner Bürger einmischt, sondern einen, der sich selbst in seinen Handlungen beschränkt, gleichzeitig aber seine Aufgabe effektiv erfüllt. Und seine wichtigste Aufgabe ist es, die Spielregeln des Wettbewerbs festzulegen, innerhalb derer die Unternehmen und die einzelnen Menschen agieren können. Nach einem der Väter der modernen Ordnungspolitik, Walter Eucken, beruht eine Wirtschaftsordnung auf wettbewerblicher Preisfindung, Privateigentum, Haftungsregeln, Vertrags- und Gewerbefreiheit, Außenhandelsfreiheit, Geldwertstabilitat und nicht zuletzt auf der Konstanz der Wirtschaftspolitik. Wenn man sich in Deutschland umschaut, so findet man diese Prinzipien fast überall verletzt. Besonders schlecht steht es um die Konstanz und Stabilität der politischen Rahmenbedingungen — nicht nur in der Wirtschaftspolitik. Schauen wir uns einige Politikfelder an, die für unseren Wohlstand entscheidend sind: Besonders drastisch ist die Unordnung, zu der das Ignorieren ordnungspolitischer Prinzipien geführt hat, in der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Unser Dickicht steuerfinanzierter Sozialleistungen, Objektsubventionen, ABM und steuerfinanzierter Umverteilung in den Sozialversicherungen ist undurchdringlich. In Kombination mit Deutschlands starrem Tarifrecht ist heute einfache Arbeit zu teuer, den arbeitswilligen Arbeitslosen wird durch das Sozialdickicht und das Tarifkartell ein Leben in Freiheit und Eigenverantwortung verweigert. Wir brauchen eine Entmachtung des Tarifkartells, eine radikale Vereinfachung des Tarifrechts. Vereinbarungen zwischen Unternehmensführung und Belegschaftsvertretung müssen möglich sein, wenn sie freiwillig und mit 75% Mitarbeiterstimmen beschlossen werden, das Günstigkeitsprinzip muss neu gefasst und der Kündigungsschutz zurückgefahren werden. Die Sozialversicherungen sind langfristig nicht finanzierbar. Sie bieten damit auch für die Versicherten keine verlässliche Perspektive. Auch hier muss sich der Staat langfristig darauf beschränken, den Rahmen für den Wettbewerb privater Versicherungen zu setzen und denjenigen Unterstützung geben, die die Versicherungsprä-
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mien nicht zahlen können. Eine Pflicht zur Vorsorge und zur Versicherung ist die richtige Methode, um gleichzeitig Eigenverantwortung, Wettbewerb und langfristige Sicherung zu ermöglichen. Die Trippelschritte, die sowohl bei der Renten- als auch bei der Krankenversicherung in den letzten Jahren gegangen wurden, haben mehr Verunsicherung gestiftet als dass sie uns einem zukunftsfähigen System näher gebracht hätten. Die Subventionen sind weiterhin ein Hemmnis für wirtschaftlich sinnvolle Investitionen. Dabei macht es keinen Unterschied, ob es sich um den Steinkohlenbergbau oder die Windenergie handelt. Subventionen verhindern immer den produktiven Einsatz von Kapital, fuhren zu höheren Steuern und höheren Preisen, etwa für Elektrizität. Schließlich muss unser Steuersystem radikal vereinfacht werden. Die Steuerbelastung muss sinken. Am besten wäre die auch vom Beirat des Bundesfinanzministeriums vorgeschlagene Fiat Tax. Ein einheitlicher Steuersatz von ca. 30% genügt, wenn man gleichzeitig die Steuervergünstigungen als Ausnahmetatbestände abschafft. Doch womit beschäftigen sich viele Politiker? Mit Diskussionen über verschiedene Mehrwertsteuersätze, die zuweilen ans Absurde grenzen, mit dem Kampf um jedes einzelne Privileg im Steuerecht. Von einer „Politik aus einem Guss", wie sie Ludwig Erhard forderte, sind wir also heute noch weit entfernt. Wenn in die deutsche Politik weiter nur Stückwerk abliefert, wird unser Land im internationalen Wettbewerb noch weiter zurückfallen. Die deutsche Politik muss endlich konsequent ordnungspolitisch ausgerichtet werden. Das Steuerrecht wäre ein lohnendes Feld, um damit zu beginnen.
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Vorsichtig optimistische Betrachtungen über den Staat Vortrag vor dem Berlin-Meeting der Friedrich-Naumann-Stiftung am 10. Oktober 1997 Es ist für mich immer eine Frage gewesen, die ich nicht recht zu entscheiden wusste. Sind Liberale nun geborene Pessimisten oder sind sie Optimisten? Ein Blick in die Geschichte hilft hier auch nicht weiter. Es gab hoffnungslose Pessimisten. Der Schweizer Historiker Jacob Burckhard gehört dazu, der in seinen posthum veröffentlichten „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" einmal den Satz prägte: „Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe. Sie ist kein Beharren, sondern eine Gier und eo ipso unerfüllbar, daher in sich unglücklich und muss also Andere unglücklich machen." Es gab auch ungebrochene Optimisten. Frédéric Bastiat, der große französische Ökonom, meinte schon im Jahre 1847 etwas sich nähern zu sehen, das man heute als „Ende der Geschichte" bezeichnen würde. In einer seiner Schriften meint er, dass sich der Staat ganz einfach darauf beschränken solle, „einem Jeden die Ausübung seiner Fähigkeiten und die freie Verfugung über seine Güter zu gewährleisten." Dann, so meinte er, würden „die Bürger ... unterscheiden lernen zwischen vernünftigen und kindischen Forderungen an den Staat. Sie würden ihn nicht mehr mit Ansprüchen und Bitten bestürmen, ihm nicht mehr ihre Leiden zur Last legen, nicht mehr chimärische Hoffnungen auf ihn bauen. Wenn der Staat sich außerstande erklärt, ihnen die Vorteile zu verschaffen, die er seiner Natur nach ihnen nicht verschaffen kann, so würden sie nicht mehr bei jeder Enttäuschung ihre Klagen gegen die Gesetze und die Gesetzgeber richten, nicht mehr beständig ihre Staatsmänner und Staatsformen ändern und Einrichtungen auf Einrichtungen, Trümmer auf Trümmer häufen. Der fieberhafte allgemeine Trieb, sich mit Hilfe des Staates gegenseitig zu berauben, würde absterben." Wenn sie mich fragen, finde ich das zweite Szenario wesentlich sympathischer als das erste. Indes, Frédéric Bastiat musste schon ein Jahr später sehen, wie die 1848erRevolution wieder einmal Einrichtungen in Trümmer legte und das scheinbar bevorstehende „Ende der Geschichte" wieder einmal selbst beendet wurde — und zwar gründlich. Durch seinen frühen Tod im Jahre 1850 blieb Bastiat immerhin erspart zu sehen, wie Louis Napoleon ein Jahr darauf die Ereignisse durch die Errichtung einer Quasi-Diktatur krönte. Wenn Sie mich abermals fragen, dann halte ich Jacob Burckhards Warnungen zwar für weniger sympathisch, aber für realistischer. Wie kommt es, dass Menschen mit der gleichen Freiheitsliebe im Staat einmal als ein Monstrum betrachten, durch das
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Machtmissbrauch nur neuen Machtmissbrauch hervorbringt, und ein anderes Mal als Vorbedingung von Freiheit, Gerechtigkeit und Wohlstand sehen? Es ist leicht einzusehen, dass hier der klassische Konflikt zwischen „Sein" und „Sollen" in den Mittelpunkt des Interesses rücken muss. Aus dem wie es IST, kann man nicht schließen wie es sein SOLL. David Hume und Max Weber haben uns diese Erkenntnis immer wieder vor Augen geführt. Natürlich IST es so, dass die Menschen gerne Macht ergreifen, um sich auf Kosten anderer zu bereichern. Da hat Jacob Burckhard Recht. Aber natürlich darf dies uns nicht davon abhalten, darüber nachzudenken wie es sein SOLL. Der Mensch ist in dieser Hinsicht ein recht zwiespältiges Wesen. Während bei der animalischen Seite seiner Natur vieles einer gerechten und liberalen Ordnung entgegensteht, erlaubt ihm seine rationale Natur die Einsicht in den richtigen Weg. Der Liberalismus steht hier ganz und gar auf der Seite des Rationalen. Das ist zum Teil seine Schwäche, aber auch seine Stärke. Die Einsicht, dass Macht durch Moral gebunden werden müsse, hat sich in der Menschheitsgeschichte zu keinem Zeitpunkt gänzlich verdrängen lassen. Der Grundsatz, dass man den Menschen nicht zum Opfer von Willkür und Unterdrückung degradieren soll, hat in irgendeiner Form Eingang in die moralische Ideenwelt jeder Kultur gefunden. Der Islam predigte einst Toleranz und die Herrschaft des Rechts. Hindhuismus und Bhuddismus lehrten Pluralismus und Toleranz. Der Taoismus befürwortete die Begrenzung von Regierungsmacht und das Recht auf individuelle Selbstbestimmung. Das antike und mittelalterliche Europa entwickelte die Idee des Naturrechts. Alles dies zeigt, dass hier die Vernunft des Menschen eine nicht zu unterschätzende Potenz ist, die man trotz aller Zweifel an der moralischen Natur des Menschen nicht unterschätzen sollte. Der Liberalismus, der im 17. Jahrhundert entstand, entwickelte dieses Menschheitserbe schließlich zur kohärenten politischen Philosophie. John Locke stellte 1689 in seinen beiden Abhandlungen über die Regierung fest, dass jeder Mensch ein Recht auf „Leben, Freiheit und Eigentum" habe. Heute nennen wir dies: „Recht auf Selbstbestimmung". Jeder Mensch gehört sich selbst und niemandem anderen. Auch gehört ihm alles, was er ohne Verletzung des gleichen Rechtes bei anderen ohne Gewalt erworben hat. Bis heute ist unwiderlegbar, dass dies die einzigen universalen und jeder Vernunft zugänglichen Grundsätze der Moral sind. Wer anders argumentiert oder handelt, stellt sich mit logischer Zwangsläufigkeit in den Dienst rein subjektiver Interessenlagen — so plausibel sie auch erscheinen mögen. Das alles ist natürlich reine Utopie und wird es voraussichtlich auch bleiben. Es bleibt das Problem, wie man die Rechte des einzelnen real durchsetzt, wenn es der animalischen Natur des Menschen nun einmal in hohem Maße entspricht, die
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klaren Grundsätze von Mein und Dein zu verwässern. Man muss kein menschenverachtender Zyniker zu sein, um zu sehen, dass selbst — oder gerade — wohlmeinende Menschen oft gerne eine Abkürzung zur Verwirklichung ihrer persönlichen Ziele nehmen. Zwang, der Menschen fremden Zwecken unterwirft, ist stets eine solche historische Selbstverständlichkeit gewesen, dass wir uns nur noch über besonders krasse Fälle aufregen. Wie setzt man also die Spielregeln durch? Die Theorie des Rechtes auf individuelle Selbstbestimmung als solche liefert keine Hinweise. Sie liefert a priori nicht einmal eine Rechtfertigung für die Existenz eines Staates. Es ist letztlich egal wie Rechte gewährleistet werden, Hauptsache sie werden gewährleistet. Locke selbst will zwar einen Staat, der aus einem Vertrag erwächst, dem alle freiwillig zustimmen, doch kann das Individuum dabei letztlich nie zur permanenten Unterwerfung unter dessen Herrschaft gezwungen werden. Jede Rechtsverletzung erlaubt Widerstand nach subjektivem Ermessen. Es ist wohl mehr als hoch wahrscheinlich, dass dies in einem Zustand enden würde, in der kein Menschenrecht mehr sicher ist. Der liberale — auch wenn er manchmal davon träumen mag, Individualanarchist zu sein — muss sich damit abfinden, dass es weiterhin der Staat ist, der ihm als Mittel zum Schutze der Menschenrechte zur Verfugung steht. Der Staat als Garant von Gerechtigkeit und Freiheit ist indes schon in der Tat so etwas wie eine mythische Fabelgestalt. Schon sein historisches Entstehen ist meist aus Eroberung und dauerhafter Unterwerfung zu erklären. Steuern — das Finanzierungsinstrument, das den Staat erst zum Staat macht — sind wohl geschichtlich aus den Tributzahlungen an Eroberer hervorgegangen. Der Prozess der Formierung des modernen Nationalstaates aus der noch weitgehend dezentralisierten und prästaatlichen politischen Herrschaftsstruktur des Mittelalters wird gerne als Fortschritt gepriesen. Er habe die Herrschaft von Aberglauben und Unterdrückung beendet. Die traurige Wirklichkeit ist, dass die Grausamkeiten, die wir dem Mittelalter zuschreiben, nicht durch diesen Prozess beendet, sondern in großem Umfang erst ermöglicht und verursacht wurden. Der millionenfache Tod von angeblichen Hexen, die Systematisierung von Judenverfolgungen in ganz Europa und die rücksichtslose Zentralisierung von Gewalt sind Produkte der frühen Neuzeit und damit der eigentlichen Staatswerdung. Es mag in diesem Prozess mit Sicherheit auch echte Modernisierung gegeben haben. Aber, so hat es 1987 der englische Historiker Robert Moore in seinem Buch „The Formation of a Persecuting Society" treffend beschrieben: „... die Entwicklung der Verfolgung in allen ihren Formen war ein Teil davon, und damit nicht zu trennen von den großen und positiven Leistungen, die man damit verbin-
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det."1 Man kann derartiges nicht einmal als Kinderkrankheit abtun, denn in unserem Jahrhundert, das sich natürlich weit erhaben über das finstere Mittelalter dünkt, sieht die Bilanz nicht besser aus. Der amerikanische Historiker Rudoph J. Rummel hat 1994 in seinem erschütternden Buch „Death by Government" ausgerechnet, dass in diesem Jahrhundert alleine 170 Millionen Menschen Opfer von Genozid und Völkermord wurden. Dabei wurden die Opfer „regulärer" Kriege nicht mit eingerechnet. Auch die Not, der der Staat als Wirtschaftslenker über die Menschen gebracht hat, ist damit noch nicht erfasst. Nie zuvor in der Menschheitsgeschichte wurde so viel gemordet, entrechtet und enteignet wie in unserem Zeitalter — und dies alles durch und im Namen des Staates. Was soll man als Liberaler zu einer solchen Bilanz sagen? Soll man alle Hoffnung fahren lassen? Nein, dem Pessimismus, zu dem solche Betrachtungen unweigerlich verleiten, muss man die Gründe zur Hoffnung entgegenhalten. Diese Gründe gibt es. Selbst diejenigen Realisten unter den Historikern, die meinen, kein Staat sei je zum Schutz der Menschenrechte konstituiert worden, sondern nur zur Perpetuierung der Plünderei, geben zu, dass die bloße Permanenz des Unterdrückungsverhältnisses eine stetige Vermischung der Interessen von Unterdrückten und Unterdrückern und damit eine langsame Milderung der Herrschaft zur Folge hatte. Kurz: Was immer die historischen Ursprünge des Staates gewesen sein mögen, seine weitgehende Bändigung ist schon vielfach und in erfolgreicher Weise geschehen. Dieses Jahrhundert sah ja nicht nur den größten Staatsterror der Menschheitsgeschichte, sondern auch die größte Verbreitung des Staatstypus, den man gemeinhin „westliche Demokratie" nennt. Dieser Staatstypus entspricht natürlich nirgendwo liberaler Idealvorstellung. Meist hat er in den letzten Jahren eine stark sozialdemokratische Schlagseite bekommen. Dennoch ist er liberal genug, um zu zeigen welche Potentiale in der liberalen Staatsauffassung liegen können. Er ließ genug Wirtschaftsfreiheit, um dem „kleinen Mann auf der Straße" einen Lebensstandard zu ermöglichen, von dem in den Jahrhunderten zuvor selbst die reichen Oberschichten kaum zu träumen wagten. Es gab zwar immer wieder Kriege mit diktatorischen Regimen (und auch zwischen diktatorischen Regimen), doch gab es mit Ausnahme des unbedeutenden Krieges zwischen der Französischen Republik und der Republik Rom im Jahre 1849 niemals einen Krieg zwischen liberalen Demokratien westlichen Zuschnitts. Ein Staatssystem, das zumindest in hohem Maße Frieden, Freiheit und Wohlstand garantiert, ist also kein Ding der Unmöglichkeit. Natürlich sind wir damit noch längst nicht im sicheren Hafen angekommen. Wir sehen allenthalben, dass heute das Modell „westliche Demokratie" erhebliche Kri1 „... the development of persecution in all its forms was part of it, and therefore inseparable from the great and positive achievements with which it is associated." (S.153)
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sensymptome aufweist. Trotz einiger Fortschritte, die in Ländern wie Großbritannien, Neuseeland oder den USA in den letzten Jahren gemacht wurden, haben wir heute fast überall einen Staat, der seine Bürger in einem Maße belastetet, dass historisch einzigartig ist. Wie gesagt: Ich rede hier nicht von den verbliebenen kommunistischen Regimen wie Nordkorea oder anderen autoritären und dirigistischen Staaten. Ich rede von jenem Typ der westlichen Demokratie, der in den letzten immer mehr zum Normalfall geworden ist. Der „Zehnte", den noch das feudale Mittelalter als den einzig möglichen und biblisch sanktionierten Spitzensteuersatz betrachtete, ist in den meisten Staaten heute kaum noch mehr als utopisches Wunschbild denkbar. Das Problem von öffentlichen Schulden und Defiziten ist nirgendwo wirklich unter Kontrolle zu kriegen. Fast alle Sozialsysteme stecken in der Krise. Oft ist absehbar, wann die Abwälzung der Folgen ihrer Unbezahlbarkeit auf die nächste Generation ihre Grenzen erreicht. Hält man sich dies vor Augen, so muss man sich nüchtern die Frage stellen, ob nicht das Projekt der verfassungsstaatlichen Demokratie nicht zumindest teilweise gescheitert ist. Der Verfassungsstaat sollte den Staat — auch den demokratischen Staat — so begrenzen, dass er nicht die Freiheit des einzelnen verletze. Er hat dies in vielen Bereichen auch geschafft. Im Bereich der Sozialsysteme, der Besteuerung und der Finanzpolitik hat er es eindeutig nicht. Um zu erklären, warum dies so ist, sollte man vielleicht nicht mehr vom Staat reden, wenn man vom Staat redet. Frédéric Bastiat hat 1850 die heutigen Probleme vorhergesehen, und den Staat wie folgt definiert: „Der Staat ist eine große Fiktion, in der jedermann auf Kosten von jedermann zu leben versucht." 2 Dass heute vermittels des Staates „jedermann auf Kosten von jedermann" leben möchte, leuchtet sicher vielen Menschen ein, die das Wachstum des Interessengruppenstaates in den letzten Jahrzehnten gesehen haben. Dass dieser Staat auch noch eine „Fiktion" sein soll, erscheint erläuterungsbedürftig. Selbst viele gute Liberale und Marktwirtschaftier sind heute in ihrem Denken ungeheuer staatsfixiert. Markt versus Staat scheint die Alternative zu sein. Das ist falsch gedacht. Einen „Staat" gibt es nämlich im Grunde nicht. Wir sprechen von ihm so als sei er ein gütiger älterer Herr, der uns Verhaltensregeln vorschreibt oder ein wenig von „seinem" Geld an bedürftige Nachbarn verteilt. Das ist es, was Bastiat meinte, als er den Staat als „Fiktion" bezeichnete. Die „Personifizierung" lässt uns die wesentliche Gefahr übersehen. Der Staat besteht auch nur aus Individuen. Eine übergeordnete „Gesellschaft", die Ansprüche stellt gibt es rein physisch nicht.
L 'état, c'est la grande fiction a travers laquelle tout le monde s'efforce de vivre depens de tout le monde . (Oeuvres Complétés, IV, S.332) 2
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„There is no such thing as society", bemerkte Margaret Thatcher einmal korrekt. Weil der Staat eigentlich nur aus Individuen besteht, gilt: Auch der Staat ist ein Markt. Allerdings ist er kein reeller Markt, in dem Produkte und Dienstleistungen in ihrem Wert durch den Preismechanismus bestimmt werden. Das, was wir Staat nennen, ist in Wirklichkeit ein Markt, an dem Zwangsrechte getauscht werden, die es dem Käufer erlauben, sich gerade über das „Diktat" des freien Wettbewerbs hinwegzusetzen. Er ist heute ebenso Teil eines Unternehmenskalküls wie jeder andere „Produktionsfaktor". Es ist daher falsch, in verkürzter Sicht der Marktwirtschaft den individuellen Egoismus zuzuordnen, während der Staat in irgendeiner die Verfolgung des Gemeinwohls angedichtet wird. Erstens, mögen Menschen in Marktfreiheit auch echten gemeinnützigen Zielen folgen. Zweitens: In der Politik mag es mehr als häufig um handfeste Egoismen und ihre Erfüllung gehen. Dort, wo Politik gute Intentionen hegt, tut sie es im Übrigen auch noch mit Zwang. Man kann diesen Gedankengang noch weiterführen, indem man dem Markt, in dem Menschen frei handeln, attestiert, dass dort für jede egoistische Vorteilsbeschaffung zumindest eine Gegenleistung erbracht werden muss. Das ist schon ein gewaltiges Stück Moral, das so gesichert wird. Der Staat kann einfach erzwingen. Aller beschönigenden Rhetorik zum Trotz haben wir es hier mit einer besonders schlimmen Form von Egoismus zu tun — einem Egoismus ohne Grenzen in der Wahl der Zwangsmittel. Dazu trägt eben bei, dass — zugegebenermaßen auch mit Grund — Leistungen nicht mit Gegenleistungen erkauft werden, sondern dass die Finanzierung von Leistungen über Steuern erfolgt. Diese bedeuten immer eine Loslösung von Pflichten zur Gegenleistungen und dienen zunächst nur der Einnahmensicherung des Staates. Die in den letzten Jahren von kommunitaristischen Gegnern des Liberalismus hervorgebrachte Behauptung, Steuern seien unser aller „Beitrag zur Gemeinschaft" ist jedenfalls in hohem Maße naiv. In Wirklichkeit sichern sie, dass Interessengruppen sich zunehmend im politischen Prozess festsetzen, weil die politische Umverteilung ein wesentlich leichterer Weg der Vorteilsbeschaffung zu sein verspricht als der Weg über Marktbehauptung und Eigenengagement. Ein solchermaßen als „Fiktion" betrachteter Staat ist in der Tat eine enorme Herausforderung für Liberale. Gerade in seiner wünschenswerten demokratischen Form macht er damit alle Menschen gleichermaßen zu Räubern und Beraubten. Dies erklärt, warum der Staat in seiner „westlich demokratischen" Ausformung zwar friedlicher wurde, aber auch warum wir in diesem Jahrhundert eine so ungeheure Ausdehnung seiner Größendimension beobachten mussten. Der deutsche Ökonom Adolph Wagner hat schon 1863 ein „Gesetz der wachsenden Ausdehnung der Staatstätigkeit" formuliert. Es scheint seither nichts an seiner enormen Wirkungskraft verloren zu haben.
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Um es vorweg zu sagen: Wir werden diese Herausforderung nie endgültig meistern können. Sie bleibt als Aufgabe immer bestehen. Sie verlangt vor allem viel Kreativität und Klugheit. Sie muss vor allem auf die Frage gerichtet werden, welche institutionellen Arrangements entwickelt werden müssen, um den Staat etwas dauerhafter zu beschränken. Hier zeigt sich, dass der Liberale in der praktischen Politik hauptsächlich Konstitutionalist sein muss. Natürlich weiß ich, dass auch Verfassungen allenfalls Wachstumsverlangsamungen schaffen. Sie sind aber noch immer die besten Waffen gegen ausufernden Etatismus, die wir haben. Sie bedürfen daher auch sorgfältiger Pflege und von Zeit zu Zeit sorgfältiger Reformen und Anpassungen. Dazu gehört unter anderem die affirmative Bindung von politischer Macht an klar formulierte Grundrechte. Sie sind natürlich notwendig. Hier ist eine Rückbesinnung auf die klassischen Grundrechtsideen Lockescher Prägung nötiger denn je. Wir müssen uns klar machen, was denn nun wirklich ein Recht ist und was keines ist. In den letzten Jahrzehnten haben wir eine unglaubliche Inflation von Rechten bemerken können. In der deutschen Sozialhilfegesetzgebung wird sogar das Recht auf einen eigenen Fernseher postuliert. Damit ist die Grundidee von Rechten ad absurdum gefuhrt. Statt universelle Grenzen der Zwangsgewalt zu setzen, werden dann in der Tat nur neue Zwangsgewalten geschaffen. Das, was heute meist als „Rechte" bezeichnet wird, ist in Wirklichkeit meist nichts anderes als ein bloßer Anspruch auf das legitim erworbene Eigentum anderer, der sich besonders fest im politischen System festgesetzt hat. Wir müssen uns daran gewöhnen, dass das einzige immer gültige und universell formulierbare Recht das Recht des einzelnen auf Selbstbestimmung über sich selbst und sein Eigentum ist. Der Staat ist darüber hinaus kein Garant von Beglückung. Er darf auch niemanden Bevormunden. Er legt niemandes Lebensziele fest. Dies ist, wie gesagt, eigentlich Utopie. Will eine Rechtsordnung dies einigermaßen gewährleisten, muss sie von ihren Bürgern akzeptiert und zum Identifikationsgegenstand werden. Das ist problematisch. Man kann die Art von Loyalität, die man etwa der Familie oder der bekannten Nachbarschaftsgemeinschaft entgegenbringt, nicht einfach auf den Staat übertragen. Der Staat übernähme sich dabei, weil er zum unbeschränkten paternalistischen Wohltäter würde. Viele falsche Ideen über den Staat — darunter die verhängnisvolle Idee des Sozialismus — sind wohl aufgrund dieses Fehlschlusses entstanden. Anderseits gibt es anthropologische Grundtatsachen. Das vielfach noch recht archaisch entwickelten Gefühlsleben des Menschen, das wohl in einer Phase menschlicher Evolution entstanden ist, in dem es nur Kleingruppen gab, steht wohl einer emotionalen Bindung an einen Staat, der nur das abstrakte Recht auf Selbstbestimmung schützt, im Wege. Ein Staat wird kaum zur Identifikation einladen, der Menschen verhungern lässt, unverschuldet ins Elend Geratenen nicht hilft oder Menschen ohne jedwede Start-
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chancen eine Chancenangleichung verweigert. Kein Liberaler wird sich dem verschließen können und wollen. Auch der Entwurf der Diskussionsgrundlage, über wir anlässlich dieses Berlin-Meetings sprechen werden, trägt dem trotz aller klaren Orientierung am klassischen Liberalismus Rechnung. Das bedeutet natürlich eine gewisse Einschränkung des klassischen Kanons von Selbstbestimmungsrecht auf Eigentum. Sie ist nur zu rechtfertigen, wenn existentielle Not die Freiheit selbst gefährdet. Man muss vorsichtig sein, dass eine solche „soziale" Komponente in einem liberalen Staatswesen, das auf notwendiger Einsicht basiert, nicht falsche Anreize setzt. Etatismus, Protektionismus und Nationalismus haben sich der Identifikation mit dem sozialen Staat immer bedient. Es ist wichtig, dass Staatsloyalität nie zum Selbstzweck erhoben wird. Es ist daher richtig, wenn man versucht, die soziale Komponente des liberalen Staates wieder so weit wie möglich der civil society, der Bürgergesellschaft, die jedem funktionierenden Staatswesen unterliegt, zurückgibt. Der moderne Wohlfahrtsstaat hat diesen Ansatz recht systematisch zerstört. Die Genossenschaften und Arbeiterbildungsvereine, die in Deutschland einst Kernstück der liberalen Bürgergesellschaft waren, sind so entweder zusammengebrochen oder wurden als staatliche Subventionsempfänger zu anonymen Großbürokratien, die nicht mehr Horte des ursprünglich erstrebten Gemeinsinns sind. Diese Zerstörung der genossenschaftlichen Tradition war zum Teil von den Gegnern des Liberalismus — man denke an Bismarck — bewusst gewollt. Liberale sollten dagegen sehen, wie viel sie davon wieder herstellen können. Ein Schritt dahin wäre in der Dezentralisierung zu suchen. Ich glaube, dass dieser Idee in Zukunft viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden muss. Wesentliche Aufgaben des Staates sollten auf die niedrigstmögliche Ebene versetzt werden. Dies sichert Vielfalt und Wettbewerb auch in der staatlichen Organisation. Dort ist Wettbewerb „zwischen den Systemen" ebenso wichtig wie in der Wirtschaft. Dass etwa die Schweiz ihre Staatsquote unterhalb der der meisten europäischen Staaten bewahren kann, verdankt sie sicher ihrer Kantonalisierung. Der bürgernähere Staat kann auch eher liberale Werte vermitteln als der große. Eine Garantie bietet er natürlich nicht. Kein Staat kann dies. Indes, er kommt den anthropologischen Bedürfnissen des Menschen nahe. Jeder Mensch hat, um es mit Goethe zu sagen, „zwei Herzen in seiner Brust". In der Politik sind es das Herz des Steuerzahlers und das Herz des Steuergeldempfangers. Von „tax payers" und „tax eaters" spricht man wohl in Amerika. Den Ersten leuchtet die Theorie des individuellen Selbstbestimmungsrechtes auf Person und Eigentum recht spontan und unmittelbar ein. Die anderen werden steuerfinanzierte Geschenke stets als Segen empfinden. Je anonymer und weiter vom Bürger die staatlichen Umverteilungsmaschinerien sind, umso leichter fallt dem Bürger der Glauben, er könne Vorteile ergattern und die
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Kosten irgendwo abwälzen. So werden moralische Schranken abgebaut. Je näher am Bürger die Gemeinschaft ist, desto mehr werden die Transfers auch von deren Ethos oder Gemeinsinn definiert und begrenzt. Man weiß, wie viel man wem nimmt. Dieses spräche vielleicht sogar für eine Kommunalisierung wesentlicher Transfersysteme. Dies sollte uns skeptisch machen gegenüber dem Versuch, supranationalen Einrichtungen zu viele Kompetenzen zu verleihen. Gerade als Befürworter des europäischen Einigungsprozesses möchte ich hier ein strikteres liberales konstitutionelles Denken anmahnen. Ich glaube, wir denken noch viel zu unsystematisch über das Ausmaß der staatlichen Aufgaben nach, die wir nach „Brüssel" transferieren. Zu warnen wäre vor allem vor einer übermäßigen Verstärkung der europäischen Komponente in der Sozialpolitik - sei es durch eigene Sozialprogramme oder durch Harmonisierungen. Das gleiche gilt für die Steuerpolitik. Hier würden die Übel des Nationalstaates, die wir einst mit der Idee Europas bekämpfen wollten, noch durch vermehrte moralische Bindungslosigkeit potenziert. Wir sollten uns hier an den alten Grundsatz der amerikanischen Revolution von 1776 erinnern, der „no taxation without representation" hieß. Dies verlangt ein bürgernahes System von Staatseinnahmen und Staatsausgaben. Es warten also neue Aufgaben für die Liberalen. Wir sollten sie nicht zu leichtfertig angehen, denn es ist jeder noch so schwarz malende Pessimismus eines Jacob Burckhard angebracht, was die Frage nach einer endgültigen Bändigung des Staates angeht. Das ist aber kein Aufruf, die weiße Fahne zu hissen. Es gibt, so lehrt uns die Geschichte, zumindest Gründe zu vorsichtigem Optimismus. Der Liberalismus hat schließlich auch eine enorme Erfolgsbilanz aufzuweisen. Letztlich bedeutet dies alles nur, dass wir bei der Verfolgung unseres Zieles nie nachlassen dürfen. Das hat auch sein Gutes. Es sichert schon fast die Existenzberechtigung für Liberale, dass es hier eine Aufgabe besteht, die niemals endgültig bewältigt sein wird.
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Zur Lage: Gute Absichten, wenig Taten. Die tieferen Ursachen des Reformstaus müssen zum Thema werden Erschienen in: liberal. Vierteljahreshefte für Politik und Kultur 1/1998 Dass bei dem Wettlauf um die Kür zum „Wort des Jahres 1997" der Begriff „Reformstau" sogar den weitaus putzigeren und populäreren „Elchtest" auf die hinteren Ränge verweisen konnte, ist nicht nur ein Kuriosum. Es ist ein Schlag ins Gesicht für die Politik, die in unserem Lande betrieben wird. Dieser Schlag schmerzt umso mehr, als er weitgehend zu Recht erfolgte. Kein Zweifel: Die Leistungen der Politik der letzten Jahre stehen in keinem Verhältnis zur Größe der anstehenden Probleme, die dringlich der Lösung bedürfen. Die Absichten der Bundesregierung waren gut. Sie gingen auch generell in die richtige Richtung. Steuerreform, Gesundheitsreform, Rentenreform — die Namen der vorgelegten Projekte hätten jeder für sich das Potential gehabt, zum „Wort des Jahres" werden zu können. Doch die Taten blieben hinter den Worten zurück. Sicher gab es auch Lichtblicke. In der Steuerpolitik wurden die Gewerbekapitalsteuer und die Vermögenssteuer gestrichen. Darüber kann man schon fast den neuerlichen Sündenfall der Erhöhung der Grunderwerbssteuer vergeben. Der große Wurf in der Steuerpolitik blieb jedoch aus — und nicht nur dort. An alledem ist nicht, wie wir wissen, die Bundesregierung ausschließlich selbst schuld. Die Opposition trug das ihre dazu bei. Den Bürger stimmt diese Erklärung jedoch kaum glücklicher und zufriedener. Die Konsequenzen bekommen wir jetzt schon zu sehen. Hohe Strukturelle Arbeitslosigkeit, ein kaum noch kontrollierbarer Haushalt, langfristig nicht mehr tragbare Sozialsysteme, um nur einige zu nennen. Die Lage ist also kritisch. Für Liberale könnte sie jedoch auch eine Herausforderung sein. Sie müssten Sie nur annehmen. Sicher genügt es dabei nicht, nur Steuersenkungen zu fordern. Dieses Klischeebild, das der F.D.P. (leider auch dank innerparteilicher Mithilfe) in der Presse so gerne angeheftet wird, stimmt sowieso nicht. Aber es hat keinen Sinn, die Kräfte zu verzetteln. „Themenerweiterung" als bloßer Selbstzweck, wie sie neuerdings einigen Kritikern der Bundesfiihrung der F.D.P. vor Augen schwebt, schwächen das Profil und machen ihre Programmatik zu einem Bauchladen, in dem es Beliebigkeit zu kaufen gibt. Aufgabe der Liberalen muss es sein, die großen strukturellen Defizite unserer Politik aufzuzeigen und Lösungen dafür zu finden. Dies bedeutet, dass neben der Steuerpo-
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litik auch die grundlegende Rundumemeuerung der Sozialsysteme betrieben werden muss. Für all dies bieten die „Wiesbadener Grundsätze" der F.D.P. eine argumentative Handreichung, die keineswegs von „Themenverengung" geprägt ist. Dies könnte da2u fuhren, dass vielleicht in Zukunft nicht mehr „Reformstau", sondern das selbstgewählte Etikett der F.D.P, „Reformpartei", zum Wort des Jahres wird. Jedenfalls wird der Wähler die Notwendigkeit der Liberalen im Wahljahr 1998 nur dann erkennen, wenn sich die F.D.P. eindeutig und klar wahrnehmbar darstellt. Solche weit reichenden Vorstellungen über Reform, so wird mancher einwenden, sei angesichts der bestehenden Verhältnisse wohl völlig realitätsfern und zum Scheitern verurteilt. So etwas hat man vor Jahren auch noch über Ideen wie die Privatisierung des Telekommunikationssektors gesagt. Die Verhältnisse können sich auch ändern.
Wettbewerb von außen Ein Gutes hat der Appell an „die Verhältnisse" jedoch. Es lohnt sich nämlich auch, über die „Verhältnisse" selbst nachzudenken, und nicht nur über die sichtbaren Probleme, die sie hervorbringen. Man muss die tieferen Ursachen der Krise behandeln, nicht nur an Symptomen herumkurieren. Dies führt wohl unweigerlich dazu, sich über die Rahmenbedingungen Gedanken zu machen, innerhalb derer Politik gemacht wird. Es gibt schon jetzt eine Rahmenbedingung, die den Druck auf die Politik selbst erhöht, sich in Richtung zu mehr Liberalisierung zu bewegen. Es handelt sich um die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft. Durch sie wird glücklicherweise ein Teil der Wirtschaftsprozesse aus dem staatlichen Wirkungsbereich herausgenommen. Ein Staat, der wirklich eine Wirtschaftspolitik zum Besten des Volkes betreiben will, muss mehr Wettbewerb und Marktöffnung zulassen. Ein internationaler Steuerwettbewerb wird sicher Anreize schaffen, in einzelnen Ländern die Steuern niedriger zu halten als es die jeweiligen Finanzminister gerne hätten. Auch der Politik tut Wettbewerb gut. Dieser Gedanke des Wettbewerbs in der Politik sollte weitergedacht werden. Auf die Globalisierung kann man sich nicht alleine verlassen. Der Nationalstaat ist keineswegs tot. Er verfügt noch über viele Tricks, sich dem Globalisierungsdruck zu entziehen, und seine Bürger in jeder erdenklichen Weise zu bevormunden.
Wettbewerb von innen Der Wettbewerb sollte also nicht nur von außen kommen, sondern auch von innen. Eigentlich sollte Deutschland deshalb ein äußerst reformfreudiges Land sein, denn es
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verfugt in seiner Verfassung über das, was eigentlich belebenden Wettbewerb in der Politik garantieren sollte: den Föderalismus. Wir alle haben — als unbeabsichtigte Konsequenz von Oskar Lafontaines schamloser Blockadepolitik - gesehen, dass dieser Glaube wohl illusorisch zu scheint. Die meisten Menschen werden zu Recht annehmen, dass gerade der Föderalismus Deutschland den Reformstau eingebrockt hat. Das ist einerseits richtig; andererseits aber auch nicht. Denn das, was wir heute als ein Problem des Föderalismus betrachten, ist in Wirklichkeit ein Problem des Pseudoföderalismus. Der deutsche Föderalismus, wie er sich heute präsentiert, ist keineswegs mehr Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips. Er basiert nicht auf eigenständigen und exklusiven Kompetenzen und Hoheitsrechten der Länder. Er basiert vielmehr auf deren Mitspracherecht im Bundesrat. Er ist also in Wirklichkeit ein Zentralismus, in dem möglichst viele Beteiligte ihr eigenes Süppchen kochen. Das Schlimmste ist dabei das Fehlen jeglicher Steuerhoheit der Länder, die dies durch den Finanzausgleich zu kompensieren haben. Derartiges ist von Übel, denn es verspricht den Ländern scheinbare Umverteilungsgewinne zu Lasten anderer Länder und des Bundes. Diese können isoliert betrachtet scheinbar höher sein als Gewinne, die durch eigene Steuererhebung (und Wirtschaftskraft) erzielt werden können. Damit ist ein Anreiz für das Abtreten von Kompetenzen zu Gunsten dieser scheinbaren Umverteilungsgewinne gesetzt. In der Tat haben die Länder deshalb im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte massiv Rechte und Kompetenzen an den Bund abgegeben. Das Widersinnige daran ist, dass sie dies in zahlreichen Finanzreformen und Verfassungsänderungen freiwillig taten. Sie haben es sich allerdings sehr teuer bezahlen lassen, zu Lasten des Bundes. Die Folge ist nicht nur ein unaufhaltsamer Drang zur Zentralisierung. Es fördert vor allem verantwortungsloses Haushalten mit Steuergeldern. Das Land, das gut wirtschaftet wird mit einer Art „Sondersteuer" belastet, um für die Fehler anderer aufzukommen. Der so initiierte Umverteilungskampf zwischen den Körperschaften führt zu einem undurchsichtigen Kompetenzwirrwarr. Dazu trägt auf noch das Prinzip der Mischfinanzierungen zwischen den Ebenen bei. Es führt nochmals zu einem Abbau klarer Verantwortungen bis in die Kommunen. Aufgeblähte Haushalte, Schuldenberge und Misswirtschaft auf allen Ebenen sind die Folge.
Schwächung des Bundesrats, Stärkung der Länder Diesem Problem sollte man nicht mit Forderungen nach mehr Zentralismus entgegentreten, wozu Liberale in der Vergangenheit (leider) neigten. Vielmehr sollte versucht werden, den Ländern echte Kompetenzen zu geben. Die Aufgabenteilung von
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Bund und Ländern muss klarer und subsidiärer werden. Durch Dezentralisierung und klare Kompetenzverteilung wird nämlich — das ist der Clou! — vor allem das Prinzip des Wettbewerbs in das politische System eingeführt. Gute Politik wird belohnt. Der Druck, die Steuerlasten zu mindern, wird erhöht. Die Diskussion darüber, welche Kompetenzen exklusiv „nach unten" verlagert sollten, darf keine Tabus kennen. Besonders die verteilungsintensiven Bereiche müssten eingeschlossen werden, vor allem die Sozialpolitik und die Steuerpolitik. So würde auch für den Bund der Anreiz (oder Zwang) zu sparsameren Wirtschaften erhöht. Dies würde mit einem gewissen Machtverlust des Bundesrates Hand in Hand gehen. Aber wäre dies so schlimm? Schon jetzt scheint bei vielen Ländern (vor allem bei jenen, die im gegenwärtigen System „Nettozahler" sind) eine gewisse Lust vorhanden zu sein, lieber echte Selbstbestimmung statt schaler Mitbestimmung zu versuchen. Im jetzigen System ist die destruktive „Blockierfunktion" des Bundesrates schon strukturell vorgegeben. Langfristig lähmt dies die Reformfähigkeit unseres Landes, während die eigentliche Aufgabe der Eingrenzung von bundesstaatlicher Macht unerledigt bleibt. Auch die Länder gewinnen in Wirklichkeit nichts. Schwächung des Bundesrates und Stärkung der Bundesländer, so lautet das Gebot der Stunde. Die aus der Zentralisierung und der Vermischung von Kompetenzen entstehenden scheinbaren Vorteile für die Länder sind in Wirklichkeit langfristige Nachteile. Wie üblich sind Vorteile, die durch politische Transfers gewonnen werden, ein schleichendes Gift, das abhängig macht, aber die Krankheit nicht heilt. Diese Transfers haben ihr Ziel — die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" — nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie haben zur Konservierung der Strukturschwächen geführt, die der eigentliche Grund für die Wohlstandsunterschiede sind. Sie nehmen den Reformdruck, der sonst auf den Ländern lasten würde.
Konstitutionalistisches Erbe Die Reform des Föderalismus ist sicher nur ein Bereich, wenngleich wohl der wichtigste, wenn es darum geht, über das Rahmenwerk der Politik nachzudenken. Mit der Idee, die Neuverschuldung des Bundes verfassungsrechtlich zu verbieten hat die F.D.P. in den „Wiesbadener Grundsätzen" ja auch schon eine andere Idee entwickelt. Aber es gibt noch viel mehr, worüber man diskutieren könnte. Selbstverständlich: Liberale sollten nicht zu leichtfertig mit Verfassungsänderungen umgehen. Vor allem die Flut von Vorschlägen zu neuen Staatszielen, die stets auf das Neue erfunden werden, sollte eher gedämpft werden. Wir brauchen nicht mehr festgeschriebene Handlungsbedarfe und -zwänge, wir brauchen weniger. Gerade wir Liberale sollten uns auf unser Erbe als DIE Partei des Konstitutionalismus zurückbesinnen, und die Verfassung wieder als das begreifen, was sie ursprünglich war: ein
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Mittel zur Staatsbegrenzung. Nur Änderungen, die diesem Zweck dienen, sollten von den Liberalen akzeptiert und vorangetrieben werden. Vielleicht sollten diejenigen, die sich heute über vermeintliche „Themenverengungen" beschweren, auch einmal ein derartiges Thema einmal in Erwägung ziehen. Schließlich kombiniert es die große wirtschaftspolitische mit einer klaren rechtsstaatlichen Perspektive. Abgesehen davon könnte eine intensivere Beschäftigung mit dem Thema „Föderalismus" dem Wunsch der Liberalen, sich in den Ländern wieder einen soliden Unterbau zu verschaffen, eine inhaltliche Ausfüllung geben. Auf jeden Fall verhilft eine solche Diskussion zu größerer Klarheit darüber, was die strukturellen Ursachen des „Reformstaus" sind. Es kann wohl kaum schaden, wenn wir als die Partei erkannt werden, die diese Ursachen beherzt angreift. Es wäre sicher auch zum Besten unseres Landes, das Reformen — liberale Reformen! — bitter benötigt. Langfristig wäre die Stabilität unserer Demokratie gefährdet, wenn wir die Probleme bis zur Katastrophe auflaufen ließen. Noch einige Jahre mehr, in denen Begriffe wie „Reformstau" zu „Worten des Jahres" werden, können wir uns nicht erlauben. Bevor es so weit kommt, sollten wir uns vielleicht auf einige „Worte des Jahres" von 1790 zurückbesinnen. Der englische Staatsmann und Philosoph Edmund Burke schrieb sie voller Sorge als er die Französische Revolution ausbrechen sah: „Ein Staat ohne Mittel zu seiner Reform ist ohne Mittel zu seinem Erhalt."
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Dezentralisierte Demokratie - begrenzte Demokratie? Vortrag auf dem Karlsruher Verfassungsdialog, „Demokratie oder Interessengruppenstaat? Verfassungsschranken gegen grenzenlose Umverteilung", Karlsruhe, 13./14. Mai 2004 Auf die Frage, ob eine dezentralisierte Demokratie eine begrenzte Demokratie ist, ist meine Antwort einfach und klar: Ja, Demokratie muss stets dezentralisiert sein. Ja, die dezentralisierte Demokratie muss begrenzt werden, damit „Herrschaft des Volkes" nicht Freiheit und demokratische Teilhabe aller Bürger gefährdet. Eine gute „Verfassung der Freiheit" im Sinne von Hayeks Jahrhundertwerk ist auch eine gute Verfassung für größtmögliche demokratische Teilhabe in der liberalen Bürgergesellschaft des „Karlsruher Entwurfs" der FDP von 1996. Eine Verfassung setzen heißt stets auch Schranken setzen, z.B. gegen grenzenlose Umverteilung oder die Macht organisierter Interessengruppen. Das eben ist der tiefere Sinn des heute von vielen usurpierten und abgenutzten Begriffs „Ordnungspolitik", der klarer wird, wenn die Idee der Verfassungsschranken positiv formuliert wird: Verfassungsschranken einer liberalen Ordnung sind für die Freiheit da, für eigenverantwortliche Teilhabe der Bürger an ihrem demokratischen Gemeinwesen. Am Ende der Geschichte läuft es sogar im Kultfilm „Gilda" darauf hinaus, dass Rita Hayworth es gar nicht hatte ernst meinen können, als sie provozierte „Wenn ich eine Ranch wäre, würde ich schrankenlose Freiheit' heißen." Erst recht sind Verfassungsschranken unverzichtbar für jede Verfassung der Freiheit. Größtmögliche demokratische Teilhabe aller Bürger verlangt Non-Zentralismus, aber auch Konstitutionalismus. „Konstitutionalismus" ist hier gemeint im Sinne von Grenzen, die die Verfassung auch demokratischen Mehrheiten setzt. In diesem Sinne ist die dezentralisierte Demokratie eine „begrenzte Demokratie": •
Dezentralisierung und Subsidiarität in der Verfassungswirklichkeit fördern Teilhabe der Bürger;
•
Verfassung, die auch der Herrschaft von aktuellen Mehrheiten des Volkes Schranken setzt, schützt die Freiheits- und Teilhaberechte von Minderheiten.
•
Der Schutz von Freiheit und Teilhabe durch Verfassungsschranken gelingt wiederum umso verlässlicher, je näher demokratische Entscheidungen am unmittelbaren Erlebensbereich von Freiheit und Verantwortung der Bürger angesiedelt sind.
Diese Antwort auf die Frage meines Vortragsthemas ist leichter als ihre Begründung. Sonst hätten Sie mir dieses Thema auch kaum im Karlsruher Verfassungsdialog
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gestellt. Und darum will ich mich hier auch nicht auf ein Lob des Föderalismus, des Konstitutionalismus und des Non-Zentralismus im Dienste bürgernaher Demokratie beschränken. Die Schwierigkeit, aber auch den aktuellen Reiz der Frage begrenzter Demokratie hat mir vor etwa einem Jahr Giscard d'Estaing bewusst gemacht: Noch vor Veröffentlichung des Entwurfs „Vertrag über eine Verfassung für Europa" machte die Runde, dass Giscard d'Estaing dem Verfassungsvertrag bildhaft ein Thukydides-Zitat vorangestellt hat, auf Altgriechisch natürlich, aber auch auf Deutsch für die deutsche Ubersetzung des Vertrags: „Die Verfassung, die wir haben ... heißt Demokratie, weil der Staat nicht auf wenige Bürger, sondern auf die Mehrheit ausgerichtet ist." Ich habe mich damals gewundert, wieso die Auswahl gerade dieses Zitats für eine künftige Verfassung der Europäischen Union nicht mehr Kritik ausgelöst hat. Kritik an diesem Demokratieverständnis war am ehesten noch in den kleinen Ländern zu hören. Vor allem der amtierende Präsident Frankreichs sorgte ja dafür, dass kleine Staaten aus diesem Zitat sehr wohl die ganz reale Gefahr einer Majorisierung befürchten konnten. Professor Bogdandy, Direktor des Heidelberger Max-PlanckInstituts für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, erinnerte kürzlich daran, wie nachdrücklich damals auch Außenminister Fischer seinen finnischen Amtskollegen von Änderungsforderungen zum Verfassungsvertrag abbrachte. Meine Kritik an der Auswahl dieses Thukydides-Zitats als prägnanteste Zusammenfassung des Demokratieverständnisses einer künftigen EU-Verfassung richtet sich weniger gegen den bildungspolitischen Fehler. Denn mit der Übersetzung ins Deutsche kann es heute vor dem Hintergrund der PISA-Ergebnisse ja nicht getan sein. Ein Paul Hindenburg im Kaiserreich hätte die Ubersetzung ins Deutsche nicht gebraucht. Er hätte selbst in der französischen Fassung nachlesen können, wo Demokratie sogar als „Herrschaft der Mehrheit" erscheint. Selbst als Militär hätte Hindenburg aber außerdem noch gewusst, was heute als Erläuterung vielen mindestens fehlt. Und da beginnt der Kern meiner Kritik, warum das Demokratieverständnis des Zitats für eine künftige Verfassung Europas nichts taugt, sondern gefährliche Missverständnisse birgt. Thukydides münzte sein Zitat auf die Polis, die nun wirklich viel begrenzter war als ein Europa der 25 oder mehr — mit der reichen Vielfalt von später sogar rund 500 Millionen Bürgern. Diese Begrenzung durch die Reichweite direkter Information und Kommunikation wurde für die Polis-Demokratie ganz plastisch so formuliert: So weit die Stimme des Stentors reicht. In Deutschland könnte man ähnlich sagen: So weit die Füße tragen. Es muss dabei nur klar sein, dass man dabei nicht an eine der populärsten alten Fernseh-Serien denkt, sondern an die „fußläufige Demokratie" des „Karlsruher Entwurfs für die liberale Bürgergesellschaft" von 1996.
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Denn so ist die „fußläufige Demokratie" im „Karlsruher Entwurf verankert und wörtlich auch in die „Wiesbadener Grundsätze für die liberale Bürgergesellschaft" von 1997 übernommen: „Wo die Handlungsfähigkeit freiwilliger Zusammenschlüsse von Bürgern nicht ausreicht, entscheiden sich Liberale für die Gemeinde. In der Gemeinde hat der Bürger die größte Nähe zum Problem und der Staat die größte Nähe zum Bürger. In den Gemeinden können am besten Lösungen für die Probleme vor Ort gefunden werden. Der Bürger kann sich in der Gemeinde am wirkungsvollsten für Gemeinschaftsaufgaben engagieren." Dieses konsequente Bekenntnis der Liberalen für den Vorrang des Privaten, für Subsidiarität ohne Wenn und Aber in ihrem aktuellen Grundsatzprogramm verankert zu haben bleibt herausragendes Verdienst von Guido Westerwelle, damals Generalsekretär der FDP. Das sage ich nicht nur als Vorsitzender der Stiftung, die den Namen Friedrich Naumanns trägt, für den die Gemeinde in so hohem Maße Ort von Bürgerfreiheit und Verantwortung war. Erst recht setzt die liberale Tradition von Wilhelm Röpke und Friedrich August von Hayek auf den reichen Schatz jeden Gemeinwesens, der im „lokalen Wissen" seiner Bürger liegt. Lokales Wissen wächst auf der Grundlage überlegener „Kenntnis der besonderen Umstände von Ort und Zeit" (Hayek) aus der unmittelbaren Erfahrung von Freiheit und Verantwortung. Dieses „lokale Wissen" verdorrt im umverteilenden nationalen Wohlfahrtsstaat und durch nationalen und internationalen „Zentrismus", wie Wilhelm Röpke die großen Gefahren seiner Zeit nannte, Gefahren, weil beide die „Rechnung ohne den Menschen" machen. Wilhelm Röpkes Antwort schon 1949 war „Föderalismus — national und international". Und in diesem Sinne ist auch der Dreiklang liberaler Programmatik zur Interdependenz von sozialer, wirtschaftlicher und politischer Ordnung in seiner Abkürzung zu verstehen: •
„Weniger Staat — mehr Eigenverantwortung". Das hebt die soziale Dimension von „weniger Staat" durch eine föderale Ordnung hervor.
•
„Weniger Staat - mehr Innovation". Das hebt die Dynamik des föderalen Wettbewerbs als Entdeckungsverfahren für bessere wirtschaftliche und politische Lösungen hervor.
•
„Weniger Staat — mehr demokratische Teilhabe" ist die politische Dimension einer konsequent am Subsidiaritätsprinzip orientierten föderalen Ordnung dezentralisierter Demokratie.
Professor Bogdandy formuliert sehr plastisch die zweite Ebene meiner Kritik an einem Verständnis von Demokratie, das nicht Grundlage einer künftigen Verfassung Europas werden darf: Nach der deutschen Übersetzung von Giscard d'Estaings Thukydides-Zitat „könnten Kaiser Wilhelm II. oder auch Mussolini Demokraten
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sein." Bogdandy erläutert diese Gleichsetzung: Noch einmal Teile des Zitats: „Die Verfassung ... heißt Demokratie, weil der Staat ... auf die Mehrheit ausgerichtet ist." Diese Worte ließen „paternalistische oder gar autoritäre Herrschaftsformen, solange sie das Gemeinwohl fördern, als demokratisch erscheinen." Das wäre jedenfalls nicht die Demokratie, die Liberale meinen. Erst recht macht die deutsche Übersetzung der französischen Fassung im Verfassungsvertrag für Europa deutlich, wie zwingend Verfassungsschranken zum Schutze der Freiheit, zur Begrenzung von „Demokratie" sind: „Demokratie" erscheint in der französischen Fassung als „Herrschaft der Mehrheit". Es sei dahingestellt, ob ein solches Demokratieverständnis wenigstes in der antiken Klassengesellschaft der griechischen Polis ein hinreichender Fortschritt gegenüber Tyrannis und Oligarchie gewesen sein mag. Für eine künftige Verfassung Europas taugt ein Vertrauen auf die „Herrschaft der Mehrheit" weder zur Sicherung der Freiheit noch zu größtmöglicher Teilhabe aller am demokratischen Rechtsstaat. Aus gutem Grund hat z.B. das Grundgesetz mit den Grundrechten, mit seiner Teilung von Macht, der repräsentativen Demokratie und dem Kern seiner föderalen Verfassung Sicherungen der Bürger gegen bloße „Herrschaft der Mehrheit" eingebaut. Dazu gehört auch der behutsame Umgang mit der Antwort auf die Frage, wo Elemente direkter Demokratie notwendig sind, wo sie für Teilhaberechte aller förderlich sind, wo sie aber andererseits für Freiheit und demokratische Teilhabe auch gefährlich sein können. James Buchanan hat die Teilung der Macht als demokratisches Kernelement jeder föderalen Ordnung so auf den Punkt gebracht: „Ich denke, dass ein konsequent klassisch Liberaler im allgemeinen föderale politische Strukturen befürworten muss, weil jede Teilung von Macht notwendigerweise dahin tendiert, das mögliche Ausmaß politischen Zwangs zu begrenzen. Jene Personen oder Gruppen, die gegen die Entflechtung von Macht sind, stellen durch diese Überzeugungen andere Werte über den der Freiheit und Selbstbestimmung des Einzelnen." Natürlich hat die Teilung von Macht, haben alle „checks and balances" einer Verfassung ihren Preis in Form geminderter Handlungsfähigkeit des Zentralstaates. Das hatte Richelieu früh und klar erkannt wie kaum ein anderer und entscheidende Grundlagen für den französischen Zentralstaat gelegt, damit auch für den militärischen Erfolg über das zentralistische Spanien. Das aber ist zum Glück nicht mehr das Problem Europas — trotz aller neuen Bedrohungen durch Terrorismus. Selbst mit der Korruption scheint es nicht mehr so schlimm zu sein wie im Föderalismus des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Da nämlich sagte Kaiser Karl V. von einem Hohenzollern, der sich gar fünfmal hin und her verkauft hatte, er „wende sich ab vor so viel Schande".
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Handlungsfähigkeit des Bundesstaats und Einheit des Rechtsstaats sind selbstverständlich auch im Frieden große Vorzüge. Und ebenso klar ist es, dass nicht alle Entscheidungen so bürgernah wie in der fußläufigen Demokratie der Gemeinde getroffen werden können. Also muss es in einer föderalen Ordnung auch stets um die Stärkung der Landtage und die Handlungsfähigkeit der Länder gehen. Es wäre falsch, hier Zielkonflikte zu leugnen. Und in der jeweiligen historischen Situation kann der Rang des Zieles „Einheit" so hoch sein, dass die Vorzüge von Vielfalt und größerer Bürgernähe des Non-Zentralismus zurücktreten. Diese Vorzüge sind Liberalen spätestens seit David Hume und Adam Smith sehr wohl vertraut. Und vor allem Wilhelm Röpke als sonst so einflussreicher Berater der FDP hat es ja nicht an eindrucksvollen Appellen fehlen lassen: Deutschland müsse so etwas wie eine größere Schweiz werden. Dennoch: Für viele Liberale meiner Generation gehörte damals das Bekenntnis zu einem möglichst zentralisierten Einheitsstaat zu den ehernen Grundüberzeugungen. Ich nehme mich da selbst nicht aus. Stefan Oeter hat auch diese unitarische Tradition der liberalen in seinem Standardwerk „Integration und Subsidiarität im deutschen Bundesstaatsrecht" gründlich beleuchtet. Als späteres Mitglieder der von mir seit 1998 geleiteten FöderalismusKommission der Friedrich-Naumann-Stiftung haben er und Paul Kirchhof mich beim 4. Manifest „Für einen reformfähigen Bundesstaat" selbstverständlich als überzeugten und konsequenten Föderalisten erlebt: „Landtage stärken, Bundesrat erneuern". Gerade auch für dezentralisierte Demokratie heißt das insbesondere: Vorrang des Privaten, Entflechtung und Transparenz von Kompetenzen und Verantwortung, nicht nur bei den Aufgaben, sondern auch bei Finanzen und Steuern. Das sind Mindestvoraussetzungen dafür, dass die Bürger mit ihrer Stimme bei Wahlen, aber auch durch ihr ganzes Engagement aktiver Bürgerschaft gute oder schlechte politische Leistung bewerten können. Das materielle Widerspruchsrecht der Bürger bei demokratischen Wahlen und ihre aktive Teilhabe an der Gestaltung ihrer Heimat sollen möglichst verhindern, dass Bürger zum letzten Ausweg der Abwanderung greifen müssen. Und auch dieser Ausweg ist nur in einem Bundesstaat mit Vielfalt und Wettbewerb der Politik um die bessere Lösung offen. Ich sagte eingangs, dass eine gute Verfassung der Freiheit auch eine gute Verfassung für bürgernahe, für dezentralisierte Demokratie ist. Das heißt zunächst, dass für die demokratischen Teilhaberechte des Einzelnen gilt, was auch für die Freiheit gilt: Beide finden ihre Grenzen in den Freiheits- oder Teilhaberechten der anderen Bürger. Freiheit und Teilhaberechte aller verlangen auch, was Ludwig Lachmann im ORDO-Jahrbuch 1979 auf Englisch präziser ausgedrückt hat, als dies so knapp auf
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Deutsch möglich ist: „The Flow of Legislation and the Permanence of the Legal Order". Diese stets schwierige Balance ist die Kunst von Maß und Mitte einer Verfassung der Freiheit und der Begrenzung von Demokratie im Dienste der demokratischen Teilhabe aller: den im Wandel nötigen Fluss der Gesetzgebung zu gewährleisten, ohne Relativismus, sondern mit Dauerhaftigkeit der Rechtsordnung und der letzten Werte, auf denen die Verfassung ruht und über die ein Bundesverfassungsgericht wacht. Eine noch so gut erdachte und bewachte Verfassung taugt nichts ohne die Bürger, die sie bejahen und als Verfassungswirklichkeit leben. Hier gilt, was Bundespräsident Rau am 31. März 2004 auf der Auftaktveranstaltung der Stiftungsallianz „Bürgernaher Bundesstaat" anmahnte: Die bürgernahe Demokratie braucht auch den Bürger, der mit Zivilcourage und Engagement Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen bereit ist. Dahinter steht das wohl gewichtigste Argument für die Verlagerung von so viel Zuständigkeiten und Verantwortung in den kommunalen Bereich, wie dies möglich ist. Denn dort, wo das „lokale Wissen" der Bürger als Schatz für Innovation und Wohlstand des Gemeinwesens gehoben werden kann, da lernen und leben Bürger auch die Bürgertugenden. Es sind diese Bürgertugenden einer wahren res publica, die aus einer guten Verfassung erst eine gute Verfassungswirklichkeit machen. Die Arbeit der Bundesstaatskommission zur Föderalismus-Reform wird uns hoffentlich über den Abbau einiger Reformblockaden im Bundesrat hinaus auf diesem Wege zur Bürgergesellschaft voranbringen. Und auch der EU-Verfassungsvertrag verträgt durchaus einige Härtungen des Subsidiaritätsprinzips, ohne dass befürchtet werden müsste, das ganze Vertragswerk könne daran scheitern. Schon gar nicht würde die große Vision eines Europas der Bürger in Einheit und Vielfalt an mehr Subsidiarität scheitern.
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Vom Zehnten der Bibel zum Spitzensteuersatz: Anmerkungen zur Steuergesetzgebung Rede anlässlich der Verleihung des Karl-Bräuer-Preises an Hans D. Barbier 1996 in Frankfurt Man sollte es kaum für möglich halten, doch es ist wahr. Das Thema „Steuern" lädt die meisten Menschen zu Verharmlosung und Illusionen hin. Man fragt sich, warum sich die Steuerpolitiker nicht die verzuckerte Pille zum Wappensymbol erkoren haben. Außen ist sie süß, darinnen ist die bittere Medizin. Wahrscheinlich liegt der Grund darin, dass die heilsame Wirkung bei Steuern nicht so offenkundig ist wie bei der Medizin. Im Gegenteil, Steuern bewirken meist mehr Übel als Heilung. Es lohnt sich daher, einen Blick unter den Zuckerguss von Verharmlosung und Illusion zu werfen. Die Verharmlosung besteht darin, dass man prinzipiell den guten Zweck von Steuern annimmt und lediglich den Missbrauch kritisiert. Die Illusion besteht darin, dass man glaubt, den Missbrauch irgendwie kontrollieren zu können. Den Glauben an das Gute in den Steuern bekommen wir schon seit Jahrtausenden — seit es so etwas wie „Staaten" gibt - geradezu eingehämmert. Steuern seien ein „Hebeopfer für den Herrn", heißt es in der Bibel. „Die Steuern sind, was wir für die zivilisierte Gesellschaft bezahlen", sagte ein nal der amerikanische Verfassungsrichter Oliver Wendeil Holmes. Die US-Steuerbehörde dankte es ihm und ließ die Worte über ihrem Eingang einmeißeln. Auch heute sprechen Politiker, etwa Bill Clinton, gerne von „Beiträgen für die Gemeinschaft". Eigentlich müsste es jedem Menschen beim Steuerzahlen warm ums Herz werden. Schon Ludwig Erhards großer Lehrer Franz Oppenheimer vermutete, dass mit der historischen Herleitung von Steuern als edle und gottgewollte Beiträge für die Gemeinschaft irgendetwas nicht stimmen könne. Der Staat, so meinte er 1909, sei nicht, was manche kluge Staatsdenker idealistisch dachten, nämlich ein Produkt freiwilligen Zusammenschlusses von Menschen, die Bürger werden wollten. Er sei vielmehr das Produkt von Krieg und Eroberung. Die Eroberer — meist Nomadenvölker, die friedliche Sesshafte überfielen - kamen schnell darauf, dass es Profitableres gab als einmaliges Plündern und Zerstören. Sie schufen dauerhaft institutionalisierte Unterdrückung und ließen die Unterworfenen für sich arbeiten. Diese wurden so zu wichtigem Kapital, das beschützt werden musste. Die Schutzfünktion des Staates entsprang daher nicht dem Wunsch nach Rechtsgemeinschaft, sondern diente der Sicherung der Tributzahlungen. Diese Tributzahlung an die Sieger sei, so Oppenheimer, Beginn der Besteuerung. Es wäre ein hässliches Erbe, auf das sich die heutige Steuerpolitik zurückführen lässt.
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Vielleicht war es nicht immer so, dass Staaten und Steuern ihre Existenz so unfriedlich begannen. Man braucht diese historische Hypothese auch gar nicht, um zu erkennen, dass Oppenheimer in einem Recht hatte. Mit dem Staat begann in jedem Falle eine besondere Art von „Einnahmenbeschaffung", nämlich die „politische". Sie steht im Gegensatz zur „ökonomischen" Einnahmenbeschaffung, die auf Freiwilligkeit, Tausch und Gegenleistung beruht. Diese ist gerecht und freiheitsverträglich. Sie respektiert das liberale Grundrecht auf Selbstbestimmung des einzelnen über sich und sein Eigentum. Auf ihr basiert nicht nur die wirtschaftliche, sondern auch die moralische Überlegenheit der Marktwirtschaft gegenüber allen anderen Ordnungsmodellen. Bei der „politischen" Einnahmenaneignung - der Besteuerung - besteht hingegen keinerlei Verbindung zwischen der zwangsweisen Abgabe und dem, was als Gegenleistung dafür geboten wird. Es wird unweigerlich das Recht auf Selbstbestimmung beschnitten. Es gegenüber dem politischen Umverteiler zu reklamieren, ist ungefähr so, als ob sie einem Straßendieb Vorschriften machen möchten, wie viel Geld er Ihnen nehmen und wofür er es verwenden soll. Viele Menschen werden dieses Diktum für ein wenig zu hart halten. Ihnen sei ein Blick in die deutsche Abgabenordnung empfohlen, wo steht: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegenleistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden." Weil die durch Steuern bedingte Aufhebung der Selbstbestimmung des einzelnen zugleich auch das Gegenleistungsprinzip aufhebt, geschieht etwas Fatales. Es kommt Willkür ins Spiel. Der einzelne wird sowohl beim Nehmen als auch beim Geben ein Subjekt willkürlicher Kollektiventscheidungen. Ohne Gegenleistung kann es keinen Maßstab mehr geben. Es kommt dann im Prinzip nicht mehr darauf an, ob der Staat böswilliger Eroberer oder gutwilliger Schutzpatron ist. Er weiß nicht, wann er begünstigt oder benachteiligt. Er bedient daher immer irgendwie egoistische Sonderinteressen durch Zwang zu Lasten anderer. Die politische Kollektivierung von Einkommen in Verbindung mit dem Mangel an Maßstäben ist nicht nur der Grund, warum Steuern nicht moralisch verharmlost und beschönigt werden sollten. Sie macht auch den Glauben an die Kontrollierbarkeit des Steuerunwesens zur Illusion. Die Eigendynamiken der Besteuerung scheinen in noch keinem Staat wirklich gebändigt worden zu sein. Sicher, es gab lange Perioden mit vergleichsweise geringer Besteuerung. In den finsteren Vorzeiten, die Oppenheimer vielleicht im Sinn hatte, mag eine gewisse Klarheit im Besteuerungsspiel noch vorhanden gewesen sein. Oben die „Herren", die ausbeuteten und plünderten, unten die Untertanen, die ausgebeutet und geplündert wurden. Dies, so argumentieren manche Historiker, hätte
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den Widerstandswillen der Unterdrückten gestärkt. Tatsächlich gab es früher häufiger Steuerrebellion größeren Ausmaßes. Ich habe da meine Zweifel. Sicherlich besaßen die Menschen des Mittelalters eine bewundernswert robuste Steuermentalität. Ich glaube aber eher, dass das geringere Wohlstandsvolumen der Zeit kein wesentlich höheres Steuerniveau zuließ. Einem heutigen Menschen kann man 50% des Einkommens wegnehmen. Er wird dies unschön finden, aber er wird nicht verhungern. Ein mittelalterlicher Mensch wäre wohl verhungert. Es lag im Interesse der Obrigkeit, die Kuh, die man melken wollte, nicht zu schlachten. Ein anderer Faktor dürfte auch eine Rolle bei der Begrenzung der Steuerlast gespielt haben. Es ist dies die religiöse Sanktionierung von Steuerbegrenzungen. Die Zeit des biblischen Zehnten kann dem Bürger unseres heutigen Hochsteuerstaates tatsächlich wie eine positive Utopie vorkommen. Der amerikanische Steuerhistoriker Charles Adams spricht euphorisch vom Mittelalter als einer Zeit, in der der „Steuerzahler Gott auf seiner Seite hatte". Wir heutige Bürger sollten uns aber nicht zu zuviel Bewunderung hinreißen lassen. Zum ersten haben sich selbst christdemokratische Politiker so sehr an den regen Fluss von Staatseinnahmen gewöhnt, dass sie dafür jederzeit bereit wären, der Bibeltreue abzuschwören. Zum zweiten hat der strikte Beschränkungsmechanismus des „Zehnten" kaum mehr erreicht als eine Verlangsamung des Übersteuerungsprozesses, nicht aber seine prinzipielle Eindämmung. Schon die Tatsache, dass er im Frühmittelalter zur ausschließlichen Finanzierung des Kirchenapparates eingezogen wurde, obwohl die zur Rechtfertigung herangezogene Bibelstelle (Moses 3.27.30) dies nicht so eindeutig vorschreibt, zeigt, wie erfolgreiche Interessengruppenpolitik funktioniert. Schon unter Ludwig dem Frommen wurden 818 auch diejenigen weltlichen Grundherren Nutznießer des Zehnten, die Inhaber von Eigenkirchen waren. Durch Veräußerungen und Verpfändungen, kamen schließlich auch alle möglichen anderen Laien hinzu, obwohl die Kirche im Interesse ihrer Besitzstandswahrung die Veräußerlichkeit des Rechtes auf den Zehnten energisch bestritt. So kamen immer mehr Nutznießer von Steuern dazu. Auch das, was besteuert wurde, vermehrte sich auf wundersame Weise. Zunächst nur Landerträge, dann auch das liebe Vieh, schließlich ab dem 13. Jahrhundert Geld; zunächst einzelne Besitzer, dann ganze landesherrliche Territorien (was die Abwälzung auf bisher nicht Besteuerte ermöglichte). Auch kreative Wortschöpfungen zur Verschleierung neuer Steuern gab es früh, etwa schon in biblischer Zeit den altägyptischen Doppelzehnten, der natürlich nur ein schön- und fromm geredeter Fünfter war. Sie sehen, nicht einmal ein gottgewolltes Hindernis ist für Steuerpolitiker ein wirkliches Hindernis. Man soll nie ihre Kreativität bei der Entwicklung von Umgehungsstrategien unterschätzen. Das Oppenheimersche Bild des Eroberungsstaates als historischer Kern des modernen Steuerstaates hat uns dazu verleitet, in der Demo-
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kratie unser Heil zu suchen. Es schien klar, dass alle autokratischen Herrschaften auf Ausbeutung basierten, und dass die Herrschaft aller dagegen zur Minimierung der Lasten beitrüge. Dies schien zunächst gut belegt. Selbst dort, wo sich Monarchen ernstlich um das Wohl des Ganzen bemühten, schien der bürokratische Herrschaftsapparat eine drückende und ausbeuterische Bürde. Von Preußens großem aufgeklärten Monarchen Friedrich II. ist die Anekdote überliefert, dass er seinen Finanzminister in der Kabinettsrunde fragte, wieso die Steuern für das Volk immer höher würden, aber der Staatsschatz trotzdem so klein sei. Der Finanzminister ließ sich darauf ein kleines Stück Eis bringen, das dann von der Hand eines Ministers zum nächsten langsam zum König durchgereicht werden sollte. Natürlich bekam der König kein Stück Eis mehr, sondern nur noch einen feuchten Händedruck. Indes weist die Demokratie kaum eine bessere Bilanz auf. Ursprünglich sollte sie den allzu offenkundig minoritären Interessengruppen das steuerfinanzierte Leben verunmöglichen. Die beiden großen demokratischen Revolutionen, die in Amerika 1776 und die in Frankreich 1789, waren zunächst Steuerrevolutionen. In Wirklichkeit eröffnete aber gerade die Demokratie noch mehr - letztlich allen! - Interessengruppen den Zugang zu den Steuertöpfen. Zudem brauchte der demokratische Staat keine Gewalt mehr, um sie durchzusetzen. Wo alle irgendwie mitmachten, verschwamm die Unterscheidung von „Räubern" und „Beraubten". Die zuckersüße Illusion der Freiwilligkeit von Steuern kam auf. Der Staat sind schließlich wir alle, hieß es bald. Die Konfusion zwischen dem Recht auf Selbstbestimmung und dem Recht auf Mitbestimmung wurde so systematisch gefördert. Unser modernes demokratisches System ist für diesen Denkfehler sehr anfällig. Die Steuerdynamik, die wir heute erleben, ist daher von historisch einmaligen Ausmaßen. Die Politik steckt in einem Dilemma. Für den Bürger ist es ökonomisch rational, mehr „Leistungen" (d.h. Privilegien) vom Staat zu verlangen. Für die Politiker ist es ökonomisch rational, auf die entsprechenden Wünsche einzugehen, wollen sie im Kampf um Wählerstimmenprozente überleben. Beide tun, was sie tun, obwohl sie wissen, dass es langfristig für alle nachteilig und irrational ist. Es ist der ständige Zwang der kurzfristigen Interessenlagen, der das Steuerniveau ständig hochtreibt. So stampft schließlich eine immer größer werdende Maschinerie „politischer" Einnahmensicherung durch den einst blühenden Garten „ökonomischer" Erwerbskraft. In unserem Lande sind die Spuren der Verwüstung, die diese Maschinerie anrichtet, bereits beträchtlich. Wir dürfen nicht hoffen, dass wir sie je wirklich zum Anhalten bringen. Sie wird immer ein zerstörerischer Fremdkörper in einer Marktwirtschaft bleiben. Selbst die Ökonomen scheinen oft die Augen vor dieser grauenvollen Wahrheit zu verschließen, benutzen doch auch sie häufig den Ausdruck „marktkon-
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form" für steuerliche Interventionen - insbesondere beim Thema „Öko-Steuern". Es gibt natürlich keine marktkonformen Steuern! Hans D. Barbier, den wir heute ehren, hat es einmal treffend formuliert: „Unbemerkt also kann der Fiskus nicht kassierend über die Märkte gehen. Aber er kann dezent auftreten oder polternd." Dass er sich hierzulande für die polternde Alternative entschieden hat, scheint klar. Mit einem Spitzensteuersatz von 53% Regen wir mitderweile weltweit in der Hochsteuer-Oberliga. Es scheint eine pessimistische Botschaft zu sein, die ich hier verbreite. Sie soll aber nicht bedeuten, dass sich nichts verbessern ließe. Natürlich wird es kein liberales Utopia geben. Das Projekt des Minimalstaates, der ausschließlich dem einzelnen seine moralische Existenz sichert, indem er sein Recht auf freie Selbstbestimmung schützt, ist schon aus technischen Gründen unrealisierbar. Kollektivierung und Fremdbestimmung sind der Preis, den wir für den Staat notwendig zahlen müssen. Er ist ein notwendiges Übel, aber trotzdem immer noch ein Übel. Der vor kurzem verstorbene amerikanische Ökonom Murray Rothbard hat gesagt, dass der wahre Grund für das Scheitern des liberalen Experiments der Umstand sei, dass man kein passendes Steuersystem für den Minimalstaat erfinden könne. Es gebe keine gerechten Steuern. Während sein anarcho-kapitaüstischer Gegenvorschlag, den Staat ganz abzuschaffen und die innere und äußere Sicherheit zu privatisieren, zwar in bestechender Weise steuerminimierend klingt, aber nur von akademischem Interesse ist, bleibt eines tatsächlich bestehen: Keiner der großen Denker des liberalen Minimalstaates, von Kant über Humboldt bis hin zu dem Harvardprofessor Robert Nozick, der sich 1974 in seinem Buch „Anarchy, State and Utopia" für dieses Staatsmodell aussprach, hat sich die Mühe gemacht, ein zu seiner Vision passendes Steuerrecht zu entwickeln. Die Angst vor dem Scheitern mag sie bewogen haben, sich dieser unmöglichen Aufgabe zu stellen. Man sollte sich aber von der Unmöglichkeit der Aufgabe nicht abschrecken lassen. Denn: man kann sich dem Ideal immerhin annähern. Dies heißt natürlich, dass der Kampf gegen den Steuerstaat nie enden wird. Wir müssen einem trickreichen und gerissenen Gegner immer wieder neue trickreiche und gerissene Idee entgegenhalten. Dazu will ich nur einige Anregungen andeuten. Eine davon wäre die direkte konstitutionelle Beschränkung der Steuerquote. Man könnte dabei z.B. die maximale Gesamtbelastung des Bürgers durch Steuern und Abgaben auf ein Drittel begrenzen. Der Vorschlag findet sich auch im neuen Entwurf für das Grundsatzprogramm der FDP. Denjenigen, die dies für verbohrten neoliberalen Dogmatismus halten, sei entgegengehalten, dass dies immerhin mehr als drei biblische Zehnte sind. Selbst die Idee, Steuern verfassungsrechtlich zu begrenzen ist ja nicht realitätsfem. Ich freue mich immer noch täglich über das Urteil unse-
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res Bundesverfassungsgerichts zum Thema ,Einheitswerte', das klipp und klar besagt, dass dem Bürger nicht mehr als die Hälfte abgenommen werden darf. Auch könnte man für die Erhöhung und Einführung von Steuern eine qualifizierte Mehrheit verlangen - so wie bei Grundgesetzänderungen. Diese Forderungen sind gut und richtig, doch nicht hinreichend. Sie können nur funktionieren, wenn die Menschen wirklich von der Notwendigkeit einer Umkehr in der Steuerpolitik überzeugt sind. Ansonsten werden alle Barrieren durch die Politik über- oder umgangen. Daher müssen wir zunächst für eine Bewusstseinsänderung kämpfen. Dazu gehört gründliche Volksaufklärung. Der süße Zuckerguss, der unsere Steuerpolitik umhüllt, muss abgekratzt werden, damit das Bittere wieder schmeckbar wird. Man kann diesen Bewusstseinwandel auch mit gesetzlichen Maßnahmen anstoßen. Auf sie sollte in Zukunft unser Augenmerk gerichtet werden. Erstens: Die Nettolohnmentalität kann recht einfach abgebaut werden. Sie besteht darin, dass es gegenwärtig für den einzelnen Arbeitnehmer nicht interessiert, wie viel er seinem Arbeitgeber kostet. Diese Sicht der Dinge ist verständlich, führt aber zur völligen Verantwortungslosigkeit. Um ihr beizukommen, müsste das Gehalt einfach in Brutto ausgezahlt werden. Für die Zahlung von Lohn- und Einkommenssteuer und Sozialabgaben wäre der dann jeder selbst verantwortlich. Dieser Kunstgriff könnte Wunder wirken. Zweitens: Wir brauchen mehr Simplizität im Steuersystem. Die Komplexität unseres Steuersystems — alleine die zwölf wichtigsten Steuergesetze füllen ca. 3000 Seiten — ermöglicht permanente schleichende Steuererhöhungen. Es macht den Charme der Idee der flat tax ä la Forbes aus, dass durch sie jede Erhöhung der einheitlichen Einkommenssteuer als alleiniger Steuer von den Steuerzahlern sofort als Frontalangriff gespürt wird. Es ist klar, dass noch sehr viel passieren muss, das an Revolution erinnert, bevor dies realisiert werden kann. An der Vereinfachung des Steuersystems sollten wir trotzdem weiterhin arbeiten. Drittens: Dezentralisierung. Je weiter das Zentrum der politischen Macht vom einzelnen Bürger entfernt ist, umso leichter fällt es ihm, an die unbegrenzte Abwälzbarkeit von Kosten zu glauben. Es ist dann nur noch die anonyme „Gesellschaft", an die Ansprüche gestellt werden, nicht mehr der konkrete Mitbürger, der dies alles zu zahlen hat. Margaret Thatcher sagte 1987 zu Recht, dass es eine .Gesellschaft' nicht gebe, sondern nur Individuen und Familien. Im Idealfall sollte daher alles dem Markte überlassen werden, der unverantwortliches Abwälzen nicht kennt. Ansonsten muss der Wert freiwilliger und politikfreier Gemeinschaften - von der Familie bis zu Selbsthilfevereinen — wieder stärker betont werden. Hier ist Solidarität noch echte selbstbestimmte Solidarität.
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Viertens: In autokratischeren Zeiten, als der Bürger sich noch offen als ausgebeuteter Untertan verstand, war Rebellion gegen Steuern oft auf der Tagesordnung. Nun will ich natürlich nicht dem Vergießen von Politikerblut das Wort reden. Die moderne Demokratie hat ja auch Vorteile. Dazu gehört die Möglichkeit friedlicher Konfliktregelung. So sehr diese Regierungsform die Expansion der Steuerlast Vorschub leistet, so sehr kann sie auch dagegen ausgerichtet werden. Plebiszitäre Elemente in der Verfassung, etwa obligatorische Volksabstimmung über Steuereinführungen, können durchaus heilsam sein, wie das Beispiel der Schweiz zeigt. Damit würden wir uns der sehr alten Idee einer Besteuerung ein wenig nähern, die auf dem Konsens der Besteuerten basiert. Es wäre eine friedliche institutionalisierte Form des Widerstandsrechtes. Die damit verbundene Ausweitung der Rechte der Steuerzahler würde wohl nicht nur deren Bewusstsein fördern, sondern auch das der Politiker. Auch diese Ideen werden wohl heute noch als utopisch angesehen. Sind sie überhaupt realisierbar? Wir können natürlich vor der Aufgabe zurückschrecken und auf den großen Crash warten, der gewiss kommt, wenn wir weitermachen wie bisher. Dann können Sie diese Ideen als Ratschlag für die Zeit des — hoffentlich besseren — Neubeginns sehen. Ich hoffe allerdings, dass es nicht soweit kommt. Ich hoffe, dass Illusionslosigkeit und Beharrlichkeit doch die groß angelegte Reform bewirken. „Eine solche Reform", so sagte einmal Hans D. Barbier, „bleibt als Langfristaufgabe auf der Tagesordnung."
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Die konfiszierte Freiheit. Die Krise des Steuerstaates und die Grenzen der Machbarkeit Rede anlässlich der Verleihung der Reinhold-Maier-Medaille, Stuttgart, 22. August 1998 Manche Fragestellungen laden dazu ein, über Gott und die Welt zu reden — und dabei haarscharf am Thema vorbei. Bei der Steuerpolitik lohnt es sich, mit Gott und der Welt anzufangen, weil damit alles begann — nämlich mit den Zehnten, den wir dem Herrn schulden. Moses nahm vom Berg Sinai mit auf den Weg, dass alle Zehnten im Lande des Herrn sind und dem Herrn heilig sein sollen (3. Mose 27, 30). Diese frühe Heiligsprechung der Steuer dauert bis heute an, wirkt auch im Bewusstsein des modernen Menschen weiter. Denn auch heute werden vielfältige Überhöhungen und Verbrämungen genutzt, um Steuern generell zu begründen, neue einzuführen oder vorhandene zu erhöhen — natürlich für immer edle Zwecke. Wenn die Steuer als solche im hohen Stand der Heiligkeit ist, fällt es einfach leichter, den Leuten das Geld aus der Tasche zu ziehen. Der Respekt vor Gott ist seit der schnöden Welt der Aufklärung immer weiter zurückgegangen, die Steuern nicht — wie wir alle bestens wissen. Für die Heiligkeit der Steuer muss heute das Gemeinwohl herhalten. Und das wirkt fast noch besser als irgendwelche transzendenten Instanzen. Der Respekt vor dem Gemeinwohl gebiete, dass man Steuern zahlt. Nun hat sich die Verbindung von Steuer und Moral heute doch krass geändert — so mag mancher einwenden. Die Steuermoral sei heute bekanntlich mehr als schlecht in Deutschland. Aber selbst arge Steuersünder stellen die prinzipielle Pflicht zum Steuerzahlen nicht in Frage. Das heutige Steuersystem wäre mit seinen enormen Eingriffen in die Eigentumsrechte von Menschen überhaupt nicht denkbar, ohne ein Fortbestehen der moralischen Überhöhung. Überhöhte Moral erzeugt den grundsätzlich unterwürfigen Zahler. Und unser Steuerrecht ist ein verschleiertes System moralischer Anforderungen. Ein simples Beispiel verdeutlicht das. Wenn Sie die Menschen bei uns grundsätzlich zum Steuerthema befragen, dann denken neun von zehn, dass der Erhebung von Steuern ja bestimmte Gegenleistungen gegenüberstehen, dass Steuerzahlung auf Gegenleistung beruhe. Welch ein fataler Irrtum. Denn Steuern heben gerade nicht auf irgendwelche Gegenleistungen ab. Auch in der deutschen Abgabenordnung, unserem Steuergrundgesetz, heißt es in § 4: „Steuern sind Geldleistungen, die nicht eine Gegen-
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leistung für eine besondere Leistung darstellen und von einem öffentlich-rechtlichen Gemeinwesen zur Erzielung von Einnahmen allen auferlegt werden..." Steuern sind also prinzipiell Zahlungen ohne Gegenleistung - und wie fein und weitgehend ist es dem heutigen Steuerstaat gelungen, genau das vor den Steuerzahlern zu verbergen. Deshalb wird die steigende Steuerlast trotz allem Murren und Knurren weitgehend widerspruchslos von der Mehrheit der Bürger hingenommen. Deshalb geht eine bloße Diskussion über einzelne Steuererhöhungen, die sich oft unzutreffend an die Bewertung eines bestimmten Zwecks bindet, weitgehend ins Leere. Und deshalb ist es notwendig, wenn wir über die Krise des Steuerstaates reden, nicht bei einzelnen Fragen der Höhe der Belastbarkeit anzusetzen, sondern grundsätzlicher: Bei der Mentalität. An die Mentalität der prinzipiellen Unterwürfigkeit des Staatsbürgers als Steuerzahler kommen wir nur heran, wenn wir über die Erfordernisse der Finanzierung eines Gemeinwesens reden, wenn wir die Struktur des Steuersystems zum Thema machen. Das ist mein Ausgangspunkt und an dieser Stelle kommt auch die Freiheit ins Spiel, die scheinbar straflos immer weiter konfisziert wird, scheinbar unbehelligt weiterlebt, aber in Wirklichkeit ganz erheblich abstirbt in unserem hypertrophierten Steuer- und Sozialabgabenstaat. Genau hier sehe ich den Schlüssel, um beim Thema Steuern die vordergründige Belastungs- und Endastungsdiskussion aus dem Schema von Leistung und Gegenleistung herauszubringen, von der moralischen Überhöhung zu befreien und damit überhaupt eine Diskussion über das Steuersystem der Zukunft einzuleiten. Wie weit wir im Bewusstsein der Menschen heute von einer Grundsatzdiskussion über das Steuersystem entfernt sind, zeigt ein Beispiel: Die wachsende Nettolohnmentalität bei vielen Arbeitnehmern. Wenn Sie die Menschen heute nach ihrem Einkommen fragen, so wird zumeist nur über das Nettoeinkommen — und zwar über das Arbeitnehmer-Nettoeinkommen - geredet. Das Arbeitgeber-Brutto ist praktisch keinem Arbeitnehmer bekannt. Es ist für die Arbeitnehmer eine nichtexistente Größe, obwohl die Existenz seines Arbeitsplatzes mehr denn je davon abhängt. Ein auch vom Staat begünstigter Verdrängungsprozess hat dazu geführt, dass sich die Bürger heute weitgehend am reinen Nettolohn orientieren und vergessen, dass sie selbst mit ihrer individuellen Leistung den Bruttolohn erwirtschaften. Schon eine winzig kleine Änderung des Systems der Zahlung von Steuern und Sozialleistungen könnte helfen, die heute herrschende Nettomentalität zu brechen. Wir müssten dem Arbeitnehmer nur sämtliche Gehaltsbestandteile auszahlen, einschließlich aller Arbeitgeberanteile bei der Sozialversicherung. Wenn die Bürger selbst die Lohn- und Einkommensteuer an den Staat abführen und selbst die vollen Sozialver-
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sicherungsbeiträge bezahlen, würde das finanziell zunächst überhaupt keinen Unterschied machen, aber enorm zur Bewusstseinsveränderung beitragen. Mehr Klarheit kann eine starke Waffe bei der Bekämpfung des Steuer-Fatalismus sein. Mehr Klarheit könnten wir auch bei den indirekten Steuern schaffen. Elektronische Registrierkassen und computergestützte Rechnungserstellung machen es heute problemlos möglich, alle indirekten Steuern bei jeder Rechnung, auch beim Einkauf im Supermarkt, anzugeben. Die Menschen hätten damit eine dauernde Information über ihre indirekten Steuerleistungen. Schließlich könnte auch auf der staatlichen Ausgabenseite mehr Klarheit entstehen. Hier möchte ich den liberalen Vorschlag für die Einführung eines Bürgergeldes nennen, mit dem wir die unzähligen Leistungen der verschiedensten Behörden in einer Hand zusammenfassen könnten. Die Einfuhrung des Bürgergeldes hätte zahlreiche systematische, ordnungspolitische und sozialpolitische Vorteile. Gleichzeitig — und das ist hier mein Thema — sorgt es ebenfalls für Klarheit und entsprechend bessere Bewusstseinsbildung im Verhältnis von Staat und Bürger. Am Steuersystem lässt sich vieles ablesen, auch der Freiheitsgehalt und die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft. Man sollte sich daher nicht einreden lassen, dass das Thema „Steuern" — nur weil es um Geld geht — ein geringer zu schätzendes Freiheitsthema sei als andere, mehr moralisch aufwühlende. Auch hier gilt, was Reinhold Maier vorausschauend einmal gesagt hat: „Es gibt nicht einzelne Freiheiten, keine unter- und abgeteilten Freiheiten, sondern nur die ganze Freiheit." Die bisweilen vernehmbare Geringschätzung des Steuerthemas als Schwerpunkt liberaler Politik durchaus negative Folgen. Abgesehen von der ökologischen Debatte - die zu Unrecht oft gegen die marktwirtschaftliche Ordnung instrumentalisiert wird — werden deshalb nämlich Zukunftserfordernisse weitgehend aus der Diskussion ausgeblendet. Eine Befassung mit Zukunftserfordernissen aufgrund der generellen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Entwicklungen findet nicht statt und ergo auch kaum eine Befassung mit der notwendigen Neubestimmung des Verhältnisses von Staat und Bürger. Der Philosoph Hermann Lübbe hat es auf den Punkt gebracht: „Mit der wachsenden Komplexität moderner Lebensverhältnisse nimmt die Eignung der öffentlichen Verwaltung ab, uns anstelle des Marktes mit seinen Leistungen zu bedienen. Privatisierung ist nicht ein Programm residualer Alt-Liberaler, vielmehr eine Liberalitätsbedingung allgemeiner Wohlfahrt in hoch entwickelten Gesellschaften." Das habe ich natürlich gern gehört und gelesen — nicht nur als übrig gebliebener Alt-Liberaler, sondern als ausgesprochen jung-liberal-Denkender vom Ende der staatlichen Organisierbarkeit prinzipiell komplexer werdender Gesellschaften überzeugt ist und der
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davon ausgeht, dass wir bereits in einem Zeitalter weitreichender Pluralisierung und Individualisierung leben, ohne dass wir dem in unseren gesellschaftlichen Organisationsformen bislang auch nur annähernd Rechnung tragen. Unser Steuersystem konfisziert die Freiheit doppelt. Einmal wird durch die Höhe der Steuern naturgemäß der private Spielraum eingeschränkt, wird freies Handeln in erheblichem Umfang seiner finanziellen Ressourcen beraubt. Der andere Gesichtspunkt wiegt allerdings weit schwerer für die heutige Situation: Steuern konfiszieren Freiheit, weil sie Verantwortung töten. Wer den Zehnten gibt, der ja längst für viele zur Hälfte geworden ist, erwartet auch etwas, nämlich stetige Befreiung von eigenen Solidaritätsleistungen. Unsere Steuern — zumal nach der deutschen Einheit — sind zu einem Ablasshandel geworden. Wir haben es auch aufgrund des Steuersystems mit einer Spaltung der Freiheit zu tun. Bei uns findet ein ständiger Prozess der Trennung zwischen individueller Freiheit und Verantwortung statt. Wir haben in Deutschland eine sehr starke etatistische Tradition, die für die Politik eben nicht den Bürger zum Ansprechpartner macht, sondern den Staat. Politik sammelt die Wünsche der Menschen und adressiert sie dann mit Paragraphenforderungen an den Staat. Dadurch wächst ständig eine fatale Anspruchshaltung an den Staat, wobei der angesichts der komplexen globalen Entwicklung immer weniger in der Lage ist, solchen Ansprüchen gerecht zu werden. Trotzdem wird politischer Fortschritt nach wie vor weitgehend an der Befriedigung gesellschaftlicher Wohlstands- und Anrechtsansprüche gemessen. Politischer Fortschritt definiert sich heute dadurch, dass ein Wachstum von Rechten beim Einzelnen stattfindet und der einzelne zugleich von Verantwortung entlastet wird. Das alles geht einher mit einem spezifischen Dogmatismus im sozialen Denken und Handeln, mit einem deutschen „Underdogmatismus", der den sozialen Underdog zum Ecktypus und Ausgangspunkt von Politik macht. Dieser „Underdogmatismus" führt zu dem populären, aber trotzdem falschen Schluss, dass man die Leistung in Ketten legen müsse, um soziale Gerechtigkeit zu sichern. Zuwenig wird erkannt, dass eine solche Politik im Ergebnis gerade die Interessen des sozial Benachteiligten schädigt. Eine solche Politik war lange Zeit scheinbar problemlos machbar. Inzwischen haben wir objektiv das Ende der bequemen Verteilungspolitik erreicht. Wer heute einer Gruppe etwas geben möchte, muss einer anderen etwas wegnehmen. Natürlich bemühen wir uns, die Weichen für mehr Wachstum zu stellen. Die Grundlagen für ein dauerhaftes Wachsen der Wirtschaft — also für mehr als einen typischen kleinen Vorwahlkonjunkturschub — hat die Politik aber noch nicht geschaffen. Hier liegt das Reformtempo in Deutschland im internationalen Vergleich weit zurück. In
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diesem Kontext muss man mit großer Sorge die gegenwärtig weiterhin entschieden zu hohe Steuer- und Abgabenlast gesehen werden. Das Scheitern der großen Steuerreform war in dieser Hinsicht ein Desaster. Dadurch werden die Grundlagen für Wachstum und Beschäftigung zwangsläufig geschwächt. Grotesk mutet daher an, dass trotzdem kaum eine Woche — ja vielleicht nicht einmal ein Tag! - vergeht, an dem nicht irgendein Politiker die Öffentlichkeit mit einer neuen Idee beglückt, wie man den Bürger noch mehr schröpfen kann. Auf der rechteren Seite des Spektrums versucht man dies noch ein wenig zu vertuschen, um den bürgerlichen Schein zu waren. Man nehme nur den bayerischen Vorschlag einer Autobahnvignette, die zwar keinen Verkehrs- oder umweltpolitischen Nutzen stiftet, aber eine Erhöhung der Kfz-Steuer gut tarnt. Auf der linkeren Seite begeistert man sich so sehr über mehr Neidsteuern, dass man darüber sogar vergisst, wem man eigentlich was neidet. Die bei den Grünen diskutierte Spekulationssteuer auf Aktiengewinne gehört dazu. Vor lauter Freude darüber, vermeintliche Bösmenschen — in Wirklichkeit meist Menschen, die sich um ihre Altersvorsorge kümmern — auszuplündern, haben die grünen Gutmenschen glatt übersehen, dass im deutschen Steuerrecht Gewinne nur nach Abzug der Verluste ermittelt werden können. Die Folge: Jeder richtige Spekulant, der einmal bei „daneben" getippt hat, käme so in den Genuss von staatlichen Entschädigungen. Die Anti-Spekulantensteuer könnte also in der Realität für mehr „soziale Sicherheit" für Spekulanten sorgen. Das alles sind jetzt allerdings Betrachtungen innerhalb der bestürzenden Logik des bestehenden Systems. Was wir langfristig brauchen, ist eine Systemveränderung. Aus einer planwirtschaftlichen Steuerpolitik muss eine marktwirtschaftliche Steuerpolitik werden. Für die Notwendigkeit einer Strukturdiskussion über das Steuersystem sind aus meiner Sicht zwei grundlegende Entwicklungen entscheidend: 1. Wir müssen den wachsenden internationalen Vernetzungen und Interdependenzen endlich in unserer innerstaatlichen Struktur und damit auch im Steuersystem Rechnung tragen. Wir werden immer stärker konfrontiert mit einer zunehmenden Integration der internationalen Finanzmärkte, mit einer schnelleren Verbreitung von Know How, mit sinkenden Transport- und Kommunikationskosten, die für Deutschland die Konkurrenzsituation verschärfen. Durch enger aneinanderrückende Märkte geraten unsere Lohnkosten unter Druck. Verteilungsspielräume verengen sich. Und weil das allgemeine Sozhialhilfeniveau de facto Mindestlöhne setzt, gerät gleichzeitig mit dem Arbeitsmarkt auch das System der sozialen Sicherung in Deutschland unter Druck. Die richtigen Antworten liegen auf der Hand: Wir brauchen Deregulierung, Bürokratieabbau, Privatisierung, Abbau der Verschuldung und eine Rückführung der Staats-,
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Steuer- und Abgabenquote. Wir brauchen Steuerentlastung und Steuervereinfachung zur Sicherung von Arbeitsplätzen im internationalen Wettbewerb. Unsere zu hohe Steuerbelastung erdrosselt heute Leistungsfähigkeit und -bereitschaft, gefährdet Arbeitsplätze und die Freiheit der Bürger. 2. Wir brauchen mehr individuelle Freiheit angesichts der allgemeinen gesellschaftlichen Entwicklung und damit bin ich bei der zweiten grundlegenden Herausforderung. In unserem Land findet ein rasanter Wandel von der Industriegesellschaft zu einer Informationsgesellschaft statt. Die Informationsgesellschaft braucht als Erfolgsfaktor lebensnotwendig mehr Kreativität der Menschen, sie braucht Dezentralität, Partizipation, kleine Einheiten und persönliche Leistungsbereitschaft. Durch diese Entwicklung gewinnt individuelle Freiheit prinzipiell an Bedeutung. Allein die Entwicklung zur Informationsgesellschaft macht eine Neubestimmung des Verhältnisses von Bürger und Staat zwingend und damit auch eine Strukturreform des Steuersystems notwendig. Beide Entwicklungen schreien danach, unser Steuersystem rigoros zu überprüfen. Was wir heute haben, ist eine immer stärker konfiszierte Freiheit. Das heutige deutsche System der Einkommensteuer verkürzt die Zukunft und schmälert die möglichen Wohlstandszuwächse zu Lasten aller Mitglieder der Gesellschaft. Eine Steuerstrukturreform muss vor allem bei den leistungsfeindlichen direkten Steuern ansetzen. Die direkten Steuern müssen gesenkt werden. Allein deshalb wäre es besser, eine niedrigere Lohn- und Einkommensteuer und stattdessen höhere Konsumsteuern zu haben. Angesichts der hohen Arbeitslosigkeit ist es geradezu absurd, dass wir mit der Lohn- und Einkommensteuer gerade das besonders hoch belasten, was wir angeblich am dringendsten brauchen, nämlich Arbeitsplätze. Angesichts der Zukunftserfordernisse ist es außerdem absurd, dass die geltende Form der Einkommensteuer ausgerechnet Sparen und Investieren diskriminiert, also gerade die Verwendungsformen des Einkommens, die über den Aufbau und die Modernisierung des Kapitalstocks entscheiden und damit für wirtschaftliche Dynamik sorgen. Es ist ökonomisch sinnvoll, konjunkturell geboten und haushaltspolitisch notwendig, die Wachstumskräfte in Deutschland zu stärken. Je mehr Geld aber der Staat den Bürgern und Unternehmen belässt, desto dynamischer wird die wirtschaftliche Entwicklung sein. Für die Stärkung im internationalen Wettbewerb und angesichts der Herausforderungen der Informationsgesellschaft müssen wir weg von den direkten Steuern. Wir müssen umschichten von direkten Steuern zu Konsumsteuern. Nur dann wird dem einzelnen verantwortungsbewussten Bürger wieder die Freiheit zurückgegeben, um mit seinen eigenen Vorstellungen und Ideen zum gesamtgesell-
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schaftlichen Wohl beizutragen. Gleichzeitig wird ein Beitrag zur besseren Kapitalbildung geleistet. Eine Rückführung der direkten Steuern wäre schon deshalb ein Beitrag zur Vereinfachung des Steuersystems, weil der Gesetzgeber aus wirtschafts- und sozialpolitischen Gründen um so mehr komplizierte Ausnahmen zulässt, je höher der Steuersatz ist. Dabei möchte ich die Lohn- und Einkommensteuer zunächst einmal von zwei Seiten in die Zange nehmen: Einmal beim zu hohen Spitzensteuersatz, zum anderen beim steuerlichen Grundfreibetrag. Dabei geht es mir nicht nur um die angemessene Sicherung des Existenzminimums. Es geht auch darum, dass derjenige, der arbeitet, auch nach Abzug von Steuern und Abgaben besser gestellt ist, als der Bedürftige, der einen Anspruch auf die solidarische Hilfe hat. Wer das Abstandsgebot verletzt, macht nun wirklich die fleißigen Arbeitnehmer zu den Idioten der Gesellschaft. Ich fasse zusammen: 1.
Wir müssen die Steuern von den moralischen Überhöhungen befreien.
2.
Wir müssen den Steuer-Fatalismus bekämpfen — durch bewusstseinsbildende Maßnahmen, die mehr Klarheit über die individuelle Steuer- und Abgabenquote schaffen.
3.
Wachsender internationaler Wettbewerb und die Entwicklung zur Informationsgesellschaft machen ein neues Verhältnis von Staat und Bürger in Deutschland notwendig und damit auch eine grundlegende Steuerstrukturreform.
4.
Wir dürfen nicht vor dem Underdogmatismus zurückweichen, der die wirtschaftliche Vernunft in Deutschland als soziale Kälte denunziert.
5.
Aus einer planwirtschaftlichen muss eine marktwirtschaftliche Steuerpolitik werden, die auf Dynamik statt auf Gleichheit setzt.
6.
Eine Steuerstrukturreform muss vor allem die leistungsfeindlichen direkten Steuern drastisch verringern. Wir müssen von direkten Steuern auf das Einkommen umschichten zu indirekten Steuern für den Konsum. Ideal wäre es, wir kämen von der Einkommensbesteuerung völlig weg. Aber das sind wohl leider Zukunftsphantasien.
7.
Unser Steuersystem darf nicht länger ausgerechnet Sparen und Investieren diskriminieren und Arbeitsplätze künstlich verteuern.
8.
Der Solidaritätszuschlag ist schnellstens abzuschaffen.
9.
Gegen die heute immer stärker konfiszierte Freiheit müssen wir ein Steuersystem setzen, das zu mehr Freiheit beiträgt.
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Die bloße Idee einer konfiszierten Freiheit war auch Reinhold Maier ein Gräuel. Schon 1946 fragte er in einer Radioansprache: „Ist in einer Staats- und Wirtschaftsordnung, in welcher die Rechte der Gesellschaft den Rechten des einzelnen vorangestellt werden, ein genügend großer Platz für das zarte Pflänzchen Demokratie?" Diese Frage ist heute wieder so aktuell wie sie es 1946 war. Wir sollten nie aufhören, sie zu stellen.
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Politik als Kunst des Unmöglichen? Aus Visionen eine liberale Bürgergesellschaft schmieden Beitrag für die Festschrift zum 65. Geburtstag von Hermann Otto Solms; in: Paul Kirchhof, Otto Graf Lambsdorff, Andreas Pinkwart (Hrsg.): Perspektiven eines modernen Steuerrechts, Festschrift für Hermann Otto Solms, Erich Schmidt Verlag, Berlin 2005 Wer sich mit Finanzen und Steuern befasst hat, kennt Hermann Otto Solms. Wer den Finanzpolitischen Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion Solms auf einen Steuerexperten verkürzt, läuft Gefahr, damit nicht einmal dem Amtsverständnis gerecht zu werden, das Solms als Vizepräsidenten des Deutschen Bundestages auszeichnet. Wer mit dem Beitrag von Hermann Otto Solms bei der Verwirklichung der Vision einer liberalen Bürgergesellschaft zu ungeduldig ist, könnte das Problem der Zeit verkennen oder gar einer neuen deutschen Krankheit verfallen sein: Misstrauen. Diese Krankheit soll nach dem von Wagner und Schupp am 11. August 2005 vorgestellten „World Value Survey" vor allem die Deutschen befallen haben. Nicht gleich misstrauisch, aber doch zweifelnd wie der Heilige Thomas macht bei dieser Vorstellung allerdings eine verblüffende Fehleinschätzung: Nach zwei Jahrhunderten hätten „inzwischen auch die Ökonomen erkannt", wie wichtig Vertrauen sei. Dieses Problem scheinen nur ganz bestimmte Ökonomen zu haben, der Ökonom Hermann Otto Solms jedenfalls nicht, auch ich nicht als in Staatswissenschaften bei Nipperdey in Köln promovierter Jurist. Schon auf der ersten Seite meines WendePapiers vom September 1982 geht es gleich zehnfach um Vertrauen. Ökonomen, die da ein Problem haben, können im „Wohlstand der Nationen" wohl kaum den ordnungspolitischen Sinn der Überspitzung im 5. Kapitel des 4. Buches erfasst haben, wo Adam Smith die Bedeutung des Vertrauens in die Eigentumsordnung der Bedeutung von Freihandel und Deregulierung gegenüberstellt. Das gilt erst recht für seine Vorlesungen über Rechts- und Staatswissenschaften, wo Adam Smith mit der zeitlichen Dimension von Vertrauen bei Käufer und Verkäufer viel vom Problem der „Grenzmoral" in der ordnungstheoretischen Literatur von Götz Briefs und Hans Willgerodt vorwegnimmt.
1. Das Problem Das Problem, an dem auch Hermann Otto Solms als gestaltender Politiker nicht vorbeikommt, teilen wir alle in der unterschiedlichsten Form: Wir, die wir immer zuwenig Zeit haben, auch mit der „Entdeckung der Langsamkeit" am rechten Orte;
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Faust — von Mephisto dafür verhöhnt —, der die Zeit festhalten will; der OglalaHäuptling Low Dog mit seinem „Dies ist ein guter Tag zum Sterben", das zum Schlachtruf der Sioux wurde. Die Wissenschaftler hat das Problem der Zeit über Jahrhunderte so fasziniert, dass wir ihrer Suche so große Leistungen wie die Infinitesimalrechnung und die naturwissenschaftlichen und ökonomischen Theorien komplexer Ordnungen verdanken — oder die Erkenntnisse zum Raum-Zeit-Problem von Kant bis Einstein. Ausgerechnet mit dem konsequenten Empiriker Maupertuis und mit Leibniz haben sich gleich zwei Präsidenten der Preußischen Akademie der Wissenschaften mit dem Problem der Zeit auseinandergesetzt, Maupertuis so besessen, dass wir seinem Streit mit Voltaire sogar besonders humorvolle und weise Briefe Friedrichs des Großen verdanken. Dagegen ist das Zeit-Problem des gestaltenden Politikers Solms die übliche Frage der Transformationstheorie, die Anpassungsprobleme einschließt, das „Just in time" z.B. in der Form: „Wann ist die geeignete Zeit für welchen Schritt der geplanten Reform?" („Staging and Sequencing").
2. Die Solms-Lösung Zur Solms-Lösung des Problems der rechten Zeit dafür, dass aus politischen Visionen etwas Gutes für die Menschen wird, passt vielleicht am besten der Wahlspruch von Alfred Marshall, der Leitfigur der ökonomischen Neoklassik: „Natura non facit saltum"1, sinngemäß etwa so auf das Problem übertragen: Die Natur kommt nicht in Sprüngen voran; sie muss sich an die optimale Lösung herantasten. Denn die Natur steht — wie die Ökonomie — unter dem Gesetz des sparsamen Umgangs mit knappen Ressourcen. Nur dann erlaubt die Natur bei gegebenen Ressourcen — und ohne jeden Determinismus — ein Maximum an Experimenten für optimale Pfade der Evolution; nur dann leistet ökonomischer und politischer Wettbewerb auf offenen Märkten ein Maximum an Entdeckungsverfahren für die beste gesamtwirtschaftliche oder politische Lösung. Alfred Marshall, Principles of Economics, London 1890, Wahlspruch auf dem Deckblatt. Wichtig für die Bewertung des Zeitmoments bei Solms: Marshalls Schüler John Maynard Keynes wird zu Unrecht für seine berühmte Formulierung „In the long run, we are all dead" des Zynismus im Sinne von „Nach uns die Sintflut!" bezichtigt. Eine solche Deutung mag auf bestimmte Keynesianer zutreffen. Keynes aber war gerade in der hier wichtigen Frage des Zeitmoments treuer Schüler von Alfred Marshall; ihm wurde auch die Ehre der Gedächtnisrede für Marshall zuteil. Keynes ging es wie Marshall um die Probleme der Strukturanpassungen in der kurzen und mitderen Frist, die bei aller Notwendigkeit des Langfristdenkens nicht vernachlässigt werden dürfen: Das „ideale" Steuersystem, das die Menschen irgendwann einmal bekommen werden, hilft nicht den Lebenden, die mit einem nicht ganz so idealen Steuersystem viel besser führen als mit dem heutigen. Dabei sind die Anpassungskosten berücksichtigt, an die in dem oft überdehnten Merksatz „Alte Steuern, gute Steuern! "erinnert wird. Überdehnt taugt dieser Merksatz auch für jede Systemsklerose. 1
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Diese Erkenntnis gilt auch für die Bewertung des Beitrags von Hermann Otto Solms zur politischen Kunst, Wirklichkeit werden zu lassen, was viele für unmöglich halten.* Denn dagegen, dass aus politischen Visionen der liberalen eine gute Welt für die Menschen werden möge, steht allzu oft ein „Das ist nicht möglich", meist verkleidet in die so eingängige wie sprachlogisch zumindest holprige Formulierung „Das ist nicht finanzierbar." Es sei für das Verständnis einer gerechten Bewertung erlaubt, vom bekannten Steuerexperten Solms zum weniger bekannten Visionär Solms zu führen: mit dem Beispiel liberaler Steuerpolitik für eine liberale Bürgergesellschaft. Damit sollen die vielen anderen Wirkungsfelder von Hermann Otto Solms nicht unterschlagen werden, vor allem nicht sein Beitrag für eine Ordnung der Kapitalmärkte, die den Problemen des unternehmerischen Mittelstands gerecht werden soll, speziell Existenzgründern. Die steuerpolitische Vision der Liberalen wurde schon im Wahlprogramm 1994 auf der Zeitachse so zusammengefasst: „Langfristige Perspektive für die Reformschritte ist ein einfaches und durchschaubares System von Steuern und staatlichen Sozialleistungen, das vom Bürger als gerecht empfunden wird und das für Investoren attraktiv ist — durch insgesamt geringere Belastung und durch niedrigere Informationskosten bei der Beurteilung der Standortqualität. Alle steuerlichen Regelungen sollen in einem einheitlichen Steuergesetzbuch zusammengefasst werden. Vision für Vereinfachung und Transparenz ist ein System, das sich auf eine Einkommensteuer, eine Erbschaftsteuer, eine Mehrwertsteuer und auf Energiesteuern beschränken würde." 2 Zweiflern war auch damals schon sofort im Anschluss zu erwidern: „Diese Vision ist realistisch, wenn durch konsequentes Sparen, Privatisierung, Abbau von Regulierungen, Subventionen und Bürokratie sowie durch Reformen der öffentlichen Verwaltung die Staatsquote und die Abgabenquote gesenkt werden." 3 Und an alle, die von der durchaus verständlichen Furcht vor einem schwachen Staat umgetrieben werden, war der anschließende Satz gerichtet: „Dann kann der Staat auf dem Wachstumskurs auch mit wenigen und mäßigen Steuern die unverzichtbaren Staatsaufgaben verläss-
* Die Konstruktion des Unmöglichen als Teil der Weimarer Klassik ist im Schiller-Jahr wieder aktuell geworden. Walter Hinderer bezieht sie wie Schiller dabei auch auf Reformen: „Um die politische und gesellschaftliche Misere zu beseitigen, bedarf es einer psychischen Diätetik, die sich utopischer Konstruktionen bedienen muss ... Der Begriff des ,Unmöglichen' als Teil einer Erziehungsstrategie ist überdies Goethe so vertraut wie Schiller". Hinderer zitiert dazu Schiller: „Alle Reform, die Bestand haben soll, muss von der Denkungsart ausgehen". Denn nur der „Karakter der Bürger erschafft und erhält den Staat, und macht politische und bürgerliche Freiheit möglich". Vgl. Walter Hinderer, Von der Idee des Menschen - Über Friedrich Schiller, Würzburg 1998, S. 135 f. 2 Liberal denken. Leistung wählen. Das Programm der F.D.P. zur Bundestagswahl 1994, beschlossen auf dem 45. Ord. Bundesparteitag vom 3. - 5. Juni 1994 in Rostock, S. 10. 3 Ebenda, S. 11.
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lieh finanzieren, und das Steuersystem kann seinen Beitrag zur nachhaltigen Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen leisten."4 Noch stärker als diese Sätze schlägt der anschließende Satz zum schrittweisen Vorgehen bei der Verwirklichung der steuerpolitischen Vision eine Brücke zu der allgemeinen Vision einer liberalen Bürgergesellschaft im Hildesheimer Beschluss „Weniger Staat — mehr Eigenverantwortung" von 1994, im „Karlsruher Entwurf von 1996 und im Grundsatzprogramm der FDP, den „Wiesbadener Grundsätzen" von 1997: „Geboten sind diese Schritte zu einem schlanken Staat ohnehin für größere Gestaltungsspielräume und mehr Eigenverantwortung der Bürger".5 Zum Verständnis der Vision eines einfachen und durchschaubaren Steuersystems mit einer reformierten Einkommensteuer und der Beschränkung auf „eine Mehrwertsteuer" sei zweierlei ergänzt: Hinter dieser Steuervereinfachung steht das große Projekt einer Reform der föderalen Ordnung Deutschlands, hier der föderalen Finanzverfassung, wie sie in den Programmen der FDP umrissen und in fünf Föderalismus-Manifesten der Friedrich-Naumann-Stiftung konkretisiert wird: ein Trennsystem mit der Steuerhoheit über die Einkommensteuer bei den Ländern — mit Zuschlagsrecht der Gemeinden — und der Steuerhoheit des Bundes über die indirekten Steuern.6 Im Rahmen einer solchen Neuordnung der Steuerhoheiten fiele zugleich die Reduktion der Zahl der spezifischen Verbrauchsteuern leichter, weil sie schon heute überwiegend Bundessteuern sind: zugunsten der Generalakzise „Mehrwertsteuer" als einer Bundessteuer. Mit dem „Berliner Entwurf der FDP" vom September 2003 haben Hermann Otto Solms und die anderen Autoren Hermann Rind, Harro Muuss, Günter Hofmann und Annett Witte die Grundlage für den Gesetzentwurf der FDP-Bundestagsfraktion vom 14. Januar 2004 zur „Einführung einer neuen Einkommensteuer und zur Abschaffung der Gewerbesteuer" gelegt. Mit der Form eines im Bundestag eingebrachten Gesetzentwurfs war liberale Programmatik zum Steuersystem einer liberalen Bürgergesellschaft so konkret umgesetzt, wie dies eine Opposition aus eigener Kraft im Parlament leisten kann. Der Gesetzesentwurf entspricht dem Grundsatzprogramm der FDP für eine verlässliche Alters Sicherung: „Die Politik muss hierzu
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Ebenda.
5 Ebenda.
Die fünf Föderalismus-Manifeste sind abgedruckt in: Reform des Föderalismus. Kleine Festgabe für Otto Graf Lambsdorff, hrsg. von Hubertus Müller Groeling, mit Beiträgen des Herausgebers, von Klaus von Dohnanyi, Paul Kirchhof, Wernhard Möschel und Carl-Christian von Weizsäcker. Zur Föderalismus-Reform in der Programmatik der FDP vgl. - über das Wahlprogramm 1994 (S. 12) hinaus — insbesondere „Arbeit hat Vorfahrt. Deutschlandprogramm 2005", Beschluss des Bundesvorstands, Berlin, 25. Juli 2005, S. 40; „Wechsellexikon, Deutschland erneuern von A - Z", Berlin, 25. Juni 2005, 2. Kapitel. 6
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durch eine radikale Reform des Steuersystems in Richtung auf Steuerentlastung und Steuervereinfachung ihren Beitrag leisten. Kapitalbildung und der Wechsel von Anlageformen müssen steuerlich freigestellt werden."7 Der zweite „Berliner Entwurf vom September 2005, das Autoren-Team nun ergänzt durch Claus Bextermöller, Matthias Lefarth und Hans-Jürgen Lethaus, bietet — ebenfalls in Gesetzesform — ein in sich geschlossenes Gesamtkonzept für eine Reform des deutschen DirektsteuerSystems. Diese Leistung und die Parteitagsbeschlüsse zum Bürgergeld sowie zur Mehrwertsteuer sind ein ordnungspolitisches Gesamtpaket. Es ist das Ergebnis der Arbeit vieler Jahre in den zuständigen Fachausschüssen Finanzen und Steuern; Wirtschafts-, Finanz- und Steuerpolitik; Soziales sowie im Liberalen Forum zur Steuerreform seit der Zeit des großen steuerpolitischen Trios der FDP: Gattermann, Rind, Solms. Sie waren es vor allem, die seit der Deutschen Einheit bis zum frühen Tod von Hans Hermann Gattermann am 17. Januar 1994 diese Arbeit und die Arbeit der FDPKommissionen zur Reform des Sozialsystems und zum Steuer- und Transfersystem unter Leitung von Ingrid Schwaetzer, Gisela Frick und Andreas Pinkwart zusammengeführt haben: zu einer Einkommensbesteuerung aus einem ordnungspolitischen Guss. Zur Solms-Lösung beim Tempo der Umsetzung von Visionen in konkrete soziale Chancen der Bürgergesellschaft gehört dieser Hintergrund einer fruchtbaren Zusammenarbeit so vieler Fachgremien, auch sein Dialog mit Fachwissenschaftlern und anderen Experten außerhalb dieser Gremien. Denn außer Kompetenz gehört zu diesem Vernetzen auch unermüdlicher Fleiß und die Führungsfähigkeit zum überzeugenden Dialog mit Fachleuten höchst unterschiedlicher Herkunft: z.B. mit erfahrenen Steuerberatern, mit dem Steuer-Experten eines international tätigen Familienunternehmens, mit mittelständischen Unternehmern, Richtern am Bundesfinanzhof, Kommunalpolitikern, Finanzwissenschaftlern, Steuerrechtlern, Steuer-Experten der unterschiedlichsten Verbände, Gewerkschaften, Ordnungspolitikern, Experten der Finanzverwaltung bis zum Präsidenten der Oberfinanzdirektion Kiel. Gemeinsam ist diesen Experten — zumindest in den Fachausschüssen der FDP — in aller Regel ihre Ungeduld beim Reformtempo. Hermann Otto Solms erträgt das alles mit souveräner Gelassenheit und beharrlicher Arbeit am gesamten Reform-Bauwerk, immer bedacht darauf, dass die Fundamente tragfahig sein müssen und dass den von Steuerlast geplagten Deutschen nicht das Warten auf ein morgen noch viel einfacheres Steuersystem zugemutet werden kann.
FDP-Grundsatzprogramm „Wiesbadener Grundsätze - Für die liberale Bürgergesellschaft", beschlossen auf dem 48. Ord. Bundesparteitag am 24. Mai 1997 in Wiesbaden, S. 57.
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3. Das Ergebnis heute — und wie es weiter geht Der Titel eines dieser Steuerreform-Konzepte war „Unternehmensteuerreform 1992", bereits 1990 „mit seinen Kernforderungen Bestandteil" des FDP-Programms zur Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Der Bezug zur aktuellen Diskussion um eine Reform der Unternehmensbesteuerung macht erneut das Zeitproblem in der Politik deutlich, besonders dann, wenn es um die politische Umsetzung von komplexen Gesamtkonzepten geht. Dann ist der gängige politische Vorwurf schnell zur Hand: Die Regierung habe doch sieben Jahre Zeit für eine grundlegende Reform gehabt, aber nicht genutzt. Dabei wird nicht nur übersehen, dass Oskar Lafontaine 1998 eine große Einkommensteuerreform, kompatibel mit den Thesen der Bareis-Kommission, im Bundesrat blockiert hatte, begünstigt durch ein sehr spätes Einlenken von Finanzminister Waigel auf den Kurs für eine frühe Reform. Zu einer Bewertung gehört auch, dass mit der Abschaffung der betrieblichen Vermögensteuer, die betriebliche Substanz verzehrt hatte und fiskalisch völlig unergiebig gewesen war, ein wichtiger Reformschritt bei der Unternehmensbesteuerung gelang. Dieser Schritt passte immerhin zu einer zweckmäßigen Abfolge von Reformschritten, wo eine Reform auf einen Schlag politisch nicht durchsetzbar war. Nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. Juni 1995 war die Aussetzung der Vermögens teuer insgesamt gemäß dem Halbteilungsgrundsatz ein weiterer Schritt in Richtung einer grundlegenden Reform des gesamten Systems der Direktbesteuerung. Kritik an einem schlechten Timing ist wohl selbst beim späten Durchbruch für einen Stufentarif durch die Rede von Hermann Otto Solms am 18. April 1996 auf der Mitgliederversammlung des Instituts Finanzen und Steuern voreilig. Auch ich gehörte zu denen, die nach der Beseitigung des „Mittelstandsbauchs" durch den Übergang zum linear-progressiven Steuertarif im Rahmen der dreistufigen Steuerreform einen schnelleren Übergang zu einem Stufentarif gewünscht hatten. Weil ich aber noch heute sehe, wie sogar selbsternannte Steuerexperten dem Stufentarif angeblich unerträgliche „Tarifsprünge" andichten, bin ich in meiner Bewertung vorsichtiger geworden. Das alles erinnert zu sehr an PISA: wie die so oft bunt durcheinander gewürfelten Steuereinnahmen und Steuersätze, wie Beiträge und Beitragssätze, Prozente und Prozentpunkte, brutto und netto, Lohnzusatzkosten und gesetzliche Lohnzusatzkosten. Für die einfache Frage der Steuerzahler, was ihnen nach Einkommensteuer von ihrem zu versteuernden Einkommen bleibt, gibt es jedenfalls keine Tarifsprünge für die, die Punkt- und Strichrechnung beherrschen. Das ist auch die einfache Frage, die — mit einem Steuerbetrag — im heutigen Steuerrecht die Grundtabellen und Splittingtabellen beantworten, die der Gesetzgeber den
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Steuerzahlern beim linear-progressiven Tarif anbieten muss. Für welche Fragen dagegen der Grenzsteuersatz die passende Antwort ist, überfordert erst recht so manche bei der Bewertung von Stufentarifen. Die Erfahrung von verbreitetem Bildungsnotstand beim Kleinen und beim Swiftschen Steuer-Einmaleins hindert mich aber nicht daran, die im FDP-Reformkonzept als späteren Schritt angekündigte Fiat Tax (oder vollständiger: „Fiat Rate Tax") so schnell wie möglich zu fordern. Dabei kann ich es mir als Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung leichter machen als Hermann Otto Solms. Denn was wie schnell möglich gemacht werden kann, das ist dann die Kunst des Politikers Solms, als unmöglich Erscheinendes doch möglich zu machen. Da vertraue ich darauf, dass der als Finanzexperte oft zu Unrecht unterschätzte Adam Smith es ernst gemeint hat, als er Politiker als „listige Geschöpfe" pries. Mein Plädoyer für den schnellen Übergang zu einer Fiat Tax — immerhin nun auch schon ungefähr zehn Jahre nach dem Vorstoß von Thilo Sarrazin für eine Fiat Tax — hat vor allem zwei Gründe: Der aktuelle Grund ist die Diskussion um die Ausgestaltung der Unternehmensteuerreform. Welchen Verlauf soll der Tarif bei der Einkommensteuer für Unternehmen haben? Bei der Einkommensteuer für natürliche Personen sehe ich grundsätzlich für keinen Tarifverlauf Probleme, weder beim Tariftyp noch bei den Einkommensgrenzen. Zwar habe ich klare Präferenzen für einen indirekt progressiven Tarif, wie ihn Paul Kirchhof auf dem Kölner Bundesparteitag der FDP am 6. Mai 2005 so eindrucksvoll veranschaulicht hat, aber auch ein Stufentarif oder ein linear-progressiver Tarif lässt sich bei natürlichen Personen mit dem Grundsatz der Besteuerung nach der Leistungsfähigkeit bzw. Bedürftigkeit („Negativsteuer") vereinbaren. Bei juristischen Personen sehe ich dagegen Schwierigkeiten, diesen Grundsatz ohne allzu heftig korrigierende Klimmzüge auf Kapitalgesellschaften anzuwenden und dabei auch den Vorgaben von Steuer-Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu folgen. Diese Schwierigkeiten entfallen für mich erst bei durchgehend nachgelagerter Besteuerung: wenn Erträge gleich welcher Art in die Konsumsphäre fließen. Denn konsumieren im strengen Sinne können wiederum nur natürliche Personen, die steuerlich leistungsfähig oder bedürftig sein können, ganz im Sinne von Adam Smith: „Consumption is the sole end and purpose of all production".8 Weil aber bei konsequent nachgelagerter Besteuerung Finanzminister und Kämmerer erst einmal auf die später um so höheren Steuereinnahmen warten müssten, muss man sich wohl mit folgendem Datum für die praktische Politik noch eine Zeidang abfinden: Als Maßstab und Orientierung auf dem Weg zu einem einfachen Steuersystem mit BesteueAdam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Ed. by Edwin Cannan, 6. Auflage, London 1950 und 1961, Buch IV, Kapitel VIII, S. 179.
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rung gemäß Leistungsfähigkeit bleibt die Kombination von Fiat Tax und konsequent nachgelagerter Besteuerung meines Ermessens unübertroffen; sie lässt sich aber auf absehbare Zeit mit keiner Kunst durchsetzen. Umso wichtiger erscheint mir in der aktuellen Diskussion der Durchbruch für die Fiat Tax in der Unternehmensbesteuerung. Denn immerhin ist im Jahre 2005 generell Bewegung in die Kontroverse um eine Fiat Tax gekommen, bis hin zum Bundesministerium der Finanzen. Das aber ist im Detail ein Feld für Steuerexperten. Ich bin vorerst positiv überrascht, dass auch in die Geometrie und in die Ableitungen beim Steuertarif zur „Progression" wieder einzukehren beginnt, was in den Naturwissenschaften so nicht verloren gegangen ist: Selbstverständlich ist ein Steuertarif progressiv, bei dem jenseits des steuerfreien Existenzminimums Meier bei doppelt so hohem Einkommen auch doppelt so hohe Einkommensteuer zahlt wie Müller. Es ist eben eine etwas in Vergessenheit geratene Konvention, diese Progression als „indirekte Progression" zu bezeichnen. Wie die versammelte SPD-Führung in ihrem Wahlmanifest vom 4. Juli 2005 auf den Einfall kommen konnte, nach jahrelanger Diskussion um die „Kopfpauschale" eine solche Fiat Tax als „einheitliche Kopfsteuer" zu bezeichnen, bleibt nur vielleicht ein Rätsel — wie im gleichen Satz des SPD-Wahlmanifests die Charakterisierung des Tarifverlaufs im Wahlprogramm der Union als „Stufentarif'. Mein zweites Argument für eine Fiat Tax geht von der Diskussion um Verfassungsschranken gegen Steuerlast und Staatsverschuldung aus. Diese Forderung nimmt im Grundsatzprogramm der FDP als Kapitel „Der bescheidene Staat" breiten Raum ein und wird vor allem mit zwei provozierend erscheinenden Sätzen verbunden: „Wer die Staatsverschuldung dauerhaft abbauen will, muss die Neuverschuldung im Grundgesetz verbieten. Innerhalb von zehn Jahren müssen in einem verbindlichen Stufenplan auf allen staatlichen Ebenen ausgeglichene Haushalte erreicht werden."9 Diese Sätze provozieren in der Frage der Kunst des politisch Möglichen schon weitaus weniger, wenn man sie vor dem Hintergrund der Balanced-Budget-AmendmentDiskussion in den Vereinigten Staaten seit den Zeiten von Adam Smith versteht. Denn selbstverständlich macht nur ein grundsätzliches Verbot der Neuverschuldung Sinn, weil Ausnahmen nach aller Erfahrung nicht ausgeschlossen werden können. Umso mehr kommt es darauf an, dass diese Ausnahmen ex ante, aufs Schärfste begrenzt und mit glaubhaften Sanktionen für den Fall eines Verstoßes bewehrt sind. Diese Bedingungen kann man sich heute leider sehr einfach merken: Man muss alles nur genau anders machen als bei der Praxis im Umgang mit den beiden Verschul-
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Wiesbadener Grundsätze, a.a.O., S. 51.
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dungskriterien für die laufende und die kumulierte Staatsverschuldung des Maastricht-Vertrages. 1789 nannte Thomas Jefferson die für seine Zeiten aktuelle Ausnahme vom strengstmöglichen Verschuldungsverbot: den Krieg. Was wäre eine überzeugende Ausnahme ex ante im Frieden? Eine grundlegende Steuerreform mit einem maßvoll niedrigen Proportionaltarif würde nach Swiftschem Steuer-Einmaleins und LafferKurve in der kurzen Frist wahrscheinlich zu Steuerausfällen führen. Eine solche Steuerreform auf den Linien von Hermann Otto Solms wird aber für mehr Arbeitsplätze, für mehr Investitionen gemacht, für Wachstum. Und die Steuereinnahmen aus mehr Arbeitsplätzen, mehr Investitionen, mehr Wachstum helfen den Finanzministern und Kämmerern auch gegen die bei Steuer-Flickwerk ausufernde Staatsverschuldung, helfen vor allem künftigen Generationen. Hermann Otto Solms hat sich auch hier zusammen mit Paul Kirchhof und Johann Eekhoff verdient gemacht: wirksame Schranken gegen Staatsverschuldung und Steuerlast.
1 Alfred Marshall, Principles of Economics, London 1890, Wahlspruch auf dem Deckblatt. Wichtig für die Bewertung des Zeitmoments bei Solms: Marshalls Schüler John Maynard Keynes wird zu Unrecht für seine berühmte Formulierung „In the long run, we are all dead" des Zynismus im Sinne von „Nach uns die Sintflut!" bezichtigt. Eine solche Deutung mag auf bestimmte Keynesianer zutreffen. Keynes aber war gerade in der hier wichtigen Frage des Zeitmoments treuer Schüler von Alfred Marshall; ihm wurde auch die Ehre der Gedächtnisrede für Marshall zuteil. Keynes ging es wie Marshall um die Probleme der Strukturanpassungen in der kurzen und mittleren Frist, die bei aller Notwendigkeit des Langfristdenkens nicht vernachlässigt werden dürfen: Das „ideale" Steuersystem, das die Menschen irgendwann einmal bekommen werden, hilft nicht den Lebenden, die mit einem nicht ganz so idealen Steuersystem viel besser führen als mit dem heutigen. Dabei sind die Anpassungskosten berücksichtigt, an die in dem oft überdehnten Merksatz „Alte Steuern, gute Steuern!" erinnert wird. Überdehnt taugt dieser Merksatz auch für jede Systemsklerose. 2 Liberal denken. Leistung wählen. Das Programm der F.D.P. zur Bundestagswahl 1994, beschlossen auf dem 45. Ord. Bundesparteitag vom 3.-5. Juni 1994 in Rostock, S. 10. 3 Ebenda, S . l l . 4 Ebenda. 5 Ebenda. 6 Die fünf Föderalismus-Manifeste sind abgedruckt in: Reform des Föderalismus. Kleine Festgabe für Otto Graf Lambsdorff, hrsg. von Hubertus Müller Groeling, mit Beiträgen des Herausgebers, von Klaus von Dohnanyi, Paul Kirchhof, Wernhard Möschel und Carl-Christian von Weizsäcker. Zur Föderalismus-Reform in der Programmatik der FDP vgl. — über das Wahlprogramm 1994 (S. 12) hinaus - insbesondere „Arbeit hat Vorfahrt. Deutschlandprogramm 2005", Beschluss des Bundesvorstands, Berlin, 25. Juli 2005, S. 40; „Wechsellexikon, Deutschland erneuern von A - Z", Berlin, 25. Juni 2005, 2. Kapitel. 7 FDP-Grundsatzprogramm „Wiesbadener Grundsätze — Für die liberale Bürgergesellschaft", beschlossen auf dem 48. Ord. Bundesparteitag am 24. Mai 1997 in Wiesbaden, S. 57. 8 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, Ed. by Edwin Cannan, 6. Auflage, London 1950 und 1961, Buch IV, Kapitel VIII, S. 179.
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9 Wiesbadener Grundsätze, a.a.O., S. 51. 10 Die Vorträge der Tagung „Schranken gegen Staatsverschuldung und Steuerlast" — mit Paul Kirchhof auf dem Podium, zusammen mit Christine Scheel und Hermann Otto Solms - sind abgedruckt in „Schranken gegen Staatsverschuldung und Steuerlast, Kleine Handbibliothek der Stiftung Marktwirtschaft (damals Frankfurter Institut), Band 20, Bad Homburg 1996. Bestes Beispiel für ein konkretes Konzept zur Reform der Einkommensteuer mit Maßstabcharakter, aber wenig Chancen auf politische Umsetzung ist der Steuergesetzentwurf mit konsequent nachgelagerter Besteuerung und Bürgergeld (Negativsteuer) von Joachim Mitschke, Erneuerung des deutschen Einkommensteuerrechts, Gesetzestextentwurf und Begründung. Mit einer Grundsicherungsvariante, Verlag Dr. Otto Schmidt, Köln 2004; zur europäischen Dimension vgl. im gleichen Verlag den Beitrag von Klaus Kinkel, in: Steuerrechtsprechung, Steuergesetz, Steuerreform, Festschrift für Klaus Offerhaus, hrsg. von Albert Beermann, Wolfgang Jakob und Paul Kirchhof, Köln 1999.
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Der Sozialstaat in der Krise
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„Not Ours to Give!" Was man in der Arbeitsmarktpolitik und am Sozialstaat reformieren sollte Rede anlässlich des Symposiums „Eigenverantwortung und Solidarität - Neue Wege in der Sozial- und Tarifpolitik" der Bertelsmann Stiftung, Gütersloh, 18. September 1997 Die Cineasten unter Ihnen werden sich an ihn vielleicht als den heroischen Verteidiger und Märtyrer texanischer Freiheit in John Waynes Regie-Erstwerk „The Alamo" von 1960 erinnern. Davy Crockett ist als das Ideal des raubeinigen Trappers, der im Kampf gegen die Armee des mexikanischen Diktators Santa Anna 1836 den Heldentod findet, in die Filmmythologie eingegangen. Der reale und historische Davy Crockett ist allerdings nicht minder interessant. Als Mitglied des Repräsentantenhauses in den Jahren 1833 bis 1835 hatte er bei den jährlichen Budgetdebatten erfahren, dass die Großzügigkeit seiner Kollegen bei der Ausgabenpolitik scheinbar unbegrenzt war. Da stimme etwas nicht, meinte er. Die Ideale der Gründungsväter vor Augen schrieb er flugs eine Rede mit dem schönen Titel: „Not Ours to Give!" - auf Deutsch ungefähr: „Es gehört nicht uns, was wir da geben." Es hat sich seit den Tagen Crocketts nur wenig geändert. Wer heute nach einem guten Lebensmotto sucht, um die Politik mit gesundem Menschenverstand zu beurteilen, findet kaum etwas Besseres als: „Not Ours to Give." Nun ist jeder Staat eigentlich schon vollständig dadurch definiert, dass dort gegeben wird, was einem nicht gehört. Ich will diese Erkenntnis nicht zu Tode reiten. Selbst hartgesottene Liberale wissen, dass man eine Kollektivinstanz wie den Staat braucht, und sei es nur, um den Rechtsfrieden zu sichern. Trotzdem führt der Satz „Not Ours to Give" jedermann vor Augen, dass der Staat trotz aller Notwendigkeit auf moralisch fragwürdigen — mit der Existenz individueller Besitzrechte auf dem Kriegsfuß stehenden — Grundlagen steht. Ein Gewaltmonopol, das geben kann, was ihm nicht gehört, stellt für Geber und Empfänger des Gegebenen eine enorme Verführung zur Verschwendung dar. Das Prinzip, dass die Politik die produktive Arbeit als scheinbar unversiegbare Quelle der Wohlstandsmehrung zunehmend ersetzt, ist daher kaum zu zügeln. Diese Zügelung der jedem Staat immanenten Tendenz ist die eigentliche hehre Aufgabe der Liberalen. Im heutigen Deutschland gibt es da sicher mehr zu tun als im Amerika Davy Crocketts. Das „Geben-was-einem-nicht-gehört" ist es, was hierzulande das Wohl künftiger Generationen gefährdet, die Arbeitslosigkeit in die Höhe treibt, die Zahl von Obdachlosen und Sozialhilfeempfängern erhöht und damit letztlich den demokratischen Staat selbst durch Immobilität gefährdet. In solcher Lage mag man von mir
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aus einmal zu recht von einer „Wildwest-Manier" sprechen, wenn ich diese Probleme jetzt im Einzelnen nach Davy Crocketts Motto „Not Ours to Give" abhandle: Thema Arbeitsmarkt: Den Begriff „Tarifautonomie" hätte man in Crocketts Tagen sicher geschätzt. Eigentlich sagt der Begriff wörtlich ja nichts anderes als, dass der Staat die Endohnung von Arbeit nicht festsetzt und dies — im Sinne des Subsidiaritätsprinzips - Arbeitgebern und Arbeitnehmern überlässt. Unter diesen Bedingungen hätte man wohl einen genuinen Arbeitmarkt. Das, was hier und heute unter „Tarifautonomie" läuft, mag irgendeine nicht näher definierte Beziehung zu „Arbeit" haben, den „Markt" hat es jedoch fast völlig abgeschafft. Wir müssen uns einfach die Tatsache vor Augen fuhren, dass der von den Gewerkschaften verbreitete, und heute kritiklos als wahr hingenommene Mythos nicht stimmt, dass das „collective bargaining" den Wohlstand der Arbeiterschaft mehrt. Was erreicht wird, ist Umverteilung. Jedes reale „Mehr" einer Gruppe der Begünstigten geht zu Lasten einer anderen Gruppe - meist der Arbeitslosen. Dies wird noch befördert, wenn die so erzwungene Rate der Erhöhung der Arbeitskosten die Rate des Produktionsanstiegs übersteigt. Ein gesetzliches Rahmenwerk, das diese Tendenz fördert, betreibt nicht mehr die Umverteilung zu Lasten der Reichen und zu Gunsten der Armen, sondern geht zu Lasten der Armen, der Arbeitslosen, der schlecht Qualifizierten und der nicht Organisierten. Ein solches Rahmenwerk vergibt Privilegien. Es gibt, was ihm nicht gehört. Hier könnte man, wenn man den Mut dazu hat, einiges reformieren: Erstens: Öffnung der Tarifbindung wenigstens für Langzeitarbeitslose. Dies ist eine Minimalforderung, die dem vielfach Missbrauchten Begriff des „Rechtes auf Arbeit" wenigstens einmal einen klaren Sinn verleiht. Das gegenwärtige Tarifsystem ist tatsächlich de facto eine Verwehrung dieses Rechtes. Desgleichen gilt für die Verabschiedung von Mindestlöhnen. Zweitens: Wir brauchen wirksame Öffnungsklauseln in den Flächentarifen. Zur Sicherung von Arbeitsplätzen und von Unternehmensexistenzen sollten Firmenleitungen jederzeit berechtigt sein, sich aus dem Flächentarifvertrag hinauszuoptieren, um auf Firmenebene mit den Arbeitnehmervertretungen eigene Abmachungen auszuhandeln. Nur wenn die Verhandlungen hierzu scheitern, sollte der Flächentarif automatisch greifen. Es geht nicht an, dass „betriebsexterne" Gewerkschaften ein betriebsinternes und auf dem Konsens der betroffen Arbeitnehmer basierendes „Bündnis für Arbeit", das etwa die Produktionsverlagerung ins Ausland verhindern soll, zu Fall bringen. Im Falle der Firma „Viessmann" hatten sie dies kürzlich - gottlob vergebens — versucht. Drittens: Wenn wir schon einmal auf dem Wege zu einem dezentralisiertem und marktnäherem Tarifsystem sind, dann sollte auch die Nachwirkung von Tarifverträ-
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gen für Unternehmen, die aus den Verbänden ausgetreten sind, aufgehoben werden. Der Trend der Mitgliederflucht aus den Verbänden hat seine rationalen Gründe. Er sollte nicht durch Zwangsmaßnahmen bekämpft werden, sondern durch Nachdenken in den Verbänden über ihre Rolle in einer sich verändernden Gesellschaft. Viertens: Der Euro wird enorme Konsequenzen für die Arbeitsmarktpolitik haben, die in der Diskussion heute kaum berücksichtigt werden. Frankreichs Vorstoß sollte zur Warnung dienen. In Europa gibt es hohe Wirtschaftsgefälle. Dies ist, wie das Beispiel der USA zeigt, zunächst halb so schlimm. Ein offener und mobiler Arbeitsmarkt, wie ihn die USA hat, könnte den Euro verkraften. Ein solcher Arbeitsmarkt ist jedoch in Europa nicht in Sicht. Der erst beginnende Druck hin zu einer Politik der europäischen Sozial- und Subventionstransfers in diesem Feld wird sich deutlich verstärken. Dies wird teuer — vor allem für die Deutschen. Das eigentliche Problem, die Inflexibilität der Arbeitsmärkte, bliebe hingegen ungelöst oder würde sich verschärfen. Dem kann man eigentlich nur mit einer rigorosen Deregulierung des europäischen Arbeitsmarktes begegnen. Ich bin mittlerweile skeptisch, ob uns derartiges gelingen wird. Fünftens: Nicht-rechtsstaatliche Formen des Arbeitskampfes wie Streik und Aussperrung sind zu ersetzen durch ein Schlichtungsmodell wie es in der Schweiz existiert. So werden der volkswirtschaftliche Gesamtschaden und die Verletzung der Rechte Dritter wenigstens minimiert. Sechstens: Subventionen zum Arbeitsplatzerhalt sind abzubauen. Sie funktionieren immer nach dem Motto, dass die Vorteile konzentriert und sichtbar sind, während die Nachteile dezentralisiert und unsichtbar sind. Mit über 100.000 Mark pro Jahr subventionierte Arbeitsplätze im Bergbau kosten in Wirklichkeit in der Nettobilanz Arbeitsplätze. Weil dieser Effekt eben kaum direkt wahrnehmbar ist, werden die so politisch geschaffenen Arbeitslosen der Marktwirtschaft in die Schuhe geschoben. Kein Wunder, dass laut Allensbach-Umfragen 94% aller Ost- und 61% aller Westdeutschen (trotz eindeutiger Nichtexistenz eines freien Arbeitsmarktes) die Marktwirtschaft für die Ursache der hohen Arbeitslosigkeit halten. So unterminiert man ein funktionierendes Wirtschaftssystem! Wir sollten vielleicht öfter verkünden, dass besonders mit diesen Subventionen gegeben — und auch genommen! — wurde, was einem nicht gehörte. Aber es gibt noch andere Reformfronten als den Arbeitmarkt. Da wäre zum Beispiel die Zukunft der sozialen Sicherungssysteme: Beginnen wir mit dem eindeutigsten, aber auch schwierigsten Fall: dem Rentensystem. Wir haben ja gerade eine „Reform" an diesem System verabschiedet. Dabei wurde wieder einmal die Chance verpasst, die Probleme gründlich anzupacken. Nur indem das Sozialministerium höchst unglaubwürdige Prognosen über eine angeblich nicht steigende Lebenserwartung und
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eine angeblich enorm ansteigende Lebensarbeitszeit zugrunde legte, rechnete sich das Ganze scheinbar. Wir werden wohl schneller als erwartet eines besseren belehrt werden. Das Problem liegt defer, nämlich in der Wachstumsdynamik der Bevölkerung und dem Prinzip des Umlageverfahrens. Dieses nennt man fälschlich auch „Generationenvertrag", so als ob man einen Vertrag mit einer noch nicht existierenden Generation schließen könne, um diese auch noch zu schädigen. Ich bin mir selbst nicht sicher, ob es uns noch gelingen wird, dieses Problem in den Griff zu bekommen. Idealtypisch betrachtet wäre die Einfuhrung des Kapitaldeckungsverfahrens die sauberste Lösung. Das Problem liegt bei der Umsetzung. Professor Manfred Neumann hat in einer kürzlich vom Frankfurter Institut herausgegebenen Studie ein Modell entwickelt, das für eine Transformation vom Umlageverfahren hin zur Kapitaldeckung einen Zeitraum von vier Jahrzehnten projiziert. Allerdings leugnet auch dieses Modell nicht, dass dadurch in den ersten zwei Jahrzehnten für die Beitragszahler eine durchaus erhebliche Mehrbelastung entstehe, weil die im gegenwärtigen System aufgelaufenen Rentenansprüche fairerweise bedient werden müssten. Auch birgt die langfristige Anhäufung eines so riesigen Kapitalstocks das Risiko in sich, dass beim Staat bald Begehrlichkeiten aufkommen. Welcher Mensch mit auch nur rudimentär entwickeltem Realitätssinn könnte schon darauf schwören, dass Politiker sich über mehrere Jahrzehnte hinweg konsequent das Motto „Not Ours to Give" vor Augen halten — ohne dabei irgendwann einmal schwach zu werden. Hier könnte man trotzdem Lösungen finden, die etwa in der dezentralen und nicht nur staatlichen Struktur des Kapitalstocks liegen könnten. Trotz der Schwierigkeiten, auf die man bei der Einführung eines Kapitaldeckungsverfahrens zweifellos stößt, hätte die Rentenkommission wenigstens versuchen können, sich diesem Modell mit soliden Berechnungen zu nähern. Da fehlte allerdings der politische Wille beim verantwortlichen Minister. So müssen wir bis zur nächsten Rentenkrise warten bis man ernsthaft über die Beendigung eines des schändlichsten staatlichen „Geben-waseinem-nicht-gehört" diskutieren kann. Aber diese Krise kommt ja bestimmt. Aber auch in anderen Bereichen der sozialen Sicherung besteht Reformbedarf. Ich nehme hier, zweitens, die steuerfinanzierten Sozialleistungen als Beispiel. Das Problem ist die ungeheuere Menge der verschiedenen Leistungen, die von einer ungeheueren Menge verschiedener Sozialbürokratien verwaltet werden. Obwohl viele Zahlen über diese Menge kursieren, scheint mir niemand — nicht einmal die verantwortlichen Beamten in den Ministerien! — genau zu wissen, wie viele es sind. Das kann einem schon Angst machen. Auch hier wäre die klassische Reformlösung die Reduzierung auf eine Sozialleistung, die entweder als einheitliche Sozialhilfe oder als Bürgergeld organisiert werden sollte. Das heutige komplexe System (so es den Namen „System" verdient) begünstigt die Schlauen und garantiert nicht Hilfe für die wirklich
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Bedürftigen. Schlimmer ist noch, dass die Gesamthöhe der individuell empfangenen Leistungen nicht mehr kontrollierbar ist. Das System kann dazu fuhren, dass die akkumulierten Leistungen das Abstandsgebot zum möglichen Arbeitslohn verletzt. Das sollte angesichts hoher Arbeitslosigkeit um jeden Preis verhindert werden. Außerdem gelingt es so nie, die Kosten in den öffentlichen Haushalten in den Griff zu bekommen. Wir müssen also die Sozialtransfers wieder auf die wirklich Bedürftigen ausrichten. Das hört sich natürlich leichter an als es ist. In einem Staat, in dem eine Minimalreform zum Ladenschluss wie eine Revolution bestaunt wird, und von einer großen Steuersenkungsreform nur noch die Diskussion über die Erhöhung der Mehrwertsteuer bleibt, ist dies alles in Wirklichkeit Utopie. Es ist eine notwendige Utopie, aber immer noch Utopie. Es muss daher auch erlaubt sein, über diesen Staat selbst nachzudenken, der sich derartig reformunfahig erweist. Dieses Nachdenken hat zu meiner Freude in letzter Zeit etwas an Dynamik gewonnen. Es ist dabei oft der Vorwurf der Leichtfertigkeit im Umgang mit der Verfassung aufgekommen. Dazu möchte ich sagen, dass es zu mindest mir nicht um die Abschaffung wesentlicher Verfassungsprinzipien geht, sondern um deren Stärkung. Manchmal muss man halt Teile ändern, um das Wesen des Ganzen zu erhalten. Verfassungen sind dazu da, die Politik in ihrem Handeln an rechtsstaatliche Prinzipien zu binden und daran zu hindern, dass zuviel gegeben wird, was „Not Ours to Give" ist. Diese Diskussion könnte auf wesentlich breiterer Ebene geführt werden als dies im Augenblick der Fall ist. Plebiszite bei der Einführung neuer oder der Erhöhung alter Steuern wären eine von vielen Ideen. Immerhin hat die Schweiz deswegen eine recht niedrige Steuerquote und seit langem einen Spitzensteuersatz, der dort liegt, wo wir ihn mit der „großen Steuerreform" gerne hingekriegt hätten, aber nicht hingekriegt haben. Eine andere Idee wäre die Einführung qualifizierter Mehrheiten bei Gesetzen und Ausgaben, die Sonderinteressen bedienen, was die meisten ja bekanntlich tun. Die wichtigste Forderung bestünde in einer solchen Diskussion aber sicherlich in der konsequenten Durchsetzung des Subsidiaritätsprinzips. Ich gehörte ja vor einiger Zeit zu denen, die angesichts des Frustes über die blockierte Steuerreform eine Reform des Föderalismus anregten. Als Feind des Verfassungsprinzips „Föderalismus" wurde man anschließend gescholten. Nur der Korrespondent der Neuen Zürcher Zeit - es gibt sie eben doch, die echte Schweizer Präzisionsarbeit! - hat erkannt, dass es mir um das genaue Gegenteil davon ging, nämlich um die Konstituierung eines echten und realen Föderalismus. Der jetzige Föderalismus ist nämlich nur ein Zentralismus, bei dem zu viele mitreden. Er besteht hauptsächlich in einem Mitbestimmungsrecht der Länder in Dingen,
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die aber vom Bund geregelt werden. Genuine Länderkompetenzen sind hingegen rar. Vor allem gibt es kaum Kompetenzen in der Steuerpolitik. Alles hängt von Länderausgleichstransfer ab. Verstärkt wird das Unheil noch durch den Verfassungsgrundsatz der „Gleichheit der Lebensbedingungen", die vergessen macht, dass eigentlich deren Vielfalt erst den Sinn des Föderalismus ausmacht. Dass damit ungezügelte Umverteilung und Sonderinteressenpolitik in der Bundespolitik erst einen richtigen Anschub erfahren, ist klar und überall beobachtbar. Die Länder selbst werden dadurch korrumpiert und geben auch noch freiwillig Kompetenzen ab oder lassen bestehende Kompetenzen ungenutzt. Die damalige Entscheidung des Landes Sachsen, keinen Arbeitgeberanteil in die Finanzierung der Pflegeversicherung einzuführen, ist eine seltene und rühmliche Ausnahme. Ich würde mir sogar wünschen, dass langfristig die meisten Kompetenzen und die nötige eigenständige Finanzierungsgrundlage dazu — mit Ausnahme von Außenhandel und Landesverteidigung — „nach unten" verlagert würden. Man hätte dann einen echten Föderalismus, der auch einen Wettbewerb zwischen den einzelnen Körperschaften stimuliert. Ökonomen sprechen daher von einem „Wettbewerbsföderalismus". Dies könnte zur Effizienzsteigerung der öffentlichen Verwaltungen führen. Dies hat auch etwas mit Bürgernähe zu tun. Jeder Bürger hat ja bekanntlich „zwei Herzen in seiner Brust" — ein Herz als Steuerzahler und ein Herz als Empfanger staatlicher Wohltaten. Vom „tax payer" und „tax eater" sprechen die Amerikaner. Je weiter entfernter der Staat, desto eher glaubt der Bürger, dass es eine anonyme „Gesellschaft" ist, die da gute Gaben gibt, und nicht etwa konkrete Mitbürger, denen in die Tasche gegriffen wird. Der „tax eater" gewinnt Überhand. Je näher die Gemeinschaft ist, desto mehr werden die Transfer auch von deren Ethos oder Gemeinsinn definiert und begrenzt. Dieses spräche vielleicht sogar für eine Kommunalisierung wesentlicher Transfersysteme. Zu warnen wäre jedoch vor einer übermäßigen Verstärkung der europäischen Komponente in der Sozialpolitik — sei es durch eigene Sozialprogramme oder durch Harmonisierungen. Hier würden die Übel des Nationalstaates, die wir einst mit der Idee Europas bekämpfen wollten, noch durch vermehrte moralische Bindungslosigkeit potenziert. Ich denke, die Kompetenzverteilung zwischen den Ebenen — von der Kommune bis zur EU — ist eines der wesentlichsten Zukunftsthemen für uns alle. Dies verlangt allerdings Mut zum Umdenken. Ob wir den rechtzeitig aufbringen, weiß ich nicht. Die alte Trapperweisheit des Davy Crockett mag uns dabei helfen: „Not Ours to give."
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Einleitung zum Buch „Freiheit und soziale Verantwortung" Otto Graf Lambsdorff (Hrsg.): Freiheit und soziale Verantwortung. Grundsätze liberaler Sozialpolitik, Frankfurt 2001 Dass konsequenter Liberalismus und Sozialpolitik nur schwer auf einen Nenner zu bringen seien, glauben immer noch viel zu viele Menschen — darunter auch solche, die es besser wissen müssten. Zugegeben, die innenpolitische Situation in Deutschland hat es den Liberalen jahrzehntelang sehr schwer gemacht, ein klares und positives eigenes Profil auf diesem Gebiet zu entwickeln: eingebunden in Regierungskoalitionen und handelnd im Rahmen eines durchaus nicht aus liberalen Ursprüngen gewachsenen Status quo, fiel ihnen zwangsläufig meist die Rolle des Kritikers zu; allzu leicht (und manchmal auch allzu gern) missverstanden als die Rolle des Neinsagers. Die Wahrheit — dass eine an liberalen Zielsetzungen orientierte Sozialpolitik selbstverständlicher Bestandteil jeden liberalen Programms ist, das diesen Namen verdient — sollte demgegenüber keiner besonderen Betonung und noch weniger der ständigen Wiederholung bedürfen. Richtig ist aber, dass auch die ständige Wiederholung dieser Selbstverständlichkeit jene Grundorientierungen einer liberalen Sozialpolitik nicht ersetzen kann, deren klarer Erkennbarkeit die eingangs beschriebene Situation so nachhaltig im Wege stand. Um diese Grundfestlegungen geht es in diesem Buch. Natürlich ist es nicht losgelöst entstanden von der gegenwärtigen Krise unserer sozialen Sicherungssysteme, von dem abnehmenden Vertrauen in sie, und von der sich beschleunigenden Kurzatmigkeit der Detailreparaturen an ihnen. Trotzdem versteht es sich weniger als einen Beitrag zur aktuellen (kurzfrist-orientierten) Debatte denn als Versuch, langfristige Orientierungen zu entwickeln. Orientierungen übrigens, an denen es liberaler Politik auch in der Vergangenheit keineswegs mangelte, denn sie lagen vielen in der politischen Alltagspraxis eingenommenen Positionen implizit zugrunde — die es aber explizit zu machen gilt. Dabei geht es vor allem um das „Wozu" und das „Wie" der Sozialpolitik. Das „Wieviel" wird sich aus den hier erörterten Grundsätzen in vielen Fällen von selbst ergeben; andererseits wird gerade der quantitative Aspekt stets in besonderem Maße Gegenstand tagespolitischer Auseinandersetzungen und auch für Liberale ein Stück weit situationsabhängig bleiben. Die Tauglichkeit der Grundsätze muss sich gerade auch darin bewähren, dass ihre Anwendung auf unterschiedliche Situationen jeweils überzeugende und praktikable Antworten zum „Was" und „Wieviel" (h)ergibt.
Einleitung zum Buch „Freiheit und soziale Verantwortung"
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Dem „Wozu" nachgehen heißt nach den Zielen fragen. Das ist besonders wichtig in einer Zeit, wo mit der Parole der „sozialen Gerechtigkeit" mehr Schindluder getrieben wird denn je. Nicht umsonst hat F. A. von Hayek bekannt, er habe sich zehn Jahre lang vergeblich bemüht, herauszufinden, was dieser Begriff eigentlich bedeute. Gerade auf seiner völligen Inhaltslosigkeit beruht ja die Eignung dieses Slogans als wahltaktische Vielzweckwaffe; und es ist kein Zufall, dass bei deren Einsatz jede inhaltliche Ausfüllung stets sorgfaltig vermieden wird. Der dadurch angerichtete Schaden ist enorm. Er beruht darauf, dass man unter Berufung auf eine solche Allerweltsparole, die keine Interpretationsmöglichkeit ausschließt, jede beliebige Politik und vor allem die Austeilung aller nur denkbaren „Wohltaten" rechtfertigen kann — und das leider auch tut. Dies ist - neben der demographischen und anderen objektiven Entwicklungen — die politische Ursache für die Misere unserer real existierenden Sozialpolitik: sie ist permanent in Gefahr (und erliegt ihr nur allzu oft), zum Instrument und Erfüllungsgehilfen von Klientel- und Gefalligkeitspolitik zu verkommen — ein scheinbar unerschöpfliches Reservoir, aus dem jeder Wahlkämpfer sich bzw. seine Kundschaft bedienen kann. Hierin liegt ein Hauptgrund, warum klare Prinzipien so unerlässlich sind, also Festlegungen zum „Wozu" und insbesondere auch zum „Wie" der Sozialpolitik: es geht darum, die Zahl der Stellschrauben, an denen die Politiker drehen können, so klein wie möglich zu halten. Dazu gehört zuallererst, dass man den Gegenstand klar abgrenzt. „Sozialpolitik" steht in diesem Buch für Politik der sozialen Sicherungssysteme. Das ist eine klare Absage an jegliche „Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik". Um Missverständnisse zu vermeiden: Natürlich bestreitet niemand, dass der Charakter einer Gesellschaft auch dadurch bestimmt wird, wie sie mit ihren sozial Schwachen umgeht und wie sie die soziale Sicherung organisiert; und dass sich die Verfassung der Gesellschaft auf Zahl und Schwere der sozialen Notfalle auswirkt, ist ebenso unstrittig. Aber um diese Selbstverständlichkeiten geht es hier ebenso wenig wie um die Selbstverständlichkeit, dass eine liberale Gesellschaft ihre schwächsten Mitglieder nicht im Stich lässt. Entscheidend ist vielmehr, dass das Einfallstor für die Gefälligkeitspolitik wagenweit geöffnet wird, wenn man eine Instrumentalisierung der Sozialpolitik für „gesellschaftspolitische" Ziele zulässt, die jenseits der immanenten Zwecke der sozialen Sicherungssysteme liegen. Mit dieser Begründung kann man buchstäblich alles machen, genau wie mit der „sozialen Gerechtigkeit". Exakt diesem entgegenzuwirken ist eines der wichtigsten Ziele dieses Buches. Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgehen, dass die Autoren dieses Buches nicht in allen Details vollkommen identische Auffassungen vertreten. Das wäre unter liberalen auch höchst ungewöhnlich. Aber die Grundlinie ist bei allen gleich — nämlich die Ausrichtung an der Frage: „Welche Eckwerte müssen für eine Sozialpolitik
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gelten, die sich sowohl bei den Transferleistungen als auch bei der Sicherung gegen die großen Lebensrisiken vor allem anderen am liberalen Oberziel der Freiheit und Verantwortlichkeit des Einzelnen orientiert? Diese Leitfrage fuhrt immer wieder zu Antworten, die sich vom sozialpolitischen Status quo in Deutschland (und anderswo) Meilenweit entfernen; man denke nur an die Forderung nach Trennung von Transfer- und Versicherungsbereich, die bei konsequenter Realisierung schon fast revolutionäre Auswirkungen zeitigen würde. Daran wird dreierlei deutlich: •
einmal, wie nötig unsere sozialpolitische Debatte die Provokation durch grundlegend neue Lösungsansätze hat;
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zum anderen, wie fruchtbar die rigoros am Freiheitsideal ausgerichtete liberale Fragestellung auch und gerade in der Sozialpolitik ist;
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und drittens, wie weit der Weg zu einer liberalen sozialpolitischen Praxis noch ist. Das führt zurück zum Ausgangspunkt: der Absicht, langfristige Orientierungshilfen zu entwickeln. Niemand hegt die Illusion, die in diesem Buch beschriebenen Grundsätze könnten kurzfristig in die politische Wirklichkeit umgesetzt werden. Wenn sich, aber die vielen kleinen (und manchmal — Gott gebe es! — mittleren) Schritte, aus denen praktische Politik nun einmal besteht, an klaren Orientierungsmarken ausrichten, wird man ihnen allmählich näher kommen.
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Überwindet Deutschland den Reformstau? Rede anlässlich der Auszeichnung mit dem Merkur-Preis der Industrie- und Handelskammer Stuttgart, Stuttgart, 11. September 2003 Sie haben mir heute den Merkur der Industrie- und Handelskammer Stuttgart verliehen. Für diese Ehre danke ich Ihnen. Sie stellen mich mit dieser Auszeichnung in eine Reihe von Preisträgern, von denen die meisten ihre Verdienste als Unternehmer und im Ehrenamt erarbeitet haben, als Schwaben zumeist, aber auch als Schwaben ehrenhalber. Dass es der Merkur ist, den Sie mir verleihen, ist mir Ehre und ganz persönliche Freude zugleich: Merkur war mir stets der liebste Olympier — als Hermes' Bote und Diener nicht nur am Anfang seiner Laufbahn, dann immer mehr als Botschafter ersten Ranges für freien Handel, Frieden, Rechtssicherheit, für Kaufleute, Handwerker, Unternehmer, Wissen und Kultur. Aktuell zusammengefasst: Merkur steht für die Kultur der Selbständigkeit und des Dienens, für Bürger, die Selbständigkeit, Freiheit und Verantwortung, Heimattreue und Weltoffenheit leben und als Vorbilder der Jugend vorleben. Für diesen Geist steht auch Ihre Region. Für diesen Geist schätzt man die Schwaben in ihrer „Eigenartigkeit und Unbeugsamkeit des Charakters", wie ihn schon der schwäbische Liberale Gustav Rümelin beschrieb, der 1889 hier in Stuttgart starb. Das ist auch der Geist, der heute für die Dynamik einer föderalen Ordnung taugen würde — wenn er denn frei in Deutschland wehen dürfte. Aber in Deutschland regiert Erstarrung, und Unfähigkeit zum klaren politischen Entschluss verbreitet eine Grundstimmung des Zögerns und Zweifeins. Die Deutschen fragen es, und auch die Welt um uns herum fragt mit wachsendem Zweifel: Uberwindet Deutschland den Reformstau? Ja, Deutschland wird den Reformstau überwinden. Die Frage ist nur, wann und wie der Reformstau überwunden wird. Davon hängt ab, wie hoch der Preis sein wird, den die Bürger dafür bezahlen müssen, dass am dicken Ende die Not wendet, wo zur rechten Zeit politische Gestaltungskraft gefehlt hat. Wie kann der Reformstau mit einer Kausaltherapie überwunden werden, nachdem diese Sklerose Deutschland schon so lange in den Knochen steckt? 1997 wurde „Reformstau" zum Wort des Jahres gekürt. Etwa um diese Zeit ergänzte das deutsche Wort „Angst" im englischen Sprachgebrauch so positiv belegte deutsche Begriffe wie „Rucksack" und „Kindergarten". Man spricht in England nun von „Ger-
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man Disease", nicht mehr von „English Disease" oder „English Malady", wie das seit den fünfziger Jahren Brauch war: aber nur bis zu den britischen Reformen Anfang der achtziger Jahre. Wenn es erst einmal so weit gekommen ist, dass die Krankheit einen einprägsamen Namen erhält, dann hat sie sich längst schleichend eingenistet. Das macht jede Kausaltherapie schmerzhaft. Der Ruf nach Heilung der Krankheit, nach grundlegenden Reformen, wird dann um so vielstimmiger und lauter, die gleichzeitig empörte Entrüstung über die angekündigte Medizin aber auch. So sehen auch die Meinungsbefragungen aus. Und darum verordnet die Politik erst gar nicht bittere Medizin, sondern kündigt nur an. Regierung und Opposition spielen mit festem Blick auf die Umfragen das vielzitierte Mikado: Keiner rühre sich, alles schlafe! Denn niemand will vom Wähler dafür bestraft werden, dass er mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb als bittere Medizin für die von allen Seiten geforderte Gesundung verordnet. Ein Sturm der Entrüstung bricht schon los, wenn z.B. die Verlängerung der Lebensarbeitszeit als Medizin-Tröpfchen angekündigt wird, vorsichtig über eine Regierungskommission, und zu verabreichen erst in einigen Jahren. Das scheint zwar absurd, hat aber Methode: Zwar steht für die Überwindung des Reformstaus am Ende als Alternative zur bitteren Medizin eine Amputation ohne Narkose. Aber warum sollte nicht auch der Schwarze Peter für die Amputation weiter geschoben werden können, wo das bei jeder wirklich bitteren Medizin politisch noch immer geklappt hat? Die Wende von 1982/83 war ein Versuch, mit ordnungspolitischen Reformen an den Ursachen von Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche anzusetzen. Reformstau war damals kein spezifisch deutsches Problem, schon gar nicht die Angst vor dem Wettbewerb, die im Wohlfahrtsstaat genährt worden war — trotz aller Warnungen von Wilhelm Röpke schon 1950. Denn fast gleichzeitig mit der Bundesrepublik setzten vor allem Neuseeland, die Vereinigten Staaten, die Niederlande und Großbritannien seit Anfang der achtziger Jahre Reformen durch: „angebotsorientierte Politik" — in allen Ländern durch Abbau von Regulierungen und Steuerbelastung, Flexibilisierung der Arbeitsmärkte, aber ohne eine wirklich grundlegende Reform der Sozialsysteme in einem der Länder. Dabei war seit Mitte der siebziger Jahre die demographische Zeitbombe bereits vorausgesagt, die heute in der Renten- und Krankenversicherung tickt. Diese Herausforderung war also bekannt, zumal sie durch immer neue Demographie-Zahlen bekräftigt wurde. Trotzdem gehörte zu den Nachrichten der Tagesschau Ende 1982 der Start in die Kampagnen für Frühverrentung und 35-Stunden-Woche. Auf der anderen Seite setzte in den gleichen Nachrichten Präsident Reagan mit der Reaktivierung der amerikanischen Schlachtschiffe ein Zeichen für erhöhte Anstren-
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gungen in der Sicherheitspolitik, über die Botschaft der Nachrüstungsdebatte hinaus. Nimmt man die Probleme der inneren Sicherheit hinzu, dann konnte vom „Ende der Arbeit" erst recht keine Rede sein. Dennoch wurde politisch letztlich für kürzere Wochen- und Lebensarbeitzeit entschieden, nach dem Motto: „Die Zeiten werden härter, also arbeiten wir weniger!" Professor Willgerodt hat das damals als „Kampf gegen das Saysche Theorem" gegeißelt. Denn nach dem Sayschen Theorem werden mehr Arbeitsplätze durch mehr Leistung geschaffen, nicht durch die Umverteilung von Arbeit nach den Regeln des Nullsummenspiel-Denkens. Ohne je etwas vom Sayschen Theorem gehört zu haben, wäre ein Arbeiter früher nie auf den Einfall gekommen, auf schwierigere Zeiten mit weniger Arbeit zu antworten, ein Schwabe schon gar nicht. Aber 35-Stunden-Wochen-Stdmmung ließ sich organisieren. Denn wenn pauschal weniger Wochenarbeitszeit mehr höhere Überstundenlöhne bedeutet, dann kann man das augenzwinkernd mitnehmen — wie die verbesserten Chancen für Schwarzarbeit: bei Bruttolohn gleich Nettolohn. Der gescheiterte 35-Stunden-Streik der IG Metall macht Hoffnung, dass sich zumindest hier die Stimmung gegenüber den achtziger Jahren gewandelt hat. Wenig Hoffnung auf Einkehr von Vernunft machen dagegen z.B. Talkshows zum Thema „Rente mit 67". Beim Kampf für Arbeitszeitverkürzung und beim Nullsummenspiel „Die Alten nehmen den Jungen die Arbeitsplätze weg" wird hier weiter entweder Unvernunft guten Glaubens als „sozial" gepredigt, oder es wird weiter organisierte Volksverdummung betrieben. Diese Kampagnen waren und sind nicht nur dumm, sondern zutiefst unmoralisch. Mit sehr viel Nachsicht kann man immerhin das als Fortschritt gegen Reformstau sehen: Ende August 2003, fast 20 Jahre nach der Häufung von Konzepten für „Kapitaldeckung im Dienste der Alterssicherung", plädiert auch Horst Seehofer in der Union für einen neuen Kurs in der Rentenpolitik. Noch vor der nächsten Bundestagswahl solle das Rentensystem komplett umgestellt werden. Diese Entdeckung der Langsamkeit kenne ich schon von der EinkommensteuerReform der alten Koalition her. Der Finanzminister wurde so lange zum Jagen getragen, bis er erst am 27. September 1997 den von ihm viel später geplanten Start der Reform freigab. Rechtzeitig vor der Bundestagswahl 1998 war das eher eine Steilvorlage für das, was als Lafontaines Blockadepolitik in die Geschichte deutscher Reformstaus einging. Für die Uberwindung des Reformstaus kommt auch der aktuelle Gesetzesentwurf der Union für Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt reichlich spät. Denn die Union hat in der Regierung - und in der Opposition noch bis 2002 - keinen Vorstoß der FDP für mehr Markt im Arbeitsrecht unterstützt.
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Das Verschleppen von Reformen ist charakteristisch für den ausgeuferten Wohlfahrtsstaat — wie die Angst vor dem Wettbewerb, die nach jeder hinausgezögerten Strukturanpassung sogar noch wächst. Denn ein ungutes Gefühl, dass man schließlich wohl doch nicht um eine Reform herumkommen wird, bleibt. Und dass auch in der Politik verspätete Reparaturen erst recht teuer kommen, weiß man schon aus eigener Erfahrung als Häuslebauer. Diese Hypotheken von über Jahrzehnte aufgebürdetem Reformstau machen Reformen heute für jede Regierung schwer. Dann aber darf die Politik erst recht nicht den Bürgern die Umstellung auf ein neues Reformtempo auch noch dadurch schwer machen, dass ein klarer ordnungspolitischer Kurs fehlt: Vernebelungen hier, Reform-Testballons auf Stimmungsbarometer dort, aber nie erkennbar ist feste Überzeugung vom sozialen Wert einer konsequent marktwirtschaftlichen Ordnung. Das Problem des Reformstaus ist nicht nur die Politik des kurzen Atems in der Not hastig hier gestopfter, dort wieder aufgerissener Löcher in den Staatshaushalten und in den Kassen der Sozialversicherungen. Bei zu vielen Politikern und Funktionären fehlt die Überzeugung, dass die Befreiung von der Vollkasko-Mentalität gut für die Bürger ist, dass Wiederbesinnung auf Eigenverantwortung, auf Subsidiarität und freiwillige Solidarität nicht nur effizienter sind, sondern auch humaner als der entmündigende Wohlfahrtsstaat organisierter Verantwortungslosigkeit. Diesen Politikern und Funktionären fehlt heute nur das Geld für das „Weiter so!" für den Wohlfahrtstaat, den sie meinen. Das ist wenigstens ehrlich. Andere Politiker aber entschuldigen sich für das Entziehen von Geschenken an Bürger, die weit von Bedürftigkeit entfernt sind. Diese Politiker zeigen nicht die geringste Bereitschaft, soziale Hilfe auf die wirklich Bedürftigen zu konzentrieren: Man würde ja gerne aus dem Füllhorn weiter verteilen, aber das sei nun einmal leider leer, und immer nur pumpen sei ja ein bisschen verboten. Professor Willgerodt hat schon vor über zehn Jahren in der ersten Thomas-DehlerRunde diese Politik als im günstigsten Falle gut gemeint, aber in jedem Falle unsozial bewertet. „Infantilisierung" von erwachsenen Bürgern nannte er diese Pathologie des Wohlfahrtsstaats. „Will ich auch haben" überschreibt nun im gleichen Sinne Jürgen Kaube seinen Beitrag zu dieser Sozialpolitik nicht für Arme, sondern für alle: eine Sozialpolitik ohne Preisschilder, ohne Gegenleistung. Kaube erinnert dabei an Niklas Luhmanns Vorstellungen vom Erwachsensein: „Die Fähigkeit, für sich und die Seinen sorgen zu können, war einst mit der Anerkennung als ernst zu nehmender Teilnehmer an politischen Diskussionen verkoppelt." Und für unsere Zeiten des Reformstaus fährt Kaube fort: „Das Wichtigste oder wenigstens einiges davon selbst regeln zu können wird nicht einmal mehr kleinen Gemeinschaften abverlangt... Das Kind, dem gegenüber es allzu hart wäre, ihm das Ge-
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schenk zu verweigern, schiebt sich als Bild des Bürgers an die Stelle des Erwachsenen." Damit ist kein Staat zu machen. Ohne neuen Bürgersinn überwindet Deutschland den Reformstau nur durch wieder erwachsen werden, nachdem der Karren voll an die Wand gefahren ist. Kennen Sie nicht auch noch so manche Not aus Ihren Erfahrungen in Beruf und sozialem Engagement? Die deutsche Not, bei der wohl am ehesten eine Kausaltherapie Rettung aus dem Reformstau verspricht, nennt Konrad Adam einprägsam „Föderalismitis". Denn dieses Wortspiel erinnert an Krankheiten wie „Rachitis" oder „Sklerosis", zugleich aber auch an Reform-Chancen durch Föderalismus. Föderalismus verdient seinen guten Namen dann und nur dann, wenn er ohne Wenn und Aber am Prinzip der Subsidiarität orientiert ist — in Deutschland und in Europa, wo die Sprachverwirrung bei „Föderalismus" besonders babylonisch ist. In Deutschland ist der Föderalismus in 50 Jahren zu einer Verflechtungsfalle verkommen: Verflechtung von Kompetenzen der Länder und des Bundes, dazu Esau-Tausch von Länderrechten gegen Mitsprache auf der Bundesbühne haben aus den rund 10% Zustimmungsgesetzen von 1949 in wenigen Jahren fast 60% Gesetze gemacht, denen der Bundesrat zustimmen oder die er blockieren kann. Das fördert Reformstau als offensichtliche Folge von Verletzungen des Subsidiaritätsprinzips und des liberalen Trennungsprinzips — im Sozialstaat und in der bundesstaatlichen Verfassung: •
Wenn das Subsidiaritätsprinzip nicht streng als Vorrang des Privaten vor jeder Frage der Zuordnung von staatlichen Kompetenzen gilt, dann schafft das zunächst unnötig viel Gesetze und Verwaltungsbürokratie zur Umsetzung der Gesetze mit viel Verflechtungen und Zustimmungsgesetzen. Darum gilt hier erst recht: „Wenn es nicht notwendig ist, ein Gesetz zu machen, dann ist es notwendig, kein Gesetz zu machen." (Montesquieu zugeschrieben)
•
Wenn es notwendig ist, dass der Staat statt des Einzelnen, der Familie oder der freiwilligen Solidargemeinschaft Verantwortung trägt, dann ist es notwendig, dass die staatliche Ebene für die Bürger möglichst überschaubar und nahe ist: Vorrang also für die Gemeinde, vor den Ländern, dann den Regionen, dem Bund, der Europäischen Union.
Auch diese Maxime könnte man Montesquieu zuschreiben. So hat er zwar nicht formuliert, aber darum ging es Montesquieu im „Geist der Gesetze": „In einer großen Republik wird das allgemeine Beste das Opfer von tausenderlei Erwägungen. Es wird Ausnahmen zuliebe hintangestellt... In einer kleinen Republik ist das Staatswohl spürbarer, besser erkennbar und jedem Bürger näher. Missstände reißen nicht so weit ein und werden deshalb nicht so sehr gedeckt." (VIII. Buch, 16. Kapitel).
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Bei Aristoteles sollte das Gemeinwesen, das Bürgersinn fördert, sogar so klein sein, dass überall die mächtige Stimme des Stentors gehört werden konnte. So weit wird man heute natürlich nicht gehen müssen, um dem Subsidiaritätsprinzip Geltung zu verschaffen und um den Bürgersinn zu beleben, der für die Uberwindung des Reformstaus so wichtig ist. Die kleine Schweiz ist dafür gutes Beispiel. Denn selbst die kleine Schweiz braucht im Inneren eine föderale Ordnung. Subsidiarität heißt in der Schweiz: Den Gemeinden und Kantonen werden in der Bildungs- und Steuerpolitik Verantwortungen zugetraut und Kompetenzen anvertraut. In Deutschland misstraut man eher den unteren Ebenen der Staatstäügkeit, dem Bürger sowieso. Und die Angst vor dem Wettbewerb ist gerade in der Föderalismus-Diskussion besonders groß - in Deutschland und in der Europäischen Union, am größten vielleicht in Frankreich. Größer als die Angst z.B. vor Steuerwettbewerb ist allenfalls der Appetit auf Finanzausgleiche, Zuweisungen, Mischfinanzierungen oder offene Transfers. Dafür lassen sich in Art. 72 GG „gleichwertige Lebensverhältnisse im Bundesgebiet" heute so fehlinterpretieren wie zuvor die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse über das Gebiet eines Landes hinaus". Der Preis der „Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse" durch Bundeshilfen statt durch Standortwettbewerb ist für die Länder bei konkurrierender Gesetzgebung allerdings das Wechseln des Gesetzgebungsrechts zum Bund. Der Preis für alle ist der Verlust von Dynamik. Alles zusammen — Nivellierungstendenzen, Kompetenzvermischung und Verlagerung von Kompetenzen nach oben zum Bund — ist unvereinbar mit dem Subsidiaritätsprinzip. Darum müssen wir auch auf dem Wege zur künftigen Verfassung der Europäischen Union bei der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips besonders wachsam sein. Noch einmal: Für den Beitrag des Subsidiaritätsprinzips zur Überwindung des Reformstaus ist die Schweiz ein besonders gutes Beispiel. Denn die Schweiz ist nicht nur klein und hält sich dennoch für zu groß, um sich eine zentralstaatliche Verfassung leisten zu können. Die Schweizer sind außerdem seit über einem Jahrhundert überdurchschnittlich wohlhabend und seit Jahrhunderten weitgehend verschont von Krieg und großem Umsturz. Nach allem, was man seit Karthago und Rom vom Zusammenhang zwischen schnell wachsendem Wohlstand und schwindendem Bürgersinn vermutet, müssten die Schweizer beim Bürgersinn nach dem heute üblichen Länder-Ranking ganz unten stehen. Und nach allem, was wir spätestens seit 1982 aus Mancur Olsons „Aufstieg und Fall der Nationen" wissen, dürfte die Schweiz vor lauter Kontinuität in so tiefe Sklerose und Reformstaus gefallen sein, dass sie bei Verkrustung und Dauerhaftigkeit des Reformstaus den Spitzenplatz einnehmen müsste — wenn es die Schweiz
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denn überhaupt noch gäbe. Denn der englische Staatsmann Edmund Burke erkannte schon 1790: „Ein Staat ohne Mittel zu seiner Reform ist ohne Mittel zu seinem Erhalt." Die Schweiz mit hohem Bürgersinn gibt es aber. Eine konsequent am Subsidiaritätsprinzip orientierte föderale Staatsverfassung ist also offenbar eine gute Verfassung für die Stärkung von Bürgersinn und zugleich eine starke Gegenkraft gegen Tendenzen zu Unbeweglichkeit und Reformstau bei wachsendem Wohlstand, wenn also die Bürger also mehr zu verlieren haben, im Sinne von Kris Kristoffersons und Janis Joplins „Freedom 's just another word for nothing left to loose". Wir müssen aber nicht alles verlieren, um die schöpferische Kraft der Freiheit wieder voll zu begreifen. Und wir können uns solche Verluste im globalen Wettbewerb erst recht nicht leisten. Frei nach Wilhelm Röpke: Föderalismus national, in Europa und international ist in einer Zeit beschleunigten globalen und technologischen Wandels notwendiger denn je, wenn wir Freiheit, Frieden und Wohlstand sichern wollen. Zur Überwindung des Reformstaus in Deutschland muss man nicht alles machen, was die Schweiz mit ihrem Konzept des Arbeitsfriedens und ihrer Ausgestaltung der föderalen Ordnung vorgemacht hat. Denn gegen die Kompetenzverflechtung kann man wohl noch weiter vorgehen als in der Schweiz. Auf keinen Fall können wir uns nach der blamablen Umsetzung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zu Maßstäbegesetz und Finanzausgleich erlauben, dass der Arbeitsauftrag der Föderalismus-Kommission zurechtgestutzt werden soll: Kompetenzen wolle man wohl entflechten. Das sagt man jedenfalls, seitdem manche sogar wagen, offen von „Wettbewerbsföderalismus" zu sprechen. Die Entflechtung bei den Steuern soll aber tabu bleiben. Und der unübersehbare Zusammenhang mit der Reform der Gemeindefinanzen wird offenbar verdrängt. Auch daran erkennt man drei Krankheiten, die Reformstau in Deutschland verfestigen: •
Unfähigkeit zum Denken in ordnungspolitischen macht unfähig zu Reformen aus einem Guss.
Gesamtzusammenhängen
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Gerade bei der Entflechtung der Steuer-Kompetenzen ist die Angst vor Wettbewerb besonders groß, weil sie auf kaum einem Feld in Deutschland und in Europa politisch so stark geschürt worden ist.
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Die Bürger, deren Stimmungslagen man so ängstlich am Barometer abliest, nimmt die Politik in Wirklichkeit überhaupt nicht ernst. Sonst würde durch konsequente Entflechtung für die Bürger sichtbar gemacht, wer welche Steuern für welche Aufgaben erhebt. Politische Verantwortung wäre transparent. Aber genau das scheuen noch immer zu viele.
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Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat in fünf Manifesten konkrete Vorschläge gemacht, wie Deutschland mit Föderalismus den Reformstau überwinden kann. „Wider die Erstarrung in unserem Staat — Für eine Erneuerung des Föderalismus" überschrieb unsere Föderalismus-Kommission das erste Manifest, das ich an Ludwig Erhards 101. Geburtstag am 4. Februar 1998 vorgestellt habe. Die Überwindung des deutschen Reformstaus blieb ein zentrales Thema bis zum vierten Manifest: „Für einen reformfähigen Bundesstaat: Landtage stärken, Bundesrat erneuern". Dafür muss die konkurrierende Gesetzgebung des Bundes auf das Nötigste beschränkt werden. Die Mischfinanzierung durch Gemeinschaftsaufgaben und Bundesfinanzhilfen muss abgeschafft werden. Verwaltungskompetenzen von Bund und Ländern müssen entflochten werden. Aufgaben- und Ausgabenkompetenz müssen zusammen mit der Steuerhoheit klar den Gemeinden, den Ländern und dem Bund zugeordnet werden. So wollen wir Gestaltungskraft der Gemeinden und Landtage stärken. In 16 Feldern schlagen wir eine drastische Verringerung der Zustimmungsgesetze vor. Das Trauerspiel des Gezerres um die Besetzung und den Auftrag der Regierungskommission zur Reform des Föderalismus und den lautstarken Stillstand bei der Reform der Gemeindefinanzen sollten wir alle als letzten Weckruf verstehen: Wir dürfen in unseren Verantwortungen dem weiteren gemeinsamen Niedergang unseres Landes nicht zusehen. Baden-Württemberg gehörte zu den Vorreitern gegen nivellierende Umverteilung im Bundesstaat. Ihr Land, das der große Alemanne, Föderale und Europäer Carl Burckhardt so bewundert hat, muss auch Vorreiter für die Entflechtung von Kompetenzen und für Subsidiarität durch Stärkung von Gemeinden und Landtagen werden. Ihr Ministerpräsident Erwin Teufel hat das im Europäischen Konvent getan, Ihr Wirtschaftsminister Walter Döring steht in der FDP für Wettbewerbsföderalismus an der Spitze. Und die Industrie- und Handelskammer Stuttgart ist in besonderem Maße berufen, im Deutschen Industrie- und Handelskammertag voranzutreiben, was der DIHT im Januar 1999 so zusammengefasst hat: „Mehr Steuertransparenz und Steuerwettbewerb in Deutschland". Das muss unser gemeinsames Ziel sein. Ich weiß, dass wir da bei der Zuordnung der Steuern zu Gemeinden, Ländern und Bund in unseren Vorschlägen noch auseinander liegen. Aber wichtiger ist die Gemeinsamkeit in der Forderung nach klarer, transparenter Zuordnung. Und auch darin will ich ganz klar bleiben: Die Gewerbesteuer gehört abgeschafft. Für Wettbewerbsföderalismus und klare Kompetenzen heißt es, auch die Kräfte zu bündeln, die für den Städtegeist stehen, den Carl Burckhardt meinte. Dieser Städtegeist, den Goethe an Frankfurt so gelobt hat, war es gerade nicht, den die Städte-
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tagspräsidentin Petra Roth in das Gezeter um die Reform der Gewerbesteuer getragen hat. Von Städtegeist für die Bürger erwarte ich auch die Bereitschaft, den Bürgern in den Städten volle Rechenschaft über das Finanzgebaren von Politik und Verwaltung abzulegen. Für Reformstau droht Verlängerung in der Regierungskommission zur Reform des Föderalismus durch Umzingelung mit Tabus bei der Entflechtung. Die FriedrichNaumann-Stiftung will ihren Beitrag für einen Reformansatz aus einem ordnungspolitischen Guss leisten: Zusammen mit der Ludwig-Erhard-Stiftung, der Bertelsmann Stiftung und der Stiftung Marktwirtschaft wollen wir Kräfte bündeln, damit diese Kommission eine Chance bekommt, ihren Beitrag zur Überwindung des Reformstaus durch konsequente Subsidiarität in Deutschland zu leisten. Ich wies bereits darauf hin: Auch in Europa ist alle Wachsamkeit beim Subsidiaritätsprinzip geboten: gegen Erstarrung, für Handlungsfähigkeit in der bald noch größeren Staatengemeinschaft. Der am 18. Juli 2003 an die Regierungen zur Ratifizierung übergebene Konventsentwurf für einen Verfassungsvertrag gibt allen Anlass, die künftige Verfassung in einem Volksentscheid zur Sache der Bürger zu machen: „Für ein Europa der Freiheit und der Bürger!", wie die Friedrich-Naumann-Stiftung ihr fünftes Föderalismus-Manifest überschrieben hat. Dafür muss im Entwurf bereits bei den Werten und Zielen der Union das Subsidiaritätsprinzip gestärkt werden. Und selbstverständlich muss zu den Zielen der Union auch die Geldwertstabilität gehören; für die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank muss jeder Zweifel ausgeräumt werden. Ich bedanke mich noch einmal für den Merkur, der mir nun als Stuttgarter Bote helfen mag, für eine marktwirtschaftliche Ordnung in Freiheit und Vielfalt
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Bürgergeld statt Kombilohn Erschienen in: Cicero. Magazin für politische Kultur. Online Exklusiv, Februar 2006 Es ist eine gute Tradition geworden, dass der Bundespräsident klar und deutlich seine Meinung zu Kernfragen deutscher Reformpolitik sagt. Johannes Rau hat das beispielsweise zur Föderalismus-Reform getan. Roman Herzog 1994 und nun Horst Köhler haben das zum Arbeitsmarkt und für mehr Freiheit im Arbeitsvertragsrecht den Koalitionären mit auf den Weg gegeben. Bundespräsident Köhlers Anliegen versteht man besser, wenn man seine konkreten Vorschläge im ordnungspolitischen Kontext seiner Rede vom März 2005 auf dem Forum „Wirtschaft und Arbeit" sieht: Es geht um Chancen für mehr Freiheit und Eigenverantwortung. Diese Chancen haben die Deutschen durch mehr Teilhabe. Aber ausgeschlossen von der Teilhabe am sozialen Milieu der Arbeitswelt sind weiterhin Millionen dauerhaft Arbeitslose, darunter immer mehr Jugendliche, auf die nach ihrer Ausbildung Arbeitslosigkeit wartet. Diese Arbeitslosigkeit ist ein Skandal für eine Kulturnation. Also regt der Bundespräsident wie zuvor Roman Herzog staatliche Zuschüsse an, damit einfache Arbeit für die Betriebe lohnend ist. Mit seinem zweiten Vorschlag einer breiteren Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktiwermögen hat der Bundespräsident für mehr Teilhabe an der Firma, in der man arbeitet, geworben. Beide Chancen für mehr Teilhabe sind seit langem Programm der liberalen, von den Freiburger Thesen bis zu den Wiesbadener Grundsätzen für die liberale Bürgergesellschaft. Schwierig ist in jedem Falle die politische Umsetzung. Denn es kommt darauf an, wie man einfache Arbeit für Arbeitgeber und Arbeitnehmer lohnend macht. Das hat in aller Deutlichkeit das Schlagwort gezeigt, unter dem die Anstöße des Bundespräsidenten diskutiert werden: „Kombilohn". Unter dieser unklaren Worthülse stellt sich wieder einmal fast jeder etwas anderes vor, sagt aber selten Konkretes zum Konzept und zur Umsetzung. Gemeinsam ist allen „Kombilohn"Konzepten, dass niedrige Löhne durch einen staatlichen Zuschuss aufgestockt werden, so dass durch diese Kombination ein Einkommen erzielt werden soll, bei dem sich reguläre Erwerbsarbeit lohnt. Schon beim Begriff „Kombilohn" hapert es also, denn die Kombination von Marktlohn und staatlichem Transfereinkommen ist logischerweise stets ein Kombi-Einkommen, aber kein „Kombilohn". Weil aber das Wort „Kombilohn" so schön einfach ist, hat sich dieser Begriff durchgesetzt, ähnlich wie der in der Sache völlig falsche Begriff „PreisStabilität" statt des korrekten Begriffs „Geldwertstabilität" selbst in EU-Verträgen.
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Entscheidend beim „Kombilohn" ist, was Professor van Suntum so formulierte: „Es kommt darauf an, wie man es macht". Was seit dem Kombilohn-Rezept von Norbert Blüm über die breite Palette von Experimenten über diverse „Einstiegshilfen" oder „Mainzer Modell" bis hin zu Hartz IV versucht wurde, ist ordnungspolitisch höchst fragwürdig. Denn all diese Rezepte packen nicht an den Ursachen hoher Arbeitslosigkeit im Niedriglohnbereich an: Sie klammern die Ordnung des Arbeitsmarktes aus und versuchen erst gar nicht eine „Steuer- und Transferordnung aus einem Guss" durch eine grundlegende Reform des Steuer- und Sozialsystems. Was dagegen Hans-Werner Sinn mit sechs harten Randbedingungen ebenfalls unter dem von der Medienlandschaft erzwungenen, falschen Namen „Kombilohn" vorschlägt, geht als schlanke Negativsteuer-Variante immerhin in die richtige Richtung. Seit gut 10 Jahren liegt allerdings ein ordnungspolitisch in sich geschlossenes Konzept in der Tradition der Bürgersteuer-/Bürgergeld-Idee von Joachim Mitschke und Wolfram Engels („Kronberger Kreis"/Stiftung Marktwirtschaft) vor, als Bürgergeldsystem ausgearbeitet und eingebracht in die Koalitionsvereinbarung von 1994. Die von Professor Pinkwart geleitete Bürgergeld-Kommission der FDP hat dieses Konzept eines Bürgergelds vor der Bundestagswahl 2005 aktualisiert und mit konkretisierten Forderungen zur Reform des deutschen Arbeitsrechts, des Steuersystems und der Sozialversicherungen verbunden. Das Bürgergeld soll Hartz IV ersetzen. Dieses Bürgergeld wird dem gerecht, was ich schon im Bundestagswahlkampf 1994 vertreten habe: Die Betriebe dürfen durch Arbeitsrecht und Tarifpartner nicht gehindert werden, einfache Arbeit für gering qualifizierte Arbeitnehmer zu Marktlöhnen anzubieten. Und die Betriebe müssen für diese einfache, deshalb mit niedrigen Stundenlöhnen bezahlte, Arbeit auch Arbeitnehmer finden, für die sich diese Arbeit lohnt. Produktivitätsgerechte Lohnsätze, die von den Betrieben bezahlt werden könnten, wären aber für gering qualifizierte Arbeitnehmer oft so niedrig, dass die Betriebe zu solchen Lohnsätzen keine Arbeitskräfte finden. Hemmnis für mehr Angebot von einfacher Arbeit sind also das starre Arbeitsrecht und die Praxis der Tarifvertragsparteien. Sie verhindern die nötige Beweglichkeit der Lohnsätze nach unten und der Arbeitszeiten nach oben. Gering qualifizierte Arbeitsuchende könnten für einen besseren Arbeitslohn nicht einmal im nötigen Umfang niedrige Stundenlöhne durch entsprechend längere Arbeitszeit ausgleichen. Mehr Nachfrage der Arbeitslosen nach einfacher Arbeit wird auf der anderen Seite durch das in Deutschland hohe Niveau der Sozialhilfe ohne Arbeit als ein faktischer Mindestlohn verhindert: Für viele gering Qualifizierte rechnet sich reguläre Erwerbsarbeit im Vergleich zu einem Leben mit Sozialhilfe nicht, erst recht nicht, wenn Sozialhilfe mit Schwarzarbeit kombiniert werden kann. Daher brauchen wir für produktivitätsgerechte Löhne — und dadurch mehr Angebot von Arbeitsplätzen für gering Qualifizierte — auch mehr Freiheit der Betriebe und
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Arbeitsuchenden im individuellen und kollektiven Arbeitsrecht. Für mehr Nachfrage nach Arbeitsplätzen im Niedriglohnbereich müssen entsprechend die Anreize für Arbeitslose gestärkt werden, zumutbare Arbeit zu suchen und auch anzunehmen: Arbeit muss sich bei produktivitätsgerecht niedrigen Löhnen für einfache Arbeit deutlich mehr lohnen als ein Leben mit „Stütze". Wer solche Arbeit annimmt, erhält auf den niedrigen Lohn einen Zuschuss aus Steuermitteln. Und als Gegenleistung für diese Hilfe der Steuerzahler durch Steuerzuschüsse („Negativsteuer") muss konsequent — und bewehrt mit Sanktionen — von Arbeitsfähigen eingefordert werden, zumutbare Arbeit auch anzunehmen. Das ist die Kombination von Anreizen und Druck, die politisch leider erst sehr spät auch für den Arbeitsmarkt als hilfreiches „Fördern und Fordern" akzeptiert wurde. Zum Schutz der Steuerzahler vor Sozialleistungsmissbrauch und zur Bekämpfung der Schwarzarbeit wird im Bürgergeld als Sanktion bei Ablehnung zumutbarer Arbeit die Hilfe um bis zu 30 Prozentgekürzt, also etwa in der Größenordnung der Kürzung, die Hans-Werner Sinn in seinem Konzept eines Grundeinkommens fordert. Bei einer weiteren Ablehnung angebotener zumutbarer Arbeit wird im FDPKonzept erneut um bis zu 30 Prozent gekürzt, so dass bei Arbeitsverweigerung die Kürzung der Hilfe bei insgesamt bis zu etwa 50 Prozent liegen kann. Damit dieser Druck, der gleichzeitig die Finanzierung auf der Ausgaben- und Einnahmeseite erleichtert, auch tatsächlich greift, müssen genügend Arbeitsplätze angeboten werden: Was nicht angeboten wird, kann auch nicht abgelehnt werden. Über mehr Freiheit im Arbeitsrecht hinaus ist daher Wachstumspolitik mit entlastenden Reformen des Steuersystems und aller Sozialsysteme so wichtig. Nur bei Wachstum und geringerer Abgabenbelastung bleibt genügend Netto vom weltmeisterlich hohen Brutto, das die Betriebe in Deutschland heute zahlen müssen: Geringere Steuer- und Sozialabgabenlast durch Reformen senkt die unternehmerischen Arbeitskosten und erhöht den Spielraum der Betriebe für höhere und dennoch produktivitätsgerechte Löhne. Das verringert den Umfang, in dem durch staatliche Zuschüsse die Anreize für einfache Arbeit verbessert werden. Denn die stärkeren Anreize müssen ohne weitere Schulden-Hypothek finanziert werden können: zum einen aus den steuerfinanzierten Sozialleistungen, die durch das Bürgergeld ersetzt werden, zum anderen durch die Einsparungen bei Senkung der Dauer-Arbeitslosigkeit im Bereich einfacher Arbeit. Mitnahme-Effekte durch Fehlanreize, etwa durch den gemeinsamen Haushalt mit Eltern oder Lebenspartoer scheinbar oder tatsächlich aufzulösen, wie sie beim Arbeitslosengeld II die Kosten hoch getrieben haben, können im Bürgergeldsystem durch die Sanktionen bei Arbeitsverweigerung verringert werden. Den Haushalt tatsächlich aufzulösen, um höhere Sozialleistungen zu erhalten, lohnt in aller Regel nicht; Schein-Auflösungen von Haushaltsgesellschaften begegnet man mit effektiven
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Missbrauchskontrollen. Hohe Kontrollkosten werden bei gezieltem Druck im Bürgergeld durch die Senkung der Hilfe bei Arbeitsverweigerung vermieden. Statt dieses gezielten Drucks wird zur Finanzierung kräftiger Anreize für reguläre Erwerbsarbeit seit Anfang der neunziger Jahre auch eine generelle Senkung der Sozialhilfe auf das „physische" Existenzminimum diskutiert, nachdem der Anstieg der Sozialhilfe über viele Jahre den Anstieg der Löhne übertroffen hat. So würde immerhin Deutschlands faktischer Mindestlohn durch Sozialhilfe gesenkt, der bei einfacher Arbeit oft über dem Marktlohn liegt. Zweifel an der Wirksamkeit für mehr Arbeitsplätze und weniger Belastung der öffentlichen Haushalte sind bei den vielen seit Jahren praktizierten „Kombilöhnen" angebracht, bei denen man „die Finanzierung" so sichern will: durch „Modellversuche", räumlich und zeitlich eng begrenzt; durch Lohnzuschüsse für nur wenige, die bereits sehr lange arbeitslos sind, und dies für nur sehr kurze Zeit. Das scheint manchen in der kurzen Frist von Haushaltsjahr zu Haushaltsjahr immer noch die billigste Lösung, erwies sich aber in den letzten Jahren als Fortsetzung der Subventionierung von Dauer-Arbeitslosigkeit mit neuen Mitteln bei grundsätzlich unveränderten Anreizen für ein Leben auf eigenen Füßen. Es fallt nach längst überfälligen Reformen — damit nach verfestigter Gewöhnung an hohe Langzeit-Arbeitslosigkeit und nach langer Einübung von Sozialleistungsmissbrauch — erst recht schwerer, Kurzsichtigen den rechten Weg der Langfristpolitik zu zeigen. In dieser Not sieht der Kurzsichtige die Hindernisse für mehr Arbeitsplätze, die durch seine Symptom-Kuriererei statt Mut zu Reformen tatsächlich gestiegen sind, umso größer. Dazu passt heute die immer lauter von Lafontaine bis in die Regierung verbreitete Forderung nach einem staatlichen Mindestlohn. Deutschland bliebe auf dem falschem Kurs der Symptom-Kuriererei, wenn die Regierung diesen alten SirenenKlängen folgte: Produktivitätsgerechte, für Betriebe bezahlbare, Löhne seien „Lohndrückerei". Also müssten Mindestlöhne „Lohndrückerei" verhindern. Und wenn sogar Luxemburg Mindestlöhne habe, dann müssten Mindestlöhne ja eine gute Sache sein. Statt durch mehr Rahmenbedingungen für mehr Leistung mehr Arbeitsplätze mit guten Löhnen zu schaffen, will man einen staatlichen Lohnschalter. Die Politik dreht dann den Schalter auf „Minimum", und schon hat Deutschland im Niedriglohnbereich mehr Arbeitsplätze bei höheren Löhnen. Das ist zwar lächerlich, aber einige würden für staatliche Mindestlöhne sogar die Tarifautonomie opfern. Die ökonomische Realität bleibt: Liegt der Mindestlohn unter den marktgerechten Löhnen, bleibt er wirkungslos, liegt er darüber, vernichtet er Arbeitsplätze. Einen Fehler darf man auch bei den Bürgergeld-Konzepten in der Tradition der Negativsteuer-Idee von Milton Friedman nicht machen: Sie sind kein Allheilmittel zur Überwindung der Arbeitslosigkeit, und sie wurden von ihren Vertretern auch nie als Allheilmittel angepriesen. Dagegen spricht auch ihre gesamte Konstruktion: Nur
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im Niedriglohnbereich sollen sie durch staatliche Zuschüsse Arbeit lohnend machen, Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanzieren helfen. Denn je länger Dauer-Arbeitslosigkeit bei gering Qualifizierten anhält, desto länger vergeudet Deutschland wertvolle menschliche Arbeitskraft, die bei einfacher Arbeit fehlt, etwa im Bereich der personennahen Diensdeistungen, die für eine älter werdende Gesellschaft immer wichtiger werden. Vor allem wachsen bei Dauer-Arbeitslosigkeit immer mehr Kinder in Familien oder bei Alleinerziehenden auf, die von der Teilhabe am sozialen Milieu der Arbeitswelt ausgeschlossen sind. Die sozialen Kosten der Prägungen, die Kinder dann nicht erfahren — und der Verhaltensweisen, die sie dann statt der für einen ordentlichen Beruf unverzichtbaren Tugenden lernen — werden weiterhin unterschätzt. In diesen Familien und für diese Kinder werden Chancen auch für höher qualifizierte Arbeit verspielt. Denn für gut bezahlte Arbeit, für die der Standort Deutschland alle Chancen bieten kann, muss selbstverständlich im Bereich durchschnittlicher und hoher Löhne in bessere Bildung und Exzellenz in Forschung investiert werden. Diese Investition beginnt bei verbesserten Chancen für Qualifizierung durch mehr Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, durch neue Chancen für die Kinder in sozial schwachen Familien oder bei Alleinerziehenden mit voller Abhängigkeit von Sozialhilfe. Es ist ein soziales Armutszeugnis, wenn in einem reichen Land wie Deutschland der soziale Aufstieg zu Bildung und gut bezahlter Arbeit im 21. Jahrhundert schwerer sein sollte als in der Nachkriegszeit. Es geht in Deutschland also aus sozialen und volkswirtschaftlichen Gründen darum, die Chancen für mehr Leistung auf allen Ebenen der Qualifikation zu verbessern: Mehr Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich endasten bei Steuern und Sozialabgaben; mehr Arbeitsplätze für Hochqualifizierte durch Investitionen in Bildung und Forschung erhöhen den Spielraum, in dem mit Steuermitteln für sozial Schwache Brücken in die Arbeitswelt geschlagen werden können. Mit der Politik des „Weiter so!" auf dem Arbeitsmarkt würden die Hindernisse für „mehr Arbeitsplätze durch mehr Leistung" weiter steigen, trotz einigen Umdenkens in Richtung auf „fördern und fordern" beim Arbeitslosengeld II. Gegen den sozialen Sprengstoff, der in anhaltender Langfrist-Arbeitslosigkeit liegt, ist das zuwenig. Erst recht ist es zuwenig, wenn Deutschland wieder den Platz gewinnen will, den die großen Chancen seiner Standortvorteile im globalen Wettbewerb bieten. Darum lohnt es sich weiterhin, diesen Weg für mehr Leistung zu versuchen: Wer konsequent eine leistungsorientierte Bürgergesellschaft mit mehr Eigenverantwortung und Wettbewerb will, der braucht auch Solidarität und eine bessere Absicherung gegen Risiken. Eine wohlhabende Gesellschaft, die ihren Wohlstand der marktwirtschaftlichen Ordnung und dem Fleiß ihrer Bürger verdankt, kann diese Sicherheit durch ein Bürgergeldsystem schaffen.
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Föderalismus in Deutschland und Europa
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Brauchen wir einen neuen Föderalismus? Rede vor der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer in Bremen, 1. Dezember 1998 Im Jahre 1879 schrieb der Mathematiker und politische Publizist Constantin Frantz den merkwürdigen Satz: „Hat sich nun der Föderalismus, für Theorie und Praxis, als ein universales Prinzip erwiesen, so hat er doch daneben zugleich noch eine besondere unmittelbare Beziehung auf Deutschland, dessen föderative Beanlagung und Bestimmung genügend aufgezeigt wurde. Das aber anerkannt, ist folglich auch keine wahre Wiederherstellung Deutschlands möglich, außer dadurch, dass es tatkräftig seinen föderativen Beruf ergreift, der mit seinem Nationalberuf eins und dasselbe ist." Dem heutigen Bundesbürger Deutschlands mag es vielleicht schon sehr ungewöhnlich vorkommen, dass es für Frantz der Föderalismus war, der den Kern nationalen Stolzes ausmachen sollte. Dabei ist wahr: Der Föderalismus ist der vielleicht wesentlichste Beitrag Deutschlands zur Tradition des politischen Denken der westlichen Welt. Wer sich heute mit politisch Interessierten vor allem in der angelsächsischen Welt unterhält, hört oft die Behauptung, dass es eine raffinierte Erfindung der westlichen Alliierten gewesen sei, 1949 der jungen westdeutschen Demokratie föderale Zersplitterung vorzuschreiben, um so den traditionellen deutschen Staatszentralismus zu bändigen. Das stimmt natürlich nicht, denn nicht die föderale Struktur Deutschlands, sondern der 12jährige Zentralismus des nationalsozialistischen Regimes ist die Anomalie der deutschen Geschichte. Es hätte mit Sicherheit auch ohne alliierte Hilfe eine Rückkehr zur föderalistischen Normalität gegeben. Trotzdem scheint man in Deutschland den Föderalismus nicht so sehr mit glühendem Herzen zu lieben wie man es etwa in Ländern wie der Schweiz oder den USA tut. Das deutsche Unbehagen am Föderalismus reicht tief in das 19. Jahrhundert zurück. „Kleinstaaterei" — wie man die Vielfalt des deutschen staatlichen Lebens des alten Reiches und der nach-napoleonischen Biedermeierzeit gerne apostrophierte — war der Inbegriff des Rückständigen. Damit lag man wohl zu dieser Zeit nicht immer ganz falsch, an hätte sich aber dadurch nicht den Blick dafür versperren lassen sollen, dass Dezentralisierung auch einem modernen freiheitlichen Gemeinwesen gut tut, ja sogar als konsequente Fortsetzung des Prinzips der Gewaltenteilung gedacht werden kann. Dadurch blieb der Föderalismus Parole der Konservativen — zu denen der oben zitierte Constantin Frantz zählte — oder gar der kleingeistigsten Reaktionäre. Die Kräfte des Fortschritts — insbesondere die Liberalen — blieben Zentralisten.
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Ihnen war das Bismarckreich noch zu föderalistisch. Ihre erste Chance, eine eigene Verfassung zu schreiben, nämlich die von Weimar, nutzten sie, um den bisher zentralistischsten Staat auf deutschem Boden zu schaffen. Auch bei der Gründung der Bundesrepublik waren es meist Christkonservative, die eher zum Föderalismus neigten. Diese Abneigung vieler politischer Kräfte gegenüber dem Föderalismus ist bedauerlich, aber eben doch auf den ersten Blick ein wenig verständlich. Tatsächlich hat der Föderalismus durch seine Bindung an meist rückwärtsgewandte Kräfte in Deutschland nie das Potential ausleben können, das in ihm steckt. Dieses Potential gilt es zu wecken. Wenn also die Frage lautet „Brauchen wir einen neuen Föderalismus?", dann kann die Antwort nur „ja!" lauten. Dies beinhaltet auch die Absage an den Missbrauch des Föderalismus zum Zwecke rücksichtsloser Besitzstandswahrung zu Lasten der wirtschaftlichen Dynamik und der Bürgernähe der Politik. Ein neuer Föderalismus muss selbst der Motor für Fortschritt und Reformdynamik werden. Die Blockadepolitik der Sozialdemokraten unter Oskar Lafontaine gegen die dringend notwendige Steuerreform hat wohl vielen Menschen die Augen geöffnet, dass der heute real existierende Föderalismus in Deutschland dieser Motor des Fortschritts nicht ist. Wieder ist der Föderalismus als Instrument konservativer Erstarrung und kurzsichtiger Parteiinteressen Missbraucht worden. Der Unmut über den momentanen Reformstau alleine würde aber noch kein grundlegendes Umdenken erfordern. Man muss schließlich akzeptieren, dass in unserem System Opposition erlaubt ist — auch wenn einem diese Opposition im Einzelfall missfällt. Nein, das, was wir im Falle der Steuerreform erlebt haben, ist nur ein äußeres und augenscheinliches Symptom für ein tieferes Grundproblem. Dieses unter der Oberfläche schwelende Problem erklärt vielleicht, warum so viele Menschen keine tiefe Liebe zum Föderalismus empfinden. Man spürt unterschwellig, dass etwas nicht stimmt. Artikuliert hatten es bisher nur die Finanzwissenschafder in Expertenkreisen. Dort wurde schon seit langem das Durcheinander der Länderausgleiche und Mischfinanzierungen mit Argwohn beäugt, das unseren Staat inflexibel und schwerfällig machte. Der Wissenschaftliche Beirat des Bundesfinanzministerium warnte schon 1996 in seinem Gutachten zur Einnahmenverteilung zwischen Bund und Ländern vor der „Politikvermischung", welche die föderale Ordnung bedrohe, und forderte: „Die Verantwortungsbereiche von Bund und Ländern müssen entflochten werden." Das war richtig gedacht. Interessiert hat es aber anscheinend niemanden. Erst in letzter Zeit, in der eingetreten ist, wovor die Experten warnten, entdecken die Politik und auch Teile der öffentlichen Meinung das Thema. Es ist spät, aber hoffentlich nicht
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zu spät, noch etwas zu ändern. Ich jedenfalls glaube, dass das Thema „Föderalismus" dringend auf die Agenda gehört. Man sollte die Dinge dabei gleich beim Namen nennen. Unser heutiger Föderalismus in Deutschland ist kein richtiger Föderalismus! Er basiert nicht auf der konsequenten Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips, das in diesem Falle verlangte, dass möglichst viele Kompetenzen den Untergliederungen exklusiv zugewiesen werden müssten. Im Gegenteil: Er basiert auf einer fast vollständigen Abhängigkeit der Länder vom Bund und auf Mitbestimmungsrechten der Länder an allen möglichen Bundesangelegenheiten. Es ist daher ein verkappter Zentralismus, in dessen Institutionen sich besonders viele Sonderinteressen festgesetzt haben. Sonderinteressen, die sich in der Politik festgesetzt haben, fuhren immer zur Aufblähung des Staatsapparates. Sie sind der Tod einer jeden funktionierenden Marktwirtschaft. Das gilt auch in diesem Falle. Der Kunstgriff, vermittels dessen die schleichende Ersetzung der Marktwirtschaft durch die Staatswirtschaft betrieben wird, ist auch hier die Verschleierung der Umverteilungsströme durch eine gewollte Undurchsichtigkeit der zugrunde liegenden politischen Prozesse. Im heutigen deutschen Föderalismus funktioniert das so: Die Länder haben kaum eigene Steuerhoheiten. Folglich wird alles aus einem großen Topf beim Bund, der diese Steuerhoheiten hat, finanziert. Damit es nicht zu einfach wird, wird nicht nur von „oben" her durch einen vertikalen Finanzausgleich Geld in die Länder abgeführt, nein, es gibt auch noch den horizontalen Finanzausgleich zwischen den Ländern. Um dem ganzen noch ein wenig Würze zu verleihen, fügt man dann noch ein paar Mischfinanzierungen zwischen allen Ebenen von der Kommune bis zu Europa ein - und schon haben wir die totale Unübersichtlichkeit. Nicht einmal mehr die Experten durchschauen den Wirrwarr der Finanzströme, der so entsteht. In diesem System lässt sich gut auf Kosten anderer leben. Gottlob, so könnte man sagen, haben einige der Beteiligten dabei wohl den Bogen etwas überspannt, denn es mehren sich die protestierenden Stimmen derer, die langsam auch im Dickicht der undurchsichtigen Finanzströme bemerken, dass sie mehr einzahlen als sie herausbekommen. Wenn ein Land wie Bayern, so hat das Institut der deutschen Wirtschaft ausgerechnet, eine Million an Staatseinnahmen erwirtschaftet, dann verbleiben ihm nach Abzug aller Ländertransfers am Schluss noch 360.000 Mark im eigenen Staatssäckel. Man darf sich dann nicht wundern, dass manche Länderregierungen kaum noch eine Wirtschaftspolitik betreiben, sondern eher eine Misswirtschaftspolitik. Wie soll sich da noch lohnen, erfolgreich Betriebe anzusiedeln, veraltete Standortstrukturen zu ändern oder günstige Steuersätze zu ermöglichen? Selbst die Pflege der Steuerquellen, von der man doch sonst vermutet, dass sie im ureigensten Interesse der Länder-
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finanzminister liege, liegt brach. Wenn etwa im Saarland nur noch rund 50% der zustehenden Steuern überhaupt noch eingesammelt werden, dann kann so etwas nur deshalb geschehen, weil die Steuerzahler anderer Bundesländer die so entstehenden Haushaltslöcher gleich wieder stopfen. Auf diese Weise kann man sich im Ruhme eines Niedrigsteuerlandes sonnen, und gleichzeitig sich der Notwendigkeit entziehen, veraltete wirtschaftliche Strukturen zu verändern — was unter anderem auch noch den Erhalt einer ebenso veralteten, aber Macht erhaltenden Wählerstruktur mit sich bringt. Mit all diesen Dingen erzähle ich Ihnen natürlich nichts Neues. Es ist mir ja schon deshalb eine besondere Freude, vor der Arbeitsgemeinschaft Selbständiger Unternehmer zu sprechen, weil sie zu den wenigen Organisationen gehören, die schon lange diese Missstände anprangern. Oder, wie es schon 1995 in der überaus bemerkenswerten Studie „Demokratiereform" ihres Unternehmerinstituts zu finden war: „Ein Programm der föderalen Entflechtung wäre vorderhand nötig." Das ist gut gesagt. Ich denke mir, dass es das Ziel eines solchen Programms sein müsste, den kooperativen Föderalismus zu überwinden. So haben nämlich die Experten in beschönigender Weise jenen in Deutschland vorherrschenden Typ des Föderalismus genannt, in dem alle klaren politischen Verantwortlichkeiten abgeschafft sind und jede Teilgliederung in den Angelegenheiten der anderen mitregiert. Sich gegen diese Form des Föderalismus zu wenden, ist keineswegs so revolutionär wie es sich anhört. Die Väter des Grundgesetzes hatten 1949 durchaus ein System vor Augen, in dem die Verantwortungen klar getrennt sein sollten. Auf allen Ebenen sollten Entscheidungsbefugnisse und Entscheidungsverantwortung zusammengeführt werden. Obwohl die Väter des Grundgesetzes mit dem Wort von der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" schon selbst unabsichtlich den Hebel lieferten, mit dem der von ihnen eigentlich gewollte Föderalismus ausgehebelt wurde, wäre ihnen das heutige System sicher ein Greuel gewesen. In die Welt des Erhardschen Wirtschaftswunders und seiner Marktwirtschaft hätte es nicht gepasst. Tatsächlich wurde das Konzept des (in der Praxis schon vorher bestehenden) kooperativen Föderalismus in den USA in den 60er Jahren in der Theorie vertieft, um den politischen Rahmen für die wohlfahrtsstaatlichen Reformen der Johnson-Ära, dem „Great Society"-Programm, zu stellen. Es wurde also bewusst zur Ausdehnung der Staatstätigkeit entwickelt. Dass der kooperative Föderalismus diese Tendenz tatsächlich fördert, hat er seitdem in der Praxis bewiesen — auch bei uns, die wir uns in den Zeiten der großen Koalition und der sozialliberalen Koalition dieser Idee anschlössen. Die ganze Idee entstammt also einer Zeit, in der der staatliche Machbarkeitsglaube noch ein ungebrochenenes Selbstvertrauen zeigte. Dieser Glaube, der immer
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ein Aberglaube war, ist wohl mittlerweile den meisten halbwegs vernunftbegabten Menschen abhanden gekommen. Damit ist klar, dass ein politisches System, dass auf dieser Art von Scheinföderalismus basiert, ein großes strukturelles Problem hat, das wiederum die tiefere Ursache für die meisten anderen Probleme ist — von der drückenden Steuerlast bis zur unkontrollierbaren Staatsverschuldung. Damit ist auch klar, dass man dieses strukturelle Problem lösen muss, um alle anderen Probleme dauerhaft zu lösen und nicht nur an Symptomen herumzudoktern. Wie soll nun diese Lösung aussehen? Zur Beantwortung dieser Frage sind drei Punkte wichtig. Erstens: Es muss ein „Trennsystem" eingeführt werden, das jeder politischen Ebene exklusive Kompetenzen klar zuweist. Dies bedeutet, dass viele der im Grundgesetz aufgezählten „konkurrierenden Aufgaben" von Bund und Ländern zu klar zugeordneten Aufgaben werden müssen. Zweitens: Jeder Aufgabe, die eine Körperschaft eigenverantwortlich ausführt, muss auch eine klare Finanzierung dieser Aufgabe durch die jeweilige Körperschaft gegenüber stehen. Dies bedeutet mehr eigene Steuerhoheiten für die Länder. Drittens: Es muss der Grundsatz gelten, dass diese Kompetenzen der niedrigstmöglichen Ebene zugewiesen werden. Nur die nötigsten Aufgaben sollte der Bund noch erledigen. Die Aufgabenteilung von Bund und Ländern muss also klarer und subsidiärer werden. Durch Dezentralisierung und klare Kompetenzverteilung wird nämlich — das ist der Clou! — vor allem das Prinzip des Wettbewerbs in das Politische System eingeführt. Gute Politik wird belohnt werden. Der Druck, die Steuerlasten zu mindern und die Ausgaben besser zu kontrollieren, wird erhöht. Dem kooperativen Föderalismus muss also ein echter Wettbwerbsföderalismus gegenübergestellt werden. Dies würde mit einem gewissen Machtverlust des Bundesrates Hand in Hand gehen. Aber wäre dies so schlimm? Schon jetzt scheint bei vielen Ländern (vor allem bei jenen, die im gegenwärtigen System „Nettozahler" sind) eine gewisse Lust vorhanden zu sein, lieber echte Selbstbestimmung statt schaler Mitbestimmung zu versuchen. Im jetzigen System ist die destruktive „Blockierfunktion" des Bundesrates schon strukturell vorgegeben. Langfristig lähmt dies die Reformfähigkeit unseres Landes, während die eigentliche Aufgabe der Eingrenzung von bundesstaatlicher Macht unerledigt bleibt. Schwächung des Bundesrates und Stärkung der Bundesländer, so lautet das Gebot der Stunde. Die aus der Zentralisierung und der Vermischung von Kompetenzen entstehenden scheinbaren Vorteile für die Länder sind in Wirklichkeit langfristige Nachteile. Wie üblich sind Vorteile, die durch politische Transfers gewonnen werden, ein schleichendes Gift, das abhängig macht, aber die Krankheit nicht heilt.
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Diese Transfers haben ihr Ziel — die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" — nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie haben zur Konservierung der Strukturschwächen geführt, die der eigentliche Grund für die Wohlstandsunterschiede sind. Sie nehmen den Reformdruck, der sonst auf den Ländern lasten würde. Ich habe bisher im Wesentlichen von der föderalen Finanzverfassung gesprochen. Das Konzept des Wettbewerbsföderalismus greift natürlich weit darüber hinaus. Die Diskussion darüber, welche Kompetenzen exklusiv „nach unten" verlagert sollten, darf keine Tabus kennen. Über die Bildungspolitik könnte man nachdenken. Brauchen wir etwa wirklich eine Hochschulrahmengesetzgebung des Bundes? Aber auch die besonders verteilungsintensiven Bereiche müssten eingeschlossen werden, vor allem die Sozialpolitik. Ein Blick in die USA genügt. Dort erweisen sich die Einzelstaaten, die in den letzten Jahren wieder einige Kompetenzen zurückerobern haben konnten, als Werkstätten für kreative und marktkonformere Sozialprogramme erwiesen, die sich dann durch Nachahmung in einem politischen Lernprozess verbreiten. Die Ersetzung der Sozialhilfe durch Programme zur Wiedereingliederung Bedürftiger in das Arbeitsleben, wie sie im Bundesstaat Wisconsin vorgenommen wurde, ist ein Beispiel. Hier ist nicht nur kaltes ökonomisches Denken am Werke. Es hat auch etwas mit Bürgernähe zu tun. Jeder Bürger hat ja bekanntlich „zwei Herzen in seiner Brust" — ein Herz als Steuerzahler und ein Herz als Empfänger staatlicher Wohltaten. Vom „tax payer" und „tax eater" sprechen die Amerikaner. Je weiter entfernter der Staat, desto eher glaubt der Bürger, dass es eine anonyme „Gesellschaft" ist, die da gute Gaben gibt, und nicht etwa konkrete Mitbürger, denen in die Tasche gegriffen wird. Der „tax eater" in der Brust gewinnt Uberhand. Je näher die Gemeinschaft ist, desto mehr werden die Transfer auch von deren Ethos oder Gemeinsinn definiert und begrenzt. Dieses spräche vielleicht sogar für eine Kommunalisierung wesentlicher Transfersysteme. In jedem Fall wäre ein solcher Föderalismus auch identitätsstiftend und könnte so zur Stabilisierung der freiheitlichen Ordnung beitragen. Nur kurz erwähnen möchte ich, dass dieser Effekt auch durch andere konstitutionelle Rahmenbedingungen verstärken ließe. Plebiszitäre Elemente — etwa nach dem Muster der Schweiz — würden mit dem von mir dargestellten bürgernahen Modell des „Wettbewerbsföderalismus" durchaus in harmonischem Einklang stehen. Damit kommt man automatisch zu einer Frage, die in der bisherigen Reformdiskussion um den Föderalismus leider zu sehr an Gewicht gewonnen hat, weil sie das eigentliche Problem nicht adressiert. Ich meine die Frage der Neuordnung der Bundesländer. Oder, da ich hier ja in Bremen spreche: „Haben die kleinen Bundesländer überhaupt noch eine Existenzberechtigung?"
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Aus dem ebengesagten müssen Sie natürlich zu Recht schließen, dass ich an diese Existenzberechtigung glaube, weil sie subsidiärer gedacht, lokale Identitäten berücksichtigend und konsequenten politischen Wettbewerb fördernd ist. Der Wunsch, möglichst wenige und große Bundesländer zu haben, macht nur innerhalb der Logik des kooperativen Föderalismus Sinn. Uberspitzt formuliert wäre es gemäß dieser Logik am sinnvollsten, wenn wir nur noch zwei Bundesländer — vielleicht einen Südund einen Nordstaat — hätten, deren beide Ministerpräsidentenämter in Personalunion vom Bundeskanzler übernommen werden. Hier sieht man die im Grunde sehr zentralistische Konsequenz des kooperativen Föderalismus. Ich weiß nicht, was die optimale Größe eines Bundeslandes sein müsste, wenn man einen optimal funktionierenden Wettbewerbsföderalismus bekommen will. Der gesunde Menschenverstand legt aber nahe, dass hier eher kleinere Einheiten sinnvoll wären. Das Argument, dass größere Einheiten per se rationeller arbeiteten, ist wohl auch nur ein Relikt der staatsgläubigen 70er Jahre, die sich ja auch meist durch bürgerferne Kommunalgebietsreformen auszeichneten. Das einzige Argument, das hier zunächst plausible Gründe zu liefern scheint, sind die vermeintlich höheren Pro-Kopf-Personalausgaben der öffentlichen Verwaltung, die es in kleineren Ländern geben soll. Dieses Argument löst sich allerdings auf, wenn man nicht nur die Landesbürokratien, sondern auch die Kommunalbürokratien in die Messung einbezieht. Die kleineren Länder — insbesondere die Stadtstaaten — weisen verständlicherweise einen wesentlich geringeren Grad an Kommunalisierung auf. Zählt man also die Pro-Kopf-Personalkosten auf Landes und Kommunalebene zusammen, so ergibt sich kein nennenswerter Kostenvorteil der großen Länder bei der Belastung der Bürger. Aber dies ist ja innerhalb eines Systems des Wettbewerbsföderalismus auch eine zweitrangige Frage, denn gerade der Wettbewerb zwischen kleinen politischen Einheiten erhöht ja den Druck, die Kosten zu senken. Was das Ergebnis im Einzelnen sein wird, welches Land wie spart, kann dabei nicht von vornherein gesagt werden. Wichtig ist, dass der Rahmen des Wettbewerbsföderalismus einen offenen Lernprozess in die Wege leitet und richtige Anreize für die Politik setzt. Wenn heute — neben dem Sonderfall der neuen Bundesländer — vor allem die kleinen Länder zu den „Problemkindern" des deutschen Föderalismus gehören, dann wohl nur, weil sich hier besonders konzentriert veraltete industrielle Monokulturen von den Werften bis zum Bergbau ausmachen lassen, die dann durch Bundes Subventionen zu konservierten Strukturhemmnissen werden, und die dann wiederum im kleinen Gebiet besonders große Abhängigkeiten in der Wirtschaft schaffen. Ich sage nicht, dass ein echter Wettbewerbsföderalismus hier schmerzfrei sofort alle Probleme löst. Er ermöglicht aber gerade kleinen Ländern durch höheren Anpas-
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sungsdruck eine bessere Chance zur Umkehr als größeren Ländern. Soviel zum Thema „Neugliederung" und „kleine Länder". Im Zusammenhang mit diesem Thema hört man oft den Einwand, dass der Wettbewerbsföderalismus den schwachen Ländern schade, die deshalb durch die wohlige Solidarität der reichen Länder gestützt werden müssten. Zunächst einmal: Ich glaube nicht, dass irgendein Land, wenn es auf sich selbst gestellt ist, gleich in den Abgrund sinken wird. In keinem Land gibt es nur wirtschaftliche Nachteile. Der politische Wettbewerb wird eher dabei helfen, die eigentlichen komparativen Vorteile zu finden und zu nutzen. Umgekehrt werden durch Fehlsubventionierung meist eher nachteilige Strukturen gestützt und zwar zu Lasten der vorteilhaften. Es gibt kaum ein Anzeichen dafür, dass die Ländertransfers bisher wirklich Strukturprobleme gelöst hätten. Es gilt eher: Das gegenwärtige Spiel schadet langfristig allen Beteiligten — nicht nur den augenblicklichen Nettozahlem unter den Ländern. Es muss daher ein wesentliches Anliegen aller Föderalismusreform sein, nicht nur den Interessen bestimmter wirtschaftsstärkerer Länder zu dienen, die sich zur Zeit lauthals zu Wort melden. Dies würde nur zu einem kleinlichen Feilschen um Prozentpunkte bei den Verhandlungen zum Finanzausgleich führen, nicht aber das tiefere Problem lösen, das in der prinzipiellen Frage besteht, ob die Länder durch Finanzausgleiche oder durch eigene Steuerhoheit zu Geld kommen sollen. Auch würde es zu einer Diskussion führen, in der jeder Beteiligte Lasten abwälzen, aber nicht Verantwortung übernehmen wollte. Ich denke, dass das dem Wettbewerbsföderalismus zugrunde liegende moralische Prinzip überaus einsichtig und allgemein anerkennbaren Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht: Entscheidungsbefugnis und Entscheidungsverantwortung müssen auf allen Ebenen wieder zusammengeführt werden. Damit stehen klar definierten Rechten auch wieder klar definierte Pflichten gegenüber. Die Betonung dieser ethischen Komponente scheint mir doch einmal erwähnenswert, weil viele der Dauerempfänger gerade diese mit dem Totschlageargument hervortreten werden, dass hier die „Solidarität" zwischen den Ebenen unterminiert werde. Zur „Solidarität" gehört jedoch auch, dass man selbst zunächst einmal alles daran setzt, nicht von der „Solidarität" anderer leben zu müssen. Unser gegenwärtiger Föderalismus setzt hier in diesem Sinne ganz klar die falschen Signale. Wer nicht auf Kosten anderer lebt, war irgendwie nicht schlau genug, so lautet wohl eher die aktuelle Anreizlage. Dies soll nicht wirkliche und ohne Eigenverschulden zustande gekommene Notlagen leugnen. Die neuen Bundesländer bedürfen sicher noch längere Zeit der Unterstützung — selbst wenn dies mit dem Risiko einhergeht, dass auch hier damit verkrustete
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Strukturen erhalten werden. Hier müsste man sich wohl ein intelligenteres Management der Umverteilungsströme einfallen lassen als wir es bisher praktizierten. Man müsste über Befristungen nachdenken. Auch sollte man es die subventionsempfangenden Politiker durch Sanktionen spüren lassen, dass man von ihnen gewisse Anstrengungen erwartet. Es darf keine generelle Verpflichtung zur Sanierung der Folgen der Misswirtschaft der Länder durch den Bund geben. Der Vorschlag der ASU, eine „Kommissariatslösung, wie sie auf kommunaler Ebene schon seit langem Brauch ist", einzuführen, hat einiges für sich. Vor allem muss sich die Unterstützung sich auch tatsächlich auf wirkliche und ohne Eigenverschuldung zustande gekommene Notlagen beschränken. Alles andere wäre nicht nur wirtschafts- und finanzpolitisch unvernünftig, sondern auch moralisch in hohem Maße fragwürdig. Dass wir diese Fragwürdigkeit haben so lange durchgehen lassen, stimmt bedenklich. Sie sehen, dass die Erneuerung des Föderalismus eine faszinierende Perspektive sein kann. Sie lädt jedenfalls zu größerem Optimismus ein als die Perspektive, den heutigen Scheinföderalismus unverändert weiter zu behalten. Dieser Scheinföderalismus ist schon seit längerer Zeit dabei sich selbst aufzugeben, um zum schamlosen Zentralismus zu mutieren. Wie soll solch eine Selbstaufgabe inspirieren? Vergessen wir nicht: Dieser Scheinföderalismus setzt für die Länder automatisch Anreize für das Abtreten von Kompetenzen zu Gunsten scheinbarer Umverteilungsgewinne gesetzt. In der Tat haben die Länder deshalb im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte auch noch massiv Rechte und Kompetenzen an den Bund abgegeben. Das Widersinnige daran ist, dass sie dies in zahlreichen Finanzreformen und Verfassungsänderungen freiwillig taten. Sie haben es sich allerdings sehr teuer bezahlen lassen, zu Lasten des Bundes. Die Folge ist nicht nur ein unaufhaltsamer Drang zur Zentralisierung. So etwas kann man getrost Korrumpierung des politischen Systems nennen. Ich glaube, es würde alleine das oft so zwiespältige Verhältnis vieler Deutscher zum Föderalismus schon verbessern, wenn diese Korrumpierung beendet würde. Wenn dabei auch noch der gegenwärtige Reformstau grundlegend behoben wird, wäre dies wohl noch ein mehr als willkommener Nebeneffekt. Solche weit reichenden Vorstellungen über Föderalismusreform, so wird mancher einwenden, seien angesichts der bestehenden Verhältnisse wohl völlig realitätsfern und zum Scheitern verurteilt. So etwas hat man Vorjahren auch noch über Ideen wie die Privatisierung des Telekommunikationssektors gesagt. Die Verhältnisse können sich auch ändern. Wahrscheinlich müssen sie sich sogar unweigerlich ändern, denn der Druck der fortschreitenden Globalisierung der Wirtschaft wird einen schlankeren Staat erzwingen — einen schlankeren Staat, der auch eine vernünftigere, markt-
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wirtschaftliche Politik betreibt. Ich kann mir einen solchen Staat nur als einen konsequent föderalistischen Staat vorstellen. Vielleicht wird Constantin Frantz doch noch Recht behalten, als er vor fast 120 Jahren meinte, dass Deutschland nur gedeihen könne, wenn „es tatkräftig seinen föderativen Beruf ergreift".
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Subsidiarität ernst genommen! Liberale Prinzipien einer europäischen Verfassungsordnung Vortrag bei der Abendveranstaltung der Friedrich-NaumannStiftung, Brüssel, 7. Juli 1998 Wer wie ich die Entstehung der Europäischen Union von ihren frühesten Anfangen an beobachtet hat, wird zweierlei feststellen können. Erstens: Die Europäische Einigung ist ein so selbstverständlicher Teil unser aller Leben geworden, dass vor allem junge Menschen das Wort „Europäer" fast schon als so etwas wie die alltägliche Beschreibung ihrer normalen Staatszugehörigkeit empfinden. Zweitens: Der Enthusiasmus für Europa ist hingegen bei weiten Teilen der Bevölkerung geschwunden. Das ist nur scheinbar ein Paradoxon. Nur weil etwas selbstverständlich geworden ist, muss es noch nicht begeistern. Es dürfte heute schwierig werden, Gruppen von idealistischen Studenten zu finden wie jene in den 50er Jahren, die scharenweise (sich mutig über polizeirechtliche Bedenken hinwegsetzend) die Schlagbäume zwischen den europäischen Grenzen einrissen. Und dies nicht nur, weil es inzwischen gottlob keine Schlagbäume zum Einreißen mehr gibt! „Europa", das steht für die meisten Menschen heute für Bürgerferne und Bürokratismus. Wir dürfen uns da keinen Illusionen hingeben. Das Wissen der Bürger über die politischen Entscheidungsabläufe in Brüssel ist minimal. Alles wird als „fern" und „anonym" empfunden. Jede andere Regierungsebene lädt mehr zur Identifikation ein als diese. Dies muss umso mehr traurig stimmen, als es nicht nur der Größe der Idee, die hinter der europäischen Einigung steckt, unangemessen ist, sondern vor allem, weil hinter diesem Missmut der Menschen auch ein reales Problem steckt. Das reale Problem liegt in der Übertragung politischer Aufgaben von unteren (bürgernäheren) Regierungsebenen auf die höchstmögliche (im echten, physischen Sinne bürgerfernsten) Ebene. Nun ist nicht jede Kompetenzübertragung auf die europäische Ebene per se schlecht. Indes ist der Umfang und der Mangel an kohärenter und einsichtiger Begründung, mit der sich dieser Prozess in den letzten Jahren vollzog, durchaus ein Grund zur Besorgnis. Das Wort „Zentralismus" kommt einem hier mit gutem Grund sofort in den Sinn. Wo dieses Wort fällt, da sollten bei Menschen, die sich einem liberalen Politikideal verschrieben haben, innerlich die Alarmglocken läuten.
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In jeder Demokratie westlichen Zuschnitts besteht ein unauflösbares Spannungsfeld zwischen dem liberalen Grundrechtsgedanken, der die Autonomie des Individuums in den Mittelpunkt stellt, und dem demokratischen Mehrheitsprinzip, das kollektive Präferenzen widerspiegelt. Sicherlich hat die Demokratie bewiesen, dass sie bei der Aufgabe, liberale Rechte zu schützen, immer noch die beste Verfassungsform ist. Aber auch sie ist nicht unfehlbar, vor allem, wenn es um den schleichenden Abbau von kleinen „Freiheiten" geht. In kleinen Gemeinschaften können kollektive Entscheidung und Privatautonomie vielleicht noch durch die Gemeinsamkeit einer traditionell gewachsenen Wertehierarchie einigermaßen in Gleichklang gebracht werden, so dass dabei der Bevormundungskoeffiezient relativ gering gehalten werden kann. Die Kantone in der Schweiz sind ein Beispiel dafür. Ein großer Zentralstaat neigt schon mehr dazu, sich über lokale Präferenzunterschiede hinwegzusetzen, um großräumige Verplanung in den Mittelpunkt zu stellen. Ein aus vielen Körperschaften oder Teilstaaten zusammengesetztes großterritoriales Gemeinwesen — und hier sind wir schon bei Europa — kann dieses Problem noch verschärfen. Auf der einen Seite bietet es die Chance, dass der Wettbewerb zwischen den einzelnen Teilstaaten insgesamt zu einem liberaleren, effizienteren und präferenznäheren Regierungssystem führt, das persönliche und wirtschaftliche Freiheit sichert. Auf der anderen Seite kann auch ein Wettbewerb aller Teilgliederungen entstehen, in dem jede von ihnen versucht, sich der Umverteilungsmacht des zentralen Apparats zu bedienen, und zwar zu Lasten der anderen. Dies würde zu einem illiberalen, ineffizienten und präferenzfernen Regierungssystem führen, das durch Aufblähung des bürokratischen Apparats und allgemeine Regelwut persönliche und wirtschaftliche Freiheit immer mehr einengt. In einem solchen System treten dann die Teilgliederungen zumeist selbst massiv Kompetenzen nach oben ab, um mehr Umverteilungsgewinne und Partizipationsrechte zu erlangen. Der Zentralismus gewinnt so Eigendynamik. Sie wissen vielleicht, dass ich in Deutschland einer der Kritiker des dort bestehenden Föderalismus bin, in dem eine Vermischung von Kompetenzen zwischen den Ebenen zu eben diesem Phänomen geführt hat. Dass es auch in Europa mittlerweile eine Eigendynamik der Zentralisierung gibt, lässt sich wohl kaum bestreiten. Ich möchte mich nicht mit Einzelbeispielen aufhalten, obwohl mir Kommentare zum Tabakwerbeverbot, für das — unabhängig, was man vom Rauchen hält — keinerlei Notwendigkeit einer Regelung auf europäischer Ebene vorliegt, kaum verkneifen kann. Vielmehr möchte ich die Mechanismen im politisch-institutionellen System Europas beschreiben, die Anreize zur Zentralisierung setzen.
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Erstens: Jede übergeordnete Ebene strebt per se an, Kompetenzen an sich zu ziehen. Sie verfügt auch fast immer über Mittel, den darunter liegenden Körperschaften das Abtreten von Kompetenzen zu versüßen. Das gilt natürlich auch für die EU. So ist es, wie wir wissen, etwa für einen deutschen Finanzminister leichter, eine Mehrwertsteuererhöhung über einen Harmonisierungsbeschluss in Brüssel durchsetzen als gegen die Bundesratsmehrheit im eigenen Lande. So werden zugleich Zentralisierung und Hochsteuerpolitik vorangetrieben. Zweitens: Es gibt Kuhhandel zwischen den Ebenen. Nicht selten stimmen etwa finanzschwächere Länder einer größeren Maßnahme der EU erst zu, wenn für sie die Mittel in den entsprechenden Kohäsionsfonds aufgestockt werden. Auch dies trägt insgesamt zur Ausbreitung zentralistischer Politik bei. Drittens: Dezentrale Gemeinwesen befördern normalerweise den Wettbewerb zwischen den Ebenen, was eigentlich zu einer liberalen Politik der niedrigen Steuern und effizienten Verwaltung führen sollte. Wenn man nicht entsprechende Sicherungen einbaut, können aber auch Anreize gesetzt werden, dass die Politiker der Mitgliedsstaaten ein Kartell zur Verhinderung dieses für sie doch recht unbequemen Wettbewerbs bilden. Auch hierfür liefert die EU Beispiele. Wenn etwa eine unglückliche Besteuerungspolitik in Deutschland die Sparer ihr Kapital nach Luxemburg tragen lässt, dann könnte dies ein phantastisches Korrektiv nationaler Unzulänglichkeiten durch ein wahrhaft freizügiges Europa sein. Es ist aber klar, dass dies nationale Finanzminister stets mit neuen „Harmonisierungen" im Steuerrecht beantworten möchten — und auch vermehrt tun. Viertens: Die Kompetenzgrenzen der EU-Gremien — insbesondere des Ministerrats - sind unzureichend definiert. Sie können fast jeden Politikbereich in Angriff nehmen. Es besteht nicht einmal eine so klare Aufgabenbindung und Verantwortlichkeit wie bei nationalen Regierungen, die immerhin verantwortliche Minister kennen. Es konnten deshalb in Sachen Zuständigkeit der EU viele „Pflöcke" eingehauen werden. Das Problem ist, dass eine erst einmal erworbene Zuständigkeit — auch wenn sie sich im Sinne des Subsidiaritätsprinzips als unhaltbar erweist (wie das oben genannte Beispiel der Tabakwerbung) — nur schlecht wieder auf untere Ebenen zurückverweisbar ist. Es werden sich immer Interessengruppen bilden, die dies verhindern wollen. Das Problem der EU ist, dass die Übertragungen nach „oben" meist ad hoc erfolgten, und nicht nach einem ordnungspolitisch sinnvoll entworfenen Schema. Dies macht die Einführung eines solchen Schemas im Nachhinein schwierig. Fünftens: Was in den Maastrichter Verträgen als „Subsidiarität" festgeschrieben ist, bleibt noch viel zu Undefiniert. „Subsidiarität" wird hier nur als allgemeine Handlungsmaxime verstanden, die sichern soll, dass die EU nur tätig wird „sofern und
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soweit die Ziele der in Betracht ge2ogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfangs oder Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können." Es wird keine feste Kompetenzverteilung vorgenommen. Außerdem ist die Formulierung vage; sie lässt Spielraum für Interpretationen im Einzelfall offen. Schlimmer noch: Die Interpretationshoheit darüber, was denn nun in Zukunft Sache der EU sei, wird ausschließlich EU-Gremien überlassen. Angesichts der Vagheit der Definition und der natürlichen Interessenlagen kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Erwähnung des Subsidiaritätsprinzips in den Maastrichter Verträgen vorerst noch ein bloßes Lippenbekenntnis ist. Daran hat auch der Vertrag von Amsterdam nicht viel geändert, der lediglich der EU-Kommission eine detaillierte Begründungspflicht abverlangt, warum die „unteren" Ebenen im konkreten Falle nicht zuständig sein sollen. Sechstens: Die „Generalermächtigung" gemäß Art. 235 der Maastrichter Verträge verschärft das Problem noch, weil dadurch die Begrenzung der Befugnisse der EU, die im Maastrichter Vertragswerk rudimentär enthalten ist, durch Beschluss des Europäischen Rates auf Vorschlag der Kommission und mit Zustimmung des Europäischen Parlamentes im konkreten Fall jederzeit unterlaufen werden kann. Keine der genannten Instanzen hat ein Interesse an Dezentralisierung von Kompetenzen. Siebtens: Da es keinen wirklich stabilen Verfassungsrahmen für die EU gibt, ist ein Anreiz dafür gegeben, eine dauerhafte Selbstlegitimierung durch permanenten und kurzatmigen Aktivismus zu schaffen. „Ein Fahrrad kann nur stehen, wenn es fährt", hört man oft in EU-Kreisen. Daher hört man auch ständig bei jeder Gelegenheit, dass eine „Vertiefung" der Einigung bei jeder sich bietenden Gelegenheit erfolgen müsse. Ich habe lange nachgedacht, was das wohl bedeutet — „Vertiefung". Es ist offenbar nicht mit der Forderung nach grundsätzlichen Ordnungsüberlegungen identisch. Vielmehr scheint es ein sehr opportunistisch nutzbares Wort für diejenigen zu sein, die bei jeder Frage, bei der es um eine Zuständigkeitszuweisung geht, die EU bevorzugen. Man kann sich eigentlich gar nicht vorstellen, dass in irgendeinem Bereich „Vertiefung" auch die Rückgabe von Aufgaben an untere Ebenen bedeutet. Er ist nichts anderes als ein permanentes Zentralisierungsgebot. Es darf nicht zum allgemeinen und unhinterfragbaren Kultbegriff hochstilisiert werden. Das Erschreckende bei dieser Aufzählung ist, dass hier in hohem Maße Einbahnstraßen gelegt wurden. Echte Kompetenzverlagerungen nach unten sind kaum noch möglich. Wo sie rechtlich möglich sind, da werden Anreize gesetzt, die sie letztlich doch verhindern. Das kann und darf nicht als ein Plädoyer für die bedingungslose Wiederherstellung des Nationalstaates missverstanden werden. Der Zauber, der von der Idee der Europäi-
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sehen Vereinigung ausgeht, basiert ja geradezu darauf, dass dadurch das grauenvolle Erbe, das uns der Nationalstaat in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts hinterlassen hat, überwunden werden sollte. Umso mehr sollte man jene Zentralisierungstendenzen in der EU ernst nehmen, die darauf hinauslaufen könnten, dass langfristig die gleichen Fehler nur auf höherer Ebene wiederholt werden. Was gebraucht wird, ist nicht die Wiederherstellung des Nationalstaats der Vorkriegszeit, sondern eine politische Ordnung Europas, die den liberalen Verfassungsgedanken konsequent aufnimmt und auf die neuen — nicht nationalstaatlichen — Gegebenheiten hin reformuliert. Wir müssen aus der Geschichte lernen, um so noch stärkere institutionelle Bollwerke für ein friedliches und freiheitliches Gemeinwesen zu errichten. Kern dieser neuen Verfassungsordnung für Europa muss dabei der Begriff der Subsidiarität sein. Er muss ernster genommen werden als dies bisher der Fall war. Subsidiarität soll den Vorrang der niedrigstmöglichen Ebene vor der höheren festlegen. Es sollte hier festgehalten werden, dass es sich hier nicht um eine reine Staatstheorie handelt. Es ist eine ausgesprochen anti-etatistische Denkweise, die dahinter steckt. Zu allererst soll Subsidiarität einmal entstaatlichen, d. h. das Private hat Vorrang vor allem Politischen. Das sei nur gesagt, weil ich mich im Folgenden mehr mit dem Aspekt der Subsidiarität befasse, der den staatlichen Aufbau zum Inhalt hat. Natürlich sollte jede gesetzliche Ordnung der EU — und die jeder anderen Ebene — am besten durch ein generelles Privatisierungsgebot zur Entpolitisierung unserer Gesellschaft gebracht werden. Es muss auch berücksichtigt werden, dass eine verfassungsmäßig solide durchdachte Verankerung des Subsidiaritätsprinzip in den zusammenwirkenden politischen Institutionen auch etwas dazu beitragen kann, der jedem staatlichen Betrieb innewohnenden Neigung, Privatinitiative durch Kollektivierung abzuwürgen, einen Riegel vorzuschieben. Was einem hierzu als erstes einfallt, ist sicher die klare Aufteilung von Kompetenzen und Befugnissen zwischen den Ebenen. Der Vertrag von Amsterdam hat sich dazu erfreulicherweise bekannt. Das ist auch ganz in meinem Sinne. Wo immer es geht, sollten Kompetenzen so klar wie möglich aufgeteilt und Überlappungen und Vermischungen vermieden werden. Derartiges empfehle ich ja auch bei der Föderalismusdiskussion in Deutschland, wo man sieht, wohin undurchsichtige Kompetenzvermischungen fuhren können. Einer der Negativeffekte, die ich nur erwähnen möchte, ist die für den demokratischen Gehalt des Gemeinwesens schädliche Tatsache, dass der Wähler nicht mehr klar Verantwortungen zuordnen kann. Die Frage ist, wo dies in der EU klar möglich ist. Die Außenhandelskompetenzen der Gemeinschaft sind klar. Die zur Wahrung des Binnenmarktes notwendige Wettbewerbspolitik, die von der Kommission betrieben wird, ist erfreulich. Gut ist aber auch hier, dass in letzter Zeit eine Rückführung von
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Kompetenzen an die Kartellämter der Mitgliedsstaaten zu bemerken ist, wo die nationalen Märkte betroffen sind. Ein anderer Bereich, für den die EU Kompetenzen erhalten sollte, wäre die Wahrung der Menschenrechte. Bei fast allen anderen Bereichen wird es schwieriger. Beim Umweltschutz müsste eine klare Definition erfolgen, damit nur die Bereiche, die globale Probleme (etwa CCh-Emissionen) oder Umweltschädigungen betreffen, die ein Land zu Lasten anderer begeht, vergemeinschaftet werden können, wobei im letzteren Fällen Optionen für bilaterale oder interregionale Arrangements Vorrang haben müssen. Die Außen- und Sicherheitspolitik würde sich als exklusive Gemeinschaftsaufgabe eignen, doch auch hier müssten zumindest bei der Frage von Militäreinsätzen abweichende Lösungen der Mitgliedsländer möglich sein. Bei der Frage, was denn nun ausschließlich den untergeordneten Ebenen (nicht nur den Mitgliedsländern, sondern auch den Regionen) zugesprochen werden sollte, kommen mir die Agrar-, Sozial-, Arbeitsmarkt-, Bildungs- und Steuerpolitik in den Sinn. Hier handelt es sich ja meist um verteilungsintensive Bereiche, bei denen ein Wettbewerb zwischen den Ländern besonders nötig ist, um ein unkontrollierbares Wachsen der Staatsquote zu verhindern. Aber auch hier ist zumindest ein gewisses Maß an gemeinschaftlich produzierten Anerkennungsprozeduren nötig. Außerdem ist es fraglich, ob eine echte Dezentralisierung hier noch möglich ist, da sich schon sehr viele einflussreiche Interessengruppen an die europäischen Fleischtröge gewöhnt haben. Es ist klar, dass jeder, der ernsthaft Subsidiarität verwirklichen will, hart zu kämpfen hat. Man kann es drehen und wenden wie man will. So sehr eine klare Aufgabenteilung nötig ist, so sehr muss man realistisch genug bleiben, dass es auch weiterhin Überlappungen und konkurrierende Gesetzgebungen geben wird. Diese sind der natürliche Todfeind der Subsidiarität. Also sollte man sich schon ein wenig mehr ausdenken, um Bürgerferne und Zentralismus entgegenzuwirken. Das Patentmittel, dass die meisten Politiker in dieser Frage bereithalten, lautet: Beseitigung des „Demokratiedefizits". Oder in anderen Worten: Stärkung des Europaparlaments. Der Vertrag von Amsterdam hat erste Schritte zu dessen Kompetenzausweitung vorgenommen. Der Trend in diese Richtung scheint mir gleichermaßen unaufhaltsam wie wünschenswert. Demokratie ist immer noch besser als Bürokratenherrschaft. Sie steht aber zum liberalen Ideal persönlicher Freiheit durchaus in einem Spannungsverhältnis. Die großen Denker des Liberalismus — etwa Alexis de Tocqueville und John Stuart Mill — haben immer wieder vor der möglichen „Tyrannei" der Mehrheitsherrschaft gewarnt. Sicher, eine Beseitigung des „Demokratiedefizits" durch Stärkung des Europaparlaments wird vielleicht dazu beitragen, den Gemein-
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schaftsgedanken, d.h. eine europäische „Identität", voranzutreiben und so die Friedensordnung in Westeuropa stärken. Dennoch bleibt festzuhalten: Die Beseitigung des „Demokratiedefizits" bewirkt vor allem nur eines: die Beseitigung des „Demokratiedefizits". Das mag ein erstrebenswerter Selbstzweck sein. Was aber dadurch zunächst einmal definitiv nicht bewirkt wird, ist die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips. Im Gegenteil: Demokratische Institutionen haben sich in der gesamten Menschheitsgeschichte immer wieder als der wirksamste Motor der Zentralisierung erwiesen. Dass dies in der EU anders sein wird, ist angesichts der dann bestehenden Anreiz- und Interessenlagen nicht zu erwarten. Das Europaparlament ist kein intergouvernmentaler Entscheidungsträger mehr. Das muss man sich vor Augen halten. Vielleicht hat der undemokratische Charakter der bisherigen Lösung, die den an das Einstimmigkeitsgebot gebundenen Ministerrat als „Souverän" vorsah, sogar noch das Schlimmste verhindert. Ein souveränes und gestärktes Europaparlament wäre zunächst einmal von der mühsamen Suche nach Übereinstimmung zwischen den Mitgliedstaaten weitgehend befreit. Es könnte — vom Eigeninteresse geleitet, Kompetenzen an sich zu ziehen — viele Zentralisierungsprozesse wesentlich ungehemmter vorantreiben als es der Ministerrat konnte, der in dieser Hinsicht ja auch schon nicht immer zimperlich war. Mehr noch: auf der machtpsychologischen Ebene konnten bisher Mitgliedsländer und -regionen immer noch ihren Widerstand gegen zentralisierende Maßnahmen dadurch als legitimiert sehen, dass sie demokratisch legitimiert waren und gegen bloße exekutive Machtstrukturen kämpften. Eine vollständig im Stile bisheriger nationalstaatlicher Parlamentsdemokratien demokratisierte EU würde die Demokratien der Mitgliedsländer und -regionen hingegen legitim und mit gutem Grund als völlig „untergeordnet" sehen. Ist damit das Projekt der Demokratisierung der EU zu verwerfen? Nein, ich denke, dass dies nun doch nicht der richtige Weg wäre. Zunächst einmal kann man einige der Gefahrenherde durch institutionelle Beschlüsse eindämmen. Man sollte auch einem erstarkenden Europaparlament keine eigenen Steuererhebungsrechte zuweisen — mit Ausnahme von Einnahmen durch Zölle. Letzteres ist für einen überzeugten Freihändler wie mich schon ein großes Zugeständnis. Bestimmte Bereiche der Politik könnten dem politischen Kuhhandel sowohl des Ministerrates als auch des Parlamentes entzogen werden. Die Wettbewerbspolitik — eine der Kernaufgaben der EU — könnte einem unabhängigen Gremium nach dem Modell „Bundesbank" übertragen werden. Dies wären zweifellos Einschränkungen demokratischer Macht. Bevor man mich als undemokratisch bezeichnet, möchte ich allerdings darauf hinweisen, dass eine Demokratie im liberalen Sinne immer eine beschränkte Demokratie ist. Sie ist primär ein demokrati-
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scher Rechts- und Verfassungsstaat. Am besten ist es dabei allerdings, wenn man die natürlichen Defizite der Demokratie mit „mehr Demokratie" lösen kann. Ich denke, wir sollten davon wegkommen, die Debatte um die Beseitigung des „Demokratiedefizits" der EU nur auf die Kompetenzausweitung des Europaparlaments zu beschränken. Wir brauchen nicht nur Demokratisierung am Haupte, sondern Demokratisierung am ganzen Körper. Wer Subsidiarität will, muss auch eine subsidiäre Demokratie wollen. Es lohnt sich hier, die Geschichte der Verfassungsdiskussion der USA zu studieren. Ich glaube nicht, dass die sehr nationalstaatlich organisierten USA der heutigen Zeit ein Modell sind, das man einfach kopieren sollte. Die meisten Amerikaner finden ihr politisches System übrigens heute schon zu zentralistisch. Man sollte lieber in die Zeit zurückschauen, in der die USA dort standen, wo wir heute stehen, nämlich am Beginn einer Verfassungsdiskussion. Die Väter der amerikanischen Verfassung haben 1787 sicher ein großes Werk vollbracht. Einige Probleme ließen sie aber ungelöst. War das Gebilde, das damals entstand, ein Bundesstaat oder ein Staatenbund? Welche Rechte standen den Einzelstaaten zu? Konnten Sie sich der Bundesmacht nach Belieben entziehen? Wir vergessen, dass das teilweise Offenlassen dieser Fragen enorme Konflikte bewirkte, die 1861 den blutigsten Krieg auslösten, den Amerikaner je führten. Mehr Amerikaner verloren in dem Krieg zwischen den Staaten ihr Leben als in allen Kriegen zusammen, an denen die USA zuvor und danach beteiligt waren. Am Ende stand die zentralistische Gewaltlösung, die den Bundesstaat rechtlich fixierte. Man kann und sollte auch vom schlechten Beispiel lernen. In der amerikanischen Debatte zwischen 1787 und 1861 wurden aber auch Wege diskutiert, wie man der Gefahr Herr werden und die Sache in das richtige konstitutionelle Gleichgewicht bringen kann — leider meist zu spät. Zu spät hatte etwa der Verfassungstheoretiker und Senator John C. Calhoun, dessen Schriften, die ich hier zur Lektüre empfehle, auch für unsere Diskussion äußerst interessant sind, drei demokratische Grundprinzipien zur Sicherung der Einzelstaaten gegen den Zentralismus angeführt. Das erste Prinzip hieß „nullification", d. h. das Recht, Bundesgesetze auf dem eigenen Staatsterritorium für ungültig zu erklären. Calhoun und sein Staat South Carolina probierten dies 1831 leider an einem ungeeigneten Objekt aus. Sie nullifizierten die vom Bund erlassenen Schutzzölle, die den Süden zugunsten industrieller Interessen im Norden diskriminierten. Mit militärischer Drohung rief der damalige Präsident Andrew Jackson den Staat und Calhoun wieder zur Ordnung — gottlob aber verbunden mit einer Zollsenkung. Ich bin ja für jede noch so rauhbeinige Methode, den Freihandel durchzusetzen, weshalb ich im Herzen mit Calhoun mitfühle. Wenn ich zum Beispiel an die berüchtigte „Bananenverordnung"
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denke, juckt es mir heute noch in den Fingern, der EU einfach Nullifikationserklärungen nach Brüssel zu schicken. Aber natürlich kann man das Prinzip der „nullification" nicht auf einen sachlogisch nur exklusiv der höchsten Ebene zuweisbaren Bereich wie den Außenhandel anwenden. Da muss man sich andere Sicherungsmechanismen für den freien Handel ausdenken. Man würde nicht nur für sich, sondern auch für alle anderen mit-nullifizieren, auch wenn diese das gar nicht wollen. Bei allen jenen Zuständigkeiten, die „konkurrierend" sind, lässt sich das Prinzip der „nullification" jedoch anwenden. In rational gebändigter Form heißt es in der modernen Verfassungsökonomie „opting out". Dass das Vereinigte Königreich zunächst für die Sozialcharta ein „opting out"-Recht reklamierte, ist von vielen glühenden Europäern, die bisweilen vor lauter Glut das eigentliche Ziel aus den Augen verloren haben, als eine bedauerliche Inkorrektheit bewertet worden, die nun endlich korrigiert worden sei. Ich finde, man hätte systematischer darüber diskutieren sollen. Wenn ich die Subsidiarität wirklich will, muss ich den demokratischen Eigenwillen der Teilgliederungen auch als vorrangig ansehen, sonst wird das Wort Subsidiarität zur Worthülse. Subsidiarität darf nicht eine Frage des Ermessens der EU sein, sondern besteht aus verbrieften Rechten der Teilgliederungen. Die theoretische Möglichkeit des „opting out" sollte daher bei allen Maßnahmen gegeben sein, solange dies nicht die Funktionsuntüchtigkeit der EU bei den ihr exklusiv zugewiesenen Aufgaben zur Folge hat. Dies würde den Anreiz für die EU-Gremien setzen, keine diskriminierenden Maßnahmen zu lancieren. Das zweite Prinzip, das Calhoun in den 1830er Jahren in den USA in die Diskussion warf, war das Prinzip der „concurrent majorities", der übereinstimmenden Mehrheiten. Um den Einzelstaaten noch Autonomierechte innerhalb eines natürlicherweise zur Zentralisation neigenden Bundes zu sichern, sollten größere Entscheidungen nur dann in Kraft treten, wenn auch alle Einzelstaaten für sich genommen diesen Entscheidungen einzeln zugestimmt haben. Die Mehrheit des Ganzen und die Mehrheiten der Teile sollten übereinstimmen. Auch hier mag Calhoun zu radikal gewesen sein. Qualifizierte Mehrheiten der Einzelstaaten genügen wohl. Das Prinzip an sich hat sich aber in der Realität bewährt. In den USA ist es bei Verfassungsänderungen gültig, was die Stabilität der Verfassungsrechte wirksam garantiert. In der Schweiz gibt es die „Stände-Mehrheit", die die Schweiz zu einem Staat mit niedrigen Steuern und hohem Wohlstand machte. Ich finde diese Art der demokratischen Mitbestimmung der Teilstaaten jedenfalls besser als die Mitbestimmung in Form einer Zweiten Kammer nach Muster des deutschen Bundesrates, die automatisch zum Teil eines EU-Machtkartells würde, anstatt echte Subsidiarität zu sichern.
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Das dritte Prinzip, das Calhoun, für legitim erachtete, obwohl er den Erhalt der Union glühend wünschte, ist das Recht auf Sezession. Das ist keine skurrile Idee von mir. Politisch scheint es heute kaum relevant. Trotzdem darf kein Demokrat es ernsthaft leugnen. In welchen Mitgliedstaat sollte denn die EU Truppen zur Niederschlagung des Volkes schicken, wenn dieser Mitgliedstaat und sein Volk sich auf demokratische Weise von der EU trennen wollen? Dass ein solches Recht auf Sezession einmal relevant werden könnte, glaubten die Väter der US-Verfassung 1787 auch nicht, weshalb sie die Frage offen ließen, ob dieses Recht denn nun bestehe. 74 Jahre später führte diese Unterlassung zum Krieg. Bedenken Sie: Verfassungen sind idealtypisch für die Ewigkeit geschrieben, weil sie über dem politischen Alltagsstreit stehen und unsterbliche Rechte sichern. Schon Cicero sprach in diesem Zusammenhang von der „res publica immortalis" — ein Begriff, der bis in das 19. Jahrhundert jedem Verfassungsschöpfer geläufig war. Ich will hier aber keine düsteren Zukunftsbilder an die Wand malen. Ein explizites Recht auf Sezession soll nicht zur Sezession anreizen. Im Gegenteil! Als Befürworter einer Osterweiterung der EU — ohne die von einigen Politikern in Deutschland geforderten „Vorbedingungen" — bin ich klar eher für das „rein" als für das „raus". Weil es sich im Allgemeinen wohl nicht lohnt, wird auch niemand gehen, es sei denn die EU verursacht gravierende Fehlentwicklungen. Ich denke, ein verankertes Sezessionsrecht — abgesehen davon, dass es unter demokratischen Verhältnissen nur schwer zu verweigern ist — kann Mitgliedsländern im Falle übermäßiger rechtlicher und ökonomischer Diskriminierung die Möglichkeit geben, die Frage nach dem ganzen System auf den Tisch in Brüssel zu legen. Es würde aber mit Sicherheit in der Regel noch harmloser ablaufen, da die bloße Verankerung des Sezessionsrechts schon einen Anreiz für die EU-Ebene setzt, Diskriminierungen von Teilstaaten zu unterlassen. Das ist der eigentliche pragmatische Grund für diese Forderung. Daher sollte die Verankerung des Sezessionsrechtes Teil einer jeden verfassungspolitischen Ordnung Europas sein. Bisher habe ich im Wesentlichen die Frage der gegenseitigen demokratischen Kontrolle der Ebenen im Sinne des Subsidiaritätsprinzips erörtert. Es gibt noch zwei Fragen, die wenigstens erwähnt werden sollten. Die erste ist die Frage der Regionen. Sie haben ja nun einen Ausschuss der Regionen bekommen, der vorerst nur beratende Funktionen hat, aber sicher in Zukunft den Status einer Dritten Kammer erstreben wird. Nicht weil ich gegen Regionalismus bin, sondern weil ich ihn befürworte, stehe ich diesem Projekt mit Skepsis gegenüber. Regionen erfüllen eine wichtige Rolle bei der Subsidiarisierung der bestehenden Nationalstaaten. Gegen zuviel Zentralismus bei der EU zu sein heißt nicht, dass man den Zentralismus der Mitgliedsstaaten konservieren soll.
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Gerade im Spiegel der deutschen Erfahrungen halte ich es aber für sinnvoll, dass dies durch klare Kompetenzzuweisungen nach „unten" erfolgt, und nicht durch die Erweiterung von Mitbestimmungsmöglichkeiten „oben". Ansonsten erfolgt automatisch ein Sog von Kompetenzabtretungen von „unten" nach „oben", da man sich auf Regionalebene davon Umverteilungsgewinne zu Lasten anderer Regionen versprechen würde. Man sollte also die Kompetenzvermischung nicht noch in Ebenen tragen, wo es sie gottlob noch nicht gibt. Die Tatsache, dass es die deutschen Bundesländer waren, die die vage Formulierung des Subsidiaritätsartikel in den Maastrichter Verträgen wollten, lässt nicht ohne Grund die Furcht aufkommen, dass hier das deutsche Modell des Kompetenzwirrwarrs, des undurchschaubaren Kanalsystems der Transfers und der rücksichtslosen Interessenpolitik jetzt auch in Brüssel gespielt werden soll. Das Ergebnis könnte nur noch als traurige Parodie des europäischen Föderalismus durchgehen. Achten wir lieber auf eine echte Dezentralisierung, die auf verstärkte Eigenverantwortung und Eigenkompetenzen der Regionen Wert legt. Ein völlig anderer Punkt liegt mir noch auf dem Herzen. Ich hatte die Wahrung der Menschenrechte als exklusive Aufgabe der EU definiert — hoffentlich nicht zu voreilig. In vieler Hinsicht liegt die territoriale Ausdehnung von Mechanismen zur Wahrung dieser Rechte in der Logik von deren Universalität. Da man diese Frage nicht demokratischen Abstimmungen mit Parteienmehrheiten überlassen kann, wäre wohl langfristig ein Europäischer Menschenrechtsgerichtshof wünschenswert. Aber auch hier sollte man im Sinne des Subsidiaritätsprinzips vorsichtig sein. Es fängt ja schon damit an, dass über das, was denn nun ein „Recht" sei, sehr unterschiedliche Meinungen vorherrschen. Universell sind meiner Auffassung nach nur jene „formalen" Rechte, die den Schutz von Leben, individueller Selbstbestimmung und Eigentum vorsehen. Sie sind auch in hohem Maße staatsbeschränkend im liberalen Sinne. Alle anderen Rechte, insbesondere die „sozialen" Rechte, sind eher kontextuell und von der sozio-ökonomischen Lage bestimmt. Sie stellen zudem keine Schutzfunktionen in den Vordergrund, sondern sind Zwangsrechte gegen die Selbstbestimmung und das Eigentum anderer Menschen. Sie wirken notwendig auf die Ausdehnung der Sphäre staatlichen Handelns hin. Zwischen beiden Rechtsauffassungen besteht also schon aus rein logischen Gründen ein Widerspruch, den ein Liberaler wohl generell zu Gunsten der universellen Menschenrechte lösen wird. In der Realität wird jedes staatliche Gemeinwesen wohl beide Rechtsverständnisse vermischen. Mein Plädoyer für die Menschenrechtskompetenz der EU und den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof wäre es, dass er sich in seiner Zuständigkeit strikt auf die rein universellen individuellen Autonomierechte beschränken sollte, während alles andere den Verfassungsgerichten der Mitgliedsstaaten überlassen sein sollte.
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Die kontextuellen „sozialen" Rechte sind häufig nur Ausdruck rein politischer Präferenzen. Legt man ihre Wahrung in die Hände einer höheren Gerichtsinstanz, wird diese Instanz automatisch zu einem geradezu erbarmungslosen Mittel der Zentralisierung. Sieht man die Geschichte verschiedener Bundesstaaten — etwa der USA — an, dann fallt auf, dass es meist die obersten Gerichte waren, die mit der Zentralisierung begannen und sie am konsequentesten fortführten. Deshalb sei auch hier zur Vorsicht gemahnt. Dies alles waren nur einige allgemeine Gedanken zur Wahrung des liberalen Subsidiaritätsprinzips im Rahmen der europäischen Ordnung. Es gibt noch viel mehr, was es dabei zu bedenken gilt. Noch ein Wort zum Schluss: Die Vision einer politischen Ordnung für Europa, die ich hier skizziert habe, ist in vielen Punkten die Negation dessen, wofür der heutige Nationalstaat steht. Dies machte schon immer und macht auch noch heute den Charme der Europäischen Idee aus. Europa verdankt seine hohe Kultur und seinen wirtschaftlichen Reichtum der Tatsache, dass es über eine solch faszinierende Vielfalt verfügt, die so vielfältig ist, dass sie in den Grenzen eines zentralisierten Nationalstaats keinen Platz fände. Der Idealismus, der mit der Idee der Überwindung nationalstaatlicher Übel verbunden ist, hat manche Menschen so sehr verblendet, dass sie Europa so weit vorantreiben wollen, dass sich die ursprüngliche Idee ins Gegenteil zu verkehren droht. Die Frage der Rolle Europas in der Welt drängt sich hier auf. Gerade vor der Einführung des Euro hörte man oft Parolen vom Gegengewicht, dass man auch währungspolitisch zu den USA bilden müsse. Überhaupt, man müsse eine größere Rolle in der Welt insgesamt spielen. Ich denke, dass wir uns auch hier um vorsichtige Definitionen bemühen sollten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass man in Europa wieder Großmachtsvorstellungen verwirklicht sehen möchte, die man sich „zu Hause" im eigenen Nationalstaat zu Recht nicht mehr auszusprechen traut. Bisher blieb es nur bei verbalen Bekenntnissen, während dort, wo wirklich Handeln nötig gewesen wäre — etwa in Bosnien —, Unentschlossenheit herrschte. Dennoch: Ein unbescheidenes Denken in Bezug auf die Rolle „außen" wird auch bald nach „innen" machtstaatlich agieren wollen. Vereinheitlichung und Zentralismus sind immer auch Produkt eines zu heftigen außenpolitischen Aktivismus. Die Gründer der USA wussten dies, weshalb sie — ein wenig zu strikt für unsere vernetzte Welt von heute — die „Monroe-Doktrin" als angemessene Maxime formulierten. Was ich damit sagen will, ist, dass man immer das Ganze im Auge behalten soll. Wer ein liberales Europa will, das echte Subsidiarität vorlebt, der muss Bescheidenheit von politischen Zielen und strikte Verfassungsregeln zum Schutz des einzelnen vor
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zentralistischer Macht miteinander kombinieren. Auch ein vereintes Europa wird nicht alle Probleme der Welt lösen können — und soll dies auch nicht. Auch ein vereintes Europa wird nicht alle eigenen Probleme durch Harmonisierung, Umverteilung und Nivellierung lösen — und soll dies auch nicht. Auch ein vereintes Europa wird interne Konflikte austragen und Neid erregende Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern und Regionen ertragen müssen — und soll dies auch. Das ist der Preis, den wir für Frieden, Wohlstand und vor allen für die Freiheit zu zahlen haben. Geben wir uns keinen anderen Illusionen hin.
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Das Spiel braucht neue Regeln! Nach der Steuerreform ist die Föderalismusdebatte wichtiger denn je Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 3/2000 Die Steuerreform ist verabschiedet. Über den Inhalt dieser Reform mögen sich die einen freuen, die anderen mögen darüber jammern. Indes wird unter normal empfindenden Bürgern wohl kaum ein Meinungsunterschied darüber bestehen, wie denn das Zustandekommen dieses Ergebnisses zu beurteilen sei. Das Gerangel und Gefeilsche, das dort dem erstaunten Zeitgenossen geboten wurde, war schlichtweg eine Schande für das gesamte politische System der Bundesrepublik. Es sollte daher auch als Systemfrage begriffen werden. Natürlich sind die Akteure im föderalen System, die sich hier in schamloser Vorteilsnahme ergingen, selbst verantwortlich für das, was sie da vorführten. Da gibt es keine Entschuldigung. Aber es wäre verfehlt, das Ganze nur auf ein Problem persönlicher Charakterschwäche zu reduzieren. Das gesamte Spiel läuft falsch. Es ist ja nicht das erste mal, dass große Reformprojekte in einen unappetitlichen Kuhhandel zwischen Bund und Ländern hineingezogen werden. Es ist vielmehr der Regelfall. Selten ist dabei das Ergebnis so klar (wenn auch unerwünscht) wie bei der Blockade der letzten Steuerreform der alten CDU/FDPRegierung durch die Bundesratsmehrheit der SPD. Meist wurde nicht konsequent blockiert, sondern mit Hilfe von bloßen Blockadeandrohungen verwässert und verfälscht, bis jede ordnungspolitische Konsistenz verloren ging — selbst wenn die jeweilige Bundesregierung besten Willens war. Dabei ist gerade in so sensiblen Politikbereichen wie Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik diese Konsistenz absolut unerlässlich. In der Politik handeln die Akteure bekanntlich in einem System von Regeln und Institutionen. Diese sind selten „neutral", sondern beeinflussen das Handeln durch Anreize. Diese Anreize können richtig oder falsch sein. Im Falle des real existierenden bundesdeutschen Föderalismus liegen sie eindeutig falsch. Sie produzieren exakt das Verhalten, das wir gerade bei der Diskussion um die Steuerreform beobachten konnten. Zur Erinnerung: Der deutsche Föderalismus beruht nicht etwa auf der subsidiären Idee der Eigenverantwortlichkeit der einzelnen Regierungsebenen, der klaren Kompetenzverteilung und der größtmöglichen Verlagerung von Aufgaben nach „unten". Die Länder haben kaum eigene Aufgaben und eigene Steuerhoheiten. Ihr Tun besteht im Wesentlichen in der Mitwirkung an der Bundesgesetzgebung im Bundesrat. Die Menge der Gesetzesvorhaben, die in diesem System als „zustimmungspflichtig"
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erachtet werden, hat in den letzten Jahren zugenommen. Die Folgen sind vorhersehbar. Die Länder haben sogar über Jahrzehnte in großem Umfang Eigenkompetenzen abgegeben, nur um sich besser am Umverteilungsspiel im Bund beteiligen zu können. Das tun sie mit Gusto und unter geschickter Nutzung der Verwinkelungen des Systems: Unübersichtlich ist das Gewirr der Bestimmungen über den Länderfinanzausgleich, intransparent - und damit potentiell undemokratisch - ist das Ausmauscheln von Gesetzen hinter den verschlossenen Türen des Vermitdungsausschusses und für den Wähler sind bei alledem Verantwortungen kaum noch zuzuweisen. Aber es funktioniert im Sinne der Länder, oder zumindest der meisten von ihnen. Einige „Nettozahler" wie Bayern und Baden-Württemberg haben bereits erkannt, dass Umverteilungsgewinne meist Scheingewinne sind. Vor allem sorgen sie dafür, dass sich die „Nehmerländer" immer mehr an ihren Status zu gewöhnen beginnen und ihre wirtschaftspolitischen Reformanstrengungen vernachlässigen. Viele der veralteten Industriestrukturen in unserem Lande sind so erklärbar. Aber die meisten Länderregierungen scheinen sich ganz wohl dabei zu fühlen. Die Idee der Väter des Grundgesetzes, dass die Ländermitbestimmung die Macht des Bundes begrenzen solle, ist vergessen. Die Länder tragen zur staatlichen Machtentfaltung erst richtig bei. Selten dienen im Bundesrat durchgesetzte „Ergänzungen" der Länder zu Bundesvorhaben dem Gemeinwohl oder dem Schutz des Bürgers vor (meist steuerlichen) Übergriffen. Die von Rheinland-Pfalz auf Druck der FDP. in der Steuerreform durchgesetzten Endastungen für den Mittelstand sind sinnvoll und dienen der Wirtschaft in allen Bundesländern. Sie stellen aber auch eine Ausnahme da. Der Regelfall ist, dass die Länder ausschließlich ihre Eigeninteressen bedienen. Die nicht ohne Grund von vielen Kommentatoren als „Bestechungsgelder" apostrophierten Zuweisungen für Berlin und Brandenburg, die sicherstellten, dass die dortigen CDU-Landeschefs ihrer Parteispitze in den Rücken fielen, entsprechen eher dem Bild, das man sich von der Realität zu machen hat. Fazit: Wer eine bessere Politik haben will als die, die wir gerade bei der Verabschiedung der Steuerreform gesehen haben, darf sich nicht nur in Appellen an das Gute in den Politikern erschöpfen. Er muss die Wurzel des Problems zum Thema machen. Deshalb: Wir brauchen eine grundlegende Föderalismusreform! Was da zu tun ist, ist klar. Es bedarf einer Reform des Finanzausgleichs, der eine klare Steuerverantwortung in Bund und Ländern schafft. Dies kann geschehen durch die Abschaffung der Verbundsteuern, durch die Abschaffung von Privilegien und die Reduzierung des Finanzausgleichs auf den Zweck, die grundsätzliche Funktionsfahigkeit der Länder zu sichern. Und vor allem muss dem eine ebenso klare Aufgabenverteilung zwischen Bund, Ländern und Kommunen gegenüberstehen. Dazu bedarf es radikaler Reformen wie die Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben und die Beschränkung der
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konkurrierenden Gesetzgebung. Entsprechende Vorschläge habe ich bereits zusammen mit der Expertengruppe der Friedrich-Naumann-Stiftung zur Föderalismusreform vorgelegt. Dies würde nicht nur den positiven Nebeneffekt der Verbesserung der jeweiligen Landespolitiken bewirken. Es entstünde ein echter Wettbewerbsföderalismus. Länder müsste solide Standortpflege betreiben, um ihre finanziellen Ressourcen zu erhalten und an der Abwanderung in andere Länder zu hindern. Die Landtage - das eigentlich demokratische Element des deutschen Föderalismus — gewönnen wieder an Gestaltungsmöglichkeiten, die ihnen durch das aktuelle Wirken der Regierungen im Bundesrat abhanden gekommen sind. Das könnte auch die politische Moral verbessern. Der föderale Kuhhandel verdirbt auch innerhalb der Länder die Sitten. So heißt es, dass die Zustimmung der Berliner CDU-Regierenden nicht nur durch Subventionen seitens der Bundesregierung, sondern auch durch Zugeständnisse des Koalitionspartners, der Berliner SPD, in der Verkehrspolitik beim U-Bahnausbau erwirkt wurde. Vor allem aber hätte eine solch durchgreifende Föderalismusreform den Effekt, dass der Bereich zustimmungspflichtiger Gesetzgebung reduziert würde. Der Bund hätte vielleicht weniger Kompetenzen in vielen politischen Fragen (vor allem in der Steuer- und Finanzpolitik). Das ist im Sinne der Verfassung und der Machtbegrenzung auch wünschenswert. Er hätte aber vor allem auch klare Kompetenzen. Dies ist nicht nur im Sinne einer Stärkung demokratischen Geistes, weil klare Kompetenzverantwortung kompetente Bürgerentscheidungen ermöglicht. Es ermöglicht auch eine kohärentere, weniger von egoistischen Interessen geprägte Wirtschafts- und Finanzpolitik. Das Schauspiel, das wir bei der Verabschiedung der Steuerreform uns anschauen mussten, gehörte dann der Vergangenheit an. Die augenblickliche Empörung über den politischen Stil, der bei diesem Schauspiel an den Tag gelegt wurde, sollten wir also klug nutzen. Die Föderalismusreform gehört mehr denn je auf die Agenda. Wer eine bessere Politik haben will, braucht bessere Spielregeln für die Politik.
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Zur Lage: Welches Europa? Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 3/2001 Europa ist dabei, ein geradezu paradoxes politisches Gebilde zu werden. „Oben" auf den Gipfeln werden immer verwegenere Visionen in einem Tonfall geradezu überschäumender Euphorie verkündet. „Unten" beim Volke nimmt eine Verdrossenheit zu, die endgültig den Verdacht aufkommen lässt, dass Politiker und normale Menschen doch auf verschiedenen Planeten leben. Der Enthusiasmus der jungen Menschen, die in den 50er Jahren begeistert Schlagbäume niederrissen, ist längst Geschichte. Seit Jahren gab es kaum ein größeres europäisches Projekt (man denke an den Euro), das nicht gegen die schweigende Mehrheit der Bürger durchgesetzt werden musste. Tabuisierungen und Appelle, dieses oder jenes Thema doch aus der politischen Debatte zu nehmen, haben bisher diese schweigende Opposition weitgehend machdos werden lassen. Aber dies wirft die Frage auf, wie es denn um die demokratische Kultur der Europäischen Union bestellt ist. Die EU wird von den Bürgern heute meist als bürokratisch, undemokratisch und bürgerfern empfunden. Dieses Empfinden mag oft ungerecht sein, weil viele der großen Errungenschaften schon als zu selbstverständlich gesehen werden. Völlig falsch liegt es aber nicht. Nicht ohne Grund konzentriert sich die Debatte zurzeit ums Grundsätzliche, nämlich um die Verfassung Europas. Auch hier wird die Diskussion bisweilen so geführt, dass sie sich dem Bürger nur noch schlecht vermittelt. Was soll man davon halten, dass der französische Premier Lionel Jospin die Stärkung und den Erhalt des Nationalstaats verkündet, aber beim Herunterbrechen dieses Gedankens in konkrete Forderungen fast jeden Politikbereich — insbesondere die Sozialpolitik — auf die europäische Ebene Verlagern will? Was soll man davon halten, dass Bundeskanzler Schröder einen (verfassungsrechtlich problematischen!) Bundesstaat will, aber doch Renationalisierungen fordert, die wiederum innerhalb des von ihm gewählten Verfassungsrahmens nicht durchsetzbar wären? Hier wird die politische Substanz der groß tönenden Rhetorik geopfert. Zurecht warnte kürzlich Alt-Bundeskanzler Helmut Schmidt davor, hier verwegene Hoffnungen zu wecken und aus der Verfassungsdiskussion eine „Finalität" der europäischen Diskussion zu erwarten — während die großen Sachfragen unerledigt blieben. Dennoch ist das Thema Verfassung richtig gewählt. Es setzt auch keineswegs die „Finalität" im Sinne eines geschriebenen Verfassungsdokuments voraus. Worum es geht, ist die Neuordnung des institutionellen Rahmens der Regelfindung. Diese ist
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ganz unzertrennbar mit der Frage nach der generellen politischen Entwicklung verknüpft, die Europa einschlagen soll. Es ist die Frage: „Welches Europa?" Die europäischen Institutionen und Regelwerke sind ordnungspolitisch nicht aus einem Guss. Wie sollten sie auch? Die EU entwickelte sich in kleinen Schritten, die oft nur den tagespolitischen Interessen der Akteure entsprachen. Von Anfang an standen Protektionistisches wie die Kohle- und Stahlunion und Marktliberales wie die vier Freiheiten der Römischen Verträge kaum verbunden nebeneinander. Die Intransparenz der EU, über die viele Bürger klagen, kommt nicht von ungefähr. Es ist Zeit, hier Klarheit und Kohärenz zu schaffen. Dazu müssen vor allem die Kompetenzen zwischen den Regierungsebenen klar verteilt und der Prozess gebändigt werden, der zu der bisher so willkürlich erfolgten Übertragung von Kompetenzen führte.
Kompetenzen aufteilen Kompetenzvermischungen sind der Tod aller Transparenz in der Politik. Sie führen dazu, dass Finanzströme und Verantwortlichkeiten für den Stimmbürger nicht mehr zu beurteilen sind. In den Köpfen mancher deutscher Politiker geistert das Bild einer vollendeten EU herum, das den bundesdeutschen Föderalismus bis nach Brüssel ausdehnen will. Einige gehen sogar soweit, dass sie der EU eine eigene Steuerkompetenz geben wollen. Dabei ist gerade der auf Kompetenz- und Steuervermischung basierende deutsche Föderalismus eher ein warnendes Beispiel - die Ursache von Reformstau, schleichendem Zentralismus, hoher Steuerlast und niedriger politischer Effizienz. Er taugt als Beispiel für Europa nicht. Nun könnte man meinen, mit der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam sei dem Kompetenzwirrwarr ein Riegel vorgeschoben worden. Leider ist dem nicht so. Die Verankerung war wohl eher als „Placebo" zur Beruhigung derer, die dem neuen europäischen Zentralismus kritisch gegenüber standen, als ein wirkliches Mittel zur Verhinderung von Zentralisation. Äußerst vage bleibt das Subsidiaritätsprinzip in den Verträgen definiert. Es ist lediglich eine Ermessensfrage, welche Tätigkeit wem zugewiesen wird. Eine klar festgeschriebene Kompetenzverteilung fehlt, bzw. sie folgt nicht ihrerseits dem „Subsidiaritätsprinzip". Zudem muss das „Subsidiaritätsprinzip" in dem ordnungspolitisch nicht immer sehr stringenten Vertragswerk der EU, mit anderen Verfassungsprinzipien konkurrieren, die ihm zum Teil klar widersprechen. Dazu gehören die Prinzipien der „Solidarität" und der „Kohärenz". Mit fast klammheimlicher Freude konnte der damalige EU-Kommissionspräsident Jacques Delors sogar bemerken, dank des Subsidiaritätsprinzips könne die EU noch mehr Kompetenzen an sich ziehen.
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Kurz: Eine klare subsidiäre Kompetenzaufteilung sollte möglichst bald erfolgen. Sie sollte sich am Modell des Wettbewerbsföderalismus orientieren. Das heißt nicht nur, dass die „Vier Freiheiten" und der Binnenmarkt im Mittelpunkt der Politik stehen müssen, sondern auch, dass die politischen Systeme der Mitgliedsländer selbst dem Wettbewerb ausgesetzt sein sollten. Dazu bedarf es großer eigener Gestaltungsspielräume ohne Kompetenzvermischungen. Deshalb empfiehlt es sich, die verteilungsintensiven Politikbereiche nach „unten" zu verlagern. Das gilt für die Agrarpolitik, die heute den größten Teil des EU-Haushaltes auffrisst, aber auch für die unter dem verharmlosenden Begriff „Harmonisierung" betriebene Sozial- und Steuerpolitik. Alles, was die Freizügigkeit intern und die Grenzen extern (Einwanderung, Außenhandel etc.) betrifft, sollte tendenziell der europäischen Ebene zugeordnet werden. Die Einschränkung „tendenziell" bedeutet, dass es vorerst (?) in den Bereichen Sicherheits- und Außenpolitik auch weiterhin noch nationale Spielräume geben wird — zumindest bis ein wirklich tragendes Konzept entwickelt ist. Der Wille von Mitgliedstaaten, sich nicht in militärische Maßnahmen außerhalb der Selbstverteidigung der EU im engeren Sinne (z.B. Auslandseinsätze ä la Kosovo) verstricken zu lassen, sollte auch in einer zukünftigen EU-Sicherheitsdoktrin — so sie denn kommt — respektiert werden.
Verteidigungsrechte der Mitgliedsländer stärken Niemand, der sich in der Politik auskennt, wird glauben, dass das ausreicht. Der Anreiz für die Politik, Maßnahmen trotz Kompetenzaufteilung auf die europäische Ebene zu verschieben, ist groß, weil so enorme Verteilungsspielräume entstehen, die selbst von nationalen Politikern gerne für ihre Zwecke genutzt werden. Hinzu kommt, dass sich Kompetenzen oft nicht so eindeutig aufteilen lassen. Wo genau liegen die Grenzen einer lokalen, europäischen oder globalen Umweltpolitik? Die Forderung nach klarer Kompetenzverteilung und -entflechtung ist eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für ein subsidiär gestaltetes Europa. Die Gefahr, die von kurzfristig gedachten (und in der Politik wird fast immer kurzfristig gedacht) Handlungszuweisungen auf die „höhere" Ebene ausgeht, ist die, dass Sonderinteressen zulasten von Minderheiten durchgesetzt werden. Zentralismus erhöht das Risiko der Diskriminierung. Das beste Mittel dagegen ist das Recht der Diskriminierten, sich gegen Diskriminierung zu wehren. Insofern ist die vorschnell erhobene Forderung nach weitgehender Ersetzung des Einstimmigkeitsprinzips im Ministerrat durch Mehrheitsbeschlüsse bedenklich. Man kann die irischen Bürger, die letztens gegen den Vertrag von Nizza gestimmt haben, da schon verstehen. Nicht gegen die Osterweiterung richtete sich ihr Unmut. Viel-
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mehr befürchteten sie, dass kleine Länder wie sie unter die Räder gerieten. Das ist ernster zu nehmen als es in Göteborg geschah. Man sollte sogar über weitere Instrumente nachdenken, die diskriminierende Prozesse abwehren könnten. Sie würden die EU-Gremien von vornherein zwingen, fairer, subsidiärer und wettbewerbsorientierter zu handeln. Zu diesen Instrumenten könnten generelle „Opting-out"-Klauseln gehören. Bei allen Vertragswerken, die nicht Außenhandel und innere Freizügigkeit unmittelbar betreffen, könnten Mitglieder das Recht haben „auszusteigen" - so wie es Großbritannien eine Zeit lang bei der Sozialcharta getan hat. Dieser Weg wäre sogar dem Vetorecht vorzuziehen, weil er einem Land die Gegnerschaft zu bestimmten Maßnahmen erlaubt, ohne den anderen, die diese Maßnahmen wollen, gleich „Sand ins Getriebe" zu streuen. Entscheidenden Druck auf die EU-Beschlussmechanismen, sich diskriminierender Entscheide zu enthalten, könnte auch die explizite Aufnahme eines Austritts- oder Sezessionsrechtes in das europäische Vertragswerk ausüben. Es würde vor allem den Beitrittswilligen in Ost- und Mitteleuropa, die angesichts des gegenwärtigen hohen Niveaus der EU-Regulierung (die auf hoch entwickelte Wohlfahrtsstaaten, nicht aber auf werdende Marktwirtschaften zurechtgeschnitten ist) zurecht geängstigt sind, den entscheidenden Schritt erleichtern. Gleichzeitig erhöht es nach einem solchen Schritt die Notwendigkeit für die EU, sich endlich so zu reformieren, dass die Erweiterung langfristig tragfähig bleibt.
Demokratiedefizit beseitigen - von unten! Dass Zentralisierung, Bürgerferne und Bürokratismus etwas mit einem „Demokratiedefizit" in der EU zu tun habe, gehört zu den viel beschworenen Weisheiten unserer Zeit. Daraus wird meist die Folgerung gezogen, das Europaparlament müsse mehr Kompetenzen an sich ziehen. Dies würde indes weniger Positives bewirken als gemeinhin angenommen. Erfahrungen mit nationalen Parlamenten zeigen, dass sie sich nur selten gegen den Bürokratismus durchsetzen, sondern ihn meist noch (unwillentlich?) anfeuern. Vor allem würde durch ein gestärktes EU-Parlament die Zentralisierung einen gewaltigen Schub erfahren. Es würde — auch im Interesse äußerst egoistischer nationaler Sonderinteressen! - massiv Kompetenzen an sich ziehen, die ihm eigentlich nicht zustehen sollten. Auch hier bietet die Aushöhlung des bundesdeutschen Föderalismus ein warnendes Beispiel. Deshalb sollten die Kompetenzen des EU-Parlamentes weiterhin eng beschränkt sein. Vor allem ein eigenes Steuererhebungsrecht — die von Bundesfinanzminister geforderte „Europasteuer" — sollte dringlichst unterbleiben. Stattdessen könnte man das „mehr an Demokratie" in Europa auch subsidiärer gestalten. Man könnte den Einfluss der nationalstaatlichen Exekutiven z.B. durch eine
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Stärkung der nationalen Parlamente eindämmen. Das Vetorecht könnte etwa durch eine Parlamentarisierung demokratisiert werden. So würden eher genuine Bürgerinteressen berücksichtigt. Hier ist ein Mentalitätswechsel angesagt, denn Respekt vor der Demokratie bei „denen da unten" ist bei der EU selten zu finden. Wenn irgendwo „falsch" gewählt wird (wie etwa in Dänemark) dann muss eben so lange neu gewählt werden, bis das Ergebnis stimmt — so das Motto. Auch nach der irischen Abstimmung über „Nizza" wurden derartige Stimmen laut.
Judikative Macht begrenzen Mit der Bürgerrechtserklärung von Nizza hat auch noch eine andere Gefahr zugenommen, nämlich der Aktivismus der europäischen Judikative. Judikativen haben sich immer als eine zentralisierende und nivellierende Kraft dargestellt. Allen abermaligen Beschwörungen des Subsidiaritätsprinzips zum Trotz liefert die Bürgerrechtserklärung dazu neue Munition. Da sie nicht nur die formalen Grundlagen der Freiheit und Freizügigkeit zum Inhalt hat, sondern auch „soziale" Komponenten enthält, wird dem EuGH der Eingriff in die innersten Belange der Mitgliedsländer ermöglicht. Dies wäre eine besonders undemokratische Form des Zentralisierens. Man sollte dies bei der Einarbeitung der Erklärung in eine Verfassung berücksichtigen.
Imperiales Europa? Verfassungsrahmen und politische Grundsatzentscheidungen sollten stimmig sein — sonst funktioniert es nicht. In der Bundesrepublik waren Westbindung und Soziale Marktwirtschaft solche Grundentscheide, die das Gemeinwesen in Einklang mit dem Grundgesetz brachten. Manche Töne, die man bei der Einführung des Euro oder der Diskussion um eine europäische Sicherheitspolitik hört, dass man mit den USA in Konkurrenz um den Weltmachtanspruch treten will, beängstigen. Auch die Leichtfertigkeit, mit der zunehmend (meist sozialdemokratische) Parteistandpunkte in Europa zum unantastbaren Verfassungsbestand erklärt werden — man denke an die Behandlung Österreichs — zeigt, dass man sich mittlerweile in Europa eines imperialen Gehabes bedienen kann, das einem im eigenen Land übel genommen würde. Ein solches Gehabe braucht Europa nicht. Ein imperial auftretendes Europa wäre mit Sicherheit kein liberales Europa. Die liberale Verfassung kann nur bestehen, wo Macht bescheiden auftritt.
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Föderalismus und Reform Rede anlässlich des Festaktes zum 50-jährigen Landesjubiläum von Baden-Württemberg, Stuttgart, 2. März 2002 Vor nunmehr 50 Jahren stand der gerade gewählte Ministerpräsident Reinhold Maier am Rednerpult des Stuttgarter Landtags und schaute auf seine Taschenuhr. Dann verkündete er: „Meine sehr geehrten Abgeordneten, hiermit wird der Zeitpunkt der Bildung der vorläufigen Regierung auf den gegenwärtigen Augenblick, nämlich auf Freitag, den 25. April 1952, 12 Uhr 30 Minuten, festgestellt. Mit dieser Erklärung sind gemäß Paragraph 11 des Zweiten Neugliederungsgesetzes die Länder Baden, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern zu einem Bundesland vereinigt." Diese nüchternen, ja fast lapidar anmutenden Sätze leiteten nicht nur eine Erfolgsgeschichte ein. Das so entstandene Land Baden-Württemberg hat sich seit jenen Tagen zum „Musterländle" in Sachen Wirtschaft, Technologie, Wissenschaft und — last not least - Lebensqualität entwickelt. Es ist, so weiß ein jeder, das Land, in dem Wohlstand, gutes Essen und guter Wein gedeihen. Dies alleine könnte schon genügend Material für eine Festaktsrede und Gründe zur Gratulation liefern. Ich möchte aber einen anderen Aspekt in den Mittelpunkt meiner Überlegungen stellen. Schließlich handelt es sich bei dem, was da 1952 geschah, nicht primär um ein wirtschaftspolitisches Geschehen. Die Gründung von BadenWürttemberg war primär ein Großereignis des deutschen Nachkriegsföderalismus. Es ist bis heute die einzige Länderneugliederung der Bundesrepublik geblieben. Dass es ausgerechnet Baden-Württemberg war, von dem ein solches Großereignis ausging, erstaunt indes nicht. Betrachtet man die Vorgeschichte des Landes - und natürlich auch die Geschichte nach 1952 —, so stellt man fest, dass hier eines der Kernländer des deutschen Föderalismus liegt. Es ist die Region, in der föderales und non-zentrales politisches Denken und Handeln am tiefsten kulturell verwurzelt sind. Nimmt man die Verlautbarungen der Landespolitiker beim Wort, so entsteht der keineswegs falsche Eindruck, BadenWürttemberg sei eines der Länder, die besonders über den deutschen Föderalismus wachen. In dieser Hinsicht müssen die Baden-Württemberger allerdings mit einem anderen südlichen Bundesland konkurrieren. Der Unterschied zu jenem Bundesland ist jedoch fundamental. Während dort der Widerstand gegen jedwede zentralistische Bevormundung des Bundes aus dem Wunsch erwächst, den traditionell gewachsenen Zentralismus der Staatskanzlei im eigenen Lande zu erhalten, darf man in BadenWürttemberg einen anderen traditionellen Hintergrund vermuten. Hier war das
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Missfallen an zentralistischen Missbräuchen auch intern stets spürbar. Es ist wichtig, dies festzuhalten. In Deutschland hat die non-zentrale Lösung unter den Aufgeklärten und Fortschrittlichen nie einen guten Ruf gehabt. Deutschland unterscheidet sich hier stark von den USA und der Schweiz. Die Kräfte des Fortschritts kämpften aufgrund einer spezifischen historischen Lage, wie sie durch die konservativ-reaktionären Staatsmänner auf dem Wiener Kongress geschaffen wurde, immer gegen die vermeintliche „Kleinstaaterei" und für die nationale Einigung. Zudem wirkte das Vorbild der Französischen Revolution, die ein extrem zentralistisches Unterfangen war, in den Köpfen vieler Freigeister als Fortschrittsmodell fort und dies, obwohl hier der menschenverachtende Charakter übertriebener Zentralisation vielfach mehr als deutlich wurde. Jedenfalls muss man konstatieren, dass die Liberalen des 19. Jahrhunderts in Deutschland vielfach bereit waren, liberale Prinzipien über Bord zu werfen, wenn es nur der Einheit diente. In jenen Ländern, aus denen sich das heutige Baden-Württemberg zusammensetzt, war dies anders. Hier erkannte man früh, dass Lokalismus und Gemeindeautonomie hervorragende Instrumente zur Bekämpfung jeder Form des Despotismus sein konnten. Nehmen wir Württemberg und beginnen wir mit Johann Jakob Moser. Der große Jurist wurde unter Zeitgenossen, die wohl noch viel mehr Zeit zum Lesen hatten als wir heutzutage, durch sein 83-bändiges Werk „Teutsches Staatsrecht" berühmt. Er nahm 1759 eine fünfjährige Festungshaft auf dem Hohentwiel in Kauf, um (am Ende erfolgreich) gegen die Aufhebung der alten Rechtsinstitutionen — Landtage, Stände, Gemeindetage — durch den zum Absolutismus neigenden Herzog Karl Eugen zu protestieren. Für ihn waren die lokalen Instanzen ein Bollwerk gegen Willkür und Garanten einer von unten gewachsenen „uralten teutschen angeborenen Freiheit". Auch den Dichter Ludwig Uhland, der später zu den fuhrenden Mitgliedern der Paulskirchenversammlung gehörte, muss man in diesem Kontext erwähnen. Er war einer der Hauptvertreter der Denkrichtung, die heute meist als „altrechtliche Schule" bezeichnet wird. Von ihm stammen die Zeilen: Die Gnade fließet aus vom Throne, Das Recht ist ein gemeines Gut. Dahinter steckt ein genossenschaftliches Ideal, das die freiwillige Gemeinschaft freier Menschen als Kern und Ursprung jedes legitimen Gemeinwesens betont, und der andere (höhere) Institutionen wie die Monarchie oder auch den demokratischen Nationalstaat allenfalls als Resultat eines Rechtsvertrages definiert und damit immer an Bedingungen knüpft. Friedrich C. Seil meinte in seinem 1953 erschienenen Buch „Die Tragödie des Deutschen Liberalismus", dass bei Uhland „die Freiheit zu Hause
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beginnen müsse, im Einzelstaat, und von da aus das Ganze erobern solle. Für Uhland kam die Freiheit zuerst, die Einheit später." Diese genossenschaftliche Idee lieferte nicht nur eine recht schlüssige Rechtfertigung des Non-Zentralismus, sie zielte auch darauf ab, dem Liberalismus eine bodenständige Verankerung zu verleihen. Die „Altrechder" wollten die Freiheit nicht in den Dimensionen einer aggressiven Weltideologie, sondern als Erbrecht und besonderes Eigentumsrecht definieren. Man wollte wohl bewusst ein Pendant zu dem sehr wirksamen Begriff der „Anglo-Saxon Liberty" schaffen, der in England die Freiheit durch einen liberalen Traditionalismus sicherte. Die Idee, auf ein „altes Recht" zurückzugreifen, konnte mit einigen liberalen Zielvorstellungen der Zeit kollidieren, wenn es etwa um die Bewahrung zünftischer Relikte im Staatswesen ging, die ein veritables Hindernis für die Wirtschaftsfreiheit waren. Aber auch dann musste (theoretisch zumindest) die letztliche Rückkopplung mit dem Konsens freier Menschen in gemeinschaftlicher und non-zentralistischer Organisation gewährleistet sein — und damit auch eine konstitutionelle Regierungsform. Selbstbewusst behaupteten jedenfalls die altrechtlichen Autoren des Vormärz immer wieder, dass die Freiheit des liberalen „Musterlands" England sich ja auch aus den „Wäldern Germaniens" entwickelt habe. Wenn es je genuine Ansätze gegeben hat, eine echte, und dennoch genuin deutsche Freiheitstradition zu entwickeln, dann stellt die „Altrechtsschule" einen der wichtigsten und erfolgversprechendsten Versuche dar. Sie hätte die ja schließlich in Deutschland tiefverwurzelte föderalistische Tradition als Vehikel für den Liberalismus nutzen können. Auch in Baden war der Liberalismus nicht per se zentralistisch ausgerichtet. Carl von Rotteck, neben Karl Theodor Welcker der Autor des epochalen „Staats-Lexikons" von 1834, das zum Fanal der 1848er-Revolution wurde, betrachtete die Landgemeinde als nicht-staatliches „natürliches Organ", während jede übergeordnete staatliche Instanz - etwa Landtag oder Ständeversammlung - lediglich ein „nicht rein natürliches Organ" sei. Auch bemerkte man in Baden immer die Nähe zur Schweiz, dem europäischen Musterland des Föderalismus. Dass dies nicht vergessen werde, dafür sorgte ein Schweizer Import: Johann Kaspar Bluntschli hatte im Sonderbundskrieg 1847 in Zürich auf der „falschen" Seite - der dezentralistischen - gestanden, und war nach Baden ausgewandert, wo er Professor für Staatsrechts und als gemäßigter Liberaler Mitglied der Ersten Kammer wurde. Sein Buch „Staatsrecht" von 1851 wurde zum vielfach aufgelegten juristischen Standardwerk an deutschen Universitäten. Der Staat war bei ihm schon zweifellos mehr als nur ein Delegat, das völlig abhängig von nichtstaatlichen Gemeinschaften war. Hier ging er weiter als die „Altrechtler". Souveräni-
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tat war bei ihm im ganz modernen Sinne das Hauptkennzeichen des Staates. Er war gewiss kein Libertärer im modernen amerikanischen Sinne, der den Staat abschaffen wollte. Trotzdem war er ein Anhänger eines starken und unabhängigen Lokalismus. So meinte er denn: „Einseitig übertrieben ist... die Meinung, welche in den Gemeinden nur Anstalten des Staats und nur Gliederungen des Staatskörpers sieht. Die Geschichte der Gemeinden zeigt, dasz dieselben häufig älter sind sogar als die Staten, denen sie zugehören, und meistens nicht von oben her und von dem ganzen State aus gegründet wurden, sondern eher von unten auf aus der Ansammlung vieler Familien um einen Mittelpunkt der Cultur oder aus genossenschaftlicher Verbindung der nachbarlichen Grundbesitzer." Die Gemeinde ist für Bluntschli also eine intermediäre Institution „zwischen dem Individuum und dem State". Das hat Konsequenzen in Bezug auf die Rechtsform von Gemeinden. Für Landgemeinden hält Bluntschli das „genossenschaftliche Princip" für angemessen, für Stadtgemeinden notgedrungen die Form der „reinen juristischen Person". Der Genossenschaftsgedanke unterscheidet sich deutlich von der heutigen „hoheitlichen" Funktion der Gemeinden. Er ist privatrechtlicher Natur und basiert auf dem Prinzip der Unabhängigkeit — also ohne Mischfinanzierungen und Subventionen von oben — und auf so etwas wie gegenseitiger Haftung. Die Gemeinde kommt damit einer auf Eigentum basierenden Einheit im modernen Sinne sehr nahe. In seiner ursprünglichsten und echtesten Form wird das „Bürgerrecht zu einem Erbgute", das exklusive Nutzung einschließt. Ganz klar hat Bluntschli dabei die lokale Direktdemokratie in der Schweiz vor Augen, deren Volksversammlungen durchaus Ähnlichkeiten mit genuinen Eigentümerversammlungen haben. Allerdings sieht Bluntschli, dass dieses Ideal in seiner Zeit nicht immer haltbar ist (etwa in Großstädten und Gemeinden mit großer Einwohnerfluktuation), weshalb er auch bisweilen repräsentative Institutionen befürwortet, ohne jedoch das Prinzip der Unabhängigkeit der Gemeinde je in Frage zu stellen. Warum dieser kurze geschichtliche Exkurs? Weil er zwei Lehren aus der Geschichte Badens und Württembergs enthält, die auch für die heutige Föderalismusdiskussion in Deutschland von Gewicht sind. Erstens, Föderalismus und Dezentralisierung sind nicht die Parolen der Fortschrittsfeinde. Im Gegenteil, Föderalismus eignet sich zum Aufbrechen verkrusteter Machtstrukturen. Zweitens: Wer echte Dezentralisierung will, setzt auf Autonomie und Eigenrechte. Darin waren sich die alten Württemberger und die alten Badener von Moser über Uhland, von Rotteck über Bluntschli stets einig. Dieses einst selbstverständliche Wissen ist den heutigen Betreibern des deutschen Föderalismus fast vollständig abhanden gekommen. Der heutige deutsche Födera-
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lismus basiert nicht mehr auf der Autonomie seiner Teile, das heißt nicht auf der Autonomie der Länder, nicht auf der Autonomie der Gemeinden, ja - so steht zu befürchten — nicht einmal mehr auf der Autonomie seiner Bürger. Stattdessen setzt er auf eine Vermischung von Kompetenzen aller Regierungsebenen und auch die Einmischung in die Angelegenheiten des Bürgers. Deutschland, so hört man allerorten, ist mittlerweile in Bereichen wie Wirtschaftspolitik, Wettbewerbsfähigkeit, Arbeitslosigkeit und Bildung im internationalen Vergleich stark zurückgefallen. Das einstige „Wirtschaftswunderland" ist das Schlusslicht Europas geworden, dessen scheinbares Prestige nur noch dadurch aufrechterhalten wird, dass man den europäischen Stabilitätspakt dafür opfert. Dies alles ist nicht nur auf die vermeintliche Schlechtigkeit der Politiker zurückzuführen, denen es an politisch-ökonomischem Sachverstand gebricht. Vielmehr hat sich eine Eigendynamik im System entwickelt. Es gibt kaum noch Anreize für Politiker, sich nach den Geboten von Langfristigkeit und Solidität zu verhalten. Altpräsident Roman Herzog bemerkte kürzlich zu Recht, dass „unser politisches System zu Selbstblockaden neigt." Dies führt wohl unweigerlich dazu, sich über die Rahmenbedingungen Gedanken zu machen, innerhalb derer Politik gemacht wird. Es gibt schon jetzt eine Rahmenbedingung, die den Druck auf die Politik selbst erhöht, sich in Richtung zu mehr Liberalisierung zu bewegen. Es handelt sich um die zunehmende Globalisierung der Wirtschaft, die den internationalen Standortwettbewerb befördert. Auch der Politik tut Wettbewerb gut. Der Wettbewerb in der Politik sollte aber nicht nur von außen kommen, sondern auch von innen. Eigentlich sollte man annehmen, dass der deutsche Föderalismus genau diesen Wettbewerb erzwingt. Stattdessen nehmen die meisten Menschen heute zu Recht an, dass gerade der Föderalismus in Deutschland nicht unschuldig an der Misere sei. Das ist einerseits richtig; andererseits aber auch nicht. Denn das, was wir heute als ein Problem des Föderalismus betrachten, ist in Wirklichkeit ein Problem des Pseudoföderalismus. Unser heutiger Föderalismus ist keineswegs mehr Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips. Er basiert nicht auf eigenständigen und exklusiven Kompetenzen und Hoheitsrechten der Länder. Er basiert vielmehr auf deren Mitspracherecht im Bundesrat. Er ist also in Wirklichkeit ein Zentralismus, in dem möglichst viele Beteiligte ihr eigenes Süppchen kochen. Verschärft wird dies durch das Fehlen jeglicher Steuerhoheit der Länder. Diese richten dann nämlich ihr ganzes Streben auf Kompensation durch den Finanzausgleich. Derartiges ist von Übel, denn es verspricht den Ländern scheinbare Umverteilungsgewinne zu Lasten anderer Länder und des Bundes. Diese können isoliert betrachtet scheinbar höher sein als Gewinne, die durch eigene Steuererhebung (und Wirtschaftskraft) erzielt werden können. Damit ist ein Anreiz für das
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Abtreten von Kompetenzen zu Gunsten dieser scheinbaren Umverteilungsgewinne gesetzt. In der Tat haben die Länder deshalb im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte massiv Rechte und Kompetenzen an den Bund abgegeben. Die Folge ist nicht nur ein Drang zur Zentralisierung. Es fördert vor allem verantwortungsloses Haushalten mit Steuergeldern. Das Land, das gut wirtschaftet, wird mit einer Art „Sondersteuer" belastet, um für die Fehler anderer aufzukommen. Der so initiierte Umverteilungskampf zwischen den Körperschaften fuhrt zu einem undurchsichtigen Kompetenzwirrwarr. Dazu trägt auch noch das Prinzip der Mischfinanzierungen zwischen den Ebenen bei. Es führt nochmals zu einem Abbau klarer Verantwortungen bis in die Kommunen. Aufgeblähte Haushalte, Schuldenberge und Misswirtschaft auf allen Ebenen sind die Folge. Diesem Problem sollte man nicht mit Forderungen nach mehr Zentralismus entgegentreten, wozu Liberale in der Vergangenheit (leider) neigten — und bisweilen noch neigen. Vielmehr sollte versucht werden, den Ländern echte Kompetenzen zu geben. Die Aufgabenteilung von Bund und Ländern muss klarer und subsidiärer werden. Trennsystem nennt man so etwas. Mischfinanzierungen und Kompetenzvermengungen sollten der Vergangenheit angehören. Ausgabenkompetenz und Steuerkompetenz sollten zusammenfallen. Wer etwas regelt, soll dafür auch selbst zahlen. Dadurch würde vor allem das Prinzip des Wettbewerbs in das Politische System eingeführt. Gute Politik würde belohnt. Der Druck, die Steuerlasten zu mindern, würde erhöht. Die Diskussion darüber, welche Kompetenzen exklusiv „nach unten" verlagert sollten, darf keine Tabus kennen. Besonders die verteilungsintensiven Bereiche müssten eingeschlossen werden, etwa die Sozialpolitik und die Steuerpolitik. So würde auch für den Bund der Anreiz zu sparsamerem Wirtschaften erhöht. Dies würde mit einem gewissen Machtverlust des Bundesrates Hand in Hand gehen. Aber wäre das so schlimm? Schon jetzt scheint bei vielen Ländern (vor allem den „Nettozahlern" im gegenwärtigen System) eine gewisse Lust vorhanden zu sein, lieber echte Selbstbestimmung statt schaler Mitbestimmung zu versuchen. Im jetzigen System ist die destruktive „Blockadefunktion" des Bundesrates schon strukturell vorgegeben. Langfristig lähmt dies die Reformfähigkeit unseres Landes, während die eigentliche Aufgabe der Eingrenzung von bundesstaatlicher Macht unerledigt bleibt. Auch die Länder gewinnen in Wirklichkeit nichts. Reform des Bundesrates und Stärkung der Bundesländer, so lautet das Gebot der Stunde. Die aus der Zentralisierung und der Vermischung von Kompetenzen entstehenden scheinbaren Vorteile für die Länder sind in Wahrheit langfristige Nachteile. Wie üblich sind Vorteile, die durch politische Transfers gewonnen werden, ein schlei-
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chendes Gift, das abhängig macht, aber die Krankheit nicht heilt. Diese Transfers haben ihr Ziel, die „Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", nicht erreicht. Im Gegenteil: Sie haben zur Konservierung der Strukturschwächen geführt, die der eigentliche Grund für die Wohlstandsunterschiede sind. Sie nehmen den Reformdruck weg, der sonst auf den Ländern lasten würde. Deshalb müssen die Verbundsteuern abgeschafft werden, die insbesondere zur Vermischung von Verantwortlichkeiten führen. Es sollte auch möglichst der Grundsatz gelten, dass jede Steuerart einer Ebene exklusiv zugeordnet sein muss. Und es sollte eine abschließende Liste derjenigen Steuern geben, die ausschließlich dem Bund zukommen, während im Übrigen die Zuständigkeitsvermutung zugunsten von Ländern und Kommunen besteht. Es ist spät, aber hoffentlich nicht zu spät, eine solche Föderalismusreform durchzuführen, die wieder einen angemessenen Rahmen für eine wettbewerbsorientierte und dynamische Wirtschaftspolitik setzt. Leider hat sich die von der gegenwärtigen Bundesregierung groß angekündigte Reform des Länderfinanzausgleichs im vorigen Jahr nur als Reförmchen entpuppt, das lediglich an einigen Symptomen herumkurierte. Dabei waren die Erfolgschancen für eine echte Verbesserung durchaus gegeben. Immerhin hatte zuvor das Bundesverfassungsgericht den vier Geberländem wenigstens in einigen Punkten Recht gegeben. Bei den Verhandlungen mit dem Bund und den anderen Ländern forderten sie die sich daraus ergebenden Ansprüche aber nicht ein. Zu den Ländern, die dabei klein beigaben, gehörte leider auch Baden-Württemberg. Dies zeigt nicht nur, in welchem Umfange das heutige föderale System korrumpierende Eigendynamiken entwickelt hat, sondern es zeigt auch, wie nötig eine tief greifende Reform geworden ist. Ich denke mir, dass es das Ziel eines solchen Reformprogramms für den deutschen Föderalismus sein müsste, den so genannten kooperativen Föderalismus zu überwinden. Man sollte die Dinge dabei gleich beim Namen nennen. So haben nämlich die Experten in beschönigender Weise jenen in Deutschland vorherrschenden Typ des Föderalismus genannt, in dem alle klaren politischen Verantwortlichkeiten abgeschafft sind und jede Teilgliederung in den Angelegenheiten der anderen mitregiert. Sich gegen diese Form des Föderalismus zu wenden, ist keineswegs so revolutionär wie es sich anhört. Die Väter des Grundgesetzes hatten 1949 durchaus ein System vor Augen, in dem die Verantwortungen einigermaßen klar getrennt sein sollten. Auf allen Ebenen sollten Entscheidungsbefugnisse und Entscheidungsverantwortung zusammengeführt werden. Obwohl die Väter des Grundgesetzes mit dem Wort von der „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse" schon selbst unabsichtlich den Hebel lieferten, mit dem der von
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ihnen eigentlich gewollte Föderalismus ausgehebelt wurde, wäre ihnen das heutige System sicher ein Gräuel gewesen. In die Welt des Erhardschen Wirtschaftswunders und seiner Sozialen Marktwirtschaft hätte es nicht gepasst. Tatsächlich wurde das Konzept des (in der Praxis schon vorher bestehenden) kooperativen Föderalismus in den USA erst in den 60er Jahren in der Theorie vertieft, um den politischen Rahmen für die wohlfahrtsstaatlichen Reformen der Johnson-Ära, dem „Great Society"-Programm, zu stellen. Es wurde also bewusst zur Ausdehnung der Staatstätigkeit entwickelt. Dass der kooperative Föderalismus diese Tendenz tatsächlich fördert, hat er seitdem in der Praxis bewiesen — auch bei uns, die wir uns in den Zeiten der großen Koalition und der sozialliberalen Koalition dieser Idee anschlössen. Insbesondere die Reform der Finanzverfassung von 1969 ist hier zu nennen. Die ganze Idee entstammt also einer Zeit, in der die Jünger des schrankenlosen staatlichen Machbarkeitsglaubens noch keinen Zweifel an ihren Grundsätzen an den Tag legten. Dieser Glaube, der immer ein Aberglaube war, ist wohl mittlerweile den meisten halbwegs vernunftbegabten Menschen abhanden gekommen. Dem kooperativen Föderalismus muss also ein echter Wettbewerbsföderalismus gegenübergestellt werden. Ich habe bisher im Wesentlichen von der föderalen Finanzverfassung gesprochen. Das Konzept des Wettbewerbsföderalismus greift darüber natürlich weit hinaus. Die Diskussion darüber, welche Kompetenzen wie verteilt und wohin verlagert werden sollten, darf keine Tabus kennen. Zusammen mit der Föderalismuskommission der Friedrich-Naumann-Stiftung habe ich etliche Manifeste zum Thema der Föderalismusreform vorgestellt. Die Stichworte lauten: •
Erstens: Abschaffung der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern.
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Zweitens: Streichung der Bundesbeihilfen.
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Drittens: Beschränkung des Bereichs der konkurrierenden Gesetzgebung auf das Nötigste, weil etwa öffentliche Fürsorge oder das landwirtschaftliche Pachtwesen schlichtweg nicht bundeseinheitlich geregelt sein müssen.
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Viertens: Die Rahmengesetzgebung des Bundes sollte zurückgeführt werden. Brauchen wir wirklich eine Hochschulrahmengesetzgebung des Bundes?
Das sind in meinen Augen realistische, wenn nicht sogar bescheidene Forderungen, die sich völlig an den deutschen Gegebenheiten orientieren. Man könnte das alles noch utopisch weiterdenken und dennoch realistisch bleiben. Dazu braucht man nur zu sehen, wie andere Länder dies machen. Dort sind oft gerade die besonders verteilungsintensiven Bereiche von der Bundesebene wegverlegt in die Länderebene, vor allem die Sozialpolitik.
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Generell sollte für liberale der Grundsatz gelt: Je höher die Entscheidungsebene, desto weniger Umverteilung sollte ihr erlaubt sein. Ein Blick in die USA genügt. Dort erweisen sich die Einzelstaaten, die in den letzten Jahren wieder einige Kompetenzen zurückerobern haben konnten, als Werkstätten für kreative und marktkonformere Sozialprogramme, die sich dann durch Nachahmung in einem politischen Lernprozess verbreiten. Die Ersetzung der Sozialhilfe durch Programme zur Wiedereingliederung Bedürftiger in das Arbeitsleben, wie sie im Bundesstaat Wisconsin vorgenommen wurde, ist ein Beispiel. Hier ist nicht nur kaltes ökonomisches Denken am Werke. Es hat auch etwas mit Bürgernähe zu tun. Jeder Bürger hat ja bekanntlich „zwei Herzen in seiner Brust" — ein Herz als Steuerzahler und ein Herz als Empfanger staatlicher Wohltaten. Vom „tax payer" und „tax eater" sprechen die Amerikaner. Je weiter entfernter der Staat, desto eher glaubt der Bürger, dass es eine anonyme „Gesellschaft" ist, die da gute Gaben gibt, und nicht etwa konkrete Mitbürger, denen in die Tasche gegriffen wird. Der „tax eater" gewinnt Überhand. Je näher die Gemeinschaft ist, desto mehr werden die Transfers auch von deren Ethos oder Gemeinsinn definiert und begrenzt. Dies spräche vielleicht sogar für eine Kommunalisierung wesentlicher Transfersysteme. In jedem Fall wäre ein solcher Föderalismus auch identitätsstiftend und könnte so zur Stabilisierung der freiheitlichen Ordnung beitragen. Nur kurz erwähnen möchte ich, dass sich dieser Effekt auch durch andere konstitutionelle Rahmenbedingungen verstärken ließe. Plebiszitäre Elemente — etwa nach dem Muster der Schweiz — würden mit dem von mir dargestellten bürgernahen Modell des „Wettbewerbsföderalismus" durchaus in harmonischem Einklang stehen. Damit kommt man automatisch zu einer Frage, die in der bisherigen Reformdiskussion um den Föderalismus leider zu sehr an Gewicht gewonnen hat, weil sie das eigentliche Problem nicht erfasst. Ich meine die Frage der Neuordnung der Bundesländer. Lange Zeit haben auch Liberale die Neuordnung der Länder, mit dem Ziel möglichst wenige und große Einheiten herzustellen, als Voraussetzung aller anderen Föderalismusreformprojekte angesehen. Ich halte dies für falsch, weil so der — vielleicht sogar unnötige — zweite Schritt vor dem ersten gemacht wird. •
Erstens: Es ist im Sinne eines Wettbewerbs in der Politik prinzipiell nichts gegen viele kleine Einheiten zu sagen.
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Zweitens: Die Antwort auf die Frage, was sinnvollerweise als überlebensfahig angesehen werden kann, sollte nicht vorweggenommen, sondern erst durch den Wettbewerb festgestellt werden.
Wettbewerb ist, wie der liberale Wirtschaftsnobelpreisträger Friedrich August von Hayek einmal feststellte, ein Entdeckungsverfahren. Lassen wir doch erst den Wett-
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bewerb entdecken, was die „optimale Unternehmensgröße" eines Bundeslandes sei. Dies hat auch etwas mit konsequent subsidiär verstandener demokratischer Willensbildung zu tun. In einem konsequenten Wettbewerbsföderalismus sollten keine Neugliederungen von oben, aber auch keine Neugliederungen zu Lasten von Teil- und Untergliederungen stattfinden, die sich selbst noch als autonom begreifen. Wenn etwa die Bürger Bremens — um ein viel diskutiertes Beispiel zu nennen — bereit sind, für den Erhalt ihres Bundeslandes höhere Kosten auf sich zu nehmen, so sollten sie das auch tun dürfen — wobei nicht einmal bewiesen ist, ob dieses Land tatsächlich nicht in der Lage ist, sich selbst wirtschaftlich aus dem Sumpf zu ziehen. Deshalb finde ich auch, dass man in Baden-Württemberg nicht nur des 25. April 1952 gedenken sollte, sondern auch des 7. Juni 1970. Es war zweifellos ein kleiner Makel bei der Schaffung Baden-Württembergs, dass sich Südbaden zunächst nicht dem neuen Bundesland anschließen wollte, aber von den anderen Landesteilen majorisiert wurde. Die Ablehnung in Südbaden war immerhin so groß, dass es im gesamten alten Baden keine Mehrheit für den Südweststaat gegeben hätte. Die erst 1969 durch Bundesgesetz geschaffene Möglichkeit eines Volksentscheids tilgte dann diesen Schönheitsfehler glorios als ganze 81,9% der Bürger Badens — darunter auch die Mehrheit der Südbadener — für den Südweststaat stimmten. Man sollte dies bei zukünftigen Neugliederungsdiskussionen in Deutschland im Blick behalten und von vornherein in diesem Sinne verfahren. Das entspräche nicht nur dem Geist der Autonomie der kleinsten Einheit, die den badischen und württembergischen liberalen des 19. Jahrhunderts so sehr am Herzen lag. Es würde auch Wettbewerbsdynamiken ermöglichen, die das politische System nicht mehr zum Hemmschuh wirtschaftlicher Entwicklung, sondern zu einem Motor dieser Entwicklung macht. Wir sehen heute, dass diejenigen, die Zentralisierung als die Parole des Fortschritts ausgaben, falsch lagen. Es wird Zeit, dass wir uns wieder auf die Tugenden eines echten und unverfälschten Föderalismus besinnen. Der Jahrestag der Gründung Baden-Württembergs sollte gerade daran erinnern. Er sollte aber auch nicht der einzige Tag sein, an dem wir dies tun.
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Bürgernähe im reformfahigen Bundesstaat erfordert Entflechtung von Aufgaben, Haushalten und Steuern Vortrag bei der Kooperationsveranstaltung der Friedrich-NaumannStiftung und des Seminars für Politische Wissenschaft der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn „Föderalismus an der Wegscheide? Reformoptionen und Perspektiven des deutschen Föderalismus", Bonn, 29. November 2003 Es ist Bewegung in die erstarrten Fronten gekommen, die eine grundlegende Reform des deutschen Föderalismus bisher verhindert haben. Wenn nicht jetzt — wann soll eine Föderalismus-Reform überhaupt gelingen? Die Regierungskoalition heute macht bei allen im Bundesrat zustimmungspflichtigen Gesetzen zur Reform des Arbeitsmarktes und der Sozialsysteme die Erfahrung der Regierung, die sie 1998 abgelöst hat: Handlungsunfähigkeit. Das ist das Thema des 1. Föderalismus-Manifests der Friedrich-Naumann-Stiftung vom 4. Februar 1998, zugleich Ludwig Erhards 101. Geburtstag. Die Reform des deutschen Föderalismus ist die Mutter aller Reformen, die Deutschland braucht, um wieder ordnungspolitische Nr. 1 zu werden: Das heißt: Föderalismus-Reform für Deutschlands Reformfahigkeit. Es ist Deutschland, das heute am Scheideweg steht, wenn wir hier pars pro toto vom „Föderalismus an der Wegscheide" sprechen. Die Gefahr ist ernst, dass auch diese Chance für eine Reform vertan wird - wie zuletzt nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstäbegesetz und Finanzausgleich vom 11. November 1999. Denn zu dem „großen W u r f , den der Sachverständigenrat in seinem jüngsten Jahresgutachten fordert, taugt die gemeinsame Föderalismus-Kommission von Bundestag und Bundesrat auch nach einigen Nachbesserungen nicht. Ich sehe auch weit und breit den Herakles nicht, von dem Herr Berndt in seiner Begrüßung sprach: den Herakles, der an diesem Scheideweg, den Mut aufbringt, sich für den unbequemen Weg einer mutigen Reformoption zu entscheiden. „Föderalismus mutig reformieren". So überschreibt der Sachverständigenrat seinen V. Teil im 4. Kapitel. Vielleicht ist ja Peer Steinbrück, den wir um 14.00 Uhr erwarten, der gesuchte Herakles. Aber mir ist bei aller Wertschätzung wohler, wenn wir ohne einen Herakles auskommen. Ich will Schritt für Schritt begründen, was getan werden muss, damit trotz der Fehlkonstruktionen der gemeinsamen „Kommission zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" nicht nur ein kleinster gemeinsamer Nenner in neu entdeckter
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Langsamkeit herauskommt. Denn an Reformoptionen für einen bürgernahen und reformfahigen Bundesstaat mangelt es nicht. Und mehr Bürgernähe und Gestaltungsfähigkeit sind Perspektiven des deutschen Föderalismus, zu denen jeder Ja sagt. Aber der Mut zur Entscheidung für eine unbequeme Reformoption und ihre Umsetzung hat noch immer gefehlt. Das ist die deutsche Krankheit, die Roman Herzog seit seinem Amtsantritt als Bundespräsident 1994 zu überwinden versuchte. Allein die letzte Reform der Finanzverfassung hat 10 Jahre Vorbereitung gebraucht. Das war so viel Langsamkeit, wie das Ergebnis der neuen Finanz Verfassung schlecht war. Zumindest eins steht fest: So viel Zeit hat diese Kommission nicht. Genauer: Deutschland hat diese Zeit nicht. Den Deutschen wäre mit einem schon jetzt vorsorglich-ängstlich abgesenkten Anspruch an das Ergebnis nicht geholfen: In zwar kurzer Zeit, aber umso sicherer nur den kleinsten gemeinsamen Nenner schaffen. Das hieße, die falsche Lehre aus so mancher bis jetzt produzierten Enttäuschung zu ziehen. Dann sollte man besser die ganze Veranstaltung „Gemeinsame Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung" vergessen. Kann aber nach so lange verpassten Reformen der Mut zur Entscheidung für den unbequemen Reformweg von der gemeinsamen Föderalismus-Kommission erwartet werden? Ich befurchte Nein. Aber ich hoffe, dass die Kommission Erfolg bei dieser Reform für Reformfahigkeit im deutschen Bundesstaat haben wird: Trotz der Fehler, die schon gemacht sind. Denn so schnell kommt eine neue Chance für eine Föderalismus-Reform nicht, es sei denn, der Karren voller Reformpakete wird schnell vollends gegen die Wand gefahren. Und das kann niemand wollen. Was ist also zu tun, da wir die Kommission mit all ihren Fehlern nun einmal haben? Der Erfolg einer Arbeitsgruppe, die ein konkretes Reformkonzept zur Umsetzung im Parlament vorlegen soll, kann durch eine Reihe von Fehlern verhindert werden. Nicht alle Fehler sind zu reparieren oder voll zu kompensieren. Aber umso mehr brauchen wir lernfahige, nicht „beratungsresistente" Kommissionsmitglieder. Falsch können prinzipiell Ort und Zeit, Art und Zusammensetzung der Arbeitsgruppe und der Arbeitsauftrag sein. Der Ort sollte im Kommunikationszeitalter kaum eine Rolle spielen, es sei denn, man brauchte in der Not einen genius loci. Berlin steht nicht gerade für eine föderale Tradition wie die Frankfurter Paulskirche. Und dem Herrenchiemsee als Ort des Verfassungskonvents vom August 1948 hat am Ende der rechte föderale Genius für die Umsetzung in eine Regierungsvorlage gefehlt. Stattdessen kam aus diesem Gremium der Landesregierungen, das Konvent hieß, aber keiner war, ein unverbindliches Arbeitspapier heraus.
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Für den Geist, den Liberale wie Friedrich Schiller meinen, stehen seine Worte für den Rütli-Schwur am Vierwaldstädter See: „Wir wollen sein ein einig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr. Wir wollen frei sein, wie die Väter waren". Das ist der Geist freiwilliger Solidarität der einzelnen Bürger und der im Bundesstaat gebotenen Solidarität seiner Ebenen, der mit Wettbewerbsföderalismus sehr wohl vereinbar ist. Was kann die Kommission für endlich wieder reformfähige Landtage und gegen Blockade des Bundestages leisten, wenn ihr dieser Geist fehlen sollte? Ich hoffe, dass bei einem solchen Geist nicht auch noch das nötig sein wird, was Karl Popper „Übereinstimmung in der Gesinnung" nannte. Denn da sollten politische Gegensätze nicht geleugnet, sondern gerade in ihrer produktiven Kraft verstanden werden, die der offene und ehrliche Diskurs freisetzt. Wie Popper es formulierte: „Der Liberalismus setzt seine Hoffnung nicht auf eine Übereinstimmung der Gesinnung, sondern auf die gegenseitige Befruchtung und die daraus folgende Weiterentwicklung der Meinungen." Was wäre eine Nagelprobe auf den gemeinsamen Geist der Kommission? Wenn die Kommission das Bekenntnis zum Wettbewerbsföderalismus nicht wagt, dann gebe ich in ihrer Amtszeit einer Reform für Deutschlands Reformfähigkeit keine Chance: Die Kommission darf den Sirenengesängen vom angeblichen Gegensatz zwischen Wettbewerb, Subsidiarität und Solidarität nicht folgen. Die Reaktionen mancher Politiker auf das Herzog-Konzept zur Reform der sozialen Sicherung lassen da allerdings nichts Gutes erwarten. Für solche Politiker gibt es Solidarität nur als wohlfahrtsstaatlich organisierte Zwangssolidarität. Und diesem Geist folgte auch die Ängstlichkeit, mit der in den letzten Jahren der FöderalismusDiskussion so mancher kunstvolle Umschreibungen für den föderalen Wettbewerb um die bessere politische Lösung gefunden hat: Als wäre Wettbewerb ein garstig Wort und eben nicht in Wirklichkeit wie Subsidiarität unverzichtbare Grundlage auch für verlässliche bundesstaatliche Solidarität! Hier habe ich den Eindruck, dass sich in letzter Zeit das Bild von der sozialen Funktion des Wettbewerbs aufgehellt hat, zumindest in der Föderalismus-Diskussion. Ein anderer politischer Fehler, mit dem auch ein Konvent statt der Kommission hätte leben müssen, war der späte Zeitpunkt, zu dem die Kommission eingesetzt wurde: Wer die Zeit zum Handeln nicht wählt, wird immer die zu späte Zeit nehmen müssen, die aus der Handlungsnot diktiert wird. Ulrich Pfeiffer hatte seiner SPD, der „Partei der Zeitreichen und Immobilen", im Wahlkampf 1998 den Mut zur notwendigen Föderalismus-Reform nicht zugetraut. Bisher hat er recht gehabt. Schlimmer: Die Tragikkomödie der politischen „Umset-
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zung" der Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung zum Maßstäbegesetz und Finanzausgleich hat noch einmal daran erinnert: Auch in der Union haben die „Zeitreichen und Immobilen" über den Bundesrat mehr als ein Scherflein zur Erstarrung im Bundesstaat beigetragen. Die fünf verlorenen Jahre können nicht mehr zurückgeholt werden. Also bleibt nur die Chance, dass den Politikern in der Kommission aus Bundestag und Bundesrat die doppelte Verblüffung gelingt. Die erste Verblüffung: Die mit Stimmrecht in der Kommission privilegierten Politiker müssten über den langen Schatten ihres Eigeninteresses an Machtgewinn und Machterhalt springen, wie ihn Professor von Arnim sieht: „Auch die politischen Akteure, die den Staat beherrschen, haben ein starkes gemeinsames Interesse daran, den politischen Wettbewerb außer Funktion zu setzen." Darum habe ich davor gewarnt, die Föderalismus-Kommission nur mit Politikern zu besetzen. Die Föderalismus-Kommission der Friedrich-Naumann-Stiftung hätte in ihrer fünfjährigen Arbeit kaum etwas zustande gebracht, wenn wir sie mit Insidern, mit aktiven Politikern, besetzt hätten. Ohne — ich nenne nur ein paar Namen — Paul Kirchhof, Wernhard Möschel, Carl Christian von Weizsäcker, Charles Beat Blankart — wären wir nicht weit gekommen. Ein Föderalismus-Konvent hätte aus Bürgern, vornehmlich Wissenschaftlern des Staats- und Verwaltungsrechts und der Ökonomie, zusammengesetzt sein müssen, die von Fragen des Machterhalts unabhängig sind. Selbstverständlich müsste der Präsident des Bundesverfassungsgerichts dabei sein, Ein solcher FöderalismusKonvent wäre ein besseres Entscheidungsgremium für ein Reformkonzept aus einem ordnungspolitischen Guss. Sein Reformkonzept hätte dem Parlament als ein „Alles oder nichts" zur Umsetzung in ein geändertes Grundgesetz oder zur Ablehnung vorgelegt werden können. Umso mehr fühle ich mich durch den Nobelpreisträger James Buchanan bestätigt. Er sagte vor zwei Wochen in einem Interview: „Eine Kommission, wie sie in Deutschland zur Reform des Föderalismus eingesetzt ist und die nur aus ,Insidern' besteht, bringt nichts. Das gilt auch auf europäischer Ebene, zum Beispiel für den EU-Konvent, der den Verfassungsentwurf für die Europäische Union erarbeitet hat. Es wäre wohl besser gewesen, er wäre nie eingerichtet worden." Der EU-Konvent hat seine Arbeit abgeschlossen. Und in Deutschland will die Mehrheit des Bundestages den Bürger nicht einmal danach in einem Referendum zu Wort kommen lassen. Bei der Föderalismus-Kommission hat nach langen Vorbereitungen die Arbeit erst begonnen. Und da sollte es für die Kommission immerhin reizvoll sein, so einen Nobelpreisträger feinster ordnungspolitischer Tradition des Liberalismus zu widerlegen.
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Dann müsste den mit Stimmrecht zu einer klaren Entscheidung verpflichteten Mitgliedern der Kommission allerdings die zweite Verblüffung gelingen: Die sollte leichter fallen. Denn da müssten sie nur über einen Schatten springen, in den sie der meist so interpretierte Einsetzungsauftrag an die Kommission stellt: Die Entflechtung bei den Einnahmen solle ausgeklammert bleiben. Hier bin ich besonders gespannt, was das letzte Wort sein wird: Nicht in irgendeiner unverbindlichen Form, sondern als Entscheidung der Kommission, wie sie ihrem Einsetzungsauftrag gerecht werden will. Denn das ist die zweite Nagelprobe: Ist die Kommission bereit, auch die Frage der Steuerhoheit, der Gesetzgebungskompetenz von Landtagen und Bundestag in der Steuerpolitik, mit einer klaren Entscheidung zu beantworten: im Sinne des von allen bejahten Auftrags, Kompetenzen und Verantwortung zu entflechten? Weder das Ziel „bürgernahe Demokratie" noch das Ziel „reformfahiger Bundesstaat" kann erreicht werden, wenn nicht Transparenz bei der politischen Kompetenz und Verantwortung für die Aufgaben erreicht werden. Wie soll Demokratie transparent und bürgernah werden, wenn für den Wähler unklar bleibt: •
Wer erfüllt seine Aufgaben mit besseren oder schlechteren Lösungen?
•
Wer kommt für eine leistungsfähige Infrastruktur in seinem Bundesland und in seiner Gemeinde mit weniger Ausgaben zurecht?
•
Und was hat der Bürger dafür dort an Steuern zu zahlen, wo die Aufgabe gut oder weniger gut gelöst wurde?
Wenn die Haushalte nicht entflochten werden, wenn die Landtage keine Gesetzgebungskompetenz in der Steuerpolitik haben, die Gemeinden keine autonomen Hebesätze, dann kann der Bürger weiterhin nicht wissen, wer wofür verantwortlich ist. Dies alles steckt zum Beispiel hinter Mancur Olson's oder Buchanan's „fiskalischer Äquivalenz". Das verlangt nun wirklich nicht zuviel „vernetztes Denken". Aber „vemetztes Denken" wird heute eben nur umso häufiger gefordert, je mehr Denken in ordnungspolitischen Zusammenhängen verloren geht. Es gibt natürlich auch einen ganz einfachen Grund für politische Scheu, das Thema „Entflechtung bei den Einnahmen" anzugehen. Das führt wieder zur Frage zurück, wie es die Kommission mit dem Wettbewerbsföderalismus hält, gerade bei den Steuern. Für Frau Justizministerin Zypries ist das ein „heikles Thema" für den Bund: „Wenn die Länder in einen Wettbewerb hinsichtlich der geringsten Steuer eintreten, gibt es für den Bund ein Problem: Er steht für die Defizite der Länder ein." Und von der Seite der naturgewollt und unabänderlich „finanzschwachen Länder" kann Ministerpräsident Ringstorff seine Formulierung direkt der Globalisierungsdiskussion ent-
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lehnen: „Im Wettbewerb um die niedrigsten Steuern würde die Kluft zwischen armen und reichen Ländern noch tiefer werden." Da stört nicht nur die übliche Verwechslung von niedrigen Steuersätzen und niedrigen Steuereinnahmen, weil Unklarheiten beim Swiftschen Steuer-Einmaleins belasten. Da wird dem Bürger eines entwickelten Deutschland auch nicht zugetraut, dass er bewerten kann, ob er als Gegenleistung für seine Steuern von der verantwortlichen Ebene auch gute Schulen und die übrige Infrastruktur für gutbezahlte Arbeitsplätze erhält. Die gemeinsame Föderalismus-Kommission von Bundestag und Bundesrat sollte schließlich auch einer Frage nicht ausweichen, die der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Professor Hans-Jürgen Papier, in der FAZ vom 27. November aufgeworfen hat: Welche Art von Zweiter Kammer passt zu einem reformfähigen Bundesstaat? Sollte der Bundesrat durch eine echte Zweite Kammer im Sinne einer Senatslösung ersetzt werden? Schon Theodor Heuss hatte seinerzeit im Parlamentarischen Rat einen Senat als Zweite Kammer vorgeschlagen. Professor Papier trägt für eine Senatslösung starke Argumente vor, die ernst genommen werden müssen. Damit sollte sich die gemeinsame Kommission auseinandersetzen. Die FriedrichNaumann-Stiftung hat auch diese Frage einer neuen Rolle des Bundesrats in ihrer Föderalismus-Kommission diskutiert, und wir werden sie weiter diskutieren müssen. Herr Berndt hat schon einen Überblick gegeben, mit welchem Konzept die Friedrich-Naumann-Stiftung die Demokratie bürgernäher und den Bundesstaat reformfahig machen will. Im Gegensatz zur aktuellen Diskussion beginnt die FöderalismusKommission der Friedrich-Naumann-Stiftung nicht erst mit der Entflechtung der Aufgaben von staatlichen Ebenen. Wir beginnen beim Bürger, beim Vorrang des Privaten. Wer erst einmal Aufgaben in die Freiheit und Verantwortung der Bürger zurückgibt, der lädt sich zugleich eine Fülle von im Detail komplizierten Entflechtungsfragen vom Hals. Und selbstverständlich kommt nach dem einzelnen Bürger, der Familie und den freiwilligen Verantwortungsgemeinschaften einer Bürgergesellschaft erst einmal die Gemeinde. Erst wenn dort eine Aufgabe nicht gelöst werden kann, kommen nach demselben Prinzip die anderen Ebenen dran, bis hin zur EU, nicht etwa schon, wenn sie es meint „besser" zu können. Für die Entflechtung der Zuständigkeiten auf den Ebenen des Bundesstaates lässt unser Konzept eine klare Entscheidung der Föderalismus-Kommission bis Ende 2004 zu. Denn bei der Aufgabenentflechtung sind wir dicht an der einfachstmöglichen Lösung: •
Das geänderte Grundgesetz führt nur die unverzichtbaren Aufgaben des Bundes auf.
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Die konkurrierende Gesetzgebung wird gestrichen.
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Gemeinden und Länder sind bei Gesetzgebungskompeten2 der Länder für alle anderen Aufgaben nach dem Subsidiaritätsprinzip zuständig.
Das würde zugleich das Grundgesetz „europatauglicher" machen. Denn aus welchem Glashaus wollte Deutschland beim heutigen Zustand seines Föderalismus Steine werfen bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip im EU-Verfassungsentwurf? Hier verkürzt sich die Diskussion um „Europatauglichkeit" zu stark auf die Frage der schnelleren Umsetzung in deutsches Recht. Beim steuerlichen Trennsystem zur Entflechtung von Einnahme-Verantwortung wirkt unser Konzept auf den ersten Blick allerdings recht sperrig für eine zügige Entscheidung der Kommission: Wir wollen ein recht striktes Trennsystem mit Gesetzgebungs- und Ertragshoheit der Länder bei den Einkommensteuern. Bundeseinheitlich soll der Bundesgesetzgeber die Bemessungsgrundlage festlegen. Die Gemeinden sollen autonom ihre Hebesätze anwenden können. Das stärkt die Landtage und Gemeinden. Der Bundestag soll als Gesetzgeber gestärkt werden. Dafür wollen wir die zustimmungspflichtigen Gesetze drastisch über das hinaus reduzieren, was allein schon eine konsequente Entflechtung von Aufgaben, Ausgaben und Einnahmen bringen wird. Das alles wird bei so vielen Teufeln im Detail nicht einfach sein, das wissen auch wir. Aber warum sollte man nicht mit der Schweizer Variante eines Trennsystems anfangen? Da hätten wir zumindest einen reichen Schweizer Schatz von Erfahrungen mit Versuch und Irrtum bei bürgernaher Transparenz von politischer Verantwortung. Und — was nicht unwichtig ist: Die Schweiz ist immer ein gutes Beispiel gegen die im Wohlfahrtsstaat verwöhnten Meckerer und Nörgler an allem, was unvollkommene Menschen unvollkommen zustande bringen.
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Zeit, neu nachzudenken... Das Scheitern des „Verfassungsgipfels" der EU eröffnet auch Chancen Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 1/2004 Als am 13. Dezember der EU-Gipfel, der die Annahme der „Verfassung Europas" zum Ziel hatte, am Widerstand Polens und Spaniens scheiterte, war Katastrophenlyrik angesagt. Von „historischen Chancen, die vertan wurden", war die Rede, ja der gesamte europäische Einigungsprozess sei nun bedroht. Katastrophenstimmung ist selten ein guter Ratgeber. Es ist Zeit, die Debatte wieder auf ein sachliches Niveau zu bringen. Unterm Strich war das Scheitern des Gipfels vielleicht sogar ein heilsamer Schock, der zum neuen Nachdenken anregen könnte über die Art wie seit einiger Zeit die Europapolitik betrieben wird. Zu den wenigen engagierten Europapolitikern, die sich zu einer nüchternen Bestandsaufnahme haben aufraffen können, gehört „Erweiterungskommissar" Günter Verheugen. Er meinte kürzlich, dass es sowieso ein Fehler gewesen sei, die Verfassungsdiskussion im Eilverfahren durchzupeitschen, und außerdem sei die EU auch mit den alten Regeln fähig, unter den Bedingungen der neuen Erweiterung noch eine Weile recht gut zu funktionieren. Gut gesagt — jedenfalls ist es besser als Angela Merkels Diktum, dass man nun „mit Macht" (also nicht mit Argumenten!) die Sache unverändert durchziehen müsse.
Die EU muss debattierfreudiger werden Damit bietet sich, so meine ich, die Gelegenheit, nachzuholen, was bisher versäumt wurde: eine echte und breit angelegte politische Debatte. So etwas tut in der EU schon lange not. Fast jedes politische Großprojekt auf europäischer Ebene, das in den letzten Jahren lanciert wurde, litt darunter, dass die Debatte weitgehend tabuisiert wurde. Fast ist man geneigt, so etwas wie Demokratiefurcht in einem Gebilde wahrzunehmen, das eigentlich dringend der Demokratisierung bedürfte. Wichtige europapolitische Grundfragen, sollen, so der Eindruck, grundsätzlich aus Wahlkämpfen und öffentlichen Diskussionen herausgehalten werden, fast immer ist der überparteiliche Konsens die strikt einzuhaltende Parole. Stets werden diejenigen, die sich nicht an den vorgelieferten Konsens halten möchten, als generelle Gefährdung Europas an sich ausgegrenzt. Hinter vielem, was „aus Brüssel" kommt, scheint so etwas wie die Grundannahme zu stecken, wenn man irgendetwas dem freien Spiel „da draußen" überließe, wo die
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Anti-Europa-Agitatoren das Heft fest in der Hand hätten, dann bräche der Vandalensturm aus und Europa zusammen. Indes, die Gefahr besteht nicht. Die EU ist fest in den Herzen der Bürger verankert. Die Bürger können sich eine Welt ohne EU wahrscheinlich gar nicht mehr vorstellen. Die meisten sind in ihr groß geworden und nehmen sie schlichtweg als eine Selbstverständlichkeit wahr. Europa muss nicht vor seinen Bürgern geschützt werden. Eher sind die selbsternannten Beschützer die Gefahr, denn Umfragen zeigen, dass es wohl gerade die Tabuisierungen von Debatten sind, die den Bürger zunehmend misstrauisch machen. Die EU muss also im eigenen Interesse debattierfreudiger werden.
Für Liberale gibt es keine Konsenspolitik als Selbstzweck Gerade bei Liberalen mutet es seltsam an, dass sie auch Teil dieses Problems sein könnten. Die liberalen - in der Vergangenheit von hervorragenden Außenministern repräsentiert — können gar nicht im Verdacht stehen, das europäische Einigungsprojekt und seine großen Errungenschaften zerstören zu wollen. Gerade sie sollten daher entspannt die offene Diskussion pflegen können. Zur allgemeinen Überraschung geschah dies aber gerade bei der Diskussion über den von Giscard d'Estaing vorgelegten Konventsentwurf zum Verfassungsvertrag im Vorfeld des EU-Gipfel nicht oder nur hinter vorgehaltener Hand. Das fest verankerte Verhaltensmuster der sofortigen Einreihung in den allgemeinen Konsens brach sich ohne große Debatte in einer Soforterklärung der FDP-Bundestagsfraktion Bahn, dass man den Entwurf einhellig unterstütze und bloß nicht aufbrechen dürfte. Es scheint, dass auch für die liberalen bei der Europapolitik irgendwie andere Gesetze gelten als in anderen Bereichen. Keine Partei hat so sehr die stickige Enge der Konsenspolitik in unserem Lande beklagt, wenn sie zulasten von Freiheit, Dezentralisierung und Flexibilität ging, wie die FDP. Bei der EU-Verfassungsdiskussion hingegen ordnete sie sich spontan diesem Konsens unter. In den Zeiten, da die FDP noch den Außenminister stellte, mag so etwas noch in parteitaktischer Hinsicht rational begründbar gewesen sein, weil man so außenpolitische Erfolge für die eigene Partei reklamieren konnte. Sich jetzt aber hinter die Bundesregierung und Außenminister Fischer zu stellen, ist nicht einmal parteitaktisch richtig, geschweige denn sachlich geboten. Ein Beispiel: Schon unmittelbar nach der Veröffentlichung des Konventsentwurfs machten Experten (unter anderem auch aus der parteinahen Friedrich-NaumannStiftung) darauf aufmerksam, dass im Entwurf die Geldwertstabilität als Ziel nicht genügend verankert sei. Die FDP, die die eigentliche Hüterin der Geldwertstabilität sein müsste, reagierte darauf allenfalls verhalten. Erst als die Bundesbank ihre tiefe
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Besorgnis ausdrückte und die Außenminister der EU eine Neuformulierung als notwendig erachteten, hörte man stärkere Töne aus der FDP. Hier hätten Liberale ein Thema besetzen können! Stattdessen warteten sie ab, bis sich ein Konsens neu bildete, in den man sich dann wieder einordnen konnte. Vertane Chancen, schlechte Politik: Die FDP muss endlich lernen, dass auch in „Europa" Konsenspolitik nicht angesagt sein sollte.
Gerade Verfassungen brauchen Debatten Dass der Verfassungsvertragsentwurf der bestmögliche Kompromiss sei, gehörte zu den Standardargumenten, mit denen man ein „Aufschnüren" (die Schlechtmachung des Begriffs „ernsthaft debattieren") verhindern wollte. Nun geht es bei Verfassungen nicht um Kompromisse. Es geht darum - und gerade Liberale sollten dies wissen! —, dass politische Macht klar definiert und begrenzt wird. Da ist Eindeutigkeit und eben nicht „von jedem etwas" gefragt. Es ist deshalb ganz besonders wichtig, den Finger auf Schwachstellen zu legen. Der beste Weg dazu ist die tabufrei geführte öffentliche Debatte. Sie hätte zugleich die Schwäche des bisherigen Diskussionsverlaufs korrigieren können. Schließlich war der Konvent im Wesentlichen mit Personen aus der EU-Institutionenwelt selbst besetzt, also mit Personen, die an der Begrenzung der eigenen Macht nur begrenztes Interesse hatten. Das alleine hätte schon die Kritik der liberalen hervorrufen müssen, weil es klassisch liberalen Verfassungsprinzipien widerspricht. Die frische Luft, die dem Verfassungspaket durch aufschnüren zugeführt worden wäre, hätte da vielleicht gut getan. Viel war während der Konventsdiskussionen von Analogien zur amerikanischen Verfassungsversammlung in Philadelphia 1787 die Rede. Schon hier hatte man wohl ein wenig hoch gegriffen, fand man doch im Konvent kaum Mitglieder vom Schlage eines George Washington, Benjamin Franklin oder James Madison. Und selbst mit solch einer Besetzung wäre man immer noch nicht vor Fehlern gefeit. War nicht die unklare Position der US-Verfassungsväter zu den Themen Sklaverei und Einzelstaatsrechten die Ursache des blutigen Bürgerkriegs von 1861—1865? Auch hier zeigt sich, dass Kompromisshudelei in Verfassungsfragen zu grauenvollen Konsequenzen führen kann. Aber die Analogie zu den amerikanischen Verfassungsvätern ist immerhin insofern lehrreich, als diese doch so weise waren, gerade das „Aufschnüren" nicht verhindern zu wollen. Im Gegenteil: Es tobte in den einzelnen Staaten eine zweijährige heftige Ratifizierungsdebatte, in deren Verlauf einige der großartigsten Werke der liberalen Verfassungsliteratur entstanden. Es gelang den Verfassungskritikern wie etwa Patrick
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Henry und George Mason nicht nur das „Aufschnüren", sondern auch die Einfügung wichtigster Verbesserungen, darunter die Formulierung der Grundrechte in der „Bill of Rights". Was damals nutzte, wird sich auch heute als richtig erweisen. Insofern ist die FDPForderung nach einer Volksabstimmung über die Verfassung prinzipiell richtig. Ihre Wirkung kann sie allerdings nur entfalten, wenn es Zeit- und Gestaltungsräume gibt. Es kann nicht (so der Eindruck, der bisher erweckt wurde) nur um ein bloßes Absegnen gehen. Um die Herzen der Bürger für die Verfassung zu gewinnen, darf man nicht nur abstimmen, sondern muss auch bürgergerecht gestalten. Der mangelnde Enthusiasmus des Bürgers zum Verfassungsentwurf wird allenthalben beklagt, kann aber nicht ausschließlich durch eine Volksabstimmung beseitigt werden. Was für einen Enthusiasmus soll eigentlich ein Entwurf erwecken, der auf über 230 Seiten mehr oder minder alle bisherigen Vertragsregeln irgendwie neu ordnet und ergänzt, und von dem allenfalls der erste Teil einer Verfassung überhaupt ähnlich sieht? Wer da Enthusiasmus reklamiert, der lebt bereits im Raumschiff der hohen Politik, das längst außer Sichtweite des Bürgers im lufdeeren Raum schwerelos umherschwebt. Eine solche Verfassung kann ihre Kernfunktion — die Machtbegrenzung — nicht wahrnehmen. Ein echter öffentlicher Diskussionsprozess würde schon schnell diese Grundschwäche bloßlegen und eine grundlegende Verbesserung ermöglichen. Dann erst macht eine Volksabstimmung Sinn. Man muss den Konventsmitgliedern an dieser Stelle schließlich lobend danken, dass sie (im Gegensatz zu den Politikern in unserem Lande) ihr Werk auch gar nicht „Verfassung" getauft haben. Angemessen und bescheiden ist von einem „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa" die Rede. Angesichts der Herausforderungen der EU in der näheren Zukunft wäre es auch vermessen, dem jetzigen Stand der Diskussion auch nur den Anschein der Finalität zu geben, den man mit einem echten modernen Verfassungsbegriff zwangsweise assoziieren muss. Es handelt sich zweifellos um einen Meilenstein im Verfassungsprozess der EU. Diesem Prozess wurde nun Richtung verliehen. Er wird aber noch auf absehbare Zeit eine hohe Dynamik, wenn nicht gar Volatilität, aufweisen.
Gut, könnte aber besser werden Insofern ist es also ein Segen, dass nun für die Debatte wieder neue Zeit zur Verfügung steht. Sie sollte samt den sich daraus ergebenden Chancen genutzt werden. Das übliche Verfahren, die Sache ohne Veränderungen so lange durchziehen zu wollen, bis schließlich die Annahme erfolgt, wäre falsch und ist hoffentlich — Polen sei Dank! — per se zum Scheitern verurteilt.
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Die guten und schlechten Seiten des Vertragsentwurfs sollten noch einmal genau ausgelotet werden. Gute Seiten lassen sich dem Ganzen in der Tat abgewinnen. Zunächst einmal ist es ja generell gut, dass die konstitutionelle Dimension des europäischen Einigungsprozesses nun in den verdienten Mittelpunkt gerückt ist. Das ist schon an sich verdienstvoll. Es ist auch zu goutieren, dass eine klarere Abgrenzung und Verteilung der Kompetenzen zwischen EU und Mitgliedsländern versucht wurde. Das Austrittsrecht für Mitgliedsländer wurde verankert, was langfristig vielleicht die wirksamste Waffe gegen Überzentralisierung sein könnte. Die nationalen Parlamente haben stärkere Verteidigungs- und Klagerechte gegen zentralistische Übergriffe bekommen. Alles in allem: Nicht schlecht. Aber man darf die Augen nicht vor den Problemen verschließen. Es fängt schon bei den Grundwerten an. Hier hatte es schon mit der Grundrechtscharta von Nizza für Liberale durchaus Probleme gegeben. Zu viele positive Anspruchsrechte konnten hier bereits sowohl gegen den Vorrang der Freiheit angeführt als auch zur Aneignung von Kompetenzen durch die EU genutzt werden, wo dies eigentlich vorgesehen war. Im Vertragsentwurf wird diese Tendenz verstärkt, was somit die EU immer weiter von den Intentionen der „Römischen Verträge" von 1957 wegführt, in deren Mittelpunkt noch die Freiheiten der Bürger standen. Liberale müssen bei der Diskussion peinlichst darauf achten, dass Artikel 2 „Die Werte der Union" so geändert wird, dass wieder die Freiheit vor der Gleichheit steht. Auch muss ganz eindeutig das Subsidiaritätsprinzip im Verfassungsentwurf stärker verankert werden. Dazu muss in Artikel 9 der Verfassung festgelegt werden, dass in Bereichen mit geteilter Zuständigkeit die Union nur dann zuständig ist, wenn nur sie die angestrebten Ziele erreichen kann. Das Subsidiaritätsprinzip muss auch in Artikeln 11 (Arten der Zuständigkeit), 13 (Bereiche mit geteilter Zuständigkeit), 14 (Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik), 16 (Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen) und 17 (Flexibilitätsklausel) unmissverständlich verankert werden. Die Geldwertstabilität ist ein Kernanliegen liberaler Politik. Deshalb muss in Artikel 3: „Die Ziele der Union" die Geldwertstabilität als Ziel der Europäischen Union ergänzt werden. Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank und der nationalen Zentralbanken muss verlässlich gesichert werden und dürfe nicht durch die in Art. 18 festgelegte Verpflichtung zur loyalen Zusammenarbeit der Organe der Union verwässert werden. Dass der Vertragsentwurf hier Aufweichungen gegenüber früheren Abmachungen beinhaltet, ist ein Skandal. Last, not least: Der Entwurf sieht vor, dass unter Umständen eine eigene Steuer für die EU eingeführt werden kann. Die Faustregel gilt: Eine Steuer, die man einführen kann, wird auch irgendwann eingeführt — selbst wenn die Hindernisse, die einer
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Einführung im Wege stehen noch hoch sind (waren sie das nicht auch beim Stabilitätspakt?). Dies kann nur in höheren Belastungen für den Bürger und einer Aushöhlung des Subsidiaritätsprinzips münden! Dass hier kein hörbarer Aufschrei aus den Reihen der Steuersenkungspartei FDP zu vernehmen war, gehört zu den Rätseln der letzten Wochen. Selbstverständlich müssen Liberale dafür kämpfen, dass eine solche Steuer per se konstitutionell ausgeschlossen wird!
Gutes aus schlechten Gründen? Es gibt also gute Gründe eine echte Verfassungsdiskussion zu führen. Dass der EUGipfel ausschließlich an der Frage der quantitativen Machtverhältnisse (Pöstchenschacher) scheiterte, zeigt, dass bei den politischen Eliten, die heute in der EU das Sagen haben, das konstitutionelle Denken gewisse Merkmale der Verwahrlosung aufzeigt. Der Forderung der „Blockierer" Spanien und Polen nach einem EU-Kommissar für jedes Land ist im Lichte der bevorstehenden Erweiterung sicherlich problematisch. Hier dürfte man nur Zugeständnisse machen, wenn absolut sichergestellt ist, dass hier keine Bürokratien geschafft werden, die sich dann selbst neue Tätigkeitsfelder schaffen. Die Quantifizierung der Stimmengewichte in der EU ist eine andere Frage. Man muss schließlich sehen, dass in einer liberalen Demokratie das Majoritätsprinzip nie ungebremst zur Wirkung kommen darf und Minderheitenschutz garantiert sein muss. Dass viele kleine Länder zu Recht Befürchtungen über die nun verstärkt mögliche Ubermacht des französisch-deutschen Kartells hegen, ist sachlich begründet. Das skandalöse Aushebeln des Stabilitätspaktes durch Deutschland und Frankreich zeigt dies. Nicht nur bei den Beitrittsländern hört man vermehrt Klagen über die Arroganz der „Großen". Ihr sollte man nicht institutionell Vorschub leisten. Hier muss es möglich sein, Einigungen auf dem Boden klarer Verfassungsprinzipien zu erzielen. Vielleicht ein wenig utopisch wäre etwa ein bi-kamerales Parlament wie in den USA, wo eine Kammer das Mehrheitsprinzip und die andere den gleichen Minderheitsschutz vertritt. Aber es sind ja auch andere Möglichkeiten denkbar. Keine Frage: Weder die polnische noch die spanische Regierung haben im Namen hehrer Verfassungsprinzipien getan, was sie getan haben. Aber vielleicht haben sie aus schlechten Gründen Gutes getan. Sie haben uns nämlich Zeit zum Nachdenken gegeben. Das noch lange nicht vollendete Werk der europäischen Verfassungsgebung verdient ein solch langes Nachdenken.
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Die föderale Finanzverfassung für einen bürgernahen, handlungsfähigen und innovativen Bundesstaat Vortrag bei der Veranstaltung der Stiftungsallianz Bürgernaher Bundesstaat „Verantwortung ernst nehmen - föderale Finanzverfassung, Bildung und Forschung" im Landtag von SachsenAnhalt, Magdeburg, 23. September 2004 Ich habe allen Grund, dem Herrn Landtagspräsidenten zu danken: Nicht nur, dass er uns hier als Gastgeber in den Landtag von Sachsen-Anhalt eingeladen hat. Professor Spotka hat in seiner Begrüßung auch klar zur Sache gesprochen, die uns heute zusammenfuhrt. Und Ihr Landtagspräsident hat sich nicht zuletzt dafür stark gemacht, dass der Geist der Lübecker Erklärung der deutschen Landesparlamente in der Bundesstaatskommission nicht völlig untergeht. Von diesem Geist zeugt z.B. der Vorschlag der Landtagspräsidenten vom April 2004, die Landtage auf einem der wichtigsten Innovationsfelder zu stärken: Durch Verlagerung von Gesetzgebungskompetenz zu den Ländern, z.B. für die Förderung der wissenschaftlichen Forschung. Also: Weniger konkurrierende Gesetzgebung des Bundes. Was wird am Ende dabei in der Bundesstaatskommission herauskommen? Ich bin da skeptisch. Und das ist noch vorsichtig formuliert. Denn wie weit kann man für klare Zuständigkeit bei den Aufgaben denn kommen, wenn die Kompetenz der Länder nicht auch bei den Einnahmen gestärkt wird: bei den Steuern? Das ist die Kernfrage bei der Reform der föderalen Finanzverfassung, die wir hier diskutieren. Der Tausch von Länderhoheit und Bundeshoheit bei der KFZ- und der Versicherungssteuer, der heute verhandelt wird, kann ja wohl nicht die ganze Antwort sein, die zum bürgernahen, handlungsfähigen und innovationsstarken Bundesstaat führt. Ein solcher Tausch wäre immerhin ein Beitrag zur Steuervereinfachung. Selbst darüber hängt aber als Damokles-Schwert das wohlbekannte Wort, das auch die Föderalismusreform begleitet: „Es ist klar, dass es keine Verlierer geben d a r f . Als Aufruf von Schleswig-Holsteins Finanzminister Stegner zur Fairness ist das in Ordnung, aber eben auch allzu bekannt als Anfang vom Ende jeden Reformversuchs. Selbst die Übertragung der Steuerhoheit an die Länder für alle Steuern, bei denen sie bereits die Ertragshoheit haben, bringt jedenfalls nicht die föderale Finanzverfassung, die zu den Zielen eines bürgernahen Bundesstaats passt:
Die föderale Finanzverfassung 269
1.
Das Ziel, mehr bürgernahe Demokratie wagen, erreichen wir nur,
•
wenn die politische Verantwortung auch bei den Steuern so klar ist, wie sie bei den Aufgaben und Ausgaben durch Entflechtung transparent werden muss,
•
wenn auch die Landtage gestärkt werden.
2. Das Ziel eines innovativen Bundesstaats und einer „lernenden Gesellschaft", wie sie Carl Christian von Weizsäcker umreißt, erreichen wir nur, •
wenn Wettbewerb als Entdeckungsverfahren beim Ringen um die bessere politische Lösung akzeptiert wird,
•
wenn „lernende Landtage" mit mehr eigenständiger, wichtiger Gesetzgebung befasst werden, z.B. mit Steuergesetzen.
3. Das Ziel eines handlungsfähigen Bundesstaats erreichen wir dann, •
wenn die Bundesregierung durch Aufgabenentflechtung mit weniger zustimmungspflichtigen Gesetzen handlungsfähiger wird,
•
wenn der Bundesstaat aber auch durch seine Bundesländer handlungsfähiger wird: Gestärkt in eigenen Zuständigkeiten und Verantwortungen gemäß Subsidiarität.
Diese Ziele hängen aufs Engste miteinander zusammen. Auch die beiden letzten Landtagswahlen haben das unterstrichen: Wo es schlecht bestellt ist mit der Handlungsfähigkeit des Bundesstaats, da bröckelt auch die Zustimmung zur Demokratie als bestes politisches System. Wo politische Verantwortungen für die Bürger undurchschaubar sind, da sinkt das Vertrauen in demokratische Entscheidungsprozesse. Wo die Innovationskraft des Bundesstaats nicht durch Wettbewerb um die besser politische Lösung gestärkt wird, da werden gutbezahlte Arbeitsplätze und Wohlstand als Grundlagen aller sozialen Sicherung und Solidarität gefährdet. Der notwendige Verfassungsrahmen für die drei genanten Ziele kann durch noch so gute Arbeit der Bundesstaatskommission in ihrer Amtsperiode nicht mehr geleistet werden. Das konnte bei einer solchen Zusammensetzung der Kommission im Zeitrahmen des Einsetzungsbeschlusses auch nicht erwartet werden. Es war von Anfang an jedem klar, dass die Neuordnung von Kompetenzen selbstverständlich auch eine Machtfrage ist. Ein Beispiel nur: Wenn die Stärkung der Landtage und das Zurückdrängen des Exekutivföderalismus Ziel der Föderalismusreform ist, dann wird man bei Schwierigkeiten in der Entflechtung von Kompetenzen kaum erwarten können, dass sich die Landesregierungen für dieses Ziel zerreißen. Die mit Stimmrecht in der Kommission privilegierten Politiker müssten über den langen Schatten ihres Eigeninteresses an Machtgewinn und Machterhalt springen. Unter diesen Bedingungen wäre schon viel erreicht, wenn die Vorschläge der Bundesstaatskommission noch dieses Jahr die Voraussetzungen dafür schaffen, dass wir
270 Föderalismus in Deutschland und Europa
im nächsten Jahr zumindest bei der Handlungsfähigkeit der Bundesregierung durch weniger zustimmungspflichtige Gesetze einen merklichen Schritt weiter kommen. Ich warne da aber vor neuen Täuschungen und umso größeren Enttäuschungen danach, wenn es irgendwie gelänge die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze zu verringern. Mit dem inzwischen von Allen zitierten Anteil von 60% solcher Gesetze ist dafür ja die Erfolgskulisse schon aufgebaut. Das darf aber eben nicht darüber hinwegtäuschen, dass nicht so sehr die große Menge solcher Gesetzesmaterien zählt, sondern der harte Kern von relativ wenigen blockadeträchtigen Gesetzen. Bei solchen Gesetzen geht es immer wieder um Steuern. Und wenn es um Steuern geht, geht es immer auch um das deutsche Transfersystem, egal wie schlecht Steuer- und Transfersystem heute miteinander verzahnt sind. Das bekam die alte Bundesregierung vor allem durch Oskar Lafontaine zu spüren. Das bekommt die amtierende Bundesregierung zu spüren. Das Thema der transparenten politischen Verantwortung bei den Einnahmen und größerer Steuer-Autonomie der Länder lässt sich also nicht einmal beiseite schieben, wenn es um das arg verengte Reformziel größerer Reformfahigkeit der Bundesregierung geht. Nur in dieser verengten Form der Blockade-Diskussion seit 1997 und des Kuhhandels als schäbigem Ausweg aus maximaler Blockade hat ja leider die Föderalismusreform breiteres Interesse gewonnen. Das war neben der Fehlkonstruktion der Bundesstaatskommission der andere schlechte Stern, unter dem die Föderalismusreform steht. Es muss eben um alle drei genannten Ziele gehen, deren ordnungspolitischen Zusammenhang ich oben verdeutlicht habe. Die nächste Gelegenheit für eine Reform des deutschen Föderalismus bietet sich nach den Bundestagswahlen 2006. Die Gefährdung des demokratischen Systems und die Gefährdung der Arbeitsplätze in Deutschland lassen es nicht zu, dass dann noch einmal das Thema der klaren Verantwortung für die Haushalte und die Steuern faktisch ausgeklammert wird. Erst recht können wir nicht bis nach 2019 warten oder gar bis zum Sankt Nimmerleinstag einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland, wie manche sie aus Art. 106 Absatz 3 herauslesen. Denn die Reform des deutschen Föderalismus ist die Reform für Deutschlands Reformfahigkeit. Vor einem neuen Anlauf für eine solche Reform warne ich also, den Fehler von 2003 zu wiederholen, die künftige Föderalismus-Kommission nur mit aktiven Politikern zu besetzen. Auch die Föderalismus-Kommission der Friedrich-NaumannStiftung hätte kaum etwas zustande gebracht, wenn wir sie nur mit Insidern, mit aktiven Politikern, besetzt hätten. Ohne — ich nenne nur ein paar Namen — Paul
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Kirchhof, Wernhard Möschel, Carl Christian von Weizsäcker, Charles Beat Blankart, Hans. D. Barbier — wären wir nicht weit gekommen. Ein Föderalismus-Konvent muss aus Bürgern, vornehmlich Wissenschaftlern des Staats- und Verwaltungsrechts und der Ökonomie, zusammengesetzt sein; die Mitglieder müssen von Fragen des Machterhalts unabhängig sein. Ein solcher Konvent wäre ein besseres Entscheidungsgremium für ein Reformkonzept aus einem ordnungspolitischen Guss. Darum ging es schon, als der Nobelpreisträger James Buchanan 2003 zusammenfasste: „Eine Kommission, wie sie in Deutschland zur Reform des Föderalismus eingesetzt ist und die nur aus ,Insidern' besteht, bringt nichts." Daraus müssen wir 2006 die Lehre ziehen. Denn so schnell käme danach eine neue Chance für eine Föderalismus-Reform nicht. Wer 2006 noch immer nicht die Zeit zum Handeln wählt, wird immer die zu späte Zeit nehmen müssen, die aus der Handlungsnot diktiert wird. Das können wir vor den Bürgern nicht verantworten. Ein neuer Anlauf muss mit dem Geist der Lübecker Erklärung der Landtage beginnen. Und zu diesem Geist muss mehr Ehrlichkeit und politischer Mut kommen. Auch dafür wird Nagelprobe die Entflechtung von Kompetenzen und politischer Verantwortung bei den Staatshaushalten und bei den Steuern sein. Für mich gehört dazu der Geist freiwilliger Solidarität der einzelnen Bürger, der Geist der im Bundesstaat gebotenen Solidarität all seiner Ebenen, der mit Wettbewerbsföderalismus sehr wohl vereinbar ist. Wir sind da wohl auch auf diesem Podium verschiedener Meinung, zum Teil vielleicht auch unterschiedlicher „Gesinnung", wie Popper das verstand. Aber ich setze im ehrlichen Streit um die bessere Lösung auch hier auf Vielfalt, Toleranz und die offene Gesellschaft. Popper hat das so zusammengefasst: „Der Liberalismus setzt seine Hoffnung nicht auf eine Übereinstimmung der Gesinnung, sondern auf die gegenseitige Befruchtung und die daraus folgende Weiterentwicklung der Meinungen."
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Föderalismus: Eine Verfassung der Freiheit in Einheit und Vielfalt Vortrag an der Moskauer Staatlichen Hochschule für internationale Beziehungen, Moskau, 11. November 2005 Sie werden von mir ein Lob des Föderalismus hören. Das kann Sie in einer so renommierten Hochschule für internationale Beziehungen kaum überraschen, vor allem nicht die Mitarbeiter und Studenten Ihres Europa-Instituts. In der Europäischen Union geht es weiterhin um einen Vertrag über eine Verfassung für Europa; in Deutschland will die künftige Regierung die Reform des Föderalismus mit Vorrang vorantreiben. Die Friedrich-Naumann-Stiftung hat dazu in fünf Manifesten klar Position für eine Ordnung der Freiheit in Einheit und Vielfalt bezogen. Was heißt das für die Russische Föderation? Russland wird entweder föderal und demokratisch sein oder zentralistisch und totalitär. Oder die Einheit Russlands in seiner heutigen Größe wird durch Sezession beendet. Und ich befürchte, eine solche Sezession dürfte nicht friedlich und demokratisch geschehen. Ich bin sicher, dass Ihnen die Wahl zwischen diesen Wegen Russlands nicht schwer fällt. Viel schwieriger für die Arbeit an einer föderalen Ordnung ist die Frage, was wir unter „Föderalismus" verstehen. Da müssen sich Volk und Politik einig sein — in den Grundsätzen jedenfalls, nicht in jedem technischen Detail der Ausgestaltung. Nur dann taugt das Ja zum Föderalismus als festes Fundament für den Aufbau einer Ordnung, die den Menschen in Ihrem Streben nach Glück hilft, die ein friedliches Zusammenleben der Völker und Nationen in all ihrer Vielfalt fördert. Denn solange unter „Föderalismus" so Unterschiedliches — selbst Gegensätzliches verstanden wird wie z.B. in der Kontroverse über eine künftige Verfassung der Europäischen Union, so lange kann die Politik ihren Dienst für die Menschen, für Demokratie in den Nationen und für dauerhaften Frieden zwischen den Nationen nicht mit Erfolg leisten. Sie kennen dieses Problem nicht nur aus der aktuellen Diskussion um die Verfassung der Russischen Föderation und die Verfassungswirklichkeit in Russland heute. Extrem krass war der Widerspruch zwischen Wort und Realität in der alten UdSSR. Denn der Gegensatz zwischen der Verfassungswirklichkeit und dem Verständnis der föderalen „Union" drüben in den Vereinigten Staaten von Amerika und hier der „Union der sozialistischen Sowjetrepubliken" konnte kaum größer sein. In Montesquieus „Geist der Gesetze" mit ihren „Bezügen" zur Republik der Bürger einerseits, zur Tyrannei zentraler Despotie auf der anderen Seite, wird die für Diktaturen typi-
Föderalismus: Eine Verfassung der Freiheit in Einheit und Vielfalt 273
sehe Lüge besonders deutlich: Das despotische, zentralistische Zwangssystem, das Sie in Russland überwunden haben, trug den gleichen föderalen Namen „Union" wie die demokratische Union, die Republik von Bundesstaaten, in der dezentral verfassten föderalen Ordnung der USA. So steht am Anfang jeder Arbeit für eine föderale Ordnung auch ein Stück politischer Ehrlichkeit gegenüber den Menschen, für die diese Ordnung geschaffen werden soll. Das Lob einer föderalen Ordnung, die ich meine, beginnt mit einer moralischen Kategorie, die wichtiger ist als alle wichtigen Kriterien der politischen und wirtschaftlichen Effizienz von Systemen. Die moralische Dimension einer föderalen Ordnung hat die Väter der Sozialen Marktwirtschaft in Deutschland zur Forderung nach einer Ordnung bewegt, die einer von ihnen, der liberale Ökonom und Widerstandskämpfer Wilhelm Röpke, 1949 so formuliert hat: „Föderalismus national und international". Dahinter standen die Erfahrungen von Despotie und Zentralismus im Inneren Deutschlands, von „Krieg nach innen und nach außen" (Röpke), vom Leid, das der deutsche Nationalsozialismus über die Welt gebracht hatte. Hinter der Forderung nach Föderalismus in Deutschland, in Europa und international steht neben diesen Erfahrungen das Denken in Ordnungen, das konkretes politisches Handeln stets leiten muss — die Interdependenz der Ordnungen. Das ist, was man in Deutschland unter „Ordnungspolitik" versteht: Ganzheitliches Denken, das zu einer Politik aus einem ordnungspolitischen Guss führt. Und in der Mitte dieser Interdependenz von sozialer, wirtschaftlicher, rechtlicher und politischer Ordnung, von innerer und äußerer Ordnung der Staaten, steht der Föderalismus. Das heißt konkret: Nach innen gewandt, muss die Ordnung so gestaltet werden, dass die Menschen ihr Glück selber schmieden können: in Freiheit, aber auch in Verantwortung für den Nächsten, für die Gemeinschaft, also in freiwilliger Solidarität im ursprünglichen Sinne römischer Bürgertugend. Das ist das Lob des Prinzips der Subsidiarität in jeder wahrhaft föderalen Ordnung: Subsidiarität als notwendige Grundlage gelebter Solidarität. Je besser die Ordnung dazu beiträgt, dass der Mensch für sich, für seine Familie, für die nähere Gemeinschaft seiner Mitbürger die schöpferische Kraft der Freiheit nutzen kann, desto größer der Gewinn für die Gemeinschaft. Umso mehr wird dann das erwirtschaftet, was die Gemeinschaft für die sozial Schwachen leisten muss, für die Förderung ärmerer Regionen durch Finanzausgleiche. So fördert das Subsidiaritätsprinzip des Föderalismus jeden kulturellen und sozialen Fortschritt und damit den sozialen Frieden im Inneren. Je größer ein Staat ist, umso größer ist in der Regel auch die Vielfalt der kulturellen, geographischen und wirtschaftlichen Lebensbedingungen der Bürger innerhalb des
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Staates. Deswegen muss die Gesellschaft Unterschiede der sozialen Verhältnisse tolerieren. Sonst wird zum Schaden der Gemeinschaft und der sozial Schwachen die produktive Kraft von Freiheit und Eigenverantwortung der Bürger erstickt, auch die Bereitschaft zu freiwilliger Solidarität. Darum ist das Prinzip der Subsidiarität auch so wichtig für die Aufgabenteilung zwischen den verschiedenen Ebenen des Staates: Zum Vorrang von Bürgerautonomie und Bürgerverantwortung vor der Zuständigkeit des Staates passt der Vorrang der unteren, der bürgernahen, Staatsebene vor den höheren Ebenen der Staatstätigkeit. Der Zentralregierung bleiben dann mehr als genug Staatsaufgaben im Dienst der Bürger: •
für äußere Sicherheit,
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für den Rechtsstaat im Inneren, der Freiheit sichern muss,
•
für eine leistungsfähige Infrastruktur, die natürliche Handelshemmnisse senkt und gerade in großen Staaten die Mobilität der Menschen fördert,
•
für die Förderung schwächerer Regionen im Rahmen der gebotenen Bundestreue.
Für diese vier föderale Aufgabenteilung zwischen Bürgern, lokalen Gemeinschaften, Regionen und der Bundesebene der Föderation spricht die überlegene Lösung des Informationsproblems durch lokales Wissen und durch Wettbewerb als Entdeckungsverfahren. Adam Smith stellte diese — so würde man heute sagen — „informationstheoretische" Grundlage des Subsidiaritätsprinzips im Föderalismus sogar in den Mittelpunkt seiner berühmten Abhandlung über die ordnungspolitischen Bedingungen, unter denen Eigeninteresse der Bürger in den Dienst der Gemeinschaft gelenkt wird. Der sowjetischen Zentralverwaltungswirtschaft ist das nie gelungen; technisch ist die Zentralverwaltungswirtschaft am Informationsproblem gescheitert. Angewendet auf den Föderalismus: In der überschaubaren Gemeinschaft der Gemeinde sind die Bürger am besten über die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse informiert. Sie wissen besser als alle noch so gut qualifizierten, fleißigen und sogar ehrlichen Zentralplaner, mit ihren Informationen ihre Millionen Pläne für ihr Leben zu machen, Pläne die über Märkte koordiniert und ständig dynamisch an neue Wünsche, neue Chancen, an technischen und sozialen Fortschritt angepasst werden. In der überschaubaren Gemeinschaft können die Bürger den größten Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen. Auf der Ebene der Gemeinde können die Bürger mit der größten Wirkung ihr Urteil über gute und schlechte Politik zur Geltung bringen. Dort können die Bürger aber auch am besten durchschauen, was die Erfüllung ihrer Wünsche kostet; sie erfahren unmittelbar, wie teuer es z.B. wird, wenn
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unbequeme Entscheidungen aufgeschoben werden. Das Denken in Zusammenhängen von Nutzen und Kosten wird im überschaubaren Alltag geübt. Erst wo die Gemeinde bei ihren Leistungen für die Gemeinschaft der Bürger überfordert ist, soll die nächsthöhere staatliche Ebene aktiv werden. Das ist zugleich das Lob der Non-Zentralität, denn das Prinzip der Subsidiarität ist auf das Engste mit dem Prinzip der Non-Zentralität verbunden. Non-Zentralität als Merkmal jeder föderalen Ordnung folgt aus dem Subsidiaritätsprinzip, aber es folgt auch aus einem anderen Prinzip: dem Prinzip der Gewaltenteilung in der Demokratie. Das Lob des Föderalismus ist daher stets ein Lob der Bürgertugenden, die in einer dezentralen Demokratie am besten entwickelt werden. Die Non-Zentralität jeder föderalen Ordnung bedeutet Beschränkung und Kontrolle der Macht höherer staatlicher Ebenen, vor allem der Macht der Zentralregierung. Zugleich bedeutet Non-Zentralität, dass die Demokratie bürgernäher wird; die aktive Bürgergesellschaft wird gestärkt. Hier ist der Gegensatz zu den so genannten „Volksdemokratien" des Sozialismus besonders deutlich: •
In einer föderalen Ordnung sind die demokratischen Rechte und Pflichten der Bürger durch Non-Zentralismus am stärksten verankert.
•
In einer föderalen Ordnung erziehen dezentrale Rechte und Pflichten am besten zu Eigenverantwortung, Zivilcourage und Solidarität der Bürger in einer aktiven Bürgergesellschaft. Illusionen, dass ein Wohlfahrtsstaat „von oben" seine sozialen Segnungen kostenlos verteilen könne, stoßen schnell auf den Widerstand der Bürger selbst.
Das Lob des Föderalismus ist daher auch das Lob einer „lernenden Gesellschaft". Lernfähigkeit und Beweglichkeit einer Gesellschaft sind heute wichtiger denn je für die Chancen der Bürger auf Freiheit und Wohlstand im globalen Wettbewerb. Dieses Lob des Föderalismus als der Ordnung einer aktiven und lernenden Bürgergesellschaft macht zugleich den Zusammenhang zwischen innerer Ordnung der Staaten und einer globalen Friedensordnung besonders deutlich. Ich nenne es das Lob des Föderalismus als einer Ordnung der Einheit in Vielfalt. Gerade in der Einheit — trotz großer Unterschiede von der kulturellen Herkunft bis zu den natürlichen Lebensbedingungen — tritt auch der Zusammenhang zum Problem der Ordnung großer Staaten wie Russland, Indien oder China besonders hervor: Staaten der Größenordnung z.B. von Luxemburg oder Estland stellen wegen ihrer Größe kein Problem für das friedliche Miteinander der Völkergemeinschaft dar. „Föderalismus für Einheit in Vielfalt" ist selbst für Estland zwar ein wichtiges Problem, aber eben ein Problem seiner inneren Ordnung: Denn Achtung der Rechte von Minderheiten ist das Gebot jeder „Einheit in Vielfalt".
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Russland gehört dagegen allein schon wegen seiner Größe zu den Staaten, deren innere Ordnung mehrfach großes Gewicht für eine globale Friedensordnung hat: Je besser es Russland gelingt, eine Einheit in Vielfalt mit Schutz der Minderheiten zu werden, desto weniger Probleme exportiert Russland. Je besser es der russischen Politik gelingt, seine Verfassung zur Verfassungswirklichkeit einer föderalen Ordnung der Einheit in Vielfalt zu gestalten, desto freier wird die russische Außenpolitik in ihrem so wichtigen Beitrag für eine globale Friedensordnung und im Kampf gegen den Terror. Nur in einer föderalen Ordnung kann es auch heute gelingen, die Vorteile der Kleinstaaten mit den Vorteilen eines Großstaats zu verbinden. Bei Montesquieu war dieses Lob des Föderalismus noch vorrangig auf verteidigungspolitische und imperialistische Argumente gestützt. Das passte zu einer Welt, in der das Gewaltprinzip noch klar vor dem Tauschprinzip der Marktwirtschaft dominierte. Also heißt es z.B. bei Montesquieu im „Geist der Gesetze: „Ist eine Republik klein, so wird sie von einer auswärtigen Macht zerstört; ist sie groß, so geht sie durch innere Fehler zu Grunde." Russland ist groß, und Russland soll als globale Ordnungsmacht groß bleiben — auch wenn Russland nicht von einer „auswärtigen Macht" bedroht ist. Aber Russlands Größe kann durch „einen inneren Fehler" seiner Ordnung bedroht werden. Das bleibt heute trotz der Erfolge des Tauschprinzips der Märkte gegenüber dem Gewaltprinzip des Imperialismus und Kolonialismus wichtig. Eine Ordnung der Einheit in Vielfalt Russlands ist durch fundamentalistische Gewalt eher wichtiger geworden als in der Zeit der Kriege zu Montesquieus Zeiten. Damals konnte oft kluge Bündnispolitik helfen, die vor allem dann klug war, wenn sie präventiv war, Gewalt also erst gar nicht ausbrechen ließ. In diesem Sinne ist Föderalismus, der in Einheit Vielfalt und die Rechte von Minderheiten achtet, ein Konzept der Prävention von Gewalt und Krieg. Und hier liegt auch der enge Bezug von Föderalismus und Marktwirtschaft — über den oben betonten Zusammenhang zwischen Föderalismus und Demokratie hinaus: Auch die Marktwirtschaft verbindet die Vorteile von Kleinstaaten bzw. dezentralen Problemlösungen mit den Vorteilen von Großstaaten: Das ist die friedliche Arbeitsteilung auf durch Freihandel geöffneten Märkten, die die Enge nationaler und regionaler Märkte aufbricht, eine Arbeitsteilung, die Ideen und Fleiß so vieler Menschen für das Entdeckungsverfahren der Märkte nutzt. Das ist Ihr weites Feld an einer Hochschule für internationale Beziehungen. Aber alle Überlegungen zur Arbeitsteilung gemäß komparativen Vorteilen, zum Wettbewerb als Entdeckungsverfahren, zur Standort-Theorie und zum Ausgleich zu großer wirtschaftlicher Gefälle im Raum gelten selbstverständlich auch innerhalb Russlands von Europa bis zum Pazifik. Auch im großen Wirtschaftsraum Russlands bleibt
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selbst bei völliger Liberalisierung ein Problem, das durch Freihandel allerdings weitgehend entschärft ist: die sehr unterschiedliche Ausstattung der Bundesstaaten und Regionen mit Ressourcen. Darin kann auch in einer föderalen Ordnung und bei marktwirtschaftlichem Tausch auf offenen Märkten der Keim zu Konflikten liegen: zwischen den Teilstaaten und zwischen Teilstaaten und Zentralregierung. Denn sowohl separatistische wie zentralistische Tendenzen sind gleichermaßen eine Gefahr füir Einheit in Vielfalt, z.B. durch handfeste Interessen an Ölvorkommen und der Verteilung ihres Nutzens in der Föderation. Diese Probleme halte ich aber für lösbar mit einer Politik des Maßes und der Mitte im Finanzausgleich der Verfassung Russlands. Die Finanzverfassung muss zugleich das Interesse der Teilstaaten an der Ausschöpfung ihrer natürlichen Ressourcen erhalten. Und dabei ist es immer wichtig gewesen, dass die Menschen des Landes, geprägt durch Natur und Kultur, stets die wichtigste Ressource aller Stämme und Nationen waren. Das Problem der ungleichen Verteilung von Ressourcen im Raum sollte also nicht überbewertet werden. Es wird entschärft durch Förderung von Bildung und Forschung und durch die wirtschaftliche und soziale Effizienz der Marktwirtschaft. Darum will ich am Ende den ordnungspolitischen Zusammenhang zwischen Föderalismus und Marktwirtschaft zusammenfassen, den Wilhelm Röpke schon 1944 für die nationale und internationale Ordnung als Auftrag an die Politik formuliert hat: •
Ohne Marktwirtschaft kann eine wahrhaft föderale Ordnung nicht geschaffen werden.
•
Ohne Verfassungsgarantien für Privateigentum und Marktwirtschaft zerfällt allmählich die föderale Ordnung durch staatliche Intervention und Protektion aller Staatsebenen.
Wer Russland in seinen heutigen Grenzen will, der kann Russland ohne Zwang und Gewalt nur in einer föderalen Ordnung der Freiheit in Einheit und Vielfalt haben. Wer die Bürger Ihres Landes als ein Volk in einem Staat vereinen will, der muss die Bürger durch Achtung ihrer persönlichen Rechte und kulturellen Vielfalt gewinnen. Ich will mit einer Botschaft schließen, die sich an David Humes berühmtes Plädoyer gegen den Handelsneid anlehnt: Nicht nur als Mann, sondern auch als deutscher Patriot wünsche ich mir ein blühendes Russland, das groß ist in Freiheit, Einheit und Vielfalt. Und ich füge hinzu: Diese Größe Russlands wünsche ich mir auch im Interesse einer globalen Friedensordnung für unsere Kinder und Enkel.
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Kultur und Geschichte
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Eröffnung der Wolfgang-Natonek-Akademie Vortrag anlässlich der Eröffnung der Wolfgang-Natonek-Akademie der Friedrich-Naumann-Stiftung in Kottenheide, 7. Dezember 1996 Mit der Eröffnung der Wolfgang-Natonek-Akademie hier in Kottenheide geht für uns liberale innerhalb und außerhalb der Friedrich-Naumann-Stiftung ein lang gehegter Traum in Erfüllung, ein Wunsch, der wir seit über 50 Jahren haben, an dessen Verwirklichung wohl manche nicht mehr geglaubt haben und der dann doch noch Realität geworden ist. Für uns Liberale, die wir uns in Deutschland seit jeher als Partei der Einheit und Freiheit verstehen, ist die Eröffnung der ersten Bildungsstätte in den neuen Bundesländern ein ganz besonderer Tag. Wir sehen darin einen Höhepunkt in unserem Streben nach Einheit und Freiheit, welches auf eine lange Tradition zurückblicken kann und welches trotz mancher Rückschläge doch erfolgreich gewesen ist, wie auch der heutige Tag beweist. Ohne die Liberalen gäbe es in Deutschland weder Einheit noch Freiheit, weder eine geeinte Nation noch den Rechtstaat, weder persönliche noch wirtschaftliche Freiheit. Denn sie, die liberalen, waren es, die im vorigen Jahrhundert als erste Einheit und Freiheit — und zwar immer im Zusammenhang — auf ihre Fahnen schrieben und damit die politische und soziale Entwicklung in Deutschland entscheidend beeinflussten. Ohne die Liberalen — ein Tag wie der heutige eignet sich besonders gut, daran zu erinnern —, hätte es die zwar kurzfristig gesehen gescheiterte, aber langfristig doch so wirkungsmächtige Revolution von 1848 nicht gegeben; ohne die Liberalen und ihren beharrlichen Kampf für Einheit und Freiheit wäre die Reichsgründung von 1871 nicht zustande gekommen. Noch heute wird der liberale Anteil an dem inneren Ausbau des Reiches, an der Einführung der Freizügigkeit, der Vereinheitlichung von Währungen und Maßeinheiten, der Durchsetzung des Rechtsstaates etc. häufig unterschätzt. Ohne Liberale wie Friedrich Naumann, Hugo Preuß und Gustav Stresemann wäre die Weimarer Verfassung nicht zu dem Symbol der Freiheit geworden, welches wir darin heute erblicken; an dieser freiheitlichen Verfassung lag es sicherlich nicht, dass die erste liberal-demokratische Republik auf deutschem Boden so kläglich scheiterte. Meine Damen und Herren, diese liberale Tradition ist nach 1945 keineswegs abgebrochen, sondern hat sich unvermindert, ja verstärkt noch fortgesetzt. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg verstanden sich die Liberalen in allen vier Besatzungszonen als die Vorreiter und Vorkämpfer für die Einheit und Freiheit unseres Vaterlandes. Schon die früheste programmatische Äußerung, der Gründungsaufruf der Liberal-
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demokratischen Partei Deutschlands vom Juli 1945 zeugt davon. Dort wird als vorrangiges Ziel die „Wiedergewinnung der Freiheit nach innen und außen unter Ablehnung jeder nationalistischen Überheblichkeit" genannt und am Schluss des Bekenntnis abgelegt: „Was uns eint, das ist die liberale Weltanschauung und die demokratische Staatsgesinnung". Meine Damen und Herren, bekanntermaßen konnte sich die LDPD nicht immer in ihrer langen Geschichte an diesen Grundsätzen orientieren, aber sie beweisen doch ihre genuin liberalen Ursprünge. Ahnliches findet sich bei allen liberalen Gründungsinitiativen nach 1945. Wenn auch die Akzente mitunter etwas anders gesetzt worden, so gab es doch nach dem zweiten Weltkriegen einen die Grenzen zwischen den Besatzungszonen überschreitenden Konsens, der die Liberalen in allen vier Besatzungszonen miteinander verband. Meine Damen und Herren, es waren die Liberalen, die damals den einzigen ernsthaften Versuch unternahmen, eine gesamtdeutsche Partei zu schaffen mit der Gründung der Demokratischen Partei Deutschlands im März 1947. Theodor Heuss und Wilhelm Külz waren ihre gleichberechtigten Vorsitzenden. Dieser Versuch, durch die Einheit der Liberalen die Einheit der Nation zu beschleunigen, musste damals zwangsläufig scheitern. Er scheiterte nicht an den Liberalen selbst, sondern an den Umständen, am eskalierenden Kalten Krieg und an der antiliberalen und antinationalen Politik von Sowjets und SED. Wilhelm Külz als Vorsitzender der LDPD musste einen Kurs zwischen dem Druck der Kommunisten und dem Wollen der eigenen Basis fahren, der zwangsläufig zwischen alle Stühle führte. Ob diese Zwangslage der liberaldemokratischen Führung im Westen, gerade auch von den Liberalen dort, immer richtig gesehen worden ist, steht auf einem anderen Blatt. Anfang 1948 jedenfalls brach die Demokratische Partei Deutschlands, der liberale Dachverband, auseinander. Zwar bestanden auch später immer noch liberale Sonderbeziehungen zwischen Ost und West und führten die Liberalen als einzige während der gesamten Zeit der Teilung immer wieder Gespräch miteinander, die Einheit der liberalen war aber 1948 zerbrochen, besser gesagt vertagt. Vertagt war damit auch der Wunsch, gemeinsam Bildungsarbeit im liberalen Sinne zu betreiben. Erst nach über 42 Jahren konnte im August 1990 die Einheit der Liberalen wiederhergestellt werden und damit der erste Teil unseres Traum verwirklicht werden, und mit dem heutigen Tag hat auch die liberale Bildungsarbeit in den neuen Bundesländern einen festen Ort. Meine Damen und Herren, das schicksalhafte Jahr 1948 zementierte eine erneute Spaltung des deutschen Liberalismus; dieses Jahr markierte auch nicht von ungefähr den politischen Höhe- und Wendepunkt im Leben Wolfgang Natoneks, nach dem wir diese Bildungsstätte benannt haben. Nach dem Scheitern der Demokratischen Partei Deutschlands ließ nämlich der Widerstand der Liberaldemokraten gegen die illiberale und diktatorische Politik der SED keineswegs nach, im Gegenteil. Im
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Sommer 1948 erreichte er vielmehr seinen Höhenpunkt, und es waren hauptsächlich die Jungen in der Partei, die den Widerstand trugen. Wolfgang Natonek war nur einer unter einer Vielzahl von jungen Liberalen, die sich dem menschenverachtenden Kurs der SED entgegenstellten, aber er war der bekannteste und sein Widerstand wurde neben dem von Arno Esch zum Symbol für viele. Ehe ich darüber spreche, lassen Sie mich einige Bemerkungen zu seiner Herkunft machen. Wolfgang Natonek, geboren 1919 in Leipzig, stammte aus einem liberalen Elternhaus. Sein Vater war ein in der Weimarer Republik durchaus bekannter Schriftsteller und arbeitete für die großen liberalen Blätter. Als Jude und „verbotener Autor" verließ er 1933 Deutschland und ging ins amerikanische Exil, aus dem er nie wieder zurückkehrte. Sein Sohn als sogenannter „Halbarier" blieb zwar in Deutschland, aber die berufliche Karriere, insbesondere das angestrebte Studium, war ihm natürlich versagt. Sogar aus der Wehrmacht wurde er 1941 als „wehrunwürdig" entlassen, seitdem musste er als „Dienstverpflichteter" in Fabriken arbeiten. Seine eigene prekäre Lage hinderte ihn aber nicht, sich beispielsweise für russische Kriegsgefangene einzusetzen, was nun wirklich riskant war. Aber das Risiko hat der aufrechte Liberale Wolfgang Natonek nie gescheut. Nach dem Zusammenbruch, der für Natonek sicherlich eher eine Befreiung war, schloss er sich noch im Jahre 1945 der LDP an, und zwar weil — wie er selbst später sagte — sich dazu „wohl auch der Vater bekannt hätte". Im gleichen Jahr konnte er dann noch in Leipzig das Studium aufnehmen. Als Mitglied der LDP war es für Wolfgang Natonek selbstverständlich, dass er sich auch in der studentischen Selbstverwaltung engagierte. Mit Freunden gründete er die liberaldemokratische Hochschulgruppe und begann so eine politische Karriere, wie viele damals und heute. Das Besondere im Falle Natoneks war zum einen der Erfolg, den er hatte: Auf Anhieb wurde die LDPD-Hochschulgruppe die stärkste Fraktion im Studentenrat und Natonek sein Vorsitzender. Außergewöhnlich waren zum anderen die Auseinandersetzungen, in die er eher gegen seinen Willen hineingetrieben wurde und bei denen es schließlich wirklich um Leben und Tod ging. Dieser Konflikt entzündete sich am sogenannten „bürgerlichen Bildungsmonopol", das zu brechen die SED propagandistisch ankündigte. Nun ist die Öffnung der Hochschulen für alle Begabten und Talentierten sicherlich ein urliberales Anliegen, weil dadurch die Qualität von Studium und Beruf nur gesteigert werden kann. Aber darum ging es den Kommunisten natürlich nicht. Sie wollten eine andere soziale Struktur der Professoren- und Studentenschaft, weil sie glaubten, dadurch dann die Hochschulen umso leichter gleichschalten zu können. Sie bedienten sich dabei Methoden, die weder demokratisch noch liberal waren. Wolfgang Natonek hatte den Mut, dagegen öffentlich Stellung zu beziehen. Auf dem Parteitag der sächsischen LDP sagte er 1947 unter großem Beifall: „Es gab einmal eine Zeit, in der der verhin-
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dert war zu studieren, der eine nicht arische Großmutter hatte. Wir wollen nicht eine Zeit, in der es dem verhindert wird zu studieren, der nicht über eine proletarische Großmutter verfugt." Dieser Satz wurde in Studentenkreisen dann immer wieder zitiert, denn er war den roten Machthabern deshalb so verhasst, weil sie den immanenten Bindestrich bei „prolet-arisch" immer heraushörten. Wolfgang Natoneks Leben wurde dadurch nicht leichter, aber unbeirrbar hielt er an seinen Idealen fest. Weder gesteuerte Zeitungspolemiken und Drohungen noch Verlockungen, sich der SED anzuschließen, brachten ihn von seinen Überzeugungen ab. Im Gegenteil nutzte er zum Beispiel das gesamtdeutsche Studententreffen auf der Wartburg, um als Sprecher der ostdeutschen Studenten zum Missfallen der SED aus der Verantwortung des Wissenschafders heraus die Einheit des Vaterlandes in Freiheit zu fordern. Auf ihn geht die dort verabschiedete Resolution zurück, in der es heißt: „Freiheit von Furcht und Unterdrückung, Freiheit für ein demokratisch geeintes Deutschland sind die Postulate, die die auf der Wartburg versammelten Studenten ihren Kommilitonen in Ost und West, in Nord und Süd zurufen. Stellt alles Trennende zurück! Es geht um den Bestand des Vaterlandes, es gut um die Arbeitmöglichkeiten unserer Wissenschaft, deren Ergebnisse dem gesamten Volk und im Zusammenwirken mit der wissenschaftlichen Forschung in aller Welt der Menschheit einen Weg in eine bessere Zukunft öffnen soll." Sie merken, hier leben die alten liberalen Ideale wieder auf. Und es war klar, dass das den kommunistischen Herren nicht gefallen konnte. Aber auf legalem Weg war dem Studentenrats-Vorsitzenden Natonek nicht beizukommen. Im Gegenteil, mit großer Mehrheit wurde er Anfang 1948 wiedergewählt. Da er entschlossen war, weiter zu machen, griffen die Machthaber zur brutalen Gewalt. Am 11. November 1948 wurde er zusammen mit anderen liberaldemokratischen Studenten verhaftet und nach langer Zeit in Untersuchungshaft zu 25 Jahren Arbeitslager verurteilt und zwar deshalb, weil er angeblich eine negative Äußerung eines Kommilitonen über die Leipziger Messe nicht gemeldet habe. Sein liberaldemokratisches Engagement büßte Wolfgang Natonek mit sieben Jahren Haft in Torgau und Bautzen, erst im Zuge des kurzen Chrustschovschen Tauwetters kam er im März 1956 frei. Dass er nicht gebrochen war, zeigt sein späteres Engagement für die liberale Sache und die liberalen Jugend, insbesondere nach dem Fall der Mauer. Insofern ist es nur folgerichtig, wenn wir unsere erste Bildungsstätte in den neuen Bundesländern nach ihm, der leider seit nunmehr schon drei Jahren nicht mehr unter uns weilt, benennen. Sein Wirken soll uns Vermächtnis sein. Mit dem Namen Wolfgang-Natonek-Akademie ehren wir aber zugleich alle diejenigen, die wie der Namensgeber damals sich den totalitäre Bestrebungen der SED und ihrer Bundesgenossen widersetzt haben. Wir ehren insbesondere die vielen liberaldemokratischen Studenten, die für die liberale Sache damals im wahrsten Sinne des
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Wortes ihre Freiheit riskiert haben. Einige von ihnen sind ja heute anwesend. Ich nenne nur Wolfgang Möhring, den Jenaer Studentenratsvorsitzenden, der 1949 ebenso verhaftet wurde wie zwei Jahre später sein Nachfolger Hermann Marx. Uberhaupt galt die Hochschulgruppe Jena damals als ein „Hort der Reaktion", die sogar Ulbricht öffentlich als „Spionagenest" titulierte, was heute als Auszeichnung angesehen werden kann. Doch das hatte damals harte Konsequenzen, denn nach solchen verleumderischen und durch nichts bewiesenen Anschuldigungen wurde prompt auch eine zehnköpfige liberaldemokratische „Spionagegruppe" aufgedeckt und abgeurteilt, und dann die Hochschulgruppe ganz aufgelöst. Ein ähnliches Schicksal erlitten die LDPD-Hochschulgruppenvorsitzenden in Halle und Dresden. In diesem Zusammenhang gedenken wir ganz besonders des Wirkens von Arno Esch in Rostock. Von ihm hat Wolfgang Natonek, der ihn persönlich kannte, gesagt: „Grundzug seiner geistigen Haltung war die Suche nach Wahrheit, nach sittlichen Normen, nach Wegweisern für die junge Generation. Ihr wollte er helfen, sich aus den Verstrickungen zu befreien, in die sie, blind und schutzlos für die Faszination des „Neuen", hineingezogen wurde." Im Zeichen einer sich anbahnenden totalitären Herrschaft war schon das subversiv. Deshalb wurde Arno Esch mit weiteren Liberaldemokraten 1949 von den Russen verhaftet und wegen „Spionage und Antisowjethetze" zum Tode verurteilt. Nur sechs von den 14 angeblichen Mitgliedern dieses „Spionagerings" haben das Urteil und die Haft überlebt. Im Zuchthaus verstorben ist auch Franz Hammer, der letzte liberaldemokratische Studentenratsvorsitzende in Jena. Auch außerhalb der Hochschulgruppen gab es in der LDP zahlreiche aufrechte Liberale, die für ihre Prinzipien entweder den Verlust der Heimat oder den Verlust der Freiheit in Kauf nehmen mussten. Ende 1956 umfasste eine unvollständige Aufstellung des Ostbüros der FDP noch immer die Namen von weit über 200 inhaftierten Liberaldemokraten. Ich erinnere in diesem Zusammenhang nur an Hermann Becker, Fraktionsvorsitzender im thüringischen Landtag, den 1952 verhafteten LDPDVorsitzenden Karl Hamann, an unseren Freund Günther Kröber, an den früheren LDP-Generalsekretär Günther Stempel und viele mehr. Etliche von denen, die die SBZ oder DDR wegen ihrer liberalen Gesinnung verlassen mussten, haben dann wie Wolfgang Mischnick, Karl-Hermann Flach oder Hans-Günther Hoppe eine wichtige Rolle im westdeutschen Liberalismus, in der FDP gespielt. Ihnen allen wollen wir mit dem Namen Wolfgang-Natonek-Akadmie danken, ihr Wirken, ihr Einsatz für Einheit und Freiheit soll für die Friedrich-Naumann-Stiftung Vermächtnis und Ansporn zugleich sein. Schließlich wollen wir an dieser Stelle auch an alle jene Liberaldemokraten erinnern, die zwar keinen offenen Widerstand geleistet haben und in der DDR verblieben sind, aber dennoch trotz massiver Indoktrinationsversuche und einer völligen Unterwerfung der Parteiführung unter die SED-Linie innerlich ihren liberalen Überzeu-
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gungen treu geblieben und die Hoffnung auf eine in Freiheit wiedervereinigte Nation nicht aufgegeben haben. Ohne diese gesinnungsfesten Liberaldemokraten wäre die Wiedervereinigung der liberalen in Ost und West nicht möglich gewesen. Aber auch der Ort hat seinen liberalen genius loci. In Schöneck, zu dem Kottenheide gehört, war die LDP bei den Wahlen des Jahres 1946, die man noch als einigermaßen frei bezeichnen kann, weitaus stärker als die SED. Deshalb stellte sie hier den Bürgermeister. Im gesamten Landkreis Ölsnitz waren beide Parteien trotz massiver Behinderung der Liberaldemokraten in etwa gleich stark. Und im benachbarten Landkreis Plauen gab es 1949 mit 60 Prozent den höchsten Anteil von Neinstimmen gegen die Einheitsliste für den dritten Volkskongress. Uberhaupt waren und sind die Liberalen in den neuen Bundesländern vor allem eine Partei der Kommunen, liegt ihre Stärke auf der kommunalen Ebene. Von daher ist es sinnvoll, dass hier in der künftigen Bildungsstätte ein Schwerpunkt der Arbeit auf der Kommunalpolitik liegt und wir versuchen, an die große kommunalpolitische Tradition des deutschen Liberalismus, der heute leider ebenfalls bei vielen in Vergessenheit geraten ist, anzuknüpfen. Zugleich wollen wir, meine Damen und Herren, natürlich die geographische Lage im Dreiländereck zum Dialog nutzen, nicht nur zu einem innerdeutschen Ost-WestDialog, sondern auch zum Dialog mit unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn. Gerade für das deutsch-tschechische Verhältnis versprechen wir uns viel von der neuen Bildungsstätte. In diesem Zusammenhang wünsche ich mir, dass der Name Wolfgang Natonek auch für die Versöhnung von Deutschen und Tschechen zum Symbol wird. Hilfreich dafür könnte es sein, sich an seine bereits erwähnte, zukunftsweisende Rede auf der Wartburg zu erinnern, wo es heißt: „Weil wir jedes anderen Mannes Vaterland (und natürlich — füge ich hinzu — jeder anderen Frau) achten, treten wir nicht für einen beschränkten, mit Scheuklappen einhergehenden Nationalismus ein, sondern für eine freiwillige Einordnung in einen großen allgemeinverbindenden Internationalismus". Meine Damen und Herren, diejenigen, die selbst dabei waren, haben später an den LDP-Hochschulgruppen gelobt, dass diese nicht nur eine politische Interessengemeinschaft gewesen seien, sondern auch eine politisch-kulturelle Heimat geboten hätten, in denen ein persönliches Beziehungsgeflecht sehr leicht aufgebaut werden konnte. Das mag uns heute ein wenig fremd anmuten, ein wenig nach juste milieu klingen, mit den modernen individualisierten Lebensstilen scheinbar nicht mehr in Einklang zu bringen zu sein. Der Zusammenhalt der liberalen Studenten war dadurch aber sehr groß, er überdauerte Repression und Vertreibung. Und die LDPHochschulgruppen standen damit durchaus in der liberalen Tradition. Denn Liberalismus war nicht nur in Deutschland immer mehr als bloße Interessengemeinschaft, er umschrieb auch immer eine Übereinstimmung im Fühlen und Denken. Ich brauche bloß an Friedrich Naumann zu erinnern, dessen Einfluss und Bedeutung nicht
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zuletzt auf dem Kreis illustrer, ihm verbundener Geister beruhte, die er um sich scharte und zu denen solche Männer und Frauen wie Max Weber, Elly und Theodor Heuss, Getrud Bäumer und zeitweise auch Gustav Stresemann gehörten. Der Naumann-Kreis hat den deutschen Liberalismus bis weit in die 50er Jahre geprägt und indirekt beeinflusst er ihn noch heute. Denn es waren die Erfahrungen im Naumann-Kreis, die Theodor Heuss veranlassten, eine nach seinem politischen Mentor benannte Stiftung zu gründen, die die Ideale des Naumann-Kreises tradieren sollte. Wie dieser und wie die liberaldemokratischen Hochschulgruppen will die Friedrich-Naumann-Stiftung vor allem durch ihre Bildungsstätten dazu beitragen, dass der Liberalismus nicht nur eine politische Interessengemeinschaft, sondern für alle liberal Denkenden und Fühlenden eine Heimstatt ist und bleibt. Das Angebot dazu besteht in unseren Bildungsstätten und nicht nur dort, jetzt hängt es von ihnen ab, dass es genutzt wird. Lassen Sie mich zum Abschluss noch einmal Wolfgang Natonek zitieren, um die Verbindung von Freiheit und Verantwortung zu verdeutlichen, von der die Arbeit unserer Stiftung geprägt ist. Zum „Geleit" für den Jahreswechsel 1947/48 schrieb der damalige Leipziger Studentenratsvorsitzende: „Es scheint, als ob eine gewisse Tendenz besteht — bei uns Kommilitonen, aber auch anderswo — Freiheit nur in der Unterstellung des ,Wovon' zu sehen, frei zu sein von jedem Zwang, von jedem Druck eines totalitären Machtanspruchs, frei zu sein als Volk und als Einzelindividuum; das alles sind Forderungen, die wohl von allen nur mit Recht nach den Erfahrungen eines autoritären Systems erhoben werden. Aber zugleich mit dem Freisein ergibt sich die zweite und wohl tiefere Bedeutung des Freiheitsbegriffes; nämlich das Freisein ,Wofür'. Nicht das selbstsüchtige Auskosten wieder gewonnener Freiheiten, sondern die Anerkennung, dass wir mit ihnen zugleich freigeworden sind für ein Höheres, sollte in all unseren Überlegungen niemals fehlen, Frei zu sein nämlich für eine freiwillige Einordnung in eine Achtung und Schätzung des anderen auch dann, wenn er unsere persönliche Meinung nicht teilt." Meine Damen und Herren, im Sinne eines solchen Freiheitsbegriffes hoffe ich, dass erstens die Wolfgang Natonek Akademie zu einem Forum des liberalen Geistes und des Austauschs der Meinungen und Erfahrungen wird und dass zweitens von hier wichtige Impulse für die Vollendung der inneren Einheit unserer nunmehr äußerlich wiedervereinigten Nation ausgehen. Die innere Einheit wird unserer Meinung nur dann eine tragfähige sein, wenn sie eine freiheitliche ist. Zur Sicherung der Einheit und Freiheit unseres Vaterlandes im Sinne Wolfgang Natoneks will die Friedrich Naumann-Stiftung nicht nur mit dieser Bildungsstätte beitragen. Es wäre schön, wenn Sie uns dabei unterstützten.
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Warum nicht triumphieren? Der Tag der Deutschen Einheit und die Freiheit Rede vor dem Rotary-Club Brandenburg/Havel am 3. Oktober 1997 Es mag etwas dran sein an dem Klischee, dass es den Deutschen an wirklichem Enthusiasmus für die Freiheit fehlt. Man vergleiche nur die damalige Reaktion auf die revolutionären Ereignisse des Jahres 1989, wie sie sich außerhalb unseres Landes manifestierte. In Amerika glaubte ein Autor vor Begeisterung sogar gleich an ein „Ende der Geschichte", das nun endlich gekommen sei. In Polen und Tschechien kamen Reformregierungen an die Macht, die nichts Geringeres als den totalen Bruch mit der Vergangenheit und den letzten Rest Sozialismus aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben verbannen wollten. Vaclav Klaus brachte damals die Botschaft auf den Nenner: „Ein dritter Weg zwischen Sozialismus und Kapitalismus ist der Weg in die Dritte Welt." Natürlich hat sich früher oder später überall der Enthusiasmus auch wieder legen müssen, um der normalen Alltagsstimmung zu weichen. In Deutschland verlief sich der Enthusiasmus allerdings allzu schnell in kleinliche Besitzstandswahrungspolitik im Westen und Diskussionen über die angeblich bestehende Alternative eines „Sozialismus mit menschlichem Gesicht" im Osten. Uberall warnten die Medien davor, nun bloß nicht in ein Triumphgefühl gegenüber dem besiegten ideologischen Gegner zu verfallen. Warum eigentlich nicht? Warum soll man nicht triumphieren, dass die Herrschaft einer Ideologie und eines dazugehörigen Imperiums beendet war, das den Völkermord in noch nie gekanntem Ausmaße praktiziert hatte? In dessen Namen Völker auf allen Kontinenten erobert und versklavt wurden. Das für seine Bürger die bloße Meinungsäußerung zur Lebensgefahr machte? Das den Menschen östlich der Mauer zu einem äußerst kärglichen Lebensstandard verhalf? Und das noch bis in die 80er Jahren in der Dritten Welt — ich denke an Äthiopien unter dem „schwarzen Stalin" Mengistu - Millionen Menschen zum Hungertod verurteilte? Warum sollte man nicht triumphieren? Ich weiß es nicht. Natürlich ist nicht alles über jeden Zweifel erhaben, was nach 1989 real den Sowjetsozialismus ersetzte. Wer sieht, wie schwerfallig und halbherzig selbst kleinste Reformen in lange etablierten Demokratien vor sich gehen (ich rede nicht nur von der Bundesrepublik), der kann sich natürlich ausrechnen, welche Probleme und Widerstände einem so gigantischen Reformprojekt entgegenstehen wie das der Totaltransformation vom totalitären Sozialismus hin zur liberalen Marktwirtschaft. Es war wohl schlichtweg ein Fehler, „blühende Landschaften" zu versprechen, wo realisti-
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schere Einschätzungen auch realistischere Erwartungen zur Folge gehabt hätten, die dann nicht enttäuscht worden wären. Noch nirgendwo hat die Erholung einer völlig zerstörten Wirtschaftsstruktur auf einen Schlag stattgefunden. Es war lange Zeit populär, die Zeit des Wiederaufstiegs im Westen Deutschlands in den 50er Jahren als ein „Wirtschaftswunder" zu bezeichnen. Ludwig Erhard, der den marktwirtschaftlichen Kurs Deutschlands durchgesetzt hatte, und der in diesem Jahr seinen 100. Geburtstag gefeiert hätte, wurde entsprechend als der „Vater des Wirtschaftswunders" bezeichnet. Er selbst mochte den Begriff nicht. Ich kann dies verstehen, denn als Wunder bezeichnet man normalerweise etwas, das einzigartigerweise außerhalb der allgemeingültigen Gesetzlichkeiten geschieht. Das war hier eindeutig nicht der Fall. „Wenn ich diesen Begriff ablehne, so deshalb, weil sich in Deutschland kein Wunder ereignet hat, sondern eine auf freiheitlichen Prinzipien begründete Wirtschaftspolitik", sagte Erhard einmal 1958 in einem Vortrag. Es gibt also keine Wunder. Wer sie verspricht, schafft damit nur Enttäuschung. Was es aber gibt, sind klare Erkenntnisse darüber, was die Grundlagen eines erfolgreichen Gemeinwesens sind. Diese Erkenntnisse sind der Politik teilweise abhanden gekommen. Zu diesen Erkenntnissen gehört nicht nur die Einsicht in die Funktionsweise einer florierenden Marktwirtschaft. Es gilt immer noch, dass die Marktwirtschaft das einzige funktionierende Wirtschaftssystem ist. Sie alleine garantiert, dass das Handeln der wirtschaftlichen Akteure rational koordiniert wird und Ressourcen dort eingesetzt werden, wo sie am effizientesten eingesetzt werden. Dies setzt einen funktionierenden Preismechanismus voraus. Als Ludwig Erhard mit der Währungsreform von 1949 zugleich die Rationierung und die Preiskontrollen abschaffte, war damit Deutschland auf dem Weg nach oben. Ein gut funktionierendes freies Spiel der Preise alleine garantiert allerdings noch nicht den Erfolg. Es gehören noch mehr Voraussetzungen dazu. Eine erfolgreiche liberale Ordnung ist deshalb mehr als nur eine Wirtschaftsordnung. Sie lebt aus dem Zusammenspiel von politischer und wirtschaftlicher Verfassung. „Interdependenz der Ordnungen" nannte dies einmal der große deutsche Ökonom Walter Eucken, der einer der großen Vordenker des „Wirtschaftswunders" war. Es ist klar, dass eine Marktwirtschaft sich nur mit einem liberalen Rechtsstaat verträgt, der so konstruiert ist, dass der Bürger als Person und Eigentümer vor jeder Willkürherrschaft sicher ist und in seinem Streben nach Verbesserung seines Lebensstandards nicht beeinträchtigt wird. Dies klingt trivial. Staat und Markt werden immer nebeneinander existieren. Sie werden sich auch gegenseitig beeinflussen.
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Die Probleme, die sich daraus aber ergeben, werden dennoch oft übersehen. Dazu gehört die richtige Zuordnung von Missständen zu der richtigen Ursache. Die positiven Effekte eines staatlichen Eingriffes - etwa einer Kohlesubvention - sind immer klar sichtbar. Die schädlichen Nebenwirkungen sind es nicht. Die Vorteile werden konzentriert, die Nachteile dezentralisiert. Natürlich wird durch die Subvention von Arbeitsplätzen mit Beträgen von über 100.000 DM pro Stück mehr an Arbeitsplätzen zerstört als geschaffen. Die geschaffenen sind aber klar ausmachbar. Die zerstörten Arbeitsplätze werden hingegen unweigerlich der mangelnden Funktionstüchtigkeit des Marktes zugeordnet. Die Vorteile der Marktwirtschaft basieren ja gerade darauf, dass das Vorteilhafte dezentralisiert wird. Es gibt eben nicht mehr den allmächtigen Gönner, der alles lenkt. Was in der Realität von Vorteil ist, erweist sich als ein schweres Hemmnis beim Verkauf auf dem Markt der öffentlichen Meinungen. Das ist wohl das zentrale Problem aller marktwirtschaftlichen Politik. Man kann dieses Problem nur lösen, indem man marktwirtschaftliche Politik in einem Guss, möglichst schnell und mit möglichst wenig verzerrenden Eingriffen einführt. Der dann unweigerlich einsetzende Erfolg wird überzeugen, auch wenn die eigentliche Funktionsweise der Marktwirtschaft nur von wenigen verstanden wird. Ludwig Erhard hat dies so gemacht und wurde so zur „Wahlkampflokomotive" seiner Partei — einer Partei, die bis heute im tiefsten Inneren dieser Wirtschaftsform skeptisch gegenüber steht. Leider hat man dieses Rezept nach der Wiedervereinigung nicht beherzigt. Vielleicht war man auch dazu nicht mehr in der Lage. Wir beklagen ja erst seit einiger Zeit die mangelnde Reformfähigkeit unserer Politik. In Wirklichkeit liegen die Versäumnisse schon wesentlich länger zurück. Vergleicht man die erfolgreichen Reformländer — etwa die USA und Großbritannien - so sieht man, dass dort die Reformen, von denen man hierzulande heute nur spricht, schon Anfang der 80er Jahre real durchgeführt wurden. Die Probleme — etwa die strukturelle Arbeitslosigkeit — waren nämlich damals schon erkennbar. Der Bürger hatte schon 1982, als die sozialliberale Koalition endete und die gegenwärtige Koalition die Regierung antrat, vom Wähler ein eindeutiges Mandat zu durchgreifenden Maßnahmen bekommen. Obwohl die Politik damals mit dem vollmundigen Slogan von der „geistig-moralischen Wende" auf dieses Mandat reagierte, blieben die tatsächlichen Reformen meist hinter dem eigentlich Notwendigen zurück. Damit ist klar: Vieles, was heute im öffentlichen Bewusstsein in den neuen Bundesländern als Enttäuschung über die Marktfreiheit empfunden wird, sollte in Wirklichkeit eine Enttäuschung über eine Politik der Versäumnisse sein. Die neuen Bundesländer leiden heute, so könnte man sagen, an den Strukturfehlern, die die westdeutsche Politik schon lange zuvor unbemerkt einreißen ließ. Es ist leider nur wenigen Menschen klar, dass die Aussage von OECD-Studien, 80% der Arbeitslosigkeit in
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Deutschland sei struktureller Natur, nur eines bedeutet: Politikversagen und nicht Marktversagen! Dagegen hilft kein staatliches Ankurbeln des Konsums, wie es uns Oskar Lafontaine einreden will. Dagegen hilft auch nicht die klammheimliche Hoffnung mancher, mit dem Euro käme eine schwächere Währung auf uns zu, die dem Export nutze. Dagegen hilft auch nicht die Subvention von Arbeitsplätzen — etwas, woran leider nicht nur in den neuen Bundesländern viele Menschen ihre Hoffnung klammern. Alles dieses würde nur dafür sorgen, dass wir morgen noch mehr zusätzliche strukturelle Arbeitslosigkeit haben. Solange sich diese Erkenntnis nicht durchsetzt, wird man die Wirtschaftsfreiheit auch weiterhin nach Belieben als Sündenbock für alle Übel der Zeit einsetzen können. Damit ist auch die Freiheit als Ganzes bedroht. Sie ist es nicht nur, weil die meisten anderen Freiheiten auch von der Wirtschaftsfreiheit abhängig sind, etwa die Pressefreiheit. Es gibt keine Freiheit ohne Marktwirtschaft. Sie ist es auch, weil die Wirtschaftsfreiheit für weit mehr Menschen Konsequenzen — und zwar lebenswichtige Konsequenzen — hat als alle anderen Freiheiten. Der völlige Verlust von Wirtschaftsfreiheit bedeutet totale Versklavung. Es bleibt uns nichts anderes übrig als die Freiheit als Ganzes zu wollen. Ein Herauspicken von Rosinen gibt es nicht. Um diese Freiheit fest in der Politik zu verankern, bedarf es eines unter den Menschen eines Landes tief verwurzelten traditionellen Glaubens an die Freiheit. Er muss Teil der Kollektividentität werden. Nicht nur die Tatsache, dass der Zusammenbruch des Sowjetimperiums von vielen Menschen hier nur sehr zögerlich als Triumph anerkannt wurde, zeigt, dass eine solche liberale Kollektividentität hierzulande noch nicht so stark entwickelt ist wie man es sich wünschen könnte. Deutschland hat es in dieser Hinsicht natürlich schwerer als Länder, die gleich aus dem Geist der Freiheit geboren wurden. Man denke etwa an Amerika oder die Schweiz. Wir haben einfach keine historischen Identifikationsmythen wie etwa den Wilhelm Teil oder die Gründungsväter der USA. Unsere Geschichte weist hierfür zu viele Brüche und Abgründe auf. Das sollte uns aber nicht von der Aufgabe abhalten, wenigstens soviel an Identifikation mit der Freiheit zu erwirken wie möglich. Hierzu — so scheint mir — hat die Politik manchmal nicht einmal den Willen aufgebracht. Ich glaube im Nachhinein, dass es ein großer Fehler gerade der westdeutschen Politik war, das Modell der „alten Bundesrepublik" im Wesentlichen unverändert auf die neuen Bundesländer zu übertragen. Es schien damals verständlicherweise die effizienteste und am schnellsten wirkende Lösung zu sein. Langfristig war es aber vielleicht nicht die beste aller möglichen Lösungen. Ich sage dies nicht nur, weil schon damals das „Modell" Westdeutschlands durchaus schon etliche Reformstöße vertragen hätte, bevor es für den Osten exportreif gewesen wäre. Ich sage es vor allem, weil es die Grundfrage betrifft, die wir uns am heutigen Tag der Deutschen Einheit stellen sollten, nämlich: Wie
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einheitlich soll die Einheit sein? Meine Antwort heute lautet: Nicht so einheitlich wie es sich jene (meist westdeutschen) Enthusiasten nach der Wiedervereinigung dachten, die gar ein Verfassungs2iel „Innere Einheit" — was immer das sei — festschreiben lassen wollten. Die Menschen in Ost und West haben nun einmal verschiedene Erfahrungshintergründe und Identitäten. Nicht nur sie. Jeder Bayer wird Ihnen bestätigen, dass das gleiche auch für Nord und Süd gilt. Die lange historische Verbindung mit der nationalen Einheitsbewegung, die in das 19. Jahrhundert zurückreicht, hat gerade bei den demokratischen und liberalen Kräften in unserem Lande eine Neigung aufkommen lassen, dass eine deutsche Einheit unweigerlich mit Einheitsstaat, Einheitskultur und den im Grundgesetz geforderten einheitlichen Lebensbedingungen verbunden sein müsse. Ich bezweifle dies. Gerade in der Vielfalt hat von je her Deutschlands politische Identität gelegen. Sie war Merkmal des alten Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Was oft vergessen wird: Sie war selbst Merkmal des Bismarckschen Staates, in dem der Reichstag lange Zeit eine relativ geringe Rolle in der Innenpolitik spielte, während der Bundesrat das Sagen hatte. Tatsächlich war das wilhelminische Kaiserreich wahrscheinlich dezentralisierter als die heutige Bundesrepublik. Ich sage es ganz ehrlich. Vielleicht wäre ich glücklicher, wenn ich heute nicht zum Tag der Deutschen Einheit zu Ihnen sprechen würde, sondern zum 17. Juni 1953. Der ist allerdings immer nur ein äußerst schwächlicher Tag der Identitätsstiftung der Westdeutschen geblieben, und das auch nur während der Zeit des Kalten Krieges. Es ist traurig, dass er deshalb im Osten nie Wurzeln fasste. Es bleibt daher nur ein Gedankenspiel, die Frage aufzuwerfen, ob hier nicht eine ostdeutsche Identität hätte entstehen können, die in ihrem Anderssein die gemeinsame Identität befruchtet hätte. Es ist ja tatsächlich etwas, das den Bürgern der ehemaligen DDR zur Ehre gereicht, dass sie es waren, die als erste gegen das kommunistische Unrechtssystem aufstanden — noch bevor dies die Bürger Ungarns 1956 und die der Tschechoslowakei 1968 taten. Aber man braucht gar nicht dieses müßige Gedankenspiel weiterzuführen. Ich denke, die Erfahrung, die jeder Bürger der ehemaligen DDR in Umgang oder gar Konfrontation mit dem damaligen System gemacht, hätte in jedem Fall ein wertvoller Beitrag sein können. Indes, bei der Wiedervereinigung überwog auf allen Seiten das trügerische Versprechen, Wohlstand per politischen Beschluss hier und jetzt einzuführen, über solche dauerhafteren Erwägungen. Damit wurde nicht nur die langfristige Tragfähigkeit dieses Wohlstandes selbst gefährdet und durch kurzatmige Subventionsversprechen unterminiert.
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Wer gegen Subventionen in den neuen Ländern wettert, handelt sich schnell den Vorwurf sozialer Hartherzigkeit ein. Das ist falsch. Subventionen kompensieren und perpetuieren zugleich Strukturfehler in der Wirtschaft. Diese Strukturfehler sind oft rein politisch produziert. Sie abzubauen ist immer förderlicher als ihre Folgen wegzusubventionieren. Man sieht es an Ländern wie Polen, Esdand oder Slowenien. Sie haben ohne Subventionen tragfahiges Wachstum erreicht. In den neuen Bundesländern gibt es mit Subventionen hingegen kaum tragfähiges Wachstum. Mehr noch: Der in die neuen Länder übertragene Staat des Westens ist zu groß und zu teuer. Mit ihm hätte es in der alten Bundesrepublik nach 1949 auch kein Wirtschaftswunder gegeben. Es war nicht nötig, dass wir unsere Bauvorschriften bis an die Oder ausgeweitet haben — so schön waren sie nun wirklich nicht. Eigentlich müsste es tiefe Scham im westlichen politischen Establishment hervorrufen, dass sich heute immer mehr Bürger der neuen Länder — Bürger, die den reinen totalitären Verwaltungsstaat miterlebt haben! — über zuviel Bürokratie beschweren. Hohe Subventionen und schwerer Verwaltungsstaat: Beides hängt zusammen. Mit Subventionen kommt immer Bürokratie. Zuviel Bürokratie ist teuer, wie das Beispiel der Bauvorschriften zeigt, und muss deshalb in einer noch schwachen Ökonomie mit Subventionen kompensiert werden. Ich denke, es ist noch nicht zu spät, etwas dagegen zu tun. Dieser Teufelskreis kann durchbrochen werden. Ich habe vor einiger Zeit die Anregung gemacht, über eine Reform des Föderalismus in unserem Lande nachzudenken. Auch wenn dies zunächst dem aktuellen Ärger über die sozialdemokratische Blockadepolitik des Bundesrates entsprungen sein mag, es spielen echte langfristige Erwägungen dabei eine Rolle. Unser bisheriger Föderalismus basiert mehr auf der Partizipation der Länder an der Bundesgesetzgebung, denn auf genuiner Subsidiarität. Die Länder werden damit ein Teil der egoistischen „Selbstbedienungs"-Prozesses, der zur Ausweitung der Staatsquote oder zur Verhinderung von Reformen führt, die an Besitzstände rühren. Um den Föderalismus wieder zu dem ursprünglich beabsichtigten Instrument der Staatsbegrenzung zu machen, müssten substantielle Kompetenzen exklusiv an die Länder gegeben werden. Dies gilt insbesondere für die Bereiche Sozial- und Steuerpolitik. Natürlich würde das den Bundesrat schwächen, aber auch dem Bundestag würden ja Kompetenzen entzogen. Die Schwächung des Bundesrates wäre dabei nicht eine Schwächung des Föderalismus, sondern seine Stärkung. Es gäbe keinen zentralistischen Pseudoföderalismus mehr, sondern echten Föderalismus. Insbesondere würde damit der Wettbewerb zwischen politischen Strukturen gestärkt, der ebenso wichtig ist wie der Wettbewerb in der Wirtschaft. Wesentliche Bedingung hierfür wäre die
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Abschaffung von sogenannten „Mischfinanzierungen" zwischen den Ebenen und die Minimierung „zwischenstaatlicher" Transfers. Derartiges könnte nicht nur einen Staat kreieren, der ordnungspolitisch eher zur Marktwirtschaft passt. Nichts brauchten wir dringender. Es würde auch die viel beschworene Bürgernähe in der Politik stärken. Umfragen haben ergeben, dass die Mehrheit der Bundesbürger glaubt, dass die Landesregierungen sich mehr an den realen Problemen der Bürger vor Ort orientieren können. In realen Kompetenzen, die den Landesregierungen die Ausnutzung dieses Vorteils ermöglichen, fehlt es aber weitgehend. Ich leugne nicht, dass Landesregierungen auch unsägliche Politik betreiben können. Trotzdem bietet ein echter Föderalismus die Chance, dass das politische Kleid zu den Verhältnissen passt. Ein Sozialsystem, das der wirtschaftlichen Stärke entspricht, wäre besser als ein Sozialsystem, das dauerhafte politische Abhängigkeit von Transfers produziert. Eine geringere Regelungsdichte, die auch Aufstrebenden eine Chance gibt, wäre es wohl auch. Politische Gestaltungsmöglichkeiten die dem Willen und der Wahl der Bürger entsprechen, wären es auch. Auch das sollte man nicht vergessen bei Bürgern, die einst unter dem Motto „Das Volk sind wir" demonstrierten. Es ist in dieser Hinsicht wohl zu konstatieren, dass bisher wenig geschehen ist. Die einzige seriöse Grundsatzdebatte dazu wurde sehr schnell ohne weitergehende Uberprüfung ad acta gelegt. Es war die Idee, dass die neuen Länder zu einem Niedrigsteuerland werden sollten. Um in den neuen Ländern dazu die ökonomischen und finanziellen Möglichkeiten zu schaffen, hätte es aber weitgehender Reformen bedurft, wovor man wohl damals zurückschreckte. Es gibt aber auch einige positive Zeichen. Sachsens Sonderweg bei der Pflegeversicherung, die dort auch ohne Arbeitgeberanteil funktioniert, ist ein Beispiel. Auch die verstärkte Möglichkeit von Plebisziten in Brandenburg ist zu nennen. Erfreulich ist dabei, dass solche — zugegebenermaßen noch kleinen — Eigenständigkeiten eben nicht nur aus Bayern, sondern auch vor allem aus den neuen Bundesländern kommen. Wir sollten diesen Weg konsequent und mit Mut weiterdenken. Um zu meinem Thema, die Ausbaufähigkeit der Freiheitsliebe bei den Deutschen, zurückzukommen: Freiheit ist in politischen Systemen nur dann stabil und mit Stolz erfüllend, wenn sie von unten und aus eigener Erfahrung gewachsen ist. Dafür spricht alle historische Erfahrung. Im 19. Jahrhundert haben sich fast alle der gerade unabhängig gewordenen Staaten Lateinamerikas freiheitliche Verfassungen gegeben, die nach dem Modell der US-Verfassung modelliert waren. Die meisten der so etablierten Demokratien fielen indes innerhalb kürzester Zeit wieder in die Diktatur zurück, während die US-Verfassung in den USA selbst das Bollwerk der Freiheit blieb. Ein
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und dieselbe formale politische Struktur konnte zweierlei Wirkung hervorbringen. Man lernt daraus: Aufkonstruierte politische Systeme scheitern. Ganz so schlimm steht es nun gottlob um Deutschland nicht. Aber ein wenig inspirierender könnte das Ganze schon sein. So wie es ist, ist es dies nicht. Vielmehr hat es dazu geführt, dass sich die Rückbesinnung auf das Eigene in ihrer Identität bei vielen Menschen in den neuen Ländern in eine falsche Richtung entwickelt — die „Ostalgie" darüber, das in der DDR alles gemütlicher war. So etwas findet man nicht einmal mehr unter den post-kommunistischen Parteien, die etwa in Polen und Ungarn wieder zu ernstzunehmenden politischen Faktoren geworden sind. Sie haben die Modernisierung in ihr Überzeugungssystem integriert und die Freiheit weitgehend zu ihrer eigenen Perspektive erhoben. Es geht also. Trotz aller politischen Fehler, die vielleicht auch nicht immer ganz zu vermeiden waren, steht doch die Sache von Demokratie und Freiheit auch in unserem Lande dennoch gar nicht so schlecht. Ich glaube, dass tief im Herzen die Menschen wissen, was sie gewonnen haben. Darüber kann die oberflächliche Sehnsucht nach Insignien alter DDR-Verhältnisse, etwa in Form früherer Waschmittelmarken, nicht hinwegtäuschen. Kein vernünftiger Mensch will mehr ein System, in dem politische Dissidenten verfolgt werden. Kein Mensch will mehr Mauern zwischen den Völkern. Kein Mensch möchte den Warschauer Pakt wiederbeleben, sondern jeder möchte stattdessen der NATO angehören. Kein Mensch möchte mehr Schlange stehen vor halbleeren Ladenregalen. Kein Mensch möchte mehr von Fünfjahresplänen reglementiert werden. Jeder weiß, wie gut es ist, dass das alles weg ist. Es mag ja nicht perfekt gewesen sein, was nach 1989 kam. Aber auch in dieser unvollkommenen Form hat die Freiheit, die mit dem Zusammenbruch der DDR kam, schon gezeigt, was sie zu leisten im Stande ist. Sie brachte enorme Vorteile, die wohl niemand ernstlich missen will. Das wird bei all den pessimistischen Ergüssen, die wir zu diesem Thema sicher auch am heutigen Tage hören werden, gerne übersehen. Man sollte dies sich nur öfter vor Augen fuhren! Man sollte sich nicht der (leider sehr deutschen) Liebe zum Weltschmerz hingeben. Es gibt Grund zum Optimismus. Und zwar mehr als wir denken. Natürlich kann man mehr erreichen. Hilfreich wäre dabei, wenn wir diesen Tag der Deutschen Einheit dazu nutzen, die Bedingungen hierfür zu erkennen. Eine Bedingung könnte darin liegen, dass wir über die Natur der Einheit selbst nachdenken. Es ist die Vielfalt, aus der die Einheit ihre Kraft speist. Sie wiederum erlaubt, dass die Freiheit, die im 19. Jahrhundert der Einheitsbewegung so sehr am Herzen lag, Wurzeln schlagen kann. Lasst die Menschen die Freiheit auf ihre Weise entdecken. Das ist das Motto. Vielleicht erlaubt uns diese Erkenntnis irgendeinmal, über Siege der Freiheit unbefangen zu triumphieren.
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150 Jahre liberale Revolution in Europa Vortrag bei der Festveranstaltung am 6. Mai 1998 in der Paulskirche zu Frankfurt am Main Als Vorsitzender der Stiftung für liberale Politik in Deutschland empfinde ich eine ganz besondere Freude und auch Stolz, Sie alle hier an diesem Ort zu einer Veranstaltung begrüßen zu dürfen, mit der an die liberale Revolution in Deutschland und in Europa vor 150 Jahren erinnert wird. Ganz besonders herzlich begrüße ich unter den Versammelten die Parlamentarier aus Deutschland und aus unseren Nachbarländern, die sich hier eingefunden haben, um mit uns eines wichtigen Stücks deutscher und europäischer Parlamentsgeschichte zu gedenken. Meine Damen und Herren: „Ein Vermächtnis" hat der erste Bundespräsident Theodor Heuss, der zugleich der erste Vorsitzende der F.D.P. und der Begründer der Friedrich-Naumann-Stiftung war, sein Buch über „Werk und Erbe von 1848" genannt, das vor genau 50 Jahren erschienen ist. Analog zu diesem Titel fühlt sich die Friedrich-Naumann-Stiftung auch heute noch in besonderer Weise der Revolution von 1848 und vor allem dem „Vermächtnis" der Paulskirche verpflichtet. Unser Interesse an und unsere Wertschätzung für 1848 und die so genannten „48er" liegt in dem Geschehen selbst und dessen Folgen begründet. Denn es waren ja vor allem liberal gesinnte Männer und Persönlichkeiten und liberale Prinzipien und Werte, die die Revolution auslösten und die sie vorantrieben. Am deutlichsten wird dies im Paulskirchenparlament, in dem die Liberalen unterschiedlicher Schattierungen die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten stellten. Die damaligen Liberalen waren sich weder hier, noch in den anderen damals gewählten Parlamenten in Berlin, Paris, Budapest und anderswo völlig einig, welches der richtige politische Weg sei, etwa beim Wahlrecht, bei der sozialen Frage, beim Staatsoberhaupt; über all diese Fragen wurde auch hier in Frankfurt lang und ausgiebig debattiert und gestritten. Aber es gab unter den meisten Parlamentariern doch so etwas wie einen Konsens über die Grundwerte, an denen sich die neue politische Ordnung orientieren sollte. Und diese Grundwerte waren zweifellos liberal geprägt: persönliche Freiheit in allen Lebensund Glaubensfragen, Rechtssicherheit, politische Partizipation der Bürger, nationale Selbstbestimmung, Freizügigkeit in Handels- und Wirtschaftsfragen etc. Die Ziele der Revolution fanden in den verschiedenen Ländern je nach Lage und Situation unterschiedliche Ausprägungen. In dem politisch zersplitterten Deutschland stand neben der persönlichen Freiheit vor allem die nationale Freiheit auf der Tagesordnung, komprimiert in der bekannten Formel „Einheit und Freiheit", mit der die deutschen Liberalen ihr Programm umschrieben.
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Aber es gab länderübergreifend Gemeinsamkeiten in den liberalen Bewegungen des Jahres 1848: Fast überall wirkten die liberalen Werte systemüberwindend, wenn nicht gar systemsprengend, also revolutionär, und überall zielte man auf eine freiere Gesellschaft, stand letztlich das Ideal der Bürgergesellschaft im Zentrum der Ziele und Hoffnungen. Meine Damen und Herren, gemessen an diesen Zielen ist die Revolution vor allem im Hinblick auf Deutschland immer wieder für gescheitert erklärt worden, und ist gerade die Frankfurter Nationalversammlung schwer dafür gescholten worden, dass es ihr nicht gelungen sei, eine neue, in die Zukunft weisende Ordnung zu etablieren. Sie wurde ob ihres angeblich zögerlichen und halbherzigen Vorgehens nicht nur für das „Scheitern" der Revolution verantwortlich gemacht. Man hat ihr obendrein vorgeworfen, sie habe durch ihr „Versagen" auch entscheidend dazu beigetragen, dass die deutsche Politik mittelfristig auf die bekannte verhängnisvolle Bahn geraten ist. Die These vom „Versagen des deutschen Bürgertums", das sich scheinbar am klarsten hier an diesem Ort manifestiert habe, feiert leider auch im Vorfeld der diesjährigen Gedenkfeier fröhliche Urstände, obwohl sie schlicht falsch ist. Und zwar falsch und ungerecht sowohl in Bezug auf die Paulskirche als auch auf die Revolution insgesamt. Meine Damen und Herren, wenn man in Betracht zieht, wie wenig praktische politische Erfahrung das in Frankfurt versammelte deutsche Bürgertum zuvor hatte sammeln können, vor welche Aufgaben es angesichts der politischen Situation in Mitteleuropa gestellt war und über welche Mittel und Möglichkeiten die Kräfte des Ancien Regime verfügten, dann kann sich das, was hier in der Paulskirche geleistet worden ist, zweifelsohne sehen lassen: Innerhalb von zehn Monaten wurde ein in sich stimmiger und tragfähiger Entwurf für eine neue, freiheitliche Ordnung in Deutschland vorgelegt. Nicht unter der Obhut eines mächtigen politischen Übervaters wie 1867 oder unter wohlwollender Führung auswärtiger Mächte wie 1948/49, sondern im offenen Dialog unter freigewählten und allein ihrem Gewissen verantwortlichen Abgeordneten. Macht man sich dies klar, dann kann man die Empfindungen nachvollziehen, mit denen der amtierende Parlamentspräsident Eduard Simson Ende März 1849 den Abschluss der Verfassungsberatung und die Entscheidung über das Staatsoberhaupt aufnahm. Ich zitiere Simson, der — nebenbei bemerkt — ein getaufter Jude aus Königsberg war, was auch für den großen, durch die Revolution bewirkten Fortschritt spricht: „An unserem edlen Volke aber möge, wenn es auf die Erhebung des Jahres 1848 und auf ihr nun erreichtes Ziel zurückblickt, der Ausspruch des Dichters zur Wahrheit werden, dessen Wiege vor fast einem Jahrhundert in dieser alten Kaiserstadt gestanden hat: ,Nicht den Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung ziellos
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fortzuleiten, zu schwanken hier und dorthin. Dies ist unser, so laßt uns sprechen und fest es behalten.' Gott sei mit Deutschland und seinem neu gewählten Kaiser." Das Sitzungsprotokoll fahrt dann in Klammern fort: „Es erschallt ein dreifach stürmisches Hoch in der Versammlung und auf der Galerie" — das wäre heute in einer deutschen Volksvertretung nicht mehr zulässig — „sowie das Läuten aller Glocken und Kanonensalven." Wie gesagt, meine Damen und Herren, meine ich, dass wir liberalen von heute den Stolz der Frankfurter Abgeordneten von damals durchaus teilen sollten. Es lag ja auch keineswegs am Ergebnis ihrer Beratungen, wenn das deutsche Volk die neue Verfassung zu seinem eigenen Schaden — mit Goethe gesprochen — nicht „fest behalten" wollte. Viele Deutsche wollten oder konnten die Chancen, die die neue, hier in Frankfurt verabschiedete liberale Ordnung bot, nicht sehen. Und diese Gegner der neuen Ordnung standen, das sei hier ausdrücklich vermerkt, beileibe nicht nur auf der Rechten, in den Reihen derjenigen, die von der alten feudalmonarchistischen Ordnung profitierten. Nein, man muss auch daran erinnern, dass es bereits damals eine m.E. politisch gefährliche Parlamentarismuskritik von links gab, dass radikaldemokratische Intellektuelle häufig Hohn und Spott über die in ihren Augen langwierigen Verfahren in der Nationalversammlung ausgössen, dass teils unter ihrer Führung, zumindest aber von ihnen angestachelt, gesellschaftliche Gruppen, die sich benachteiligt fühlten, des öfteren versuchten, durch Blockaden oder — neudeutsch — Go-ins Druck von außen auf parlamentarische Entscheidungen auszuüben. Vor diesem Hintergrund, meine Damen und Herren, bekommt die Frage danach, wer 1848/49 versagt hat, eine ganz andere Stoßrichtung. Es ist zugleich ein Hinweis darauf, wo sich die eigentlichen Reformkräfte im politischen Spektrum befinden, nämlich in der Mitte, was sicherlich nicht nur für 1848 zutrifft. Die Bewertung, die Revolution sei gerade in Deutschland mit fatalen Folgen gescheitert, wird aber auch aus einem anderen Blickwinkel zumindest stark relativiert, nämlich dann, wenn man eine europäische Perspektive anlegt. Im Vergleich mit dem Verlauf der Revolution in anderen Ländern und deren konkreten Ergebnissen zeigt sich nämlich, dass die deutsche Entwicklung gar nicht so außergewöhnlich war: In den Kernländern der Revolution hat sie fast nirgendwo ihre ursprünglichen Ziele erreicht; fast überall versuchten die alten Gewalten mehr oder minder mit Erfolg, das Rad in Richtung vorrevolutionäre Verhältnisse zurückzudrehen. Das trifft nicht nur auf Deutschland, Osterreich oder Italien, sondern in gewissem Sinne auch auf Frankreich zu: Auch dort mündete die Revolution bekanntlich zunächst nicht in ein freiheitliches System, sondern in der pseudodemokratischen Herrschaft eines in Wahrheit absolutistisch regierenden Monarchen.
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Dass demgegenüber in Preußen die Wiedererrichtung der absolutistischen Königsherrschaft nicht gelang, sondern der Monarch auch nach der Niederlage der liberalen Revolutionäre eine sicherlich sehr lückenhafte, aber zumindest in den Grundzügen liberale Verfassung samt dazugehörigem Landtag zugestehen musste, spricht eigentlich eher für die Durchsetzungskraft der liberalen Revolution in Deutschland. Völlig obsolet wird, meine Damen und Herren, die Auffassung vom Scheitern der Revolution, wenn man sie aus heutigem Blickwinkel betrachtet. Denn dann kann und muss man konstatieren, dass die damaligen Leitprinzipien genau diejenigen sind, die die politische Kultur und das Rechtssystem in den allermeisten europäischen Ländern bestimmen. Persönliche Freiheit und nationale Selbstbestimmung haben doch gerade in jüngster Zeit ihre große Ausstrahlungskraft und ihre revolutionäre Wirkung gegenüber allen erstarrten Strukturen, seien sie machtpolitischer, sozialer oder ökonomischer Art, erneut bewiesen. Manchen mag damals, 1989, die revolutionäre Zugkraft der Parole „Freiheit" fast anderthalb Jahrhunderte nach der eigentlichen liberalen Revolution erstaunt haben, uns Liberale, jedoch nicht. Wir sind immer überzeugt gewesen von der revolutionären Kraft der liberalen Werte gegenüber allen politischen und gesellschaftlichen Verkrustungen, gegenüber allen Ansprüchen und Privilegien, die nicht auf Leistung beruhen, gegenüber aller Macht, die nicht legitimiert ist, gegenüber allen Geboten und Verordnungen, die nicht im Rahmen einer demokratischen Gesetzgebung verabschiedet sind. Das zutiefst menschliche Bedürfnis nach Freiheit wird sich, das ist der liberale Glaubensatz, immer durchsetzen. Das hat sich in der Revolution von 1848 und ihren langfristigen Folgen gezeigt, das hat sich im Zweiten Weltkrieg und danach für den westlichen Teil Kontinentaleuropas gezeigt, und das hat sich 1989 und danach für den Rest unseres Kontinents gezeigt. Immer waren dabei liberale Persönlichkeiten und liberale Werte an erster Stelle derjenigen, die den Kampf führten. Doch dieser scheinbar unaufhaltbare Siegeszug liberaler Prinzipien ist kein Grund für den Liberalismus, sich zufrieden zurückzulehnen. Seit altersher ist bekannt, dass die Freiheit immer wieder neu erkämpft werden muss, weil es eben auch die Tendenz der menschlichen Natur gibt, sich durch die Beschneidung der Freiheit anderer eigene Vorteile zu verschaffen. Dazu braucht man nicht nur den Blick in die Ferne, auf Entwicklungen in der außereuropäischen Welt schweifen zu lassen. Auch in den europäischen Ländern, auch und gerade in Deutschland gibt es genug für liberale zu tun, gilt es antifreiheitliche Tendenzen und Strukturen zu bekämpfen. In dieser Schlacht um die Freiheit ist hoffentlich nicht nur für die Friedrich-NaumannStiftung und den Liberalismus die liberale Revolution von 1848 eine „Verpflichtung", wie Theodor Heuss am Ende seines eingangs zitierten Büchleins gesagt hat. Gerade der gesamteuropäische Charakter dieser Revolution sollte sie zu einem
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„Vermächtnis" für den Liberalismus machen. In diesem Sinn wäre es schön, wenn jeder europäische Liberale — in Abwandlung eines Spruches über einen bekannten badischen Revolutionär - von sich sagen könnte: „Der freiheitliche Geist von 1848 lebet noch."
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Freiheit stirbt scheibchenweise. Friedrich August von Hayeks Werk enthält wertvolle Lektionen für Politiker Leicht veränderte Fassung des Artikels „Friedrich August von Hayek - Ein Blick auf Leben und Werk. Die Freiheit stirbt Stück für Stück. Friedrich August von Hayeks Werk enthält wertvolle Lektionen für Politiker", erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 106, 8. Mai 1999, S. 16 Jeder politisch engagierte Mensch, der zum ersten Mal Friedrich August von Hayeks großen Klassiker „The Road to Serfdom" (Der Weg zur Knechtschaft) gelesen hat, wird dieses Buch als einen Einschnitt in seine geistige Biographie empfinden. Mir ging es jedenfalls so. Auch heute noch — immerhin etwa 40 Jahre nachdem ich es zum ersten Mal las — gibt es für mich kaum ein Buch, das mir den Wert und die Gefährdungen der Freiheit des einzelnen so deutlich vor Augen führt. Die Notsituation, in der dieses Buch 1944 im britischen Exil geschrieben wurde, können hierzulande vielleicht nur noch Angehörige der Kriegsgeneration völlig nachvollziehen. Aber das Buch wäre nicht zum Klassiker geworden, hätte man nicht immer Lehren daraus ziehen können, die auch außerhalb des unmittelbaren historischen Kontextes wahr und aktuell bleiben.
Sozialisten in allen Parteien Sehen wir uns die wichtigste Botschaft des Buches, das Hayek voller Ironie den „Sozialisten in allen Parteien" widmet, einmal genauer an: Die Intellektuellen (und nach ihnen die Politiker) hätten, so schreibt Hayek, früher in der Freiheit des einzelnen „die einzige echte Politik des Fortschritts" erkannt. Dies hätte den Wohlstand aller befördert. Jetzt sei hingegen „Planung" das Modewort der Eliten geworden, dem sich keine Partei entziehen könne. Der Wohlstand solle mit Gewalt erzwungen werden. Die Tyranneien, die jetzt die Welt zerstörten — ganz gleich, ob sie sich „links" oder „rechts" definierten —, seien schrittweise aus der Verachtung kleiner, „nur" wirtschaftlicher Freiheiten entstanden. Vermeintlich „humanitäre" Denker hätten dieser Entwicklung Vorschub geleistet. Dies ist als Warnung an seine Exilheimat England — 1944 eine der letzten Bastionen der Demokratie in einem vom Totalitarismus verwüsteten Europa — gerichtet. Es ist aber von erfrischender Aktualität. Auch bei uns sinkt die Wertschätzung der vermeintlich „kleinen" Wirtschaftsfreiheiten in den letzten Jahren stetig. Der Niedergang des Sowjetimperiums nach 1989 war kein vollständiger Triumph der Freiheit.
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Obwohl ihre Überlegenheit (und ihre Freiheitsverträglichkeit) mehr denn je erwiesen ist, findet die Marktwirtschaft immer noch wenige Freunde unter Intellektuellen und Medienmachern. Dass Machwerke, die die liberale Wirtschaftsordnung als „Terror der Ökonomie" diffamieren, die Bestsellerliste stürmen, gibt Anlass zur Sorge. Und natürlich gibt es immer noch die „Sozialisten in allen Parteien".
Aktuelle Lehren Gerade heute gewinnen daher Hayeks zwei Kernlehren besonderes Gewicht: Erstens: Die Kontrolle des Staates über die Wirtschaft ist mit der Freiheit des einzelnen und mit der Demokratie nicht vereinbar. Wer die wirtschaftliche Freiheit vernichtet, der vernichtet die Freiheit schlechthin. Die Unterdrückung der Menschen im ehemaligen Sowjetimperium war nicht der „zufällige" Missbrauch einer ansonsten guten Idee. Die Idee des Sozialismus konnte in der Praxis zu nichts anderem führen. Zweitens: Auch jede Mischform von Plan und Markt, wird zur Vernichtung von Freiheit fuhren. Das ist die Gefahr, der wir heute ausgesetzt sind. Sie ist umso schlimmer, da sie sich kaum merklich einschleicht. Schritt für Schritt wollen sich in einem solchen System Interessengruppen durch die Politik Privilegien verschaffen. Dieser Prozess, der für die Beteiligten ja den scheinbaren Vorteil hat, dass man auch ohne Produktivität zu Geld kommen kann, gewinnt automatisch an Dynamik. Als Bundeswirtschaftsminister habe ich es selbst immer wieder erlebt, was es heißt, wenn dieser Automatismus erst einmal in Gang gekommen ist. Jeder fehlgeleitete Interventionismus schafft neue Probleme, die dann wieder zu „Marktversagen" erklärt werden, die dann wieder neue fehlgeleitete Interventionen nötig machen. Diese endlose Spirale macht für den Liberalen die Politik zur Sysiphos-Arbeit. Am besten, so riet mir Hayek in einem Gespräch Anfang der 80er Jahre in Freiburg, man setzt sie gar nicht erst in Gang. Er hatte Recht. Wir sehen es heute: Jeder ernstzunehmende Versuch, die überzogene Staats- und Steuerquote abzubauen oder langfristig untragbare Sozialsysteme (Stichwort: Rentenkrise) zu reformieren, wird bereits durch das politische System vereitelt. Wir wissen noch nicht, wie schlimm die Folgen davon langfristig für unsere Demokratie sein werden, doch eine gewisse Alarmstimmung scheint angebracht.
Die Beschränkung der Macht Hayek würde nicht zu den großen liberalen Denkern unseres Jahrhunderts zählen, hätte er sich nicht darüber Gedanken gemacht, wie man dem scheibchenweisen Sterben der Freiheit Einhalt gebieten kann. Die Reform des Verfassungsstaats ist das Leitthema vieler seiner späteren Arbeiten. Sie verbinden in mit seinem Weggefährten
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Walter Eucken, der auch stets die Interdependenz der Ordnungen von Staat und Marktwirtschaft betonte. Beide müssen so gestaltet sein, dass sie langfristig „ordnungspolitisch" zueinander passen. Ich persönlich empfinde das Hayeksche Postulat, auch die Demokratie müsse in Zukunft strikteren Verfassungsregeln unterworfen werden, als die zentrale Zukunftsaufgabe. Dazu hat er zahlreiche Vorschläge gemacht. Diese mögen nicht immer praktikabel und sinnvoll sein — etwa die Forderung nach einer Untergrenze des passiven Wahlrechts auf ökonomisch unabhängige Bürger über 45 Jahre, die ja nur dann realisiert werden könnte, wenn ein Teil der Bürger freiwillig bisher garantierte demokratische Anrechte abträte. In der Bundesrepublik ist wohl heute die Forderung nach einem neuen Föderalismus der logische Ausfluss dieser Gedanken. Ein neuer Föderalismus sollte nicht mehr nur intergouvernmentale Umverteilung zum Zweck haben, sondern durch klare Kompetenzaufteilung Wettbewerb in das politische System bringen. Nur so kann man die Politik zu sparsameren Haushalten zwingen. Hayek — einer der wenigen großen liberalen Theoretiker, der auch immer überzeugter Föderalist war — hätte diese Idee sicher als Fortsetzung seines Erbes empfunden.
Mut und Hartnäckigkeit Heute, 100 Jahre nach seiner Geburt, ist Hayek zum weithin akzeptierten Klassiker geworden. Das war nicht immer so: Als 1944 „The Road to Serfdom" erscheint, ist Hayek der Ächtung durch das sozialistische Establishment ausgesetzt. Man deutet ihm an, dass man er wohl nie in die ehrwürdige „British Academy" aufgenommen worden wäre, wenn man seine Politischen Ansichten gekannt hätte. In Amerika hat er Schwierigkeiten, einen Verleger zu finden. Im besetzten Nachkriegsdeutschland verbieten die Westalliierten das Buch, weil es aufgrund seiner antisozialistischen Philosophie die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion gefährde. Wenn wir heute so etwas wie eine Renaissance des Liberalismus und der Marktwirtschaft erleben, dann verdanken wir dies auch dem Mut, mit dem Hayek trotzdem stets an seinen Uberzeugungen festhielt. Es ist daher noch etwas Entscheidendes, was wir aus dem Lebenswerk Friedrich August von Hayeks lernen können: Nämlich, dass es immer großen Mutes und großer Hartnäckigkeit bedarf, die Freiheit zu verteidigen.
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Verfassungen sind Menschenwerk. 50 Jahre Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland Vortrag bei der Veranstaltung „50 Jahre Grundgesetz" der Friedrich-Naumann-Stiftung, Zagreb, 18. Mai 1999 Jacob Grimm ist den meisten Nichtdeutschen (und auch Deutschen) allenfalls als einer der beiden Gebrüder Grimm bekannt, und damit als Mitautor einer weltberühmten Sammlung von Volksmärchen. Im Jahre 1837 lagen seine Probleme allerdings nicht im Bereich des Märchenhaften, sondern waren ganz real. Gerade hatte man ihn, seinen Bruder Wilhelm und fünf andere prominente Professoren der Universität Göttingen wegen politischer Subversion aus dem Dienst entlassen. Das Königtum Hannover, in dem sich die Universität befand, wurde zuvor in Personalunion mit England regiert, weshalb es über eine recht liberale Verfassung verfügte. Als diese Personalunion mit dem Amtsantritt eines neuen Königs endete, hob dieser die Verfassung einseitig auf und setzte eine absolutistische Ordnung ein. Jacob Grimm und seine Mitstreiter, die als die „Göttinger Sieben" in die Geschichte eingingen, bestritten als konsequente Liberale die Rechtmäßigkeit dieses Aktes. Sie erklärten, ihr Eid auf die alte Verfassung sei weiterhin gültig, den auf die neue wollten sie nicht leisten. Nachdem sie daraufhin kurzerhand aus der Universität entlassen und mit einer Frist von drei Tagen des Landes verwiesen worden waren, schrieb Jacob Grimm, dass dies für ihn nicht nur ein persönlicher Schlag gewesen sei. „Schwerer fällt es, die weit in ganz Deutschland gefühlte und noch lange nachhaltende Wirkung des Ereignisses aufzufassen." Und er fügte hinzu, er hoffe weiterhin, dass der Verfassungsgedanke in Deutschland Fuß fasse, denn: „Allen ständischen Verfassungen in Deutschland kann der negative Nutzen schwerlich abgesprochen werden... Sie fördern nicht so offenbar, als sie wohltätig Missbräuche hemmen. Sie sind ein Damm, der eine Gegend noch nicht fruchtbar macht, aber den einbrechenden und versandenden Wellen wehrt." Es bedurfte noch langer Zeit, bis in Deutschland eine konstitutionelle Ordnung fest etabliert wurde. 112 Jahre nach dem Protest der „Göttinger Sieben" wurde in Bonn das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Es ist natürlich nicht diese schwer merkliche Zahl, die uns heute zum Feiern anlehnt, sondern der Umstand, dass dies 50 Jahre vor dem heutigen Datum stattfand. Mit dem 23. Mai 1949 verbindet sich eine konstitutionelle Erfolgsgeschichte, die man Deutschland nach den Erfahrungen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft kaum zugetraut hätte. Dies erstaunt schon alleine deshalb, weil man damals eigentlich eine gesamtdeutsche Verfassung nach der Wiedervereinigung des frisch
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geteilten Landes nicht vorwegnehmen wollte. Deshalb sahen die meisten Beteiligten das, was da an jenem Tage verkündet wurde, als ein eher kurzlebiges Provisorium an. Um dies zu unterstreichen, vermied man sogar den Begriff „Verfassung" und wählte die Bezeichnung „Grundgesetz", um den vorübergehenden Charakter des ganzen zu unterstreichen. Auch gab es keine „Nationalversammlung" wie anderswo, sondern einen weit weniger pompös klingenden „Parlamentarischen Rat". Als die Wiedervereinigung dann wesentlich später als einst erwartet tatsächlich kam, da war das vermeintliche Provisorium bereits so vital geworden, dass es keine neue gesamtdeutsche Verfassung mehr gab, sondern die Länder der ehemaligen DDR ihr einfach beitraten. Obwohl es den Namen „Grundgesetz" weiterhin trägt, ist dieses Grundgesetz doch zur richtigen Verfassung gewachsen. Im Großen und Ganzen hat sie das gehalten, was sich Jacob Grimm wohl von ihr erwünscht hätte, nämlich „wohltätig Missbräuche zu hemmen." Der Gewaltstaat ist in Deutschland ganz zweifellos dem Rechtsstaat gewichen. Aber was für eine Lektion lässt sich aus diesem Erfolg lernen? Als in der Folge der großen Revolution von 1989, die der kommunistischen Terrorherrschaft ein Ende setzte, sich überall in Ost- und Südosteuropa die Demokratie zu etablieren begann, da war die Neigung westlicher Experten groß, diesen jungen Demokratien ihr jeweiliges Ländermodell zu verschreiben. Es spricht für den demokratisch geläuterten Nationalstolz, den wir Deutsche mittlerweile für unser Grundgesetz empfinden, dass deutsche Experten dies ebenso machten wie ihre westeuropäischen oder amerikanischen Kollegen. Eine gewisse Naivität steckt allerdings schon dahinter — schon alleine, weil sie dort oft Dinge unkritisch weiterempfahlen, die sie selbst im eigenen Land zumindest für zweifelhaft hielten — etwa die fast monopolartige Stellung der Parteien im politischen Willensbildungsprozess. Die erfolgreiche Etablierung von Verfassungen ist nie ein einfacher technischer Ubertragungsakt, sondern er ist immer von historischen Vorbedingungen abhängig. Ein Blick auf die Vorgeschichte des deutschen Grundgesetzes genügt, um dies zu erkennen. Die 112 Jahre von Jacob Grimm zum Grundgesetz von 1949 können als Zeit konstitutioneller Wirrnis aufgefasst werden. Dort findet man die gescheiterte Verfassung der Revolution von 1848, die lediglich vom Monarchen gewährte, oktroyierte Verfassung Preußens von 1850, die konföderativen Versuche des Deutschen bzw. Norddeutschen Bundes, die noch mit autoritären Versatzstücken versehene Verfassung des Bismarckreiches, die zwar überaus demokratische, aber letztlich gescheiterte Verfassung der Weimarer Republik nach dem ersten Weltkrieg, schließlich die an kein Verfassungsprinzip gebundene Gewalt der nationalsozialistischen Diktatur. Nein, Verfassungen lassen sich nicht „einfach so" etablieren. Sie sind auch äußerst fragil und haben sich in vielen Fällen nicht einmal als ein „Damm, der ... den
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einbrechenden und versandenden Wellen wehrt", bewährt, um es noch einmal mit Jacob Grimm zu sagen. Es kann auch nicht nur an der Präzision, mit der der Verfassungstext formuliert ist, liegen — obwohl dieser Präzision, wie ich noch zeigen werde, durchaus eine wichtige Rolle zukommt. Als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die meisten lateinamerikanischen Länder ihre Unabhängigkeit erlangten, gaben sie sich meist Verfassungen, die fast wortgenau identisch mit der Verfassung der USA waren. Trotzdem versanken nahezu alle dieser Länder innerhalb kürzester Zeit in der Diktatur, während die USA immer noch das Muster eines erfolgreichen Verfassungsstaates sind — man sieht: gleicher Text, verschiedene Wirkung! Das gleiche Phänomen beobachten wir auch heute — 10 Jahre nach der Revolution — in den ehemals kommunistischen Ländern. In manchen von ihnen ist der Rechtsstaat etabliert, in anderen gab es Rückfalle in autoritäre Herrschaftspraktiken. Diese Gefahr des autoritären Rückfalls besteht in Deutschland, 50 Jahre nach Verkündung des Grundgesetzes, nicht mehr. Die Väter des Grundgesetzes hatten noch sehr viel Mühe darauf verwendet, Sicherungsmaßnahmen gegen diese Gefahr zu treffen. Man wollte aus den Fehlern der gescheiterten Verfassung der Weimarer Republik lernen, die sich nach Meinung vieler Kritiker mit ihren eigenen Mitteln ausgehebelt hatte. So führte man eine 5%-Hürde bei Wahlen ein, um die Zersplitterung der Parteienlandschaft und damit Instabilität zu verhindern. Auf plebiszitäre Elemente wurde fast völlig verzichtet. Inzwischen hat sich gezeigt, dass so viel Vorsicht gar nicht nötig war, weshalb etwa die Frage nach mehr plebiszitären Elementen in der Verfassung heute wieder eifrig diskutiert wird - und zwar mit gutem Grund. Das Schweizer Beispiel zeigt, das Volksrechte am richtigen Platz (etwa der Steuerpolitik) sehr viel zur Wahrung der Freiheit beitragen können. Wie dem auch sei: Der Verfassungsgedanke ist heute in Deutschland fest in der Bevölkerung verankert. Die Ängste einiger verschrobener englischer Publizisten, die nach der Wiedervereinigung prophezeiten, die Deutschen würden bald wieder Hitlerstatuen an den Straßen aufstellen, waren nie etwas anderes als der Gipfel der Lächerlichkeit. Ich wage zu behaupten, dass auch in vielen Transformationsländern bald die konstitutionell gebundene Demokratie als der nicht mehr hinterfragte Normalfall gesehen werden wird. Dieser beruhigenden Nachricht möchte ich dann aber doch noch Ermahnungen zur Wachsamkeit nachschicken. Selbst wenn die Gefahr des direkten Umsturzes der Verfassungsordnung nicht unmittelbar droht, gibt es noch Gefahren. Sie sind besonders perfider Natur, weil sie oft kaum als solche wahrgenommen werden. Ich spreche von der schleichenden Erosion der Freiheit. Es ist - nebenbei bemerkt - so, dass ein totalitärer Umsturz fast immer von einer solchen schleichenden Erosion vorbereitet wird. Aber selbst dann, wenn ein solcher Umsturz nicht die Folge ist, ist
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das Phänomen eines schrittweisen Verlustes von Verfassungsfreiheiten schlimm genug. Einzelne politische Maßnahmen, die vielleicht gut gemeint waren, können sich über die Jahre in einem so großen Maße akkumulieren, dass sie dann doch die Lebenschancen der Bürger — sei es durch Arbeitslosigkeit, sei es durch ein übertriebenes bürokratisches Genehmigungswesen, oder was auch immer — entscheidend minimieren. Bevor ich dieses Problem an konkreten Beispielen aus den 50 Jahren des deutschen Grundgesetzes illustriere, seien zunächst einmal einige grundsätzliche Bemerkungen über den Sinn von Verfassungen vorangeschickt. Verfassungen sollen einen über der Politik stehenden Rahmen für die Politik bilden. Die sollen den Bürger vor jener Instanz schützen, die eigentlich zum Schutze des Bürger erst etabliert wurde, aber selbst oft eine große Gefahr für ihn darstellt: den Staat. Die moderne Verfassung ist die konkrete Ausformung des Gedankens, dass alle Macht an das Recht des Bürgers gebunden sein soll. Sie ist institutionalisierter Ausfluss der großen Idee der Menschenrechte. Das hört sich gut an, beinhaltet aber eine nicht aufhebbare Unmöglichkeit. Hätte nicht die Erfahrung gezeigt, dass die Verfassungsidee doch so einigermaßen leidlich funktioniert, wäre man geneigt, sie in das Reich metaphysischer Phantasterei zu verweisen. Das Paradox des Verfassungsstaates ist, dass er zwar einen über den kleinen und großen Sonderinteressen der normalen Menschen stehenden Maßstab verankern soll, aber dennoch von eben jenen normalen Menschen entwickelt und ausgeführt werden muss, die ohne ihre kleinen und großen Sonderinteressen nicht denkbar sind. In der Antike hat man dieses Problem dadurch zu kaschieren versucht, indem man die Staatsgründung immer irgendwelchen mythischen Gesetzgebern mit geradezu übermenschlichen Fähigkeiten zuschrieb oder sie — im Falle von Moses — gleich durch Gott inspirieren ließ. Entsprechend hoch waren auch die Erwartungen. Weil es eben so göttlich und perfekt war, konstituierte das ursprüngliche Gesetz gleich — um es mit Cicero zu sagen — die „res publica immortalis", die unsterbliche, ewige Republik. Noch einer der neuzeitlichen Väter des Verfassungsgedankens, der Engländer James Harrington spricht in seinem Buch „Oceana" von 1656 vom „immortal Commonwealth", in dem jede Willkür in der Politik für immer ausgeschaltet sei. Und noch im 18. Jahrhundert meint der ansonsten durchaus zu gesundem Skeptizismus neigende schottische Aufklärungsphilosoph David Hume, dass eine richtig durchdachte Konstruktion der Herrschaft des Rechts dafür sorge, dass es am Ende keine politischen Probleme mehr gebe, sondern nur noch die rein mechanische Ausführung der Gesetze. Das ist zwar eine schöne Utopie, aber immer noch eine Utopie, und damit entschieden realitätsfern. Jacob Grimm war da schon erheblich realistischer, als er nach sei-
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ner Entlassung in Göttingen schrieb: „Nicht dass Verfassungen ewige Dauer gebührt; sie sollen gleich allem Irdischen vergänglich und zerbrechlich sein." In der Tat wird es uns nie gelingen, eine völlig über Mensch und Politik stehende Verfassung zu etablieren. Der anglo-ungarische Philosoph Anthony de Jasay hat daher kürzlich die Idee einer liberalen Verfassung mit einem Keuschheitsgürtel für die Politik verglichen, bei dem die Dame selbst den Schlüssel besitzt. Dies sollte uns nicht dazu verleiten, den Verfassungsgedanken gänzlich zu verwerfen. Ich könnte mir kaum etwas Schlimmeres vorstellen. Es soll uns lediglich daran erinnern, stets wachsam sein, und nie zu glauben, mit einer einmal geschriebenen Verfassung seien wir schon über den Berg. Deshalb bietet selbst eine so erfolgreiche Geschichte wie die des deutschen Grundgesetzes durchaus Material für einige wichtige Lektionen. Lektion 1 lautet: Verfassungen sind Menschenwerk. Sind daher vom menschlichen Willen abhängig. Das gilt, wie das Beispiel der Bundesrepublik zeigt, nicht nur für den Verfassungsteil, der sich mit der institutionellen Ordnung befasst, bei der es per se keine a priori gültige „Bauanleitung" geben kann. Es gilt auch für jenen Teil, der sich definitiv mit a priori gültigen, abstrakten Annahmen befasst, nämlich dem Teil der Grundrechte. Das Grundgesetz schützt Grund- und Freiheitsrechte wie die Meinungs- und Pressefreiheit oder das Eigentum. Sie sind im Grundgesetz nicht nur durch die übliche 2/3-Mehrheit gegen Abschaffung gesichert, sondern sie sind unaufhebbar. Nötige Einschränkungen — etwa die Begrenzung des Demonstrationsrechts durch das private Eigentumsrecht — dürfen den „Wesensgehalt" der Rechte nicht verändern. Letzteres lässt gewisse InterpretationsSpielräume offen. Daher hat es selbst in diesem (theoretisch eigentlich nicht debattierbaren) Bereich heftige Debatten gegeben — und auch Änderungen. 1968 verabschiedete zum Beispiel die Große Koalition zwischen Christ- und Sozialdemokraten die so genannten Notstandsgesetze, die es erlauben, in einigen klar definierten Notfällen — antidemokratische Revolution oder Krieg — einige Artikel des Grundgesetzes zeitweise aufzuheben. Dies geschah nicht nur gegen den Willen der damals oppositionellen liberalen FDP, sondern auch trotz massiver Proteste auf den Straßen, insbesondere durch die Studentenbewegung. Derartiges könnte uns zu dem Glauben verleiten, dass doch die Demokratie als Mehrheitsherrschaft schon an sich ein gutes Korrektiv zur der Erosion der Freiheit durch die Regierung sei. Sollten die demonstrierenden Studenten damals tatsächlich die Volksmehrheit repräsentiert haben (woran man zweifeln kann), so könnte man dies vielleicht als eine Bestätigung dieser These werten. Bei späteren Fällen zeigte
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sich aber, dass die Bevölkerungsmehrheit im Zweifelsfalle gerne das eigene Sicherheitsbedürfnis vor die Wahrung individueller Rechte stellt. Das war so bei den Gesetzen, die in den späten 70er Jahren zum Schutz gegen den linken Terrorismus verabschiedet wurden, der zwar entsetzliche Verbrechen (man denke an die Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer) mit sich brachte, die Rechtsordnung der Bundesrepublik jedoch nie ernstlich destabilisierte. Hier gab es eine breite Mehrheit für Gesetzesänderungen. Das gleiche gilt auch für fast alle Debatten um das Asylrecht, aber nicht nur dort. Sie wissen vielleicht, dass wir den Artikel 13, die Unverletzlichkeit der Wohnung, vor kurzem geändert haben, um in Fällen von Verdacht auf schwere kriminelle Handlungen Wohnungen abhören zu können. Diese Änderung war vor allem bei Liberalen und liberal Denkenden durchaus umstritten. Meine Partei hat sich in einem Mitgliederentscheid mehrheitlich für die Änderung entschieden. Ich will aber nicht verschweigen, dass ich selbst im Parlament dagegen gestimmt habe, weil ich es mit meinem liberalen Gewissen nicht vereinbaren kann, Gefährdungen der Bürgerfreiheit zuzulassen, die sich aus dieser Änderung ergeben könnten. Populär macht einen eine solche Position nicht. Ja, auch die Volksherrschaft ist letztlich nichts anderes als gebündelter menschlicher Wille und damit ebenso eine potentielle Quelle menschlicher Willkür in der Politik wie andere Regierungsformen. Dass Spannungsfeld zwischen dem ethischen Anspruch des Verfassungsstaates in seiner Abstraktheit und der menschlichen Praxis bleibt auch in ihr erhalten. Dieses Spannungsfeld besteht nicht nur zwischen denen, die durch die Verfassung gebändigt werden sollen, d.h. die Teilnehmer am alltäglichen politischen Prozess, sondern auch schon dann, wenn die Verfassung vor Einsetzen dieses Prozesses erst einmal konstituiert wird. Es ist ja nicht umsonst so, dass Verfassungen nur selten durch ein bestehendes Parlament verabschiedet werden. Vielmehr versucht man meist so gut wie es geht, den antiken mythischen Gesetzgeber wenigstens durch eine von der Tagespolitik unabhängige Instanz — etwa eine Nationalversammlung — halbwegs zu ersetzen — aber eben nur halbwegs. Dies führt zu Lektion 2: Verfassungen sind Menschenwerk. Sie sind daher nie völlig durchdacht. Die Aufgabe, eine Verfassung zu schreiben, zieht oft — anders als die Tagespolitik — große Leute an. Man denke an die Verfassungsväter der USA wie George Washington, James Madison oder Benjamin Franklin. Gleiches gilt auch für den Parlamentarischen Rat, der vor 50 Jahren das Grundgesetz verkündete. Selten hat es in Deutschland eine solche politische Elite gegeben. Dies war sicher eine der Voraussetzung für den Erfolg ihres Werkes. Aber auch sie waren Menschen und auch sie
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konnten keine perfekte „res publica immortalis" schaffen. Die Bindung der Macht durch die Rechte des Menschen wurde auch bei ihnen zwangsläufig eine Frage politischen Konsenses — wenn auch eines Konsenses auf sehr hohem Niveau. Unter den Mitgliedern des parlamentarischen Rates befanden sich gestandene Liberale wie Theodor Heuss, der spätere Bundespräsident, aber auch gewichtige Vertreter anderer Strömungen. Das Grundgesetz ist daher nicht, wie ich es mir vielleicht heimlich wünschen könnte, ein Werk des reinen und unverfälschten Liberalismus. Als solches hätte es wohl auch nie Akzeptanz gewonnen. Die Folge sind eine Reihe von Inkonsistenzen, offenen Fragen und Spannungsfeldern, die sich nicht vermeiden ließen, die aber später Antworten verlangten. Ich will dies an einem Spannungsfeld erläutern. Die Bundesrepublik wurde durch das Grundgesetz als ein „sozialer Rechtsstaat" konstituiert. In ihr bestehen so klassischliberale Individualrechte wie das Recht auf Eigentum und Vertragsfreiheit neben verschiedenen Anspruchsrechten und Einschränkungen wie etwa der Bestimmung, dass das Eigentum immer der Allgemeinheit „sozial verpflichtet" sei. Im Parlamentarischen Rat gab es heftige Auseinandersetzungen zwischen den Liberalen und dem gesamten Rest der Parteien, ob der Bund das Recht auf Verstaatlichung von Eigentum haben dürfe. Immerhin gelang es den Liberalen, einen Kompromiss in dieser Frage durchzusetzen, der Entschädigung und gerichtliche Überprüfung vorsah. Hier geht es um die Frage der Konsistenz klassisch-liberaler Individualrechte und so genannter Sozialrechte. Gibt es in dieser Diskussion überhaupt einen universalisierbaren Maßstab? Universell sind meiner Auffassung nur jene „formalen" Rechte, die den Schutz von Leben, individueller Selbstbestimmung und Eigentum vorsehen. Sie sind auch in hohem Maße staatsbeschränkend im liberalen Sinne. Alle anderen Rechte, insbesondere die „sozialen" Rechte, sind eher kontextuell und von der sozio-ökonomischen Lage bestimmt. Sie stellen zudem keine Schutzfunktionen in den Vordergrund, sondern sind Zwangsrechte gegen die Selbstbestimmung und das Eigentum anderer Menschen. Sie wirken notwendig auf die Ausdehnung der Sphäre staatlichen Handelns hin. Zwischen beiden Rechtsauffassungen besteht also schon aus rein logischen Gründen ein Widerspruch, den ein Liberaler wohl generell zu Gunsten der universellen Menschenrechte lösen wird. In der Realität wird jedes staatliche Gemeinwesen wohl beide Rechtsverständnisse vermischen. In der Bundesrepublik war das jedenfalls der Fall. Einer der großen Liberalen im Parlamentarischen Rat, der spätere Bundesjustizminister Thomas Dehler, hat auf die Gefahren hingewiesen, die sich aus einem so wenig strikten Verfas-
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sungsdenken ergeben können. Er sah, dass die gerade von Ludwig Erhard etablierte marktwirtschaftliche Ordnung des Landes, die Freiheit und Wohlstand miteinander verband, so durch einen sozialpolitischen Staatsaktivismus unterhöhlt werden könne. Dagegen führte er später an: „Wer die sozialen Grundrechte will, verlangt vom Staat, dass er tief in die Sphäre der Menschen eingreift, ihr Eigentum und ihre Vertragsfreiheit beschränkt, dem Bürger den Großteil des Ertrages seiner Arbeit wegsteuert, und er nimmt in Kauf, dass damit die Kräfte, die im freien Wirken des Menschen liegen, gelähmt werden." Blicken wir zurück in die Geschichte der letzten 50 Jahre, so können wir nur feststellen, dass Dehler mit seinen Befürchtungen allenfalls nur in dem Sinne Unrecht hatte als diese bei weitem übertroffen wurden. Staatsquote und Spitzensteuersatz liegen heute deutlich über 50%, was noch vor 15 Jahren von den Regierenden als die Grenze definiert wurde, bei der verkappter in offenen Sozialismus umschlägt. Dies und ein ebenso kleinlicher wie aggressiver Regelungswahn haben uns bereits die höchsten Arbeitslosigkeitsraten seit der Weimarer Republik beschert. Hinzu kommen enorme Schuldenberge der öffentlichen Hand und nicht mehr tragfähige Sozialsysteme, die für zukünftige Generationen zum sozialen Crash führen können. Was mit unserer Demokratie und unserer Freiheit passiert, wenn diese Probleme einmal alle zusammenlaufen — darüber mag man kaum nachdenken. Keine Frage: Auch der Genius der Gründerväter hat nicht verhindern können, dass das niemals völlig durchdachte Menschenwerk „Grundgesetz" vor der Frage weitgehend scheiterte, wie denn der übermäßige Sozial- und Steuerstaat in annehmbare Grenzen gewiesen werden kann. Dies ist natürlich nicht nur ein deutsches Problem. Die Institution Staat ist heute fast weltweit pleite. Gerade deshalb ist es für die Zukunft der Verfassungsidee wichtig, neue Ansätze für die Lösung des Spannungsfeldes zwischen klassischen und „sozialen" Rechten zu finden, um der besonders gefährlichen Erosion der Freiheit dort Einhalt zu gebieten. Das bringt mich zu Lektion 3: Verfassungen sind Menschenwerk. Sie bedürfen ständiger Reparatur. Diesem Plädoyer für neue Ansätze zur Reparatur der Verfassung muss ich eine Warnung vorwegschicken. Wer zuviel an einer Verfassung herumdoktert, der gefährdet sie. Die endgültige Degeneration der Verfassung zum tagespolitischen Spielball wäre die Folge. Auch so erlebt man schon allzu oft, wie Politiker und Bürger auch ihren kleinsten Interessen einen moralischen Anstrich zu geben versuchen, indem sie sie zu Fragen von Grundrechten hochstilisieren. In der Diskussion um die Grundgesetzreform von 1994, die nach der Wiedervereinigung eingesetzt wurde, sah man dies. Was wurde da nicht alles als neues Grundrecht gefordert: Tierschutz, Recht auf Wohnung, Recht auf Arbeitsplatz — ja, sogar ein diffuses Recht auf „Mitmenschlich-
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keit" fand viele Anhänger. Gottlob scheiterten sie fast alle an der erforderlichen 2/3Mehrheit. Unser Staat wäre sonst zum Selbstbedienungsladen verkommen. Es bedarf großer Klugheit und der allgemeinen Verinnerlichung des Zwecks von Verfassungen, um derartigen Pseudo-Konstitutionalismus von echter Reparaturarbeit im Geiste der Verfassung zu unterscheiden. Dass man dabei manchmal Fehler macht, ist unvermeidlich. Was in der einen Situation als geboten scheint, erweist sich bald als abträglich. Ich will dies an einem Beispiel erläutern, das mir in letzter Zeit besonders am Herzen liegt, und das einen Kernbereich des politischen Systems der Bundesrepublik tangiert, nämlich die Reform des Föderalismus. Der Föderalismus ist eines der hervorragenden Verfassungsinstrumente, um die Politik subsidiärer und in ihrer Tätigkeitssphäre begrenzter zu halten - theoretisch jedenfalls! In der deutschen Praxis sieht es leider anders aus. Unser heutiger Föderalismus ist keineswegs mehr Ausdruck des Subsidiaritätsprinzips. Er basiert nicht auf eigenständigen und exklusiven Kompetenzen und Hoheitsrechten der Länder. Er basiert vielmehr auf deren Mitspracherecht im Bundesrat, der zweiten Parlamentskammer. Er ist also in Wirklichkeit ein Zentralismus, in dem möglichst viele Beteiligte ihr eigenes Süppchen kochen. Verschärft wird dies durch das Fehlen jeglicher Steuerhoheit der Länder, die dies durch Finanzausgleiche zu kompensieren haben. Derartiges ist von Übel, denn es verspricht den Ländern scheinbare Umverteilungsgewinne zu Lasten anderer Länder und des Bundes. Diese können isoliert betrachtet scheinbar höher sein als Gewinne, die durch eigene Steuererhebung (und Wirtschaftskraft) erzielt werden können. Damit ist ein Anreiz für das Abtreten von Kompetenzen zu Gunsten dieser scheinbaren Umverteilungsgewinne gesetzt. In der Tat haben die Länder deshalb im Verlauf der bundesrepublikanischen Geschichte massiv Rechte und Kompetenzen an den Bund abgegeben. Die Folge ist nicht nur ein Drang zur Zentralisierung. Es fördert vor allem verantwortungsloses Haushalten mit Steuergeldern. Das Land, das gut wirtschaftet, wird mit einer Art „Sondersteuer" belastet, um für die Fehler anderer aufzukommen. Der so initiierte Umverteilungskampf zwischen den Körperschaften führt zu einem undurchsichtigen Kompetenzwirrwarr. Dazu trägt auf noch das Prinzip der Mischfinanzierungen zwischen den Ebenen bei. Es fuhrt nochmals zu einem Abbau klarer Verantwortungen bis in die Kommunen. Aufgeblähte Haushalte, Schuldenberge und Misswirtschaft auf allen Ebenen sind die Folge. Dafür kann man die Verfassungsväter nicht verantwortlich machen. Sie hatten vor 50 Jahren einen Föderalismus geschaffen, der staatsbeschränkend und subsidiär war. Es gab klar getrennte Kompetenzzuweisungen und es waren auch keine großen Umverteilungsströme zwischen den Gebietskörperschaften vorgesehen. 1969 hielt
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man dieses Modell für effizienzmindemd und verschwenderisch. Die föderale Finanzverfassung sollte stromlinienförmiger werden. Die entsprechende Reform, bei der große Teile des Grundgesetzes geändert wurden, wurde von fast allen Verfassungsjuristen und Finanzwissenschaftiem als Jahrhundertwerk gepriesen. Es war sicher kein Werk kleinlichen Parteigeistes. Erst seit einigen Jahren erkennt man immer mehr, dass es diese Reform von 1969 war, die uns die zuvor genannten Probleme beschert hat. Gottlob hat meine eigene Partei, die FDP, damals der Reform nicht zugestimmt, was es mir heute leichter macht, eine Umkehr zu fordern. Aus heutiger Sicht muss der Weg der Dezentralisierung, der Kompetenztrennung, der klaren finanziellen Verantwortlichkeiten und der Subsidiarität eher noch konsequenter beschritten werden als es die Gründungsväter vor 50 Jahren vorgesehen hatten. Dies ist ein Beispiel dafür, dass es oft langer Erfahrung und genauer Beobachtung bedarf, um die wirklichen Defekte in einer Verfassungsordnung zu entdecken und behutsam zu reparieren. Das ist schwierig, denn jede Verfassung und auch ihre Reform funktioniert nur, wenn in der Politik ihre Werte und Ziele verstanden und befürwortet werden. Sie trägt sich nie von alleine. Ich kann nur hoffen, dass dies bei der heutigen Politikergeneration ebenso der Fall ist wie bei der vor 50 Jahren, obwohl ich hier einen gewissen Pessimismus nicht verhehlen möchte. Denn die Europäische Union, der in Kürze auch viele Transformationsländer — darunter allerdings nicht Kroatien — beitreten wollen, wird immer mehr der neue Fokus für eine Verfassungsdiskussion. Bisher hat der europäische Einigungsprozess völlig in den Händen des tagespolitischen Prozesses gelegen. Das hat eine ordnungspolitisch sehr unbekümmerte und wenig prinzipiengeleitete Umverteilung von Macht nach oben zur Folge gehabt. Die staatliche Gewalt wird in Europa immer bürgerferner. Und wo der Bürger fern ist, da lässt es sich unbeschwerter bevormunden, regulieren und umverteilen. Vom Verbot der Tabakwerbung — immerhin eine schwerwiegende Einschränkung der Meinungsfreiheit — bis hin zum Bananenprotektionismus zieht sich der Faden. Er führt uns zu der Erkenntnis, dass auch hier eine striktere konstitutionelle Bindung der Politik an Verfassungsprinzipien angesagt ist. Da dies die Vollendung dessen wäre, was die Väter des Grundgesetzes vor 50 Jahren wollten, scheint mir gerade heute eine Rückbesinnung auf die Qualität und die Bewährtheit des deutschen Grundgesetzes angebracht. Spätere Generationen europäischer Verfassungsväter müssen sich an der Leistung der Männer und Frauen des Parlamentarischen Rats auch in Zukunft messen lassen. Denn bei allen kleinen Mängeln des Grundgesetzes, die man im Laufe der Zeit erkennen und ausbessern musste und noch ausbessern muss, zeigt sich, dass ihr Werk doch Bestand hatte — ein Bollwerk, das doch einigermaßen, um noch einmal Jacob Grimm zu zitieren, den „einbrechenden und versandenden Wellen wehrt.".
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Sie haben damit sicher nicht die beste aller denkbaren Welten geschaffen. Auch ihre Verfassung ist und bleibt Menschenwerk. Aber der besten aller möglichen Welt kamen sie schon sehr nahe. Dafür schulden wir ihnen Dank.
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Wirtschaftspolitik für den Menschen. Vor 100 Jahren wurde Wilhelm Röpke geboren Leicht veränderte Fassung des Artikels „Das Gebot der Moral und der Klugheit. Das Werk des Nationalökonomen Wilhelm Röpke ist ein Schlüssel zum Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft", erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 235, 9. Oktober 1999, S. 16 „Es ist zugleich ein Gebot der Moral und der Menschlichkeit und ein solches der staatsmännischen Klugheit, die Wirtschaftspolitik dem Menschen und nicht den Menschen der Wirtschaftspolitik anzupassen." Das Werk, aus dem diese Worte stammen, hat auch Jahrzehnte nach seinem Erscheinen nichts an seiner Aktualität verloren. Wilhelm Röpke, dessen Geburtstag sich am 10. Oktober zum 100. Male jährt, hat mit seinem Buch „Jenseits von Angebot und Nachfrage" 1958 schlichtweg das große Schlüsselwerk zum echten Verständnis der Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft verfasst. Dazu befähigte ihn wohl in besonderer Weise die Tatsache, dass er immer mehr war als ein bloßer Fachökonom. Man merkte allen seinen Schriften an, dass hier ein Mensch von umfassender Bildung und großer Lebenserfahrung schrieb, der in der Endphase der Weimarer Republik zu den letzten großen Intellektuellen gehört hatte, die das Ideal der liberalen Demokratie mit Inbrunst verteidigten. Sein 1931 veröffentlichter Aufsatz „Die Intellektuellen und der Kapitalismus" prangerte die Kritiker der Marktwirtschaft an, die letztlich mit ihren Vorstellungen der Tyrannei das Wort redeten. Die Totalitarismen links und rechts unterschieden sich hier kaum. Wer sich ihnen widersetzen wolle, der müsse auch die Marktwirtschaft verteidigen, meinte Röpke. In einer freien Gesellschaft müsse der Bürger auch eigenverantwortlich sein wirtschaftliches Handeln gestalten können. Erst dadurch würde eine politische Ordnung menschenwürdig. Röpke musste solche prophetischen Worte mit dem Exil bezahlen — zunächst in der Türkei, dann in der Schweiz, wo er bis zu seinem Tode 1966 in Genf lehrte.
Kein Markt im „ethischen Vakuum" Die bittere Erfahrung des Niedergangs der Freiheit hat für Röpke immer die Frage nach den Grundbedingungen für das Funktionieren und die Stabilität einer liberalen Ordnung aufgeworfen. Dass die Marktwirtschaft dazu gehörte, stand für ihn außer Frage. Er verstand sie immer als den einzigen funktionstüchtigen Koordinationsme-
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chanismus für die wirtschaftlichen Aktivitäten der Menschen in einer Großgesellschaft. Ohne freies und unverfälschtes Spiel der Preise fehlten die Signale für rationales wirtschaftliches Handeln. Allerdings, so meinte er, sei der Erfolg einer Marktwirtschaft immer von der Ordnung abhängig, in der sie eingebettet sei. Der Markt könne auch destruktiv sein — etwa wenn er sich durch Vermachtung und Monopolisierung selbst zerstöre. Wirtschaftliche Freiheit, politische Freiheit und funktionierende Institutionen seien zu einem ordnungspolitischen Ganzen zu verschmelzen. Der Markt dürfe nicht im „ethischen Vakuum" stattfinden, andererseits sollten die ethisch-politischen Rahmenbedingungen auch nicht gegen den Markt wirken. Diese Ordnung der Freiheit, die Röpke vorschwebte, war nicht die verfälschte Soziale Marktwirtschaft, wie sie sich heute viele Sozialpolitiker bequem zurechtlegen. Sie war nicht die bloße Hinzuaddierung eines spendablen Wohlfahrtsstaates zu einem bisschen Marktwirtschaft. Es ist heute Mode geworden, selbst die kleinste marktwirtschaftliche Reform mit dem Begriff „neo-liberal" zu diffamieren und dabei die Väter der Sozialen Marktwirtschaft als Kronzeugen und positive Gegenbilder anzurufen. Die Lektüre der Werke Röpkes, der sich zur damaligen Zeit die gleiche leere Worthülse „neoliberal" anhören musste, wird jeden Leser eines Besseren belehren. Das „Soziale" bestand für ihn und seine Mitstreiter — darunter Ludwig Erhard — immer im vollständigen und effizienten Wettbewerb, der die höchste wirtschaftspolitische Aufgabe sei. Die Ausschaltung des Wettbewerbs etwa im Arbeitsmarkt sei unsozial. „Die mit allen Machtmitteln des Monopols arbeitende und vor offener Erpressung nicht zurückschreckende Konzentration des Angebots auf dem Arbeitsmarkte durch zentralistische Gewerkschaften", so meinte er in „Jenseits von Angebot und Nachfrage", sei die „gefährlichste Bastion sozialwirtschaftlicher Macht." Das ist noch heute, im Zeitalter der Flächentarife, starker Toback. Dahinter steckt aber das immer noch erfolgreichste Wirtschaftskonzept aller Zeiten.
Ein Rahmen für die Freiheit Röpke war ein vielseitiger Schriftsteller. Insbesondere in Werken wie „Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart" (1942) oder „Civitas Humana" (1944) vereinigten sich reiche ökonomische, historische und geistesgeschichtliche Argumente zu einer umfassenden ethischen Perspektive. Nichts vernichte die Freiheit und die Marktwirtschaft schneller als ein ethischer Nihilismus, glaubte er. Ein solcher Nihilismus führe zu einem materialistischen Anspruchsdenken, das letztlich sein Heil in Forderungen an den Staat suchen würde. Röpke hat dabei wohl schon die Exzesse der 68er Generation erahnt, die mit ihrem radikal-emanzipatorischen Weltbild die - vielleicht anfangs ungewollte — Verstaatlichung weiter Lebensbereiche enorm vorangetrieben hat.
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Um die ethischen Voraussetzungen der Freiheit zu wahren, bedürfe es auch eines wertebestimmten politischen Bezugsrahmens. Der demokratische Verfassungsstaat gehöre dazu, aber auch die gerne vergessene außenpolitische Dimension. Konsequenterweise war Röpke einer der wirkungsvollsten publizistischen Verfechter der Westbindung der Bundesrepublik. Niemand verstand es so sehr, die Eckpunkte einer liberalen Politikkonzeption für die junge Nachkriegsdemokratie zu formulieren wie Röpke.
Der Vordenker eines liberalen Föderalismus Zu den intellektuellen Leistungen Röpkes gehört auch, dass er den Liberalismus von seiner Allianz mit dem staatlichen Zentralismus zu befreien trachtete. Diese war ein Erbe des schon damals problematischen Zusammenfallens von Liberalismus und nationaler Einigungsbewegung im 19. Jahrhundert. Für die stabile Verankerung des Freiheitsgedanken, so meinte Röpke, sei auch Dezentralisierung und Föderalismus nötig. Die „kollektivistische Behördenwirtschaft", so meinte er 1954, habe „ihren Aufhängepunkt in der nationalen Zentralisierung". Obwohl manche seiner sozialromantischen Schwärmereien über das solidarische Leben der „genössischen" Dorfgemeinde damals wie heute etwas realitätsfremd waren, hatte Röpke recht, wenn er meinte, dass politische Nivellierung und Zentralisierung das Gefühl der Eigenverantwortlichkeit — auch der sozial verpflichteten! — vernichteten. Dezentrale Strukturen im freien Nebeneinander sind Garanten dafür, dass der Staat weniger Allmacht gewinnt. Die anonyme, zentralisierte Großgesellschaft lässt hingegen den unabhängigen Bürgersinn verkommen. Der Konflikt zwischen Föderalismus und schleichender Zentralisierung ist in letzter Zeit in der Bundesrepublik wieder aufgebrochen. Die immer deutlich sichtbarer werdende Verkümmerung der Eigenverantwortung der Länder, die Röpke so sehr am Herzen lag, hat undurchschaubare Finanzausgleichströme und unklare politische Verantwortungszuweisungen zur Folge. Auch wer hier reformieren möchte, sollte wieder einmal Wilhelm Röpke lesen.
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Eine immer noch aktuelle Lektion für Verfassungsväter Vor 250 Jahren wurde James Madison, der Architekt der amerikanischen Verfassung, geboren Leicht veränderte Fassung des Artikels „Lektion für Verfassungsväter. James Madison hinterließ ein zwiespältiges Erbe. Europa sollte es richtig bewerten", erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Nr. 64,16. März 2001, S. 8 Selten, so könnte man meinen, habe es einen überzeugenderen Erfolgsausweis für ein Lebenswerk gegeben als dieses. Seit 1788 ist diese amerikanische Verfassung ein Bollwerk der Demokratie und Muster für die meisten Verfassungen der Welt. Der Mann, der wie kaum ein anderer diese Verfassung geprägt hat, war James Madison. Er wurde vor 250 Jahren, am 16. März 1751, in Montpelier (Virginia) geboren. Eigentlich wollte er Geistlicher werden, doch bald zog ihn die Politik in den Bann. Während des Unabhängigkeitskrieges war er ab 1780 Mitglied des Kontinentalkongresses. Nach dem Sieg von 1783 interessierte ihn vor allem, wie man die lose Konföderation der 13 nun unabhängigen Kolonien politisch stabilisieren könne. Von nun an wurde Madisons Leben ein Kampf mit den Glorien und Tücken des föderalen Verfassungsgedankens. Amerika stand 1787 vor der Aufgabe, vor der Europa heute steht, nämlich der Schaffung einer föderativen Ordnung aus zuvor souveränen Staaten. Madison gehörte in der sich daraus ergebenden politischen Debatte eher zu den Zentralisten, die sich „Föderalisten" nannten, während die Dezentralisten als ,Anti-Föderalisten" firmierten. Eigentlich hatte man die „Philadelphia Convention", die 1797 die Verfassung entwarf, mit keinem entsprechenden Mandat beauftragt. Die Delegierten der Staaten sollten Pläne für einen einheitlichen Wirtschaftsraum verfassen. Es begann eine Debatte, die in vielem (außer dem hohem Niveau auf dem sie stattfand) an die heutigen Debatten über den europäischen Einigungsprozess erinnert, wo auch mit pseudo-ökonomischen Argumenten (etwa für den „Euro") eine weitergehende „hidden agenda" der Zentralisierung von Macht vorangetrieben wird. Am Ende stand eine starke Bundesverfassung, die den Grundcharakter der politischen Organisation radikal veränderte. Mit den Worten „We the people" beginnt dieses Dokument, das aber gar nicht von Repräsentanten des amerikanischen Volkes, sondern von Delegierten der Einzelstaaten verfasst und auch nur von den einzelnen Parlamenten der Staaten ratifiziert wurde.
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Mit Grund witterten die „Antiföderalisten" hinter Madisons Plänen, einen Bundesstaat zu schaffen, Usurpation. Sie argumentierten im Sinne moderner Theorien des Wettbewerbsföderalismus. Gerade der Wettbewerb unterschiedlicher politischer Rahmenbedingungen treibe die wirtschaftliche Konsolidierung voran, nicht die zentralisierte „Harmonisierung". Madison beteiligte sich an der Ratifizierungsdebatte zusammen mit seinen „föderalistischen" Mitstreitern Alexander Hamilton und John Jay. Sie veröffentlichten 1787/88 eine Reihe von Essays zur Verteidigung der Verfassung, die als „The Federalist" bekannt wurden. Was Madison hier zu Problemen von Gewaltenteilung, Machtbeschränkung und Parteiendemokratie zu sagen hatte, gehört auch heute noch zu dem Genialsten, was auf dem Gebiet des Verfassungsdenkens je produziert wurde. Man tut wohl niemandem Unrecht, wenn man sagt, dass keiner der heute an der europäischen Verfassungsdiskussion Beteiligten das intellektuelle Niveau eines Madison erreicht. Daher hat die Leichtigkeit, mit der heute Europa zentralisiert wird, schon etwas Beunruhigendes an sich. Es lohnt sich deshalb auch einmal, die Schattenseiten von Madisons Wirken aufzuzeigen, die durchaus als Lektion für die aktuelle Diskussion dienen könnten. Sie können als Warnung dienen, wenn Zentralisierungsprozesse als „hidden agenda" portiert und brenzlige Fragen ungelöst gelassen werden. Repräsentierte die Verfassung einen echten Bundesstaat oder war sie ein Staatenbund? Welche Einspruchsrechte hatten die Einzelstaaten? Diese Fragen sind auch heute in der EU unbeantwortet, obwohl die „Integration" planlos vorangetrieben wird. Man kann Madison im Gegensatz zu heutigen Politikern noch fast verzeihen, dass er dabei meinte, ein großer demokratischer Bundesstaat versammle zu viele Differenzen und Eigenheiten in sich, weshalb eine zentralistische Interessenpolitik immer daran scheitern müsse. Er kannte halt die Berge von Verordnungen nicht, die man heute aus Brüssel gewohnt ist. Dass sich die diversen Interessen sehr schnell sammeln konnten, und dass die Bundesebene dadurch rapide Kompetenzen zu Lasten der Einzelstaaten an sich ziehen konnte, musste Madison aber schon bald selbst erfahren. Ohne Erfolg versuchte er 1791 die Etablierung einer US-Nationalbank zu verhindern. Er musste zusehen, wie Bundesadministrationen immer wieder versuchten, durch die Finanzierung von Projekten, die klare Kompetenzverteilung zwischen Bund und Staaten aufzuweichen. Die finanzielle Verantwortungslosigkeit, die heute den deutschen (und im Grunde schon den europäischen) Föderalismus auszeichnet, war bereits zu Madisons Zeiten in Amerika vorgezeichnet.
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Dabei hatte Madison ernstlich 1791 mit den zehn Verfassungszusätzen (Amendments) versucht, dem einen Riegel vorzuschieben. Nur die explizit in der Verfassung aufgezählten Kompetenzen stünden dem Bund zu, alles andere wären dem Volk und den Einzelstaaten zustehende Rechte, so heißt es im 10. Amendment. Damit hatte er das heute so genannte Subsidiaritätsprinzip klarer formuliert als dies heute in den Verträgen von Maastricht und Amsterdam der Fall ist. Genutzt hat es wenig. Mit Grausen sah Madison 1798 wie die Mehrheit der konservativen „Föderalisten" im Kongress aus Furcht vor dem Ubergreifen „jakobinischer" Ideen aus dem revolutionären Frankreich die so genannten „Alien and Sedition Acts" verabschiedete, die sich gegen Immigration und gegen die Meinungsfreiheit richteten. Dies verletzte Verfassungsrechte, sowohl auch Bundes- als auch auf Staatsebene. Trotzdem unternahm der Supreme Court nichts. Madison vollzog daraufhin den Bruch mit den „Föderalisten". Er schloss sich Thomas Jefferson an, der gerade die „Republikanische Partei" gründete. Beide verfassten die „Virginia and Kentucky Resolutions". Die Legislativen beider Staaten beschlossen darin, dass — kraft des 10. Amendments — die Einzelstaaten im Zweifel die Richter darüber wären, ob ein Bundesgesetz rechtmäßig sei. Virginia erklärte in der von Madison verfassten Resolution, dass der „Alien and Sedition Act" unrechtmäßig sei und von diesem Staat für ungültig erklärt werde. Welche praktischen Konsequenzen sich daraus ergeben könnten, ließ Madison offen. Zu spät und zu unentschieden hatte er darüber reflektiert, wie man sich eigentlich „von unten" selbstbestimmt gegen unlauteren Zentralismus wehrt. Der Wahlsieg Jeffersons als Präsident 1801 überdeckte diese Probleme bloß, ließ sie aber ungelöst. Madison wurde 1809—17 sein Nachfolger. Die Präsidentschaft verlief glücklos und war von dem Krieg mit Großbritannien von 1812—14 — ein Nebenkonflikt der Napoleonischen Kriege — geprägt. Die Realitäten der Politik vertrugen sich immer weniger mit Madisons konstitutionellen Idealvisionen. Wieder schwenkte Madison zurück auf die Seite des Zentralismus — durch die Wiedererrichtung der zuvor von ihm bekämpften Nationalbank (1816) und durch eine protektionistische Handelspolitik. Seinen Nachfolgern hinterließ er ein zwiespältiges Erbe. In den Jahren von 1828 bis 1833 tobte in Amerika zwischen den Nord- und Südstaaten, allen voran South Carolina, die so genannte „Nullifikationskrise". Es ging dabei um Zölle, die den Interessen des industrialisierten Nordens dienten, und denen des agrarischen und industrieimportabhängigen Südens widersprachen. Nachdem mehrere Vorstöße zur Senkung der Zölle im Kongress gescheitert waren, drohte South Carolina, die diskriminierenden Zölle für ungültig zu erklären.
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Dies lag eigentlich auf der Linie der Argumentation Madisons in der „Virginia Resolution". Doch als die Legislative von South Carolina 1832 konkrete Umsetzungen beschloss (wovor Madison ja 1798 noch zurückgeschreckt war) und Bundesbeamten das Einsammeln von Zöllen auf dem Territorium des Staates unter Strafe verbot, da schloss sich Madison in seinen „Notes on Nullification" von 1833 dem Verdikt des damaligen Präsidenten Andrew Jackson (1829-37) an, dass dies alles doch recht „anarchisch" sei und die Verfassung an ihren Wurzeln zerstöre. Die Bundesregierung begegnete dem Vorhaben South Carolinas mit einer Mischung von militärischer Drohung und einer drastischen Senkung der Zölle (die Madison ebenfalls abgelehnt hatte). Eine Krise wurde — vorerst! — abgewendet. Die große Katastrophe des Krieges zwischen Nord und Süd (1861-65) erlebte Madison, der 1836 in Port Conway (Virginia) starb, nicht mehr. Sie war nicht zuletzt auch die Konsequenz des Werkes, das Madison hinterlassen hatte, nämlich einer voreilig unternommen und in mancher Hinsicht unorganischen Zentralisierung des Staatsapparats — denn genau dies war die Verfassung von 1787/88. Gerade daran sollte man an diesem Jahrestag auch denken.
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Ordnung in Freiheit: Tradition und Zukunft der mitteldeutschen Kultur- und Wirtschaftsregion Vortrag bei der gemeinsamen Veranstaltung der FriedrichNaumann-Stiftung, der Erhard-Hübener-Stiftung und der WilhelmKülz-Stiftung „Mitteldeutschland: Kultur- und Wirtschaftsregion mit Zukunft", Schkeuditz, 24. Oktober 2002 Zur Eröffnung heute wollen wir mit Ihnen über das sprechen, was als Thema das „geistig einigende Band" dieser Reihe sein soll: „Mitteldeutschland: Kultur- und Wirtschaftsregion mit Zukunft". So wollen wir die Wechselwirkung von Kultur und Wirtschaft im ordnungspolitischen Gesamtrahmen sehen: für eine gute Zukunft Mitteldeutschlands. Ich weiß nicht, wie es Ihnen gegangen ist, als Sie das Thema zum ersten Mal gelesen haben: „Mitteldeutschland: Kultur und Wirtschaftsregion mit Zukunft"? Ich habe mich gefragt: — Wer ist das heute überhaupt: eine Mitteldeutsche, ein Mitteldeutscher? Gehört dazu nicht auch der Hesse oder der Franke und der Niedersachse, der Westfale, wo doch „ostfalisch" fast nur noch den Spezialisten geläufig ist? Goethe als Frankfurter Hesse - und Thüringer in Weimar: deutscher Patriot und Weltbürger. Frederike Caroline Neuber, die von Leipzig aus die abstrakte Theaterreform der Aufklärung auf die Bühnen von Kiel bis Straßburg brachte. So nähert man sich vielleicht dem, worum es bei „Mitteldeutschland" geht — natürlich um eine gute Zukunft für seine Menschen. Und was ist dann Mitteldeutschland heute? Klar ist dabei jedenfalls das: „Mitteldeutschland" ist nicht mehr der mitunter politisch so bequem gewesene Ersatz für „Sowjetische Besatzungszone" und „DDR": So hart als Einzelschicksal von Menschen über 50 Jahre sind; in der Geschichte ist diese Zeit kommunistischer Zwangsherrschaft Episode. Erst recht ist das Wort „Mitteldeutschland" kein Verweis auf ein „Ostdeutschland" im Sinne rückwärts gewandter Grenzdiskussionen. Da stöhnte schon Goethe den Romantikern sein „Amerika, du hast es besser" entgegen: „Dich stört nicht im Innern, zu lebendiger Zeit, unnützes Erinnern und vergeblicher Streit." Mitteldeutschland hat seine Identität in der Mitte von Deutschlands Kultur und seine Zukunft in der Mitte eines Europas der Regionen. Noch ein Punkt sollte klar sein: Das Wort „Mitteldeutschland" steht auch nicht für eine Länderfusion von Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen — jedenfalls nicht für uns.
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Und damit stelle ich zugleich ein Stück unserer Friedrich-Naumann-Stiftung vor. Sie hat ihren Namen von dem in Störmtal bei Leipzig geborenen und als Abgeordneter von Heilbronn in den Reichstag gewählten Liberalen Friedrich Naumann. Sein Schüler Theodor Heuss war 1947 der mit Wilhelm Külz gleichberechtigte Vorsitzende der Demokratischen Partei Deutschlands, Vorgänger der erst nach dem Tode von Wilhelm Külz 1949 in Heppenheim gegründeten FDP. Die Friedrich-Naumann-Stiftung ist — so steht es in unserer Satzung „auf der Grundlage des Liberalismus tätig." Unser Stiftungszweck vor allem: Wir vermitteln im Inund Ausland politische Bildung: historische und ideengeschichtliche Entwicklungen wie die von Mitteldeutschland, politische Gegenwartsprobleme wie die Reform des deutschen Föderalismus. Und beim Föderalismus hat unsere Stiftung in fünf Manifesten klar Position bezogen: Für einen handlungsfähigen Bundesstaat, geordnet nach dem Subsidiaritätsprinzip. Das heißt: Vorrang des Privaten, wo am Anfang immer die Frage beantwortet werden muss, was Bürger besser in eigene Hände nehmen können, in freiwilliger Solidarität, in der freiwilligen Solidargemeinschaft, dann in der Bürgernähe der Gemeinde, dann über gestärkte Landtage, auch in Magdeburg, Dresden und Erfurt. Der deutsche Bundesstaat und die Europäische Union müssen sich auf das konzentrieren, wo diese Gemeinschaften allein überfordert wären. Dann werden sie ihre Kernaufgaben auch verlässlich für den Bürger leisten können, ohne zuviel Bürokratie und bei erträglicher Steuerlast. Wenn es um die Frage geht, wo von Mitteldeutschland aus der für Kultur und Wirtschaft wohl wichtigste Beitrag ausging, mag man zu recht verschiedenen Antworten kommen — auch abhängig von Raum und Zeit. Als gelernter Jurist und Ordnungspolitiker hat für mich den mitteldeutschesten aller Beiträge der anhaltinische Ritter Eike von Repgow mit seinem Sachsenspiegel von etwa 1224 geleistet. Und wohl kein anderer Beitrag hat nachhaltiger für Deutschland und über Deutschlands Grenzen hinaus gewirkt wie dieser Beitrag eines Privatmanns, der sich ohne jeden Staatsauftrag Sorgen um Freiheit und Frieden macht. Ohne Gutachten oder Runde Tische trägt er zusammen, was ihm aus seinen Erfahrungen als Schöffe für Frieden durch Ordnung in Freiheit als notwendig erscheint. Heiner Lück greift jedenfalls nicht zu hoch, wenn er 1999 den Sachsenspiegel lobt als „das Beste und Größte, was der mitteldeutsche Raum in diesem Jahrtausend auf rechtlichem Gebiet hervorgebracht hat." Ich beschränke das Lob nicht auf das rechtliche Gebiet, sondern sehe in diesem mitteldeutschen Bürger-Beitrag zugleich den großen Beitrag für die deutsche Sprache, für die deutsche Kultur, auch für eine Kultur der Selbständigkeit, für Wohlstand durch Herrschaft des Rechts, für die Freiheit des Geistes. Und dort, wo Eike von Repgow
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mit seinem Sachsenspiegel für eine Ordnung in Freiheit erfolglos blieb - keinen Erfolg haben konnte —, da besticht er durch seinen Mut, sich seines Verstandes auch da offen zu bedienen, wo es der Obrigkeit nicht gefällt — und das zu einer Zeit der im 12. Jahrhundert entwickelten Inquisitionsprozesse. Wo es um Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz ging, da nahm Eike von Repgow Immanuel Kants Wahlspruch der Aufklärung vorweg, Kants „Sapere aude! Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!" Gegen Leibeigenschaft und Knechtschaft, die von den Intellektuellen seiner Zeit für die Mächtigen als gottgewollt und abgeleitet aus der Bibel gerechtfertigt wurden, setzte Repgow das: „Nach rechter Wahrheit hat Unfreiheit ihren Ursprung in Zwang und Gefangenschaft und unrechter Gewalt, die man seit alters in unrechter Gewohnheit hat werden lassen und die man nun als Recht haben möchte." (Landrecht, 3. Buch, Ziffer 42, 6.) Die Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, die Repgow meinte, konnte der Sachsenspiegel allerdings nicht bringen. Aber weit über das Gebiet Mitteldeutschlands hinaus setzte immerhin Recht der Beliebigkeit, der Willkür und Gewalt Grenzen, schaffte immerhin die Rechtssicherheit, die für Rechtsfrieden und das Aufblühen von Kultur und Wirtschaft so wichtig ist. Wer bereit war, hinzusehen und hinzuhören, der wusste auch schon vor der PisaStudie, wohin deutsche Sprachkultur und Bildung in letzter Zeit geht. Da hat es Deutschland schon einmal besser gehabt: Mit dem Sachsenspiegel als dem ersten großen Prosa-Werk deutscher Sprache hat Repgow auch auf diesem kulturellen Gebiet Großes geleistet. Er schuf als niederdeutsch Sprechender eine „Mittelsprache", die bereits 1343 in einer Hallensischen Evangelienübersetzung — erstmals nachgewiesen — als „mitteldeutsch" bezeichnet wird: für die vorbildliche Schriftsprache. Das heißt: Information und Kommunikation, im Recht, aber auch darüber hinaus, als Grundlage der Sprachkultur und auch allen Gewerbefleißes, der nur auf dem Humus der Kultur gut gedeiht. Denn Repgow schrieb den Sachsenspiegel zwar für seine Sachsen und vor allem aus sächsischer Überlieferung, aber er sollte eben auch „zum Allgemeinbesitz der ganzen Welt werden." (Reimvorrede, Zeilen 157 f.) Und für die niederdeutsch Sprechenden begann die Kommunikationsbarriere eben schon beim Hochdeutschen, das er als Schöffe in Schwaben kennen gelernt hatte. In einer Welt, in der es heute nicht nur in der Wirtschaftspolitik an Langfristorientierung fehlt, ist auch Folgendes bemerkenswert an Repgows kultureller Leistung auf dem Gebiet der Ordnungspolitik: Im Privatrechts galt der Sachsenspiegel in Anhalt und Thüringen bis zum BGB im Jahre 1900; zuletzt zitiert wird er vom Reichsgericht in einer Entscheidung von 1932.
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Nicht minder beeindruckend ist die räumliche Verbreitung des Sachsenspiegels zusammen mit dem Magdeburger Stadtrecht, vor allem nach Osten z.B. in Polen, Böhmen, der Slowakei und der Ukraine. Denn zum Glück folgt der Handel viel mehr dem Recht als der Fahne; mit der Größe des Rechtsraums wachsen die Märkte. Und der durch Recht und Frieden freiere Handel zahlt nicht nur mit Wohlstand zurück, sondern auch mit Kultur und vor allem mit Frieden. Das war die gemeinsame Überzeugung der liberalen Aufklärer David Hume und Immanuel Kant. Das ist auch die klare Position der Friedrich-Naumann-Stiftung im Globalisierungsstreit und in der Diskussion um die Bedingungen der Osterweiterung der Europäischen Union. Ich meine in diesem Zusammenhang vor allem die Mitteldeutschen im engeren Sinne, also Sie aus Sachsen-Anhalt, Thüringen, Sachsen, Brandenburg bis hoch nach Mecklenburg-Vorpommern, wenn ich ein wenig abgewandelt David Humes berühmte Aufklärung gegen den Handelsneid zitiere: „Ich will daher das Bekenntnis wagen, dass ich nicht nur als Mann, sondern als deutscher Bürger für den blühenden Handel Polens, Tschechiens, Ungarns, und sogar selbst Weißrusslands bete. Ich bin zumindest sicher, dass Deutschland und alle diese Staaten stärker blühen würden, wenn ihre Regierungschefs und Minister solch großherzige und wohlwollende Empfindungen füreinander entwickelten." Mitteldeutschland trägt bei der Integration Osteuropas die größten Anpassungslasten. Und auch dabei ist Solidarität aller Deutschen gefordert, solange sich z.B. die Franken von den Thüringern als Mitteldeutsche noch viel stärker unterscheiden als damals auf den bildlichen Darstellungen der Handschriften des Sachsenspiegels: mit dem Thüringer als Heringsesser und dem Franken im Pelz. Aber Mitteldeutschland mit direkten Grenzen zu unseren östlichen Nachbarn wird auch den größten Gewinn daraus ziehen, dass es durch Abbau der Grenzen kulturell und wirtschaftlich wieder in die Mitte Europas rückt, umringt von wohlhabenden Nachbarn und Handelspartnern. Dafür sprechen nicht nur die Erfahrungen mit Freihandel bei Rechtssicherheit, hinreichender Rechtseinheit im Privatrecht, Vertragstreue auch im Recht der Staaten untereinander und am besten in einer Wertegemeinschaft. Für eine gute Zukunft Mitteldeutschlands spricht vor allem, was seine Bürger seit der deutschen Einheit an Flexibilität bewiesen haben: Kaum eine Mitteldeutsche, kaum ein Mitteldeutscher hat noch den alten Arbeitsplatz, hat sich mit Können und Fleiß umgestellt auf neue Arbeit. Da macht den Mitteldeutschen an Flexibilität so schnell kein Westdeutscher etwas vor. Und es bleibt Versagen der Politik, wenn so viele, die arbeiten wollen, keine Chance auf einen neuen Arbeitsplatz haben. Bei aller berechtigten Kritik an Mut- und Konzepdosigkeit deutscher Reformpolitik: Es darf in seinen Langfrist-Wirkungen aber auch nicht unterschätzt werden, wie in all seiner Brei-
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te und Tiefe das Zerschlagen mittelständischer Unternehmer-Kultur in der DDR vor rund 30 Jahren noch heute nachwirkt. Nicht immer ist in Mitteldeutschlands Tradition die Verbindung von Kultur und Wirtschaft so augenfällig wie z.B. 1710 beim Aufbau der ersten Porzellanmanufaktur in Meissen oder als Goethe 1777 die Leitung der Wiederaufnahme des Ilmenauer Bergbaus übernahm. Wenn ich im Sinne der sozialen Schwerpunkt-Themen unserer Stiftung an Unternehmenskultur als Kultur der Selbständigkeit verstehe, dann denke ich in Mitteldeutschland in erster Linie an Unternehmer wie Ernst Abbe in Jena. Er verkörperte als Unternehmer den engen Zusammenhang zwischen Freiheit und sozialer Verantwortung, für den die Friedrich-Naumann-Stiftung steht. Ich habe es schon eingangs gesagt: Eine gute Zukunft Mitteldeutschlands braucht den engen Zusammenhang zwischen Kultur- und Wirtschaftsregion. Als letztes Beispiel dafür möchte ich an einen Unternehmer erinnern, der in seiner Leistung zwischen Leipzig und Potsdam weit über die Grenzen Mitteldeutschlands gewirkt hat und doch von vielen vergessen wurde: Erinnert hat an diese Leistung zuletzt ausgerechnet der Enkel von Friedrich Engels, der marktwirtschaftliche Ordnungspolitiker und Kapitalmarkt-Experte Wolfram Engels. Zum Kapitalismus im Sinne der nüchternen Fakten des Quantensprungs der Marktwirtschaft im 19. Jahrhunderts trug gerade der liberale Unternehmer Schulze-Delitzsch als Vater des Genossenschaftswesens bei. Denn erst mit den Genossenschafts- und Volksbanken kam Mitte des 19. Jahrhunderts — nach Vorläufern in des Bürgermeisters guter Stube — das Kapital in einem breiten Strom zum „Kleinen Mann", zum Mittelstand, auf das Land. Zwar wurden schon über 350 Jahre zuvor Entdeckungsreisen über den internationalen Kapitalmarkt finanziert, aber für den Mittelstand sah es beim Zugang zum Kapitalmarkt vor Schulze-Delitzsch ähnlich aus wie noch heute in manchen Entwicklungsländern seit dem kanonischen, islamischen oder sozialistischen Zinsverbot. Heute ist auf dem Kapitalmarkt nach 1990 für die Mitteldeutschen zwar einiges besser geworden, aber weit entfernt von gut, gerade für den Mittelstand. Dass das bei Eigenkapital und Fremdkapital-Konditionen gut wird, bleibt für Arbeitsplätze in Mitteldeutschland wichtige Aufgabe der Wirtschaftspolitik. Und auf diesem Gebiet braucht kluge Staatshilfe ordnungspolitisch auch kein schlechtes Gewissen zu haben — ganz im Gegensatz zur üblichen staatlichen Industriepolitik mit Subventionen und Protektion, mit und ohne Staatsbanken. Denn auch das gehört als Bildungsgut zur ordnungspolitischen Kultur: Es gibt nur eine ökonomisch wohlbegründete Ausnahme für Staatshilfe an Unternehmen. Und das sind die systematischen Nachteile von neuen und kleinen oder mittleren Unternehmen selbst auf funktionsfähigen Kapitalmärkten: die Informationskosten über
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ihre Bonität sind besonders hoch — und damit auch die Risikoprämie, die sie zahlen, wenn sie überhaupt das Kapital bekommen, das sie für Investitionen brauchen. Aber wohlgemerkt: Ich sagte „kluge Staatshilfe". Und kluge Staatshilfe für den mitteldeutschen Mittelstand sieht jedenfalls anders aus als die Staatshilfen bei Risikokapital für die New Economy. Denn gegen alle prinzipielle Berechtigung des Kapitalmarkt-Arguments für Staatshilfe steht weiter die Skepsis des Weimarers und Frankfurters Goethe: „Wenn sie den Stein der Weisen hätten, der Weise mangelte dem Stein." Es wird wohl eben doch kaum etwas am fruchtbaren, aber mühseligeren Weg vorbeiführen, durch Bildung und ein unverklemmtes politisches Ja zum Mittelstand wieder an die gute Tradition mitteldeutscher Unternehmenskultur anzuknüpfen. Und natürlich gibt es für eine gute Zukunft Mitteldeutschlands manches Wichtige mehr, über das wir jetzt sprechen wollen.
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Hoffnung und Ernüchterung - zwei Seiten einer Medaille Herbsttagung des Politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing „Wir sind ein Volk - sind wir ein Volk? - 1 2 Jahre nach der deutschen Vereinigung", 16. November 2002 Das Generalthema dieser Herbsttagung der Evangelischen Akademie Tutzing stellt uns allen nach 12 Jahren deutscher Vereinigung eine offene Frage: „Wir sind ein Volk — sind wir ein Volk?" Darüber nachzudenken lohnt sich für alle Deutschen. Und Deutschlands Nachbarn werden wie die Deutschen zuversichtlicher in ihre gemeinsame Zukunft blicken können, wenn wir Deutschen eine so klare Antwort geben wie die meisten Franzosen oder Polen — trotz all ihrer Probleme. Im Programm dieser Herbsttagung haben Sie die klare Antwort gegeben, die meine Antwort vor 1989 war und auch bleibt als Bilanz 12 Jahre nach der deutschen Vereinigung von 1990: „Wir sind ein Volk". Als vor 13 Jahren am Abend des 9. November 1989 die Berliner Mauer geöffnet wurde, rückte für die Deutschen das Glück der Einheit zum Greifen nahe: mehr als eine Hoffnung und keine Spur von Ernüchterung. Und wer hätte da Zweifel, dass wir ein Volk sind, wenn wir uns die Bilder dieser Tage in Erinnerung rufen? Dass die Freiheit durch den Fall der Mauer solch bewegende Gefühle bei den Deutschen im Osten ausgelöst hat — das allein schon bleibt für mich als Liberalen unvergesslich. Und zur Hoffnung auf Freiheit war mit Ungarns Durchlöchern des Eisernen Vorhangs seit dem Mai 1989 mehr und mehr auch die Hoffnung auf Deutschlands Einheit getreten: Einheit in Freiheit und Frieden. Diese Einschätzung hat der klare Sieg der Allianz für Deutschland bei der ersten freien Volkskammerwahl am 18. März 1990 bestätigt. Der Weg war frei für die Währungsunion zum 1. Juli und die Vereinigung am 3. Oktober 1990. In dieser Zeit machten meine vielen Begegnungen mit Menschen in Ost und West als Vorsitzender der FDP immer wieder Mut, als die Schwierigkeiten auf dem Weg zur deutschen Einheit immer deutlicher wurden. Mut machte natürlich auch das Ergebnis der - nach 1933 - ersten freien gesamtdeutschen Parlamentswahl am 2. Dezember 1990. Denn über ein ganzes Jahr nach dem Fall der Mauer konnte „Wir sind ein Volk" keine flüchtige Hoffnung gewesen sein — als Ausdruck für das Ja zur Einheit - , der die Ernüchterung des Alltags fast zwangsläufig hätte folgen müssen.
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Wenn ich das auch 12 Jahren nach der Vereinigung so sehe, hat das sicherlich damit zu tun, dass ich als Christ und als Liberaler Optimist bin. Ich halte es da mit Martin Luther. Der setzte selbst gegen ganz andere Herausforderungen als die Vollendung der deutschen Einheit seinen Optimismus: „Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen." Es ist aber nicht nur mein Optimismus, der diese Uberzeugung stützt: Die Deutschen sind heute mehr denn je ein Volk. So lange ist es in der Deutschen Geschichte jedenfalls noch nicht her, dass Friedrich der Große Sachsen eroberte, gegen das Reichsheer einen Freundschaftsvertrag mit den Türken schloss, keinen Versuch unterließ, Türken und Tataren auch zum Kriegseintritt zu bewegen. Und erst recht zählt für ein gelebtes Gefühl der Einheit, dass Deutsche aus den entferntesten Regionen heute einander begegnen können. Für die Deutschen, die nicht als Händler, Handwerksburschen, Künsder oder z.B. Gelehrte weit herumkamen, boten bis ins 20. Jahrhundert meist erst der Militärdienst oder ein Krieg das recht zweifelhafte Privileg, z.B. als Bayer einen Mecklenburger kennen zu lernen. Ansonsten kamen die meisten Deutschen kaum einmal über einen Umkreis von rund 30 Kilometern über ihren Geburtsort hinaus. Wenn es also heute 12 Jahre nach der deutschen Einheit unübersehbar „Hoffnung und Ernüchterung - zwei Seiten einer Medaille" gibt, dann liegt das wohl gerade an der Tatsache — nicht an einer Hoffnung — dass wir uns als ein Volk fühlen, und das nicht nur in Zeiten von Flutkatastrophen. Daran knüpfen Menschen Erwartungen, die mit einer recht ähnlichen Medaille zu tun haben: Erwartungen und Enttäuschungen als zwei Seiten einer Medaille. Ich denke bei den Enttäuschungen weniger an Befragungen der Empiriker, die mir Sorge machen: wenn etwa in Ostdeutschland die Zufriedenheit mit Demokratie und Marktwirtschaft sinkt. Hier dürften bei Erwartungen und Enttäuschungen stark die Meinungen über Tatsachen, die man so hört, die Bewertungen der Befragten bestimmen, nicht so sehr ihre eigenen Erfahrungen. Aus dem Einzelschicksal lässt sich oft besser die Enttäuschung begreifen: wenn etwa eine Frau aus Luckenwalde vom Arbeitsamt erzählt. Sie hätte gute Eignung, auf Köchin zu lernen, wurde ihr dort gesagt. Und die Frau konnte nur verwundert antworten: )rAber ich bin doch Köchin." Dann bekommt ein Gesicht, was es z.B. heißt, dass in den letzten 12 Jahren 3.000 Einwohner die Stadt Luckenwalde verlassen haben, etwa 12% der Einwohner. Und klarer wird dann auch, was hinter den Zahlen des Statistischen Bundesamts für ganz Ostdeutschland steht: Im ersten Jahrzehnt der deutschen Einheit sind von 1991 bis
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2001 rund 2,1 Millionen Menschen aus Ostdeutschland abgewandert, nur 1,5 Millionen zugewandert, ein Verlust von 600.000 Menschen. Nach sieben Jahren war mit nur noch 10.000 Menschen Netto-Abwanderung im Jahrel998 ein Tiefststand erreicht, der hoffen ließ. Aber im Jahr 2001 lag der NettoVerlust zehnmal so hoch bei fast 100.000 Menschen. Von den weit über 200.000 in den Westen Abgewanderten waren 42% zwischen 18 und 30 Jahre alt. Erst recht wäre Ernüchterung dafür ein viel zu schwaches Wort, wenn die jüngsten Voraussagen der Prognos AG für 2002 bis 2020 Perspektive der Ostdeutschen würde: 2 Millionen Menschen unter 65 Jahren weniger, dafür 800.000 Menschen über 65 Jahren mehr. Dazu das Einzelschicksal, das der 56-jährige Betonfacharbeiter aus Berlin so erfährt: „Ich habe halb Berlin mit aufgebaut. Aber jetzt braucht mich keiner mehr." Er wandert bei einer Berliner Arbeitslosenquote von fast 20% nicht ab, lebt von Sozialhilfe. Andere können noch eine Chance auf dem Bau als Zeitarbeiter wenigstens in den Niederlanden suchen. Sind wir Deutschen also gerade auf dem in Ost und West durchregulierten Arbeitsmarkt so sehr ein Volk, dass Chancen auf Arbeit für viele trotz all ihrer Mobilität und Flexibilität fehlen? Wenn ich 12 Jahre nach der Vereinigung Bilanz ziehe, dann ziehen wir alle wohl in diesem Punkt die gleiche Bilanz: Es ist die bedrückend hohe Arbeitslosigkeit, es sind die fehlenden Chancen auf einen Arbeitsplatz, die all unsere Hoffnungen enttäuscht haben. Von „Ernüchterung" kann ich da nicht sprechen. Das war auch schon damals ein zu schwaches Wort, als ich 1990/91 mit Frau Schmalz-Jacobsen versuchte, die ordnungspolitischen Weichen für eine gute Zukunft der damals noch neuen Länder zu stellen. Das allein wäre eine viel zu einseitige Bilanz. Denn heute sind die fünf Länder so alt geworden, dass sie schon nach 12 Jahren so neu aussehen, wie viele es kaum zu hoffen gewagt haben. Natürlich spreche ich bei diesen Hoffnungen nur von den Hoffnungen der Menschen in Ost und West, die bereit waren, die Augen vor der gigantischen Kapitalvernichtung und Kapitalvergeudung in über 40 Jahren Sozialismus nicht zu verschließen. Wer sich z.B. sozialistische Chemieproduktion und Umweltvorsorge in Bitterfeld mit offeneren Augen als die Grünen bei ihren Besuchen vor der Vereinigung angesehen hat, der weiß, was die Deutschen dort und an den vielen anderen Industriestandorten in den 12 Jahren geleistet haben. Und auch diese Leistungen gehören ohne jede Ernüchterung, nein: durchaus mit Stolz zur Bilanz von 12 Jahren: Wie Ostdeutschlands Städte ihr Gesicht wiedergewinnen, wie Kirchen und andere Kulturgüter vor der sozialistischen Abrissbirne gerettet werden konnten, was für die Infrastruktur dieser Kultur- und Wirtschaftsregion geschaffen wurde.
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Das alles sieht, wer damals auch nur oberflächlich z.B. den Wohnungsbestand im so hoch gelobten „Mieterparadies" der DDR anzusehen bereit war, das Verkehrsnetz, die Infrastruktur für Information und Kommunikation. Professor Burda hat das kürzlich so zusammengefasst: „Innerhalb von 12 Jahren ist in den neuen Ländern so viel Sachkapital aufgebaut worden wie sonst nirgends in den letzten 150 Jahren." Unsere Probleme liegen heute wie vor 12 Jahren — und in der alten Bundesrepublik schon zuvor — bei den fehlenden Arbeitsplätzen. Aus den Ursachen hoher Arbeitslosigkeit folgen in erster Linie auch die Finanzierungsprobleme der deutschen Einheit, über deren Bewältigung Theo Waigel gestern vorgetragen hat. Und das gilt nicht minder für die Haushalte von Staat und Sozialversicherungen heute. Bei den Ursachen fehlender Arbeitsplätze in ganz Deutschland fiel schon vor der Vereinigung in Ostdeutschland ganz besonders ins Auge, welch blühender Unsinn Hannah Arendts von so vielen nachgebetete These ist, die Arbeit gehe uns aus. Da war so viel sozialistische Hinterlassenschaft auszumisten, dass nicht einmal 100% Vollzeit-Vollbeschäftigung in ganz Deutschland ausgereicht hätte, um durch reale Leistung alle Gründe für Abwanderungen mobiler Fachkräfte in den Westen schnell genug zu beseitigen. Und auch das war jedenfalls schon damals klar: Wenn es nicht gelingt, den Menschen in Ostdeutschland durch wettbewerbsfähige Arbeitsplätze eine Perspektive zu geben, kostet das auch Arbeitsplätze im Westen. Und umgekehrt bringt jeder wettbewerbsfähige Arbeitsplatz im Osten bessere Chancen für mehr Arbeitsplätze im Westen. Ich bin auch da gegen jedes Nullsummen-Spiel-Denken im Sinne des bei Gewerkschaften und Moralaposteln so beliebten „Der eine nimmt dem anderen die Arbeit weg": die Alten den Jungen, die Tschechen den Sachsen, die Sudetendeutschen den Bayern, und die erfolgreichen Entwicklungsländer nehmen sowieso allen die Arbeitsplätze weg. Das alles gehört zu den falschen Sorgen, die Hoffnungen in Ost und West zunichte machen, wenn mudose Politik als Antwort auf solche Sorgen den offenen Streit um die für Arbeitsplätze notwendigen ordnungspolitischen Weichenstellungen nicht wagt. In 12 Jahren hat sich da kaum etwas bewegt. Darum fehlen in Deutschland über 5 Millionen reguläre Arbeitsplätze. Darum kommt auch die Reform unseres Steuer-, Sozial- und Bildungssystems nicht voran. Straßen im Westen beginnen inzwischen so auszusehen wie die Straßen im Osten vor 12 Jahren. Minister Stolpe will sich also nicht nur um den Aufbau Ost kümmern, sondern auch um den ,Ausbau West". So endet mutlose Politik, die oberste politische Priorität für die deutsche Einheit zwar verspricht, die aber zu feige ist, dann auch ehrlich zu sagen: Anderes muss
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zweit- und drittrangig werden. Das habe ich nach einem Jahr Erfahrung mit dem Aufbau Ost 1992 in meiner Streitschrift „Mut statt Missmut" gefordert. Und dazu passt, was 10 Jahre später Professor Dönges, der langjährige Vorsitzende des Sachverständigenrates, von der Bundesregierung vor 14 Tagen noch immer fordern muss: Deutschland werde nur dann wieder „in der Weltwirtschaft ein Vorreiter sein, wenn der gordische Knoten von Verkrustung, Besitzstandswahrung, Anspruchsdenken und Umverteilen durchschlagen wird." 1992 habe ich für die deutsche Einheit gefordert, dass Deutschland wieder die Nummer 1 in marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik werden muss. Meine Streitschrift war und ist deshalb „ein Angriff auf falsche Ansprüche, falsche Erwartungen und falsche Versprechungen. Wir müssen Schluss machen mit der Politik im Geschenkkarton." Was mich als Politiker damals bewegte, waren also nicht so sehr Hoffnung und Ernüchterung als die zwei Seiten einer Medaille, sondern eher die zwei Seiten, die schon La Rochefoucaulds Erfahrung waren: Hoffnung und Sorge. Denn spätestens von dem Tage an, an dem sich täglich Konzepte und GutachtenExposes im Wirtschaftsministerium, im Finanzministerium und im Kanzleramt häuften, war alle Hoffnung vor allem von einer Sorge begleitet: dass eine Weichenstellung für mehr Markt im Arbeitsrecht und für gesamtwirtschaftliche Verantwortung der Tarifpartner scheitern werde. Und die Sorge, was das für deutsche Schicksale heißen würde. Denn für eine marktwirtschaftliche Erneuerung war im Westen mit der Wende von 1982/83 zwar ein Anfang für sieben „fette Jahre" gemacht, der auch die Vereinigung erleichterte: •
Im Boomjahr 1990 mit einem realen Wachstum von fast 6% war die Geldentwertung halbiert: gesunken auf 3%.
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Seit dem Frühjahr 1984 waren netto über 2 Millionen Arbeitsplätze geschaffen worden.
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Die Staatsquote war von über 50% auf unter 45%, die Steuerquote mit 22,5% sogar unter das Niveau von 1970 zurückgeführt worden. Wohlgemerkt: Anders als heute, wo unsere schwächste Konjunktur in Europa und die auch handwerklich verpfüschte Steuerreform auf die Steuer-Einnahmen drücken, wurde in den achtziger Jahren die Steuerquote bei hohem Wirtschaftswachstum im Westen gedrückt.
Auf der Strecke geblieben waren aber alle Anstöße für ein radikales Umdenken, das Schluss machte mit Gefälligkeitspolitik. Am Anfang der deutschen Vereinigung war meine Hoffnung, dass wenigstes diese Chance des Neubeginns falsches Denken und verkrustete Strukturen im Westen aufbrechen würde: nicht erst die Not der vielen Arbeitslosen und ihrer Familien, nicht erst die Not der immer höheren Abgabenlast auf Arbeitsplätze, um ein nicht reformiertes Sozialsysteme zu finanzieren.
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Denn so viel war 1990 jedenfalls klar: Die notwendigen Kursentscheidungen für die deutsche Einheit ließen keine Verzögerungen zu, bis etwa der „Leidensdruck", die Not, für die Politik doch so groß würde, dass sich selbst in Deutschland etwas in den Köpfen bewegt. Raum für illusionäre Hoffnungen war da nicht: Ein später als Reform-Musterland gefeiertes Neuseeland mochte sich zum eigenen Schaden vielleicht noch erlauben, den Arbeitsmarkt erst zu befreien, nachdem die Not hoher Auslandsverschuldung dazu gezwungen hatte. Und auch die verantwortungsvollen Lohn-Abschlüsse der Tarifpartner in den Niederlanden nach dem Accord von Wassenaar 1982 waren Reaktion auf wohlfahrtsstaatliche Not. Immerhin: Gerade das damals viel aktuellere Beispiel der Tarifpartner in den Niederlanden gab Anlass zur Hoffnung: Auch in der besonders schwierigen Lage des durch große Unterschiede in der Produktivität geteilten Deutschland werde sich etwas bewegen — selbst ohne Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung mit enger Umsetzungsfrist. Viele Gewerkschaftsführer, die 1990 tarifpolitische Verantwortung trugen, hätten allerdings auch noch die ständigen Klagen ihrer britischen Kollegen im Ohr haben müssen. Denn dies Klagen waren ja an ihre eigene Adresse gerichtet gewesen: gegen die deutschen Tarif-Abschlüsse in der Zeit von Ludwig Erhards „Wirtschaftswunder". Damals ließen die Tariflöhne den Effektivlöhnen noch genügend Luft zum Atmen - je nach Region und Branchen-Konjunktur. Diese Luft fehlte seit den siebziger Jahren. Nach dieser und der niederländischen Erfahrung hätte den deutschen Gewerkschaften der leichtere Beitrag der Tarifpolitik zur deutschen Einheit nicht schwer fallen dürfen: Tariflöhne im Westen, die für einige Zeit hinter der Produktivitätsentwicklung zurückblieben. Und erst recht hätte die öffentliche Besoldung in Ost und West auf die Arbeitsplätze im StandortWettbewerb Rücksicht nehmen müssen. Bei einer 1990 im Durchschnitt allenfalls halb so hohen Produktivität in Ostdeutschland hätte Lohnzurückhaltung im Westen wie zu Erhards Zeiten das viel größere Problem im Osten zumindest entschärft. Der große Schweizer Ökonom Ernst Heuss hat das 1990 in einem Beitrag zur Vereinigung mit einer einfachen Frage auf den Punkt gebracht: Was wäre wohl aus Ludwig Erhards Wirtschaftswunder geworden, wenn die Westdeutschen nach dem Kriege auf dem gleichen Stundenlohn bestanden hätten wie ihre deutschsprachigen Schwestern und Brüder in der reicheren Schweiz? Im vereinten Deutschland mit endlich wiedergewonnener Wanderungsfreiheit war die Antwort allerdings nicht so leicht wie gegenüber einer für Zuwanderung abgeschotteten Schweiz. Lohndifferenzen durften auch nicht zu groß sein: weder die niedrigeren Löhne gegenüber den westdeutschen Bundesländern noch die höheren Löhne Ostdeutschlands gegenüber den Nachbarländern Mittel- und Osteuropas.
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Nur auf verantwortungsbewusste Tarifpartner zu hoffen hätte der Ernüchterung und Enttäuschung allzu sorglos den Boden bereitet. Darum habe ich in meiner Streitschrift 1992 gefordert: „Wir brauchen Öffnungsklauseln in den Tarifverträgen, notfalls durch Eingriff des Gesetzgebers... Flexibilität durch Offnungsklauseln bei den Tarifverträgen brauchen wir vor allem in den neuen Bundesländern. Bei vielen Arbeitsplätzen kann dort heute niemand generell wissen, zu welchen Lohnsätzen ostdeutsche Betriebe wieder wettbewerbsfähig werden oder wettbewerbsfähig bleiben können." Betriebsräte und Unternehmer wissen jedenfalls besser, „auf welche Entlohnung man sich vorläufig einigen kann, um Arbeitsplätze zu sichern." Mit dem „Stufentarif Ost" für die ostdeutsche Metall- und Elektroindustrie hat die IG Metall West als Vorreiter den ostdeutschen Betrieben im Prinzip Lohnansprüche diktiert, die sich an Stuttgarter Tarifabschlüssen orientierten. Und Stuttgarter Tarifabschlüsse waren weit davon entfernt, hinter der Entwicklung der Produktivität bei Bosch oder Mercedes zurückzubleiben. Mit der Fortsetzung dieser Deutung von Tarifautonomie war der von mir gemeinte Notfall für den Gesetzgeber gegeben. Er hätte zum Handeln zwingen müssen. Das wusste auch das Kanzleramt aus dem Privatgutachten zur deutschen Einheit, das es Anfang 1990 erhalten hatte, Lösungsvorschläge eingeschlossen, wie z.B. die Kombination von Barlohn und Investivlohn für Ostdeutschland, die generelle Abkoppelung der Sozialbeiträge vom Arbeitsplatz und Wettbewerb in der Arbeitsvermittlung. Aller Anlass zu Sorge hat bei aller Hoffnung vor 12 Jahren bestanden. Der Gesetzgeber hat auf dem Arbeitsmarkt fast nichts bewegt. Das zeigt schon der Blick auf die aktuelle Umsetzung des Hartz-Konzepts: Die Hartz-Kommission hätte es nicht einmal gegeben, wenn nicht der Bundesrechnungshof Dampf für eine Reform der staatlichen Arbeitsvermittlung gemacht hätte. Vom ursprünglichen Konzept hat nach der Zensur durch die IG Metall der „Job-Floater" mit dem neuen Namen „Kapital für Arbeit" Bestand haben dürfen. Für die Stärkung von Selbstfinanzierung und Eigenkapital ostdeutscher Betriebe bringt das aber längst nicht, was der Investivlohn für eine breite Beteiligung am Produktiveigentum gebracht hätte. Die Abkoppelung der Sozialbeiträge vom Arbeitsplatz wird erst gar nicht gewagt. Und für mehr Markt im Arbeitsrecht, für mehr Flexibilität, finden Sie alles im Gesetzentwurf der FDP, der seit nun bald drei Jahren in Bundestagsausschüssen schmort. Fast nichts davon finden Sie im Hartz-Konzept, nicht bei seiner Umsetzung, mit der die Arbeitslosigkeit im vereinten Deutschland halbiert werden soll. Dabei haben nach einer Befragung des Forschungsinstituts für Ordnungspolitik im ersten Jahr der vergangenen Legislaturperiode vor allem die Menschen in den neuen
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Ländern von mehr Flexibilität mehr Sicherheit der Arbeitsplätze erwartet: in ganz Deutschland etwa zwei Drittel der Befragten. Wenn es allerdings um die Frage ging, ob mehr Flexibilität auch mehr Arbeitsplätze bringt, dann waren in Ost und West fast 60% der Befragten skeptisch. Und das kann nicht verwundern, schon gar nicht nach den Hoffnungen und Ernüchterungen der Menschen bei Reformen für weniger Bürokratie, für ein einfacheres Steuersystem, für verlässliche Alters Sicherung und — immer dringlicher — für ein gesundes Gesundheits system. In schlechten Erfahrungen mit der Politik sind die Deutschen eben auch ein Volk geworden. Der brandenburgische Ministerpräsident Platzek weiß, wovon er spricht, wenn er nach 12 Jahren zusammenfasst: „Die Ostdeutschen sind in ihrer Mehrheit weder politikverdrossen noch rückwärtsgewandt oder handlungsmüde. Sie begegnen den parteipolitischen Ritualen mit Ablehnung. Aber wer tut das nicht?" Das allerdings ist ernüchternd nach den Hoffnungen vor 12 Jahren. Denn es hat ja in dieser Zeit nicht an Konzepten gefehlt, die weit über Hartz hinausgehen. Und auch für das Steuer- und Sozialsystem waren für eine marktwirtschaftliche Erneuerung Deutschlands die Konzepte ja da. Das sind auch heute gute Konzepte. Sie gehen wahrscheinlich auch weit über das hinaus, was von den Kommissionen erwartet werden kann, die von der Regierung für eine Reform der Alterssicherung und des Gesundheitswesens eingesetzt werden sollen. Erst einmal werden die Rentenbeträge erhöht. Und in der Krankenversicherung erspart ein Vorschaltgesetz erst einmal für ein Jahr politisch unbequeme Reformen. Und bei dieser verlorenen Zeit bleibt es nicht. Was vor 12 Jahren für einen besseren Start in die deutsche Einheit gefehlt hat, war im Westen ein umsetzungsfähiges Konzept zur Reform des deutschen Föderalismus. Im Osten war es vor allem der unternehmerische Mittelstand, der von den ostdeutschen Ideologen in einem Maße weggesäubert worden war, dass es angeblich sogar den sowjetischen Chef-Ideologen gegraust hat. Echter Föderalismus in Deutschland hätte mehr Entscheidungskompetenz und Verantwortung auf Länder- und Gemeinde-Ebene bedeutet. Und gerade das hätte das vereinte Deutschland angesichts von so extremen Unterschieden der Lebensbedingungen gebraucht: •
nach 40 Jahren Teilung zwischen Ost und West,
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aber auch bei rasantem technologischem Strukturwandel und der weltweiten Öffnung von Märkten für pfiffige Wettbewerber.
Bundesstaatliche Solidarität hat sich nicht nur in den historisch einmaligen Finanzhilfen für die neuen Länder bewiesen. Sie wäre aber auf den fruchtbareren Boden der
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Subsidiarität gefallen, wenn auch in der Politik rechtzeitig Eigenverantwortung gestärkt worden wäre: durch mehr dezentrale Autonomie bei den Steuer-Einnahmen und bei den Ausgaben der Länder und Gemeinden. Davon ist Deutschland noch heute weit entfernt, obwohl mit ihrem Wettbewerbsföderalismus die Schweiz recht gut lebt. Es muss schon zu einer extremen Haushaltslage wie in Berlin kommen, damit z.B. wenigstens über mehr Länder-Autonomie in der Besoldung politisch laut nachgedacht werden darf. Und selbst bei der eng mit der Föderalismus- und Steuer-Reform vernetzten Frage der Reform der Gemeindefinanzen scheint sich bis auf Termin-Verschiebungen wenig zu bewegen. Vor 12 Jahren war daher das Konzept „Niedrigsteuergebiet Ost" als Einstieg in ein Normalsteuergebiet Deutschland der Ansatz, der zusammen mit der Befreiung des Arbeitsmarktes dem Mittelstand am besten auf eigene Beine geholfen hätte. Und weil kleine und mittlere Unternehmen über 80% der Lehrstellen und etwa 75% der Arbeitsplätze schaffen können, wäre der beeindruckende „Aufbau Ost" in den letzten 12 Jahre ohne die hohe Arbeitslosigkeit in Ost und West geleistet worden. Aber trotz des Schweizer Nachweises, dass im geeinten Wirtschaftsraum unterschiedlich hohe Einkommensteuern funktionieren, kam dabei fast nur der Verzicht auf die betriebliche Vermögensteuer heraus. Und auch die amerikanischen Erfahrungen mit einfachen Bürgergeld-Konzepten durch Steuerabzüge bei Niedriglöhnen wurden nicht genutzt: Angewandt auf ganz Deutschland, wären so systematisch die vor allem in Ostdeutschland und anderen strukturschwachen Regionen konzentrierten Niedriglöhne aufgestockt worden. Und zugunsten von Investitionen wären die Gemeinden von Sozialhilfe-Ausgaben entlastet worden. Wenn man sich heute das politische Gewürge mit untauglich konstruierten Kombilohn-Konzepten anschaut, wird man sich kaum wundern, dass nichts wurde aus dem Konzept „Vom Niedrigsteuergebiet Ost zum Normalsteuergebiet in Europa". Vor allem Ostdeutschland ist statt dessen durch politische Mutlosigkeit in ganz anderem Sinne Niedrigsteuergebiet geblieben, trotz höherer Investitionsquoten als im Westen, trotz einer Verdoppelung seiner Exportquote bei verbesserter Exportstruktur: Ostdeutschland ist Niedrigsteuergebiet durch hohe Arbeitslosigkeit und niedrige Gewinne. Umso beachtlicher ist, was die Deutschen dennoch in 12 Jahren geleistet haben. Da kann jedenfalls bei mir von Ernüchterung keine Spur sein. Wenn ich also in all den 12 Jahren, in denen mich nüchterne Hoffnung vor Ernüchterung bewahrte, eine Ernüchterung erlebt habe, dann diese: Nachdem die D-Mark am 1. Juli 1990 zu den Menschen nach Ostdeutschland gekommen war, stapelten sich in meinem Büro Protest-Briefe aus Ostdeutschland:
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Weil nicht alle Guthaben 1 : 1 von Mark Ost in D-Mark übertragen wurden, fühlten sich viele um ihre Ersparnisse betrogen. Das allerdings hatte ich nicht erwartet: weniger wegen der vielen Sorgen und langen Diskussionen um den richtigen Wechselkurs beim Übergang zur Währungsunion. Aber die alltägliche Erfahrung aller Ostdeutschen, die nicht die Privilegien eines Professor Ardenne genossen, hätten doch noch lebendig sein müssen: Was hatte man denn in der DDR-Planwirtschaft von seinen Ersparnissen kaufen können? Das alles war schnell vergessen. Selbst bei der wohl schwersten Hypothek des Sozialismus für Arbeitsplätze sind wir Deutschen schon nach 12 Jahren ein Volk: Brandenburger oder Sachsen ähneln wieder Bayern oder Schwaben, wo sie mittelständische Unternehmer sind, kaum weniger als die Bayern den Holsteinern — trotz aller anderen Unterschiede. Und das ist viel für eine gute Zukunft Deutschlands. Denn es darf bei allen Fehlern in der Vereinigungspolitik nicht unterschätzt werden, wie stark das Zerschlagen mittelständischer Unternehmer-Kultur in der DDR vor rund 30 Jahren die deutsche Einheit belastet hat. Jetzt brauchen die Mutigen, die Anpackenden, die Neugierigen, die Wagenden in Ost und West eigentlich nur noch die Politiker, die in Zeiten großer Strukturbrüche und schwieriger Umstellungen Wandel gestalten, wo nicht Krieg, Pest oder Hungersnöte den Wandel diktieren. Und bis uns solche Ordnungspolitiker regieren, müssen wir Bürger Mut zu grundlegenden Reformen beweisen, die Politik dazu jagen. Dann kommt es in Zeiten großer Strukturbrüche erst gar nicht so weit, dass der letzte Mut gefordert ist, an den aus der Erfahrung früherer historischer Brüche Carl Burckhardt erinnert hat: „Dieser Mut wird immer die einzige Rettung sein, wenn eine Welt... ohne bindende Überzeugung über wankenden Grundlagen zusammenbricht."
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Literatur und Politik Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 2/2003 Die hektische Geschäftigkeit des Politikerlebens mit seinen unübersichtlichen Terminlagen ist dem Ausleben des persönlichen Kulturdranges nicht immer förderlich. Auch wenn ich mich zeitlebens bemüht habe, beides unter einen Hut zu bekommen, so blieb der Wunsch nach regelmäßigem Theater- oder Opernbesuch nur zu oft unerfüllt. Von allen Kulturgattungen ist es immer noch die Literatur, die dem Politiker — wenn er es denn will — treueste Dienste erweist. Ein Buch ist transportabel, seine Lektüre lässt sich immer wieder flexibel in den Zeitplan einfügen und es eröffnet trotzdem kulturelle Horizonte, wie sie sonst kaum ein Medium bietet. Darüber hinaus kann es einen direkten und positiven Nutzen für den Politiker haben. Es ist gerade die Hektik des Politikerlebens, die zu jenem kurzfristigen Denken und zu der Blickverengung führen kann, die ja bekanntlich die Ursache vieler der Probleme ist, an der unser Staat heute leidet. Es ist wichtig, wenn man sich da ab und zu einmal einen intellektuell wohlgeratenen Standpunkt von außerhalb des Politikbetriebes zu Gemüte führt. So gebe ich zu, dass auch ich manchmal dazu neige, Wirtschaftsprobleme zunächst nur aus dem Blickwinkel der reinen Wirtschaftstheorie zu betrachten. Eines jener großen Bücher, die mich immer wieder davon abbrachten, ist Wilhelm Röpkes Werk „Jenseits von Angebot und Nachfrage" von 1958. Wie kein anderer sonst verstand es Röpke hier, aufzuzeigen, dass eine echte funktionierende Marktwirtschaft nur in einem passenden politischen, kulturellen und sozialen Umfeld gedeihen kann. Ein solider Grundstock kulturellen und historischen Wissens ist auch für den Politiker von unendlich wichtig. Deshalb sollten auch stets Biographien von Staatsmännern — zurzeit lese ich mit Gewinn die ChurchillBiographie des leider kürzlich verstorbenen Roy Jenkins — ins Leserepertoire gehören. Es ist selbstredend nicht so, dass man ganz „mechanisch" Lehren aus dem Leben vergangener Staatsmänner ziehen kann. Geschichte wiederholt sich nie vollständig. Aber man kann die Mannigfaltigkeit der Situationen und Entscheidungsansätze und über die Tugenden und Untugenden des Politikerlebens erfahren. Man gewinnt sozusagen einen mentalen Übungsplatz für die Erfassung komplexerer Zusammenhänge. Es ist diese mentale Schulung, die nicht nur die „Sachliteratur", sondern auch die „fiktionale" Literatur so gewinnbringend macht! Kunst und Politik haben mehr gemeinsam als man annimmt. Ich meine hier nicht, dass Literatur unbedingt „politisch" zu sein habe. Leider verstehen gerade in Deutschland heute viele Schriftsteller
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sich als moralisierende Propheten in der Politik — etwas, wofür sie eigentlich nicht mehr oder weniger berufen sind als Menschen anderer Profession. Darunter kann unter Umständen sowohl das Politikverständnis als auch die literarische Qualität leiden. Der Ton wird leicht ideologisch. Gerade dies sollte aber weder die Politik noch die Literatur sein. Das soll kein Plädoyer dafür sein, dass sich Literatur aus der Politik herauszuhalten hat. Sonst müsste man womöglich ein Meisterwerk wie Heinrich Manns „Untertan" ad acta legen. Woran ich denke, ist vielmehr die spezifische Betrachtungsweise — die „Rationalität" — des Literarischen, die mit der der Politik durchaus viel gemein hat. Beides sind keine exakten Wissenschaften. In beiden gibt es keine absolute Wahrheit. Die Prinzipien, die es gibt (auch in der Politik!), sind nicht einfach anwendbar, sondern müssen dem Vorgegebenen irgendwie angepasst werden. In der Literatur muss der sprachliche Ausdruck der Sache angemessen sein. In der Politik muss ein Gesetz oder eine Maßnahme dem ordnungspolitischen Kontext angemessen sein. Beides verlangt die Bereitschaft zum Abwägen und beides setzt umfangreiches und übergreifendes Vorwissen voraus — eben mehr als die bloße Kenntnis einiger formaler Regeln. Es geht also um eine Art Lebensklugheit, über die gute Literaten und gute Politiker — so unterschiedlich ihre Tätigkeitsfelder auch sind und so wenig wechselseitiges Verständnis auch oft vorliegt — gemeinsam haben. Jonathan Franzens großartiger Roman „Die Korrekturen" hat mich veranlasst, eine ältere Schilderung vom Niedergang einer Familie noch einmal zu lesen: „Die Buddenbrooks" von Thomas Mann. Die Art wie Mann hier ein Zeitbild, verbunden mit dem Verfall einer Familie schildert, ist immer wieder ein Genuss. Wie hier ein komplexes Geschehen über Generationen mit verschiedenen Handlungssträngen und immer wiederkehrenden „Leitmotiven" (fast wie in einer Wagner-Oper) erarbeitet wird, ist aber nicht nur ein oberflächlicher Genuss, sondern auch eine intellektuelle Förderung des Urteilsvermögens höchsten Grades. Die kann eigentlich jedermann gebrauchen — die Politiker, die über unser Leben Entscheidungen treffen, ganz gewiss.
Der „allumgreifende Vorrang der Freiheit" - Werner Maihofer zum 85. Geburtstag 339
Der „allumgreifende Vorrang der Freiheit" Werner Maihofer zum 85. Geburtstag Rede zum 85. Geburtstag von Professor Dr. Werner Maihofer, Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung, Berlin, 10. November 2003 „Liberalismus tritt ein für den Vorrang der Freiheit in Recht und Staat, in Wirtschaft und Gesellschaft. Er begreift Freiheit dabei nicht als bloße Unabhängigkeit vom Zwang, sondern als tatsächliche Möglichkeit ihrer Betätigung, in Befriedigung der individuellen — materiellen wie immateriellen — Bedürfnisse und Entfaltung der persönlichen — leiblichen und geistigen — Fähigkeiten jedes Menschen." Dieser Satz stammt nicht von mir, obwohl ich ihn Punkt für Punkt unterschreiben kann. Er findet sich in Werner Maihofers Beitrag zu dem Sammelband von Guido Westerwelle, mit dem 1997 die „Wiesbadener Grundsätze", das neue Grundsatzprogramm der FDP, einer größeren Öffentlichkeit bekannt gemacht wurden. An meiner prinzipiell Zustimmung zu dieser Liberalismus-Definition von Werner Maihofer können Sie bereits ersehen, wie wenig manches Vorurteil über den organisierten Liberalismus mit den realen Tatsachen übereinstimmt; so verhält es sich auch hinsichtlich angeblich unüberbrückbarer Gegensätze zwischen Wirtschafts- und Rechtstaatsliberalismus, bzw. populär gewendet, zwischen dem so genannten „rechten" und dem so genannten „linken" Flügel der Freien Demokratischen Partei. Werner Maihofer selbst hat dazu schon vor 30 Jahren vollkommen zu Recht festgestellt: „Wer den Liberalismus auf nur einen Aspekt dieses Spektrums, ob der Alt- oder Neu- oder gar Jungliberalen, reduzieren wollte, zerstörte mit solcher Pluralität der Liberalität zugleich die Dynamik des Liberalismus. Er machte aus dem Liberalismus, ähnlich den religiösen Sekten auf der Linken, eine Vielzahl nicht nur zahlenmäßig, sondern auch geistig bedeutungsloser, weil in fruchdoser Selbstbestätigung aus einem lebendigen Ganzen herausgebrochener, isolierter Prin2ipien, sich im Kreise drehender Sektiererei." Nein, für mich — und wohl auch für ihn, Werner Maihofer, gehören Wirtschaftsliberalismus und Rechtsstaatsliberalismus zusammen, sind sie zwei Seiten ein und derselben Medaille, jedenfalls dann, wenn sie den von Maihofer immer hochgehaltenen Satz vom „Vorrang der Freiheit" jeweils in den Mittelpunkt ihrer Konzeptionen stellen. Aber, meine Damen und Herren, nicht nur deshalb ist es mir eine Freude, Werner Maihofer aus Anlass seines 85. Geburtstags würdigen zu dürfen. Wir sind, wie gesagt, über lange Zeit politische Weggefahrten gewesen. Zwar stieß er erst 1969, also fast zwei Jahrzehnte nach mir, zum organisierten Liberalismus. Aber seitdem sind
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wir einen guten Teil unseres liberalen Weges zusammengegangen, was nicht bedeutet, dass wir dabei immer einer Meinung gewesen wären. Aber ich kann doch feststellen, dass unsere, vor allem in den 1970er-Jahren vielfältigen Auseinandersetzungen zumindest aus meiner Sicht immer erstens überaus fruchtbar und zweitens von gegenseitiger Wertschätzung geprägt gewesen sind. Erstmals trafen wir 1970 in der FDP-Programmkommission aufeinander, deren Leitung Werner Maihofer übertragen worden war. Wochenlang haben wir in der Theodor-Heuss-Akademie in Gummersbach bis spät in die Nächte diskutiert und diktiert, ermuntert von Rolf Schroers. Maihofer hat diese schwierige Führungs-Aufgabe großartig gemeistert, so dass sich kaum ein Kommissionsmitglied „überfahren" fühlte, was bei den zu dieser Zeit überaus intensiven Kämpfen um die richtige Richtung der liberalen sehr leicht hätte passieren können. Meine Damen und Herren, nicht ohne einen gewissen Stolz darf ich anmerken, dass ich deshalb alles daran gesetzt habe, Werner Maihofers großartigen, weitausgreifenden Entwurf für den Vorspann zu den späteren „Freiburger Thesen" als en-bloc-Vorlage auf dem Parteitag durchzusetzen, damit er nicht im wahrsten Sinne des Wortes „zerredet" wurde, obgleich ich nicht mit allen Formulierungen einverstanden war. Zwar hat es auf dem Freiburger Parteitag eine ziemlich heftige Auseinandersetzung um die Mitbestimmung gegeben, der ein oder andere mag sich noch daran erinnern, wobei sich in der Schlussabstimmung das von mir unterstützte so genannte Riemer-Modell gegen das Maihofersche ganz knapp mit einer Stimme Mehrheit durchsetzte. Meine Damen und Herren, trotzdem war „Freiburg" parteipolitisch gesehen ein großer Erfolg: Die FDP fand zu innerer Geschlossenheit und erhielt zugleich große öffentliche Aufmerksamkeit. Dass vieles von dem in Freiburg Beschlossenen kurze Zeit später infolge der Ölkrise Makulatur wurde, steht auf einem anderen Blatt und ist den „geistigen Vätern", auch Werner Maihofer, nicht anzulasten. Die vielfaltige Krise (Terrorismus, Ölpreis etc.) der 70er-Jahre hat seinen weiteren politischen Werdegang stark beeinflusst: Wir waren beide 1972 als Bundestagsabgeordnete gewählt worden, er wurde kurz darauf zum Bundesminister ernannt. 1974 übernahm Werner Maihofer die schwere Bürde des Innenministeriums auf sich, nicht weil er danach gestrebt hatte, sondern weil ihn die Partei dazu drängte. Und es stellt schon eine gewisse Tragik dar, dass gerade derjenige Innenminister, der am meisten über die Grundlagen von Freiheit und Liberalismus nachgedacht hatte, der sich intensiv um eine Liberalisierung des Strafrechts bemüht und sich dabei — gemeinsam mit anderen großen liberalen Juristen wie Ulrich Klug und Jürgen Baumann, große Verdienste erworben hatte, dass dieser Innenminister sich in seiner Amtszeit vorrangig mit den Problemen der inneren Sicherheit herumschlagen und die Freiheit einschränkende Gesetze erlassen musste. Zwar konnte er 1977, als wir beide Mitglieder in den berühmten Krisenstäben waren, einen großen Erfolg in der
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Bekämpfung des RAF-Terrorismus feiern. Aber es war aus heutiger Sicht wohl ein Pyrrhussieg, der Werner Maihofer von seinen eigentlichen Anliegen fortführte und dessen er nach meinem Eindruck nicht richtig froh wurde. Insofern war es eine verständliche, aber 2ugleich auch noble Geste, dass Werner Maihofer ein Jahr später die Verantwortung für Fahndungspannen übernahm, für die er selbst nichts konnte, die aber im ungeheuer großen Geschäftsbereich seines Hauses passiert waren. Meine Damen und Herren, Werner Maihofer ist tatsächlich immer den beiden zentralen Grundwerten des modernen Liberalismus — Freiheit und Verantwortung — gefolgt. Insofern war es sicherlich kein Zufall, dass er über 26 Jahre, von 1973 bis 1999, dem Kuratorium unserer Stiftung angehört hat, zuletzt als stellvertretender Vorsitzender. Noch heute schwärmen Teilnehmer an den Sitzungen sowohl von Werner Maihofers Einlassungen, die dort immer wieder die philosophische Dimension des Liberalismus verdeutlichten, als auch von der menschlichen Wärme, die er nicht nur dort verbreitet hat und die wohl auf seine badische Heimat im äußersten Süden unseres Landes zurückgeht. Es war auch kein Zufall, dass er sein liberales Engagement trotz der mitunter bitteren Erfahrungen als aktiver Parteipolitiker bis heute nicht aufgegeben hat, über alle Wenden und Krisen der FDP hinweg. Vielmehr hat er sich, als Mitte der neunziger Jahre eine erneute programmatische Standortbestimmung der Partei anstand, wieder zur Verfügung gestellt und fast mit dem alten Elan dabei eingebracht. Nicht nur „Freiburg", auch „Wiesbaden" trägt die Handschrift von Werner Maihofer. Im seinem bereits eingangs zitierten Beitrag ist zu lesen: „Liberalismus setzt sich damit ein nicht für irgendeine, sondern für die größtmögliche Freiheit des einzelnen Menschen in der Entfaltung seines persönlichen Daseins wie der Gestaltung menschlichen Zusammenlebens." Dies war für „Freiburg" genauso grundlegend und aktuell wie für „Wiesbaden"; so viel, meine Damen und Herren, hat sich an den liberalen Grundüberzeugungen dazwischen also doch nicht geändert, woran Werner Maihofer nicht unerheblichen Anteil gehabt hat. Wohl aber hat sich der Liberalismus programmatisch weiterentwickelt: Der in Freiburg dominierende Aspekt der Gerechtigkeit und des sozialen Ausgleiches ist heute mehr der Erkenntnis gewichen, dass Ungleichheit — in Maßen — auch ein Vorteil sein kann, dass Gleichheit für die liberalen keine „soziale", das heißt, Gleichheit in den Ergebnissen, sondern nur Gleichheit in den Chancen sein kann. Aber auch diese Uberzeugung findet man bei Werner Maihofer, wenn er zur von den Liberalen angestrebten „Gleichheit in Freiheit" sagt: „Gleichheit in Freiheit aller Glieder einer liberalen Bürgergesellschaft räumt diesen zwar ... eine gesetzlich gesicherte Gleichheit der Chancen ein". Aber: „daraus folgt angesichts der Ungleichheit aller Menschen in ihren Neigungen und Begabungen, ihren Anlangen und Kräften ... eine mehr oder weniger große Ungleichheit der Resultate".
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Meine Damen und Herren, ich kann deshalb nur wiederholen, dass es trotz vieler Unterschiede im Detail doch große Übereinstimmung im Grundsätzlichen zwischen ihm und mir gibt, was auch nicht weiter verwundert. Wir sind eben beide in der Wolle gefärbte Liberale. Und von den Diskussionen um die Feinheiten des Liberalismus lebt der liberale Diskurs, den wir alle hoffentlich noch lange mit unserem Jubilar fuhren dürfen. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen, lieber Werner Maihofer, alles Gute, vor allem Gesundheit und Kraft.
Walter Scheel zum 85. Geburtstag 343
Walter Scheel zum 85. Geburtstag Rede zum 85. Geburtstag von Walter Scheel, Veranstaltung der Friedrich-Naumann-Stiftung, Berlin, 6. September 2004 Wenn der Vorsitzende der Friedrich-Naumann-Stiftung dem Ehrenvorsitzenden ihres Kuratoriums zum 85. Geburtstag gratulieren darf, ist ihm dies natürlich ein Anlass zur Freude. Im Falle Walter Scheels ist mir dies aber persönlich wirklich eine große Freude, nicht nur weil Walter Scheel für unsere Stiftung eine überaus wichtige Rolle gespielt hat und heute noch spielt. Denn, wenn bekanntlich die Anfange der Beziehungen zwischen ihm und der Friedrich-Naumann-Stiftung über 40 Jahre zurückliegen und ins Jahr 1962 datieren, so kann ich selbst — nicht ganz ohne Stolz — bekennen: Meine Bekanntschaft mit ihm reicht noch weiter zurück, bis in die — der Ausdruck sei gestattet — „wilde Jugendzeit" der FDP, die vor allem unser gemeinsamer Landesverband Nordrhein-Westfalen durchgemacht hat. Es war damals noch möglich und üblich, dass man ganz schnell Karriere machen konnte in der Freien Demokratischen Partei; so stand auch ich kurze Zeit nach meinem Eintritt in die FDP bereits an der Spitze der Aachener Bezirksorganisation. Eine meine frühesten Begegnungen mit Walter Scheel war im Zuge des Kommunalwahlkampfes 1952. Und sie war eigentlich nicht so verheißungsvoll. Denn zu dem Auftritt des Solinger Landtagsabgeordneten Scheel in Aachen-Brand fand sich außer uns eine einzige ältere Dame ein. Wir haben dann diese Wahlkampfaktion in den Aachener „Postwagen", ein damals bekanntes Lokal verlegt, so dass es doch noch ein gelungener Abend wurde. Obwohl man es nicht vermuten sollte, unser Wahlkampf war insgesamt recht erfolgreich, in meinem Bezirksverband steigerten wir den FDP-Anteil von 8 auf 9,5 Prozent und damit überdurchschnittlich. Bald bin ich mit Walter Scheel regelmäßig zusammengetroffen. Dafür sorgte schon die harte Auseinandersetzung zwischen den Verfechtern des Liberalen Manifestes und des Deutschen Programms. Es ging darum, ob sich die FDP eher in der politischen Mitte oder eher auf der rechten Seite des politischen Spektrums ansiedeln sollte. In unserem Landesverband tobte der Streit besonders heftig, da der Vorsitzende Middelhauve — wohl eher unwissentlich — den Parteiapparat für Bestrebungen von Ex-Nazis geöffnet hatte; kurz darauf wurde die so genannte Naumann-Affare gemeint ist Werner Naumann, nicht unser Friedrich — aufgedeckt. Wie sehr dies an den Fundamenten der Partei zerrte, ersehen Sie daraus, meine Damen und Herren, dass es deswegen 1953 neben einem ordentlichen noch zwei außerordentliche Landesparteitage gegeben hat.
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Nach meiner Erinnerung ist vor allem es dem Engagement von Walter Scheel in Zusammenarbeit mit Willi Weyer und Wolfgang Döring — beide unvergessen — zu verdanken gewesen, dass der Landesverband von extremistischen Experimenten Abstand nahm und danach wieder in ruhigeres Fahrwasser geriet. Ich muss hinzufugen: vorerst. Denn einige Jahre später sorgten die drei Genannten ihrerseits für Furore, indem sie gegen den Willen des Landesvorsitzenden Middelhauve, mit dem ich mich bis dahin gut verstanden hatte, die Düsseldorfer Koalition mit der CDU kippten zugunsten eines sozial-liberalen Bündnisses. Die Jungtürken, das war der Namen, unter dem diese nordrhein-westfälische Pressure Group dann bekannt wurde, hatten dabei — was Sie, meine Damen und Herren, vielleicht erstaunen wird — durchaus auch meine Sympathien, denn es ging um weit mehr als um eine Landeskoalition. Damals stand wegen des von der CDU lancierten, berüchtigten Grabenwahlrechts schlichtweg das Schicksal der gesamten FDP auf dem Spiel. Und der Düsseldorfer „Jungtürken-Putsch" hat erheblich dazu beigetragen, dass sich das Blatt aus liberaler Sicht zum Positiven wendete. Ich rechne ihn noch heute zu den Heldentaten, die Walter Scheel für die FDP und indirekt auch für die Bundesrepublik vollbracht hat. Insofern habe ich natürlich auch seine Wahl zum FDP-Bundesvorsitzenden im Jahr 1968 begrüßt, ohne dass ich schon ahnte, was kommen würde. Freundlicherweise hat mich Walter Scheel dann bei einem Gespräch in dem leider nicht mehr existierenden Restaurant, welches sich im Hamburger Finnlandhaus befand, Anfang 1969 über seine Strategie für dieses in liberalen Augen so ereignisreiche Jahr aufgeklärt. Ich konnte dann mit erleben, wie er diese Strategie in der ihm eigenen Liebenswürdigkeit und Verbindlichkeit, aber auch mit aller notwendigen Härte durchgesetzt hat, bis wir Freie Demokraten am 28. September mit einige Blessuren zwar, aber voller Elan wieder in das Parlament und in die Regierung einzogen. Nach einer denkwürdigen Landesvorstandsitzung haben wir dann in Düsseldorf am nächsten Tag mit Willi Weyer und Hans-Dietrich Genscher zusammen gesessen und überlegt, wie wir die von Ihnen am Wahlabend gemachte Zusage zu einer Koalition mit der SPD Realität werden lassen könnten. Nicht von uns dreien, wohl aber von vielen anderen bekannten und weniger bekannten FDP-Mitgliedern gab es ja gegen diese Wendung erheblichen Widerstand, auch in unserem Landesvorstand und in der neuen Bundestagsfraktion. Ich weiß gar nicht mehr genau, wer von uns auf die Idee gekommen ist, dass neben Ihnen und Hans-Dietrich Genscher, die beide unumstritten waren, Josef Erü Kabinettsmitglied werden sollte. Jedenfalls war es eine geniale Idee, denn sie schwächte die Reihen der parteiinternen Koalitionsgegner erheblich und hat der Bundesrepublik den bis heute am längsten amtierenden Landwirtschaftsminister beschert. Vor allem wurde so der Machtwechsel und die ihm folgende Reformpolitik gesichert,
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welcher Sie wiederum mit der unverwechselbaren Mischung von Heiterkeit und Härte vor allem außenpolitisch, aber nicht nur dort, Ihren Stempel aufdrückten. Walter Scheel erreichte auch, dass die intensiven Programmdebatten von 1970 nicht weitere innerparteiliche Gräben aufrissen, sondern die FDP mit dem Freiburger Programm, beschlossen auf dem wirklich beeindruckenden Parteitag 1971, zu neuer, bis dato eigentlich nie gekannter Geschlossenheit fand. Als Bundestagsabgeordneter konnte ich seit 1972 Ihre geschickte Behandlung von Partei und Fraktion aus nächster Nähe verfolgen. Vieles hat sich mir davon für meine eigene Zeit als Minister und Parteivorsitzender eingeprägt, wenn ich mich auch in Sachen Nonchalance natürlich nie mit Ihnen messen würde. Nicht nur für die FDP, sondern auch für unsere Stiftung hat sich Walter Scheel als großer Glücksfall erwiesen. Insofern darf ich es mir noch heute hoch anrechnen, dass ich 1979, als Sie nach dem Auszug aus der Villa Hammerschmidt wieder mehr Freiheit für liberales Engagement bekamen, den Platz des Kuratoriumsvorsitzenden räumte. Ich tat dies damals, weil es sich die Friedrich-Naumann-Stiftung natürlich als große Ehre anrechnen musste, dass sich ihr ein Bundespräsident a.D. als ehrenamtlicher Mitarbeiter — wenn ich so sagen darf — zur Verfügung stellte. Insgeheim hoffte ich auch, dass Sie als erster Entwicklungshilfeminister der Bundesrepublik auch unsere internationale Arbeit beflügeln würden. Deren Schwerpunkt liegt ja seit jeher in den Ländern der so genannten Dritten Welt. Ich hatte mich nicht getäuscht, denn Sie haben unserer Arbeit durch Ihr Engagement große Impulse gegeben, auch in inhaltlicher Perspektive. 1980 haben Sie einen vielbeachteten Kongress über „Freiheit und Würde in den Entwicklungsländern" eröffnet. Aus Ihrer damaligen Ansprache möchte ich gern zitieren, weil es unsere Auffassung von liberaler internationaler Arbeit auf den Punkt bringt: „Niemand, der das Glück hat, in einer Gesellschaft zu leben, in der die fundamentalen Bedingungen für eine Existenz in Freiheit und Menschwürde gegeben sind, kann sich der moralischen Pflicht entziehen, denjenigen zu helfen, die noch nicht einmal diese elementarsten Bedingungen vorgefunden haben." Trotz aller Fortschritte, die in dem Vierteljahrhundert seitdem zweifellos erreicht worden sind, bleibt für uns immer noch viel zu tun in dieser Hinsicht. Natürlich hat Walter Scheel auch seine großen außenpolitischen Erfahrungen eingebracht, etwa auf einem Kongress über eine gemeinsame europäische, damals noch west-europäische Außenpolitik. Auch hier darf ich Sie zitieren: „Europäische Außenpolitik muss von den eng verknüpften Prinzipien des Liberalismus und der Bürgerrechte geprägt sein. Ausschließliches Streben nach Macht und Überleben — egal mit welchen Mitteln und auf wessen Kosten — kann nicht unsere Richtschnur sein. Wir lassen uns vielmehr von den sozialen und liberalen Ideen Friedrich Naumanns
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und den Prinzipien der KSZE-Schlussakte leiten." Mir scheint hier vor allem der letzte Aspekt wichtig, denn die friedliche Revolution in Europa 1989/90 ist sicherlich ohne die KSZE nicht denkbar. Und es ist zweifellos vor diesem Hintergrund bedenkenswert, ob nicht der Gedanke der KSZE, sowie es hier bei Walter Scheel bereits 1981 anklang, sich wandeln sollte zu einem europäischen Exportgut, das auch in anderen Erdteilen seine friedensstiftende Wirkung entfalten könnte. Sie merken schon, meine Damen und Herren, Walter Scheel hat sich als Kuratoriumsvorsitzender keineswegs mit der Rolle einer Galionsfigur begnügt, er hat selbst in die Stiftungsarbeit konstruktiv eingegriffen. Umso mehr freue ich mich, dass er in seinem jüngst erschienenen Erinnerungsband so lobende Worte über uns gefunden hat. Die Wahl zum Ehrenvorsitzenden unseres Kuratoriums im Jahr 1997 ist da sicher nur ein kleines Dankeschön gewesen. Schließen will ich meine kurze Würdigung natürlich, meine Damen und Herren, mit einem letzten Zitat von Walter Scheel. Als wir 1983 das erste Vierteljahrhundert seit der Stiftungsgründung feierten, da haben Sie uns in Stammbuch geschrieben: „Die Friedrich-Naumann-Stiftung darf sich ... zu Recht als Vordenker bezeichnen. In der Stiftung sind Theorie und Praxis des Liberalismus entwickelt worden. Unsere Aufgabe bleibt die Diskussion von Denkmodellen und Lösungsansätzen, wobei wir auch nicht vor unkonventionellen Antworten zurückschrecken. Ein Vorschlag, der heute noch überraschen mag oder auf Skepsis stößt, kann morgen schon als die allein vernünftige Lösung angesehen werden. Ich hoffe sehr, dass der heutige Tag dazu einen kräftigen Impuls geben wird." Diesem Wunsche möchte ich mich in Bezug auf den heutigen Tag gut 20 Jahre später von ganzem Herzen anschließen und ihn in dem Sinne erweitern, dass Walter Scheel uns dabei noch lange Zeit unterstützen möge. Deshalb danke ich Ihnen, lieber Walter Scheel, namens der Friedrich-Naumann-Stiftung ganz, ganz herzlich und wünsche Ihnen alles Gute. Und persönlich verhehle ich nicht meinen Stolz darauf, dass ich über Jahrzehnte so etwas wie ein politischer Weggefährte sein durfte. Genauso wie unsere Stiftung habe ich persönlich von Ihnen sehr profitiert.
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Historische Verantwortung aus deutscher Sicht Rede auf der Alexander-Men-Konferenz, Riga, 14. September 2004 Zunächst möchte ich mich dafür bedanken, dass ich hier und heute bei Ihnen zum Thema „Historische Verantwortung aus deutscher Sicht" sprechen darf. „Historische Verantwortung" heißt für mich in diesem Kontext zunächst einmal, sich bewusst der eigenen nationalen Geschichte erinnern und diese weder ganz noch partiell zu verdrängen, auch wenn manches daran keine Freude bereitet. „Historische Verantwortung" heißt für mich weiter, dass man sich der eigenen nationalen Geschichte stellen muss, unabhängig davon, ob man selbst sie selbst miterlebt hat oder sogar daran mitgewirkt hat oder ob man zu den so genannten „Nachgeborenen", also denen gehört, für die kein eigenes Miterleben von wichtigen historischen Begebenheiten mehr gibt. Und „Historische Verantwortung" heißt für mich schließlich auch, sich nicht nur der eigenen Geschichte zu stellen, sondern daraus auch Schlussfolgerungen für das gegenwärtige und zukünftige persönliche und politische Handeln zu ziehen. Ich brauche wohl nicht extra betonen, dass dies seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges für uns Deutsche ein sehr zentraler Fragenkomplex ist, insbesondere für die Angehörigen meiner Generation. Ich selbst habe das Kriegsende am 8. Mai 1945 als achtzehnjähriger Soldat schwer verwundet in einem Lazarett erlebt. Ich konnte deshalb sehr gut nachvollziehen, als Theodor Heuss, damals noch nicht Bundespräsident, sondern Vorsitzender unserer liberalen Partei, vier Jahre später am Schluss der Beratungen über das bundesdeutsche Grundgesetz diesen Tag, den Tag der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands „die tragischste und fragwürdigste Paradoxie der Geschichte für jeden von uns" nannte. Denn wir, die Miterlebenden, seien — wie Heuss so zutreffend formulierte - „erlöst und vernichtet in einem gewesen". Theodor Heuss versuchte damit die unterschiedlichen Perspektiven der Deutschen auf das Kriegsende auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen. Also sowohl die Gefühle der politisch Verfolgten und der KZHäftlinge als auch die der bedrängten Zivilbevölkerung, als auch die der seit vielen Jahre kämpfenden Frontsoldaten miteinander zu verbinden. Für die Deutschen als Nation war es ein Tag der Niederlage und der Befreiung zugleich und es war für viele von uns damals keineswegs ausgemacht, welcher Aspekt das Übergewicht bekommen würde. Theodor Heuss wollte jedoch nicht bei dieser Beschreibung stehen bleiben. Seit 1949 als erster Bundespräsident amtierend weihte er 1952 eine Gedenkstätte im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen nahe Hannover ein.
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Hierbei forderte er seine Mitbürger auf: „Wir Deutschen wollen, sollen und müssen, will mir scheinen, tapfer zu sein lernen gegenüber der Wahrheit, zumal auf diesem Boden, der von Exzessen menschlicher Feigheit gedüngt und verwüstet wurde. ... Wer hier als Deutscher spricht, muss sich die innere Freiheit zutrauen, die volle Grausamkeit der Verbrechen, die hier von Deutschen begangen wurde, zu erkennen." Diese Ansprache, gehalten von einem liberalen Politiker, war einer der wichtigsten Anstöße für die offene Auseinandersetzung mit der jüngsten deutschen Vergangenheit und für das Bestreben, aus ihr Schlussfolgerungen zu ziehen. Fast alle Bundespräsidenten, die auf Theodor Heuss folgten, haben sich sein Bestreben zu Eigen gemacht und die uneingeschränkte Übernahme von Verantwortung für die deutschen Verbrechen durch die Bundesbürger angemahnt. Dieses Ansinnen war zunächst keineswegs populär. Bei vielen meiner Landsleute herrschte in den ersten Nachkriegsjahren noch eine Mentalität des Vergessens und Verdrängens vor, des „Schwamm drüber", um eine umgangssprachliche Wendung zu benutzen. Aber man muss beim Blick auf die junge Bundesrepublik immer berücksichtigen, dass sehr viele ihrer Bürger entscheidend durch den Nationalsozialismus geprägt worden waren. Dies bedeutete vor allem für die politischen Parteien und deren Spitzenpolitiker häufig eine Gratwanderung zwischen der Aufarbeitung der Vergangenheit einerseits und der unumgänglichen Integration der früheren Nazis anderseits. Diese Gratwanderung war aber nicht zu vermeiden. Es sei denn, man wollte es sich so bequem machen wie die Führung der DDR, die jede Verbindung zwischen der DDR und dem Nationalsozialismus leugnete und deshalb jede Übernahme von historischer Verantwortung ablehnte. Man darf auch nicht vergessen, dass das deutsche Volk dreißig Jahre vorher, nach dem Ersten Weltkrieg, sich in seiner großen Mehrheit geweigert hatte, die Realitäten anzuerkennen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Mit dieser kollektiven Verweigerung wurde ein Weg begonnen, der schließlich in eine noch größere Katastrophe führte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war zunächst zumindest die politische Klasse in Westdeutschland bereit, Konsequenzen zu ziehen. Viele der damaligen politischen Akteure wie Theodor Heuss, wie der erste Bundeskanzler Konrad Adenauer, wie der erste Nachkriegs-Vorsitzende der SDP, Kurt Schumacher, hatten das Fehlschlagen der ersten Demokratie in Deutschland erlebt und wollten alles tun, damit sich dies nicht wiederholte. Dazu wurden nicht nur Demokratie, Parlamentarismus und Rechtsstaat formal wiederhergestellt, sondern es wurden in das Grundgesetz auch sehr starke Sicherungen eingebaut, damit die demokratischen Institutionen nicht wieder beseitigt
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werden konnten. Die Väter und Mütter des Grundgesetzes hatten die berechtigte Hoffnung, dass sich so die Deutschen doch zu Demokraten wandeln würden. Diese Hoffnung hat sich bestätigt, wobei man nicht verschweigen sollte, dass die geschickte Behandlung der besiegten Deutschen durch die West-Alliierten, insbesondere durch die USA, dabei eine große Unterstützung war. Die konsequente Demokratisierung im Inneren war aber nur ein Aspekt der historischen Verantwortung, die die Deutschen nach 1945 zu übernehmen hatten; vermutlich war es noch der leichtere Teil. Sehr viel schwieriger war, diese Verantwortung außenpolitisch zu tragen; hier hieß es in der Tat „tapfer zu sein", wie Theodor Heuss es verlangte. Denn die Wunden, die das nationalsozialistische Deutschland den Nachbarvölkern, vor allem aber dem Judentum geschlagen hatte, waren ungeheuer groß. Noch verhältnismäßig einfach war die Aussöhnung mit den westlichen Nachbarn, mit den Franzosen, Belgiern und Niederländern. Denn moralisch und militärisch war 1945 zwar Deutschland der eigentliche Verlierer des Zweiten Weltkrieges, aber im Grunde genommen hatte ganz Europa den Krieg verloren. Ein politischer und wirtschaftlicher Neuanfang Europas war nur gemeinsam möglich. Als sich diese Erkenntnis ab 1950 immer stärker durchsetzte, haben davon vor allem die Deutschen profitiert; sie wurden wieder in den Kreis der Nationen aufgenommen. Dies konnte aber nur geschehen, weil deutsche Politiker die deutsche Verantwortung nicht leugneten. So hat Theodor Heuss 1957 bei seinem Staatsbesuch in Italien die Fosse Ardeatine aufgesucht, wo über 300 italienische Geiseln von deutschen Truppen erschossen worden waren. Wie er selbst sagte, wollte er damit „Mitgefühl für die Opfer, für ihre Hinterbliebenen und für das verwundete Volksgefuhl" und „zugleich ein Stück menschlichen Respekts vor der Tragik" zum Ausdruck bringen. Noch weit mehr belastet war das Verhältnis der Deutschen zum jüdischen Volk. Aber auch hier wurden schon bald Ansätze zu einer allmählichen Annäherung gemacht. Bereits 1952 kam es zu einem Abkommen über materielle Wiedergutmachung mit dem Staat Israel. Daraus erwuchs mit der Zeit ein wichtiges Stück Staatsräson der Bundesrepublik: Die Beziehungen zu Israel sind von besonderer Art. Außenpolitisch bedeutet dies, dass Deutschland sich besonders verantwortlich fühlt für das Existenzrecht des Staates Israel, unabhängig von aktuellen Konstellationen. Das heißt nicht, dass man einzelne Entwicklungen und Maßnahmen dort nicht kritisieren dürfte. Aber Deutschland wird alles ihm Mögliche unternehmen, um den Juden in ihrem Ursprungsgebiet eine Heimat zu erhalten. Diese besonderen Beziehungen haben aber auch innenpolitische Komponenten: Die verbliebene jüdische Glaubensgemeinschaft darf in Deutschland auf besondere Unterstützung rechnen. Antisemitische Töne werden bei uns besonders aufmerksam registriert und soweit strafrechtlich relevant auch rigoros geahndet. Und in der deut-
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sehen Öffentlichkeit haben jüdische Stimmen ein besonderes Gewicht, zu Recht, wie ich finde. Schon in der frühen Bundesrepublik gab es neben der durchgreifenden Demokratisierung und Liberalisierung nach Innen und der Aussöhnung nach außen einen dritten zentralen Aspekt an Übernahme von historischer Verantwortung. Ich meine die wissenschaftliche Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit. Anfang der 1950er-Jahre wurde in München das „Institut für Zeitgeschichte" gegründet, dessen Aufgabe vor allem die Erforschung des NS-Zeit sein sollte. Damit begann eine Flut von historischen und politikwissenschaftlichen Untersuchungen über die Ursachen für das Entstehen und den Erfolg des Nationalsozialismus und über seine Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Dieser Abschnitt dürfte heute der am besten erforschte Teil der Weltgeschichte sein, die Literatur darüber füllt ganze Bibliotheken. Diese Forschungen blieben keineswegs auf die Studierstuben und Universitätsinstitute beschränkt. Vielmehr hat die deutsche Öffentlichkeit daran lebhaften Anteil genommen, zuletzt im Sommer dieses Jahres aus Anlass des 60. Jahrestags des Attentats vom 20. Juli. Wiederholt ist es dabei zu heftigen öffentlichen Kontroversen gekommen. Vor allem aber sind Drittes Reich und Nationalsozialismus zentrale Themen im Geschichts- und Politikunterricht auf allen Schulstufen. Kein Schüler, der einigermaßen gutwillig ist, kann heute die Schule verlassen und behaupten, er habe nie etwas von Adolf Hitler und den Nazi-Verbrechen gehört. Natürlich bestreite ich nicht, dass ein Teil der historischen Verantwortung der Deutschen erst verzögert in den Blick kam. Bedingt durch den Kalten Krieg waren Verständigung und Aussöhnung der Deutschen mit ihren östlichen Nachbarn in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik so gut wie unmöglich. Hinzu kam, dass viele Deutsche, insbesondere, wenn sie zuvor in den Gebieten Mittel- und Ostdeutschlands gewohnt hatten, das von Deutschen begangene Unrecht mit dem an ihnen nachher verübten aufrechneten. Eine kleine Minderheit tut dies leider noch immer. Aber auch hier hat eine Regierung, an der meine Partei beteiligt war, ab 1970 begonnen, eine Wende zum Positiven anzubahnen. Am Anfang stand berühmter Kniefall von Willy Brandt in Warschau; diese Geste des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers eine in Deutschland nicht unumstrittene. Aber sie hat mit Sicherheit geholfen, das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen sowie Osteuropa insgesamt zu entspannen. Auch hier war eine ähnlich lange Strecke zurückzulegen wie im Falle von Israel, bis es zu einem freundschaftlichen Verhältnis kam. Dies lag diesmal nicht nur an unseren ehemaligen Gegnern, sondern auch an uns selbst. Denn die Verständigung an unseren Ostgrenzen verlangte den Deutschen psychologisch viel ab, mussten wir
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doch die Abtrennung der ehemaligen deutschen Ostgebiete endgültig akzeptieren. Dieser Verzicht bahnte sich seit 1970 an, völkerrechtlich vollzogen wurde er jedoch erst im Zuge der deutschen Wiedervereinigung 1990. Dennoch stellt auch er einen wichtigen Aspekt der Übernahme von historischer Verantwortung dar. Zur „historischen Verantwortung" der Deutschen gegenüber den Osteuropäern gehört übrigens auch, dass die Bundesrepublik seit 1990 ihre Wünsche nach Anschluss an den Westen, an die Nato und an die EU immer stark unterstützt hat; liberale Außenminister wie Hans-Dietrich Genscher und Klaus Kinkel sind dabei immer voran gegangen. Aber erst jüngst konnten die Deutschen für ein besonders düsteres Kapitel, das über viele Menschen schier unerträgliches Leid gebracht hatte, einiger Maßen Abhilfe schaffen: Ich meine die Entschädigung für die Uberlebenden und Hinterbliebenen der großen Zahl von Zwangsarbeitern, die aus den besetzten Gebieten nach Deutschland verschleppt worden sind. Es erfüllt mich schon etwas mit Stolz, dass ich am Zustandekommen dieser Lösung mitwirken konnte, für die sowohl der deutsche Staat als auch die Privatwirtschaft beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt haben. Der Weg bis zu diesem letzten Schritt an Übernahme von „Historischer Verantwortung" war lang und er fiel vielen Deutschen, die das Jahr 1945 bewusst miterlebt haben, nicht leicht. Allen denen, die bis dahin stolz auf die Tüchtigkeit der Deutschen und die Stellung ihres Staates gewesen waren, wurde ein rigoroses Umdenken abverlangt; denn sie mussten erkennen, wie leicht und wie sehr Patriotismus und Nationalgeftihl sich hatten missbrauchen lassen. Dabei hat sich meine Generation schwerer getan als die älteren, die wie die Gründungsgeneration der Bundesrepublik ihre politische Sozialisation lange vor 1933 erfahren hatten, und die nach dem Krieg geborenen Generation. Allerdings stellt sich bei den letztgenannten, den jüngeren Deutschen gar nicht so selten die Frage ein, was sie eigentlich noch mit der vordemokratischen Vergangenheit Deutschlands zu tun haben. Die späteren Nachfolger von Theodor Heuss als Bundespräsidenten haben in ihren einschlägigen Ansprachen deshalb diesen Aspekt, das heißt dem gemeinsamen Gedenken und Erinnern über die eigene persönliche Erinnerung hinaus zu Recht viel Aufmerksamkeit gewidmet. Bundespräsident Walter Scheel stellte 1975 fest: „Die deutsche Geschichte gehört nur dem, der vor der Welt auch ihre Folgen trägt." Noch deutlicher wurde zehn Jahre später sein Nachfolger Richard von Weizsäcker: „Es geht nicht darum, die Vergangenheit zu bewältigen. Das kann man gar nicht. Sie lässt sich ja nicht nachträglich ändern oder ungeschehen machen. Wer aber vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart. Wer sich der
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Unmenschlichkeit nicht erinnern will, der wird wieder anfällig für neue Ansteckungsgefahr." Roman Herzog, Bundespräsident 1994 bis 1999, rief schließlich am 50. Jahrestag des Kriegsendes alle diejenigen, die keine bewußte Erinnerungen an den 8. Mai 1945 hatten auf, diesen als „einen Tag (zu) begreifen, an dem ein Tor in Zukunft aufgestoßen wurde". Dieser Tag eröffnete in der Tat, wie wir heute sehr viel klarer sehen, zunächst für die Westdeutschen, aber auch die Westeuropäer eine große Chance. Diese Chance konnte von uns nur ergriffen werden, wenn wir uns zugleich unserer historischen Verantwortung stellen würden. Weil die Deutschen dieses, teils zögerlich und skeptisch, dann in ihrer großen Mehrheit getan haben, war dieser 8. Mai 1945 wohl nicht nur in meinen Augen schließlich ein Tag der Befreiung und der Beginn eines neuen Aufbruches. Und es ist vielleicht kein Zufall, dass dem anderen deutsche Staat, der diese Verantwortung umgehen wollte, dass der DDR kein langes Leben vergönnt, und nicht einmal diese Lebenszeit war schön. Sie merken vermutlich, dass meine Bilanz hinsichtlich des Umgangs der Bundesrepublik mit den Lasten und Folgen des Nationalsozialismus insgesamt durchaus positiv ist. Gewiss gibt es noch immer unter uns Ewiggestrige oder solche, die wieder neuen Wein in alte Schläuche füllen wollen. Natürlich sind die Wunden unter vielen Uberlebenden der deutschen Diktatur nicht wieder vollständig verheilt. Dennoch glaube ich, dass die Anstrengungen und Fortschritte der Deutschen, ihre Verantwortung an Entstehung, Verbreitung und Folgen des nationalsozialistischen Unrechtsregimes, anzuerkennen und ihr gemäß zu handeln, durchaus beachtlich sind. Weil wir weit mehr Schuld hatten an der dunkelsten Epoche deutscher und europäischer Geschichte, hatten wir auch mehr davon abzutragen. Dies sollte allerdings für andere, mit geringerer Schuld, kein Alibi sein, weniger oder gar keine Anstrengungen in diese Richtung zu unternehmen. Ich will nicht verhehlen, dass in dieser Hinsicht bei mir in letzter Zeit die Sorge zunimmt. Um nicht missverstanden zu werden: Ich stehe völlig hinter der Auffassung meines verehrten Parteifreundes Walter Scheel, der 1975 in der bereits zitierten Ansprache feststellte: „Wir Deutschen sind nicht befugt, die Lehrmeister anderer Völker zu spielen." Aber meine Sorgen bezüglich von Entwicklungen im Ostteil Europas möchte ich dennoch ansprechen, zumal sie sich auch auf mein eigenes Land beziehen. Ich habe den Eindruck, dass die Auseinandersetzung mit der kommunistischstalinistischen Vergangenheit inzwischen nicht mehr mit der notwendigen Intensität und in dem notwendigen Umfang erfolgt. Das trifft inzwischen auch auf unsere eigene Vergangenheit zu. Ein gravierendes Beispiel dafür: Der frühere DDR-
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Kultusminister Dieter Keller hat sich 1994 im Deutschen Bundestag ausdrücklich „bei den Opfern der SED-Diktatur entschuldigt". Er sprach damals sicherlich nicht für eine Mehrheit in seiner Partei, der Nachfolgepartei der DDR-Staatspartei SED. Es war aber zumindest eine Geste guten Willens, sich den Lasten der zweiten Diktatur auf deutschem Boden zu stellen. Heute, zehn Jahre später, spielt es für die PostKommunisten keine Rolle mehr, dass ein Spitzenkandidat für eine Landtagswahl ganz offensichtlich geheimer und recht aktiver Informant der DDR-Staatssicherheit gewesen ist. Heute beteiligt sich die PDS ganz offen an der so genannten neuen „Montagsdemonstrationen" gegen die notwendigen Reformen an unserem Sozialstaat. Die berühmten „Montagsdemonstrationen" von 1988 zielten auf Freiheit und gegen die SED-Herrschaft. Heute nutzt die Nachfolgerin der SED die verständliche Verunsicherung der Bevölkerung vor allem der neuen Bundesländer, um soziale Ängste zu schüren und den Glauben an unser freiheitliches System zu untergraben. Ein Teil der Deutschen, vor allem in unseren neuen Bundesländern zwischen Elbe und Oder, will sich der Verantwortung für diesen gleichfalls problematischen Teil deutscher Zeitgeschichte offenbar nicht mehr stellen. Darin sehe ich auch eine der Ursachen für die Misere in Ostdeutschland. Mit Bedauern sehe ich auch die Entwicklung in Russland. Bei allem Mitgefühl, das gerade von deutscher Seite für die russische Geschichte im 20. Jahrhundert empfunden werden muss und empfunden wird, bleiben bei mir Skepsis und Zweifel, ob vor allem von der politischen Klasse genug Anstrengungen unternommen werden, sich der stalinistischen Vergangenheit zu stellen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Überall in Russland stehen immer noch Lenin-Denkmäler. Man spielt wieder die Nationalhymne aus der Stalinzeit und diskutiert die Wiedereinrichtung des Denkmals von Felix Djerzinsky — einem Massenmörder — vor der Lubjanka. Wer sich um die Archivierung der kommunistischen Verbrechen bemüht wie die Stiftung „Memorial", der wird behindert und schikaniert. Noch immer scheinen die Einrichtung und Bewahrung rechtstaatlicher und demokratischer Strukturen nicht zu den zentralen Zielen russischer Politik zu gehören. Nicht nur der Fall Yukos wirft da ein schlechtes Licht auf die politische Kultur Russlands. Wenn man eins aus den Erfahrungen mit der doppelten Diktatur in Europa lernen kann, so ist es der hohe Wert, den Recht und Freiheit für das Miteinander der Menschen haben. Zusammenfassend möchte ich feststellen:
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Historische Verantwortung zu übernehmen heißt für mich erstens, sich der Vergangenheit uneingeschränkt zu erinnern, sie uneingeschränkt wissenschaftlich und öffentlich aufzuarbeiten. Historische Verantwortung zu übernehmen heißt für mich zweitens, auch der Opfer von Geschehnissen und Ereignissen zu gedenken und ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Historische Verantwortung zu übernehmen heißt weiter, Schlussfolgerungen aus der Vergangenheit zu ziehen und entsprechend zu handeln. Für mich als Liberalen bedeutet dies aufgrund unserer eigenen, sehr problematischen Vergangenheit nicht nur, dass Demokratie, Freiheit und Grundrechte so gesichert werden müssen, dass sie nie wieder in Frage gestellt werden können. Wir sollten obendrein aus der deutschen und europäischen Vergangenheit den Schluss ziehen, dass der Freiheit in allen Belangen Vorrang zukommt. Denn Diktaturen zielen zwangsläufig darauf ab, Freiheit erst einzuschränken und dann ganz zu beseitigen, egal, ob sie politischer, persönlicher, geistiger oder ökonomischer Natur ist. Insofern stellt für mich Ludwig Erhard, der Vater unserer Sozialen Marktwirtschaft, auch ein Beispiel für jemanden dar, der sich der historischen Verantwortung gestellt hat und Schlussfolgerungen aus seinen Diktaturerfahrungen zog. Denn er hat 1948 fast im Alleingang das ökonomische Zwangssystem der Nazis außer Kraft gesetzt und damit die Tapferkeit bewiesen, die Theodor Heuss 1952 von allen Deutschen in Bezug auf ihre Geschichte einforderte. Ich glaube, dass die meisten Deutschen im Umgang mit den Lasten des Nationalsozialismus tapfer gewesen sind; im Umgang mit den Lasten des Stalinismus fehlt es leider daran auch bei uns etwas. Ich hoffe aber, dass unsere bisherige Tapferkeit in ganz Europa und darüber hinaus Nachahmer findet. Das wäre dann sicherlich einmal eine positive Einwirkung der Deutschen auf die Weltgeschichte.
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Bildung als Grundlage einer freien Gesellschaft Festakt zum fünfzehnjährigen Bestehen der gesamtdeutschen liberalen Partei „Einheit in Freiheit", Hannover, Niedersachsenhalle, den 12. August 2005 Erschienen in: liberal - Vierteljahreshefte für Politik und Kultur, 3/2005 Für die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unseres Landes ist Bildung die Schlüsselqualifikation. Die technologische Entwicklung war für Deutschland in der Vergangenheit immer vorteilhaft. Nun werden die Innovations2yklen immer kürzer („schnell schlägt langsam"), während der relative Vorsprung Deutschlands an der technologischen Spitze immer kleiner wird. Der Wettbewerb wird immer intensiver, was auch die Gesellschaft zu schnelleren Reaktionsweisen zwingt. Die Wettbewerbsfähigkeit und die Wachstumschancen einer Gesellschaft bemessen sich zunehmend danach, wie effektiv das Humankapital einer Gesellschaft bereitgestellt wird, d.h. passgenau und schnell. Zu lange Ausbildungszeiten und hohe Abbruchquoten sind dabei schädlich. Wir werden unsere Freiheit verlieren, wenn wir unser Bildungssystem nicht leistungsfähiger gestalten. Deutschland benötigt folglich ein Bildungssystem, welches uns mit neuen Inhalten sowie neuen Lehr- und Lernformen für die Informations- und Wissensgesellschaft rüstet. Die Befähigung des Einzelnen zu kritischem Denken und zum Lösen von Problemen ist dabei Ziel liberaler Bildungspolitik. Bildung muss die Werte vermitteln, die für das zivilisierte Zusammenleben und für die Übernahme persönlicher Verantwortung nötig sind. Grundlegend ist die Erkenntnis, dass der Einzelne für die Folgen seines Handelns vor allem selbstverantwortlich ist. Kulturelle und ethische Aspekte sind ein wesentlicher Teil des liberalen Bildungsanspruchs. In diesem Sinne will die Friedrich-Naumann-Stiftung mit ihrer neuen Bildungsinitiative Impulse für die Bereiche Schule und Hochschule setzen. Die Stiftung will mit ihrer Bildungsinitiative sowohl Lösungsansätze zu diesen Problemen aufzeigen als auch durch öffentliche Diskussionen in zahlreichen Veranstaltungen und Seminaren erarbeiten. Im August 2005 wird die neue Online-Plattform der Bildungsinitiative unter www.pro-kopf.de an den Start gehen. Dort sind alle Positionen, Veranstaltungen und Dokumente zentral abrufbar.
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Das deutsche Bildungssystem am Abgrund Das deutsche Bildungssystem fallt im internationalen Vergleich immer weiter zurück. Dies gilt für alle Bereiche von der Vermittlung von Grundfähigkeiten und -wissen in der Schule bis hin zur universitären Ausbildung und für wichtige Bereiche der angewandten- und Grundlagenforschung. Zu den Problemen, die der Vorstand der Friedrich-Naumann-Stiftung in seinem Eckpunktepapier identifiziert hat, gehören: •
ein Mangel an Wahlfreiheit bei inhaltlichen und organisatorischen Bildungsangeboten in Schulen und Hochschulen
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zu wenig echte Verantwortung und Beteiligungsmöglichkeiten für Eltern, Schüler und Studierende
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zu geringer Leistungswettbewerb in und zwischen den Bildungseinrichtungen
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Zentralisierung und Bürokratisierung
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Benachteiligung freier Träger
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ein auch im internationalen Vergleich bestehender zu großer Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und Schulerfolg
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Werteverfall, wie beispielsweise der Mangel an Toleranz, Disziplin, Aufmerksamkeit
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Partielle Unterfinanzierung
Obwohl Deutschland ein ausdifferenziertes und umfassendes Bildungswesen hat, sind nachhaltige Schwächen erkennbar. Unser Land erfährt derzeit den zweiten PISA-Schock, nachdem schon nach dem ersten PISA-Schock durchgreifende Reformen unterblieben. Wir sind im internationalen Vergleich nicht einmal mehr Mittelmaß. Wenn man den Bundesländervergleich hinzufügt, wird es noch schlimmer. Erschreckend ist besonders die Lesekompetenz der 15-jährigen Schüler: |
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