Der erste Leseunterricht muss umkehren! [Reprint 2022 ed.] 9783112685129


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German Pages 31 [36] Year 1902

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Vorwort
Der erste Leseunterricht muss umkehren!
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Der erste Leseunterricht muss umkehren! [Reprint 2022 ed.]
 9783112685129

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Der erste Leseunterricht muss umkehren! Von

Karl Hessel. (Sonderabdruck aus der „Mädchenschule", 1901) mit einem Vorworte von

Wilhelm Vietor.

Bonn, 1901. A. M a r c u s und E. W e b e r s Verla"'. Preis 60

Pfg.

Vorwort. Hat man ans Küche oder Keller einmal etwas recht Gutes aufzutischen, so erinnert man sicli der Freunde, denen gerade dieser Braten oder dieser Wein besonders munden wird. So will der Herr Verfasser mich vor allen andern an seiner Schrift teilhaben lassen. Ich danke ihm herzlich dafür und wünsche allen Lesern und Leserinnen den gleichen Genuss. Was Hessel so schön zu Ende der ersten Textseite sagt, ruft mir einige Worte des vortrefflichen R u s k i n ins Gedächtnis, die ich wie ein paar Blumen aus reichem fremden Garten mit auf den Tisch lege. R u s k i n selbst geht von Wordsworths vielzitirtem Verse aus, dass „der Himmel in unserer Kindheit um uns her liegt." In e i n e m Sinne, meint er, sei das wahr: in dem Morgengrauen tugendsamen Lebens trage jede Begeisterung und jede Empfindung die Bürgschaft des Göttlichen in sich, und die m a x i i u a r e v e r e n t i a , die höchste Ehrfurcht, gebühre nicht nur der kindlichen Unschuld, sondern auch der kindlichen Inspiration; und an einer andern Stelle fügt er hinzu: am glücklichsten seien wir dann, wenn es uns am besten gelinge, den Kindersinn wiederzugewinnen. So hätte denn der Lehrer, der in „Fühlung mit der kindlichen Seele" ist, die doppelte Gewähr, glücklich zu machen und glücklich zu sein! Marburg. W. V i e t o r .

Der erste Leseunterricht muss umkehren! Heilig achten wir die Geister, Aber Namen sind uns Dunst. ( U h l a n d . )

I. Der Mensch beurteilt den Menschen gerne nach sich selbst, und so ist nichts gewöhnlicher, als dass Erwachsene Kindern Gefühle zutrauen, die diesen noch völlig fremd sind, Verstandeskräfte, die sie eben noch nicht haben; die werdende Vernunft wird alseine schon gewordene Vernunft behandelt. Das ist die Hauptursache der erzieherischen und unterrichtlichen Missgriffe. Es ist darum erfreulich, dass man in neuester Zeit eifriger als sonst die Äußerungen der Kinderseele beobachtet und eine „Kinderpsychologie" geschaffen hat, die schon manches Uberraschende Ergebnis zutage gefördert hat. Selbst Begriffe, die uns selbstverständlich erscheinen, ringen sich in der Kinderseele erst langsam zur Klarheit durch, sogar Zeit und Raum bleiben noch lange verworrene Begriffe. Ein kleines Mädchen fragte in den ersten Wochen der Schulzeit, als die Lehrerin von dem hohen Alter erzählt hatte, das die ersten Menschen erreicht hätten: „Fräulein, haben Sie Adam und Eva noch gekannt?" Ein anderes, freilich noch lange nicht schulpflichtiges, das zum erstenmale in einem geschlossenen Wagen fuhr, sagte auf die Frage: „Wo sind wir denn jetzt?" ganz ernsthaft: „Im Hottepferdchen seini Bauch!" Die sogenannten Schulwitze sind keine Witze, sondern Blitze, die uns auf Augenblicke das Innere der Kinderseele erleuchten und uns lachen machen, weil der Anblick dieses Innern so überraschend anders ist als unser eigenes Innere. Lehrer, die sich ein kindliches Gemüt bewahrt haben, können verhältnismäßig leicht die Welt sich so vorstellen, wie sie in den Kinderköpfen sich malt, jene Traum- und Paradieseswelt, die j a auch einmal unser aller AVeit gewesen ist, mit der uns aber nur eine dunkle und verworrene Erinnerung verbindet. Andere bringen es nur schwer fertig, noch andern gelingt es überhaupt nicht. Und doch, nur wenn der Lehrer stete Fühlung hat mit der kindlichen Seele, kann er erkennen,

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Der erste Leseunterricht muss umkehren!

welche Bedürfnisse diese Seele hat, welche Stoffe mau ihr darreichen kann, und in welcher Form. Dies zu erkennen ist aber darum besonders wichtig, weil nur richtig gewählte Stoffe in richtig gewählter Form vom Kinde angeeignet werden. Ist es doch eins der wichtigsten Naturgesetze, eins, was wir überall wirksam finden, wo Lebendiges zueinander im Verhältnis des Gebens und Empfangens steht, dass nämlich der Empfangende das ihm Gegebene nur dann aufnimmt und sich aneignet, wenn das Dargebotene eine innere Verwandtschaft mit seinem eigenen Wesen hat. Ein Löwe verhungert eher, als dass er Gras frisst, denn sein Inneres ist nicht auf Graskost gestimmt, eine Wasserrose wächst nicht auf einem Schutthaufen; aber das Schaf fühlt sich wohl im fetten Gras, und die Brennessel gedeiht üppig auf dem Schutthaufen. Ganz so geht es auf geistigem Gebiete her: was man in das Kinderherz einsenkt, schlägt nur dann daselbst Wurzel und wächst nur dann lustig weiter, wenn ein Etwas im Kindesinnern dem eingepflanzten Neuen antwortet, es zu ergreifen und festzuhalten trachtet. Gebt dem Kinde die geistige Nahrung, nach der es sich sehnt, und es wird sie gerne aufnehmen, sich wohl dabei fühlen und zunehmen an Alter lind Weisheit. Und des Kindes Seele ist so hungrig und darum dankbar für jedes Brosämlein, das man ihr reicht, allerdings vorausgesetzt, dass dies Brosämlein nicht das ist, was Fleisch für das Lamm oder Gras für den Löwen. Diese Wahrheit gilt nun ganz vorzugsweise auch für den ersten Unterricht in der Muttersprache. Besonders stark hat die Herbartschule stets betont, dass der erste deutsche Unterricht dem Kinde nur Stoffe bieten dürfe, die es zu lernen wünsche, die seinem geistigen Standpunkte entsprächen, also von ihm angeeignet, apperzipirt werden könnten. Für das S p r e c h e n ist die Anwendung der eben entwickelten Wahrheit geradezu selbstverständlich, oder man müsste denn die Sprechmethode beim Unterrichte eines Papageis vorziehen wollen und beliebige Dinge dem Kinde so oft vorsprechen, bis es im stände ist, dies nachzusprechen. Das empfiehlt aber doch jetzt keiner mehr im Ernste, vielmehr ist es unbestritten, dass man bei der Wahl der mit dem Kinde zu besprechenden Dinge sich nach der Auffassungsfähigkeit der Kinderseele zu richten habe. Aber wie steht es mit dem L e s e n ? Bildet das Lesenlernen nicht in der That eine Ausnahme? Sind das nicht die Wurzeln der Bildung, von denen das Sprichwort sagt, sie seien bitter? Hat man

Karl Hessel. nicht mit R e c h t das Lesenlernen

5

die erste Qual genannt,

dem Kinderherzen bereiten müsse?

die

man

Ist das nicht das erste Mal, wo

dem Kinde der volle Ernst des Lebens e n t g e g e n t r i t t ? Hat man nicht oft genug versucht, diese herbe Pille schmackhafter zu machen, die Philanthropen durch Buchstaben aus Kuchenteig,

andere, bis in die

Gegenwart hinein,

zur Fibel,

durch B e i g a b e

von Bildchen

wohin-

gegen weniger menschenfreundliche Lehrergemiiter schon frühe zum S t o c k greifen und den Ernst des Lebens handgreiflich zeigen. Schon zur Zeit der Reformation hat I c k e l s a m e r g e j a m m e r t , dass das Lesen als ein gar zu mühsames Geschäft von den Kindern gelernt werden müsse, und viele andere bis auf R o u s s e a u , J a c o t o t

und noch spä-

tere haben in dies Klagelied eingestimmt. So liegt denn auch dieselbe sei

für das

Meinung

zu

gründe,

eben schulpflichtig gewordene Kind

wenn Professor R e i n

in

seinem

noch

vortrefflichen B u c h e :

S c h u l j a h r " die Forderung aufstellt,

den

das zu

Lesen schwer,

„Das

erste

ersten Leseunterricht

erst

im zweiten Halbjahre des ersten S c h u l j a h r e s zu beginnen. J a ,

Karl

R i c h t e r hat bereits 1 8 6 9 den Wunsch ausgesprochen, man möge das Schreiblesen erst

im zweiten S c h u l j a h r e anfangen,

und das ist ihm

seitdem oft nachgesprochen worden, zuletzt noch bei Gelegenheit der Versammlung

des deutschen Lehrerinnenvereins

Bonn von Fräulein G e r t r u d Aber ich möchte wissen,

im J a h r e 1 9 0 1

zu

Bäumer. wie man es anfangen wollte,

Schul-

kinder ein ganzes J a h r lang zu unterrichten und sie in all der Zeit vom Schreiblesen vornehmen,

noch zurückzuhalten!

drei Stunden

Was

lang j e d e n T a g ?

soll

man

Kinder

mit

ihnen

wollen

selbst-

thätig sein, wollen mit den Händen etwas thun, wollen ihrer Hände W e r k sehen.

Stricken

und Häkeln

Mädchenschulen den Kindern

hat

man

in

den

preußischen

des ersten Schuljahres genommen

und die Kinder lernten es so gerne!



Turnspiele allein thun

nicht, die Kinder wollen ihrer Hände W e r k sehen:

— es

Kneten, Bauen,

F l e c h t e n ? — das gehört doch eigentlich schon in den Kindergarten; mit Zeichnen ist man auch bald am Ende, und wer Zeichnen lernen soll, der kann in derselben Zeit auch schreiben lernen, Fortschritt

und

zunehmende

Erkenntnis

vor Augen

wo er doch

erblickt,

beim Zeichnen in so frühem Alter keineswegs der F a l l ist.

was

Kinder

im ersten Schuljahre aber nur mit Sachunterricht und Unterredungen über die Dinge ihrer Umgebung zu beschäftigen, förmige Arbeit,

ist

eine

zu

ein-

die bald nicht nur die Kinder, sondern den Lehrer

noch viel mehr ermüden möchte;

diese Beschäftigung ist vor allem

ö

Der erste Leseunterricht muss u m k e h r e n !

auch zu ernst und zu anstrengend, sobald sie wirklich schulmäßig, nicht kindergartenmäßig betrieben wird. Handelt es sich bei Stadtkindern um Haustiere, Beschäftigungen der Menschen und um solche Naturdinge, die sie flüchtig, selten oder gar nicht gesehen und beobachtet haben, dann ist es ein Unterricht ohne Anschauung, also viel zu schwer für dies jugendliche Alter; werden aber Anschauungsbilder zu Grunde gelegt, so ist das nur ein Notbehelf, das beste Bild ersetzt die Wirklichkeit nicht, und der Unterricht gibt doch die Natur nicht unmittelbar, sondern nur aus zweiter Hand. Sind es jedoch Landkinder, dann ist es geradezu lächerlich, wenn Dinge, die sie außerhalb der Schule viel besser und auf naturgemäßere Art von selbst kennen lernen, ihnen schulmäßig beigebracht werden sollen, wie Ernte, Obstbäume, Kuhstall oder Hühnerhof. Wollen diese Kinder aber wiederum städtische Dinge und Beschäftigungen kennen lernen, so gilt dafür dasselbe, was eben von dem Sachunterrieht der Stadtkinder über ländliche Beschäftigungen gesagt war. Und vor allem, man kann das sechsjährige Kind in unserer Zeit gar nicht zurückhalten vom Lesenlernen: es will eben lesen lernen. Das moderne Leben ist so unigeben von „Lese" jeder Alt, dass selbst das kleine Kind sich ihrer kaum erwehren kann: Jläuserschilder und Aufschriften, wohin man blickt, Bekanntmachungen und Warnungen, Geschäftsempfehlungen, Fahrkarten, bedruckte Einwickelpapiere von Waren, Automaten und Ansichtskarten, Münzen und Bilderbücher, die Schaufenster, die stattliche Anzahl gedruckter Bücher, die jetzt in jeder Familie zu finden sind — überall und überall sieht das Kind Zahlen und Buchstaben, Buchstaben und Zahlen. Uni Zahlen und Buchstaben drehen sich die Schulaufgaben der älteren Geschwister, Briefe kommen an, Zeitungen werden mit Spannung erwartet, mit Eifer gelesen; wer in einer solchen Luft aufwächst, die von Zahlen und Buchstaben wimmelt wie von Staubteilchen und Lebenskeimen, wie sollte der nicht im Alter von sechs, j a zum Teil von fünf Jahren schon lebhaft wünschen, auch lesen zu können? Ein siebenjähriger Knabe stellte an seine Mutter einmal ernstlich die Frage: „Mutter, gibt es mehr Bücher oder mehr Menschen auf der Welt?" und fügte nach kurzem Besinnen selbst die Antwort hinzu: Ich glaube, mehr Bücher! Lesen ist in unserer Zeit beinahe ein so wichtiges Verständigungsmittel wie Sprechen, das Stadtkind der Gegenwart lernt darum Lesen so spielend und selbstverständlich beinahe wie Sprechen, ich gehe so weit zu sagen: es würde es fast ohne jeden Unterricht von selbst lernen!

Karl H e s s e l . So passen denn die B e d e n k e n g e g e n das Lesenlcrnen inj Alter von sechs J a h r e n f ü r v e r g a n g e n e Zeitalter, aber nicht f ü r die Gegenw a r t , wo selbst die L a n d k i n d e r e r f a h r u n g s g e m ä ß mit Begierde zum erstenmal die Fibel aufschlagen. E s w ä r e eine künstliche Hemmung des Zeitgeistes, wenn man den Beginn des Lesenlernens bis in das zweite S c h u l j a h r verschieben wollte. Nach den E r f a h r u n g e n bei meinen eigenen Kindern, die zum Teil mit vier J a h r e n durchaus lesen lernen wollten, wie bei unsern hiesigen Schulkindern sind die K i n d e r im Alter von sechs J a h r e n geistig völlig in der Verfassung, dass sie mit L e r n b e g i e r und aus eigenem inneren Antrieb sich d a n a c h sehnen, recht bald der S c h w i e r i g k e i t e n H e r r zu werden, die auf dem W e g e des Lesenlernens ihnen e n t g e g e n t r e t e n ; a u f m e r k sam blicken sie die r ä t s e l h a f t e n Zeichen an und t r a c h t e n hinter das Geheimnis zu kommen, das die g r ö ß e r e n K i n d e r bereits e r g r ü n d e t haben, und das f ü r diese eine Quelle m a n n i g f a c h e n Vergnügens ist. So ist denn d a s E r g e b n i s unserer E r w ä g u n g e n : das s e c h s j ä h r i g e K i n d will lesen lernen, und wir ziehen d a r a u s den Schluss: also soll es lesen lernen. Ist es doch eine der überzeugendsten Ausf ü h r u n g e n ß o u s s e a u s , dass man stets d a s zu lehren habe, was das Kind g e r n e lernen wolle. Und nuu diese E n t t ä u s c h u n g V Es will d u r c h a u s zur Schule, und diese wird ihm alsbald verleidet? es möchte so g e r n e lesen lernen, und man m a c h t es ihm zur Qual? Schon im J a h r e 1700 hat der Fibelverfasser Z e i d l e r g e s a g t , das Lesenlernen sei leicht, aber man erschwere es k ü n s t l i c h . U n d trotz aller F o r t s c h r i t t e in den Methoden ist es noch heute so: Das Lesenlernen w ä r e f ü r ein sechsjähriges Kind leicht, wenn man es nicht künstlich erschwerte. Nur weil man es allgemein erschwert, erheben sich immerwährend die Stimmen, man solle den Beginn des Lesenlernens hinausschieben. Nein, nicht hinausschieben, sondern die Methode natürlicher gestalten, d a s L e s e n in s t e t e r V e r b i n d u n g h a l t e n m i t Schreiben und S p r e c h e n ! F r a g e n w i r : wie geschieht das"? und untersuchen wir zunächst das erste, die Verbindung des Lesenlernens mit dem Schreibenlernen, so erscheint das zunächst als ein Widerstreit mit der Unterrichtsregel: Vom L e i c h t e n zum Schweren, vom E i n f a c h e n zum Zusammengesetzten ! Denn das Lesen f ü r sich allein ist ein bloßes Wiedererkennen von Schriftzeichen, welche die lebendige R e d e darstellen, j e d o c h das Schreiben,