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German Pages 285 Year 2009
Schriften zum Europäischen Recht Band 143
Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta Genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh
Von Gero Ziegenhorn
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
GERO ZIEGENHORN
Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta
Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von
Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann
Band 143
Der Einfluss der EMRK im Recht der EU-Grundrechtecharta Genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz gemäß Art. 52 Abs. 3 GRCh
Von Gero Ziegenhorn
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Wintersemester 2007/2008 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D5 Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12893-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Vorwort Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist noch nicht rechtsverbindlich. Gleichwohl wird ihr enorme rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit zuteil. Dabei entsteht der Eindruck, dass die Charta selbst das Rampenlicht inhaltlich meidet. Von ihrem Vorbild in freiheitsrechtlicher Hinsicht, der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten, will sie nicht recht abweichen. Nichtsdestoweniger enthält die Charta aber auch eigenständige Aussagen. Artikel 52 Absatz 3 GRCh regelt querschnittsartig den Einfluss der EMRK im Recht der Charta. Vor einer Untersuchung einzelner Grundrechte der Charta steht damit eine Auslegung dieser Norm. Letzteres ist Gegenstand der vorliegenden Arbeit. Die Abhandlung wurde im Wintersemester 2007/2008 von der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn als Dissertation angenommen. Sie entstand im Wesentlichen während meiner Zeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter meines Doktorvaters Prof. Dr. Dr. Udo Di Fabio. Ihm gilt mein größter Dank. Die Zeit an seinem Lehrstuhl hat mich nachhaltig bereichert. Prof. Dr. Christian Hillgruber hat die Mühe des Zweitgutachtens auf sich genommen, wofür ich ihm sehr dankbar bin. Ich danke auch Freunden als Kritikern in der Sache und Aufmunterern in der Tat sowie meinen Eltern. Vor allem aber danke ich Christina Last. Ihre Unterstützung bei dieser Arbeit war mir die wertvollste. Gero Ziegenhorn
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1 Der Einfluss des Art. 52 Abs. 3 GRCh im Grundrechtsregime der Charta
19
A. Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
20
B. Auswirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
Kapitel 2 Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen für das Gesamtverständnis der Charta
25
A. Die allgemeinen („horizontalen“) Bestimmungen der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
I.
Transferklausel und Identitätskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
29
II. Schrankenklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
37
III. Auslegungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
40
IV. Hinweis auf die EMRK als besonders bedeutende Rechtserkenntnisquelle . . . . . .
42
C. Auslegungen des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh in Korrelation zu den Lesarten des Satzes 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
I.
Bezogen auf Satz 1 als Transfer- und Identitätsklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
46
1. Absinken des EMRK-Schutzes pro futuro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
47
2. Abweichender Unteransatz: Satz 2 als Ausnahme zu Satz 1 . . . . . . . . . . . . . . .
48
II. Bezogen auf Satz 1 als Schrankenklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
III. Bezogen auf Satz 1 als Auslegungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
50
IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
D. Bedeutung der chartarechtlichen Bestimmungen im jeweiligen Licht der unterschiedlichen Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.
51
Transferklausel und Identitätskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
51
II. Schrankenklausel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
III. Auslegungsregel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
55
IV. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
56
E. Beobachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
Inhaltsverzeichnis
8
Kapitel 3 Die Erläuterungen der Konventspräsidien als zu berücksichtigende Auslegungshilfe A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung . . . . . . . . . . . . . . I.
59 62
Auslegung der Charta anhand europarechtlich überkommener Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
II. Positivierte Bezugnahmen auf die Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
1. Art. 52 Abs. 7 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
64
a) „Gebührende“ Berücksichtigung als Relativierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
65
b) Vertragspolitischer Konnex zwischen der Einfügung eines schriftlichen Grundrechtskatalogs und Art. 52 Abs. 7 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
c) Art. 52 Abs. 7 GRCh als Kompromiss unterschiedlicher Vorstellungen für den unionalen Grundrechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
71
2. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
a) Vergleich mit Art. 52 Abs. 7 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
b) Nochmalige Bestärkung des Konnexes von Verbindlichwerden der Charta und der Berücksichtigung der Erläuterungen in der Auslegung . . . . . . . . . .
77
c) Anwendbarkeit neben Art. 52 Abs. 7 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
3. Abs. 5 Satz 2 der Präambel der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
4. Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
5. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
III. Weiter gehende Rolle der Erläuterungen in Anwendung allgemeiner Auslegungsgrundsätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
1. Dokumentarischer Charakter der Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
84
2. Berücksichtigung entstehungsgeschichtlicher Momente bei der Auslegung von Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86 3. Insbesondere: Die Erläuterungen als Ausdruck eines „Konventswillens“ oder „Konventspräsidiumswillens“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
88
a) Zurechnung zum Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
b) Zurechnung zum Konventspräsidium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
91
c) Rechtliche Einordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
d) Berücksichtigung der Erläuterungen als Ausdruck des Konventspräsidiumswillens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
95
IV. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
96
B. Den Erläuterungen enthaltene Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh . . .
96
I.
Eindeutige Aussagen der Erläuterung zu Art. 52 Abs. 3 als Auslegungshinweise . .
97
1. Erläuterung zu Art. 52 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
97
Inhaltsverzeichnis
9
a) Feststellung von Ergebnissen der Anwendung des Tatbestandes des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
b) Hinweise zum abstrakten Verständnis der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
99
2. Erläuterungen solcher Artikel der Charta, die in den Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 genannt sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 II. Offene Fragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 III. Lesarten der Erläuterungen als Auslegungsvarianten der Charta . . . . . . . . . . . . . . 104 1. „Entsprechen“ als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit bestimmter genuin chartarechtlicher Normen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 a) Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 b) Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 aa) Kohärenz der Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 bb) Relevanz konventionsrechtlicher Negativdefinitionen als Rechtsfolge . . 111 cc) Abgrenzungsfunktion des Merkmals „entsprechen“ . . . . . . . . . . . . . . . 112 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Einbeziehung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 a) Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 b) Erster Unteransatz: Sowohl „Tragweite“ (S. 1) als auch „Schutz“ (S. 2) meinen Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 c) Zweiter Unteransatz: „Tragweite“ und „Schutz“ sind begrifflich weiter als „Schutzbereich“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 C. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Kapitel 4 Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
121
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 I.
„Bedeutung“ und „Tragweite“ als zentrale Begriffe auf Rechtsfolgenseite der Norm 123 1. Aufgreifen von überkommenen Begriffsverständnissen europäischer Grundrechtslehren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 2. Anknüpfen an Begriffsverständnisse des sonstigen acquis communautaire . . . 127 3. Systematische Stellung in Art. 52 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 4. Semantische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 a) „Tragweite“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 b) „Bedeutung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 5. Teleologische Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 a) Umfassender Charakter von Tatbestands- und Rechtsfolgenseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 b) Kohärenz zwischen Charta und EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136
Inhaltsverzeichnis
10
aa) Zur Vermeidung völkerrechtlicher Haftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 bb) Als Programm der Unionsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 cc) Meistbegünstigung und Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Kohärenz des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Kohärenz in einem umfassenden Sinne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 6. „Bedeutung und Tragweite“ als Begriffspaar für umfassende Kohärenz . . . . . . 141 a) „Tragweite“ in einem umfassender Kohärenz verpflichteten Verständnis . . . 143 b) „Bedeutung“ als Beschreibung der die „Tragweite“ konstituierenden Elemente 143 7. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 II. Transfer konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes als Rechtsfolge („shall be the same“) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. „Gleiche“ und genuin chartarechtliche Bedeutung und Tragweite . . . . . . . . . . 145 2. „Entsprechende“ genuin chartarechtliche Schutzbereiche . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 3. Transfer und Anwendung von Konventionsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 III. „Entsprechen“ eines Chartarechts und eines Konventionsrechts als Tatbestandsvoraussetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 1. Grundlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 a) Gebührende Berücksichtigung der Erläuterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 b) Ähnlichkeit der in Betracht kommenden Charta- und Konventionsrechte . . 154 2. Die tatbestandliche Erfassung „sich entsprechender“ Rechte als Voraussetzung umfassender Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 a) Einzelfallunabhängige Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 b) Vergleich im Rahmen der Subsumtion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 c) Beispiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 3. Teleologische Reduktion bei bereits bestehender Kohärenz? . . . . . . . . . . . . . . 158 4. Streitfall: Art. 5 Abs. 2–5 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 5. Von den Erläuterungen festgestelltes „Entsprechen“ und Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 IV. Verhältnis zu Art. 52 Abs. 2 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 B. Zwischenergebnis zur Frage eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes – Bedeutsamkeit der „entsprechenden“ Chartaartikel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 I.
Enumerationsfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165
II. Subsidiärer genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz im Falle eines Absinkens des EMRK-Schutzes pro futuro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 C. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 I.
Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 1. Deskriptiver Wortlaut und möglicher deklaratorischer Charakter der Norm . . . 170 2. Anwendungsbereich des Satzes 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 3. Mögliche Verortung von Tatbestand und Rechtsfolge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
Inhaltsverzeichnis
11
II. „Weiter gehender Schutz“ durch „das Recht der Union“ als zentrale Merkmale der Regelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 1. „Recht der Union“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 a) Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 b) Recht der Charta . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 c) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 2. „Weiter gehender Schutz“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Schützendes Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 b) Schutz, der „weiter gehend“ ist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 3. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Rechtsfolge und Verhältnis zu Satz 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 IV. Einzelfallbezogenheit des weiter gehenden Schutzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 I.
Art. 52 Abs. 3 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183
II. Zur Frage eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes . . . . . . . . . . . . . . . 186 1. Genuin chartarechtlicher Charakter des unionalen Grundrechtsschutzes als Frage der praktischen Reichweite des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . 187 2. Transferiertes Konventionsrecht und genuines Chartarecht in der Rechtsprechungshoheit des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Kapitel 5 Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh auf das gefundene Verständnis der Charta nach Art. 52 Abs. 3 GRCh
191
A. These vom Bedeutungswandel der Art. 53 EMRK entlehnten Regelungen im unionsrechtlichen Zusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 B. Art. 53 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 I.
Regelung der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
II. Regelung hinsichtlich des materiellen Grundrechtsschutzes durch Grundrechte anderer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 III. Regelung des Verhältnisses eines anwendbaren Konventionsrechts zu einem gleichermaßen anwendbaren anderen Grundrecht – ‚Konkurrenzenregelung‘ . . . . . . . 200 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Verständnisses des Art. 53 EMRK . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 I.
Wortlaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204
II. Regelung der Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 III. Regelung hinsichtlich des materiellen Grundrechtsschutzes durch Grundrechte anderer Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
Inhaltsverzeichnis
12
1. Unionaler Bedeutungszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 a) Insbesondere: Bindung der Mitgliedstaaten an Grundrechte der Charta . . . . 208 aa) Bindung in Umsetzung von Gemeinschafts- und zukünftigem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 bb) Bindung bei Einschränkungen von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . . . . 210 cc) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 b) Niederschlag im Verständnis des Art. 53 GRCh . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 2. Differenzierung nach den in Bezug genommenen Grundrechtsordnungen . . . . 216 a) „Recht der Union“ und „Verfassungen der Mitgliedstaaten“ . . . . . . . . . . . . 216 b) „Völkerrecht“ und „internationale Übereinkünfte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 3. Ergebnis und Zwischenergebnis zur These vom Bedeutungswandel . . . . . . . . . 219 IV. Mindestschutz durch Geltung von Grundrechten der genannten Quellen im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 V. Regelung der Anwendbarkeit von Chartarechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 1. Grundrechte „paralleler Grundrechtsordnungen“ und der Charta . . . . . . . . . . . 222 a) Konkrete Anwendung der Norm als ‚einseitige Konkurrenzenregelung‘ . . . 224 b) Mindestschutz durch Regelung der Nicht-Anwendbarkeit der Charta . . . . . 225 2. Regelung von Konkurrenzen im Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Ergebnis und weiteres Zwischenergebnis zur These vom Bedeutungswandel . . 229 D. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Kapitel 6 Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen
232
A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse als Herausforderung der Rechtsanwendung . . . . 233 I.
Grundrechtskollision als mehrpoliges Grundrechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . 233
II. Mehrpoliges Grundrechtsverhältnis als an die Methodik gerichtete Forderung . . . 236 III. Vor- und Nachteile eines Denkens in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen . . . . 237 B. Konstellationen mehrpoliger Rechtsverhältnisse im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 I.
Mehrpolige Unionsgrundrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241
II. Mehrpolige Grundfreiheitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 III. Mehrpolige Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 IV. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 C. Kohärenz im mehrpoligen Charta-Grundrechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 I.
Herausgeforderte Kohärenz durch primärrechtliches Nebeneinander von transferierten Konventionsrechten und genuinen Chartarechten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246
Inhaltsverzeichnis
13
II. Teleologische Bedenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 III. Konkretisierung der Grundrechte und Kohärenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 IV. Mögliche Implikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 1. Absoluter Vorrang von transferierten Konventionsrechten . . . . . . . . . . . . . . . . 248 2. Determinierung des Abwägungsvorgangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 248 3. Höhere Gewichtung konventionsrechtlich geschützter Interessen . . . . . . . . . . . 249 V. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 D. „Weiter gehender Schutz“ gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 I.
Konventionsverstoßvermeidende Auslegung des Satzes 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253
II. „Weiter gehender Schutz durch Recht der Union“ im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 1. Isolierte Betrachtung des jeweiligen Individualinteresses . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2. Gesamtbetrachtung der in Ausgleich zu bringenden Positionen . . . . . . . . . . . . 255 3. Maximalstandard . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 III. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264 Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge – . . . . . . . . . . . . . . 266 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis a. A. a. a. O. ABl. ABl.EG ABl.EU Abs. a. E. AEUV a. F. arg. Art. Bd. BGBl. BR-Drs. BVerfGE bzgl. bzw. CJEL d. ders. d. h. dies. EFAR EG
EGMR EGV EIoP EMRK endg. engl. EU EuG EuGH EUV
anderer Ansicht, am Anfang am angeführten Ort Amtsblatt Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften Amtsblatt der Europäischen Union Absatz am Ende Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union alte Fassung argumentum Artikel Band Bundesgesetzblatt Drucksache des Bundesrates Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Herausgegeben von den Mitgliedern des Bundesverfassungsgerichts bezüglich beziehungsweise Columbia Journal of European Law des, der derselbe das heißt dieselbe, dieselben European Foreign Affairs Review Europäische Gemeinschaft, Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der derzeit, vor einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft in der bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam geltenden Fassung European Integration online Papers Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten endgültig englisch Europäische Union, Vertrag über die Europäische Union in der derzeit, vor einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung Gericht erster Instanz der Europäischen Gemeinschaften Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften Vertrag über die Europäische Union in der bis zum Inkrafttreten des Vertrags von Amsterdam geltenden Fassung
Abkürzungsverzeichnis EUV n. F. EWG EWGV EWIV EWS f. ff. Fn. frz. FS gem. GG Ggf. GLJ GRCh GS HGR h. M. Hrsg. HStR ICLQ i. E. IPbpR i. w. S. lit. MJ m. w. N. n. F. Nr. o. a. o. ä. Prot. Rdnr. resp. Rs. S. Slg. sog. u. a. UAbs. usf. u. U. Var.
15
Vertrag über die Europäische Union in der bei einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon geltenden Fassung Europäische Wirtschaftsgemeinschaft Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft Europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung Europäisches Wirtschafts- und Steuerrecht folgende, folgender folgende Fußnote, Fußnoten französisch Festschrift gemäß Grundgesetz gegebenenfalls German Law Journal Charta der Grundrechte der Europäischen Union Gedächtnisschrift Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa herrschende Meinung Herausgeber Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland International and Comparative Law Quarterly im Ergebnis Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte im weiteren Sinne litera Maastricht Journal of European and Comparative Law mit weiteren Nachweisen neue Fassung Nummer oben angeführter, angeführte, angeführtes oder ähnliches Protokoll, Protokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten Randnummer, Randnummern respektive Rechtssache Satz, Seite Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts erster Instanz sogenannter, sogenannte, sogenanntes unten angeführter, angeführte, angeführtes Unterabsatz und so fort unter Umständen Variante
16 verb. Verf. VerfV vgl. VVDStRL WVRK z. B. Ziff. ZP
Abkürzungsverzeichnis verbundene Verfasser Vertrag über eine Verfassung für Europa vergleiche Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge zum Beispiel Ziffer Zusatzprotokoll zur Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten
Einleitung Einleitung Mit der Charta der Grundrechte der Europäischen Union wird, wenn sie mit einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon rechtsverbindlich wird, zum ersten Mal in der Geschichte der europäischen Integration supranationale Hoheitsgewalt unmittelbar an einen Katalog von Grundrechten gebunden. Damit wird eine auch bereits 1974 vom Bundesverfassungsgericht im Solange-I-Beschluss1 gestellte Forderung erfüllt werden. Einen europäischen Grundrechtskatalog bildet auch die jahrzehntealte EMRK. An sie sind die Europäischen Gemeinschaften hingegen unmittelbar nicht gebunden, weil sie nicht Vertragspartner sind und dies bislang auch nicht sein konnten2. Die rechtlichen Voraussetzungen für einen nach den Unionsverträgen in der Fassung des Vertrags von Lissabon zu erwartenden Beitritt der Union zur EMRK werden aber derzeit geschaffen3. Freilich war die EMRK als gemeinsamer Mindeststandard aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union stets ergiebige Rechtserkenntnisquelle für die richterliche Rechtsschöpfung der Gemeinschaftsgrundrechte durch den EuGH4. Damit kam bereits vor der Charta dem Recht der EMRK inhaltlich eine große Bedeutung im unionalen Grundrechtsschutz zu. Der Vertrag von Lissabon setzt diese Tradition in mehrfacher Hinsicht fort5. Mit Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. wird die Grundlage des bestehenden, vom Konventionsrecht geprägten prätorischen Grundrechtsschutzes beibehalten. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. sieht jetzt auch einen Beitritt der EU zur EMRK und damit eine unmittelbare Bindung an die Menschenrechte der Konvention vor. Kernstück des Unionsgrund1
BVerfGE 37, 271. Gemeinschaftsrechtlich: EuGH, Gutachten vom 28. 3. 1996, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, S. I–1759; konventionsrechtlich: Art. 59 Abs. 1 Satz 1 EMRK in der durch das Prot. Nr. 11 geänderten Fassung in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 der Satzung des Europarates. 3 Unionsrechtlich: Art. 6 Abs. 2 EUV n. F.; siehe zu Art. I-9 Abs. 2 des Vertrags über eine Verfassung für Europa, der Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. entspricht, M. Köngeter, Völkerrechtliche und innerstaatliche Probleme eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa. 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 230; konventionsrechtlich: Art. 17 Ziff. 1 des Prot. Nr. 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention vom 13. 5. 2004, BGBl. 2006 II S. 138, noch nicht in Kraft getreten (Stand: 28. 6. 2008), vgl. S. Winkler, EuGRZ 2007, 641 (642, Fn. 9). 4 Jüngst EuGH, Urteil vom 27. 6. 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I-5769, Rdnr. 52 ff. 5 T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-9 VerfV Rdnr. 1, spricht von der Ausschüttung eines „grundrechtlichen Füllhorns“. 2
18
Einleitung
rechtsschutzes nach dem Vertrag von Lissabon ist aber die unionseigene Charta der Grundrechte, deren primärrechtliche Verbindlichkeit durch Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. angeordnet wird. Die Charta selbst lehnt sich wiederum bewusst an die EMRK, insbesondere an deren abwehrrechtliche Gehalte an, indem viele ihrer Bestimmungen dem Wortlaut der EMRK nachgebildet sind. Die Charta begreift sich selbst ausdrücklich – nämlich ausweislich ihrer Präambel – als Bekräftigung unter anderem der Rechte, die sich aus der EMRK ergeben. Vor allem aber unternimmt es die Charta durch allgemeine, für sie insgesamt geltende Bestimmungen, ihr Verhältnis zur EMRK zu bestimmen. Geschriebene Rechtssätze wie die des Art. 52 Abs. 3 GRCh oder auch des Art. 53 GRCh definieren querschnittsartig das Verhältnis des neuen Grundrechtskatalogs der Union zu dem der EMRK.
Kapitel 1
Der Einfluss des Art. 52 Abs. 3 GRCh im Grundrechtsregime der Charta Kap. 1: Art. 52 Abs. 3 GRCh im Grundrechtsregime der Charta Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der am 12. Dezember 2007 proklamierten Fassung1, die nach einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon gilt2, enthält mit den Artikeln 51–54 als Titel VII allgemeine Bestimmungen. Als solche enthalten diese Artikel Regelungen, die sich auf die Charta als Ganzes oder zumindest auf eine Mehrzahl von Chartarechten beziehen. Mittlerweile sind nicht nur Einzelheiten der Auslegungen der Art. 51–54 GRCh in unterschiedlichem Maß umstritten. Bei einigen dieser Bestimmungen besteht vielmehr grundlegender Streit über die Frage, welche Funktion ihnen in einem Gesamtgefüge der Charta überhaupt zukommen soll. Einige von ihnen sollen sogar nur deklaratorisch sein. Solche Fragestellungen bestehen vor allem im Zusammenhang mit Art. 52 Abs. 3 GRCh. Diese Bestimmung lautet: „Soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten garantierten Rechten entsprechen, haben sie die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der genannten Konvention verliehen wird. Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt.“
Über das richtige Verständnis dieser Norm herrscht in der Literatur seit der erstmaligen Proklamation der Charta im Jahr 2000 vehementer Streit. In Kenntnis bestehender Auslegungsschwierigkeiten gab es bei der Überarbeitung der für die Auslegung der Charta bedeutsamen „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ im Rahmen des Europäischen Konvents das Bestreben, entsprechende Klarstellungen zu ergänzen, insbesondere mit Blick auf Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh3. Hierzu kam es aber nicht4. Literatur und Rechtsprechung bleiben in der Bewältigung der Auslegungsschwierigkeiten zu Art. 52 Abs. 3 GRCh auf sich gestellt. 1 Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der am 12. 12. 2007 in Straßburg proklamierten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 1. 2 Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, ABl.EU C 306 vom 17.12.2007, S. 1. Siehe Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. und Schlussformel der am 12. 12. 2007 proklamierten Charta. 3 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (329). 4 C. Ladenburger, ebenda, S. 311 (329).
Kap. 1: Art. 52 Abs. 3 GRCh im Grundrechtsregime der Charta
20
Die Unterschiede der mittlerweile in der Literatur vertretenen Auslegungen des Art. 52 Abs. 3 GRCh sind beachtlich. Sie reichen von einem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh als bloße Auslegungsregel bis hin zu einem Verständnis als Transferklausel5. Beachtlich sind auch die überaus unterschiedlichen Konsequenzen dieser Ansichten. Verstanden als Auslegungsregel wären nach Art. 52 Abs. 3 GRCh die Schutzbereiche der Charta, die eine Entsprechung in der EMRK haben und die sich vor allem in Titel I und II der Charta finden, ebenso wie die allgemeinen Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh für die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen lediglich im Einklang mit den korrespondierenden Bestimmungen der EMRK auszulegen. Art. 52 Abs. 3 GRCh wäre mit Art. 52 Abs. 4 GRCh vergleichbar, der Entsprechendes für solche Bestimmungen regelt, die ihren Ursprung in den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten finden. Sieht man mit einer wohl herrschenden Meinung Art. 52 Abs. 3 GRCh hingegen als Transferklausel, geht es nicht mehr um eine Auslegung der Charta unter Beachtung des Konventionsrechts. Vielmehr wären hiernach die Bestimmungen der EMRK selbst als Unionsrecht anzuwenden. Im Einzelnen ist unter Vertretern dieser Meinung darüber hinaus umstritten, für welche Bestimmungen der EMRK dieser Transfer gilt, ob nur für Rechtfertigungsvoraussetzungen, also insbesondere den jeweiligen Absätzen 2 der Art. 8–11 EMRK, oder auch für die konventionsrechtlichen Schutzbereiche. Alle Ansichten suchen Antwort auf die Frage, hinsichtlich welcher Grundrechte konkret der Normbefehl des Art. 52 Abs. 3 GRCh gelten soll, was also der Anwendungsbereich dieser Norm ist.
A. Fragestellung A. Fragestellung
Art. 52 Abs. 3 GRCh bestimmt für den größten Teil der Freiheitsrechte im zukünftigen Grundrechtsregime der Union, in welchem Maß Recht der EMRK in das Unionsrecht einfließt. Insofern geht es bei der Auslegung dieser Norm um eine doppelte Fragestellung. Zum einen ist zu fragen, auf welche Konventionsrechte und auf welche konventionsrechtlichen Gehalte sich diese Norm bezieht. Zum anderen geht es um die Frage, in welchem Maß, mit welcher Intensität diese Gehalte einbezogen werden6, ob hiernach Konventionsrecht etwa lediglich in die Auslegung von Chartarecht einfließt oder ob sogar als transferiertes Recht im Unionsrecht selbst gelten soll. Die Antworten auf beide dieser Fragen implizieren vice versa, welche eigenständige Bedeutung den betroffenen Bestimmungen der Charta nach Art. 52 Abs. 3 GRCh eingeräumt wird: Stellt Art. 52 Abs. 3 GRCh eine Auslegungsregel, Art. 52 Abs. 4 GRCh vergleichbar, dar, dann bedeutet dies, dass Freiheitsrechte wie das 5
Siehe im Einzelnen sogleich unter Kapitel 2. T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 21, 31. 6
B. Auswirkungen
21
Recht auf Leben, das Recht auf Freiheit und Sicherheit und das Eigentumsrecht durch geschriebene Rechtssätze des Unionsrechts, durch Art. 2, 6 und 17 GRCh selbst gewährleistet sind, dass aber die Aussagen der entsprechenden Artikel der EMRK in der Auslegung dieser Charta-Grundrechte zu berücksichtigen sind. Handelt es sich hingegen bei Art. 52 Abs. 3 GRCh um eine Transferklausel, dann sind die entsprechenden Artikel der EMRK selbst anzuwenden, im Beispiel also insbesondere die Art. 27 und 5 EMRK sowie Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK. In diesem Fall würde den entsprechenden Bestimmungen der Charta als geschriebene Rechtssätze kaum eine eigenständige rechtliche Bedeutung zukommen. Dies gilt im verminderten Maß auch für die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh, denen ein erheblich kleinerer Anwendungsbereich zukäme, die zumindest aber angesichts besonderer konventionsrechtlicher Rechtfertigungsvoraussetzungen in vielen Fällen praktisch leer liefen. Die Frage nach dem richtigen Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh ist damit zugleich die Frage nach der Bedeutung eines Großteils der kodifizierten Freiheitsrechte der Charta sowie der chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, der sog. SchrankenSchranken. Es geht mit anderen Worten nicht nur um die Rolle konventionsrechtlicher Gehalte im Grundrechtsregime der Charta, vielmehr geht es auch um die Bedeutung eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes.
B. Auswirkungen B. Auswirkungen
Dass die Fragestellung nicht nur von theoretischem Interesse ist, sondern auch konkret Auswirkung auf den Grundrechtsschutz haben kann, zeigt schon ein flüchtiger Blick auf Schutzbereiche und Rechtfertigungsvoraussetzungen von Charta und EMRK. Zwar sind die einschlägigen chartarechtlichen Bestimmungen jeweils dem Wortlaut nach unübersehbar der EMRK nachgebildet8. Von den Artikeln, die als Positivierungen von Schutzbereichen in Betracht kommen, ist aber wohl nur das Folterverbot in Art. 4 GRCh resp. Art. 3 EMRK im Wortlaut identisch9. Hervorzuheben sind insofern nicht nur Weiterentwicklungen10 oder Abstrahierungen im Wortlaut der Charta im Vergleich zur EMRK, wie etwa die der geschützten „Kommunikation“ statt „Korrespondenz“ in Art. 7 GRCh resp. Art. 8 EMRK, sondern auch das Fehlen sog. Negativdefinitionen, z. B. was nicht Zwangs- oder 7
Sowie Art. 1 Prot. Nr. 6 zur EMRK. J. F. Lindner, EuR 2007, 160 (171). Siehe zu Alternativen dieser Kodifikation: A. Weber, NJW 2000, 537 (539 f.). 9 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29). 10 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17; M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29). 8
22
Kap. 1: Art. 52 Abs. 3 GRCh im Grundrechtsregime der Charta
Pflichtarbeit, zu der niemand gezwungen werden darf, ist, so Art. 4 Abs. 3 EMRK im Vergleich zu Art. 5 Abs. 2 GRCh11. Auch ein eigenständiger Eingriffs- oder Beschränkungsbegriff ist bislang weder im Recht der EMRK12 noch im Unionsrecht13 sehr weit entwickelt. Sowohl die EMRK14 als auch die Charta15 bieten aber bereits im Wortlaut einen Anknüpfungspunkt hierfür. Denn die EMRK schützt das Grundrecht vor interference, restriction, limitation (engl.) und ingérence, restriction (frz.)16, die Charta setzt eine Einschränkung, limitation (engl.) und limitation (frz.) voraus17. Schließlich unterscheiden sich die Voraussetzungen für die Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung nach der Charta von den Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK. Zwar erscheint Art. 52 Abs. 1 GRCh in weiten Teilen als gemeinsamer Nenner, der als Abstrahierung die besonderen Rechtfertigungsvoraussetzungen des jeweiligen Absatzes 2 der Art. 8–11 EMRK aufnimmt18. Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh enthält aber darüber hinaus eine ausdrückliche Wesensgehaltsgarantie. Diese ist fest in der Tradition des Gemeinschaftsrechts verwurzelt19. Hier wurde die Wesensgehaltsgarantie zwar von der herrschenden Literaturmeinung weit gehend gleichbedeutend mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstanden, was nicht zuletzt auf eine entsprechende, immer wieder verwendete Formulierung in den Entscheidungen des EuGH zurückgeführt werden kann – nämlich als Relativsatz zu den Ausführungen zur Verhältnismäßigkeit20. Diese Formulierung wurde aber von 11 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29 f.). 12 M. Holoubek, DVBl. 1997, 1031; vgl. auch C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 18 Rdnr. 6 a. E. 13 D. Ehlers, § 14. Allgemeine Lehren, in: ders. (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 44; J. Kühling, Grundrechte, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (614 f.); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 56, aber auch Rdnr. 57. 14 Insbesondere der jeweilige Absatz 2 der Art. 8–11 EMRK. 15 S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (114). 16 Siehe insbesondere zur Entwicklung eines konventionsrechtlichen Eingriffsbegriffs M. Holoubek, DVBl. 1997, 1031. 17 Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh. 18 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138); S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (114). Kritisch zu dieser Abstrahierung M. Kenntner, ZRP 2000, 423 (425). 19 Seit EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rdnr. 14; jüngst EuG, Urteil vom 21. 6. 2006, Rs. T-47/02, Danzer, Slg. 2006, S. II–1779, Rdnr. 44. 20 Z. B. EuG, Urteil vom 21. 6. 2006, Rs. T-47/02, Danzer, Slg. 2006, S. II–1779, Rdnr. 44: „Daraus folgt, dass die Verpflichtungen, die die streitigen Bestimmungen den Gesellschaften auferlegen, selbst wenn man annehmen können sollte, dass diese Bestimmungen […] das Eigentumsrecht in gewissem Maße beeinträchtigen könnten, keinen unverhältnismäßigen, untragbaren Eingriff darstellen, der […] diese Rechte [insb. das Eigentumsrecht] in ihrem
B. Auswirkungen
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Art. 52 Abs. 1 GRCh gerade nicht aufgegriffen. Die Wesensgehaltsgarantie der Charta ist in Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh enthalten, während der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, sprachlich von der Wesensgehaltsgarantie verselbstständigt, in Satz 2 normiert ist21. Im Recht der EMRK besteht für die Art. 8–11 EMRK, deren Absätze 2 Vorbild für Art. 52 Abs. 1 GRCh waren, keine Wesensgehaltsgarantie. Etwas Vergleichbares gibt es allenfalls, nach der Rechtsprechung des EGMR, für die vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechte22 als sog. „implied limitations“23. Weit gehende Ähnlichkeiten von Artikeln der Charta zu Bestimmungen der EMRK im Wortlaut dürfen zudem nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich selbst bei gleichem Wortlaut von Rechtstexten unterschiedlicher Rechtsordnungen unterschiedliche Bedeutungen der Rechtsnormen ergeben können. Dies gilt z. B. mit Blick auf den Gesetzesvorbehalt der EMRK24. Dieser soll nicht, verstanden als Parlamentsvorbehalt, in den Staaten, die nicht dem kontinentalen Rechtskreis zugehören, dazu führen, dass die gewachsene Rechtsordnung des Common Law umgewälzt wird25. Daher wird der konventionsrechtliche Gesetzesvorbehalt so verstanden, dass er je nach Rechtskreis unterschiedliche Anforderungen beinhaltet26. Demgegenüber käme eine derartige territoriale Differenzierung des Gesetzesvorbehalts im Unionsrecht von vorneherein nicht in Betracht27. Sie widerspräche dem Prinzip der einheitlichen Geltung des Unionsrechts und ergäbe als Bestimmung der Charta ohnehin kaum einen Sinn. Denn die Grundrechte der Charta wenden sich in erster Linie an die Union als supranationalen Hoheitsträger, Art. 51 Abs. 1 GRCh, und die Rechtsordnung der Union ist weder Common Law noch ist ihr Parlament ein Parlament im nationalstaatlichen Sinne28. Einem grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt des Unionsrechts könnte aber eine gänzlich eigenständige, spezifisch unionsrechtliche Bedeutung zukommen29. Ein solcher, spezifisch unions-grundrechtlicher Gesetzesvorbehalt müsste sich allerdings auf den unionalen determinierenden Rechtsakt beziehen30, wenn er insoweit sinnvolle AnforWesensgehalt antastet, und daher nicht als unverhältnismäßig hinsichtlich des dem Gemeinwohl dienenden Ziels des Artikels 44 Absatz 2 Buchstabe g EG angesehen werden können.“ 21 Vgl. S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (115), die unter dem Wesensgehalt den Kern eines Grundrechts verstehen, welcher der Menschenwürde entspricht. 22 E. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten, in: FS Delbrück, S. 385 (386 ff.). 23 E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 91 f. 24 Vgl. A. Weber, NJW 2000, 537 (543). 25 EGMR, Urteil vom 26. 4. 1979, Sunday Times I, EuGRZ 1979, 386, Rdnr. 47 ff. 26 EGMR, Urteil vom 25. 5. 1993, Kokkinakis, RUDH 1993, 251, Rdnr. 37 ff. 27 EuGH, Urteil vom 15. 7. 1964, Rs. 6/64, Costa / ENEL, Slg. 1964, S. 1141, Rdnr. 3. 28 U. Di Fabio, Das Recht offener Staaten, 1998, S. 143; P. Kirchhof, Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 893 (926 f.). 29 In diesem Sinne auch D. Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53 (60 f.); vgl. T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 62. 30 Vgl. J. Kühling, Grundrechte, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (614 f.).
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Kap. 1: Art. 52 Abs. 3 GRCh im Grundrechtsregime der Charta
derungen enthalten will. Wenn eine dem Regime der Charta unterliegende Grundrechtsbeschränkung in Gestalt eines mitgliedstaatlichen Aktes in „Durchführung des Rechts der Union“ (Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh) erfolgt, dann besteht die Grundrechtsbeschränkung bereits in dem determinierenden Unionsrechtsakt31. An diesen müssen sich dann auch die Anforderungen eines unionsgrundrechtlichen Gesetzesvorbehalts richten32. Angesichts dieser Überlegungen erscheinen mögliche Unterschiede eines grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts in Charta und EMRK nicht nur denkbar. Sie können auch als Rechtssätze ihrer jeweiligen Rechtsordnung das jeweilige Regelungsproblem möglicherweise adäquater adressieren. Das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist für weite Teile der Charta von Bedeutung. Für die am Ende des Jahres 2000 erstmalig feierlich proklamierte Charta, deren Verbindlich-Werden stets im Blickfeld nicht nur der politischen Akteure33, sondern auch des rechtswissenschaftlichen Diskurses34 stand, ist mittlerweile ein regelrechtes Kommentar- und Handbuchwesen entstanden35. Inwieweit aber eine eigenständige Auseinandersetzung mit solchen Bestimmungen der Charta, die eine Entsprechung im Recht der EMRK haben, überhaupt gefordert ist, hängt davon ab, wie sehr die Charta selbst nach Art. 52 Abs. 3 GRCh inhaltliche Eigenständigkeit im Verhältnis zu den Aussagen der EMRK behaupten will. Das Maß des Einflusses der EMRK im Recht der Charta zu bestimmen, bedeutet mithin, sich grundsätzlich Klarheit darüber zu verschaffen, auf welcher Grundlage die Auslegung der Charta und entsprechende dogmatische Betrachtungen stattfinden können. Das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bestimmt somit maßgeblich den Blick auf die Charta insgesamt.
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Unter bestimmten Voraussetzungen erscheinen mitgliedstaatliche Rechtsakte im Anwendungsbereich des Unionsrechts – als vom Unionsrecht determiniert – funktional als Ausübung von Unionsgewalt. Siehe hierzu Kapitel 5. C.III.1.a). 32 Demgegenüber können sich aus dem Unionsrecht Anforderungen ergeben, die einem Gesetzesvorbehalt vergleichbar sind, allerdings nicht in einem grundrechtlichen Zusammenhang stehen, z. B. wenn es um die Frage der hinreichenden Umsetzung des Unions- resp. Gemeinschaftsrechts geht (inwiefern z. B. Exekutivnormen ausreichend sind). Vgl. EuGH, Urteil vom 30. 5. 1991, Rs. C-362/88, TA-Luft, Slg. 1991, S. I–2567, Rdnr. 15 f., 20 f. 33 Siehe bereits das „Mandat von Köln“ (dazu unten, Kapitel 2, Fn. 107), Abs. 4, und nachfolgend der sogenannte „Als-ob“-Ansatz des Präsidenten des Grundrechtekonvents, R. Herzog, erste Sitzung des Konvents (konstituierende Tagung) am 17. 12. 1999, N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, 1. Protokoll, S. 107 (111). 34 Etwa E. Pache, EuR 2001, 475 (490 f.). 35 G. Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2001; Bifulco / Cartabia / Celotto (Hrsg.), L’Europa dei Diritti. Commento alla Carta dei diritti fondamentali dell’Unione Europea, 2001; Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006; Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004; H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005.
Kapitel 2
Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen für das Gesamtverständnis der Charta Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen Die in der Literatur vertretenen Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh begründen unterschiedliche Sichtweisen auf die Bestimmungen der Charta, für die Art. 52 Abs. 3 GRCh anwendbar ist. Dessen Lesart und hieraus folgende Sichweitweisen jener Bestimmungen sind im Folgenden für jeden vertretenen Ansatz darzustellen. Auch die Funktionen, die anderen allgemeinen Bestimmungen der Charta (also der Art. 51–54 GRCh) im Gesamtgefüge der Charta zuzuerkennen sind, sind umstritten und stehen teilweise in Abhängigkeit zu dem jeweils zu Art. 52 Abs. 3 GRCh vertretenen Auslegungsansatz. Die Art. 51–54 GRCh sind daher als Regelungsumfeld des Art. 52 Abs. 3 GRCh im Folgenden kurz vorab zu skizzieren.
A. Die allgemeinen („horizontalen“) Bestimmungen der Charta A. Die allgemeinen („horizontalen“) Bestimmungen der Charta
Die allgemeinen Bestimmungen der Artikel 51–54 GRCh, die auch in Anlehnung an den englischen Sprachgebrauch als horizontale Bestimmungen bezeichnet werden1, unterscheiden sich nach allen in der Literatur vertretenen Ansichten sowohl inhaltlich, als auch in ihrer jeweiligen Bedeutung für die Charta beträchtlich. Über das Grundverständnis des Art. 51 Abs. 1 und Abs. 2 GRCh sowie des Art. 54 GRCh besteht in der Literatur noch weit gehende Einigkeit2. Danach bestimmt Art. 51 Abs. 1 GRCh in Anlehnung an die Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten als allgemeine Rechtsgrundsätze den Anwendungsbereich der Charta. Es geht vor allem um die Grundrechtsbindung der Union3. Hinsichtlich der Mitgliedstaaten wird an die auf die Entscheidungen in 1 S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113; R. Knöll, NVwZ 2001, 392 (393); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GRCh Rdnr. 1. 2 Siehe zu Art. 51 GRCh P. Eeckhout, CMLR 39 (2002), 945; A. Knook, CMLR 42 (2005), 367 (368–383); D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (181 ff.). Siehe zu Art. 54 GRCh M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 54 Rdnr. 8 ff.; vgl. zu Art. 17 EMRK J.-F. Flauss, RUDH 1992, 461; J. A. Frowein, in: ders. / Peukert (Hrsg.), Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 1996, Art. 17. 3 Seit EuGH, Urteil vom 12. 11. 1969, Rs. 29/69, Stauder, Slg. 1969, S. 419, Rdnr. 7; EuGH, Urteil vom 17. 12. 1970, Rs. 11/70, Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, S. 1125, Rdnr. 13 f. Vgl. Art. 6 Abs. 2 EU; EuGH, Urteil vom 27. 6. 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769, Rdnr. 35 ff., 52 ff.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
den Sachen Wachauf 4 und wohl auch ERT 5 zurückgehenden Rechtsprechungslinien angeknüpft. Art. 51 Abs. 2 GRCh enthält die Klarstellung, dass durch die Charta keine Zuständigkeiten der Union begründet oder erweitert werden, eine auch als „nicht erwähnungsbedürftige Selbstverständlichkeit“6 bezeichnete Normierung, die Entsprechungen an anderen Stellen im Primärrecht, insbesondere an prominenter Stelle in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV n. F. findet. Einen gänzlich anderen Regelungsgegenstand hat Art. 54 GRCh. Dieser normiert in Anlehnung an Art. 17 EMRK ein Verbot des Missbrauchs der Rechte. Der praktische Anwendungsbereich dieser Norm dürfte in Parallele zum Konventionsrecht gering sein. Mitunter grundverschieden sind die vertretenen Auffassungen zu Art. 53 GRCh, der erkennbar Art. 53 EMRK nachgebildet ist. Es geht in dieser Diskussion auch um die Frage, inwiefern dessen konventionsrechtliches Verständnis in der Auslegung des Art. 53 GRCh als Bestimmung der Charta fortwirkt. Art. 53 GRCh selbst bezieht sich wiederum auch auf die EMRK. Letzteres gilt aber auch für Art. 52 Abs. 3 GRCh, der einerseits nicht auf die gesamte EMRK, sondern nur auf einzelne „entsprechende“ Konventionsrechte, aber andererseits umfänglich auf deren „Bedeutung und Tragweite“, die im Recht der Charta maßgeblich sein sollen, Bezug nimmt. Die Auslegung des Art. 53 GRCh hängt somit von dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh und dem Verhältnis beider Artikel zueinander ab. Die Bedeutung des Art. 53 GRCh kann somit erst ermessen werden, wenn Klarheit hinsichtlich des Verständnisses des Art. 52 Abs. 3 GRCh besteht7. Art. 52 GRCh enthält in seinen sieben Absätzen nicht nur recht unterschiedliche, sondern auch vergleichsweise neuartige Regelungen8, von denen den meisten keine Vorbilder in der EMRK oder in der Rechtsprechung des EuGH zugrunde liegen9. In den Absätzen 4–7 des Art. 52 GRCh sind Auslegungsregeln enthalten, 4 EuGH, Urteil vom 13. 7. 1989, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609; EuGH, Urteil vom 10. 7. 2003, verb. Rs. C-20/00 und C-64/00, Booker Aquacultur und Hydro Seafood, Slg. 2003, S. I–7411. 5 EuGH, Urteil vom 18. 6. 1991, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I–2925; EuGH, Urteil vom 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, Omega (Laserdrome), Slg. 2004, S. I–9609, Rdnr. 28 ff. 6 T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GRCh Rdnr. 6. 7 Siehe zur Auslegung des Art. 53 GRCh unten Kapitel 5. 8 T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 1, macht in Art. 52 GRCh den Herzschlag der allgemeinen Bestimmungen, ja der gesamten Charta, aus; in diesem Sinne auch H.-P. Folz, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. II-112 VerfV Rdnr. 1. 9 Nur Art. 52 Abs. 1 GRCh hat sehr deutliche Vorbilder: Er lehnt sich einerseits stark an die EMRK an, insbesondere an den jeweiligen Absatz 2 der Art. 8–11 EMRK, andererseits an die Rechtsprechung des EuGH seit EuGH, Urteil vom 13. 12. 1979, Rs. 44/79, Hauer, Slg. 1979, S. 3727, Rdnr. 30, 32; EuG, Urteil vom 21. 6. 2006, Rs. T-47/02, Danzer, Slg. 2006, S. II–1779, Rdnr. 44; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138).
A. Die allgemeinen („horizontalen“) Bestimmungen der Charta
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die sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie der 2000 proklamierten Fassung der Charta noch nicht enthalten waren. Abs. 7 wurde sogar erst im Rahmen der Regierungskonferenz, an deren Ende der Verfassungsvertrag geschlossen wurde, die aber auf der Grundlage eines Entwurfs des sog. Europäischen Konvents beriet, entworfen10. Von den Absätzen 4–7 betrifft einzig Abs. 7, der die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“11 in Bezug nimmt, die Auslegung der gesamten Charta12, während die Absätze 4–6 sich jeweils auf bestimmte Gruppen von Bestimmungen der Charta beziehen, beispielsweise Abs. 5 auf solche, die „Grundsätze“ normieren. Von den Auslegungsregeln der Abs. 4–7 heben sich die sehr unterschiedlichen Bestimmungen der Absätze 1–3 ab. Art. 52 Abs. 1 GRCh enthält eine Klausel für die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen, die, gesetzestechnisch, als allgemeine Regelung gefasst ist, also für die Beschränkung aller Grundrechte der Charta zu gelten scheint13. Art. 52 Abs. 2 GRCh betrifft die Ausübung von solchen Rechten der Charta, „die in den Verträgen geregelt sind“, bezieht sich damit bereits von seinen Voraussetzungen her nur auf eine bestimmte Gruppe von Chartarechten14. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh betrifft solche Rechte der Charta, die denen der EMRK „entsprechen“. Diese Rechte der Charta sollen die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben, wie die ihnen entsprechenden Rechte der EMRK. Nimmt man in der Perspektive klassischer Freiheitsrechte in den Blick, welche Rechte der Charta von Art. 52 Abs. 3 GRCh erfasst sein sollen15, lässt sich die überragende Bedeutung dieser Norm für das Gesamtverständnis der Charta erahnen. Denn auch wenn man mit einigen Stimmen in der Literatur dieser Bezugnahme auf die EMRK eine geringere Bedeutung zumisst, ergibt sich jedenfalls vice versa eine höhere Bedeutung der Aussagen der Bestimmungen der Charta selbst, auf die sich Art. 52 Abs. 3 GRCh bezieht. 10 Vgl. Art. 52 GRCh in der am 7. 12. 2000 proklamierten Fassung, ABl.EG C 364 vom 18. 12. 2000, S. 1 (21). Die Hinzufügung der Absätze 4–7 des Art. 52 GRCh sind die textlich wohl bedeutsamsten Änderungen gegenüber der 2000 proklamierten Fassung der Charta; H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (365 ff., 384, 387). 11 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 12 Siehe zu Art. 52 Abs. 7 GRCh unten unter Kapitel 3. A.II.1. 13 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 224; J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 189; C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 130 f. 14 Im Wesentlichen die in Art. 15 Abs. 2 GRCh genannten Personenverkehrsfreiheiten, die Rechte, welche die „Unionsbürgerschaft“, also gem. Art. 9 Satz 2 EUV n. F. und Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates, zur Voraussetzung haben – insbesondere also die in Art. 20 Abs. 2 AEUV genannten Rechte –, und bestimmte, besondere Gleichheitssätze, vgl. Art. 23 GRCh. 15 Vgl. nur die in der Erläuterung zu Art. 52 (abgedruckt auf S. 267 ff.) aufgelisteten Artikel.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
Je höher das Gewicht, das Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Verständnis der Freiheitsrechte der Charta beizumessen ist, desto größer ist auch die Bedeutung einer Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh einzuschätzen. Satz 2 bezieht sich auf Satz 1, stellt ihm „Recht der Union“ gegenüber, das „einen weiter gehenden Schutz gewährt“. In dem Maße, wie Satz 2 einen bedeutsamen Satz 1 der Sache nach einschränkt, erhöht sich somit die Bedeutung des Satzes 2. Somit kann auch das Verständnis dieser Norm bei entsprechender Auslegung und in Abhängigkeit von dem Verständnis des Satzes 1 im Gesamtverständnis der Charta eine gewichtige Bedeutung erhalten. Damit ist festzuhalten, dass die Art. 52 Abs. 3 GRCh beizumessende Bedeutung für andere Bestimmungen der Charta sich auch auf das Verständnis anderer allgemeiner Bestimmungen des Titels VII erstreckt, insbesondere der allgemeinen Rechtfertigungsklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCh. Hier geht es insbesondere darum, ob die allgemeine Regelung für die Rechtfertigung von Grundrechtsbeschränkungen auch tatsächlich im Regelfall anzuwenden ist oder ob sie nur für die Rechtfertigung von Beschränkungen einiger weniger Grundrechte, wie der Berufsfreiheit und des Schutzes personenbezogener Daten (Art. 15 Abs. 1 resp. Art. 8 GRCh), gelten, wie dies nach der wohl überwiegenden Meinung der Fall sein soll16. Ähnliches könnte für das Verhältnis von Art. 52 Abs. 3 zu Abs. 2 gelten. Weil es sich aber bei den von Art. 52 Abs. 2 GRCh erfassten Rechten, „die in den Verträgen geregelt sind“, um solche Rechte handelt, die zunächst spezifisch dem acquis communautaire entstammen – etwa die Personenverkehrsfreiheiten im Binnenmarkt und die Rechte der „Unionsbürgerschaft“ –17, und damit im Grunde zunächst klassische Freiheitsrechte wie die der EMRK nicht erfasst zu sein scheinen, hängt das Verständnis des Art. 52 Abs. 2 GRCh wohl nicht in vergleichbarer Weise von dem des Art. 52 Abs. 3 GRCh ab, wie etwa das des Art. 52 Abs. 1 GRCh18. Hingegen kann, wie bereits erwähnt, das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh nicht ohne 16 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 189; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262 f.; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 8; M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (34); C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138 f.); wohl auch R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 8 f. (insbesondere Fn. 34 f.); H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 438 f. A. A.: T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 (293); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 146 ff., 150 ff.; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 170 f. 17 Siehe Fn. 14. 18 Siehe hierzu Kapitel 4. A.IV.
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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Folgen für die Auslegung des Art. 53 GRCh bleiben, der ebenfalls das Verhältnis von Charta zur EMRK anspricht. Auch im Verhältnis zu den anderen allgemeinen Bestimmungen des Titels VII erscheint damit Art. 52 Abs. 3 GRCh als zentral. Bei entsprechender Auslegung prägt Art. 52 Abs. 3 GRCh diese sowie eine Vielzahl der Grundrechte als ‚besondere Bestimmungen‘ der Charta und damit den abwehrrechtlichen Grundrechtsschutz der Charta überhaupt. Die in der Literatur vertretenen Auslegungsansätze zu Art. 52 Abs. 3 GRCh unterscheiden sich im Wesentlichen in der jeweiligen Sicht auf den Satz 1. Der Regelung des Satzes 2 hingegen wird allgemein eine eher untergeordnete Rolle beigemessen; sie steht aber jedenfalls in einer Abhängigkeit von dem jeweiligen Verständnis des Satzes 1. Auch deshalb ist zunächst auf Satz 1 einzugehen.
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
I. Transferklausel und Identitätskonzept In der wohl herrschenden Sicht ist Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine Transferoder Inkorporationsklausel19. Hiernach transferiert Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bezüglich eines im Sinne dieser Vorschrift „entsprechenden“ Rechts den konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz in Gänze20. Darüber hinaus soll hierdurch Identität zwischen diesem transferiertem Schutz und dem des entsprechenden Chartarechts hergestellt sein21. Der unionsrechtliche Grundrechtsschutz der von dieser Norm erfassten Rechte sei damit kraft dieser Norm materiell konventionsrechtlich22. Damit 19
M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30, 30a; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51; ders. / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (51 ff.); R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 7 f.; J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199); R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155). H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 475; H.-P. Folz, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. II-112 VerfV Rdnr. 7. So weit ersichtlich, ist mit den Begriffen „Transfer“ und „Inkorporation“ im vorliegenden Zusammenhang das Gleiche gemeint. 20 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 163. 21 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30, 30a; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51. 22 Deutlich J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199); auch T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
gelten in dieser Sicht im Recht der Charta nicht nur die entsprechenden konventionsrechtlichen Schutzbereiche, sondern insbesondere auch einschlägige konventionsrechtliche Rechtfertigungsvoraussetzungen und sog. Negativdefinitionen23, letztlich alle Rechtssätze, nach denen sich hinsichtlich des entsprechenden Rechts der Grundrechtsschutz im Recht der EMRK bemessen würde24. Hinsichtlich dieser Rechte wäre der Grundrechtsschutz im Recht der Charta vollständig deckungsgleich mit dem der Konvention und würde die grundrechtliche Prüfung eines konkreten Lebenssachverhalts nach der Charta genau so ausfallen, wie im Recht der EMRK25. „Entsprechende“ Artikel der Charta, also vor allem die einschlägigen Artikel der Titel I, II und VI sowie die Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh, würden den Grundrechtsschutz nicht bestimmen. Materiell wären die Schutzbereiche, wie sie sich transferiert aus der konventionsrechtlichen Bestimmung ergeben, anzuwenden, also beispielsweise die Absätze 1 der Art. 8–11 EMRK. Die Einschränkung dieser Rechte wäre an den Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK zu messen26, also im genannten Beispiel an den Voraussetzungen der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK. Weil der Grundrechtsschutz in Gänze dem der EMRK entspräche, dürften auch nicht die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh zusätzlich angewendet werden27. Insofern wird vertreten, dass dieser im Wege der Spezialität von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh verdrängt sei. Abweichend wird aber auch eine kumulative Anwendung der Absätze 1–3 23 T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (51 f.); M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 313; R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 24 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51. 25 J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199). 26 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839); R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 9, Fn. 34; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18. 27 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 439, 473; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 8; so noch T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (52 f.); aber nunmehr T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262.
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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mit der Begründung vertreten28, es käme ansonsten zu systematischen Unstimmigkeiten29 und die kumulative Anwendung diene letztlich dem Schutz des Bürgers30. Schließlich ist nach diesem Ansatz auch ein Recht, das in der EMRK grundsätzlich31 uneinschränkbar, „absolut“32 ist, wie etwa das Folterverbot gem. Art. 3 EMRK, auch als transferiertes im Recht der Charta uneinschränkbar. Von zentraler Bedeutung im Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist nach diesem Ansatz ein verbreitet vertretenes „Identitätskonzept“33, das sich vor allem auf die Schutzbereiche der entsprechenden Grundrechte zu beziehen scheint34. 28 K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 ff. (293 f.) (arg. ex Art. 53 GRCh); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 146 ff., 150 ff.; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 170 f.; die kumulative Anwendung von Abs. 1 und Abs. 2 bejaht N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 42. 29 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30, insbesondere Fn. 129. 30 C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 150 ff.; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30, insbesondere Fn. 129; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 170 f. 31 Vgl. zur Annahme impliziter Eingriffsermächtigungen durch den EGMR („inherent limitations“ / „limitations implicites“) E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 91 ff.; zur korrespondierenden Bedeutung einer Art Wesensgehaltsgarantie in der Rechtsprechung des EGMR siehe E. Klein, Wesensgehalt von Menschenrechten, in: FS Delbrück, S. 385 (386 ff.). 32 EGMR, Urteil vom 4. 7. 2006, Ramirez Sanchez gegen Frankreich, Nr. 59450/00, Rdnr. 115 ff.; EGMR, Urteil vom 29. 4. 2002, Pretty gegen Vereinigtes Königreich, NJW 2002, 2851 (2852); EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989, Soering, EuGRZ 1989, 314, Rdnr. 88. 33 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a; vgl. auch Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 8. 9. 2005, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769, Rdnr. 60. 34 Jedenfalls zwischen der allgemeinen Rechtfertigungsklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCh und dem jeweiligen Absatz 2 der Art. 8–11 EMRK wird – soweit ersichtlich – keine Identität angenommen. Konsequent aber wäre es, eine ‚Teilidentität‘ im Sinne der „Überschneidungsbereich“These (hierzu sogleich) anzunehmen. Denn Art. 52 Abs. 1 GRCh hat jedenfalls auch, etwa hinsichtlich der chartarechtlichen Berufsfreiheit, einen eigenständigen, und somit nicht-„identischen“, Anwendungsbereich. Dass zwischen Art. 52 Abs. 1 GRCh und z. B. dem jeweiligen Absatz 2 der Art. 8–11 EMRK keine Identität angenommen wird, kommt auch darin zum Ausdruck, dass ersterer durch die letzteren im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Wege der Spezialität als verdrängt angesehen wird (siehe Fn. 27). Nach a. A. (siehe Fn. 28) sollen die chartarechtlichen und konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen sogar kumulativ anzuwenden sein, was erst recht Identität zwischen diesen ausschließt. Unklar bleibt, ob zumindest die besonderen Schranken z. B. des Rechts auf Eigentum – Art. 17 Abs. 1 Satz 2 und 3 GRCh im Verhältnis zu Art. 1 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 ZP [Nr. 1] – identisch im Sinne des Identitätskonzepts sein sollen.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
Hiernach besteht nicht etwa der jeweils transferierte konventionsrechtliche Schutzbereich neben einem solchen, den die Charta mit gleichem Regelungsgegenstand bestimmt35, sondern der Schutzbereich im Recht der Charta ist identisch mit dem aus der EMRK transferierten36. Nach dieser Vorstellung gibt es also beispielsweise nicht den Schutzbereich der Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art. 7 GRCh neben dem des Art. 8 Abs. 1 EMRK als nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferiertem Recht. Vielmehr sei der chartarechtliche Schutzbereich der transferierte konventionsrechtliche Schutzbereich, es besteht also Identität. Dies entspreche dem Konventswillen37 und komme im englischen und französischen Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh mit den Wörtern „the same“ bzw. „les mêmes“ stärker zum Ausdruck, als im deutschen Wort „gleich“38. Eine weitere Besonderheit dieses Ansatzes liegt in der teilweise vertretenen Ansicht, dass Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zirkulär normiert sei39. Hiernach könne, für welche Rechte in der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ein Transfer erfolge und Identität bestehe, sich nicht aus dem tatbestandlichen Kriterium, dass das Chartarecht einem Konventionsrecht entspreche, ergeben. Denn sonst würden Divergenzen zwischen dem Wortlaut des Rechts des einschlägigen Chartaartikels und dem Wortlaut des korrespondierenden Artikels der EMRK gerade dazu führen, dass insoweit ein Transfer nicht erfolgen könnte und Identität nicht hergestellt würde40. Beispielsweise lautet Art. 6 GRCh: „Jeder Mensch hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit“. Der entsprechende Art. 5 EMRK enthält über diesen Wortlaut als Abs. 1 Satz 1 in mehreren Absätzen hinaus umfangreiche Garantien im Falle der Freiheitsentziehung, so etwa, dass „jeder festgenommenen Person […] unverzüglich in einer ihr verständlichen Sprache mitgeteilt“ werden muss, „welches die Gründe für ihre Festnahme sind und welche Beschuldigungen gegen sie erhoben werden“, Art. 5 Abs. 2 EMRK. In der genannten Argumentation würde der Umstand, dass dieser Wortlaut des Art. 5 Abs. 2 EMRK keinen Eingang in die Charta gefunden hat, nicht dazu führen, dass dieser Absatz nicht transferiert wird. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh soll aber die Funktion zukommen, gerade in diesen Fällen der 35
In diesem Sinne R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152. M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 37 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 38 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31; T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839). 39 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 40 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 36
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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Abweichung den Transfer und die Identität herbeizuführen. Diese zirkuläre Positivierung, das Abstellen des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf Tatbestandsseite darauf, dass sich die Rechte „entsprechen“, dass als Rechtsfolge aber die gleiche Bedeutung und Tragweite gelten soll, wird als „unüberwindbare Schwierigkeit“41 auf Ebene der Positivierung charakterisiert. Deshalb müsse für die Frage des Entsprechens nicht in Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf allgemeine Kriterien, sondern konkret auf die Auflistungen abgestellt werden, die den sich selbst als „Interpretationshilfe“ verstehenden „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“42 und dort als Bestandteil der Erläuterung zu Art. 52 enthalten sind43. Diese Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 stellen konkret für bestimmte Chartarechte fest, welchen Rechten der EMRK sie jeweils entsprechen44. Es wird vertreten, dass diese Auflistungen, wenn auch nicht als rechtsverbindlich45, so doch als im Grunde quasi-verbindlich zugrunde zu legen seien46. Denn sie wiesen eine besondere Qualität auf, die sie in die Nähe einer Verbindlichkeit brächte und wohl nur noch in seltenen, wohlbegründeten Ausnahmefällen eine abweichende Beurteilung erlaubte47. Der abschließende Konsens des Grundrechtekonvents habe sich hierauf erstreckt48. Auf dieser Grundlage seien grundsätzlich die in den Auflistungen als entsprechend bezeichneten Rechte auch als entsprechend im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh anzusehen49. Denn anders sei die Widersprüchlichkeit einer zirkulären Normierung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht auflösbar50. Weil nach diesem Ansatz gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh das transferierte Konventionsrecht und das Chartarecht identisch sind51, wird der Schutzbereich letztlich durch die EMRK bestimmt. Hieraus ist letztlich zu folgern, dass aufgrund des „Identitätskonzepts“ die Artikel der Charta, die unter Art. 52 Abs. 3 Satz 1 41
M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 42 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 43 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 44 Die Auflistungen sind unten abgedruckt auf S. 268 f. 45 So noch, in der Vorauflage, M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 32, 31. 46 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 47 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 48 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 49 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30, 31b. 50 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30, 31b. 51 So auch R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156).
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
GRCh fallen, nicht als Bestimmungen von Schutzbereichen, sondern allenfalls als nicht-normative Schutzbereichsbeschreibungen begriffen werden können. Ungeachtet dessen wird aber auch nach dem Identitätskonzept durch solche Artikel der Charta ein Schutzbereich bestimmt, die nicht von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst sind. Dies gilt zunächst für solche Rechte, die keine „Entsprechungen“ in der EMRK haben, also etwa für die Berufsfreiheit gem. Art. 15 Abs. 1 GRCh. Diese fällt nicht unter Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Folglich wird der Schutzbereich der Berufsfreiheit durch Art. 15 Abs. 1 GRCh selbst bestimmt. Die Rechtfertigung einer Einschränkung bemisst sich hier, auch in Abwesenheit von besonderen Rechtfertigungsregelungen in der Charta, nach Art. 52 Abs. 1 GRCh. Allerdings sind die Vertreter dieses Ansatzes auch der Ansicht, dass sich die Transfer- und Identitätsklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bei bestimmten Rechten nur partiell anwenden würde. Beispielsweise sind die Art. 47 Abs. 252 und 3 GRCh so positiviert, dass sie als Verfahrensgarantien für sämtliche Gerichtsverfahren, nicht nur für solche, die Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK) betreffen, gelten würden53. Diese Garantien entsprechen gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh grundsätzlich denen des Art. 6 Abs. 1 EMRK. Im Sinne einer partiellen Anwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh soll aber der Transfer nur erfolgen und Identität nur insoweit bestehen, als es um solche Gerichtsverfahren geht, auf die sich auch Art. 6 Abs. 1 EMRK erstreckt, also solche, die zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen zum Gegenstand haben, nicht aber beispielsweise verwaltungsgerichtliche Rechtsverhältnisse. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sei insofern – und damit partiell – nicht anzuwenden, die Artikel entsprächen sich insoweit nicht im Sinne des Tatbestandes des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh54. Dies komme in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh mit dem Wort „soweit“ zum Ausdruck55. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh gelte nur für den 52 Wobei es überhaupt fraglich erscheint, ob Art. 47 Abs. 2 GRCh als eigenständige Verfahrensgarantie, losgelöst von Art. 47 Abs. 1 GRCh begriffen werden kann. Siehe hierzu C. Last, Garantie wirksamen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Europäischen Union, 2008, S. 54 ff. 53 Vgl. M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (35). 54 Deutlich S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166; S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (117). Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136); vgl. auch T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 23, der allerdings davon ausgeht, dass in Art. 52 Abs. 3 GRCh lediglich ein Hinweis auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle zu sehen ist. 55 P. Szczekalla, § 7. Grundrechtliche Schutzbereiche und Schrankensystematik, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, Rdnr. 82; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30b.
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„Überschneidungsbereich“56 der Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh einerseits und des Art. 6 EMRK andererseits. Die Anwendbarkeit des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sei auch insofern – zur Ermittlung der „Überschneidungsbereiche“ – anhand der „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“, und zwar der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52, als Ausdruck des Konventswillens, zu bestimmen57. Diese zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 misst tatsächlich bestimmten, hiernach an sich gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „entsprechenden“ Chartarechten eine „umfassendere Tragweite“ bei; beispielsweise hätten die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh eine umfassendere Tragweite, weil „die Beschränkung auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen […] nicht zum Tragen“ komme. Der Argumentation, dass diese Aussagen der zweiten Auflistung maßgeblich sein sollen, liegt ein Verständnis dieser Aussagen der „Erläuterungen“ zugrunde, dass die chartarechtlichen Bestimmungen, denen die Auflistung eine „umfassendere Tragweite“ bescheinigt, zur Anwendung gelangen, weil sie eine Mehrgewährleistung bedeuten. Bezüglich dieser Bestimmungen der Charta soll die Transfer- und Identitätsklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht greifen, weil die Rechte sich im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht entsprächen. Im Übrigen aber liege diese Voraussetzung vor, sei also das Chartarecht mit dem transferierten Konventionsrecht identisch. Insgesamt sei also, für Überschneidungsbereiche, „Teilidentität“58 möglich. Von den Fällen abgesehen, die die zweite Auflistung der Erläuterung zu Artikels 52 der „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ benennen, wird nach diesem Ansatz Konventionsrecht ungeachtet der Frage transferiert, ob nach der Konvention ein günstigerer Schutz besteht, und wird insofern Identität mit dem entsprechenden Chartarecht hergestellt. Wenn trotzdem ein Artikel der Charta, etwa weil er seinem Wortlaut nach einen weiteren Schutzbereich beinhaltet oder die einschlägigen Rechtfertigungsvoraussetzungen strenger sind, günstiger wäre, so wäre dies entsprechend der Zielsetzung der Transfer- und Identitätsklausel unbeachtlich. Bestimmte Unterschiede der Positivierungen der Charta kommen somit nach diesem Ansatz nicht zum Tragen, weil insoweit zur Herstellung von Kohärenz die Transfer- und Identitätsklausel greift. Dies würde z. B. für das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 7 GRCh) und den im Wortlaut unterschiedlichen Schutzbereich der „Kommunikation“ statt „Korrespondenz“ gelten. Nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh wird hier der Schutzbereich der „Korrespondenz“ gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK transferiert und besteht Identität mit diesem. Mit anderen Worten wird der Schutzbereich inhaltlich durch die EMRK und nicht 56 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30b, 33. 57 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31, 33. 58 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
durch Art. 7 GRCh bestimmt. Sollte etwa „Kommunikation“ als Schutzbereich Lebenssachverhalte erfassen können, die von dem der „Korrespondenz“ nicht erfasst sind59 – zu denken wäre an Kommunikation über das Internet jenseits von E-Mail, die nicht notwendig einen Kommunikationsaustausch im Sinne einer gezielten Kommunikation mit einem konkreten Kommunikationspartner beinhaltet60, aber dennoch dem Bereich des Persönlichen zuzurechnen sein können61 oder aber kommerziell im Binnenmarkt eingesetzt werden –, so wären mögliche Unterschiede nach dieser Ansicht bedeutungslos. Entscheidend wäre vielmehr, worauf Art. 8 Abs. 1 EMRK mit dem Schutzbereich „Korrespondenz“ abstellt62. Wie gesehen, ergibt sich nach den Vertretern des Ansatzes hingegen etwas anderes für solche Divergenzen, die von der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 der Erläuterungen genannt sind, die einen deutlicheren Unterschied bedeuten, also etwa die Erstreckung der verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh auch auf solche Gerichtsverfahren, die nicht einen zivil- oder strafrechtlichen Gegenstand haben. Die Abgrenzungsfrage, ob eine Divergenz zwischen Charta- und Konventionswortlaut bedeutungslos sein soll, was in der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu (Teil-)Identität führen soll, oder ob eine außerhalb des „Überschneidungsbereichs“ liegende, gewollte Abweichung von der EMRK vorliege, die nicht unter Abs. 3 Satz 1 fallen solle, wird unter Rückgriff auf die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ und diesen enthaltenen Auflistungen beantwortet, indem letztere als quasi-verbindlich erachtet werden. Es ist, unabhängig von der behaupteten zirkulären Positivierung, zumindest auf den ersten Blick auch nicht ersichtlich, wie eine solche Abgrenzung zwischen der Sache nach geringfügigen und nicht geringfügigen Unterschieden sich aus Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ergeben können soll63. Nach diesem Ansatz kommt es letztlich nicht nur auf eine Auslegung von „entsprechen“ nicht an. Ebenso wenig ist hiernach die Auslegung der Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ entscheidend64. Daher erscheint in dem Blickwinkel dieses Ansatzes auch die geltend gemachte zirkuläre Normierung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf Ebene der Norm letztlich als ein überwindbares Problem. 59
A. A. J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 36: Der Schutzbereich der Kommunikation bedeute keine Erweiterung gegenüber dem der Korrespondenz. 60 Vgl. insofern zu Art. 8 Abs. 1 EMRK D. Kugelmann, EuGRZ 2003, 16 (22). 61 Vgl. einerseits C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 22 Rdnr. 24; andererseits D. Kugelmann, EuGRZ 2003, 16 (22). 62 Hierzu D. Kugelmann, EuGRZ 2003, 16; C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 22 Rdnr. 24. 63 Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 122, bei Fn. 733. 64 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a.
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Die meisten Vertreter dieses Ansatzes rücken freilich weder die Auflistungen der Erläuterungen vergleichbar in den Mittelpunkt der Argumentation noch den Konventswillen. Insbesondere die Position, dass Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zirkulär positiviert und deshalb ein Rückgriff auf die Auflistungen der Erläuterungen im Grunde unausweichlich sei, wird von den meisten nicht geteilt. Vertreten wird, dass die Frage, ob die Rechte sich „entsprechen“, danach zu beurteilen sei, ob sie den gleichen Lebenssachverhalt betreffen65. Dennoch wird die Anwendung der in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 genannten Bestimmungen der Charta deshalb bejaht, weil Abs. 3 Satz 1 insofern nicht anwendbar sei, kein „Entsprechen“ vorliege. Bei gleichzeitiger Abkehr vom topos des Konventswillens und dem Standpunkt, dass die der Auflistungen quasi-verbindlich sind, bleibt hier in der Begründung allerdings weit gehend offen, warum Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sich partiell nicht anwenden und nur für einen „Überschneidungsbereich“ gelten soll. Die maßgeblich auf den Konventswillen und eine Quasi-Verbindlichkeit der Auflistungen der Erläuterungen abstellende Argumentation bleibt in dem herrschenden Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh somit wirkmächtig.
II. Schrankenklausel Nach einem weiteren Ansatz66 soll Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die Anwendung lediglich der konventionsrechtlichen Schrankenregelungen bewirken67, also beispielsweise des jeweiligen Absatzes 2 der Art. 8–11 EMRK. Es handelt sich nach diesem Ansatz bei Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh also um eine spezifische Regelung der Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen durch Verweis, also eine besondere Art Schrankenklausel. 65
C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1135). Entscheidend ist dann auch, dass geringfügige Wortlautdivergenzen zu einer Bejahung des „Entsprechens“ führen (1136). 66 Vereinzelt ist hingegen die gegenläufige Auffassung geblieben, dass nur die Schutzbereiche der EMRK übertragen werden, N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44. 67 In diesem Sinne wohl D. Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53 (58 f.); M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29, 34 f.); S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (120); B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 120 und 108, vgl. beispielsweise Rdnr. 126, 129, 132; vgl. auch T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710 f.); ders., JZ 2001, 833 (838 f.), der zwar auch die Schutzbereiche von „Bedeutung und Tragweite“ erfasst, „der Sache nach“ aber die Rechtfertigungsvoraussetzungen als übertragen ansieht. Eindeutig in diesem Sinne J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117, der aber, gestützt auf ein weites, prinzipientheoretisch begründetes Schutzbereichsverständnis (ebenda, S. 79 ff.) neben den Rechtfertigungsvoraussetzungen die sogenannten Negativdefinitionen als von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst ansieht; siehe unten bei Fn. 73.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
Beispielsweise würde hiernach im Recht der Charta Art. 7 GRCh selbst den Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens bestimmen. Der korrespondierende Schutzbereich der EMRK – hier also Art. 8 Abs. 1 EMRK – würde nicht in das Unionsrecht transferiert, und es gälte insofern auch kein Identitätskonzept. Allerdings soll sich die Rechtfertigung einer Einschränkung gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh an der konventionsrechtlichen Schrankenregelung messen, soweit sich das Chartarecht – d. h. dessen Schutzbereich – und das Konventionsrecht decken, also im Sinne der Norm sich entsprechen68. Soweit der Schutzbereich eines Chartarechts inhaltlich ein konventionsrechtlicher ist, würden auch die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen gelten, die letztlich Gegenstand einer Inkorporation69 sind. Diese verdrängen dann, wohl als spezielleres Gesetz, die Rechtfertigungsvoraussetzungen der Charta, insbesondere also auch Art. 52 Abs. 1 GRCh70. So wäre im Beispiel eine Einschränkung des Art. 7 GRCh an den Anforderungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK zu messen, soweit der Schutzbereich des Art. 7 GRCh inhaltlich dem des Art. 8 Abs. 1 EMRK entspricht. Liegt kein Entsprechen in diesem Sinne vor – soweit die Schutzbereiche des Art. 7 GRCh und des Art. 8 Abs. 1 EMRK sich nicht decken –, wären die allgemeinen und besonderen Rechtfertigungsvoraussetzungen der Charta anzuwenden, also insbesondere Art. 52 Abs. 1 GRCh71. Im Ergebnis gelten also auch nach diesem Ansatz im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – aus Zusammenspiel von inhaltlich dem Konventionsrecht gleichem, chartarechtlichen Schutzbereich und diesbezüglich transferierten konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen – für die Bewertung einer Grundrechtsverletzung Rechtssätze, die dem Inhalt nach konventionsrechtlich sind. Auch dass eine Einschränkung eines der EMRK entsprechenden Chartarechts, beispielsweise des Folterverbots gem. Art. 4 GRCh, überhaupt nicht gerechtfertigt werden können soll – also die Frage der Einschränkbarkeit eines Grundrechts, die im Recht der EMRK unter dem Schlagwort des „absoluten Rechts“ thematisiert wird –, ergibt sich nach diesem Ansatz aus dem Verweis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, der auch insofern Abs. 1 in der Anwendung verdrängen würde72. Darüber hinaus wird vereinzelt vertreten, dass auch die sog. Negativdefinitionen der EMRK von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst seien, diese würden nicht
68
J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 184. 70 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 159. 71 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 180. 72 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (34). 69
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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anders als die konventionsrechtlichen Schrankenregelungen angewandt73. So wäre etwa das Verbot der Zwangs- oder Pflichtarbeit gem. Art. 15 Abs. 2 GRCh – nicht gem. Art. 4 Abs. 2 EMRK, der nicht transferiert ist – nicht anzuwenden, wenn keine Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne des Art. 4 Abs. 3 EMRK vorliegt. Eine vergleichbare Differenzierung wie unter Zugrundelegung der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 der „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“, nach beachtlichen und geringfügigen, unbeachtlichen Abweichungen der Charta erfolgt nach diesem Ansatz nicht74. Hiernach gelten, auch wenn ein Chartarecht nicht in der zweiten Auflistung genannt ist, einem Konventionsrecht nur geringfügig nicht entspricht75 – wie etwa der Schutzbereich der Kommunikation gem. Art. 7 GRCh im Vergleich zu dem der Korrespondenz gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK –, nicht die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, sondern die der Charta, also etwa Art. 52 Abs. 1 GRCh für die Einschränkungen solcher Kommunikation, die nicht von Art. 8 Abs. 1 EMRK erfasst ist. Zwar lässt sich nach dem Nutzen dieser Vielschichtigkeit der Rechtfertigungsvoraussetzungen fragen76, zumal Art. 52 Abs. 1 Satz 2 GRCh als unionsspezifische Verallgemeinerung der besonderen Schrankenregelungen der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK erscheint77. Dies lässt sich nicht nur als rechtspolitische, vertragspolitische78, sondern auch als auf die Auslegung gerichtete, teleologische Frage stellen. Allerdings erscheint die Anwendung von konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen auf Chartarechte, soweit diese deckungsgleich mit einem entsprechenden Konventionsrecht sind, in gewisser Hinsicht zumindest systematisch stimmig79. Denn aus der EMRK übertragene Rechtfertigungsvoraussetzungen werden nach dieser Ansicht nur insoweit auf Schutzbereiche angewandt, als diese zwar in der Charta normiert, aber inhaltlich ebenfalls Konventionsrecht darstellen, nicht aber auf genuine Chartarechte.
73
J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117, 115. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 180. 75 Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 76 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 183, 195, 197. Vgl. auch T. Schmitz, EuR 2005, 691 (711). 77 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138); S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (114). 78 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 183, 195, 197. 79 A. A. T. Schmitz, EuR 2005, 691 (711). 74
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
III. Auslegungsregel In einem weiteren Ansatz wird Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel verstanden80. Danach transferiert die Norm keinerlei Bestimmungen der EMRK in das Unionsrecht. Die Bestimmungen der Charta, auf die sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bezieht, sollen aber im Sinne der entsprechenden konventionsrechtlichen Bestimmungen auszulegen sein. Damit normieren – insofern vergleichbar mit dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Schrankenregelung – die Artikel der Charta, auf die sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bezieht, selbst Schutzbereiche81. Da aber in diesem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh überhaupt keine Gehalte der EMRK, also keine konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, in das Recht der Charta transferiert werden, deren Anwendung nicht angeordnet wird, sind in jedem Fall auch die Rechtfertigungsvoraussetzungen der Charta, insbesondere also Art. 52 Abs. 1 GRCh, auf Einschränkungen chartarechtlicher Schutzbereiche anzuwenden. Allerdings bewirkt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel, dass alle chartarechtlichen Bestimmungen, sowohl die Schutzbereiche der Titel I, II und VI als auch die allgemeine Rechtfertigungsklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCh, im Sinne ihrer konventionsrechtlichen „Entsprechungen“, unter Berücksichtigung derer Wertungen auszulegen sind82. Beispielsweise wäre als Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens Art. 7 GRCh selbst anzuwenden. In Auslegung dessen wären aber gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die Wertungen des Art. 8 Abs. 1 EMRK zu berücksichtigen. Damit dürfte allenfalls unter äußersten Schwierigkeiten eine Auslegung des Art. 7 GRCh zu begründen sein, die etwa nicht-private Korrespondenz ausschließt, da Art. 8 Abs. 1 EMRK in der Rechtsprechung des EGMR diese gerade erfasst83. Eine Einschränkung des Art. 7 GRCh würde sich am Maßstab des Art. 52 Abs. 1 GRCh bemessen. Diese Norm, die in weiten Teilen eine Abstrahierung der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK darstellt84, wäre aber gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 8 Abs. 2 EMRK und dessen Wertungen auszulegen85. So könnten sich hieraus Implikationen für das Verständnis der „von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“ durch 80 In diesem Sinne wohl Y. Dorf, JZ 2005, 126 (128 f.); P. Lemmens, MJ 2001, 49 (52 f.); W. Weiß, ZEuS 2005, 323 (325 f., 329 ff., 332 f.); W. Kahl, AöR 131 (2006), 579 (587); deutlich H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 33, allerdings von dem Ansatz ausgehend, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh enthalte den „Hinweis“ auf die EMRK als besonders bedeutsame „Rechtserkenntnisquelle“, siehe hierzu sogleich unter Kapitel 2. B.IV. 81 Vgl. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 12. 82 Vgl. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 34. 83 EGMR, Urteil vom 25. 2. 1992, Niemietz, EuGRZ 1993, 65 Rdnr. 32. 84 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138). 85 Vgl. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 12 Rdnr. 48.
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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die konkreten sog. legitimate aims etwa des Art. 8 Abs. 2 EMRK ergeben, – also z. B., dass Einschränkungen zugunsten des wirtschaftlichen Wohls eines Landes oder des Schutzes der Gesundheit und Moral zulässig sind86. Auch für die Frage der Einschränkbarkeit, des Bestehens „absoluter“ Grundrechte im Recht der Charta, können sich in dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel Hinweise ergeben87. Letztlich wäre die Frage aber in Auslegung des jeweiligen Grundrechts der Charta zu beantworten, also etwa des dem Titel I, Würde des Menschen, enthaltenen Folterverbots gem. Art. 4 GRCh. Aus dem Recht der EMRK ergäben sich auch insofern keine für sich zwingenden, als solche anwendbaren Vorgaben. Gerade diese Konsequenz eines Verständnisses des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, demzufolge die Uneinschränkbarkeit von bestimmten Rechten im Recht der Charta sich nicht aus der EMRK verbindlich ergäbe, wird sich denn auch Kritik ausgesetzt sehen. Insbesondere ist allgemein das Argument verbreitet, dass, wäre die Anwendbarkeit des Art. 52 Abs. 1 GRCh nicht durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ausgeschlossen, dann aus Art. 52 Abs. 1 GRCh als allgemeine Schrankenregelung die Einschränkbarkeit eines jeden Grundrechts, also auch solcher Rechte der Charta zu folgern wäre88. Dies würde selbst für solche Rechte der Charta gelten, deren korrespondierenden Rechte in der EMRK uneinschränkbar, „absolut“ sind. Gegen dieses Argument ist einzuwenden, dass aus dem Umstand, dass Art. 52 Abs. 1 GRCh für „jede Einschränkung“ von Chartarechten von seinen Voraussetzungen her gilt, keineswegs zwingend folgt, dass auch jedes Grundrecht eingeschränkt werden kann. Dies ist vielmehr jeweils im Wege der Auslegung des in Frage stehenden Grundrechts zu beantworten. In diesem Zusammenhang ist mit dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als bloße Auslegungsregel lediglich verbunden, dass die Frage der Einschränkbarkeit eines Grundrechts nicht allein aus dem Konventionsrecht heraus für die Charta beantwortet wird. Freilich kann die Charta, wie bereits die herrschende Auslegung des Art. 1 GRCh, der keine Entsprechung in der EMRK hat, zeigt, aus eigenen Erwägungen zu einer Bejahung der Uneinschränkbarkeit eines Grundrechts, und damit auch zu gleichen Ergebnissen wie nach der EMRK in dieser Frage, gelangen89.
86
Vgl. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 12 Rdnr. 48. Vgl. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 10 Rdnr. 13; hingegen zur Gewaltanwendung bei Festnahmen, die eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten könnten: § 10 Rdnr. 8 (keine Schutzbereichseröffnung des Art. 4 GRCh). 88 Vgl. M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18; T. Schmitz, EuR 2004, 691 (711 f.); vgl. auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 160 ff. 89 Zumal diese im Recht der EMRK durch die spezifisch konventionsrechtliche Lehre der „inherent limitations“ relativiert werden, E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 91 ff. 87
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
IV. Hinweis auf die EMRK als besonders bedeutende Rechtserkenntnisquelle Schließlich wird in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ein Hinweis auf eine Rechtserkenntnisquelle gesehen90. Insofern bestünde eine Parallele zur Präambel der Charta. Auch diese weise auf Rechtserkenntnisquellen hin91, neben der EMRK insbesondere auf die Europäische Sozialcharta92, einem völkerrechtlichen Abkommen, das im Rahmen des Europarats vorbereitet worden ist, sowie auf die im Rahmen der EWG proklamierte, rechtlich nicht verbindliche Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer93. Dass aber der Hinweis auf die Rechtserkenntnisquelle EMRK in Art. 52 Abs. 3 GRCh und nicht bloß in der Präambel enthalten sei, trage dem Rechnung, dass die EMRK vergleichsweise – insbesondere im Verhältnis zu den Sozialchartas – eine Rechtserkenntnisquelle von besonderer Bedeutung sei94. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh enthalte also den Hinweis auf die EMRK als besonders bedeutsame Rechtserkenntnisquelle der Charta95. Hieraus folge, dass die Vorgaben der EMRK bei der Auslegung der EU-Grundrechte prominent zu berücksichtigen seien. Eine strikte Bindung bestehe, im Gegensatz zu solchen Ansätzen, die konventionsrechtliche Gehalte in das Recht der Charta transferiert sehen, nicht. Art. 52 Abs. 3 GRCh verpflichte „lediglich zu einer, der Konvention entsprechenden Auslegung der EU-Grundrechte […], nicht zu einer Anwendung von Vorschriften der Konvention“96. Damit aber wird im Ergebnis Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auch in diesem Ansatz als Auslegungsregel verstanden97. Folglich stellt auch nach diesem Verständnis Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh keine lex specialis im Verhältnis zu Art. 52 Abs. 1 GRCh dar98.
90 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 19 ff.; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 19, 37. Vgl. auch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F.: „Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind“. 91 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 3, wobei auch der Verweis auf andere Regelungswerke diese zu Rechtserkenntisquellen erhebe. 92 Vom 18. 10. 1961; BGBl. 1964 II S. 1262; UNTS Bd. 529, S. 89; abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 115. 93 Vom 9. 12. 1989; KOM (89) 248 endg.; abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 190. 94 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 24; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 21. 95 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 21, 24 ff. 96 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 33, bei Fn. 76. 97 T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 19 f.; H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 21. Deutlich auch bei § 6 Rdnr. 33: „Solche Formulierungen [Schrankentransfer / Transferklausel] übersehen, dass Art. 52 Abs. 3 lediglich zu einer, der Konvention entsprechenden Auslegung verpflichtet, nicht zu einer Anwendung von Vorschriften der Konvention.“ 98 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 33. Auch Absatz 2 sei kumulativ zu Absatz 1 anzuwenden, allerdings nur ergänzend, soweit eine Regelung an anderer Stelle des Primärrechts nicht entgegenstehe, weil diese Vorrang hätte, H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 27.
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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Des weiteren entspricht es diesem Ansatz, dass die Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK nicht als solche, transferiert angewandt, sondern lediglich über Art. 52 Abs. 3 GRCh bedeutsam seien99. Sie bildeten keine unmittelbar und eigenständig anwendbaren Grenzen der EU-Grundrechte, hätten aber dennoch Einfluss, weil sie in die Grenzen des Art. 52 Abs. 1 GRCh zu integrieren seien100. Als besonders zu berücksichtigende Rechtserkenntnisquelle würden die Vorgaben der EMRK besonders die Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh sowie die Frage, ob ein Grundrecht überhaupt einschränkbar sei101, beeinflussen, was die systematische Stellung des Art. 52 Abs. 3 GRCh verdeutliche. Denn die Schutzbereiche seien bereits dem Wortlaut der EMRK ähnlich102. Nichtsdestoweniger sollen diesem Ansatz nach auch die Schutzbereiche im Sinne der entsprechenden Schutzbereiche der EMRK auszulegen sein. Über das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel hinaus wird nach diesem Ansatz die Norm aber auch so verstanden, dass die Chartarechte nicht hinter den entsprechenden Rechten der EMRK zurück bleiben dürfen. Es sei ein Mindestgehalt gewährleistet103. Eine Art Mindestschutzklausel wird aber hierin wohl dennoch nicht gesehen, weil letztlich offen bleibt, auf welchem Weg der geforderte Mindestschutz gewährleistet sein soll und ob dies nicht auch im Wege der Auslegung zu erreichen sei, also im Rahmen des Verständnisses des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel. In welchem Maße auch nach dieser Ansicht Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – als Auslegungsregel oder als Mindestgehaltsgewährleistung – dem Recht der Charta inhaltliche Selbstständigkeit zugesteht, zeigt sich etwa an unionsbezogenen Justierungen der Auslegung von im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „entsprechenden“ Rechten. Beispielsweise soll die unverhältnismäßige Festnahme, die eine Verletzung des Art. 3 EMRK bedeuten kann, keine Verletzung des Art. 4 GRCh sein, weil hiergegen bereits Art. 2 GRCh gerichtet sei104. Fraglich ist, ob das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Hinweis auf eine besonders bedeutsame Rechtserkenntnisquelle weitere Folgen insbesondere für das Verständnis der Charta impliziert. Indem dieser Ansatz in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh einen Hinweis auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle von besonderer Bedeutung erblickt, wird bewusst Rückgriff auf die überkommene Terminologie im Verständnis des Art. 6 Abs. 2 EU genommen. Gemäß Abs. 6 Abs. 2 EU wird dem EuGH in Verbindung mit Art. 46 lit. d EU die Kompetenz zur richter99
H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 25. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 31 ff. (34). 101 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 35. Demgegenüber ergebe sich das Einschränkungsverbot für Art. 1 GRCh aus dieser Norm selbst – „unantastbar“, § 8 Rdnr. 11. 102 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 31. 103 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 21; für das Folterverbot: Art. 4 GRCh im Verhältnis zu Art. 3 EMRK, § 10 Rdnr. 1. 104 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 10 Rdnr. 8. 100
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
lichen Rechtschöpfung von Unionsgrundrechten eingeräumt. Für diesen Vorgang der Rechtserkenntnis gibt die Norm zugleich Quellen, die sog. Rechtserkenntnisquellen, vor, nämlich die gemeinsamen Überlieferungen der Verfassungen der Mitgliedstaaten sowie die EMRK. Die Unionsgrundrechte fließen nach diesem Verständnis nicht unmittelbar aus den gesetzlich benannten Quellen, sondern werden durch richterliche Rechtsschöpfung gesetzt, zu der Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 46 lit. d EU ermächtigt. Diese ist aber gem. Art. 6 Abs. 2 EU gehalten, bei diesem Vorgang der Rechtserkenntnis die hier benannten Grundrechtsordnungen gewissermaßen als Inspirationsquelle der eigenen Rechtschöpfung zugrunde zu legen105. Wird demgegenüber die EMRK als Rechtserkenntnisquelle der Charta bezeichnet106, vermag dies vielleicht darauf hinweisen, dass die Charta in dem Bemühen, den Vorgaben des sog. „Mandats von Köln“107 – durch das das Gremium, das die Charta entworfen hat, der sog. Grundrechtekonvent eingerichtet und beauftragt wurde – gerecht zu werden, tatsächlich in weiten Teilen Bestimmungen der EMRK mitunter sogar wortlautgleich aufgreift. Als Inspirationsquelle in diesem Zusammenhang hat die EMRK beim Entwurf der Charta auch eine bedeutendere Rolle eingenommen, als andere Grundrechtskataloge. Insofern würde sich auch die Rede von einer besonders bedeutsamen Rechtserkenntnisquelle rechtfertigen. In diesem Sinne wird vertreten, dass der Grundrechtekonvent gem. dem „Mandat von Köln“ gehalten war, in gleicher Weise wie der EuGH gem. Art. 6 Abs. 2 EU in Verbindung mit Art. 46 lit. d EU die Grundrechte der Charta zu schaffen108. Auch die Stimmen, die ungeachtet eines Inkrafttretens des Verfassungsvertrags resp. nunmehr des Vertrags von Lissabon der Charta zumindest im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EU in Verbindung mit Art. 46 lit. d EU eine Bedeutung beimessen wollen, scheinen sich auf diese Annahme zu stützen109.
105 J. Kühling, Grundrechte, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (587 ff.); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 6 EUV Rdnr. 32 ff. 106 So auch im Rahmen des Verständnisses des Art. 53 GRCh T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14, 19. 107 Der Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Anhang IV (abgedruckt in: N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 59 f.) der Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3. und 4. 6. 1999 (abgedruckt ebenda). Aber selbst in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17, und zwar in der Erläuterung zu Art. 51, wird dieser Beschluss als „Mandat des Europäischen Rates (Köln)“ bezeichnet. 108 H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (366). 109 Insbesondere seit Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 8. 2. 2001, Rs. C 173/99, BECTU, Slg. 2001, S. I–4881, Rdnr. 26 ff., und Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 10. 7. 2001, Rs. C-353/99 P, Hautala, Slg. 2001, S. I–9565, Rdnr. 51 ff. (80). So auch General-
B. Spektrum der Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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Mit „Rechtserkenntnisquelle“ wird im Zusammenhang des Art. 6 Abs. 2 EU auf den Begriff gebracht, dass die richterliche Rechtschöpfung sich inhaltlich nicht ohne rechtliche Bindungen vollzieht. Vielmehr enthält Art. 6 Abs. 2 EU diesbezüglich unionsrechtliche Vorgaben110. Der Begriff „Rechtserkenntnisquelle“ bringt letztlich den Grad der Bindung an diese inhaltlichen Vorgaben zum Ausdruck. Demgegenüber vollzieht sich die Setzung der Charta als Unionsrecht durch Vertragsänderung. Rechtsetzer sind die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. Auch wenn in diesem Rahmen die Bedeutung der sog. Konvente zu klären ist, bleibt zunächst festzuhalten, dass nach herkömmlichem Verständnis jedenfalls die Vertragsstaaten bei der Einfügung eines Grundrechtskatalogs in das Primärrecht unionsrechtlich grundsätzlich111 keinen Bindungen unterliegen. Selbst wenn man beim Entwerfen der Charta auf eine rechtliche Bindung, nämlich des Konvents durch das „Mandat von Köln“, abstellt, berührt dies jedenfalls nach herkömmlichem Verständnis nicht die Einfügung der Charta in das Primärrecht, also den Akt der Rechtsetzung durch Vertragsschluss der Vertragsstaaten. Hiernach hätte mit anderen Worten, in der Perspektive der Auslegung des Primärrechts, durch die Konvente ebenso ein nicht von der EMRK inspirierter Grundrechtskatalog geschaffen werden können. Hätten die Vertragsstaaten diesen dennoch – trotz Verstoßes gegen das Mandat von Köln – als Grundrechtskatalog in die Verträge aufgenommen, wäre die Rolle der Konvente im Rahmen des Rechtsetzungsprozesses rechtlich keine andere gewesen, als dies tatsächlich der Fall ist112. Damit erscheint aber die Rede von der EMRK als Rechtserkenntnisquelle im Sinne des Art. 6 Abs. 2 EU in jedem Fall als irreführend. Auch bei – unterstellter – Einhaltung des „Mandats von Köln“, sind Zweifel angebracht, ob der Vorgang der Rechtsetzung der Charta derart dem der herkömmlichen richterlichen Rechtschöpfung der Unionsgrundrechte gem. Art. 6 Abs. 2, 46 lit. d EU, 220 Abs. 1 EG113 ähnelt, dass eine Übertragung des Begriffs der „Rechtserkenntnisquelle“ für die EMRK gerechtfertigt erscheint. anwältin Kokott, Schlussanträge vom 15. 12. 2005, Rs. C-10/05, Cynthia Mattern und Hajrudin Cikotic gegen Ministre du Travail et de l’Emploi, Slg. 2006, S. I–3145, Rdnr. 34 Fn. 28. Siehe aber auch (Bezeichnung der Charta selbst als Rechtserkenntnisquelle): Generalanwältin Kokott, ebenda, Rdnr. 34 Fn. 28; dies., Schlussanträge vom 8. 9. 2005, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769, Rdnr. 108; dies., Schlussanträge vom 14. 10. 2004, verb. Rs. C-387/02, C-391/02 und C-403/02, Berlusconi, Slg. 2005, S. I–3565, Rdnr. 109 Fn. 83. 110 Generalanwalt Mazák, Schlussanträge vom 15. 2. 2007, Rs. C-411/05, Félix Palacios de la Villa gegen Cortefiel Servicios SA, Slg. 2007, S. I–8531, Rdnr. 84 ff. 111 U. Di Fabio, CMLR 39 (2002), 1289 (1291). 112 Vgl. T. Oppermann, DVBl. 2004, 1264 (1268 f.). 113 Vgl. aber T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14 ff., 19 ff., der in Auslegung des Art. 53 GRCh in vergleichbarer Weise argumentiert. Es ergebe sich für den EuGH ein „Mandat zu wertender Rechtsvergleichung“, freilich nicht als „carte blanche“, sondern verbunden mit einem sich ebenfalls aus Art. 53 GRCh ergebenden Optimierungsgebot (Rdnr. 19 und ff.).
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
Entsprechendes gilt für eine Beschreibung der Charta als „Rechtsquelle“ mit Blick auf ihre Auslegung. Im Rahmen des Art. 6 Abs. 2 EU ist auf diesen Begriff derjenige der „Rechtserkenntnisquelle“ bezogen. Nach überkommenem Verständnis unterscheidet sich der Geltungsgrund der Charta als Bestandteil des Primärrechts nicht von anderen Normen des geschriebenen Primärrechts. Aus der Charta fließt nicht weiteres Recht, insbesondere beinhaltet sie keine Ermächtigungsgrundlagen, Art. 51 Abs. 2 GRCh. Die Diskussion um Art. 53 GRCh, dieser sei keine „fountain of law“ oder „fountain of new rights“114, zeigt, dass eine Verwendung der Begriffe, die der Erklärung von Art. 6 Abs. 2 EU dienen, im chartarechtlichen Zusammenhang zumindest die Gefahr von Missverständnissen birgt.
C. Auslegungen des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh in Korrelation zu den Lesarten des Satzes 1 C. Auslegungen des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
Dass Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh sich mit der Formulierung „diese Bestimmung steht dem nicht entgegen“ auf Satz 1 bezieht, impliziert eine gewisse Abhängigkeit des Verständnisses dieser Norm von dem jeweils Satz 1 zugrunde gelegten. Nichtsdestotrotz wird im Grunde unabhängig von dem jeweils zu Satz 1 vertretenen Ansatz Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zumeist eine in erster Linie bloß deklaratorische115, im Grunde sogar bloß politische Bedeutung zugewiesen. Insbesondere im Rahmen der herrschenden Sicht des Satzes 1 als Transfer- und Identitätsklausel116 wird aber auch zum Teil, allerdings nach einem nur rudimentär entfalteten Ansatz, Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh als Ausnahme zu Satz 1 begriffen117.
I. Bezogen auf Satz 1 als Transfer- und Identitätsklausel In der herrschenden Sicht des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transfer- und Identitätsklausel handelt es sich bei Satz 2 zunächst um ein politisches Signal da-
114 Vgl. J. B. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, Jean Monnet Working Paper 4/01, New York 2001, S. 50. Siehe aber auch ebenda, S. 31 (Fn. 115 und 116), zu Bezügen zum U. S.-amerikanischen Verfassungsrecht. 115 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165. 116 Vgl. aber auch M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (35). 117 So R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53); C. Calliess, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17.
C. Auslegungen des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
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hingehend, dass die Autonomie des Unionsrechts unangetastet bleibe118. Mit dem „Recht der Union“ soll jedenfalls nicht die Charta gemeint sein119. Andernfalls würde die Geltung von Transfer und Identität gem. Satz 1, der materiell ja gerade chartarechtliche Bestimmungen der Anwendung entzieht, in Frage gestellt120. Dass Art. 52 Abs. 1 GRCh in weiten Teilen nicht zur Anwendung gelange – dies stellt sich auch als Folge der restriktiven Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh dar –, sei hinnehmbar, weil die Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK ebenfalls einen Gesetzesvorbehalt und den Schutz der Rechte Dritte enthielten und in der Rechtsprechung des EGMR sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Wesensgehaltsgarantie richterrechtlich anerkannt seien121.
1. Absinken des EMRK-Schutzes pro futuro Eine konstitutive Bedeutung wird Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh nach diesem Ansatz allenfalls in dem, tatsächlich unwahrscheinlichen, Szenario eines Absinkens des Grundrechtsschutzes der EMRK zugestanden122. Die Bestimmung ermögliche dann anstelle des transferierten konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes einen unionsrechtlichen Grundrechtsschutz durch den unionalen Gesetzgeber oder den EuGH123. Weil aber Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vor allem Abwehrrechte erfasst, erscheint die erstere Möglichkeit, also die der Sekundärrechtsetzung, weniger als taugliches Äquivalent für das transferierte Konventionsrecht als die letztere. Die Notwendigkeit, dass unionaler Grundrechtsschutz im Falle eines Absinkens des EMRK-Schutzes durch eine Bestimmung der Charta ermöglicht sein müsse, hängt von dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transfer- und Identitätsklausel ab. Denn in dieser Sicht wird durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh chartarechtlich bewirkt, dass ein solches Absinken sich unmittelbar im Unionsrecht 118 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39. 119 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165; T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); unklar M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39. Vgl. auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 126. 120 Allerdings könnte nach M. Borowsky Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh noch zusätzlich die Funktion zukommen, die Minderung des Schutzes solcher Chartarechte, die nicht in den Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh fallen, zu verhindern, a. a. O., Rdnr. 41. 121 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 29. Siehe aber zu möglichen Unterschieden in den charta- bzw. konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen unter Kapitel 1. B. 122 C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 152; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39 f. 123 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39 f.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
niederschlagen würde, da das Recht der EMRK in der aktuellen Bedeutung transferiert wird, der Verweis insofern als dynamisch bezeichnet werden kann124. Dies gilt umso mehr, als der Transfer sich auf das Konventionsrecht in der Auslegung des EGMR bezieht125. Dieser aber begreift die EMRK als „living instrument“126, was seinerseits einen entsprechenden evolutiven Charakter und damit wiederum eine Dynamik des transferierten Konventionsrechts bedeutet. Die Ermöglichung eines unionalen Grundrechtsschutzes erscheint nach diesem Ansatz erforderlich, weil im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh der chartarechtliche Grundrechtsschutz identisch mit dem transferiert konventionsrechtlichen ist. Wegen der Annahme von Identität können hiernach auch die gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entsprechenden Artikel der Charta, insbesondere die Schutzbereiche beschreibenden, nicht den Grundrechtsschutz bereitstellen, der im Falle eines Versagens der EMRK an die Stelle des transferiert konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes tritt. Im unwahrscheinlichen Falle eines Absinkens des EMRK-Schutzes ist dieser Ansatz erst auf eine Schaffung eines unionseigenen Grundrechtsschutzes angewiesen. Daher ist es in dieser Sichtweise konsequent, dass Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh eine richterliche Rechtsschöpfung von Unionsgrundrechten durch den EuGH ermöglichen soll127. Der subsidiäre Grundrechtsschutz im Falle des Absinkens des EMRK-Schutzes pro futuro im Wege richterlicher Rechtschöpfung des EuGH würde in den Unionsverträgen nach dem Vertrag von Lissabon durch Art. 6 Abs. 3 EUV n. F. ergänzt, der in der Konsequenz dieses Ansatzes einen potentiellen Anwendungsbereich erhalten könnte.
2. Abweichender Unteransatz: Satz 2 als Ausnahme zu Satz 1 Teilweise wird aber Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh auch ungeachtet des außergewöhnlichen Szenarios eines Absinkens des EMRK-Schutzes eine mehr als bloß deklaratorische Bedeutung beigemessen. Von einigen Vertretern, die Satz 1 als Transfer- und Identitätsklausel verstehen, wird „das Recht der Union“, also Chartarecht128, das gem. Satz 2 „weiter gehenden Schutz gewährt“, als von dem Trans124 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 37. 125 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 40, 37. 126 Seit EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer, EuGRZ 1979, 162, Rdnr. 31. 127 Ein Grundrechtsschutz durch Sekundärrechtsetzung dürfte hingegen für die hier in Frage stehenden entsprechenden klassischen Freiheitsrechte der EMRK kein wirksames Äquivalent sein. Vgl. aber M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 40. 128 R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 9, Fn. 35.
C. Auslegungen des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
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fer des Satzes 1 ausgenommen gesehen. Satz 2 nehme diese Bereiche von dem Transfer aus129, würde sie gewissermaßen „herausschneiden“130, und sei insofern konstitutiv. In dieser Sicht käme Satz 2 die Funktion zu, die nach wohl herrschender Meinung auf Tatbestandsseite des Satzes 1 dem Merkmal „entsprechen“ zugewiesen wird und was dort im Zusammenhang mit dem Schlagwort des „Überschneidungsbereichs“ umschrieben wird. Hingegen würde in der Vorstellung eines „Herausschneidens“ Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh, wenn die Charta beispielsweise einen Schutzbereich anders normiert, bewirken, dass insofern nicht Identität mit dem aus der EMRK transferierten Schutzbereich gem. Satz 1 herbeigeführt würde, ungeachtet eines Entsprechens im Sinne des Satzes 1. Voraussetzung wäre, dass der Schutzbereich der Charta gem. Satz 2 weiter gehend schützt. Erfüllt also ein Schutzbereich der Charta die Voraussetzungen sowohl des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als auch des Satzes 2, wäre dieser kraft Satz 2 von der Transfer- und Identitätsanordnung des Satzes 1 ausgenommen. Beispielsweise würde – über die in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 der „Erläuterungen zu Charta“ genannten Fälle hinaus – gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh grundsätzlich das konventionsrechtliche Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gem. Art. 8 EMRK in das Recht der Charta transferiert und bestünde Identität zu dem diesen entsprechenden Art. 7 GRCh. Soweit aber letzterer mit dem Schutzbereich der Kommunikation „weiter gehenden Schutz gewährt“ als der der Korrespondenz gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK, soll gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh der von der Charta bestimmte Schutzbereich insofern von der Transfer- und Identitätsanordnung ausgenommen sein131. Wegen der Ausnahme wären dann auch nicht die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen anzuwenden132. Vergleichbares würde bereits für die in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte enthaltenen Konstellationen gelten, also etwa für die Verfahrensgarantien des Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh, die nach chartarechtlicher Bestimmung nicht auf Gerichtsverfahren, welche zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen zum 129
Anders C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1140, 1144): Satz 2 sei eine Ausnahme zu Satz 1 und eine zweite Günstigkeitsregel, wobei aber letztlich durch Art. 53 GRCh dem zugrunde liegenden EMRK-Recht uneingeschränkte Wahrung eingeräumt werde. 130 Vgl. Begriffsverwendung (im Zusammenhang mit dem Verhältnis von Absatz 2 und Absatz 3) bei S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (146). 131 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 61. 132 A. A. M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324: Satz 2 beziehe sich nur auf die Schutzbereiche.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
Gegenstand haben, beschränkt sind. Soweit diese im Vergleich zu Art. 6 Abs. 1 EMRK beispielsweise auch für verwaltungsgerichtliche Verfahren gelten, wäre Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh kraft Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh anzuwenden133. Indem nach diesem Unteransatz Satz 2 die Funktion zugewiesen wird, im Gegenüber zum Transfer gem. Satz 1 Bestimmungen der Charta zur Anwendung zu bringen, wird insgesamt nicht darauf abgestellt, ob die Divergenzen chartarechtlicher Bestimmungen in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 der Erläuterungen zu Charta enthalten sind. Auch können hiernach Bestimmungen der Charta, die geringfügig von der EMRK abweichen, wie die des Schutzbereichs „Kommunikation“ statt „Korrespondenz“, zur Anwendung gelangen134. Voraussetzung wäre, dass sie „weiter gehend“ schützen.
II. Bezogen auf Satz 1 als Schrankenklausel Nach dem Ansatz, der durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die konventionsrechtlichen Schranken im Recht der Charta angewandt sieht, kommt Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh ebenfalls, so weit ersichtlich, keine Bedeutung zu135. Vereinzelt wird vertreten, dass die Öffnungsklausel des Satzes 2 lediglich das Verhältnis zu Abs. 2 koordiniere136. Diese Ansicht beruft sich darauf 137, dass erst am Ende der Arbeiten des Grundrechtekonvents die ursprüngliche Formulierung „diese Charta“ durch „das Recht der Union“ ersetzt wurde138.
III. Bezogen auf Satz 1 als Auslegungsregel So weit ersichtlich, ist auch in dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als bloße Auslegungsregel die Bestimmung des Satzes 2 bedeutungslos139. Es findet sich aber die – insofern konsequente – Position, Satz 2 verdeutliche, dass die 133 Vgl. M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (35). 134 A. A. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 135 Vgl. B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 107 ff.; ferner T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839). 136 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 126. 137 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 126. 138 Vgl. Dokument CHARTE 4470/1 / 00 REV 1 ADD 1, CONVENT 47, vom 25. 9. 2000, S. 4, mit Vorgängerdokument CHARTE 4470/1 / 00 REV 1, CONVENT 47, vom 21. 9. 2000, S. 22. Die Dokumente sind abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über das Öffentliche Register der Ratsdokumente des Rates der Europäischen Union im Internet unter unter „Suche im Register“, „Detaillierte Suche“, Sachgebiet: „CONVENT“. 139 Vgl. Y. Dorf, JZ 2005, 126.
D. Bedeutung der chartarechtlichen Bestimmungen
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autonom unionsrechtlichen Chartarechte zwar gem. Satz 1 im Sinne eines entsprechenden Konventionsrechts auszulegen seien, dass sie aber dennoch einer Auslegung zugänglich seien, die zu einem weiter gehenden Schutz führe140.
IV. Resümee Letztlich wird nach allen Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh der Bestimmung des Satzes 2 in aller Regel keine praktische Bedeutung beigemessen. Vereinzelt wird unter der Annahme, Satz 1 sei Transfer- und Identitätsklausel, Satz 2 aus Ausnahmeregelung hierzu verstanden. Hiernach sollen die von Satz 2 erfassten unions- und insbesondere chartarechtlichen Gehalte, die weiter gehenden Schutz gewähren, von der Transfer- und Identitätsklausel ausgenommen sein. Zwischen einerseits der beinah allgemein konsentierten Behandlung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh als bloß deklaratorische und politische Klausel und andererseits der Aufmerksamkeit, die die allgemeinen Bestimmungen in der Wissenschaft und insbesondere auch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfahren, ist damit eine gewisse Diskrepanz zu festzustellen.
D. Bedeutung der chartarechtlichen Bestimmungen im jeweiligen Licht der unterschiedlichen Ansätze D. Bedeutung der chartarechtlichen Bestimmungen
Die verschiedenen Lesarten des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh begründen jeweils eine bestimmte Rolle derjenigen Artikel der Charta, auf die sich diese Norm bezieht, und damit unterschiedliche Gesamtvertändnisse des freiheitsrechtlichen Schutzregimes der Charta.
I. Transferklausel und Identitätskonzept Der Ansatz, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transfer- und Identitätsklausel zu verstehen, zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Artikel der Charta, die von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als entsprechende Rechte der Charta erfasst sind, nicht als Schutzbereiche mit selbstständigem Gehalt begriffen werden können. Nicht der jeweilige Artikel der Charta, sondern das entsprechende Konventionsrecht, mit
140 In diesem Sinne der Ansatz von H. D. Jarass (siehe oben unter Kapitel 2. B.IV.): Jedes auch gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entsprechende Grundrecht der Charta könne in allen Grundrechtselementen weiter gehenden Schutz im Sinne des Abs. 3 Satz 2 gewährleisten, gerade weil in Abs. 3 Satz 1 im Ergebnis eine Auslegungsregel zu sehen sei (H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 19). Auch das Verständnis des Abs. 3 Satz 1 als Gewährleistung des konventionsrechtlichen Mindestgehalts wird u. a. auf Satz 2 gestützt, (ebenda, § 6 Rdnr. 34).
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
dem es identisch sein soll, bestimmt hiernach den Schutzbereich141. Die „entsprechenden“ Artikel der Charta erscheinen so allenfalls als Schutzbereichsbeschreibungen. Freilich unterscheiden sich diese Artikel der Charta, also etwa der des Eigentumsrechts, Art. 17 GRCh, äußerlich nicht von anderen, wie dem der Berufsfreiheit, Art. 15 Abs. 1 GRCh. Die hiernach in diesem Ansatz grundlegende Unterscheidung der Artikel der Charta danach, ob es sich um einen veritablen Schutzbereich oder nur um eine Schutzbereichsbeschreibung handelt, kann nur aufgrund der Kenntnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh und der Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 erfolgen. Darüber hinaus würde diese grundlegende Unterscheidung zwischen solchen Artikeln der Charta, die einen Schutzbereich lediglich beschreiben, und solchen, die ihn bestimmen, auch für einen Artikel der Charta partiell greifen können. Nach der „Überschneidungsbereich“-These kann ein Unionsgrundrecht partiell mit einem „entsprechenden“ Konventionsrecht gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh identisch sein142. Insoweit ist letztlich aus der EMRK transferiertes Recht anwendbar. Im Übrigen, außerhalb des „Überschneidungsbereichs“, bleibt das entsprechende Unionsgrundrecht – so weit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht anwendbar ist – materiell eigenständig. Insofern stellt der „entsprechende“ Artikel der Charta die Bestimmung eines Schutzbereichs dar, dessen Einschränkung die Anforderungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh erfüllen muss143. Entsprechendes gilt im Ergebnis auch nach der Unteransicht, die bestimmte Bereiche, insbesondere auch die von der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 benannten, durch Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh von der Transfer- und Identitätsanordnung des Satzes 1 ausgenommen, „herausgeschnitten“ sieht144. Insgesamt aber erscheint nach diesem herrschenden Ansatz die Bedeutung weiter Bereiche der Charta als gering. Dies gilt zuvörderst für die Schutzbereiche, also große Teile der Titel I, II und VI der Charta. Da die meisten klassischen Freiheitsrechte der Charta eine konventionsrechtliche Entsprechung haben145, bzw. weil die 141 T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (51 f.); M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 313; R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 142 Deutlich S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30b. 143 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 33; N. Bernsdorff, ebenda, Art. 9 GRCh Rdnr. 17, Art. 12 Rdnr. 19, Art. 14 Rdnr. 16, 21. 144 T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53). 145 Vgl. die Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 (abgedruckt auf S. 268 f.) sowie M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29, 31).
D. Bedeutung der chartarechtlichen Bestimmungen
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Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 der „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ dies so bestimmen146, normierten die einschlägigen Artikel der Charta keine eigenständigen Schutzbereiche. Weil der Transfer des konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes in Gänze erfolgt und sich daher auch auf die Rechtfertigungsvoraussetzungen des entsprechenden Rechts der EMRK, insbesondere also des jeweiligen Absatzes 2 der Art. 8–11 EMRK, erstreckt, gelangen nach diesem Ansatz aber auch die chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, insbesondere des Art. 52 Abs. 1 GRCh, für die meisten Freiheitsrechte nicht zur Anwendung147, es sei denn, die kumulative Anwendung wird trotz allem bejaht148. Damit reduziert sich der Anwendungsbereich der allgemeinen Schrankenklausel des Art. 52 Abs. 1 GRCh auf einige wenige Abwehrrechte149, insbesondere auf die Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1 GRCh) und auch des Schutzes personenbezogener Daten (Art. 8 Abs. 1 GRCh), wobei dieser in Art. 8 Abs. 2 GRCh besondere Rechtfertigungsvoraussetzungen bereithält, die aber wohl kumulativ zu Art. 52 Abs. 1 GRCh gelten150. Über diese einzelnen Rechte hinaus soll nach dem Ansatz einer Transfer- und Identitätsklausel Art. 52 Abs. 1 GRCh anwendbar sein, soweit es um eine Einschränkung eines ‚Nicht-Überschneidungsbereichs‘151 oder des ‚herausgeschnittenen Bereichs‘152 von Grundrechten, die unter Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh fallen, geht. 146 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31 ff. 147 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 439, 473; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 8; so ebenfalls noch T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (52 f.); nunmehr aber T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262. 148 K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 ff. (293 f.) (arg. ex Art. 53 GRCh); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 146 ff., 150 ff.; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 170 f. 149 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262 f. 150 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262. 151 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 33; N. Bernsdorff, ebenda, Art. 9 Rdnr. 17, Art. 12 Rdnr. 19, Art. 14 Rdnr. 16, 21. 152 T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53).
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
In dem Verständnis als Transfer- und Identitätsklausel wird daher zu Recht hinsichtlich der gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entsprechenden Rechte von einem „materiellen Beitritt der Union zur EMRK“153 gesprochen. Weil die Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Unionsrecht ist, handelt es sich um eine einseitige, autonome Bindung an diese Rechte der EMRK. Für die entsprechenden Artikel der Charta ergibt sich aber als Rechtsnormen die Funktionslosigkeit. Diesen Artikeln wäre allenfalls die, dann aber nicht-normative, Funktion beizumessen, den unionalen Grundrechtsschutz, der sich für diese Rechte tatsächlich aus transferiertem Konventionsrecht ergibt, sichtbar zu machen154.
II. Schrankenklausel Sieht man Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als spezielle Schrankenregelung für die Rechte der Charta, die diese Norm erfasst, bleibt es in jedem Fall bei einer Anwendung dieser Artikel der Charta als Schutzbereiche155. Im Gegensatz zu dem Ansatz einer Transfer- und Identitätsklausel läuft somit, insbesondere in abwehrrechtlicher Perspektive, ein Großteil der Artikel der Titel I, II und VI der Charta nicht leer. Hingegen gelangen die Schrankenregelungen der Charta, insbesondere also Art. 52 Abs. 1 GRCh, in einem weiten Ausmaß nicht zur Anwendung156, nämlich soweit die chartarechtlich bestimmten Schutzbereiche inhaltlich einem Konventionsrecht entsprechen157. Denn insoweit sind die chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen von den konventionsrechtlichen im Wege der Spezialität verdrängt. In der Gesamtschau aller hiernach im Recht der Charta anwendbaren Schrankenregelungen ergibt sich ein System der gestuften Anwendbarkeit, in das auch Art. 52 Abs. 2 GRCh einbezogen sein soll158. Hiernach verdrängt Abs. 3 den Abs. 2 und dieser den Abs. 1. Die allgemeine Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRCh erscheint somit als Regel. Die gesetzestechnische Ausnahme insbesondere des Absatzes 3 liefe aber in der Rechtsanwendung auf einen praktischen Regelfall hinaus. Somit verbleibt auch in dieser Sicht der allgemeinen Schrankenregelung des Art. 52 Abs. 1 GRCh ein geringer Anwendungsbereich159. Dieser würde auch hiernach im Wesentlichen für die Rechtfertigung von Einschränkungen der Berufsfreiheit gem. Art. 15 Abs. 1 GRCh und des Schutzes personen153 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 34. 154 Zur Formel des Sichtbar-Machens: insbesondere die Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3. und 4. 6. 1999, das „Mandat von Köln“ (siehe zu beidem Fn. 107) sowie Abs. 4 der Charta-Präambel. 155 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117 (114 f.). 156 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 159. 157 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f. 158 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 179 ff. 159 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 189.
D. Bedeutung der chartarechtlichen Bestimmungen
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bezogener Daten gem. Art. 8 Abs. 1 GRCh anwendbar sein. Allerdings ist Art. 52 Abs. 1 GRCh in diesem Ansatz für bestimmte Rechte partiell anwendbar, nämlich soweit ein Chartarecht nicht einem Konventionsrecht gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entspricht, also soweit sein Schutzbereich nicht deckungsgleich ist160. Diese Fälle bleiben nach diesem Ansatz nicht auf die in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 der „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ genannten beschränkt, so dass das Anwendungsfeld des Art. 52 Abs. 1 GRCh hiernach ein weiteres ist, als nach dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transfer- und Identitätsklausel. Das Bild ändert sich für einige Rechte, wenn, wie dies teilweise vertreten wird, auch die sog. Negativdefinitionen der EMRK im Rahmen dieses Ansatzes zur Anwendung gelangen161. Dieser Ansatz zeichnet sich somit dadurch aus, dass im Vergleich zu dem wohl herrschenden gerade nicht weite Teile der Bestimmungen des ersten und zweiten Titels der Charta in ihren materiellen Gehalten leer laufen. Denn es wird nicht die Identität von entsprechenden aus der EMRK transferierten Gehalten mit solchen der Charta behauptet. Anzuwenden wäre in jedem Fall ein Schutzbereich, dessen Bestimmung durch die Charta selbst erfolgt.
III. Auslegungsregel Kein Transfer und keine Anwendung von Konventionsrecht erfolgen hingegen, wenn Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel verstanden wird162. Gegenstand der Anwendung und Auslegung bleiben hiernach in jedem Fall die Bestimmungen der Charta. Der Vorgang der Auslegung bleibt darauf gerichtet, den Bedeutungsgehalt dieser Bestimmungen, und nicht solcher, die als aus der EMRK transferiert gelten, zu ermitteln163. Allerdings sind hierbei die sich aus entsprechendem Recht der EMRK ergebenden Vorgaben in dem Auslegungsprozess zu berücksichtigen. Auch im Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh gelangen insbesondere sowohl die Freiheitsrechte der Titel I, II und VI, als auch die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh uneingeschränkt als Bestimmungen der Charta zur Anwendung. Gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sind aber in der Auslegung der Bestimmungen der Charta das Konventionsrecht und seine Wertungen zu berücksichtigen, ohne dass sie selbst als Unionsrecht anzuwenden sind. Indem aber konventionsrechtliche Gehalte im Auslegungsvorgang zu berücksichtigen sind, in die Auslegung der Bestimmungen der Charta einfließen, 160
J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 116 f. 162 Y. Dorf, JZ 2005, 126 (128 f.); H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 19, 20, § 6 Rdnr. 11. 163 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 34. 161
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
determinieren sie den Inhalt der Charta mittelbar164, und damit im Grunde ‚weicher‘, als wenn sie als transferierte Rechtssätze unmittelbar im Recht der Charta anzuwenden wären. In jedem Fall aber handelt es sich um auch inhaltlich selbstständige Bestimmungen der Charta, die angewandt werden. Dem entspricht die Feststellung, dass „die EU-Grundrechte erheblich von den entsprechenden Rechten der Konvention abweichen“ können165. Ist etwa der Schutzbereich in der Charta weiter gefasst, erscheint es schwer vorstellbar, dass eine Auslegung, die gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh das entsprechende Konventionsrecht einfließen lässt, zu einer Reduzierung dieses Schutzbereichs gelangt. Das Konventionsrecht enthielte insofern bereits keine Aussagen, die in der Auslegung des Chartarechts berücksichtigt werden könnten, so dass die Auslegungsregel insofern ins Leere griffe und der Rechtsanwender die Bedeutung des Unionsrechts auf der Grundlage herkömmlicher, unionsrechtlicher Auslegungsmethoden ermitteln müsste166. Aber auch soweit das Konventionsrecht in der unionsrechtlichen Auslegung zu berücksichtigende Aussagen enthält, wäre wohl ein Einfluss spezifisch unionaler teleologischer und systematischer Gesichtspunkte auf den Bedeutungsgehalt des Chartarechts gegeben167. Auch insofern würde also nach diesem Ansatz das Chartarecht eine größere Eigenständigkeit behaupten, als etwa nach dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transfer- und Identitätsklausel. Da sich der Einfluss des Konventionsrechts neben anderen Auslegungstopoi zu behaupten hat, hängt es nach diesem Ansatz, mehr noch als nach den anderen, von der konkreten Auslegung und damit vom Interpreten ab, ob das, als solches, eigenständig bestimmte Chartarecht auch tatsächlich inhaltliche Selbstständigkeit behauptet. IV. Resümee Somit ergibt sich nach den vertretenen Ansätzen ein sehr unterschiedliches Bild, ob und inwieweit ein Recht, das unter Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh fällt, durch die Charta selbst bestimmt ist, auch vor dem Hintergrund, dass die Bestimmungen der Charta, die hiervon erfasst sind, selbst im Wortlaut den entsprechenden Rechten der EMRK weit gehend nachgebildet sind. Diese Aussagen gelten für Artikel, die Schutzbereiche positivieren168, ebenso wie für Rechtfertigungsvoraussetzungen169. 164
H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 21. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 19. 166 Y. Dorf, JZ 2005, 126. 167 Z. B. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 10 Rdnr. 8. 168 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29). 169 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138); S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (114). 165
E. Beobachtungen
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Sofern die Bestimmungen der Charta aber, im Wortlaut oder bedingt durch andere spezifisch unionale, systematische oder teleologische, Gesichtspunkte in der Auslegung, Unterschiede aufweisen, stellt sich die Frage, ob diese Bestimmungen der Charta einen engen oder weiten Anwendungsbereich haben, so insbesondere hinsichtlich der chartarechtlichen allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen, oder gar, ob sie als Rechtsnormen überhaupt eine materielle Regelung enthalten, so insbesondere bei den chartarechtlichen Schutzbereichen170. Aber selbst wenn beides in einem positiven Sinne beantwortet wird – so, wenn man Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel versteht –, verbleibt es bei der Frage, mit welcher Intensität Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die entsprechenden Chartarechte inhaltlich konventionsrechtlich determiniert. In jedem Fall hängt das Maß dessen, wie sehr insbesondere der abwehrrechtliche Grundrechtsschutz der Charta inhaltlich von der EMRK geprägt ist, von dem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ab.
E. Beobachtungen E. Beobachtungen
In der Auseinandersetzung mit den zu Art. 52 Abs. 3 GRCh vertretenen Positionen werden bestimmte wiederkehrende Argumentationsweisen offenbar, die die Ergebnisse der Auslegung nicht unerheblich beeinflussen. Darüber hinaus finden sich diese Argumentationstopoi auch in der wissenschaftlichen Erörterung anderer chartarechtlicher Fragen wieder, die sie, und damit die Sicht auf die Charta insgesamt, prägen. So wird etwa häufig ein „Konventswille“ rekurriert171. Auch wird oftmals das Argument eingesetzt, eine bestimmte Auslegung sei abzulehnen, weil sie nicht dem „Mandat von Köln“ entspreche172. Auch die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ werden nicht selten dem Verständnis der Charta zugrunde gelegt, wobei auch hier weit gehend offen gelassen wird, nach welchen rechtlichen Maßgaben die Berücksichtigung erfolgt. Auf die Begründungszusammenhänge der Charta-
170
Zudem würden nach dem Ansatz einer Transfer- und Identitätsklausel auch bestimmte Sätze der Charta, die als besondere Rechtfertigungsvoraussetzungen erscheinen – z. B. des Eigentumsrechts, Art. 17 Abs. 1 Satz 2 und 3 GRCh – keine Regelungen enthalten, weil insofern die konventionsrechtlichen Vorschriften – hier Art. 1 Abs. 2 Satz 2 und Abs. 3 ZP [Nr. 1] – gälten. 171 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 126; auch zu Art. 53 GRCh ebenda, S. 173 ff. (176 ff.); A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (394). 172 Beispielsweise, Art. 53 GRCh sei nicht im Sinne einer „fountain of law“ zu verstehen, so M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 8, oder würde nicht den Vorrang des Unionsrechts für den Bereich der Grundrechte durchbrechen, ebenda, Rdnr. 10; M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 411; oder Art. 52 Abs. 3 GRCh sei nicht im Sinne eines materiellen Beitritts zur EMRK zu verstehen, da die Beitrittsfrage nicht Teil des Mandats des Grundrechtekonvents gewesen sei, so T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 37.
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Kap. 2: Vertretene Lesarten des Art. 52 Abs. 3 GRCh und Folgerungen
Erläuterungen wird teils offen173, teils stillschweigend174 Rückgriff genommen, mitunter werden ihre Aussagen als quasi-verbindlich erachtet175. Zum Teil geht die Bedeutung der genannten Argumentationstopoi so weit, dass sie die Argumentation entscheidend tragen. Die genannten Argumentationsweisen können als für die Auslegung des Primärrechts neuartig gelten, nicht zuletzt, weil sowohl die sog. Konvente als auch das Phänomen von Erläuterungen, die von den Präsidien eben dieser Konvente stammen, zuvor unbekannte Phänomene waren. Zumindest wollen damit die genannten Argumentationstopoi auch solchen Umständen Rechnung tragen, die die Charta von anderen Vertragsänderungen unterscheiden. Hierbei ist sicherlich auch eine rechtliche Einordnung der Rolle, die den Konventen zukommt, von Bedeutung. Letztlich geht es um die Frage, ob und inwiefern die andersartigen Umstände, auf die die genannten Argumentationsweisen Rückgriff nehmen, die rechtlichen Maßgaben der Auslegung des Primärrechts zumindest für den Bereich der Charta beeinflussen. Somit muss eine Auseinandersetzung mit Art. 52 Abs. 3 GRCh auch diese argumentativen Grundlagen hinterfragen und klären, inwiefern sich für die Charta Abweichungen von den hergebrachten Grundsätzen für die Auslegung von geschriebenem Primärrecht ergeben.
173
So beruht etwa die Argumentation, Abs. 3 Satz 2 ermögliche einen weitergehenden Grundrechtsschutz durch unionale Rechtschöpfung (der erst geschaffen werden müsse), auf Abs. 4 Satz 3 der Erläuterung zu Art. 52 (abgedruckt auf S. 267 ff.); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39. 174 Vgl. die „Überschneidungsbereich-These“ (oben bei Fn. 58) und unten Kapitel 3. B. III.1.a). 175 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31, 31b, 32.
Kapitel 3
Die Erläuterungen der Konventspräsidien als zu berücksichtigende Auslegungshilfe Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien Hinweise für die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh lassen sich den „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“1 entnehmen, diese verstehen sich selbst als „nützliche Interpretationshilfe“2. Die Literatur legt bei der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh diese Charta-Erläuterungen zugrunde. Sie folgt ihnen in ihren Begründungszusammenhängen teils offen, teils stillschweigend3. In Teilen werden die Erläuterungen sogar für verbindlich4, zumindest aber für quasi-verbindlich erachtet5. Dies betrifft zwei der Erläuterung zu Art. 52 enthaltenen Auflistungen, die Charta- und Konventionsrechte anführen, die sich „entsprechen“ und die „gleiche Bedeutung“, zu einem Teil6 auch die „gleiche Tragweite“ haben sollen, und hiermit prononcierte Aussagen für eine Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh treffen. Damit gilt es zu klären, ob und inwieweit die Charta-Erläuterungen, und insbesondere die der Erläuterung zu Art. 52 enthaltenen Auflistungen, in die Auslegung der Charta einzufließen haben. Die Charta wurde bereits, bevor der Verfassungsvertrag ins Auge gefasst wurde, an dessen Stelle der Vertrag von Lissabon tritt7, von einem Gremium8 ins Werk 1 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17., auszugsweise abgedruckt im Anhang, S. 266 ff. 2 Satz 3 des einleitenden Absatzes der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der am 12. 12. 2007 erfolgten Proklamation der Charta veröffentlichten Fassung, ABl. EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 3 Siehe oben Kapitel 2. E. 4 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 32. Anders nunmehr ders., in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b: „nicht rechtsverbindlich“. 5 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31, 31b, 32. 6 Die in der ersten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 (abgedruckt auf S. 268) angeführten Rechte. 7 H.-J. Rabe, NJW 2007, 3153; T. S. Richter, EuZW 2007, 631; Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007. 8 So die Bezeichnung im sogenannten „Mandat von Köln“, also dem Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3. und 4. 6. 1999, mit dem der sogenannte Grundrechtekonvent eingerichtet und mit dem dieser mit der Ausarbeitung eines Grundrechtskatalogs beauftragt wurde. Insbesondere Anhang IV der Schlussfolge-
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
gesetzt9, das vom Europäischen Rat10 hierzu eingerichtet und beauftragt worden war11 und das sich selbst Konvent nannte12. Nach dem Vorbild13 dieses ersten, sogenannten Grundrechtekonvents ließ der Europäische Rat die Regierungskonferenz14, an deren Ende die Unterzeichnung des Verfassungsvertrags stand, dessen zweiter Teil eine geringfügig überarbeite Fassung der Charta enthielt, von einem zweiten Konvent konkret15 vorbereiten16. Dieser zweite Konvent nannte sich von Anbeginn an Europäischer Konvent17. Aus der Feder der Präsidien beider Konvente stammen die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“. Bei den Erläuterungen handelt es sich, wenn man sie einmal pauschal charakterisiert, um eine Art halb-amtlichen Kurz-Kommentar zur Charta18. Die Charta-Erläuterungen basieren inhaltlich größtenteils auf einer ersten, ursprünglichen Fassung des Präsidiums des Grundrechtekonvents, beziehen sich also auf die 2000 proklamierte Charta19. Die späteren Änderungen der Erläuterunrungen ist abgedruckt in N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 59 f. Die „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ sind auch abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über die Webseiten des Rates der Europäischen Union, , unter „Rat“, „Europäischer Rat“. 9 Siehe S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003. 10 Art. 4 EU. 11 Sogenanntes „Mandat von Köln“, veröffentlicht: siehe Fn. 8. 12 Beschluss auf der zweiten Tagung am 1. und 2. 2. 2000, Sitzungsbericht vom 21. 2. 2000, CHARTE 4134/00, CONVENT 6, S. 1. Die Dokumente sind abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über das Öffentliche Register der Ratsdokumente des Rates der Europäischen Union im Internet unter unter „Suche im Register“, „Detaillierte Suche“ Sachgebiet: „CONVENT“). 13 Hierzu H. M. Heinig, JZ 2007, 905 (906). 14 Einberufen gem. Art. 48 Abs. 2 Satz 1 EU durch den Präsidenten des Europäischen Rates, Dokument 13104/03, POLGEN 69, vom 30. 9. 2003, abrufbar unter: siehe Fn. 12, Sachgebiet „POLGEN“. 15 Bereits die Einrichtung und Beauftragung des Grundrechtekonvents erfolgte mit Blick auf die Möglichkeit einer Änderung der Verträge, siehe S. 24. 16 Der „Europäische Konvent“ wurde von vornherein als Konvent zur Vorbereitung einer Regierungskonferenz gem. Art. 48 Abs. 2 EU einberufen. Siehe den Beschluss des Europäischen Rates, wiedergegeben in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Laeken), 14. und 15. 12. 2001, SN 300/1 / 01 REV 1, Anlage 1: Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, unter „III. Die Einberufung eines Konvents zur Zukunft Europas“. Die „Schlussfolgerungen des Vorsitzes“ sind abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über die Webseiten des Rates der Europäischen Union, unter „Rat“, „Europäischer Rat“. 17 Siehe bereits den Vermerk des Sekretariats vom 27. 2. 2002, CONV 1/02, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über die Webseiten des Europäischen Konvents, , unter „Dokumente“. 18 Vgl. T. Schmitz, EuR 2004, 691 (693): „offiziöser Charakter“. 19 Vgl. M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) unter: , und hierzu Anlage 2: Synoptischer Vergleich der ursprünglichen mit den aktualisierten Charta-Erläuterungen, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) unter: .
Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
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gen durch den Europäischen Konvent wollten hingegen im Wesentlichen der Einfügung der Charta in das Primärrecht nach dem Verfassungsvertrag Rechnung tragen20. Schließlich wurden die Erläuterungen anlässlich der Neuproklamation 200721, die für das Inkraftreten des Vertrags von Lissabon gilt22, erneut angepasst. Diese Anpassungen bestehen wiederum im Wesentlichen darin, dass die Verweise auf das Primärrecht jetzt nicht Artikel des Verfassungsvertrags, sondern der Unionsverträge in der Fassung des Vertrags von Lissabon betreffen23. Die Änderungen von 2007 sind also im Vergleich zu früheren Änderungen formeller Art. Als Urheber der Änderungen von 2007 tritt – ausweislich einer amtlichen Anmerkung in der im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlichten Fassung der Erläuterungen24 – lediglich der Herausgeber des Amtsblatts in Erscheinung. Herausgeber des Amtsblatts ist das Amt für Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften. Der Amtsblattherausgeber beansprucht ferner, einige „Fehler“ berichtigt zu haben. Auch wurden die umfangreichen textlichen Wiedergaben der erläuterten Chartaartikel gestrichen, was den textlichen Umfang der Erläuterungen um ein gutes Viertel reduziert hat und ihnen die äußere Erscheinung eines Gesetzeskommentars ein Stück weit genommen hat. Inhaltliche Änderungen sind 2007 keine ersichtlich. Insbesondere beziehen sich die Erläuterungen nach wie vor nur auf Gerichtsentscheidungen, die bis zur Redaktion der Erläuterungen durch das Präsidium des Europäischen Konvents, also nur bis zu den zweiten Änderungen der Erläuterungen ergingen. Dies ist vor allem insofern bemerkenswert, als die Erläuterungen hiermit bereits in temporaler Hinsicht eine Thematisierung mit einer Kompetenzausweitung in Grundrechtsfragen, wie sie 20 Siehe den Vermerk des Sekreteriats des Europäischen Konvents vom 3. 6. 2003 gerichtet an die Mitglieder der Arbeitsgruppe II (Charta) des Europäischen Konvents, WG II-WD 027, S. 2, wie auch die anderen Arbeitsdokumente der Arbeitsgruppe II (WG II), abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über die Webseiten des Europäischen Konvents, , unter „Die Arbeitsgruppen“. Hierauf nimmt die an verschiedenen Stellen zu findende Formulierung, die „Erläuterungen“ seien unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents „aktualisiert“ worden, Bezug, so Abs. 5 Satz 2 der Charta-Präambel und der einleitende Absatz der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. Ob sich die Veränderungen im Rahmen des Europäischen Konvents auf diese Aktualisierung beschränkt haben, ist eine weitere Frage. Im Sinne einer Berechtigung des Begriffs der „Aktualisierung“: M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, 2005, WHI-Paper 4/05, S. 15, unter Auswertung einer synoptischen Gegenüberstellung; sowie H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (374, 376); kritisch C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 119. 21 Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der am 12. 12. 2007 in Straßburg proklamierten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 1. 22 Schlussformel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der am 12. 12. 2007 proklamierten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 1 (14). 23 So auch die amtliche Anmerkung in der im ABl.EU C 306 vom 17. 12. 2007, S. 17, veröffentlichten Fassung. 24 ABl.EU C 306 vom 17. 12. 2007, S. 17, Amtliche Anmerkung.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
sich mit einer jüngeren Rechtsprechung des EuGH andeutet25 und die in einem Spannungsfeld zu Art. 51 GRCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV n. F. stehen könnte, nicht vornehmen.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
Im acquis communautaire nach dem Vertrag von Lissabon finden sich an mehreren Stellen positivierte Bezugnahmen auf die Erläuterungen. Gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh sind die Erläuterungen „gebührend zu berücksichtigen“. Gleiches gilt für Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. Nach Abs. 5 Satz 2 der Präambel der Charta „erfolgt die Auslegung der Charta“ durch die Gerichte „unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen“. Schließlich sind die Erläuterungen im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht, dort allerdings nur im Teil C, der für nicht rechtsverbindliche Dokumente vorgesehen ist. Im Verfassungsvertrag, der zum größten Teil in den Unionsverträgen nach dem Vertrag von Lissabon lediglich in einem anderen Gewande erscheint, waren die Charta-Erläuterungen noch in einer gemeinsamen Regierungserklärung enthalten: Nach der Erklärung (Nr. 12) betreffend die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte, die der Schlussakte zum Verfassungsvertrag beigefügt war26, nahm die Regierungskonferenz „von den nachstehend wiedergegebenen Erläuterungen zur Charta der Grundrechte Kenntnis“. All dessen ungeachtet hat die Literatur auch schon in der Vergangenheit auf die Erläuterungen im Rahmen der überkommenen Auslegungsmethoden27 Rückgriff genommen28. In ihnen manifestiere sich, so wurde und wird vertreten, zumindest in Teilen der ‚Konventswille‘, wobei erkennbar an den methodischen topos des gesetzgeberischen Willens29 angeknüpft wird30. Zumindest sollen, so wird ebenfalls vertreten, die Erläuterungen in gewissen Maßen über die Genese der Chartabestimmungen Auskunft geben31. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F. formuliert jetzt, 25
EuGH, Urteil vom 27. 6. 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769. 26 ABl.EU C 310 vom 16. 12. 2004, S. 401 (420, 424). 27 T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 8 Rdnr. 18 ff.; W. Schroeder, JuS 2004, 180; P. Meyer, JURA 1994, 455. 28 Nach C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 127, sind die Charta-Erläuterungen lediglich nach Art. 32 WVRK, gemeinschaftsrechtlich zumindest a fortiori, einzubeziehen. 29 K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, S. 149 ff. 30 Deutlich z. B. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 126 f.; S. 173 ff. (176 ff.); A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (394). 31 Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007, S. 42.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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dass in den Erläuterungen die Quellen der Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta angegeben seien32. Die genetische Auslegung spielt aber für das Primärrecht traditionell eine unbedeutende Rolle33. Mit dem Rückgriff auf die Erläuterungen als Ausdruck der Genese der Chartarechte würde also eine höhere Gewichtung dieses Auslegungskanons zumindest für einen bestimmten Bereich des Primärrechts einhergehen. Entsprechendes gilt für einen gesetzgeberischen, also den Herren der Verträge zuzurechnenden Willen. Mit einer Anerkennung der historischen oder genetischen Auslegung des Primärrechts oder eines gesetzgeberischen Willens würden im Verhältnis zu den hergebrachten Grundsätzen34, wie sie in der Spruchpraxis des EuGH zum Ausdruck kommen35, methodische Neujustierungen vorgenommen. Angesichts der unterschiedlichen Bezugnahmen auf die Erläuterungen ist für die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh vorab zu klären, inwieweit eine methodengerechte Auslegung der Charta die Erläuterungen zugrunde zu legen hat.
I. Auslegung der Charta anhand europarechtlich überkommener Auslegungsgrundsätze Der Vertrag von Lissabon ist kein Akt der Verfassunggebung36 eines sich konstituierenden Volkes37, ebenso wenig wie dies der Vertrag über eine Verfassung für Europa war, sondern ein Vertrag zwischen den Mitgliedstaaten38. Dieser hat das „Verfassen“ der Union in dem Sinne, dass sie ihr einen Rechtsrahmen für hoheitliches Tätigwerden gibt39, zum Gegenstand bzw. diesbezügliche Änderungen. Rechtsetzer auch des Vertrags von Lissabon sind die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“40. 32
Vgl. Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007, S. 42. 33 F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 68 ff.; C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 143 ff. (146); I. Pernice / F. C. Mayer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 220 EGV Rdnr. 53. 34 T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 8 Rdnr. 18 ff.; W. Schroeder, JuS 2004, 180. 35 Vgl. F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 69. 36 T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-9 VerfV Rdnr. 8. 37 P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (442 f.). 38 P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (442 f.); ders., AöR 131 (2006), 423 (428 f.); H. M. Heinig, JZ 2007, 905 (906 f.). 39 P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (442). 40 P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (442 f.).
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
Die Charta ist damit Teil des Primärrechts im herkömmlichen Sinne41, auch insofern ist Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 Halbsatz 2 EUV n. F. eine Klarstellung. Der Vertrag von Lissabon bricht insbesondere als herkömmlicher Änderungsvertrag nicht mit dem acquis communautaire, weswegen (erst recht) auch Regelungen wie die des Art. IV-438 Abs. 3 und 4 VerfV nicht erforderlich sind. Als Primärrecht ist die Charta nach den herkömmlichen gemeinschaftsrechtlichen Grundsätzen auszulegen42. Vor diesem Hintergrund erscheinen die Erläuterungen von Präsidien von Konventen, die einen Entwurf der Änderungen des Primärrechts43 bzw. einen Vorentwurf eines Teils hiervon44 vorlegt haben, als Novum45. Die rechtliche Einordnung und Klärung ihrer Bedeutung konfrontieren den Anwender des Unionsrechts mit Fragestellungen, die sich aus dem Zusammenspiel überkommener wie neuartiger Umstände ergeben.
II. Positivierte Bezugnahmen auf die Erläuterungen Nach dem Vertrag von Lissabon sind Bezugnahmen auf die Charta-Erläuterungen an mehreren Stellen positiviert. Aus diesen Bezugnahmen kann sich in unterschiedlichem Maß das Erfordernis ergeben, die Erläuterungen im Rahmen der Auslegung der Charta heranzuziehen. Die jeweilige Bedeutung der unterschiedlichen Bezugnahme zu ermitteln, erfordert auch eine Einordnung in die hergebrachte Methodik. Zudem ist das Verhältnis der verschiedenen Bezugnahmen zueinander zu bestimmen.
1. Art. 52 Abs. 7 GRCh Gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh sind „die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung der Charta der Grundrechte verfasst wurden, […] von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen.“ Ungeachtet dessen, ob die Erläuterungen eine historische oder genetische Konkretisierung der Bestimmungen der Charta darstellen oder ob sie einen wie auch immer gearteten „Konventswillen“ wiedergeben, der möglicherweise einer Auslegung zugrunde zu legen wäre, besteht mit Art. 52 Abs. 7 GRCh eine primärrechtliche Verpflichtung 41
W. Schroeder, JuS 2004, 180 (181). W. Schroeder, JuS 2004, 180 (181). 43 Vertrag über eine Verfassung für Europa, Entwurf des „Europäischen Konvents“, ABl.EU C 169 vom 18. 7. 2003, S. 1. 44 Entwurf des Grundrechtekonvents der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, Dokument CHARTE 4487/00, CONVENT 50, vom 28. 9. 2000, abrufbar: siehe Fn. 12. 45 C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 112. 42
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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zur Berücksichtigung der Erläuterungen, die in noch zu untersuchender Weise dazu führt, dass die Erläuterungen in den Auslegungsprozess einfließen46. Diese Verpflichtung bedeutet zwar auf der einen Seite gegenüber der unmittelbaren rechtlichen Verbindlichkeit ein Weniger47. Denn die Erläuterungen selbst sind nicht Bestandteil des Primärrechts48. Auf der anderen Seite können die Erläuterungen auch nicht rechtlich unbeachtlich sein49. Zwischen diesen beiden Positionen befindet sich das Spektrum, in welchem der Grad der Berücksichtigung zu ermitteln ist, zu dem Art. 52 Abs. 7 GRCh verpflichtet50. Obwohl somit Art. 52 Abs. 7 GRCh die Berücksichtigung der Erläuterungen vorschreibt, wird in der Literatur der Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung allgemein keine besonders große Bedeutung beigemessen51. Dies kann nicht allein auf die jeweiligen Aussagen der Erläuterungen selbst zurückgeführt werden52, also gewissermaßen auf deren Qualität53. Vielmehr wird gerade das Maß der Berücksichtigung, die Gegenstand der Verpflichtung des Art. 52 Abs. 7 GRCh ist, von vielen als nicht besonders hoch angesehen54.
a) „Gebührende“ Berücksichtigung als Relativierung Es wird eingewandt, die Verpflichtung, die Erläuterungen gebührend zu berücksichtigen, beinhalte im Vergleich zum Wortlaut des Abs. 5 Satz 2 Charta-Präam46
C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 121. 47 D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (185); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47b; J. Meyer, in ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Präambel Rdnr. 45a a. E. 48 W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1455). 49 D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (185); C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 121; so aber tendenziell J. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Präambel Rdnr. 45a a. E. 50 Vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 124. 51 J. Meyer, in ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Präambel Rdnr. 45a; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 125 und ff., 129. 52 Vgl. aber C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 129, 125, 126. 53 Vgl. aber, insbesondere hinsichtlich der Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52, T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710, Fn. 90). 54 C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 125 ff.; M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 20; H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 29: Charta-Erläuterungen als „gewichtige Rechtserkenntnisquelle“. Siehe aber die Kritik zu dieser Begriffsverwendung unter Kapitel 2. B.IV.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
bel möglicherweise nicht die Verpflichtung, die Erläuterungen in der Auslegung zu berücksichtigen55. Aber ausweislich dessen, wie sich die Erläuterungen selbst bezeichnen, sind sie „Interpretationshilfe“56. Gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh sind sie, möglicherweise mehr noch, „Anleitung für die Auslegung der Charta“57. Auch wenn der Wortlaut des Art. 52 Abs. 7 GRCh dies nicht ausdrücklich klarstellt (so aber Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV sowie Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel), so bezieht sich die Bestimmung auf die Erläuterungen als das, was sie sind – nämlich Auslegungshilfe – und wendet sich selbst vor allem an den Rechtsanwender der Charta. Folglich betrifft Art. 52 Abs. 7 GRCh die Berücksichtigung der Erläuterungen in der Auslegung58. Vor allem aber wird vertreten, die statuierte Pflicht, „gebührend“ zu berücksichtigen, sei ein Weniger gegenüber einer (bloßen) Berücksichtigungspflicht59. Das Merkmal „gebührend“ wird als ausfüllungsbedürftig behandelt60. Zugleich folge die „Gebühr“ (das sich Gebührende) für die Berücksichtigung nicht bereits aus Art. 52 Abs. 7 GRCh selbst. Außerhalb des Art. 52 Abs. 7 GRCh ergäben sich aber kaum Anhaltspunkte dafür, dass die Berücksichtigung in einem hohen, über eine bloße Berücksichtigung hinausgehenden Maß geboten sei61. Letztlich wird 55
M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 17. Bedeutungsunterschiede zu der französischen und der englischen Fassung ergeben sich allenfalls in Nuancen aus dem jeweils in unterschiedlichem Maße wertenden Adjektiv für nützlich [im Folgenden hervorgehoben durch Verf.]. Die Formulierung für „Interpretationshilfe“ in der deutschen Fassung ist hingegen in der englischen sowie der französischen Fassung ungefähr gleichbedeutend: „valuable tool of interpretation intended to clarify the provisions of the Charter“ / „outil d’interprétation précieux destiné à éclairer les dispositions de la Charte“. 57 Engl.: „way of providing guidance in the interpretation of the charter“; franz.: „élaborées en vue de guider l’interprétation de la Charte“. 58 So im Ergebnis auch M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 17, der aber keinen Unterschied zwischen Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel und Art. 52 Abs. 7 zu erkennen vermag. So auch H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (387). Vgl. demgegenüber hier und unter Kapitel 3. A.II.2. 59 Wohl auch Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130). 60 Vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 125 ff.; M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005,S. 16 ff. 61 C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 127: Als Verweis auf die allgemeinen Regeln der WVRK in Art. 31 f. würde „gebührend“ im Ergebnis zu einer bedeutenden Relativierung der Berücksichtigungspflicht führen, weil die Charta-Erläuterungen allenfalls gem. Art. 32 WVRK zu berücksichtigen seien. M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 18 ff.: Als Festlegung auf die Charta-Erläuterungen als schriftliche Fixierung auf den Rechtsstand zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit und damit auf die historische Auslegungsmethode ergebe sich kein gesteigertes Maß an Berücksichtigung, zu der Art. 52 Abs. 7 verpflichte, da dies im Widerspruch zum dynamisch-evolutiven Charakter des europäischen Verfassungsrechts stünde. 56
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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vertreten, dass „gebührend“ eine Relativierung der Berücksichtigungspflicht bedeute62. Die diesbezügliche Argumentation ist vergleichbar mit von der wohl herrschenden Meinung zu Art. 52 Abs. 6 GRCh vertretenen. Nach Art. 52 Abs. 6 GRCh ist „den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten“, „wie es in dieser Charta bestimmt ist [Hervorhebung d. Verf.], in vollem Umfang Rechnung zu tragen“. Weil diese Berücksichtigungspflicht nach Maßgabe der Bestimmung in der Charta besteht, so wird vertreten, laufe die Vorschrift im Grunde leer63. Vergleichbar mit der Frage, inwiefern einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten gem. Art. 52 Abs. 6 GRCh Rechnung zu tragen ist, wird für die Berücksichtigung der Erläuterungen gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh darauf abgestellt, ob es „in dieser Charta bestimmt ist“, sich insofern also gewissermaßen gebühre. Ebenso wenig wie sich ersteres aus Art. 52 Abs. 6 GRCh ergebe, ergebe sich die „Gebühr“ aus Art. 52 Abs. 7 GRCh. Insbesondere soll sich eine Relativierung daraus ergeben, dass sich die Bezugnahme auch auf die folgende Aussage der Erläuterungen erstrecke: „sie haben als solche keinen rechtlichen Status“64. Gerade weil aber die Erläuterungen für sich gesehen nicht rechtlich verbindlich sind65, kann es hierauf nicht ankommen. Entscheidend ist vielmehr, zu welchem Grad der Einbeziehung das Primärrecht, also auch Art. 52 Abs. 7 GRCh, verpflichtet. Während wohl in der Tat fraglich erscheint, ob sich aus anderen Gesichtspunkten als der Anordnung des Art. 52 Abs. 7 GRCh selbst ein besonders hoher Grad der Berücksichtigung, zu der diese Norm verpflichtet, ergibt, ist hier zu klären, ob in dem Merkmal „gebührend“ eine Relativierung zu sehen ist.
b) Vertragspolitischer Konnex zwischen der Einfügung eines schriftlichen Grundrechtskatalogs und Art. 52 Abs. 7 GRCh Bezeichnend für Art. 52 Abs. 7 GRCh ist, dass diese Bestimmung im Konventsentwurf des Verfassungsvertrags noch nicht enthalten war. Sie wurde einzig auf Bestreben der Mitgliedstaaten auf der nachfolgenden Regierungskonferenz des 62
Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130); V. Epping, JZ 2003, 821 (826). M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 17; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 46; H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (369 f.) (ebenfalls, ähnlich wie Art. 52 Abs. 4): „Wiederholung einer Selbstverständlichkeit“. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 103; a. A. Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130). 64 Hierauf abstellend: H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (373, 386 f.); vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 125. 65 W. Cremer, NVwZ 2003, 1452 (1455). 63
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
Verfassungsvertrags aufgenommen66 und im Rahmen des Vertrags von Lissabon beibehalten. Bei der Ermittlung der Bedeutung des Art. 52 Abs. 7 GRCh ist insofern auf die Umstände seiner Einfügung in den Vertragstext einzugehen. Zwar enthielt der Verfassungsvertragsentwurf des Europäischen Konvents bereits den – in allerletzter Sekunde eingefügten – Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel in einer der aktuellen weit gehend entsprechenden Fassung67. In der Konventsfassung lautete dieser: „In diesem Zusammenhang [Anmerkung des Verfassers: demjenigen, dass die Charta die Rechte bekräftigt, wie sie sich aus den diversen Quellen ergeben] wird die Charta von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten unter gebührender Berücksichtigung der Erläuterungen, die auf Veranlassung und in eigener Verantwortung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert wurden, ausgelegt werden.“68 Die Einfügung des Art. 52 Abs. 7 GRCh während der Regierungskonferenz zum Verfassungsvertrag erfolgte damit wohl in der Annahme, dass Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel nicht ausreiche69, um das zu erreichen, was zu erreichen sich die Vertragsstaaten von dieser Präambelpassage erwartet hatten. Seitdem sich ab 1999 unter deutscher Ratspräsidentschaft das seit jeher insbesondere von deutscher Seite gehegte Ziel70, die Union an einen Katalog geschriebener Grundrechte zu binden, zu konkretisieren begann, stellten sich Beharrungskräfte zugunsten des bis hierhin existierenden, prätorischen Grundrechtsschutzes heraus. Wohl auch aufgrund der jeweiligen kulturellen Prägung71, vielleicht auch wegen der Befürchtung einer allzu dynamischen Entwicklung einer Rechtsprechung zu neuen, schriftlichen und damit auslegungsbedürftigen Unionsgrundrech-
66 Vgl. Vertrag über eine Verfassung für Europa, Entwurf des „Europäischen Konvents“, ABl.EU C 169 vom 18. 7. 2003, S. 1, und Vertrag über eine Verfassung für Europa, ABl. EU C 310 vom 16. 12. 2004, S. 1. Insgesamt wurden von der Regierungskonferenz am Verfassungsvertrag nur wenige Änderungen vorgenommen, U. Di Fabio, GLJ 5 (2004), 945 (947). 67 Die englische und französische Fassung sind gleich geblieben. In der deutschen wird zwar kein Futur mehr verwendet. Dies impliziert aber nicht eine andere Bedeutung der Fassung des Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel in der Fassung des Verfassungsvertrags im Vergleich zu der des Konventsentwurfes; hierzu sogleich. 68 Vertrag über eine Verfassung für Europa, Entwurf des „Europäischen Konvents“, ABl.EU C 169 vom 18. 7. 2003, S. 1 (23). 69 So V. Epping, JZ 2003, 821 (826), und K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (28): „Weichmacher“. 70 Nach L. F. M. Besselink, MJ 2001, 68, ist die Charta „if not a child, at least a godchild of Germany“. 71 Einerseits ein allgemein größeres Vertrauen in jahrzehntealte, gewachsene Rechtsprechungslinien und in einen Grundrechtsschutz, der nicht durch ein Verfassungsgericht abgesichert ist, andererseits eine größere Skepsis gegenüber einer gerichtlichen Kontrolle parlamentarischer Gesetze, Befürchtungen eines „gouvernement des juges“.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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ten und der Befürchtung einer Erweiterung von Kompetenzen der EU72, also auch des EuGH (vergleichbar mit der Entwicklung der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten), wurde das Ziel eines Grundrechtskatalogs nicht von jedem Mitgliedstaat gleichermaßen befürwortet73. Bis zur Unterzeichnung des Verfassungsvertrags, und danach auch bis zur Unterzeichnung des Vertrags von Lissabon, zeigten sich diese Kräfte immer wieder. Mit der Forderung nach einem Grundrechtskatalog, dem auch Verbindlichkeit74, möglichst primärrechtliche, zukommen sollte, bestenfalls durch eine Einfügung in die Gemeinschaftsverträge selbst, wurden, angesichts der geforderten Einstimmigkeit bei dem Vorgehen des Europäischen Rates75 bis hin zur Vertragsänderung76, immer wieder in diesem Sinne Kompromisse geschlossen. Weil es den Gegnern der Einfügung eines Grundrechtskatalogs im Grunde darum ging, den acquis communautaire im Bereich der GemeinschaftsgrundrechteRechtsprechung zu wahren77, wurde im sog. „Mandat von Köln“, mit dem das Gremium, das sich später Konvent nannte, eingerichtet und damit beauftragt wurde, einen Grundrechtskatalog zu schaffen, nicht nur die Frage der rechtlichen Verbindlichkeit offen gelassen78. Sondern man hat sich auch auf die Formel verständigt, dieser Katalog möge nur „sichtbar machen“, was ohnehin bereits Rechtsstand sei79. Diese Art des Kompromisses zieht sich wie ein roter Faden durch den Prozess der Schaffung der Charta, deren mögliche Einfügung in die Verträge die Mitgliedstaaten von Anfang an im Blick hatten80, und später durch den Vorgang der tatsächlichen Einbeziehung in das Primärrecht. Der Zwei-Teile-Vorschlag des bri72 Beitrag zahlreicher Mitglieder des Europäischen Konvents, Dokument CONV 659/03 CONTRIB 292 vom 14. 4. 2003, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über die Webseiten des Europäischen Konvents, , unter „Beiträge“. 73 Lord Goldsmith, Consolidation of Fundamental Rights at EU Level – the British Perspective, in: Feus (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, 2000, S. 27 (30); U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 76. 74 Bereits BVerfGE 37, 271 (285). 75 M. Pechstein, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 5 EUV Rdnr. 12. 76 Vgl. Art. 48 Abs. 3 EU. 77 Lord Goldsmith, Consolidation of Fundamental Rights at EU Level – the British Perspective, in: Feus (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, 2000, S. 27 (30); ders. auf der dritten Sitzung des Konvents am 24. / 25. 02. 2000, Protokoll in: N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 134 (insbesondere 139). 78 „Danach wird zu prüfen sein, ob und gegebenenfalls auf welche Weise die Charta in die Verträge aufgenommen werden sollte.“, Abs. 4 Satz 3 des „Mandats von Köln“, dem Beschlusses des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Anhang IV der Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3. und 4. 6. 1999 (siehe Fn. 8). 79 Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3. und 4. 6. 1999, unter „Eine Charta der Grundrechte der EU“ (siehe Fn. 8): „sichtbarer gemacht werden“. Das Kompromisshafte tritt noch offener zu Tage im Beschluss selbst (dem sogenannten „Mandat von Köln“, Fn. 8), Abs. 1 a. E.: „sichtbar zu verankern“. 80 Siehe S. 24.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
tischen Regierungsvertreters im Grundrechtekonvent Lord Goldsmith, also eines Grundrechtskatalogs, der in einem ersten Teil letztlich rechtlich unverbindlich die Grundrechte beschreiben sollte und in einem zweiten Teil für jedes Grundrecht ausführliche Verweise auf bestehende Rechtsnormen sowie den Hinweis, die Grundrechte seien nur nach Maßgabe dieser Normen gewährleistet, enthalten sollte81, gehört ebenso dazu, wie Abs. 4 Charta-Präambel, welcher die Formel des „Sichtbar-Machens“ – allerdings zur „Stärkung“ der Grundrechte – aufgreift, und wie Abs. 5 Satz 1 Charta-Präambel, der die Charta als Bekräftigung der Grundrechte, wie sie sich (bereits) aus den hergebrachten Quellen, wie der EMRK, ergeben, bezeichnet. Schließlich ist auch Art. 52 Abs. 7 GRCh als Bestandteil eines vergleichbaren Kompromisses zu sehen: Gegen Ende der Beratungen des Europäischen Konvents formulierte die britische Regierungsvertreterin deutlich die Position, dass ohne einen Verweis auf die Erläuterungen im Primärrecht selbst, der diesen einen „interpretative status“ zuerkenne, ein Einfügen der Charta in das Primärrecht nicht mitgetragen würde82. Im Rahmen der anschließenden Regierungskonferenz wurde von den britischen und niederländischen Vertretern „eine verbindlicher formulierte und klarere Bezugnahme oder ein zuverlässigerer Rechtsstatus in Bezug auf die Erläuterungen und Veröffentlichung derselben“ gefordert83. Mit der Charta als Teil II des Verfassungsvertrags hatten sich die Befürworter eines schriftlichen, verbindlichen Grundrechtskatalogs augenscheinlich durchgesetzt. Weil aber Art. 52 Abs. 7 GRCh von den Gegnern eben dieser Einfügung den Befürwortern abgerungen werden konnte, erscheint Art. 52 Abs. 7 GRCh für das Verständnis der Charta einerseits und der Erläuterungen andererseits von zentraler Bedeutung84.
81 Siehe die Protokolle der Sitzungen des Grundrechtekonvents bei N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, z. B. Protokoll der Dritten Sitzung des Konvents am 24. / 25. 02. 2000, S. 134 (insbesondere 141 f., ferner 135, 136, 139). 82 Brief der britischen Regierungsvertreterin Baroness Scotland of Asthal an das Mitglied der Kommission Vitorino, in seiner Funktion als Mitglied des Präsidium des Europäischen Konvents, Dokument der Working Group II, WG II WD 28, S. 6, abrufbar: siehe Fn. 20; siehe auch den gleichgesinnten Brief des irischen Regierungsvertreters und eines britischen Abgeordneten des Europäischen Parlaments, ebenda, S. 10 und 11. 83 Dokument CIG 37/03 PRESID 3, S. 4, vom 24. 10. 2003. Ferner Dokument CIG 43/03 PRESID 7, S. 2, vom 4. 11. 2003. Dokumente abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) von den Webseiten des Rates (Fn. 16), unter „Vertrag von Lissabon“, „Vorherige RK“, „IGC 2004“, „Presidency Documents“. 84 D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (185).
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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c) Art. 52 Abs. 7 GRCh als Kompromiss unterschiedlicher Vorstellungen für den unionalen Grundrechtsschutz Die entgegenstehenden Positionen – Einfügung eines schriftlichen, verbindlichen Grundrechtskatalogs einerseits, bloßes „Sichtbar-Machen“ andererseits – scheinen a priori unvereinbar zu sein. Denn hinter dem Einen steht schließlich auch der Wunsch, den unionalen Grundrechtsschutz zu verbessern85 und damit ihn gerade zu verändern86. Hinter dem Anderen steht dagegen die Idealvorstellung, den Rechtszustand absolut unverändert zu lassen87. Jedenfalls ist ein schriftlicher, verbindlicher Grundrechtskatalog im Primärrecht auslegungsbedürftig und fordert als solcher eine andere Rechtsfindung als die Schöpfung und Anwendung eines prätorischen Grundrechtsschutzes, primärrechtlich allenfalls schwach determiniert durch die Bestimmung von Rechtserkenntnisquellen, Art. 6 Abs. 2 i. V. m. Art. 46 lit. d EU oder ehedem Art. 220 Abs. 1 EG bzw. Art. 164 EGV / EWGV88. Ein schriftlicher Grundrechtskatalog des Primärrechts erzeugt die Erwartung einer „grundlegenden Neuorientierung“89 der Rechtsprechung des EuGH zu den Unionsgrundrechten. Den Gegnern eines schriftlichen, primärrechtlichen Grundrechtskatalogs ging es letztlich wohl auch darum, keine Risiken für eine allzu progressive Rechtspre85 Der Wunsch nach einem schriftlichen, verbindlichen Grundrechtskatalog geht letztlich auch zurück auf den Solange-I-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 37, 271 [285]) und ist auch als Reaktion auf die fortwährende Kritik am insbesondere aus deutscher Sicht unzureichenden gemeinschaftsrechtlichen Grundrechtsschutz zu begreifen; diese Kritik wurde insbesondere geäußert von P. M. Huber, Recht der Europäischen Integration, 2. Auflage 2002, § 8 Rdnr. 67 ff.; ders., EuZW 1997, 517 (520); P. Selmer, Die Gewährleistung des unabdingbaren Grundrechtsstandards durch den EuGH, 1998, S. 118 ff.; C. Callies, EuZW 2001, 261; N. Bernsdorff, NdsVBl. 2001, 177 (182 f.); siehe aber auch J. Coppel / A. O’Neill, CMLR 29 (1992), 669. 86 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (326); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-9 VerfV Rdnr. 8. 87 Lord Goldsmith, Consolidation of Fundamental Rights at EU Level – the British Perspective, in: Feus (Hrsg.), The EU Charter of Fundamental Rights, 2000, S. 27 (30); ders., auf der dritten Sitzung des Konvents am 24. / 25. 2. 2000, Protokoll in: N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 134 (insbesondere 139); vgl. C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (326). 88 Insofern bedenklich: H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 18 ff. (siehe hierzu oben unter Kapitel 2. B.IV.); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14 und ff. (siehe hierzu Kapitel 5. C.II.). 89 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 26. Vgl. S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (117).
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
chung zu setzen90. Gerade hier lag im Grunde aber auch der archimedische Punkt, an dem man sich bei aller (aus anfänglicher Sicht) Unvereinbarkeit der entgegengesetzten Vorstellungen treffen konnte. Weil das „Mandat von Köln“91 mit der Formel des „Sichtbar-Machens“ – ihrerseits Ausdruck eines vergleichbaren Kompromisses – die Beratungen des Konvents und damit die Charta determiniert hatte92, entsprechen auch die Erläuterungen letztlich in ihren Aussagen darüber, wie die einzelnen Bestimmungen der Charta zu verstehen sind, inhaltlich der Maßgabe, sich vom bisherigen, prätorischen Grundrechtsschutz inhaltlich wenig zu entfernen93. Das Interesse der Einen, den Grundrechtsschutz möglichst bei dem zu belassen, was sich in der Rechtsprechung des EuGH entwickelt hatte, konnte somit durch eine Bezugnahme auf die Erläuterungen verwirklicht werden, obgleich auch das Interesse der Anderen an einem primärrechtlich verbindlichen Grundrechtskatalog verwirklicht wird. Dieser Verwirklichung in zweifacher Hinsicht diente die Aufnahme des Art. 52 Abs. 7 GRCh. Die Einfügung des Art. 52 Abs. 7 in die Charta gibt somit über zweierlei Aufschluss: Zum einen kam es auf die inhaltlichen Aussagen der Erläuterungen an. Indem diese für jeden Chartaartikel insbesondere die bisherigen Rechtsprechungslinien aufgreifen94 oder in weiten Teilen auf die EMRK verweisen95, entsprechen die Erläuterungen dem Wunsch eines Sichtbar-Machens und damit inhaltlich der Position, derzufolge am Grundrechtsschutz inhaltlich grundsätzlich nichts verän90 Das lässt Ansätze, Art. 52 Abs. 7 GRCh für die Auslegung der Charta eine geringere Bedeutung beizumessen, geradezu als Bestätigung dieser Verhandlungsposition im Nachhinein erscheinen. 91 Siehe Fn. 8. 92 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (326). 93 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47a, weist darauf hin, dass bereits das Entstehen der Charta-Erläuterungen auf britischen Wunsch zurückgeht. 94 Vgl. beispielsweise die Bezugnahme in der Erläuterung zu Art. 1 (Würde des Menschen) der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17, auf EuGH, Urteil vom 9. 10. 2001, Rs. C 377/98, Niederlande gegen Europäisches Parlament und Rat, Slg. 2001, S. I–7079, Rdnr. 70–77; oder die Bezugnahme in der Erläuterung zu Art. 51 (Anwendungsbereich [der Charta]) (a. a. O.) auf EuGH, Urteil vom 13. 7. 1989, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609; EuGH, Urteil vom 18. 6. 1991, Rs. C-260/89, ERT, Slg. 1991, S. I–2925; EuGH, Urteil vom 18. 12. 1997, Rs. C-309/96, Annibaldi, Slg. 1997, S. I–7493; EuGH, Urteil vom 13. 4. 2000, Rs. C-292/97, Karlsson, Slg. 2000, S. I–2737, Rdnr. 37; EuGH, Urteil vom 17. 2. 1998, Rs. C-249/96, Grant, Slg. 1998, S. I–621, Rdnr. 45. 95 Insbesondere die Auflistungen in der Erläuterung zu Art. 52 (abgedruckt auf S. 268 f.), vor allem aber die Erläuterungen zu den in diesen Auflistungen angeführten Artikeln der Charta, also jeweils die Erläuterung zu Art. 2, 4, 5, 6, 7 usw. bzw. Art. 9, 12 usw., Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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dert werden dürfe96. Zum anderen wurde aber darüber hinaus wohl auch angenommen, dass die bloße Existenz der Erläuterungen und die sich an das Mandat von Köln anknüpfende Entstehungsgeschichte allein nicht ausreichen würden, um eine unvorhersehbare Grundrechtsinterpretation mit ausreichender Sicherheit verhindern zu können. Bei aller Innovation des Konventsmodells und der Erläuterungen würde am Ende entscheidend ein entsprechender Bezug im Primärrecht, eine gesetzestechnische Verweisung sein. Die mit Art. 52 Abs. 7 GRCh gefundene Lösung einerseits eines schriftlichen, verbindlichen Katalogs und andererseits einer primärrechtlichen Pflicht gebührender Berücksichtigung einer Auslegung, die sich der Sache nach nicht wesentlich von dem hergebrachten, prätorischen Grundrechtsschutz unterscheidet, stellt eine solche Einigung zwischen den genannten Positionen dar97. Als Ausdruck dieses Kompromisses ist die Formulierung „gebührend zu berücksichtigen“ auszulegen. Eine Einigung auf diese Formulierung fand erst gegen Ende der Verhandlungen zum Verfassungsvertrag statt98. Ohne eine Verständigung hierauf ganz im Sinne der Gegner der Einfügung eines Grundrechtskatalogs wäre nach dem Gesagten die Charta wahrscheinlich überhaupt nicht eingefügt worden99. Folglich meint „gebührend“ nicht eine Relativierung, sondern vielmehr eine Steigerung des Grades der Berücksichtigung, zu der Art. 52 Abs. 7 GRCh verpflichtet, gegenüber dem einer (bloßen) Berücksichtigungspflicht. Dies kommt bei Lichte besehen auch im Wortlaut klar zum Ausdruck. Besonders im Englischen und Französischen – „due“ bzw. „dû“ – wird das gesetzte Bedeutungsfeld sichtbarer, das aber auch vom deutschen Wortlaut umfasst ist. Die Wörter „due“ und „dû“ beinhalten gerade nicht die Konnotation, worauf sich dieses Attribut bezieht, stehe nicht in Abhängigkeit von anderen Faktoren. Vielmehr bringen „due“ und „dû“ selbst zum Ausdruck, dass eine Verpflichtung in einem besonderen Maße bestehe100. „Gebührend“ bedeutet hier, im Sinne einer Steigerung, „angemessen“101. Indem Art. 52 Abs. 7 GRCh eine gebührende Berücksichtigung fordert, sollen die Erläuterungen um ein höher als 96
Vgl. entstehungsgeschichtlich C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 113 ff. 97 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (348). 98 Vorschlag des Vorsitzes erst mit Dokument CIG 80/04, PRESID 22, vom 12. 6. 2004, S. 21, abrufbar: siehe Fn. 83. 99 D. H.Scheuing, EuR 2005, 162 (185). 100 A. A. C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (349). 101 Vgl. Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Neuausgabe 2000, „gebührend“.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
gewöhnliches Maß, nämlich angemessen, berücksichtigt werden. Eine Relativierung beinhaltet „gebührend“ gerade nicht102. Das Gebot gebührender Berücksichtigung stellt zwischen einer inhaltlichen Rückbindung an den vorhandenen Grundrechtsschutz und einem primärrechtlichen verbindlichen Grundrechtskatalog einen Konnex her. Als besonders abstrakte schriftliche Rechtssätze können die Bestimmungen mehrere vertretbare Auslegungsvarianten beinhalten. Die Erläuterungen enthalten Aussagen darüber, wie die Bestimmungen der Charta auszulegen sind, enthalten jeweils einen Auslegungsvorschlag. Mit dem Gebot gebührender Berücksichtigung dieses Auslegungsvorschlags soll, angesichts der inhaltlichen Prägung der Erläuterungen, der Interpret so weit wie möglich auf eine Auslegung festgelegt werden, die sich inhaltlich am bisherigen prätorischen Grundrechtsschutz orientiert und sich weit gehend einem allzu progressiven, die hergebrachten Rechtsprechungslinien abrupt abreißen lassendem Verständnis der Grundrechte verweigert. Ungeachtet der weiter greifenden Frage, ob zumindest für die Charta der genetischen Auslegung des Unionsrechts allgemein eine andere Stellung als bisher einzuräumen ist103, steht Art. 52 Abs. 7 GRCh in der hier vertretenen Auslegung in dem beschriebenen Zusammenhang, dass die Charta wohl ohne diese Norm als Ausdruck eines politischen Kompromisses den Status von rechtlich verbindlichem geschriebenem Primärrecht nicht erhalten hätte. Es geht insofern, untechnisch gesprochen, um einen ‚Geltungsgrund‘ der Charta als geschriebenem Grundrechtskatalog. Dies rechtfertigt zumindest hier die Berücksichtigung genetischer Momente in einem höheren Maß, als dies in der herkömmlichen Auslegung von Primärrecht befürwortet wird104. Zugleich derogiert Art. 52 Abs. 7 GRCh nicht etwa, dass die Charta, Bestimmungen des Primärrechts, nach überkommenen Grundsätzen auszulegen ist105. Vielmehr ist eine Bestimmung der Charta nach eben diesen Grundsätzen106 auszulegen, damit die jeweilige Lesart, wie sie die Erläuterungen zum Ausdruck bringt, berücksichtigt, das heißt als zutreffende Auslegung der Chartabestimmung in Erwägung gezogen werden kann. Die Gefahr eines allzu abrupten Abreißens überkommener Rechtsprechungslinien in der Auslegung dieser als Grundrechte abstrakten Bestimmungen will aber Art. 52 Abs. 7 GRCh dadurch bannen, dass dem Interpreten konkrete Vorstellungen der zutreffenden Auslegung gewissermaßen ‚mitgegeben‘ werden107. 102 Nach D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (185), haben die Charta-Erläuterungen durch die positiven Bezugnahmen des Verfassungsvertrags „besondere Bedeutung […] erlangt“. 103 Siehe Kapitel 3. A.III. 104 Darüber hinaus wird dieser Gesichtspunkt gesetzessystematisch im Rahmen des Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. aufgegriffen. 105 So auch M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47b. 106 T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 8 Rdnr. 18 ff. 107 Vgl. M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47a.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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Die Verpflichtung gebührender Berücksichtigung bedeutet somit, dass kraft dieser Norm den Erläuterungen und der hierin jeweils enthaltenen Lesart der auszulegenden Chartabestimmung eine besondere Bedeutung zukommt. Damit wird eine mögliche Auslegungsvariante zu der Auslegungsvariante angehoben. Im Rahmen einer grundsätzlich nach allgemeinen Grundsätzen zu erfolgenden Auslegung ist die jeweilige Auslegung der Erläuterungen nicht nur im Blick zu behalten108. Vielmehr ist von mehreren möglichen Auslegungsvarianten diejenige zu bevorzugen, die deckungsgleich mit dem Auslegungsvorschlag der Erläuterungen ist109. Dieser Auslegung des Art. 52 Abs. 7 GRCh steht nicht entgegen, dass die gewählte Norm aus nationaler Perspektive einen vielleicht unorthodoxen Ansatz zwischen Kodifikation (eines Grundrechtskatalogs) einerseits und einer Bewahrung des status quo eines nicht-positivierten, prätorischen Grundrechtsschutzes andererseits darstellt. Hierin liegt nicht nur der politische Kompromiss110, wie er Gesetz geworden ist. Dies wiederum ist als solches nicht ungewöhnlich, sondern geradezu Wesen eines Vertrags wie der Verfassungsvertrag und jetzt des Vertrags von Lissabon. Sondern diese vertragspolitisch gewählte Lösung kann auch als das Ergebnis einer spezifisch gemeineuropäischen Einbringung auch kulturell bedingter unterschiedlicher Vorstellungen und Erwartungen an das Recht – hier schriftlicher Grundrechte – begriffen werden. Demgegenüber erscheint es unzulässig, mit dem Hinweis, nur weil eine Norm wie die des Art. 52 Abs. 7 GRCh „politisch“, unschöner Kompromiss111 sei, einer Auslegung aufzuliegen, die die Norm in ihrem konkreten Anwendungsbereich gegen ihren Sinn weitest gehend reduziert.
2. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. a) Vergleich mit Art. 52 Abs. 7 GRCh Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. werden „die in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze […] unter gebührender Berücksich108
So die wohl h. M.: D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (185); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47 b; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 121; M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 20. 109 Ähnlich M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47b: Abweichungen „mit gesteigertem Begründungsaufwand“; H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (384 i. V. m. 387; 373, 377); Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130); D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (185); C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 125 ff. (127): „kein höherer Stellenwert“, als eine Berücksichtigung entsprechend Art. 32 WVRK. 110 G. Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2001, Art. 52, S. 266. 111 M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 17: „Formelkompromiss“.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
tigung der in der Charta angeführten Erläuterungen, in denen die Quellen dieser Bestimmungen angegeben sind, ausgelegt.“ Die Norm ist Art. 52 Abs. 7 GRCh ersichtlich nachgebildet und diesem im Wesentlichen gleich112. Im näheren Vergleich mit Art. 52 Abs. 7 GRCh, demzufolge „die Erläuterungen, die als Anleitung für die Auslegung dieser Charta verfasst wurden, […] von den Gerichten der Union und der Mitgliedstaaten gebührend zu berücksichtigen“ sind, fällt zunächst die Klarstellung auf, dass sich die Verpflichtung zur gebührenden Berücksichtigung auf die Auslegung bezieht – eine Klarstellung die mit Blick auf die diesbezüglichen Zweifel in der Literatur erforderlich geworden sein mag113. Des Weiteren enthält der Relativsatz eine Charakterisierung der Erläuterungen, nämlich dass in diesen „die Quellen dieser Bestimmungen“ (also der Rechte, Freiheiten und Grundsätze) angegeben sind. Hingegen ist die Beschreibung der Erläuterungen „als Anleitung für die Auslegung dieser Charta“ zwar weggefallen, diese würde aber auch überflüssig erscheinen angesichts der Bezugnahme auf die „in der Charta [also insbesondere in Art. 52 Abs. 7 GRCh] angeführten Erläuterungen“: Gemeint sind jeweils die Erläuterungen, die vom Präsidium des Grundrechtekonvents verfasst wurden und durch das Präsidium des Europäischen Konvents geändert wurden. Ein Unterschied des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. erscheint vordergründig als inhaltliche Einschränkung gegenüber Art. 52 Abs. 7 GRCh. Da sich Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. ausdrücklich auf die „in der Charta niedergelegten Rechte, Freiheiten und Grundsätze“ bezieht, betrifft – so ließe sich argumentieren – die Norm nicht die Auslegung der gesamten Charta. Ein weiterer Unterschied scheint hingegen eine Weiterung des Anwendungsbereichs zu sein. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. ist nicht mehr, nur, an die Gerichte der Union und der Mitgliedstaaten adressiert, sondern regelt allgemein die Auslegung der Charta. Hingegen bedeuten auch diese Wortlautdivergenzen bei Lichte besehen keine inhaltlichen Unterschiede zu Art. 52 Abs. 7 GRCh. Die jenseits der Rechte, Freiheiten und Grundsätze der Charta enthaltenen allgemeinen Regelungen (Titel VII) betreffen deren Auslegung und Anwendung (so auch der Wortlaut des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F.). Damit bezieht sich eine Auslegungsregel wie die des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. auch auf diese Bestimmungen. Auch ergäbe eine Auslegungsregel mit einem geringeren Anwendungsbereich als eine bereits bestehenden Auslegungsregel, die im Übrigen aber gleich ist, keinen Sinn. Auch der zweite Unterschied des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. – die fehlende Nennung der Gerichte als Adressaten der Auslegungsregel – bedeutet in einer Union, die sich als Gemeinschaft des Rechts versteht und die rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet ist, ebenfalls keine Änderung. Da die Gerichte ohnehin mit 112
Vgl. Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007, S. 40 ff. 113 Siehe oben unter Kapitel 3. A.II.1.a).
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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der „Wahrung des Rechts“ und damit auch der letztverbindlichen Auslegung und Anwendung der geschriebenen Unionsgrundrechte betraut sind, gilt auch Art. 52 Abs. 7 GRCh für die Auslegung und Anwendung der Charta durch alle Organe und Einrichtungen der Union, die Hoheitsgewalt ausüben.
b) Nochmalige Bestärkung des Konnexes von Verbindlichwerden der Charta und der Berücksichtigung der Erläuterungen in der Auslegung In systematischer Hinsicht fällt angesichts der Bedeutung des Art. 52 Abs. 7 GRCh für die Verbindlichwerdung der Charta bei Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. auf, dass er der Norm an die Seite gestellt ist, die nach dem Vertrag von Lissabon überhaupt erst die Geltung der Charta als Primärrecht anordnet. Da nach dem Vertrag von Lissabon die Charta nicht geschriebener Bestandteil der Verträge selbst ist, gilt die Charta als vertragsgleiches Primärrecht nur, weil Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n. F. dies so anordnet. Der Norm kommt auch eine Gelenkfunktion zwischen unterschiedlichen Teilen des Primärrechts zu, und sie ist insofern Art. 1 AEUV vergleichbar. Zunächst bezieht sich Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F., wie die anderen Unterabsätze des Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. auch, auf die ganze Charta – sie gleicht also den allgemeinen Bestimmungen des Titels VII der Charta und damit auch wieder Art. 52 Abs. 7 GRCh. Darüber hinaus wird aber aus der Stellung neben Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n. F. deutlich, dass die Auslegungsregel, anders als andere (etwa Art. 52 Abs. 4–6 GRCh), in Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. nicht nochmals ausdrücklich genannte, die Einbeziehung der Charta selbst betrifft. Als Unterabsatz des gleichen Absatzes, in dem die Einbeziehung der Charta in das Primärrecht angeordnet wird, ist sie gewissermaßen Bedingung der Einbeziehung. Damit wird erneut der Konnex zwischen Berücksichtigung der Erläuterungen und Verbindlichwerden der Charta deutlich, der bereits die Bedeutung des Art. 52 Abs. 7 GRCh maßgeblich bestimmt und der in Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. eine explizite wortlaut-systematische Verankerung im Primärrecht erfahren hat [vgl. oben unter 1.b)]. Hier wie dort schlägt sich dieser Konnex auch in der Auslegung des Merkmals der „gebührenden“ Berücksichtigungsverpflichtung aus. Diese wortlaut-systematischen Gesichtspunkte decken sich mit dem Umstand, dass Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. ein Kompromiss unterschiedlicher Verhandlungspositionen war, die im Rahmen der Verhandlungen zum Vertrag von Lissabon, die im Wesentlichen der Regierungskonferenz vorgelagert, in Vorbereitung der Tagung des Europäischen Rates am 21. und 22. Juni 2007 in Brüssel und auf dieser Tagung selbst stattfanden114, zur Einbeziehung der Charta vertreten wurden. Diese Ver114
Schlussfolgerungen des Vorsitzes vom 20. Juli 2007, Ratsdokumenten-Nr. 11177/1/07, REV 1, insbesondere das höchst detaillierte „Mandat für die Regierungskonferenz“ als Anlage I, S. 15–30. Schlussfolgerungen abrufbar: siehe Fn. 16.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
handlungen erscheinen im Grunde als Fortsetzung des jahrelangen Streits um Status und Funktion geschriebener Unionsgrundrechte115. Den Verhandlungen wurde unter deutschem Ratsvorsitz der Verfassungsvertrag als Ausgangspunkt gesetzt. Der Verfassungsvertrag wurde als solcher, also hinsichtlich seines Inhalts, nicht zur Disposition gestellt. Eine Gegenposition hierzu, die letztlich erfolgreich vertreten wurde, war es, nach den erfolglosen Volksentscheidungen in Frankreich und den Niederlanden, dem Verfassungsvertrag das Antlitz einer Staatsverfassung zu nehmen. Die Beibehaltung der Charta als Teil der Unionsverträge116 mag bereits insoweit in Frage gestellt worden sein. Vor allem aber wurde die Einbeziehung der Charta, deren Verbindlichwerdung, als solches noch einmal in Frage gestellt – ein Wiederaufkeimen der bereits seit den Anfängen der Forderungen nach einer Grundrechtecharta gegebenen Positionen. Vor diesem Hintergrund erscheint – erneut – die in Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. gefundene Lösung als Ausdruck eines Kompromisses der zuvor vertretenen Positionen – Einfügung geschriebener Grundrechte in das Primärrecht einerseits und Beharren auf dem gemeinschaftsgrundrechtlichen status quo. Mit Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n. F. wurde einerseits die primärrechtliche Verbindlichkeit und Gleichrangigkeit der Charta als einem Katalog geschriebener Grundrechte angeordnet. Andererseits wurde, gewissermaßen im gleichen Atemzug, die zentrale Bedeutung der Erläuterungen, die als Ausdruck des gemeinschaftsgrundrechtlichen status quo gebührend zu berücksichtigen sind, durch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. und damit neben Art. 52 Abs. 7 GRCh ein weiteres Mal hervorgehoben.
c) Anwendbarkeit neben Art. 52 Abs. 7 GRCh Da Art. 52 Abs. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. sich inhaltlich entsprechen, ergeben sich durch die letztere Vorschrift keine Änderungen im Vergleich zu einer isolierten Geltung des Art. 52 Abs. 7 GRCh. Insoweit kann auf die obigen Ausführungen zu Art. 52 Abs. 7 GRCh verwiesen werden. Selbst die Frage, ob diese Normen in Idealkonkurrenz zu einander stehen oder ob Art. 52 Abs. 7 GRCh hinter Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F., der dem für die Geltung der Charta zentralen Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n. F. zur Seite steht, zurücktritt, bedarf keiner Entscheidung. Denn diese Frage wirkt sich in der Anwendung und Auslegung der Charta, und somit auch des Art. 52 Abs. 3 GRCh, nicht aus.
115
Siehe oben unter Kapitel 3. A.II.1. Als Bestandteil der, aus deutscher Sicht, „politischen Substanz“ des Verfassungsvertrags, F. C. Mayer, JZ 2007, 593 (599, Fn. 55). 116
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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3. Abs. 5 Satz 2 der Präambel der Charta Abs. 5 Satz 2 der Präambel der Charta enthält nicht etwa eine stärkere Bindung an die Erläuterungen als Art. 52 Abs. 7 GRCh oder Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. Vielmehr bleibt Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel hinter diesen beiden Bestimmungen zurück117. Dies ergibt sich zwar nicht zwingend daraus, dass diese Auslegungsregel bloß der Präambel enthalten ist und nicht im „verfügenden Teil“118. Auch Präambeln können verbindliche Rechtsbefehle, jedenfalls Auslegungsregeln enthalten119. Aber in Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel kommt lediglich eine ‚gesetzgeberische‘ Erwartung zum Ausdruck, dass die Gerichte die Erläuterungen berücksichtigen werden120, was besonders in der französischen und englischen Fassung deutlich wird121, nicht aber – wie Art. 52 Abs. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. – die rechtliche Verpflichtung, dass die Erläuterungen in der Auslegung in dem beschriebenen Sinne gebührend zu berücksichtigen sind122. Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel war gegen Ende der Beratungen des Europäischen Konvents in den Entwurf des Verfassungsvertrags eingefügt worden123, 117 Zu Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel in diesem Sinne V. Epping, JZ 2003, 821 (826); K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (28). M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47: „nicht zu unterschätzende Aufwertung“ der Charta-Erläuterungen durch Aufnahme des Abs. 7. A. A. (inhaltlich gleichbedeutend): M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, 2005, WHI-Paper 4/05, S. 17; H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (387); Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130). 118 Vermerk des Vorsitzes, Dokument CIG 75/04, PRESID 17, vom 13. 5. 2004, S. 6, abrufbar: siehe Fn. 83; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 47. 119 H. Kopetz, Präambeln: unverbindliche Verfassungslyrik oder verbindliches Verfassungsprogramm?, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 9 (17 ff.). 120 C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 121. A. A. H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (387); Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130). 121 Dort wird das Verb interpréter bzw. to interpret im Futur verwendet; ebenso: die deutsche Fassung des Konventsentwurfs. Die Änderung in der deutschen Fassung gegenüber dem Konventsentwurf, also von einer passivischen in eine aktivische Formulierung, ist lediglich als stilistische Verbesserung gewollt, ohne dass sich durch den gleichzeitigen Wegfall des Futurs in dieser einen Sprachfassung für die Gesamtbedeutung des Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel etwas geändert hätte; so auch C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 121. 122 Zur geringen Bedeutung des Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel J. Meyer, auf der Tagung des Europäischen Konvents am 12. 6. 2003, Protokoll in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Eine Verfassung für Europa, 2004, S. 1184 f.; allerdings in diesem Sinne auch hinsichtlich Art. 52 Abs. 7 GRCh kritisch J. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Präambel Rdnr. 45a. 123 Vgl. J. Meyer, in: ders. (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Präambel Rdnr. 45a.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
wohl um Verhandlungen wie jenen, die letztlich zur Einfügung des Art. 52 Abs. 7 GRCh und später des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. geführt haben, vorzubeugen. Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel hat aber weder diese Verhandlungen und Art. 52 Abs. 7 GRCh noch die zum Vertrag von Lissabon und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. verhindert. Dass Art. 52 Abs. 7 GRCh nicht im Konventsentwurf enthalten war, ist somit gleichermaßen nicht nur für dessen Bedeutung bezeichnend, sondern auch für die des Abs. 5 Satz 2 ChartaPräambel. Weil die Pflicht, die Erläuterungen zu berücksichtigen, die sich aus einer gesetzgeberischen Erwartung, diese werden berücksichtigt werden, ergebenden Implikationen für die Auslegung umfasst, tritt Abs. 5 Satz 2 Präambel hinter Art. 52 Abs. 7 GRCh und Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. als subsidiär zurück.
4. Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union Auch die Veröffentlichung im Amtsblatt der Europäischen Union, und dort im Teil C, beeinflusst das Maß der rechtlichen Verbindlichkeit nicht. Ihre Rolle erschöpft sich vielmehr in eben dieser Veröffentlichung, die wegen der primärrechtlichen Inbezugnahme durch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Halbsatz 2 EUV n. F. und Art. 52 Abs. 7 GRCh geboten erscheint. Konsequent war es daher auch, die Veröffentlichung im Teil C, und nicht im Teil L, vorzunehmen. Die Charta-Erläuterungen sind nach dem o. A. nicht als solche rechtlich verbindlich, aber im Rahmen der Auslegung gebührend zu berücksichtigen. Die Erläuterungen geben bei den entsprechenden Artikeln der Charta auch einschlägige Artikel der EMRK im Wortlaut wieder. Weil die Veröffentlichung der Charta-Erläuterungen im Amtsblatt der EU in allen 23 Vertragssprachen erfolgte, liegt auf Unionsebene eine amtliche Übersetzung der völkerrechtlich allein verbindlichen französischen und englischen Fassung (siehe die Schlussformel der EMRK) konventionsrechtlicher Gehalte in die anderen Sprachen der Union vor. Dies kann Grundlegung dafür sein, dass in der Berücksichtigung von Konventionsrecht im Recht der Union, entsprechend den allgemeinen Grundsätzen zur Auslegung von Primärrecht, auch solche Sprachfassungen der EMRK, die völkerrechtlich nicht verbindlich sind, zu beachten sein können. Im Übrigen unterscheidet sich diese Vorgehensweise, eine Veröffentlichung im Amtsblatt C, im Ergebnis nicht zu demjenigen Vorgehen, dass die Mitgliedstaaten beim Verfassungsvertrag gewählt hatten, nämlich die Erläuterungen als Bestandteil einer „Erklärung“ Nr. 12 zu verlautbaren. Auch diese Erklärung stellte nämlich bei Lichte besehen nichts anderes als ein Mittel zur Veröffentlichung dar: Zwar gehören gemeinschaftliche Erklärungen, die die Parteien beim Abschluss von völkerrechtlichen Verträgen abgeben und die die Auslegung des Vertrags oder
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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einzelne seiner Bestimmungen betreffen124, zum in der Auslegung zu berücksichtigenden Zusammenhang außerhalb des Vertragstextes gem. Art. 31 Abs. 2 WVRK125. Ihr Inhalt erlangt damit zwar keine unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit126, gem. 31 Abs. 2 lit. b WVRK aber eine größere rechtliche Bedeutung als etwa travaux préparatoires, die unter Art. 32 WVRK fallen127. Solche Erklärungen kommen vor allem beim Abschluss der (Änderungsverträge der) Unionsund Gemeinschaftsverträge zustande. Sie sind regelmäßig in der Schlussakte, die den geschlossenen Vertrag und die Protokolle zusammenfasst, zusammen mit den Erklärungen einzelner Vertragsstaaten128 enthalten129. Der Form nach handelte es sich auch bei der Erklärung Nr. 12 zum Verfassungsvertrag um eine solche Erklärung130. Hingegen hätten, angewandt auf die Erklärung Nr. 12, diese Grundsätze hinsichtlich der Charta-Erläuterungen keine Rechtswirkungen dergestalt entfaltet, dass die Erläuterungen hierdurch im Rahmen der Auslegung der Charta zu berücksichtigen gewesen wären131. Denn im Unterschied zu anderen Erklärungen132 be-
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R. Jennings / A. Watts, Oppenheim’s International Law, Bd. 1, 9. Auflage 1996, § 586, § 577, S. 1189. 125 Vgl. R. Jennings / A. Watts, Oppenheim’s International Law, Bd. 1, 9. Auflage 1996, § 577, S. 1189. 126 R. Jennings / A. Watts, Oppenheim’s International Law, Bd. 1, 9. Auflage 1996, § 577, S. 1189; vgl. J. Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 311 EGV Rdnr. 7. 127 W. Heintschel von Heinegg, § 11. Auslegung völkerrechtlicher Verträge, in: Ipsen (Hrsg.), Völkerrecht, 5. Auflage 2004, Rdnr. 18. 128 Siehe R. Jennings / A. Watts, Oppenheim’s International Law, Bd. 1, 9. Auflage 1996, § 614, Fn. 3. 129 Schlussakte der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 26. 2. 2001 (Vertrag von Nizza), abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 147; Schlussakte der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten vom 2. 10. 1997 (Vertrag von Amsterdam), abgedruckt ebenda, Nr. 147a; Schlussakte der Konferenz der Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (Vertrag von Maastricht) vom 7. 2. 1992, abgedruckt ebenda, Nr. 148. 130 Es ist zwar umstritten, inwiefern hier die völkerrechtlichen Grundsätze, insbesondere Art. 31 Abs. 2 lit. b WVRK, unmittelbar anzuwenden sind. Dies wirkt sich aber nach herrschender Ansicht im Ergebnis nicht aus, da die Erklärungen jedenfalls – ungeachtet der dogmatischen Begründung – im Rahmen der Auslegung des Primärrechts beachtlich sind; K. Schmalenbach, in: Callies / Ruffert, EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 311 EGV Rdnr. 4; M. Herdegen, ZHR 1991, 52 (58 f.); a. A. A. G. Toth, CMLR 23 (1986), 803 (810 f.). Nichtsdestotrotz wurden sie in der bisherigen Spruchpraxis des EuGH wohl eher vernachlässigt; J. Kokott, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 311 EGV Rdnr. 7. Dies lässt sich auch damit erklären, dass in der Vertragspraxis diese Erklärungen beachtet werden, so dass es regelmäßg einer gerichtliche Klärung nicht bedarf, so M. Herdegen, ZHR 1991, 52 (59). Vgl. zur Anwendung C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 127, Fn. 316 (arg. a fortiori). 131 So offenbar M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 18. 132 Siehe die den jeweiligen Schlussakten beigefügten Erklärungen in: Sartorius II, Nrn. 148 (z. B. Erklärung [Nr. 8]), 147a, 147; auch die Erklärungen anlässlich des Abschlusses des Verfassungsvertrags, ABl.EU C 310 vom 16. 12. 2004, S. 1 (420 ff.).
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
tonte die Erklärung Nr. 12 insbesondere in dem einleitenden, den Erläuterungen vorangestellten Satz, dass es sich um eine eigenständige und eigenverantwortliche Arbeit der Präsidien der Konvente handelt133. Die Formulierungen, die Konferenz nehme hiervon Kenntnis, und, es handele sich um unter der Leitung des Präsidiums bzw. unter Verantwortung des zweiten Präsidiums aktualisierte Erläuterungen, brachte dies auf den Punkt. Die so eingeleitete inhaltliche Distanzwahrung der Erklärung zu den Erläuterungen ging sogar so weit, dass die Zählung der Artikel, die erläutert wurden, in der Fassung der proklamierten Charta, und nicht der des Verfassungsvertrags, verwendet wurde. Die Verfassungsvertragliche Zählung der Chartaartikel war lediglich in Fußnoten angegeben, die nicht von den Verfassern der Erläuterungen, also den Präsidien der Konvente, stammten134. Der Umstand, dass die Erläuterungen zur Charta bei formeller Betrachtung einen Bestandteil der Erklärung Nr. 12 bildeten, sollte nach dem Willen der Erklärenden also nicht dahingehend verstanden werden, dass sie sich diese durch die Erklärung auch inhaltlich zu eigen gemacht hätten135. Folglich hatten die Vertragsstaaten zwar der Form nach die Erläuterungen in die gemeinsame Erklärung Nr. 12 aufgenommen. Deren Aussage beschränkte sich aber darauf, dass die Erläuterungen zur Kenntnis genommen und wiedergegeben werden und dass sich die Vertragsstaaten diese hierdurch nicht zu eigen machten. Damit konnten die Erläuterungen als Bestandteil der Erklärung Nr. 12 nicht als Willensbekundung der Vertragsstaaten zur Auslegung des Verfassungsvertrags verstanden werden, sondern als bloße Wiedergabe einer solchen, und zwar fremden Willensbekundung, wie der Verfassungsvertrag auszulegen sei. Als Bestandteil der Erklärung Nr. 12, die der Schlussakte enthalten waren, waren die Erläuterungen aber Gegenstand der amtlichen Veröffentlichung, und zwar sowohl auf mitgliedstaatlicher Ebene, als auch auf Unionsebene136. Damit diente die Erklärung Nr. 12 auf, soweit ersichtlich, beispiellose Art und Weise dazu, die Erläuterungen einer Veröffentlichung zuzuführen137.
133 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (349). 134 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (349). Siehe Aktualisierte Erläuterungen zum Text der Charta der Grundrechte, die unter der Leitung des Vorsitzenden der Gruppe II erstellt und vom Präsidium gebilligt worden sind, Dokument CONV 828/1 / 03, REV 1, vom 18. 7. 2003, abrufbar: siehe Fn. 17. 135 Vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 126. 136 ABl.EU C 310 vom 16. 12. 2004, S. 1. 137 Vgl. bereits den Vorschlag des Vorsitzes der Regierungskonferenz: Dokument CIG 52/03, PRESID 10, vom 25. 11. 2003, S. 3, abrufbar: siehe Fn. 83.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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Mit der Veröffentlichung der Erläuterungen im Amtsblatt C anlässlich der Neuproklamation der Charta 2007 mit Blick auf den Vertrag von Lissabon wurde diese Verfahrensweise überflüssig. Daher enthält die Schlussakte von Lissabon – zu Recht – auch nicht eine der Erklärung Nr. 12 vergleichbare Erklärung.
5. Ergebnis Gemäß Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. und gemäß Art. 52 Abs. 7 GRCh sind die Erläuterungen im Rahmen der Auslegung von Bestimmungen der Charta zunächst als mögliche Auslegungsvariante in Betracht zu ziehen. Ergibt die autonom unionsrechtliche Auslegung, dass die Lesart der Chartabestimmung, wie sie den Erläuterungen zu entnehmen ist, zumindest einer von mehreren möglichen Auslegungsvarianten entspricht, so ist dieser Auslegung der Vorzug zu geben. Im Ergebnis sind die den Erläuterungen zu entnehmenden Auslegungen mithin so weit wie möglich als primärrechtliches Verständnis der Bestimmungen der Charta zu übernehmen. Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel tritt hinter Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. und Art. 52 Abs. 7 GRCh zurück.
III. Weiter gehende Rolle der Erläuterungen in Anwendung allgemeiner Auslegungsgrundsätze Auch angesichts des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F.138 und des Art. 52 Abs. 7 GRCh erfolgt die Auslegung der Bestimmungen der Charta aufgrund allgemeiner Auslegungsgrundsätze des Unionsrechts139. Über die Auslegungsregel des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. und des Art. 52 Abs. 7 GRCh hinaus und dessen ungeachtet stellt sich daher die Frage, ob den Erläuterungen auch im Rahmen der Anwendung allgemeiner methodischer Grundsätze eine Bedeutung beizumessen ist140. In der Literatur finden die Erläuterungen der Sache nach oftmals im Rahmen einer genetischen, subjektiv-historischen, Auslegung Berücksichtigung141. Auch ist es verbreitet, die Erläuterungen als Ausdruck eines ‚Konventswillens‘ zu be138 Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007, S. 42. 139 Siehe oben Kapitel 3. A. I. 140 Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007, S. 42. 141 H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (373 f.); z. B. M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 365 f.; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 10, 39; auch Auswärtiges Amt, Denkschrift zum Vertrag von Lissabon vom 13. Dezember 2007, 2007, S. 42; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 43.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
greifen142. Letztlich über den topos des gesetzgeberischen Willens wird ein Konventswille143 und als Ausdruck dessen auch die Erläuterungen auch auf diesem Weg in die Auslegung der Charta einbezogen144. Schließlich wird sogar vertreten, die Auflistungen sich entsprechender Charta- und Konventionsrechte, die der Erläuterung zu Art. 52 enthalten sind, seien im Grunde quasi-verbindlich, weil der „Konsens“ der Konvents sich auf diese erstreckt habe145. Diese Argumentation erinnert an das „Konsensverfahren“, mit dem die Konvente die Charta und den Verfassungsvertragsentwurf146 angenommen haben. Demgegenüber ist zum einen nach europarechtlich überkommenem Verständnis der Genese bei der Auslegung des Primärrechts eine nur geringe Bedeutung beizumessen147. Die Berücksichtigung eines „Konventswillens“ erscheint zum anderen problematisch im Hinblick auf die Rolle der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“.
1. Dokumentarischer Charakter der Erläuterungen Wenn in der Auslegung der Charta auf eine genetische, subjektiv-historische, Auslegung abgestellt wird und im Rahmen dessen die Charta-Erläuterungen Berücksichtigung finden, setzt dies voraus, dass den Erläuterungen insofern ein gewisser dokumentarischer Wert beizumessen ist148. Ein solch dokumentarischer Charakter der Erläuterungen drängt sich auf den ersten Blick nicht auf. Die Erläuterungen sind inhaltlich vielschichtig149. Es sind auch eigene Aussagen darüber enthalten, wie bestimmte Chartarechte auszulegen sind, oder zumindest, wie das Ergebnis der Rechtsanwendung sein soll. Zunächst enthalten die Erläuterungen zu einem großen Teil die Wiedergabe von Gesetzeswortlaut anderer Rechtstexte, insbesondere von Bestimmungen der EMRK. In den Fassungen vor der Veröffentlichung im Amtsblatt der EU anläss142 Z. B. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 126 f.; S. 173 ff. (176 ff.); A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (394). 143 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 127. 144 K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, S. 149 ff. 145 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. Deutlicher in der Vorauflage: M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 146 Vertrag über eine Verfassung für Europa, Entwurf des „Europäischen Konvents“, ABl.EU C 169 vom 18. 7. 2003, S. 1: „Vom Europäischen Konvent im Konsensverfahren angenommen am 13. Juni und 10. Juli 2003“. 147 W. Schroeder, JuS 2004, 180 (183). 148 H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (373 f.). 149 Vgl. die Darstellung von C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 130 ff.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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lich der erneuten Proklamation der Charta 2007 waren die Erläuterungen sogar, noch mehr einem Gesetzeskommentar vergleichbar, nicht nur nach den Artikeln der Charta gegliedert, sondern enthielten am Anfang einer jeweiligen Erläuterung auch den Wortlaut der erläuterten Chartabestimmung. Mit der Veröffentlichung 2007 ist diese Wiedergabe des Wortlauts der Chartabestimmungen weggefallen, was die Länge des Textes der Erläuterungen um ein gutes Viertel gekürzt hat. Nach wie vor geben die Erläuterungen aber den Wortlaut einschlägiger Artikel der EMRK wieder, insbesondere wenn diese gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh von Bedeutung sein sollen150. Darüber hinaus werden inhaltlich bedeutsame Rechtsprechungslinien, insbesondere des EuGH, angeführt. Schließlich wird aber auch zu verbleibenden Auslegungsunklarheiten Position bezogen. In alledem fassen die Erläuterungen, die fortwährend in Begleitung der Tätigkeit des Grundrechtekonvents erstellt worden sind151, die Beratungen des Konvents und deren Ergebnisse zusammen152. In Ermangelung von Abstimmungen und Abstimmungsergebnissen sowie amtlicher Protokolle der Konventsberatungen geben die Erläuterungen somit Aufschluss über die Diskussionen im Grundrechtekonvent und deren Ergebnisse. Es wird darauf hingewiesen, dass nicht alles im Grundrechtekonvent zur Diskussion gestellt war, was Eingang in die Charta gefunden hat153. Hat aber eine Diskussion stattgefunden und hat sich dies auch in einer entsprechenden Ausführung der Erläuterungen niedergeschlagen154, dann wird man diesen bei aller Vorsicht zugestehen müssen, dass sie zumindest anscheinsweise das Ergebnis der Diskussion, den Kompromiss insofern auch zutreffend wiedergeben, auch wenn die Erläuterungen selbst nicht zur Abstimmung gestellt wurden155. Weil die Bestimmungen der Charta zum größten Teil ihren Ursprung in dem Entwurf haben, der während der Diskussionen des Grundrechtekonvents und in Rückkopplung zu diesen entstanden ist156, geben die so dokumentierten Konventsberatungen letztlich auch Aufschluss über die Entstehungsgeschichte der
150
Und zwar in allen Sprachfassungen, entsprechend Art. 55 Abs. 1 Halbsatz 1 a. E. EUV
n. F. 151
S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 65 f. 152 Anders stellt sich die Bedeutung der Charta-Erläuterungen im Verhältnis zu den Beratungen des Europäischen Konvents dar, so C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 116 ff. 153 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 154 Vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 131 und 134. 155 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 66 und Fn. 255. 156 Zur Rolle des Konventspräsidiums sogleich.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
Norm157. In Ermangelung amtlicher Protokolle der Beratungen158 könnten die Erläuterungen insofern im Rahmen einer genetischen Auslegung herangezogen werden.
2. Berücksichtigung entstehungsgeschichtlicher Momente bei der Auslegung von Primärrecht Indes stünde ein Abstellen auf eine genetische Auslegung selbst in einem gewissen Gegensatz zum herkömmlichen Verständnis des Gemeinschaftsrechts. Denn bei der Auslegung von Primärrecht wird gemeinhin der genetischen Auslegungsmethode ein vergleichsweise geringes, wenn nicht sogar zu vernachlässigendes Gewicht beigemessen159 – nicht zuletzt in der Spruchpraxis des EuGH160. Hiermit einher geht die Tatsache, dass die travaux préparatoires der Gemeinschaftsverträge lange unveröffentlicht geblieben waren161. Sieht man in den Erläuterungen eine teilweise Offenlegung der Entstehungsgeschichte von Bestimmungen der Charta und sollen die Erläuterungen im Rahmen einer genetischen Auslegung berücksichtigt werden, gilt es den bisherigen methodischen Ansatz, eine genetische Auslegung von Primärrecht zu meiden, zu hinterfragen. Die Frage ist, ob insbesondere die Erläuterungen und die Umstände, aus denen die Charta hervorgegangen ist – angefangen mit dem „Mandat von Köln“ über die sog. Konvente bis hin zu den Regierungskonferenzen – eine andere Gewichtung der Methoden zugunsten der genetischen Auslegung rechtfertigen162. 157 J. B. Liisberg, Does the EU Charter of Fundamental Rights Threaten the Supremacy of Community Law?, Jean Monnet Working Paper 4/01, New York 2001, S. 19; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1137, Fn. 31); H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (374). 158 N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 14. 159 W. Schroeder, JuS 2004, 180 (183); T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 8 Rdnr. 25; F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 68 ff.; C. Buck, Über die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaft, 1998, S. 143 ff. (146); I. Pernice / F. C. Mayer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 220 EGV Rdnr. 53; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 128. 160 EuGH, Urteil vom 11. 2. 2003, verb. Rs. C-187/01 und C-385/01, Gözütok, Slg. 2003, S. I–1345, Rdnr. 41, 46. 161 Schulz / Hoeren (Hrsg.), Dokumente zum Europäischen Recht, Bd. 1: Gründungsverträge. Dokumente der Regierungskonferenzen werden mittlerweile, beginnend mit der Regierungskonferenz, die in dem Abschluss des Vertrags von Amsterdam endete, auf den Webseiten des Rates der Europäischen Union veröffentlicht (abrufbar: siehe Fn. 83), ohne dass dieser Umstand, soweit ersichtlich, die allgemeine Zurückhaltung hinsichtlich der genetischen Auslegungsmethode gemindert hätte. 162 Vgl. I. Pernice / F. C. Mayer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 220 EGV Rdnr. 53.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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Die geringe Bedeutung der genetischen Auslegung des Primärrechts in der überkommenen Rechtsprechung des EuGH dürfte allerdings weniger ihren Grund darin finden, dass die travaux préparatoires unveröffentlicht geblieben waren, auch wenn dieses Argument nicht selten ins Felde geführt wird. Demgegenüber wird nicht ganz zu Unrecht darauf hingewiesen, dass dem EuGH die Möglichkeit nicht prinzipiell verwehrt war, anderweitig Kenntnis von der Genese der Vertragsbestimmungen zu nehmen163, etwa im Rahmen der Prozessführung durch die Mitgliedstaaten. Der Hinweis auf die Problematik mangelnder Authentizität der insofern zur Verfügung stehenden Quellen wäre zwar nicht von der Hand zu weisen164. Indes kann angenommen werden, dass im Rahmen der Prozessführung durch die Mitgliedstaaten vor dem EuGH die tatsächliche Genese der Bestimmungen dann ans Licht getreten wäre, wenn der EuGH auf eine genetische Auslegung maßgeblich abgestellt hätte. Letztlich dürfte der mangelnde Rückgriff auf eine genetische Auslegung des Primärrechts durch den EuGH in der Vergangenheit darauf zurückzuführen sein, dass die Gemeinschaft als Integrationsverband und die Rolle des EuGH als gemeinschaftliches Organ integrationsfördernd begriffen wurde165. Demgegenüber hätte eine genetische Auslegung eine evolutive, integrationsfördernde Rechtsprechung wohl kaum ermöglicht. In der Tat würde zumindest eine Überbetonung einer genetischen Auslegung des Primärrechts dem Charakter der Gemeinschaft resp. der Union als Rechtsgemeinschaft der europäischen Integration nicht gerecht werden166. Ob dies auch mit Blick auf die Unionsgrundrechte, die den supranationalen Hoheitsträger binden und somit ein für die Integration eher retardierendes, denn intetragtionsförderndes Moment haben, erscheint aber fraglich. Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass jedenfalls aus der jüngeren Änderung der Veröffentlichungspraxis der Regierungskonferenzen hin zu einer – übrigens fragmentarischen167 – Offenlegung der Verhandlungsprozesse jedenfalls per se keine unmittelbaren rechtlichen Folgerungen für die gemeinschaftsrechtliche Auslegung von Primärrecht im Sinne einer gesteigerten Bedeutung der Genese zu ziehen sind. Vielmehr erscheint es gemäß den allgemeinen Grundsätzen grundsätzlich geboten, nach wie vor Zurückhaltung bei der genetischen Auslegung von Primärrecht zu üben. Dass eine genetische Auslegung einer evolutiven Rechtsprechung im Wege stehen kann, lässt aber die Erläuterungen in anderer Hinsicht als besondere Tarierung der 163
P. M. Huber, Das Recht der Europäischen Integration, 2. Auflage 2002, § 10 Rdnr 10. M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 9. 165 Etwa C. Calliess, NJW 2005, 929 (933). 166 F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 69; J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, S. 247 ff. 167 Kritisch auch C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 128, Fn. 318. 164
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
primärrechtlichen Auslegung erscheinen. Denn die Einfügung des Art. 52 Abs. 7 GRCh und des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F. in das Primärrecht und deren Bezugnahme auf die Erläuterungen war von Gegnern eines schriftlichen, primärrechtlichen Grundrechtskatalogs u. a. als Garant dafür verstanden worden, dass sich der zukünftige unionale Grundrechtsschutz inhaltlich nicht allzu weit von den überkommenen Rechtsprechungslinien entfernen würde168. Denn die Erläuterungen weisen auf die Herkunft der Bestimmungen der Charta hin, was auch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F. zur Sprache bringt. In diesem Licht kann die Anordnung der Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F. und des Art. 52 Abs. 7 GRCh selbst als Stärkung der genetischen Auslegung bewertet werden. Indes bliebe diese positivierte Tarierung gemeinschaftsrechtlicher Auslegungsmethoden zunächst – als Resultat einer Vorschrift des Primärrechts – auf den Anwendungsbereich dieser Vorschrift beschränkt. Die Auslegungsgrundsätze als solche werden hierdurch nicht modifiziert169. Auch wenn somit Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F. und Art. 52 Abs. 7 GRCh selbst als primärrechtliche Steigerung der Bedeutung genetischer Auslegung verstanden werden kann, bleibt als Zwischenergebnis festzuhalten, dass für sich, in ihrem dokumentarischen Charakter, die Erläuterungen im Rahmen der allgemeinen Auslegungsgrundsätze nicht, jenseits der Anordnung des Art. 52 Abs. 7 GRCh, für eine genetische Auslegung der Charta als Primärrecht zu berücksichtigen sind.
3. Insbesondere: Die Erläuterungen als Ausdruck eines „Konventswillens“ oder „Konventspräsidiumswillens“ In der Literatur ist mit Blick auf die für die Auslegung der Charta, insbesondere des Art. 52 Abs. 3 GRCh, anzuwendenden Methoden der topos des „Konventswillens“ verbreitet170. Hierbei werden gerade die Erläuterungen als Ausdruck dieses Konventswillens verstanden, indem etwa angenommen wird, der abschließende Konsens des Grundrechtekonvents habe sich auf diese erstreckt171. Die Argumentationsfigur „Konventswille“ hat ihre Wurzeln in einer Zeit, als die Charta nur als proklamierte Fassung bestand und als eine Rechtsverbindlichkeit der Charta noch nicht konkret absehbar war172. Mangels einer Vorschrift vergleichbar der des Art. 52 Abs. 7 GRCh lag es nahe, die Erläuterungen im Rahmen 168
Siehe oben Kapitel 3. A.II.1.b). Insofern kommt den Charta-Erläuterungen im Rahmen der Auslegung eine „Ausnahmestellung“ zu; vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 125 ff. (128). 170 Z. B. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 127. 171 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 172 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 31 (vgl. Rdnr. 43). 169
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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der überkommenen Auslegungsmethoden fruchtbar zu machen. Hierbei knüpft der topos des Konventswillens ersichtlich an die Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens an173. Als sich die Einberufung einer Regierungskonferenz gem. Art. 48 Abs. 2 Satz 1 EU noch nicht abzeichnete, erschien die Rolle des Grundrechtekonvents in besonderem Maße ungeklärt, zumal – anders als gem. Art. 48 Abs. 3 EUV n. F., demzufolge regelmäßig174 ein Konvent zur Vorbereitung von Regierungskonferenzen und Vertragsänderungen vorgesehen ist – das einschlägige Primärrecht, insbesondere Art. 48 EU, ein solches Gremium nicht kennt. Argumentationen wie die soeben erwähnte werden mit dem Vertrag von Lissabon per se nicht gegenstandslos, da die zugrunde liegenden Annahmen nicht obsolet geworden sind. Auch ist nicht zu erwarten, dass aus dem im Vergleich zum Verfassungsvertrag fehlenden Antlitz einer Staatsverfassung des Vertrags von Lissabon in der Literatur ausnahmslos die Konsequenz gezogen werden wird, dass der – zuvor in der Auslegung berücksichtigte – Konventskontext nunmehr schlechthin ausgeblendet wird. Denn die genannten Argumentationsfiguren stützen sich auf Umstände, die mit dem Vertrag von Lissabon – im Vergleich sowohl zur bloß proklamierten Charta als auch zum Verfassungsvertrag – als solche nicht entfallen sind. Dies sind insbesondere die Tätigkeit der besagten Konvente, deren Funktion und deren Zusammensetzung sowie die Tatsache, dass auch der Vertrag von Lissabon, wie bereits der Verfassungsvertrag, inhaltlich in weiten Teilen den Konventsentwürfen entspricht. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Charta. Insbesondere war der Argumentationstopos „Konventswille“ bereits zum Zeitpunkt der Unterzeichnung des Verfassungsvertrags, auch bezogen auf die Charta als Teil des Verfassungsvertrags, wirkmächtig. Für die Auslegung des Primärrechts nach dem Vertrag von Lissabon steht nichts anderes zu erwarten. Die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh bedarf somit einer vorherigen Erhellung dieses topos hinsichtlich einer (zusätzlichen) Berücksichtigung der Charta-Erläuterungen. Für die Einordnung der Erläuterungen, die sich selbst als „unter der Verantwortung“ der Präsidien „formuliert“ bzw. „aktualisiert“ bezeichnen175, als etwaigen Ausdruck eines Willens der Konvente ist zunächst zu bestimmen, wem sie als Träger eines entsprechenden Willens zuzurechnen sind. Dies ist maßgebend für die Frage, ob und inwiefern der Wille dieses Trägers in der Auslegung zu berücksichtigen ist. Dass es hierauf ankommt, wird daran deutlich, dass die Berücksichtigung des gesetzgeberischen Willens als Auslegungsmethode an den Willen des173
K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, S. 149 ff. 174 Zur Ausnahme siehe Art. 48 Abs. 3 UAbs. 2 EUV n. F. Siehe zu den sogenannten vereinfachten Änderungsverfahren, die teilweise die bisherigen sogenannten kleinen Vertragsänderungsverfahren ersetzen, Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV n. F. 175 Einleitender Absatz, Satz 1 bzw. Satz 2, der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
jenigen anknüpft, der als der rechtliche Urheber des Gesetzes, als Rechtsetzer, erscheint176.
a) Zurechnung zum Konvent Über die Erläuterungen wurde, genauso wie über die Charta, in keinem der beiden Konvente abgestimmt177. Es fehlt eine formelle Willensäußerung eines dieser Kollegien etwa im Wege eines Beschlusses178. Die Verbindlichkeit oder zumindest Quasi-Verbindlichkeit der Auflistungen179 als Teil der Erläuterungen wird aber damit begründet, der „abschließende Konsens“ des Konventes habe sich nicht nur auf die Charta, sondern auch auf diese Auflistungen erstreckt180. Hiermit wird offenbar auf das „Konsensverfahren“ Bezug genommen: Der Präsident des Europäischen Konvents hat den Inhalt des Konventsentwurfs und das Verfahren des Zustandekommens im Konvent nicht nur maßgeblich beeinflusst, sondern diese auch als „im Konsensverfahren angenommen“, also nach seiner Einschätzung zustimmungsfähig181, dem Europäischen Rat übergeben. Somit hat sich jedenfalls der Konventspräsident den Konventsentwurf des Verfassungsvertrags zu eigen gemacht. Dieser entsprach letztlich, zumindest auch, seinem Willen. Mit dem Argument, der Verfassungsvertragsentwurf sei Gegenstand des „Konsensverfahrens“ gewesen, soll aber darüber hinaus der Verfassungsvertragsentwurf einem Konventswillen zugerechnet werden. Diese Argumentation 176 Vgl. F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 65 f. 177 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 66 und Fn. 255; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 114; a. A. offenbar K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (29). 178 T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 43. 179 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 66; M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 14; C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 114. 180 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 181 Entsprechendes gilt bereits für die Charta und den Grundrechtekonvent. Siehe das Schreiben des Präsidenten des Grundrechtekonvents an den Vorsitzenden des Rates vom 5. 10. 2000, Dokument CHARTE 4960/00, CONVENT 55, vom 26. 10. 2000, S. 2: „Deshalb habe ich im engen Benehmen mit den stellvertretenden Vorsitzenden des Konvents zur Erarbeitung der Charta festgestellt, dass dieser Text für alle Seiten zustimmungsfähig ist.“, abrufbar: siehe Fn. 12.
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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liegt der Erstreckung eben dieses Konsenses auch auf die Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 zugrunde. Mit „Konsensverfahren“ ist in diesem Zusammenhang gemeint, dass der Konventspräsident bei der Sitzung des Konvents feststellte, dass der Verfassungsvertrag (im Grundrechtekonvent: die Charta) mehrheitsfähig sei. Es handelt sich somit um eine materielle Einschätzung des Konventspräsidenten, der Verfassungsvertrag fände die Zustimmung von einer Mehrheit im Konvent, würde also von ihm angenommen, wenn eine Abstimmung stattfinden würde. Hieraus rechtliche Folgerungen zu ziehen, erscheint jedoch zweifelhaft. Denn es geht letztlich um eine Einschätzung des Konventspräsidenten. Ob eine Mehrheit bestand, steht nicht fest. Auf der anderen Seite rechtfertigt zwar der Umstand, dass keine Abstimmung stattgefunden hat, allein nicht die Annahme, es habe tatsächlich keine Mehrheitsfähigkeit in dem vom Konventspräsidenten eingeschätzten Sinne bestanden, andernfalls eine Abstimmung stattgefunden hätte. Das materiell-wertende Feststellen der Mehrheitsfähigkeit durch den Konventspräsidenten („Konsensverfahren“) genügt aber demokratischen und rechtstaatlichen Anforderungen an die Förmlichkeit von Abstimmungen von Kollegien nicht. Diese stellen aus gutem Grund auf ein formalisiertes Verfahren ab. Ein ‚materieller‘, gespürter Konsens kann nicht die Grundlage für rechtliche Folgerungen sein. Damit stellt der „Konventsentwurf“ in der Sache allenfalls einen Entwurf des Konventspräsidenten oder des Konventspräsidiums dar. Für die hier interessierende Fragestellung, ob der materielle Konsens sich auch auf die Auflistungen der Erläuterungen erstreckt hat, was sich mangels Förmlichkeit gerade nicht feststellen lässt, kommt es damit nicht an182. Diese Vorgehensweise im Konvent ist nicht dem ebenfalls als Konsensverfahren bezeichneten, nicht-förmlichen Abstimmungsverfahren des Europäischen Rat (Art. 4 EU) in Verwechslung zu bringen. Hier kommen, unter Wahrung des regelmäßigen Erfordernisses der Einstimmigkeit, Beschlüsse zustande, wenn keine Gegenstimme erhoben wird183.
b) Zurechnung zum Konventspräsidium Somit ist zu fragen, ob die Erläuterungen zumindest als Äußerung eines Konventspräsidenten- oder Konventspräsidiumswillens anzusehen sind184. Zwar sind selbst insofern Zweifel angebracht, weil die Erläuterungen tatsächlich von Be182 Eine Zurechnung zum Konvent ebenfalls verneinend: C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 127. 183 M. Hilf / E. Pache, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 4 EUV Rdnr. 18. 184 H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (377).
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
amten des Juristischen Dienstes der Kommission erarbeitet worden sind, worauf die Formulierung „unter der Leitung des Präsidiums des Konvents zur Ausarbeitung der Charta formuliert und unter der Verantwortung des Präsidiums des Europäischen Konvents aktualisiert“185 (Hervorhebung des Verf.) hinweisen186. Gerade aber weil die Konventspräsidien diese Arbeiten geleitet und verantwortet haben, ist ihnen, ungeachtet des Maßes einer tatsächlichen Einflussnahme, das Ergebnis dieser Arbeiten, die Erläuterungen, zuzurechnen. Auf die Frage, ob Chartaentwurf, Verfassungsvertragsentwurf oder Erläuterungen dem Präsidium als Kollegium, was ebenfalls in Frage gestellt werden könnte187, oder sogar nur dem Präsidenten zuzurechnen sind, kommt es hier letztlich nicht an, da insofern nicht ersichtlich ist, welche Unterschiede sich in der rechtlichen Einordnung ergeben könnten. Im Einklang mit den amtlichen Texten, insbesondere mit dem Primärrecht188 soll im Folgenden davon ausgegangen werden, diese seien dem Präsidium als Ganzem zuzurechnen.
c) Rechtliche Einordnung Damit bleibt zu klären, welche rechtliche Bedeutung den Erläuterungen als Äußerung des Konventspräsidiumswillens zukommen kann. Da weder Charta noch Vertrag von Lissabon Akte der Verfassunggebung sind189, sind die Konvente nicht als verfassunggebende Versammlungen anzusehen190. Vielmehr ist für die Berücksichtigung eines gesetzgeberischen Willens entscheidend, dass die Rechtsetzung der Unionsverträge und damit auch des Vertrags von Lissabon durch die Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ erfolgt. Die Bedeutung von Konventspräsidium und Konvent als Vorbereiter der Regierungskonferenz ist als unionales Novum191 in die überkommenen Grundsätze einzuordnen. 185
Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 115. 187 C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 115. 188 Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel; einleitender Absatz der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der am 12. 12. 2007 erfolgten Proklamation der Charta veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 189 P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (442 f.). 190 Der Europäische Konvent ist in rechtlicher Hinsicht kein supranationaler „Verfassungskonvent“, keine verfassunggebende (Supra-)Nationalversammlung. Siehe T. Oppermann, DVBl. 2004, 1264 (1267 ff.). 191 Ein Konvent ist auch unionsrechtlich nicht für die Vorbereitung einer Regierungskonferenz oder Vertragsänderung vorgesehen, Art. 48 Abs. 2 Satz 1 EU. Siehe aber für zukünftige Vertragsänderungen Art. 48 Abs. 3 EUV n. F. 186
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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Zwar ist – gerade auch hinsichtlich der Charta – zu beobachten, dass die letztendliche Vertragsänderung größtenteils inhaltlich dem entspricht, was die Konvente vorgeschlagen hatten192. Dass aber das Vorgeschlagene in weiten Teilen Gegenstand eines Vertrags wurde, hat seinen Grund einzig in der souveränen Entscheidung der Mitgliedstaaten, also darin, dass die Mitgliedstaaten sich durch Vertragsschluss gebunden haben. Es wäre denn auch verfehlt, rechtlich von einer Vorentscheidung der Konvente zu sprechen. Entscheidend für den Akt der Rechtsetzung ist der Vertragsschluss193. Die Vorbereitung dessen mit der Erarbeitung eines Entwurfs wirkt sich auf den Akt der Rechtserzeugung nicht aus und vermag nicht die rechtliche Urheberschaft zu ändern194. Die Rolle des Konvents ist somit vergleichbar mit der Stellung des Dritten im Zivilrecht, der Vertragsinhalte vorbereitet195. In jedem Fall ändert die Tatsache, dass ‚faktisch‘ der Dritte den Vertragsinhalt festlegt, nichts an der freien Verständigung hierauf durch den oder die Rechtsetzer und damit der rechtlichen Bindung der Vertragsparteien196. Die so umrissene Stellung der Konvente wird dadurch bestätigt, dass es die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten waren, die diese Gremien eingerichtet hatten197, und zwar sogar von vornherein zum Zwecke der Vorbereitung von Vertragsänderungen198. In diesem Zusammenhang ist auch die starke Stellung der Präsidien, wie die der Regierungsvertreter in den Konventen zu sehen199. Durch sie stellten die Regierungen sicher, dass aus ihrer Sicht ‚brauchbare‘ Beratungsergebnisse zutage gefördert wurden, also Ergebnisse, die nicht allzu weit von dem entfernt waren, auf das man sich auch im Wege des Vertragsschlusses einigen konnte – andernfalls die Mitgliedstaaten diese schlicht hätten ignorieren können. 192
T. Oppermann, DVBl. 2004, 1264 (1265). P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (442 f.). 194 T. Oppermann, DVBl. 2004, 1264 (1268). 195 D. Medicus, Bürgerliches Recht, 21. Auflage 2007, Rdnr. 45. 196 Vgl. aber, statt vieler: H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (390), der aus einer als höher erachteten Autorität des „Verfassungskonvents“ gegenüber dem Gremium der Rechts- und Sprachsachverständigen konkrete Folgerungen für die Auslegung zieht. 197 Durch Beschluss des Europäischen Rates zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union als Anhang IV (siehe Fn. 8) der Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat in Köln, 3. und 4. 6. 1999, mit dem der Grundrechtekonvent eingerichtet und mit der Ausarbeitung eines Grundrechtskatalogs beauftragt wurde, sowie durch Beschluss des Europäischen Rates, wiedergegeben in den Schlussfolgerungen des Vorsitzes, Europäischer Rat (Laeken), 14. und 15. 12. 2001, SN 300/1 / 01 REV 1, Anlage 1: Erklärung von Laeken zur Zukunft der Europäischen Union, unter „III. Die Einberufung eines Konvents zur Zukunft Europas“, abrufbar: siehe Fn. 8. 198 Auch der Grundrechtekonvent war zu diesem potentiellen Zweck eingerichtet worden, siehe S. 24. 199 Kritisch C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 127; ders., in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 397 (z. B. 414). 193
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
Insofern erscheint die häufig kritisierte starke Stellung des Konventspräsidenten, wie sie nunmehr wohl auch in Art. 48 Abs. 3 UAbs. 1 EUV n. F. angedacht ist (indem dort wiederum das „Konsensverfahren“ aufgegriffen wird), als eine zweckmäßige Rückkopplung zu den Vertragsstaaten, die auf der Grundlage des Konventsentwurfs verhandeln wollen. Die Übernahme der ausdifferenzierten Regelungen, insbesondere der bestehenden Einzelermächtigungen des EG-Vertrages, die ihrerseits mühsam ausgehandelte Kompromisse zahlreicher Vertragsverhandlungen sind, in den Verfassungsvertragsentwurf auf Druck des Präsidiums und damit letztlich der Vertragsstaaten, ist deutlicher Ausdruck dieser Rückkopplung200. In der Tat entwickelten zwar die Beratungen insbesondere des Europäischen Konvents eine gewisse Eigendynamik, ausgehend von einem entsprechenden Selbstverständnis mit ‚Verfassungsimpetus‘. Dies vermochte aber zu keinem Zeitpunkt die ihm zugewiesene Funktion zu ändern. Darüber hinaus ist auch der Wille dieses Gremiums nicht nur dem gesetzgeberischen Willen nach herkömmlichen Verständnis nicht gleich zu setzen, sondern ihm ist auch keine höhere Legitimation beizumessen als dem Willen der vertragschließenden und damit rechtsetzenden Parteien. Die begrüßenswerte201 parlamentarische Rückbindung der Mitglieder vermag ebenso wenig über die Rolle der Konvente als Gremien hinwegzutäuschen, wie die Aura der Verfassunggebung, mit der dieser sich zu umgeben suchte. Es ist zu resümieren, dass die Bedeutung der Konvente ebenso wie der Präsidien in ihrer verhältnismäßig starken Stellung darin liegt, dass sie eine Regierungskonferenz mit dem Ziel eines Abschlusses eines Vertrages, der die bisherigen Gemeinschaftsverträge ändert, vorbereitet haben202. Mit Oppermann sind sie als „parlamentarisiertes Vorbereitungsgremium für die nachfolgende Regierungskonferenz“ zu begreifen203. Die Stellung des Europäischen Konvents entspricht damit wohl derjenigen, wie sie vorbereitenden Konventen zukünftiger Vertragsänderungen zugewiesen ist, Art. 48 Abs. 3 UAbs. 1 EUV n. F. Dies gilt ohne weiteres auch für den Grundrechtekonvent, auch wenn zum Zeitpunkt seiner Beauftragung durch das „Mandat von Köln“ die Aufnahme der Charta in die Verträge lediglich als bloße Möglichkeit vorgesehen war. Dass dieser Konvent möglicherweise für eine Vertragsänderung bedeutungslos hätte werden können, ist insofern und angesichts der tatsächlichen Entwicklung unschädlich, so dass auch dessen Arbeiten als Vorbereitungshandlun200
Siehe Dokument CONV 802/03, vom 12. 6. 2003, S. 1, letzter Absatz; Dokument CONV 618/03, vom 17. 3. 2003; beide abrufbar: siehe Fn. 17. 201 E. Pache, EuR 2001, 475 (483 ff.). 202 P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (448 f.). 203 T. Oppermann, zitiert nach P. Badura, Das Konventsverfahren bei der Europäischen Verfassungsreform, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 439 (448 f.).
A. Erfordernis einer Einbeziehung der Erläuterungen in die Auslegung
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gen einer gem. Art. 48 Abs. 2 Satz 1 EU einzuberufenden Regierungskonferenz einzuordnen sind.
d) Berücksichtigung der Erläuterungen als Ausdruck des Konventspräsidiumswillens Aus der Stellung der Präsidien der Konvente im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten als Herren der Verträge ist zu folgern, welche Bedeutung der Konvents(präsidiums) wille für die Auslegung des gesetzten Rechts hat. Soll der Wille der Rechtsetzer in die Ermittlung der trefflichen Bedeutung der Rechtssätze einfließen, ist auf den Willen der Herren der Verträge abzustellen. Diese haben den Vertrag von Lissabon als Recht gesetzt. Der Konventswille oder Konventspräsidiumswille kann als solcher für die Auslegung nicht maßgeblich sein. Sofern ein etwaiger Konventswille jedoch deckungsgleich mit dem der Vertragsstaaten ist, kann er berücksichtigt werden. Voraussetzung ist, dass er den Willen der Vertragsstaaten abbildet. Er ist maßgeblich, wenn die Mitgliedstaaten sich ihn zu eigen gemacht haben. Gleiches gilt dann aber auch im Verhältnis zum Konventspräsidium. Auch ein Konventspräsidiumswille, der den Willen der Vertragsstaaten abbildet, ist im Rahmen der Auslegung zu berücksichtigen. Ist dies gegeben, spielt es keine Rolle, ob der Konvent oder das Präsidium sich an das ursprünglich erteilte „Mandat“ gehalten haben204. Sowohl Charta als auch Erläuterungen sind als Willensbekundungen in diesem Sinne, und zwar zumindest der Präsidien, zu begreifen. Beide haben sich die Vertragsstaaten auf je unterschiedliche Weise zu eigen gemacht, indem die Charta Bestandteil des geschlossenen Vertrags und die Erläuterungen Gegenstand der Bezugnahme des Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. und des Art. 52 Abs. 7 GRCh geworden sind. Darüber hinaus ergibt sich hier aus der Argumentationsfigur des Konvents(präsidiums)willens kein über diese Positivierungen hinausgehender Mehrwert.
4. Ergebnis Im Rahmen einer genetischen Auslegung, einer Berücksichtigung des Konventspräsidiumswillens erfolgt somit keine resp. keine praktische über die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh primärrechtlich angeordnete hinausgehende Berücksichtigung der Erläuterungen. Insbesondere ist eine primärrechtliche Verbindlichkeit der Auflistungen, die in der Erläuterung zu Art. 52 enthalten sind, durch „Konventskonsens“ nicht zu begründen, da selbst die Tatsache, dass mehrheitlich Parlamentarier in diesen von den Präsidien geleiteten Gremien vertreten waren, nicht 204
Was indes ein weiterer häufig anzutreffender Argumentationstopos ist, siehe S. 57.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
darüber hinwegtäuschen kann, dass für die Rechtsetzung der Abschluss und die Ratifikation des Vertrags von Lissabon durch die Vertragsstaaten maßgeblich sind.
IV. Ergebnis Die Berücksichtigung der Erläuterungen in der Auslegung der Charta ergibt sich kraft Primärrechts, aus Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 Var. 2 EUV n. F. und Art. 52 Abs. 7 GRCh. Abs. 5 Satz 2 Charta-Präambel tritt hierhinter zurück. Eine Stärkung der genetischen Auslegung des Primärrechts überhaupt und das Abstellen auf einen Konvents(präsidiums)willen ist nicht anzunehmen bzw. hat keine über die primärrechtliche Anordnung selbst hinausgehende Bedeutung.
B. Den Erläuterungen enthaltene Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
Über Art. 52 Abs. 3 GRCh erfolgt eine Berücksichtigung von Gehalten der EMRK im Unionsrecht möglicherweise bis hin zu einer vollständigen Einbeziehung von Konventionsrechten in das Grundrechtsregime der Charta. Konventionsrechtliche Gehalte werden im Recht der Charta relevant, wenn Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh anwendbar ist und sie von dieser Norm als „Bedeutung“ und „Tragweite“ eines Rechtes der EMRK bezeichnet werden. Das Maß der Relevanz dieser Gehalte scheint nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh durch die Anordnung zu erfolgen, dass die Chartarechte das als Bedeutung und Tragweite des Konventionsrechts Bezeichnete „haben“. Gegenstand und Intensität dieser chartarechtlichen Bezugnahme auf konventionsrechtliche Gehalte werden in der Literatur entsprechend den dargestellten Auslegungsansätzen unterschiedlich gesehen205. Hinsichtlich der Intensität dieser Bezugnahme reichen die vertretenen Auffassungen von einem Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Hinweis auf eine besonders bedeutsame Rechtserkenntnisquelle, einer Auslegungsregel bis hin zu einer Klausel, die bestimmte Gehalte des Konventionsrechts selbst im Unionsrecht zur Anwendung bringt, sie hierher transferiert206. Die höchste Relevanz gewinnen konventionsrechtliche Gehalte im Recht der Union, wenn Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transferklausel verbunden mit 205
Siehe Kapitel 2. D. Auch nach der Auffassung, die in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine Schrankenklausel sieht, beruht die Anwendung der konventionsrechtlichen Schranken und Schranken-Schranken im Unionsrecht letztlich darauf, dass sie Gegenstand einer Inkorporation sind, so J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 184. 206
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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einem Identitätskonzept verstanden wird, wonach das transferierte konventionsrechtliche Grundrecht und das korrespondierende, geschriebene Chartarecht (also beispielsweise Art. 6 GRCh und Art. 5 EMRK) eins sind. Was Gegenstand der Bezugnahme des Art. 52 Abs. 3 GRCh ist, wird insbesondere von Vertretern, die hierin eine Transferklausel erblicken207, unterschiedlich gesehen. So gehen die Einen von einem Transfer nur bestimmter Elemente des Konventionsrechts aus – also etwa Rechtfertigungsvoraussetzungen (also insbesondere der jeweilige Abs. 2 der Art. 8–11 EMRK), Negativdefinitionen (Art. 52 Abs. 3 GRCh als Schrankenklausel)208. Die Anderen sehen hingegen den Grundrechtsschutz des jeweiligen Konventionsrechts in Gänze als in das Unionsrecht transferiert. Die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh muss diese doppelte Fragestellung nach Intensität und nach Gegenstand der unionsrechtlichen Bezugnahme auf die EMRK beantworten. Sie bestimmt auch den Standort für den von Art. 52 Abs. 7 GRCh geforderten Blick auf die „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“. Hierbei zeigt sich, dass die Erläuterungen zum einen sehr eindeutige Aussagen zum Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh enthalten. Zum anderen erscheinen die Aussagen der Erläuterungen aber auch ihrerseits interpretationsbedürftig. Dies macht es erforderlich, mögliche Lesarten der Erläuterungen in Abgleich mit einer möglichen Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh zu erörtern209.
I. Eindeutige Aussagen der Erläuterung zu Art. 52 Abs. 3 als Auslegungshinweise Aussagen der Erläuterungen, wie Art. 52 Abs. 3 GRCh auszulegen sein soll, sind sowohl der Erläuterung zu Art. 52, als auch den Erläuterungen zu denjenigen Artikel der Charta, die in der Erläuterung zu Art. 52 genannt werden, zu entnehmen.
1. Erläuterung zu Art. 52 Zentrales Element der Erläuterung zu Art. 52 sind die bereits genannten Auflistungen von sich entsprechenden Charta- und Konventionsrechten. Auf diese richtet sich sogar die in der Literatur vertretene Forderung, sie seien im Gegensatz zu 207
Im Rahmen des Verständnisses als Auslegungsregel wird nicht differenziert, werden also sowohl die chartarechtlichen Schutzbereiche, als auch deren Rechtfertigungsvoraussetzungen (insbesondere also Art. 52 Abs. 1 GRCh) im Lichte der jeweiligen konventionsrechtlichen Entsprechungen ausgelegt; so H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 12, 34. 208 Oder sogar nur Schutzbereiche, so N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44. 209 Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte sind auszugsweise abgedruckt im Anhang, unten ab S. 266.
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den sonstigen Erläuterungen als rechtsverbindlich oder zumindest quasi-verbindlich zu behandeln210. Beide Auflistungen führen nach Spiegelstrichen jeweils an, welcher Artikel der Charta welchem Artikel der EMRK entspricht. Nach den Überschriften beider Auflistungen sollen die spiegelstrichweise genannten Artikel der Charta dieselbe Bedeutung haben, wie der jeweils genannte entsprechende Artikel der EMRK. Nach der Überschrift der ersten Auflistung soll jedoch der Chartaartikel auch dieselbe Tragweite haben, wie der entsprechende Konventionsartikel. Die zweite Auflistung unterscheidet sich von der ersten darin, dass bei jedem Spiegelstrich jeweils in einem Nachsatz angeführt ist, inwiefern der genannte Artikel der Charta eine umfassendere Tragweite hat211. Dementsprechend lautet die Überschrift der zweiten Auflistung, dass diese Artikel der Charta zwar dieselbe Bedeutung, jedoch eine umfassendere Tragweite haben.
a) Feststellung von Ergebnissen der Anwendung des Tatbestandes des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Indem die Erläuterung zu Art. 52 auflistet, welche Artikel der Charta und der EMRK sich entsprechen, erscheint der Vorgang der Subsumtion unter den Tatbestand des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bereits abgeschlossen, so dass in der Überschrift der Auflistung die Rechtsfolge, die Artikel der Charta hätten die gleiche Bedeutung und Tragweite, nur noch festgestellt wird. Damit werden für Art. 52 Abs. 3 GRCh bereits die Ergebnisse der Anwendung der Norm angeführt. Auf den ersten Zugriff erscheint die „Interpretationshilfe“212 zu Art. 52 Abs. 3 GRCh damit sehr konkret. Eine gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh gebührende Berücksichtigung dieser Feststellung könnte die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh so ausrichten, dass sie jedenfalls diese Ergebnisse teilt. Die in der Literatur vertretene Ansicht, die Auflistungen seien quasi-verbindlich zugrunde zu legen, knüpft an eben diese Feststellung von Rechtsanwendungsergebnissen an, indem gefordert wird, dass diese als solche zu übernehmen seien213. Freilich wird eingeräumt, dass die Auflistungen auch fehlerhaft sein können214. Nach welchen Maßstäben dies aber zu beurteilen sein soll, wird nicht verdeutlicht. 210 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 32, bzw. ders., in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 211 Die Ausdrucksweise changiert zwischen den Spiegelstrichen. Es ist etwa auch von ausgedehnteren Anwendungsbereichen die Rede (Spiegelstrich 1, 2 und 3). 212 Einleitender Absatz der Erläuterungen zur Charta der Grundrechte. 213 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31, 31b. 214 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b. 32.
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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Würde sich eine gebührende Berücksichtigung der Erläuterung zu Art. 52 darauf beschränken, die von den Auflistungen festgestellten Rechtsanwendungsergebnisse schlicht zu übernehmen, müsste der Interpret des Art. 52 Abs. 3 GRCh sich nicht allzu lange mit den sonstigen Erläuterungen und den Auflistungen, die von vielen auch als wenig gelungen wahrgenommen werden215, aufhalten. Indes liegt den Ergebnissen der Rechtsanwendung des Art. 52 Abs. 3 GRCh, die die Erläuterungen konstatieren, auch ein bestimmtes Verständnis des Tatbestands der Norm zugrunde. Dieses den Erläuterungen zugrunde liegende Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh der Charta, aufgrund dessen die festgestellten Rechtsanwendungsergebnisse zustande gekommen sind, kann ermittelt werden, wenn es gelingt, von den konstatierten Ergebnissen Rückschlüsse auf eben jenes Verständnis zu ziehen. Die Erläuterungen gebührend zu berücksichtigen bedeutet auch, nach Möglichkeit dieses zugrunde liegende Verständnis des Tatbestands des Art. 52 Abs. 3 GRCh zu ermitteln, um es in die Auslegung der Charta einbringen zu können.
b) Hinweise zum abstrakten Verständnis der Norm Neben konkreten Rechtsanwendungsergebnissen und einem hinter diesen stehendem Verständnis der Tatbestandsseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh treffen die Erläuterungen des Art. 52 in ihren Absätzen 3–6 aber auch weitere, abstrakte Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh. Dies betrifft vor allem die Rechtsfolgenseite des Satzes 1, wonach die fraglichen Rechte der Charta die gleiche Bedeutung und Tragweite des entsprechenden Konventionsrechts haben, und es betrifft Satz 2. Angesichts der Kürze und Prägnanz, in der diese Aussagen getroffen sind, sollen sie hier thesenartig benannt werden, damit sie in die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh einfließen: (1) Ziel des Art. 52 Abs. 3 GRCh ist es, die „notwendige Kohärenz zwischen Charta und EMRK“ zu schaffen216. (2) „Bedeutung und Tragweite“ schließen begrifflich „die zugelassenen Einschränkungen“ ein, also zum einen die Frage, ob ein Grundrecht überhaupt einschränkbar ist, und zum anderen die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen217. (3) Hieraus folgt, dass Einschränkungen von den Rechten, die Art. 52 Abs. 3 GRCh erfasst, die gleichen Normen der EMRK einhalten müssen, ohne dass hierdurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des EuGH berührt wird218. 215 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114; T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710, Fn. 90). 216 Abs. 3 der Erläuterung zu Art. 52. Die Erläuterungen zur Charta der Grundrechte sind auszugsweise abgedruckt im Anhang, unten ab S. 266. 217 Abs. 3 der Erläuterung zu Art. 52. 218 Abs. 3 der Erläuterung zu Art. 52.
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(4) Die Bezugnahme des Abs. 3 erstreckt sich auch auf die Protokolle zur EMRK219. (5) Die Bedeutung und Tragweite der Rechte werden nicht nur durch den Wortlaut der EMRK bestimmt, sondern auch durch die Rechtsprechung des EGMR und des EuGH220. (6) Durch Satz 2 werde der Union die „Möglichkeit“ weiter gehenden Schutzes gegeben221. (7) Auch in Wahrnehmung dieser Möglichkeit nach Satz 2 besteht ein Mindestschutz auf Höhe des durch die EMRK gewährleisteten222. (8) Schließlich werden die bereits genannten Auflistungen mit dem Hinweis eingeleitet, es handele sich um derzeitiges Entsprechen, und eine Weiterentwicklung insbesondere der Verträge sei nicht ausgeschlossen223.
2. Erläuterungen solcher Artikel der Charta, die in den Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 genannt sind Die Erläuterungen zu Artikeln der Charta, die die Erläuterung zu Art. 52 auflistet (also z. B. die Erläuterung zu Art. 5, 7 oder 10), gaben in der Fassung der Erklärung Nr. 12 der Schlussakte des Verfassungsvertrags zum sogar überwiegenden Teil bloß Gesetzeswortlaute wieder. Neben dem Wortlaut des entsprechenden Chartarechts, das wie in einem Kommentar einer jeweiligen Erläuterung vorangestellt war, war zumeist auch der Wortlaut der entsprechenden Bestimmungen der EMRK als Zitat wiedergegeben. In der Neuveröffentlichung der Erläuterungen224 anlässlich der Straßburger Proklamation 2007 im Teil C des Amtsblatts der Europäischen Union ist die Wiedergabe der Chartawortlaute weggefallen225, die EMRKWortlaute sind aber nach wie vor enthalten. Sie nehmen einen bedeutenden Umfang der Erläuterungen ein. Insofern sind die Erläuterungen zwar eine praktische Hilfestellung für den Rechtsanwender – zumal in allen 23 Vertragssprachen226 und 219 Abs. 4 der Erläuterung zu Art. 52; vgl. aber auch Art. 5 ZP [Nr. 1]; Art. 6 Prot. Nr. 5; Art. 6 Prot. Nr. 6; Art. 7 Prot. Nr. 7; Art. 5 Prot. Nr. 13. 220 Abs. 4 der Erläuterung zu Art. 52. 221 Abs. 4 der Erläuterung zu Art. 52. 222 Abs. 4 der Erläuterung zu Art. 52. 223 Abs. 6 der Erläuterung zu Art. 52. In Anbetracht dessen, dass die Charta unmittelbar in erster Linie die Union als supranationalen Hoheitsträger bindet [siehe im Einzelnen unter Kapitel 5. C.III.1.a)], dürfte der Hinweis des Abs. 5 der Erläuterung zu Art. 52, die Befugnisse der Mitgliedstaaten des Art. 15 EMRK im Rahmen der Art. 4 Abs. 1 EUV n. F. und in den Art. 72 und 347 AEUV würden nicht berührt, als in erster Linie politisches Signal zu verstehen sein. 224 ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 225 Siehe zu den Änderungen der Neuveröffentlichung oben S. 61. 226 Siehe Kapitel 3. A.II.4.
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nicht nur auf Englisch und Französisch, den einzigen authentischen Vertragssprachen der EMRK227 –, sie enthalten aber keine eigenständige Aussage. Darüber hinaus werden in den Erläuterungen der in der Erläuterung zu Art. 52 aufgelisteten Artikel die Aussagen ebendieser Auflistungen wiederholt. So findet sich in den Erläuterungen zu Artikeln der ersten Auflistung die Aussage, dass der betreffende Artikel der Charta dem der EMRK entspreche228 und dass folglich dieser die gleiche Bedeutung und Tragweite habe. Bei den Erläuterungen zu Artikeln, die in der zweiten Auflistung angeführt sind, heißt es korrespondierend, dass diese Artikel sich entsprächen, sie folglich zwar die gleiche229 Bedeutung, aber in einer bestimmten Hinsicht eine umfassendere Tragweite hätten. In dieser Hinsicht sind die Erläuterungen zu den Artikeln, die die Erläuterung zu Art. 52 auflisten, bloßes Spiegelbild dieser Auflistungen. Ferner wird die in den Erläuterungen dieser Artikel die der Erläuterung zu Art. 52 enthaltene Aussage, die Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK seien im Unionsrecht anzuwenden, für den jeweils erläuterten Artikel konkretisiert. Beispielsweise wird bei Art. 7 GRCh (Achtung des Privat- und Familienlebens), ausgeführt, dass Einschränkungen unter den gleichen Voraussetzungen gestattet sind, wie nach Art. 8 Abs. 2 EMRK, bei Art. 5 GRCh (Verbot der Sklaverei und Zwangsarbeit), dass dieses Recht überhaupt nicht einschränkbar sei sowie, dass hier die Negativdefinitionen nach Art. 4 Abs. 3 EMRK berücksichtigt werden müssten. Insofern exemplifizieren die Erläuterungen der einzelnen Artikel lediglich die Erläuterung zu Art. 52. Über diese Wiedergaben von Gesetzeswortlaut, Spiegelung und Exemplifizierung der allgemeinen Aussagen in der Erläuterung zu Art. 52 hinaus, treffen die Erläuterungen zu den Artikeln, die in der Erläuterung zu Art. 52 aufgelistet sind, kaum weiter gehende Aussagen, insbesondere nicht solche, die weiteren Aufschluss über das zugrunde liegende Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh böten. Daher beziehen sich die folgenden Ausführungen zu den Auflistungen der Erläuterungen zu Art. 52 zugleich auf die Erläuterungen der einzelnen dort aufgelisteten Artikel, ohne dass dies jeweils im Einzelnen kenntlich gemacht wird.
II. Offene Fragen Nach einer ersten Lektüre der Erläuterungen bleiben folgende Fragen zunächst ungeklärt: 227
Schlussformel der EMRK. Mal heißt es im Einklang mit dem Gesetzeswortlaut, dass sich die Rechte, mal, dass sich die Artikel entsprechen, ohne dass insoweit ein inhaltlicher Unterschied zu erkennen ist. 229 Die gleiche und dieselbe Bedeutung / Tragweite wird als deutsche Fassung von même und same ebenfalls changierend, aber ohne einen Bedeutungsunterschied zu implizieren, verwendet. 228
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
1. Sind – neben den konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen – auch die Schutzbereiche der EMRK im Unionsrecht anzuwenden? Zwar geben die einzelnen Erläuterungen teilweise auch diese konventionsrechtlichen Schutzbereiche im Wortlaut wieder. Anders aber als hinsichtlich der Rechtfertigungsvoraussetzungen und der Negativdefinitionen wird bezüglich der konventionsrechtlichen Schutzbereiche nicht ausdrücklich klargestellt, dass sie als solche anzuwenden seien, weil sie als Bedeutung und Tragweite im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh anzusehen seien. Die Artikel der Charta beschreiben aber ebenfalls Schutzbereiche, und zwar in Anlehnung an den Wortlaut der EMRK. Es wird nicht deutlich, ob die Charta hier Schutzbereiche auch selbst normiert und ob diese anzuwenden sind. Freilich sollen nach den Erläuterungen die Artikel der Charta die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ haben. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass die konventionsrechtlichen Schutzbereiche – gewissermaßen selbstverständlich – genauso hierunter fallen, wie die Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen. 2. Inwiefern kommen bewusste Abweichungen, auch geringfügigere, die die Artikel der Charta insbesondere auf Schutzbereichsebene normieren, zur Anwendung? Vergleichbar mit der Wiedergabe der konventionsrechtlichen Schutzbereiche vermeiden die Erläuterungen auch hier eine Aussage dahingehend, ob diese Abweichungen als chartarechtliche Normierungen zur Anwendung gelangen. Beispielsweise heißt es in der Erläuterung zu Art. 7 GRCh (Achtung des Privat- und Familienlebens): „Um der technischen Entwicklung Rechnung zu tragen, wurde der Begriff ‚Korrespondenz‘ durch ‚Kommunikation‘ ersetzt.“ Daraufhin heißt es aber: „Nach Artikel 52 Absatz 3 haben diese Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Rechte aus dem entsprechenden Artikel [Art. 8] der EMRK.“ Würde die Geltung der gleichen Bedeutung und Tragweite beinhalten, dass der konventionsrechtliche Schutzbereich (hier: Korrespondenz) anzuwenden ist, dann wäre die bewusste, andere Setzung der Charta (Kommunikation) gegenstandslos. Jedenfalls stellen die Erläuterungen eine umfassendere Tragweite bei solchen, geringfügigeren, Abweichungen nicht fest. – Dass demgegenüber die potentielle Ausdehnung des Rechts auf Eheschließung auf „andere Formen der Eheschließung“230 eine bloß zeitgemäße Anpassung des Wortlauts sein soll, hat im Vergleich zur Wortlautdivergenz zwischen Korrespondenz und Kommunikation nicht verhindert, dass jenes im Gegensatz zu dieser in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 genannt wird und damit wohl als inhaltliche Änderung begriffen wird.
230 Zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52. In der Erläuterung zu Art. 9 heißt es: „andere Formen als die Heirat zur Gründung einer Familie“.
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3. Welche Bedeutung hat Art. 52 Abs. 1 GRCh im Zusammenhang des Art. 52 Abs. 3 GRCh? Es findet sich in den Erläuterungen keine Aussage zur Anwendbarkeit des Art. 52 Abs. 1 GRCh auf die in den Auflistungen genannten Rechte, auch nicht, wenn dem jeweiligen Chartaartikel eine umfassendere Tragweite beigemessen wird. Insofern ist insbesondere die Frage offen, ob zumindest für Einschränkungen der Artikel der Charta, soweit sie umfassender sind, Art. 52 Abs. 1 GRCh, anwendbar ist231, oder ob auch insofern konventionsrechtliche Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen gelten. Auch eine kumulative Anwendung232 von Art. 52 Abs. 1 GRCh und den konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen ist hiernach weder ein- noch ausgeschlossen. 4. Was ist der Zusammenhang der von den Erläuterungen festgestellten umfangreicheren Tragweiten zum Tatbestand des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, dass Charta- und Konventionsrecht sich entsprechen müssen? Unklar ist, ob die Erläuterungen einen Zusammenhang zwischen den in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 festgestellten umfassenderen Tragweiten und dem Tatbestand des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „entsprechen“ bejahen. Die jeweilige, mit dem Wort „aber“ eingeleitete Aussage eines Spiegelstrichs der zweiten Auflistung, die die umfassendere Tragweite des Chartarechts bestimmt, kann entweder als Einschränkung dessen, dass die Rechte sich entsprechen, verstanden werden: hiernach hätten die Chartarechte eine umfassendere Tragweite als das Konventionsrecht, weil sie sich nicht entsprechen. Oder diese Aussage ist so zu verstehen, dass das Chartarecht eine umfassendere Tragweite hat, obwohl sich die Rechte (auch insofern) entsprechen, also ungeachtet dessen, wobei dann offen ist, warum dennoch diese umfassendere Tragweite gelten soll. 5. Wie ist es zu erklären, dass die in der Charta positivierten Rechte mit umfassenderen Tragweiten, die in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 genannt sind, trotzdem die gleiche233, also konventionsrechtliche, Bedeutung haben sollen? Dies erscheint nur schwer mit dem Gesetzeswortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh selbst in Einklang zu bringen, nach dem ein Chartarecht sowohl die gleiche Bedeutung als auch die gleiche Tragweite hat, wenn es einem Konventionsrecht 231 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 33; N. Bernsdorff, ebenda, Art. 9 Rdnr. 17, Art. 12 Rdnr. 19, Art. 14 Rdnr. 16, 21. 232 K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 ff. (293 f.); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 146 ff., 150 ff.; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 170 f. 233 Die gleiche und dieselbe werden synonym verwendet, siehe oben Fn. 229.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
entspricht234. In der Berücksichtigung der Erläuterungen im Rahmen der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh ist auch zu klären, ob dieser zumindest vordergründige Widerspruch zwischen der auszulegenden Norm und dem Hinweis, wie diese Norm ausgelegt werden soll, erklärbar ist.
III. Lesarten der Erläuterungen als Auslegungsvarianten der Charta Ausschlaggebend für das Verständnis der Charta-Erläuterungen zu Art. 52 Abs. 3 GRCh erscheint die Benennung „umfassenderer Tragweite“ bestimmter Rechte der Charta durch die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 und, ihr folgend, in den Erläuterungen zu den Artikeln, die dort aufgelistet sind. Im Einzelnen handelt es sich um Positivierungen der Charta, die die Erläuterungen auch als „ausgedehntere Anwendungsbereiche“ bezeichnen. So gelten dem Wortlaut der Charta nach die Verfahrensgarantien des Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh für jedwede Gerichtsverfahren – nicht nur für Verfahren, deren Gegenstand zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen sind –, vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK. Der Schutzbereich dieser Garantien ist somit in der Charta weiter positiviert, als in der EMRK. Die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52, 5. Spiegelstrich, stellt ausweislich der Überschrift insofern eine „umfassendere Tragweite“ fest. Dass ganz allgemein die Erläuterungen die umfassenderen Tragweiten auf ausgedehntere Anwendungsbereiche zurück führen, kommt insbesondere darin zum Ausdruck, dass teils von „umfassenderen Tragweiten“, teils von „ausgedehnteren Anwendungsbereichen“ gesprochen wird, ohne dass jeweils in der Sache ein Unterschied auszumachen ist235. „Anwendungsbereich“ meint aber nicht den allgemeinen Anwendungsbereich, der in Art. 51 GRCh geregelt wird, sondern den konkreten Anwendungsbereich des jeweiligen Grundrechts, im deutschen Sprachgebrauch also den Schutzbereich236. Der Sache nach sind die „ausgedehnteren Anwendungsbereiche“ somit Schutzbereiche, soweit sie genuin chartarechtlich umfassender positiviert sind. In dem jeweils in der zweiten Auflistung benannten Teil sind die genuin chartarechtlich beschriebenen Schutzbereiche umfassender als der Schutzbereich des korrespondierenden Rechts der EMRK; beide sind aber im Übrigen deckungsgleich. Indem die Erläuterungen das Umfassendere des genuin chartarechtlich beschriebenen Schutzbereichs ausdrücklich im Zusammenhang mit Art. 52 Abs. 3 GRCh als umfassendere Tragweite benennen, kommt zum Ausdruck, dass jedenfalls das – im Vergleich zum Recht der EMRK – Umfassendere dieser Schutzbereiche auch zur Anwendung gelangt. Jedenfalls insoweit soll es nach 234 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138); J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 116 f. 235 S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (119). 236 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 7; vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 18 Rdnr. 2.
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den Erläuterungen somit zu einer Anwendung genuin chartarechtlicher Bestimmungen kommen. Zugleich impliziert der Umstand, dass ausdrücklich auf die Anwendung genuin chartarechtlicher Schutzbereiche, soweit sie umfassender sind, hingewiesen wird, umgekehrt ein Verständnis, demzufolge regelmäßig entweder die konventionsrechtlichen Schutzbereiche selbst anzuwenden sind oder zumindest der anzuwendende Schutzbereich nicht nennenswert von dem der EMRK abweicht. Dem steht gegenüber, dass nach den Erläuterungen durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh jedenfalls die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen im Recht der Union zur Anwendung gelangen sollen237. Will man von den Erläuterungen auf ein diesen zugrunde liegendes Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh Rückschlüsse ziehen, gilt es vor allem, deren Abgrenzungen für die Anwendung genuin chartarechtlicher Bestimmungen bzw. konventionsrechtlicher Bestimmungen in Art. 52 Abs. 3 GRCh zu verorten. Einen Anhaltspunkt hierfür bieten die Formulierungen der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52. Weil diese nach jedem Spiegelstrich die Aussage, dass Chartarecht habe eine umfassendere Tragweite, mit „aber“238 einleitet, könnte dies entweder ein Hinweis darauf sein, dass insofern das Chartarecht bereits nicht dem in Betracht zu ziehenden Konventionsrecht entsprechen soll, so dass es nicht zur Rechtsfolge gleicher Bedeutung und Tragweite kommt. Oder die Formulierung ist so zu verstehen, dass das „aber“ schlicht auf die Besonderheit der jeweils benannten Konstellation aufmerksam macht. Dass die Tragweite umfassender sein soll, würde dann nicht darauf beruhen, dass der Tatbestand „entsprechen“ nicht vorliegt. Vielmehr wäre ein anderer rechtlicher Gesichtspunkt von Bedeutung.
1. „Entsprechen“ als entscheidendes Kriterium für die Anwendbarkeit bestimmter genuin chartarechtlicher Normen a) Ansatz Möglicherweise wollen die Erläuterungen Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh so verstanden wissen, dass im Falle eines von der Charta umfassender positivierten Schutzbereichs Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh jedenfalls insoweit bereits nicht greift. Darauf könnte die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 mit der jeweiligen Aussage hindeuten, das Chartarecht und das Konventionsrecht entsprächen sich zwar, aber die Tragweite sei wegen der jeweils umschriebenen genuin chartarechtlichen Positivierung umfassender. Die Geltung genuin chartarechtlicher, umfassenderer Tragweiten würde also mit einer bloß partiellen Anwendung, einem partiellen „Entsprechen“ im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, begründet werden können. In dieser Sicht würde „Entsprechen“ nicht vorliegen, weil die Schutzbe237 238
Siehe oben S. 99 f., Thesen 2 f. und unter Kapitel 3. B. I.2. Engl.: but, frz.: mais.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
reiche der Charta und der EMRK sich nicht decken. Soweit sie sich decken, „entsprächen“ sie sich, würde die konventionsrechtliche Bedeutung und Tragweite gelten. Beispielsweise würde sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht auf die Verfahrensgarantien gem. Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh anwenden, soweit das verwaltungsgerichtliche Verfahren betroffen ist. Diese Argumentation wird der Sache nach von dem in der Literatur vertretenen Ansatz aufgegriffen, der im Zusammenhang mit dem Schlagwort des „Überschneidungsbereichs“ steht239. Auf Rechtsfolgenseite können Bedeutung und Tragweite dann etwa die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen meinen, von deren Geltung die Erläuterungen ja ausgehen, aber jedenfalls nicht den Schutzbereich, auf dessen „Entsprechen“ mit dem Chartarecht es bereits auf Tatbestandsseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ankäme240. Vertreter der „Überschneidungsbereich“-These wollen allerdings trotzdem auch den Schutzbereich auf Rechtsfolgenseite erfasst sehen – Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh wäre dann aber zirkulär normiert241, und dies wird von den Vertretern dieser Meinung auch eingeräumt242. Plausibel erscheint dieser Ansatz entgegen dieser Literaturmeinung somit von vorneherein nur, wenn der Schutzbereich nicht von der Rechtsfolgenseite der Norm erfasst wäre. Nach diesem Ansatz wären im Unionsrecht beispielsweise die genuin chartarechtlichen Schutzbereiche der Art. 7, 10, 11 und 12 Abs. 1 GRCh anzuwenden. Soweit diese den Schutzbereichen der Absätze 1 der Art. 8–11 EMRK, denen sie nachgebildet sind, entsprechen, würde sich die Rechtfertigung von Einschränkungen an dem jeweiligen Absatz 2 der Art. 8–11 EMRK bemessen. Im Übrigen fänden die genuin chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen Anwendung, so dass etwa Art. 52 Abs. 1 GRCh für Einschränkungen der Art. 7, 10, 11 und 12 Abs. 1 GRCh gälte, soweit diese den genannten Schutzbereichen der EMRK nicht entsprechen243. Möglich wäre in diesem Ansatz weiter, dass „Tragweite“ den Gewährleistungsumfang, also das, was dem Bürger letzten Endes, unter Hinnahme der rechtfertig239
S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166; N. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 9 GRCh Rdnr. 17; M. Borowsky, ebenda, Art. 52 Rdnr. 33. Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 240 Insofern konsequent J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 ff. 241 Insbesondere wenn vertreten wird, Abs. 3 Satz 1 sei zirkulär, und gerade deswegen auf eine (Quasi-)Verbindlichkeit der Auflistungen abgestellt wird (so M. Borowsky, in: Meyer [Hrsg.], Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 Rdnr. 30, 31), müssten doch jedenfalls die dann als verbindlich erachteten Auflistungen der Charta-Erläuterungen als nicht-zirkulär aufgefasst werden. 242 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 243 So J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 ff.
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baren Einschränkungen als geschützte Grundrechtsposition in jedem Fall bleibt, meint: Soweit sich der chartarechtliche und der konventionsrechtliche Schutzbereich decken, würden gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die „gleiche Bedeutung und Tragweite“ gelten, was auch die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und ggf. Negativdefinitionen umfassen würde: Dies würde idealiter zu einem sich inhaltlich mit dem Recht der EMRK deckenden Gewährleistungsumfang führen244. Andernfalls, soweit sich die Schutzbereiche nicht decken, würde sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht anwenden, so dass auch nicht die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen gälten. Die „Tragweite“ verstanden als Gewährleistungsumfang würde sich insofern dem Inhalt nach genuin chartarechtlich bestimmen. Freilich erscheint auch in dieser Sicht erklärungsbedürftig, warum, obwohl Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh tatbestandlich nicht einschlägig sein soll, dennoch gem. der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 die „gleiche Bedeutung“ gelten soll.
b) Bedenken Zwar kann diese Lesart der Erläuterungen von sich behaupten, eine im Wesentlichen in sich schlüssige Auslegung der Charta darzustellen. Dennoch bestehen Bedenken, die Bestimmung des Art. 52 Abs. 3 GRCh im Sinne eines solchen Auslegungsvorschlags zu verstehen.
aa) Kohärenz der Schutzbereiche Zunächst ist festzuhalten, dass nach diesem Ansatz Art. 52 Abs. 3 GRCh mit dem Ziel, Kohärenz zwischen Charta und EMRK zu schaffen245, dies ausgerechnet hinsichtlich der Schutzbereiche nicht tun soll, weil diese nicht unter die Rechtsfolgenbegriffe „Bedeutung und Tragweite“ fallen sollen. Dies erscheint bereits hinsichtlich dieser Wortlaute bedenklich. Zwar ließe sich argumentieren, für eine Erstreckung des Art. 52 Abs. 3 GRCh auch auf die Schutzbereiche der EMRK bestehe, anders als für die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, von vorneherein kein Bedürfnis. Ein Blick auf die in der Charta positivierten Schutzbereiche könnte insofern als Bestätigung erscheinen: Die Wortlaute der Chartarechte, die von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst sind, entsprechen denjenigen der EMRK ohnehin weit gehend. Mangels Regelungsbedürfnis, so ließe sich argumentieren, bräuchte die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh mit dem Ziel der Kohärenz nicht auf die Schutzbereiche erstreckt zu werden. Denn die Schutzbereiche richteten sich schon ih244 245
Siehe oben S. 39. Siehe oben S. 99 f., These 1.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
rem Wortlaut nach am Recht der EMRK aus, sie würden ohnehin den Schutzbereichen der EMRK – untechnisch gesprochen: – entsprechen246. Nur im Übrigen, also etwa hinsichtlich der negativen Schutzbereichsbestimmungen, aber auch der Rechtfertigungsvoraussetzungen, müsste der Gleichklang über Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh hergestellt werden, weil insofern Wortlautentsprechungen fehlen oder nur vereinzelt gegeben sind247. Mit anderen Worten: Gerade weil die Schutzbereiche der Charta denen der EMRK nachbildet sind, erschiene Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als eine Norm plausibel, die das im Unionsrecht zur Geltung bringt, was die Charta nicht bereits dem Wortlaut nach an der EMRK ausrichtet, nämlich Negativdefinitionen und Rechtfertigungsvoraussetzungen. Gestützt würde diese Sicht auch durch die Existenz des Art. 19 Abs. 2 GRCh (Schutz bei [individueller] Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung). Denn diese Bestimmung gewährleistet im Recht der Charta ausdrücklich, was im Recht der EMRK durch Art. 3 in der in dem Fall Soering248 durch den EGMR begründeten Auslegung garantiert ist. Art. 3 EMRK ist aber im Recht der Charta bereits mit Art. 4 GRCh (Folterverbot) wortlautgleich249 aufgenommen. Art. 19 Abs. 2 GRCh findet sich in der Charta, im Gegensatz zur EMRK, als selbstständig positivierte Gewährleistung neben Art. 4 GRCh. Im Fall Soering hatte der EGMR eine Auslieferung an einen Staat, in welchem dem Auszuliefernden die Todesstrafe, verbunden mit dem mitunter jahrelangem Warten auf deren Vollstreckung in der ‚Todeszelle‘ und damit einhergehend dem „death row phenomenon“, droht, als Verstoß gegen das Folterverbot des Art. 3 EMRK gewertet250. Denn zu einem solchen Geschehen, verstanden im Grunde als psychische Folter, dürfe ein Vertragsstaat sozusagen nicht die Hand reichen251. An246 Warum der Wortlaut des entsprechenden Artikels der EMRK dennoch in die jeweiligen Erläuterung des Artikels der Charta aufgenommen ist, ließe sich dann wie folgt verstehen: Nicht weil diese Norm im Recht der Charta etwa kraft Inkorporation anzuwenden ist, wird der Rechtsanwender auf sie hingewiesen. Vielmehr soll er auf die bestehende Wortlautgleichheit aufmerksam gemacht werden. Damit könnten etwa Bestrebungen, die mit der EMRK wortlautgleichen Gewährleistungen der Charta anders, insbesondere anders als durch den EGMR, zu interpretieren, Einhalt geboten werden. 247 Denn auch die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh sind der EMRK, insbesondere dem jeweiligen Absatz 2 der Art. 8–11 EMRK nachgebildet; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138). 248 EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989, Soering, EuGRZ 1989, 314. 249 Nur die Überschrift weicht ab. Aber durch deren eindeutigen Bezug zum materiellen Gehalt dürfte sich hieraus kein Unterschied ergeben. 250 Wobei das Vereinigte Königreich zum einschlägigen Zeitpunkt mangels Ratifizierung nicht an Art. 1 und 2 Prot. Nr. 6 (Verbot der Todesstrafe in Friedenszeiten) gebunden war, EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989, Soering, EuGRZ 1989, 314, Rdnr. 102. Das Prot. Nr. 13 mit dem Gegenstand eines vollständigen Verbots der Todesstrafe in Art. 1 des Protokolls wurde erst am 3. 5. 2003 geschlossen. 251 Die Abschiebung „würde die Verletzung des Artikels 3 bewirken“, would „give rise to a breach of Article 3“, EGMR, Urteil vom 7. 7. 1989, Soering, EuGRZ 1989, 314, Rdnr. 111.
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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gesichts der selbstständigen Gewährleistung des Art. 19 Abs. 2 GRCh neben Art. 4 GRCh ließe sich argumentieren, dass sogar in der wortwörtlichen Übernahme von Art. 3 EMRK als Art. 4 GRCh keine Gewähr dafür gesehen werden kann, dass jemand wie Soering unter dem Grundrechtsregime der Charta geschützt wäre. Hierzu im Gegensatz steht allerdings, dass die Erläuterungen an anderer Stelle Art. 52 Abs. 3 GRCh ausdrücklich so verstanden wissen wollen, dass die hiervon erfassten Normen nicht nur durch den Wortlaut, sondern gerade auch durch die Rechtsprechung des EGMR bestimmt werden252. Gerade aber die Normierung der Soering-Konstellation in Art. 19 Abs. 2 GRCh führt vor Augen, dass für einen Gleichklang der Gewährleistungen Wortlautgleichheit nicht ausreichen kann253. Grundrechtliche Normierungen zeichnen sich gerade durch ihren hohen Abstraktheitsgrad aus. Dies erhöht gegenüber beispielsweise eher technischen Normen die Anforderungen an eine methodengerechte Auslegung und Anwendung des Rechts. Wortlautgleichheit zweier Bestimmungen verschiedener Rechtsordnungen kann aber auf Dauer eine andere Auslegung, eine eigenständige dogmatische Entwicklung, ein eigenständiges Case-Law nicht wirksam verhindern254. Denn diese Divergenzen sind, ganz allgemein gesprochen, möglicherweise aus anderen Gründen geboten, jedenfalls aber nicht ausgeschlossen: Die im Recht der Union anzuwendenden Auslegungsmethoden unterscheiden sich von denen der EMRK. Die Schutzbereiche, die in der Charta normiert sind, sind autonom unionsrechtlich auszulegen. Unionsrechtlich wären neben dem Wortlaut etwa solche systematischen Zusammenhänge und teleologischen Gesichtspunkte zu berücksichtigen, die sich im Recht der EMRK nicht wiederfinden. Freilich scheint nach dem gegenwärtigen Stand des Unionsrechts die SoeringKonstellation selbst zunächst nicht einen besonders tauglichen Anknüpfungspunkt für entsprechende Beispiele zu bieten, da die Union nicht Unionsbürger ausliefert und insofern keine Hoheitsgewalt ausübt255. Allgemein aber gilt es etwa zu berücksichtigen, dass die Rechte der Charta spezifisch gegen einen supranationalen Hoheitsträger gerichtet sind. Die Verwirklichung des Binnenmarkts ist Zielsetzung des Primärrechts, teilt im Unionsrecht den Rang der Unionsgrundrechte. Wirtschaftliche Grundrechte, wie die Berufsfreiheit oder die Unternehmerische Freiheit (Art. 15 Abs. 1, Art. 16 GRCh) spielen eine Rolle, vor allem aber die Grundfreiheiten des Unionsbürgers als Marktbürger (insbesondere auch Art. 15 Abs. 2 252
Siehe oben S. 99 f., These 5. Zumal ja nur wenige Bestimmungen vollkommen wortlautgleich sind, vgl. M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29). 254 Siehe auch die Überlegungen unter Kapitel 1. B. 255 Allerdings wäre de lege ferenda an Auslieferungsabkommen mit Drittstaaten im Bereich der ehemals dritten Säule zu denken. Unionsauslieferungsrecht im Verhältnis der Mitgliedstaaten untereinander besteht de lege lata ohnehin bereits: Rahmenbeschluss des Rates vom 13. Juni 2002 über den Europäischen Haftbefehl und die Übergabeverfahren zwischen den Mitgliedstaaten (2002/584 / JI), ABl.EG L 190 vom 18. 7. 2002, S. 1. 253
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
GRCh). Das Recht der EMRK kennt hingegen weder Berufsfreiheit und Unternehmerische Freiheit noch Grundfreiheiten. Nicht zuletzt betrifft die Anwendung der Unionsgrundrechte im Verhältnis zum Sekundärrecht durch den EuGH als Organ der Union vor allem das institutionelle Gleichgewicht als supranationales Gewaltenteilungsprinzip256, aber in erster Linie nicht das Verhältnis zu den Mitgliedstaaten. Letzterem nimmt sich der EGMR mit der Margin-of-appreciation-Doktrin an, die das Recht der EMRK prägt257, dem Unionsrecht aber systemfremd ist258. In der Praxis würden sich diese strukturellen Unterschiede der Rechtsordnungen selbst bei Wortlautgleichheit in Entscheidungen unterschiedlicher Gerichtshöfe, die im Streitfall zu entscheiden hätten, niederschlagen, würden diese also in der Frage „quis iudicabit“ virulent. Die Wortlautgleichheit von chartarechtlichen Schutzbereichen gewährleistet damit nicht ohne weiteres Kohärenz mit dem Recht der EMRK. Praktisch wirksamer zu erreichen erscheint dieses Ziel durch eine allgemeine Regelung wie die des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, deren Sinn und Zweck gerade die Herstellung von Kohärenz ist259 und deren Rechtsfolgenbegriffe „Bedeutung und Tragweite“ nicht nur den Wortlaut der Konventionsrechte, sondern insbesondere auch deren Auslegung in der Rechtsprechung des EGMR erfassen260. Überdies fällt auf, dass Artikel der Charta zwar wortlautgleich dem Vorbild der EMRK nachgebildet sind. Hingegen fehlt eine ausdrückliche Auslegungsregel, die die Auslegung dieser Schutzbereiche am Konventionsrecht ausrichten würde, wenn die Schutzbereiche von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht erfasst wären. Eine solche Regelung liegt etwa mit Blick auf die Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten mit Art. 52 Abs. 4 GRCh vor. Diese Norm lehnt sich als Auslegungsregel zwar an Art. 6 Abs. 2 EU an, aber gerade unter Weglassung des Hinweises auf die EMRK. Bei Lichte besehen deutet in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auch das Wort „soweit“ nicht darauf hin, dass – im Sinne der „Überschneidungsbereich“-These – in Bezug auf ein ‚Rechtepaar‘ von Chartarecht und Konventionsrecht der Tatbestand „entsprechen“ regelmäßig auch partiell vorliegen können soll261. Denn dieses „soweit“ bezieht sich nicht auf das einzelne Charta- oder Konventionsrecht, dessen „Entsprechen“ in Frage steht, sondern auf die gesamte Charta: „Soweit in dieser Charta
256
U. Di Fabio, § 27. Gewaltenteilung, in: HStR II, 3. Auflage 2004, Rdnr. 86 ff. E. Brems, ZaöRV 56 (1996), 240; J. Callewaert, Quel avenir pour la marge d’appréciation?, in: GS Ryssdal, S. 147; M. R. Hutchinson, ICLQ 48 (1999), 638; J. Schokkenbroek, HRLJ 1998, 30; W. J. Ganshof van der Meersch, Le caractère „autonome“ des termes et la „marge d’appréciation“ des gouvernements dans l’interprétation de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, 1988, S. 201. 258 W. Kahl, AöR 131 (2006), 579 (586). 259 Siehe oben S. 99 f., These 1. 260 Siehe oben S. 99 f., These 5. 261 So aber wohl J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f. 257
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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Rechte anerkannt werden…“262. Vielmehr wird mit dem „soweit“ die Teilmenge der Chartarechte, die Konventionsrechten entsprechen – also etwa die Art. 2, 4, 12, 47 GRCh – von denjenigen, die in keinerlei Hinsicht Entsprechungen in der EMRK aufweisen – z. B. Art. 8, 15, 16 GRCh –, abgegrenzt.
bb) Relevanz konventionsrechtlicher Negativdefinitionen als Rechtsfolge Weitere Bedenken gegen den diskutierten Ansatz bestehen mit Blick auf die sog. Negativdefinitionen der EMRK. Diese finden keine Entsprechung im Wortlaut der Charta263. Nach den Erläuterungen sollen in jedem Fall die Negativdefinitionen der EMRK gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Recht der Union relevant sein264. Da nach dem Ansatz die Schutzbereiche der EMRK nicht im Unionsrecht anzuwenden wären, stellt sich die Frage, ob eine solch unterschiedliche Handhabung bei Negativdefinitionen und Schutzbereichen von Art. 52 Abs. 3 GRCh wirklich gewollt ist. Die sog. Negativdefinitionen bestimmen im Recht der EMRK, dass gewisse Verhaltensweisen von vornherein nicht von einem Grundrecht erfasst sein sollen. So ist beispielsweise „eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten zählt“ nach Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK nicht Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne des Art. 4 Abs. 2 EMRK. Es handelt sich bei den Negativdefinitionen im Grunde um negative Bestimmungen des Schutzbereichs265, also der normierten Zuordnung einer Verhaltensweise, einem Rechtsgut oder einem Zustand zu einem Grundrecht266. Sowohl positive als auch negative Schutzbereichsbestimmungen bezeichnen damit aber denselben Gegenstand, nämlich den Schutzbereich eines Grundrechts. Ob aber eine Bestimmung in diesem Sinne positiv oder negativ erfolgt, ist letztlich eine Frage der Formulierung267. Demgegenüber würden die Erläuterungen in der hier diskutierten Lesart davon ausgehen, dass diese negativen Schutzbereichsbestimmungen ebenso wie die Rechtfertigungsvoraussetzungen, als Bedeutung und Tragweite von der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst sind, die – positiven – Schutzbereiche wären aber nicht erfasst. Diese Differenzierung, die mit der hier diskutierten Lesart einhergehen würde, erscheint künstlich. Vor 262 Entsprechendes gilt für die englische und französische Fassung: „Insofar as this Charter contains rights […]“, „Dans la mesure où la présente Charte contient des droits[…]“. 263 So stellt Art. 5 Abs. 2 GRCh (Verbot der Zwangsarbeit) nicht ausdrücklich klar, dass etwa „eine Arbeit oder Dienstleistung, die zu den üblichen Bürgerpflichten zählt“ (Art. 4 Abs. 3 lit. d EMRK), nicht Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieser Norm ist. 264 Siehe oben S. 99 f., These 2 und These 3, sowie unter Kapitel 3. B.II. 265 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 18 Rdnr. 4. 266 U. Volkmann, JZ 2005, 261 (265). 267 Sachlicher Grund für das Bestehen negativer Voraussetzungen in einem völkerrechtlichen Menschenrechtsvertrag dürfte sein, dass die vertragschließenden Staaten die hierdurch – und insofern positiv – bestimmten Konstellationen von vornherein nicht dem völkervertraglichen Regime unterstellen wollen. Dieser Grund für den Ausschluss wäre im Unionsrecht nicht gegeben.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
allem aber klingt auch die Begriffsabgrenzung, dass negative Schutzbereichsbestimmungen unter „Bedeutung und Tragweite fallen“ sollen und (positiv bestimmte) Schutzbereiche nicht, im Wortlaut der Norm nicht an.
cc) Abgrenzungsfunktion des Merkmals „entsprechen“ Schließlich stößt bei dieser Lesart der Erläuterungen auf systematische Bedenken, dass dem Kriterium „entsprechen“ eine entscheidende Abgrenzungsfunktion für die Frage, ob genuin chartarechtliche oder konventionsrechtliche Gehalte im Unionsrecht zur Anwendung gelangen, zukommen würde. Von diesem Kriterium hinge es in dieser Sicht nämlich ab, ob hinsichtlich eines Schutzbereichs genuin chartarechtliche oder konventionsrechtliche Rechtfertigungsvoraussetzungen anzuwenden sind268. Für die Grundrechtsprüfung würde dies bedeuten, dass stets im Einzelfall geprüft werden müsste, ob etwa das von einem chartarechtlichen Schutzbereich konkret geschützte Verhalten auch von einem konventionsrechtlichen Schutzbereich erfasst ist, um die konkret anwendbaren Rechtfertigungsvoraussetzungen ermitteln zu können269. Diese überaus bedeutsame Abgrenzungsfrage – ob im Sinne der bezweckten Kohärenz mit der EMRK konventionsrechtliche Gehalte gelten sollen, oder trotzdem genuin chartarechtliche – scheint hingegen nicht von der Tatbestandsseite des Satzes 1 erfasst, sondern vielmehr, dem Wortlaut nach, von Satz 2 geregelt zu sein. Gerade diese Norm relativiert in noch zu bestimmender Weise Satz 1, der die konventionsrechtlichen Gehalte einbezieht, zugunsten eines „weiter gehenden Schutzes“ durch „das Recht der Union“, indem sie regelt, dass „diese Bestimmung“, also Satz 1, „dem nicht entgegen“ steht. Damit wird das Verhältnis von konventionsrechtlichen Gehalten zu solchen des Unionsrechts und damit grundsätzlich auch der Charta von Satz 2 thematisiert. Diesem, weit eher als dem Kriterium „entsprechen“ des Satzes 1, scheint eine Abgrenzungsfunktion in diesem Sinne zuzukommen.
c) Ergebnis Nach alledem ist das diskutierte Verständnis der Erläuterungen, wonach es für die Anwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, die hiermit bewirkte Relevanz von konventionsrechtlichen Gehalten im Unionsrecht darauf ankommt, dass sich jeweils der chartarechtliche und der konventionsrechtliche Schutzbereich entspre268 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 183, 195, 197; vgl. auch S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166, und M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31, 33, die trotz allem auf Rechtsfolgenseite zusätzlich den Schutzbereich als übertragen sehen. 269 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 195, 197.
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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chen, zu verwerfen. Die Schwächen dieser Lesart und Auslegungsvariante gründen insbesondere darauf, dass die Schutzbereiche als nicht von der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst angesehen werden.
2. Einbeziehung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh Angesichts einerseits der Aussagen der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52, bestimmte Schutzbereichsweitungen der Charta bedeuteten „umfassendere Tragweiten“ bei „gleicher Bedeutung“, und andererseits der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „gleicher Bedeutung und Tragweite“ für Chartarechte, die Konventionsrechten entsprechen, erscheint es Erfolg versprechend, die Aussagen der Erläuterung nicht nur als solche zu Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, sondern auch zu Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zu begreifen270. Schließlich thematisiert diese Norm „weiter gehenden Schutz“ durch „das Recht der Union“. Denkbar ist, dass die Erläuterungen mit der Feststellung „umfassenderer Tragweite“ und eines „ausgedehnten Anwendungsbereichs“ eben hierauf Bezug nehmen. Die Erläuterung zu Art. 52 ebenso wie die Erläuterungen der einzelnen Artikel, die diese spiegeln und konkretisieren, nehmen, abgesehen von den beiden letzten Sätzen des vierten Absatzes, die sich ausdrücklich nur auf Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh beziehen, dem Wortlaut nach stets auf den gesamten Absatz 3 Bezug. Insbesondere geht nicht hervor – auch nicht aus den Auflistungen –, dass ausschließlich Satz 1 erläutert wird, auch wenn diese Annahme wohl den meisten Stellungnahmen aus der Literatur zugrunde liegt271. Auch die Ausführungen der Erläuterung zu Art. 52, die sich ausdrücklich nur auf den zweiten Satz beziehen, stehen einem solchen Ansatz nicht von vorneherein entgegen. Zwar spricht die Erläuterung zu Art. 52 in Absatz 4 von einer durch Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh der Charta gegebenen „Möglichkeit“ der Union, „für einen weiter gehenden Schutz zu sorgen“272. Dies impliziert aber nicht notwendig, dass diese Möglichkeit erst etwa durch Sekundärrechtsetzung wahrgenommen werden muss, wie dies aber von einigen Stimmen in der Literatur angenommen wird273. Vielmehr können auch diese Aussagen der Erläuterungen so verstanden werden, dass Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh auch primärrechtliche Bestimmungen, und damit auch genuin chartarechtliche, erfassen können soll. Denn Satz 1 erfasst im Wesentlichen klassische Freiheitsrechte, was auch für die Formulierung „weiter 270
T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53). 271 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31, 32. 272 Siehe oben S. 99 f., These 6. 273 So aber M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
gehender Schutz“ in Satz 2 plausibel erscheint. Abwehrrechte sind aber Bestimmungen des Primärrechts, nämlich der Charta. Damit kann die „Möglichkeit“ weiter gehenden Schutzes im Sinne des vierten Absatzes der Erläuterung zu Art. 52 sich insbesondere auf die Charta selbst beziehen, die diese Möglichkeit zugleich wahrnimmt274, insbesondere durch eine Geltung der in der zweiten Auflistung genannten, genuin chartarechtlich bestimmten, ausgedehnteren Schutzbereiche275. Ebenso ist es als Möglichkeit in diesem Sinne zu begreifen, dass der EuGH eben diese Bestimmungen der Charta „weiter gehend“ schützend auslegt, als die entsprechenden konventionsrechtlichen Bestimmungen276.
a) Ansatz Damit kommt als Lesart der Erläuterungen und zugleich Auslegungsvariante des Art. 52 Abs. 3 GRCh in Betracht, dass die Einleitung der Beschreibung der jeweiligen umfassenderen Tragweite mit dem Wort „aber“ nach den Spiegelstrichen der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 nicht darauf hinweist, dass insoweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bereits tatbestandlich nicht einschlägig ist. Vielmehr weist dieses „aber“ auf die für diese Konstellationen bestehende Besonderheit hin, dass die Tragweite umfassender ist, obwohl die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh grundsätzlich erfüllt sind. Dass trotz Anwendung des Satzes 1 eine umfassendere Tragweite besteht, würde dann auf Satz 2 beruhen, der in diesen benannten Konstellationen ausnahmsweise anwendbar wäre. Maßgeblich ist in dieser Sicht, dass „entsprechen“ in Satz 1 nicht darauf abstellt, dass sich die positivierten Schutzbereiche der Charta resp. der EMRK decken277. Vielmehr kommt es im Verhältnis zu den Artikeln der Charta und der EMRK, die Schutzbereich beschreiben, auf ein Drittes an, damit die bestehenden Unterschiede des chartarechtlichen Schutzbereichs im Vergleich zum korrespondierenden konventionsrechtlichen nicht dazu führen, dass insofern „entsprechen“ im Sinne des Abs. 3 Satz 1 zu verneinen wäre. Dieses Dritte muss daher so beschaffen sein, dass das Kriterium „entsprechen“ hinsichtlich der Schutzbereiche im Grunde stets im Ganzen entweder zu bejahen oder zu verneinen ist. In Betracht käme daher z. B. der Lebens- oder Regelungsbereich des jeweiligen Grundrechts278. 274 Freilich wird das Primärrecht nicht durch die Union gesetzt, sondern durch die Vertragsstaaten. Die Formulierung der Charta-Erläuterung lässt es aber nicht nur zu, sondern lässt angesichts dieser Erwägungen sogar in erster Linie an die Charta selbst denken. 275 In diesem Sinne auch M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324; a. A. S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165. 276 Insofern ähnlich M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39. 277 So aber J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f. 278 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1135).
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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Sind hiernach auf der Tatbestandsseite nicht sich entsprechende Schutzbereiche gemeint, so kann die Rechtsfolgenseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – anders als nach dem oben unter Kapitel 3. B.III.1. diskutierten Ansatz – auch die Geltung des konventionsrechtlichen Schutzbereichs im Recht der Union erfassen. Zusammen mit konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und sog. Negativdefinitionen, wären auch der konventionsrechtliche Schutzbereich als „Bedeutung und Tragweite“ gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Unionsrecht relevant und damit hinsichtlich aller Elemente des Grundrechtsschutzes gleichermaßen Kohärenz mit der EMRK bewirkt. Weil aber die Erläuterungen jedenfalls von einer Anwendung des genuin chartarechtlichen Schutzbereichs, soweit er umfassender ist, ausgehen279, ist die Erklärung dafür, dass der Schutzbereich, soweit er chartarechtlich umfassender ist, entgegen der Anordnung konventionsrechtlicher Bedeutung und Tragweite des Abs. 3 Satz 1 gilt, in Satz 2 zu finden: Satz 2 ist dann so zu verstehen, dass er sich inhaltlich über die Regelung des Satzes 1 hinwegsetzt. In dieser Sicht bezeichnen die Erläuterungen insbesondere in der zweiten Liste Konstellationen, in denen Satz 2 greift und deshalb genuin chartarechtlich umfassendere Tragweiten begründet werden280. Nach Abs. 3 Satz 1 gilt zwar grundsätzlich der konventionsrechtliche Schutzbereich. Gemäß Satz 2 kann aber stattdessen der genuin chartarechtliche Schutzbereich gelten, nämlich wenn dieser „weiter gehend“ im Sinne dieser Norm ist.
b) Erster Unteransatz: Sowohl „Tragweite“ (S. 1) als auch „Schutz“ (S. 2) meinen Schutzbereich Da die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 als „umfassendere Tragweite“ nur „ausgedehntere“ Schutzbereiche nennt – und dies im Rahmen des vorliegenden Ansatzes als Anwendung des Abs. 3 Satz 2 zu verstehen ist –, könnten „Tragweite“ (im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh) und „Schutz“ (im Sinne des Satzes 2) synonym und unter beiden Begriffen der Schutzbereich zu verstehen sein281. Denn Satz 2 lässt Abweichungen als weiter gehenden Schutz zu, und die zweite Auflistung nennt als „umfassendere Tragweite“ Schutzbereichsweitungen, postuliert aber auch hier eine „gleiche Bedeutung“. Dies aber ist Rechtsfolge 279 So wäre etwa der Schutzbereich „Kommunikation“ des Art. 7 GRCh anzuwenden, soweit dieser umfassender ist als derjenige der „Korrespondenz“ im Sinne des Art. 8 Abs. 1 EMRK. 280 So im Ergebnis auch T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 61; ders. / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53); vgl. auch H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (367). 281 Dass „weiter gehender Schutz“ die Schutzbereichsebene, nicht aber die Schrankenebene meint, vertritt M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324 f.
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
nur des Satzes 1. Weil die in der zweiten Auflistung benannten Schutzbereiche der Charta umfassender sind, würden sie eine umfassendere Tragweite im Sinne eines weiter gehenden Schutzes gem. Satz 2 bedeuten, so dass sie nach dieser Norm anzuwenden wären. Für das als „Bedeutung“ Bezeichnete – etwa Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen – würde es hingegen gem. Satz 1 bei den gleichen, also konventionsrechtlichen, Gehalten bleiben, da insofern Satz 2 keine Ausnahme machen würde. In dieser Sicht würde sich der den Erläuterungen enthaltene Widerspruch, es komme bei bestimmten Rechten kraft Art. 52 GRCh zur Rechtsfolge umfassenderer Tragweite trotz gleicher Bedeutung282, auflösen. Denn dies entspricht zwar nicht der einheitlichen Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh gleicher Bedeutung und Tragweite283. Versteht man aber „Tragweite“ im Sinne des Satzes 1 und „Schutz“ im Sinne des Satzes 2 gleichbedeutend, und sieht man in beiden den (positiv bestimmten) Schutzbereich, wäre diese Aussage der Erläuterungen in Abgleich mit dem Gesetzeswortlaut des Art. 52 Abs. 3 GRCh erklärbar. Dennoch stößt diese Lesart der Erläuterungen auf Bedenken. Zunächst begründen die unterschiedlichen Wortlaute Zweifel an der Richtigkeit dieses Unteransatzes. Zwar ließe sich noch argumentieren der deutsche Wortlaut „Schutz“ in Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh enthalte die Konnotation „Schutzbereich“ als naheliegende Auslegung. Indes lässt sich diese semantische Überlegung nicht auf die Fassungen anderer Sprachen übertragen. Im Französischen und im Englischen etwa lautet die wohl geläufige Bezeichnung für Schutzbereich champ d’application resp. scope of application. Auch wenn stattdessen und mit Blick auf die amtliche Überschrift des Art. 51 GRCh284, wozu abzugrenzen wäre, die Bezeichnung champ de protection resp. scope of protection zu wählen wäre285, so lässt doch „protection“ in beiden Sprachen nicht wie im Deutschen zuerst an den Schutzbereich denken. Vor allem spricht ganz allgemein, wortlaut-systematisch die Verwendung zweier verschiedener Wörter in einem Artikel, zumal im gleichen Absatz – hier also „Schutz“ in Satz 2 und „Tragweite“ in Satz 1 –, dafür, dass Unterschiedliches gemeint ist, dass es sich um verschiedene Begriffe handelt. Wollte Satz 2 eine Abweichung von der „gleichen“, konventionsrechtlichen „Bedeutung“ gem. Satz 1 ausschließen, erscheint schwer verständlich, warum hier der Begriff „Schutz“ (und nicht etwa der der „Tragweite“) verwendet wird. Des weiteren lässt sich in Parallele zu obigen Ausführungen286 auch gegen diese Lesart der Erläuterungen als Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh einwenden, dass eine andere Behandlung von Negativdefinitionen, also letztlich von negativen 282
Siehe oben die fünfte Frage unter Kapitel 3. B.II. Siehe oben unter Kapitel 3. B.II. a. E. 284 Frz.: champ d’application, engl.: field of application, dt.: Anwendungsbereich. 285 Vgl. den Vorschlag bei H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 7; auch: „field of protection“. 286 Unter Kapitel 3. B.III.1.b)bb). 283
B. Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh
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Schutzbereichsbestimmungen, und (positiv bestimmten) Schutzbereichen durch die Norm systematisch bedenklich erscheint. Darüber hinaus erscheint es auch in teleologischer Sicht zweifelhaft, die „Schutzweitung“ gem. Satz 2 auf Schutzbereiche zu beschränken. Denn möglich wäre auch, dass weiter gehender Schutz durch strengere, freiheitsbewahrendere Rechtfertigungsvoraussetzungen der Charta gewährleistet wird287. Es vermag nicht einzuleuchten, warum die Charta in einer allgemeinen Bestimmung den Bürger durch „ausgedehntere“ Schutzbereiche, nicht aber durch andere, ihn im Ergebnis günstiger stellende Rechtssätze der Charta begünstigen will. Schließlich ist in systematischer Hinsicht einzuwenden, dass in dieser Lesart die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen auch insoweit anzuwenden wären, als es um Einschränkungen des gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh genuin chartarechtlich bestimmten Teils des Schutzbereichs ginge. Die Rechtfertigungsvoraussetzungen und Negativdefinitionen des Konventionsrechts – beispielsweise die der Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK – würden nicht nur für Eingriffe in die Schutzbereiche, soweit diese sich nach Konventionsrecht richten, in Anwendung gebracht, sondern auch insofern, als gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh in den genuin chartarechtlichen, weiteren Schutzbereich eingegriffen wird288. Konventionsrechtliche Rechtfertigungsvoraussetzungen würden mithin auf Sachverhalte angewandt, für die sie als solche nicht vorgesehen sind, was sich also auch in der konventionsrechtlichen Auslegung dieser Bestimmungen nicht niederschlägt. Die faktische Weitung des Anwendungsbereichs der im Unionsrecht geltenden konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen würde allein auf der pauschalen, autonom unionsrechtlichen Anordnung des Abs. 3 Satz 2 beruhen. Damit aber würden sie systemwidrig in einen neuen Zusammenhang gestellt. Umgekehrt erscheint es schwer vorstellbar, die genuin chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, die gerade für die Rechtfertigung von Eingriffen in die Schutzbereiche von Rechten der Charta geschaffen wurden, dann, wenn diese im Bereich des Art. 52 Abs. 3 GRCh ausnahmsweise zur Anwendung gelangen, gerade nicht anzuwenden289. Im Ergebnis lässt die Lesart der Erläuterung zu Art. 52 verstanden als Ausführungen zu beiden Sätzen des Art. 52 GRCh in diesem Unteransatz zwar eine sich schlüssige Interpretation der Erläuterungen zu, insbesondere der Ausführungen, nach denen bestimmte Grundrechte der Charta eine „umfassendere Tragweite“, 287
Siehe die Überlegungen unter Kapitel 1. B. Dies würde auch aus der Position von M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324 f., folgen. 289 In diesem Sinne im Ergebnis auch die „Überschneidungsbereich“-These, S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166; N. Bernsdorff, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 9 GRCh Rdnr. 17; M. Borowsky, ebenda, Art. 52 Rdnr. 33. Ferner C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 288
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Kap. 3: Die Erläuterungen der Konventspräsidien
einen „ausgedehnten Anwendungsbereich“ trotz „gleicher Bedeutung“ haben sollen. Sie ist aber als Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh aus den genannten Gründen zu verwerfen. Insbesondere erscheint ein Verständnis sowohl von „Tragweite“ als auch von „Schutz“ im Sinne von Schutzbereich als zu eng.
c) Zweiter Unteransatz: „Tragweite“ und „Schutz“ sind begrifflich weiter als „Schutzbereich“ Festgehalten werden kann aber an der Lesart der Erläuterungen in ihrem Grundansatz. Hiernach stellt die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 Ausführungen zur Anwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh dar. Im Unterschied zum ersten Unteransatz sind die Begriffe „Tragweite“ und „Schutz“ weiter als lediglich auf den Schutzbereich bezogen zu verstehen. Nach der zweiten Auflistung gibt es zwischen genuin chartarechtlich ausgedehnteren Schutzbereichen und dem, was Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als „Tragweite“ bezeichnet, einen Zusammenhang. Die dort bezeichneten Schutzbereichsweitungen führen zu umfassenderen Tragweiten und sind als „weiter gehender Schutz“ im Sinne des Satzes 2 zu begreifen. Damit könnte der Gewährleistungsumfang gemeint sein. Denn ein weiterer Schutzbereich kann im Einzelfall einen umfassenderen Gewährleistungsumfang mit sich bringen. Betrifft eine hoheitliche Maßnahme etwa den Teil des Schutzbereichs, in dem die Charta weiter ist als die EMRK, kann dies zur Bejahung einer Grundrechtsverletzung führen, wenn sie nicht gerechtfertigt ist. Konventionsrechtlich fiele dieselbe Maßnahme nicht einmal in den Schutzbereich. In dieser Möglichkeit bringt, allgemein gesprochen, ein weiterer Schutzbereich auch einen größeren Gewährleistungsumfang mit sich. Indes ist er nicht zwingend in jedem Fall umfangreicher, weil eben auch ein Eingriff in den weiteren Schutzbereich gerechtfertigt sein kann. Doch erscheint die in der Überschrift der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 enthaltene Aussage, die aufgelisteten Chartarechte mit weiterem Schutzbereich hätten einen umfangreicheren Gewährleistungsumfang, in ihrer Pauschalität als zutreffend. Im Übrigen ist der Widerspruch der Erläuterungen, es gäbe Konstellationen gleicher Bedeutung, aber umfassenderer Tragweite290, als solcher hinzunehmen291. Eine Erklärung für diese widersprüchliche Aussage lässt sich bei allen Interpretationsanstrengungen nicht finden. Die Erläuterungen sind daher so zu lesen, dass in den Konstellationen umfassenderer Tragweite auch die Bedeutung nicht notwendig die gleiche ist292. 290
Siehe die fünfte Frage oben unter Kapitel 3. B.II. So im Ergebnis auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 116 f. 292 Die Charta-Erläuterungen verwenden aber weder den Begriff „Bedeutung“ noch den der „Tragweite“ nicht untechnisch, sondern rekurrieren die entsprechenden Gesetzesbegriffe. Diese werden als solche bereits am Anfang des Teils der Erläuterung zu Art. 52 (abgedruckt auf 291
C. Ergebnis
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C. Ergebnis C. Ergebnis
Zu Recht wird in der Literatur darauf hingewiesen, dass die Erläuterungen eine Herausforderung für Wissenschaft und Rechtsprechung darstellen293. Dies gilt vor allem hinsichtlich der Frage, welche Rolle genuin chartarechtlichen Gehalten im Verhältnis zu korrespondierenden, konventionsrechtlichen Gehalten nach Art. 52 Abs. 3 GRCh zukommen soll. Nach dem gefundenen Verständnis der Erläuterungen wird durch das Tatbestandsmerkmal des „Entsprechens“ in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bestimmt, hinsichtlich welcher Rechte der EMRK überhaupt die Geltung bestimmter Gehalte im Unionsrecht angeordnet wird294. Hingegen ist es nicht Gegenstand des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, welche genuin chartarechtlichen Gehalte hinsichtlich dieses Rechts dann wiederum in Abweichung von dieser Grundentscheidung statt der konventionsrechtlichen Gehalte gelten sollen. Die Regelung dieser Frage kommt nach zutreffender Interpretation der Erläuterungen vielmehr Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zu. Die Norm stellt hierbei auf weiter gehenden Schutz durch das Unionsrecht ab und legt damit einen Standpunkt fest, der einen für diese Abgrenzung tauglichen Blickwinkel begründet. Damit ist zu fragen, welche Gehalte im Verhältnis zu den als Bedeutung und Tragweite bezeichneten, trotz Geltung von Satz 1, als „Schutz“, wenn dieser „weiter gehend“ ist, anzuwenden sind. Der zweiten Auflistung, und den ihr inhaltlich folgenden Erläuterungen der dort genannten Artikel der Charta, lässt sich die Aussage entnehmen, dass eine umfassendere Tragweite, also „weiter gehender Schutz“, durch bewusst umfassendere Positivierungen von Schutzbereichen in der Charta bewirkt wird. Wo die Chartabestimmung eines Schutzbereichs nur geringfügig von der Konventionsbestimmung abweicht, stellen die Erläuterungen hingegen keine umfassenderen Tragweiten fest. Dies impliziert aber – auch angesichts dessen, dass die Erläuterungen nicht sehr umfangreich sind – nicht notwendig die Aussage, im Übrigen könnten Abweichungen, gerade auch geringfügige, umfassendere Tragweiten nicht begründen. Ebenfalls stellen die Erläuterungen umfassendere Tragweiten durch andere Chartabestimmungen als Schutzbereiche, also etwa Rechtfertigungsvoraussetzungen, nicht ausdrücklich fest.
S. 267), der sich auf Art. 52 Abs. 3 GRCh bezieht, eingeführt. Indem die Auflistungen – und deren Spiegelung und Konkretisierungen in den Erläuterungen zu den entsprechenden Artikeln – formulieren, dass die Rechte sich entsprechende Rechte sind, und dass sie folglich die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, nehmen sie auf den Tatbestand und die Rechtsfolgenseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Bezug (z. B. Erläuterung zu Art. 5). 293 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31b a. E. 294 Siehe oben Kapitel 3. B.III.1.
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Schließlich könnten an mancher Aussage der Erläuterungen Zweifel anzubringen sein. Dies gilt z. B. hinsichtlich der von der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 konstatierten umfassenderen Tragweite der chartarechtlichen Vereinigungsfreiheit. So soll hiernach die Vereinigungsfreiheit gemäß Art. 12 Abs. 1 GRCh „auf allen Ebenen“ und damit auch auf Ebene der Union gelten. Gemeint ist wohl, dass gemäß Art. 12 Abs. 1 GRCh jeder frei ist, etwa einer unionsweiten, europäischen Vereinigung – also z. B. einer EWIV295 – beizutreten. Wenn es um die Freiheit geht, europäischen Vereinigungen beizutreten, sei der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GRCh ausgedehnter, als der entsprechende des Art. 11 Abs. 1 EMRK. Im Sinne einer „unionsbezogenen“, „unionsangemessenen Auslegung“296 dürfte aber die Freiheit, europäischen Vereinigungen beizutreten, bereits durch Art. 11 Abs. 1 EMRK, der gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Recht der Union relevant ist, gewährleistet sein. Im Großen und Ganzen erscheint damit insbesondere die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 als exemplarisch297 und damit als nicht abschließend298, und zwar in verschiedener Hinsicht. Eine umfassendere Tragweite im Sinne weiter gehenden Schutzes durch genuin chartarechtliche Bestimmungen kann nämlich auch begründet werden: – durch andere, als die in der zweiten Auflistung genannten Chartabestimmungen, – insbesondere auch durch bloß geringfügig ausgedehntere Schutzbereiche sowie – durch freiheitsbewahrendere („strengere“) Rechtfertigungsvoraussetzungen. Daher besteht in der Literatur aus guten Gründen bereits Uneinigkeit über weitere Konstellationen weiter gehenden Schutzes, also gewissermaßen um eine Ergänzung der zweiten Auflistung in der Sache299. Im Folgenden sollen diese und die bereits an anderer Stelle genannten Aussagen der Charta-Erläuterungen im Rahmen einer gebührenden Berücksichtigung gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh in der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh beachtet werden. 295
Europäische Wirtschaftliche Interessenvereinigung, als gemeinschaftsrechtliches Institut eingeführt durch Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV), ABl.EG L 199 vom 31.7.1985, S. 1. 296 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 38. 297 J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199, Fn. 13). 298 T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (51); J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (199, Fn. 13); M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 331 ff.; selbst M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 32. 299 Siehe etwa M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 331 ff.
Kapitel 4
Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh Nach Art. 52 Abs. 7 GRCh ist Art. 52 Abs. 3 GRCh anhand überkommener Methoden des Unionsrechts und unter gebührender Berücksichtigung der Aussagen der Charta-Erläuterungen auszulegen. In der Rekonstruktion des Verständnisses dieser Norm ist herauszuarbeiten, welche Gehalte des Konventionsrechts hierdurch im Unionsrecht in welchem Maß relevant werden. Aufbauend auf die aus den Charta-Erläuterungen gewonnenen Erkenntnissen gilt es vor allem, den Grad der Intensität dieser Bezugnahme – als Auslegungsregel, als Transferklausel – auf Recht, das nicht der Unionsrechtsordnung entstammt, zu ermitteln. Spiegelbildlich hierzu geht es um ein Bild von der verbleibenden Rolle genuin chartarechtlicher Gehalte.
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh regelt, inwiefern Gehalte der EMRK im Unionsrecht Bedeutung gewinnen. Die Tatbestandsseite der Norm bestimmt hinsichtlich welcher Rechte konventionsrechtliche Gehalte im Unionsrecht relevant sind durch das Merkmal „entsprechen“. Die Charta-Erläuterungen listen hier zahlreiche EMRK-Rechte auf, auf die dies zutreffen soll. Die Rechtsfolgenanordnung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh betrifft hingegen für alle von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfassten EMRK-Rechte die Entscheidung, welche Gehalte jeweils erfasst sein sollen, ob mit EMRK-Recht nur dessen Schutzbereich oder noch mehr, insbesondere Rechtfertigungsvoraussetzungen, gemeint sind. Dies geschieht durch die Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“. Die Charta-Erläuterungen deuten insofern auf ein weites, umfassendes Verständnis dieser Begriffe, und damit auf die Einbeziehung unterschiedlichster Gehalte hin. Zu der Frage, mit welcher Intensität Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die erfassten konventionsrechtlichen Gehalte in das Unionsrecht einbezieht und was dies für entsprechende genuin chartarechtliche Gehalte bedeutet, sind die Aussagen der Charta-Erläuterungen nicht ganz eindeutig. Zwar gehen sie zum einen, jedenfalls pauschalierend, von einer Anwendung der konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen und der sog. Negativdefinitionen aus1, was für die Bejahung eines Transfers, aber nicht zwingend eines „Identitätskonzepts“, und weniger 1
Siehe oben S. 99 f., Thesen 2 und 3, sowie unter Kapitel 3. B.II.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
für ein Verständnis als Auslegungsregel spricht. Zum anderen lassen sie aber hinsichtlich der entsprechenden konventionsrechtlichen Schutzbereiche im Unklaren, ob und wie diese als „Bedeutung und Tragweite“ zu berücksichtigen sein sollen2. Die auf diese Frage in der Literatur vertretenen Antworten sind im theoretischen Ansatz höchst unterschiedlich3. Verstanden als bloßer Hinweis auf eine besonders bedeutsame Rechtserkenntnisquelle oder als Auslegungsregel würde Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ausschließlich chartarechtliche Bestimmungen zur Anwendung bringen, die aber in einem ‚konventionsfreundlichen‘ Sinne zu verstehen wären4. Sieht man in dieser Norm eine Transfer- und sogar auch Identitätsklausel, würden die in das Unionsrecht transferierten konventionsrechtlichen Bestimmungen mit den entsprechenden chartarechtlichen Normen „eins“ sein, so dass neben transferierten konventionsrechtlichen Bestimmungen genuin chartarechtliche Bestimmungen im Grunde überhaupt nicht bestehen5. Den Fragen nach Gegenstand und Intensität der Inbezugnahme von Konventionsrecht durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh liegt voraus, dass die Charta selbst in den gem. dieser Norm „entsprechenden“ Artikeln vor allem eigenständige Beschreibungen von Schutzbereichen enthält. Daneben bestehen in der Charta Rechtfertigungsvoraussetzungen, insbesondere Art. 52 Abs. 1 GRCh, mit – vor dem Hintergrund der Diskussion zu Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – fraglichem Anwendungsbereich. Dieser Umstand führt im Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu der Frage, wie sich die in Bezug genommenen konventionsrechtlichen Gehalte zu jenen chartarechtlich positivierten verhalten. Dieser Umstand begründet einen wesentlichen Unterschied im Vergleich etwa zu einer, hypothetischen, Rechtslage, in der neben einer Klausel, die Gehalte einer anderen Rechtsordnung in Bezug nimmt, entsprechende (insbesondere Schutzbereichs-)Positivierungen wie die der Charta nicht bestehen. Damit unterscheidet sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh von einer Transfernorm, die, bei gleichzeitigem Fehlen korrespondierender Bestimmungen6, die zu transferierenden Bestimmungen etwa allgemein7 oder artikelweise8 bezeichnet. 2
Siehe Kapitel 3. B.II. Siehe Kapitel 2. D. 4 Siehe Kapitel 2. D.III. 5 Siehe Kapitel 2. D. I. 6 Im Beispiel (Fn. 8) wären die fehlenden Chartaartikel die folgenden: Art. 2, 4, 5, 6, 7, 10, 11, 17, 19, 48 und 49. 7 So etwa Art. 4 Abs. 1 Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen: „Die im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland in der Fassung vom 23. Mai 1949 festgelegten Grundrechte und staatsbürgerlichen Rechte sind Bestandteil dieser Verfassung und unmittelbar geltendes Landesrecht.“ 8 So eine Klausel könnte etwa lauten (Beispiel der ersten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 nachgebildet): „Die Artikel 2, 3, 4, 5, 6 Abs. 2 und 3, 7, 8, 9, 10 EMRK sowie Art. 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK und Art. 4 des Prot. Nr. 4 zur EMRK sind als Unionsrecht Bestandteil dieser Charta.“ 3
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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Die in der Literatur vertretenen Positionen – zwischen einem Verständnis als bloßem Hinweis auf eine Rechtserkenntnisquelle bis hin zur einer Transfer- und Identitätsklausel – müssen sich auch in dieser Hinsicht zunächst am Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, der Grundlage für die Ermittlung einer autonom unionsrechtlichen Bedeutung ist, messen lassen9.
I. „Bedeutung“ und „Tragweite“ als zentrale Begriffe auf Rechtsfolgenseite der Norm Die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh besteht darin, dass die entsprechenden Rechte „die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen [also denjenigen Rechten der EMRK, die bereits auf Tatbestandsseite für das Entsprechen maßgeblich waren] in der genannten Konvention [der EMRK] verliehen wird“10 „haben“, dass diese „shall be the same“, „sont les mêmes“ (Hervorhebungen d. Verf.). Thema dieser Formulierung scheint die in der Literatur umstrittene Intensität zu sein, mit welcher die bezeichneten Gehalte des Konventionsrechts im Recht der Charta relevant sein sollen. Damit wäre hier auch die Antwort auf die Frage zu suchen, inwiefern chartarechtlichen Bestimmungen, die das gleiche regeln, was konventionsrechtlich in Bezug genommen wird, (überhaupt) als selbstständige bestehen. Namentlich den Ansatz eines Identitätskonzepts11 könnte diese Formulierung stützen12. Bei näherem Besehen könnte diese Formulierung der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh aber auch dahingehend verstanden werden, dass zwar die Bedeutung und Tragweite des entsprechenden Rechts der Charta mit denjenigen des Rechtes der EMRK gleich sind, nicht aber die Rechte selbst13. Das ChartaIn diesem Sinne auch der Vorschlag von I. Friedrich, zitiert nach: Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union des Deutschen Bundestages, Bericht über die 13. informelle Sitzung des Konvents zur Erarbeitung einer EU-Charta der Grundrechte am 28., 29. und 30. Juni 2000, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2001, S. 301 (302). 9 Diese Notwendigkeit besteht aufgrund der Verbindlichkeit von 23 Sprachfassungen gem. Art. 55 Abs. 1 Halbsatz 1 EUV n. F.; siehe F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 262 ff. 10 Bei diesem „wird“ (im Singular) in der deutschen Fassung handelt es sich wohl um einen grammatikalischen Fehler. In der französischen Fassung heißt es demgegenüber „leur sens et leur portée sont les mêmes“. 11 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 12 Denn das Argument eines hierauf gerichteten „Konventswillens“ ist für sich genommen nicht tragfähig, siehe unter Kapitel 3. A.III.3. 13 Hingegen spricht der Wortlaut anderer Sprachfassungen (frz.: les mêmes, engl.: the same) keineswegs zwingend für das Bedeutungsfeld „dieselbe“ statt die „gleiche“.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
recht hätte in dieser Sicht lediglich die gleiche Bedeutung und Tragweite wie das entsprechende Konventionsrecht, wäre aber ein von dem EMRK-Recht zu unterscheidendes. Dies spräche für sich genommen gegen ein Verständnis der Norm als Transferklausel und möglicherweise für ein Verständnis als Auslegungsregel. Allerdings lässt die Semantik der Wörter „Bedeutung“ (engl.: meaning, frz.: sens) und „Tragweite“ (engl.: scope, frz.: portée) bereits fraglich erscheinen, ob die „Bedeutung“ und die „Tragweite“ überhaupt von einem „Recht“ getrennt gedacht werden können14, ob mit anderen Worten nicht ein Recht mit anderer Bedeutung oder Tragweite nicht bereits ein anderes Recht darstellt. Dann aber könnte die Formulierung, dass die Chartarechte die gleiche Bedeutung und Tragweite haben, mehr noch die französische und englische Formulierung, dass die Bedeutung und Tragweite die gleiche oder dieselbe ist, wie in der EMRK, doch so verstanden werden, dass die Chartarechte hierdurch auf einen bestimmten Inhalt festgelegt werden, der sich aber aus dem Konventionsrecht ergibt. Dies spräche dann wieder für das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transfer- und Identitätsklausel. Deutlich wird aber in jedem Fall, dass die Varianten des Verständnisses der Rechtsfolgenformulierung „shall be the same“ letztlich von einem Verständnis der Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ abhängen. Unterstrichen wird dies durch die Formulierung, den Rechten würden durch die EMRK die Bedeutung und Tragweite „verliehen“, jene würde diese den Rechten „conférer“15, diese wären durch jene „laid down“. Auch dies könnte so zu verstehen sein, dem jeweiligen Recht hätte auch eine andere Bedeutung und Tragweite verliehen werden können, ohne dass es hierdurch ein anderes Recht wäre. Auch insofern hängt das Verständnis aber von dem der Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ ab. Die Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ nehmen somit für die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine zentrale Rolle ein. Aus der Auslegung dieser Begriffe folgt nicht nur, welche Gehalte eines jeweiligen Konventionsrechts im Unionsrecht relevant sind. Vielmehr hängt hiervon auch ab, mit welcher Intensität – zwischen bloßer Auslegungsregel einerseits und Transfer- und Identitätsklausel andererseits – die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf die bezeichneten konventionsrechtlichen Gehalte Bezug nimmt. Zugleich geht es um die Erkenntnis, welche selbstständigen, genuin chartarechtlichen Gehalte neben konventionsrechtlichen überhaupt bestehen und wie weit deren Selbstständigkeit reicht. In der Literatur finden sich, von der Auffassung die Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel versteht abgesehen, unterschiedliche Ansätze, wie die Be14 Wenn „Bedeutung und Tragweite“ z. B. die Rechtfertigungsvoraussetzungen des jeweiligen Rechts meinen, dann könnten das „Recht“ und seine „Bedeutung und Tragweite“ etwas Unterschiedliches sein. In diesem Sinne stellt sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Schrankenklausel dar, siehe oben Kapitel 2. B.II. 15 Im Englischen bringt „laid down“ eher den Aspekt der Positivierung zum Ausdruck. Die französische Formulierung kann auch in diesem Sinne verstanden werden.
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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griffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ auszulegen sind. Zum Teil wird die „Bedeutung“ als Schutzbereich verstanden, die „Tragweite“ umfasse die Schranken und Schranken-Schranken, also Voraussetzungen der Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung16. Es findet sich aber auch der Ansatz, beiden Begriffen ein am Maßstab allgemeiner Grundrechtslehren untechnisches Begriffsverständnis zugrunde zu legen17. Mitunter wird in der Literatur, oftmals mit Hinweis auf einen ‚Konventionswillen‘, bewusst offen gelassen, was die Begriffe jeweils bezeichnen sollen, oder es wird jedenfalls nicht maßgeblich darauf abgestellt. Entscheidend sei, so die Vertreter dieses interpretatorischen laisser faire, dass „Bedeutung und Tragweite“ in ihrer Gesamtheit, je nach vertretenem Ansatz18, etwa den konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz in Gänze transferieren19 oder die konventionsrechtlichen Schranken und Schranken-Schranken erfassen20, also das jeweils vertretene Auslegungsergebnis. Dem ist entgegenzuhalten, dass – da es für das zutreffende Verständnis der Norm gerade auf diese Begriffe ankommt – eine Auslegung eben dieser Begriffe nicht schlicht unterbleiben kann. Im Ausgangspunkt der Auslegung ist, im Einklang mit allgemeinen methodischen Grundsätzen, zunächst davon auszugehen, dass mit den verschiedenen Begriffen „Bedeutung“ und „Tragweite“ in einem Gesetzestext auch Unterschiedliches bezeichnet wird, dass „Bedeutung“ also nicht dasselbe meint wie „Tragweite“. Auch ist in der Auslegung zunächst nicht davon auszugehen, dass beide Wörter eine gemeinschaftliche Bedeutung haben – wie etwa „Sinn und Zweck“. Zwar würde im Wortlaut der Norm die Verwendung des Prädikats im Singular – „verliehen wird“ statt „verliehen werden“ – ansatzweise in diese Richtung deuten. Dies wird allerdings von Fassungen in anderen Sprachen, etwa der französischen, nicht bestätigt21. Dass „Bedeutung und Tragweite“ gemeinsam einen Begriff bilden22, 16 C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 124; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 64. Erwogen auch von C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1137), und M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 309; in diesem Sinne möglicherweise auch T. Schmitz, JZ 2001, 833 (838); R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155). 17 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 309, 313; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1137). Ein weites Begriffsverständnis von „Tragweite“ legt wohl auch R. A. García zugrunde; ders., The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 9, Fn. 34 („including the limitations“). 18 Nach N. Philippi meinen „Bedeutung und Tragweite“ nur die Schutzbereiche; dies., Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44. 19 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a. 20 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117. 21 Siehe Fn. 10. 22 So J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117; N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
ist somit erst dann in Betracht zu ziehen, wenn eine sinnvolle Auslegung des jeweiligen Begriffs nicht gelingt.
1. Aufgreifen von überkommenen Begriffsverständnissen europäischer Grundrechtslehren Mit Blick auf entsprechende Ansätze in der Literatur ist zunächst zu versuchen, den Begriff der „Bedeutung“ und den der „Tragweite“ in die überkommene Terminologie europäischer Grundrechtslehren einzuordnen. Für sich betrachtet erscheint der Wortlaut „Tragweite“, anders als etwa in Art. 52 Abs. 1 GRCh der der „Einschränkung“, zwar als vergleichsweise untechnisch. Da ein überkommenes Begriffsverständnis nicht unmittelbar ausdrückt wird23, gilt es aber zu fragen, ob nicht zumindest an ein bestimmtes, überkommenes Begriffsverständnis angeknüpft wird, so dass es sich am Maßstab überkommener Begrifflichkeit gewissermaßen um eine Falschbezeichnung handeln würde. Dies entspräche dem in der Literatur vertretenen Ansatz, wonach hinter diesem Begriff letztlich die Rechtfertigungsvoraussetzungen vermutet werden. In der englischen Fassung von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh steht scope für Tragweite. Damit erinnert der Wortlaut an feststehende Begriffe wie scope of application, also in der Tat technische Begriffe wie Schutz- oder Anwendungsbereich24. Scope könnte damit angesichts eines Fehlens der Präzisierung „of application“25 ein verkürzter Ausdruck eben hierfür darstellen. Aber nicht nur der deutsche, sondern auch der französische Wortlaut (portée) vermögen diesen Ansatz nicht zu stützen. Anders als im Englischen kann auch portée nicht als abgekürzte Fassung eines feststehenden Begriffs verstanden werden. Denn scope of application26 wäre wohl mit „champ d’application“27, nicht aber mit ‚portée d’application‘ zu übersetzen. Offenbar wurde insofern jedenfalls im Französischen wie im Deutschen ein Wortlaut gewählt, der sich bewusst von der herkömmlichen Terminologie abhebt. Scope of application, champ d’application, Anwendungsbereich sind mit „Tragweite / scope / portée“ somit nicht gemeint. Der Begriff „Tragweite“ erscheint auch vor diesem Hintergrund vergleichsweise untechnisch. Demgegenüber bedient sich die Charta an anderer Stelle durchaus technischer Begriffe, knüpft sie an vielen Stellen an etablierte Bedeutungsfelder europäischer Grundrechtslehren an. Dies gilt insbesondere für den allgemeine Regelungen enthaltenden Titel VII, in dem auch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh steht, und dort 23
So auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 116. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 7, schlägt „field of protection“ oder „scope of protection“ vor. 25 Oder „of protection“. 26 Oder „scope of protection“. 27 Oder „champ de protection“. 24
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vor allem auch für Begriffe in anderen Absätzen des Art. 52 GRCh: So etwa die Verwendung von „Einschränkung“, „Wesensgehalt“ oder „Verhältnismäßigkeit“ in Art. 52 Abs. 1 GRCh, ebenso wie die an den Wortlaut des Art. 6 Abs. 2 EU angelehnte Formulierung des Art. 52 Abs. 4 GRCh anerkannter „Grundrechte […], wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen ergeben“ (vgl. auch Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.). Aber auch mit „Bedeutung / meaning / sens“ eines Rechts wird erkennbar kein Begriffsverständnis herkömmlicher Grundrechtsterminologie, wie etwa die Einschränkbarkeit eines Grundrechts, aufgegriffen. Wird dennoch vertreten, „Bedeutung“ bezeichne bestimmte materielle Gehalte, insbesondere den Schutzbereich28, so erscheint diese Position angesichts des insofern untechnischen Wortlauts in besonderem Maße rechtfertigungsbedürftig29. Vor diesem Hintergrund begründet die Verwendung von „Bedeutung“ und „Tragweite“ als vergleichsweise untechnische Begriffe in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine gewisse Vermutung dafür, dass gerade nicht solche Begriffsfelder rekurriert werden, die in der bestehenden Grundrechtsdogmatik mit feststehenden Begriffen benannt sind30. 2. Anknüpfen an Begriffsverständnisse des sonstigen acquis communautaire Im Sinne eines autonom unionsrechtlich zu findenden Begriffsverständnisses ist zu fragen, ob die Wortlaute „Bedeutung“ und „Tragweite“ auf andere als in einem grundrechtlichen Zusammenhang stehende Begriffe des acquis communautaire Rückgriff nehmen. Als Begriffspaar erscheinen „Bedeutung und Tragweite / meaning and scope / signification et portée“ [Hervorhebung d. Verf.] vereinzelt in der Spruchpraxis des EuGH bis zum31 Datum der ersten Proklamation der Charta im Jahr 200032. Von einem Begriffsverständnis, das sich regelrecht herauskristallisiert hat, kann aber nicht die Rede sein33. Die „Bedeutung“ eines Rechts erscheint als Formulierung 28
C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 124; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 64. 29 Insofern überzeugend M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 313, die unter „Bedeutung“ das Schutzgut des Grundrechts versteht. 30 Entsprechendes dürfte für die Bedingungen und Grenzen des Art. 52 Abs. 2 GRCh gelten. 31 Danach: Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 19. 5. 2004, Rs. C-447/02 P, KWS Saat AG gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Slg. 2004, S. I–10107, Rdnr. 73 (Vorschrift des Sekundärrechts); Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 18. 3. 2004, Rs. C-36/02, Omega (Laserdrome), Slg. 2004, S. I–9609, Rdnr. 95. 32 Etwa EuGH, Urteil vom 24. 3. 1994, Rs. C-2/92, Bostock, Slg. 1994, S. I–955, Rdnr. 12. 33 In dem betreffenden Urteil geht es zudem um die „Bedeutung und Tragweite“ eines Urteils; EuGH, Urteil vom 24. 3. 1994, Rs. C-2/92, Bostock, Slg. 1994, S. I–955, Rdnr. 12.
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insgesamt, gerade in der Rechtsprechung des EuGH, sehr häufig, aber in zu unterschiedlichen Zusammenhängen, so dass sich auch hieraus kein Erkenntnisgewinn für die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ergibt. Ein Anderes könnte hingegen für die „Tragweite“ eines Rechts gelten. Zwar kommt das englische Wort „scope“ – auch wenn „scope of application“ von dieser Betrachtung ausgenommen wird – ebenfalls in unterschiedlichsten Zusammenhängen bereits im EG-Vertrag vor. Als Begriff „scope / portée / Tragweite“ findet es sich hingegen hier nur ein einziges Mal34, und zwar in Art. 31 Abs. 2 EG (Art. 37 Abs. 2 AEUV). Im Zusammenhang mit mitgliedstaatlichen Handelsmonopolen soll er hier die Umgehung der Artikel über das Verbot von Zöllen und mengenmäßigen Beschränkungen zwischen den Mitgliedstaaten, also der Art. 28 ff. EG (Art. 34 ff. AEUV) sicherstellen35. Weil es hierbei nicht um eine bloße Einschränkung der Verbote gehen kann, wenn diese primärrechtlich gerechtfertigt sind, ist die „Tragweite“ im Sinne des Art. 31 Abs. 2 EG (Art. 37 AEUV) wohl als Gewährleistungsumfang der genannten Verbote, also das, was dem Bürger letzten Endes, unter Hinnahme der rechtfertigbaren Einschränkungen als geschützte Grundfreiheitsposition in jedem Fall bleibt, zu verstehen. In der Rechtsprechung des EuGH findet sich eine ähnliche Verwendung des Begriffs „Tragweite / scope / portée“. Im Zusammenhang mit den Unionsgrundrechten ergibt die Begriffsverwendung von „Tragweite“ zwar kein klares Bild36. Hingegen taucht der Begriff insbesondere auch37 im Zusammenhang mit den Grundfreiheiten auf. Er meint hier in einem Art. 31 Abs. 2 EG vergleichbaren Sinne in etwa den Gewährleistungsumfang einer Grundfreiheit38. Von einem gefestigtem Begriffsverständnis von „Tragweite / scope / portée“, bezogen auf eine individuelle Rechtsposition, derart, dass eine bestimmte Konnotation geradezu selbstverständlich ist, kann aber nicht gesprochen werden. Dies zeigt sich zum einen daran, dass dieses in der chartarechtlichen Diskussion kaum aufgegriffen wurde. Zum anderen wurde der Begriff bislang, jedenfalls bis zur Proklamation der Charta39, nicht sehr häufig gebraucht. 34 Hier lautet die niederländische Fassung nicht, wie die des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, „reikwijdte“ sondern „draagwijdte“. 35 Vgl. S. Leible, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 31 EGV Rdnr. 22. 36 EuGH, Urteil vom 5. 10. 1994, Rs. C-404/92 P, X gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, Slg. 1994 S. I–4737, Rdnr. 4 (Tragweite des Rechts auf Achtung des Privatlebens); Generalanwalt van Gerven, verb. Schlussanträge vom 7. 6. 1994, Rs. C-57/93, C-128/93, Vroege, Slg. 1994 S. I–4541, Rdnr. 13 (Tragweite des Rechts gleichen Entgelts für Männer und Frauen, Art. 119 EGV [nunmehr Art. 141 EG]). 37 Zahlreiche Entscheidungen betreffen hingegen die „Tragweite“ von Sekundärrecht. 38 EuGH, Urteil vom 15. 12. 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I–4921, Rdnr. 7, 78. 39 Seit diesem Datum ist eine häufigere Verwendung des Begriffs in der Spruchpraxis des EuGH zu beobachten, ohne dass ersichtlich ist, wie hieraus Konsequenzen für die Auslegung der Charta gezogen werden könnten.
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3. Systematische Stellung in Art. 52 GRCh Die Begriffe Bedeutung und Tragweite werden neben Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in der gesamten Charta kein zweites Mal verwandt, bis auf dass sich „Tragweite“ in der amtlichen Überschrift des Art. 52 GRCh wieder findet. Die Überschrift bezieht sich inhaltlich naturgemäß auf die überschriebene Norm selbst. Weder „Bedeutung“ noch „Tragweite“ in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh greifen somit Konzepte auf, derer sich die Charta an weiterer Stelle bedient, so dass sich hieraus systematisch erschließen könnte, was gemeint ist. Der Umstand, dass „Tragweite“ auch in der Überschrift des Art. 52 GRCh enthalten ist, kann aber möglicherweise Aufschluss über das Verständnis dieses Begriffs, und zwar innerhalb dieses Artikels, geben. „Tragweite und Auslegung“ insbesondere überschreiben den gesamten Art. 52 GRCh40. Der in der Überschrift verwendete Begriff „Auslegung“ greift mehrere Absätze des Art. 52 GRCh auf, so die Absätze 4, 5, wohl auch 6 und jedenfalls 7. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, „Tragweite“ nicht nur als Überschrift des Abs. 3, sondern überhaupt der ersten drei Absätze zu deuten41. Die Überschrift gälte dann also teilweise – mit „Tragweite“ – den Abs. 1–3 und teilweise – mit „Auslegung“ – den Abs. 4–7. Eine historische Betrachtung bestätigt diese Überlegung. In der Überschrift dieses Artikels in der Fassung der 2000 proklamierten Charta findet sich nur „Tragweite“, nicht aber „Auslegung“. Zugleich sind in dieser Fassung auch die Auslegungsregeln der jetzigen Absätze 4–7 noch nicht enthalten42. Dass die Überschrift „Tragweite“ den Abs. 1–3 gilt, der Begriff der Tragweite aber nur in Abs. 3 Satz 1 und dort neben dem der Bedeutung verwendet wird, erlaubt vorsichtige Rückschlüsse über das Verhältnis zu den Konzepten der anderen Absätze – also das Verhältnis zu den „Bedingungen und Grenzen“ des Abs. 2 sowie der Einschränkungsrechtfertigung des Abs. 1. Wenn alle drei Absätze ausweislich der Überschrift (zumindest Teil-)Aspekte der Tragweite betreffen, dann könnte „Tragweite“ auch die anderen Konzepte umfassen. Absatz 2 regelt, durch Verweis auf die Unionsverträge die Bedingungen und Grenzen von Rechten, wobei der Verweis logischerweise nicht auf Charta selbst, die gem. Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV n. F. Teil der Verträge ist, verweist, andernfalls er zirkulär wäre. Mit „Bedingungen und Grenzen“ scheint Art. 52 Absatz 2 GRCh – semantisch – gewissermaßen innere oder äußere Voraussetzungen von Rechten zu betreffen. Soll die Tragweite als Überschrift des Artikels auch das sich hinter „Bedingungen und Grenzen“ verbergende Konzept umfassen, könnte das, was mit „Bedingungen und Grenzen“ bezeichnet ist, als (mit-)bestimmend für die „Tragweite“
40 Die nunmehrige Nennung auch der „Grundsätze“ in der amtlichen Überschrift ist ersichtlich Art. 52 Abs. 5 GRCh geschuldet. 41 Vgl. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 7 Fn. 20. 42 H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (365 ff., 387).
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eines Rechts im Sinne des Abs. 3 Satz 1 zu verstehen sein43. Dies setzt freilich voraus, dass die Überschrift und Abs. 3 Satz 1 mit „Tragweite“ das Gleiche meinen. Demgegenüber nimmt der Wortlaut des Absatzes 1, wie bereits erwähnt, unter Verwendung technischer Begriffe Rückgriff auf Vorstellungen der überkommenen Grundrechtsdogmatik44. Er regelt die Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung, stellt mit dem Gesetzesvorbehalt, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Wesensgehaltsgarantie Rechtfertigungsvoraussetzungen auf. Damit könnte die „Tragweite“ der Überschrift auch die Regelung von der Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung umfassen, die Rechtfertigungsvoraussetzungen also ebenfalls (mit-)bestimmend für die „Tragweite“ eines Grundrechts sein. Insgesamt bietet die Binnensystematik des Art. 52 GRCh somit mehrere Anhaltspunkte dafür, dass von dem Begriff „Tragweite“ die Konzepte der Absätze 1 und 2 mit umfasst sein sollen. Das mit „Bedeutung“ zum Ausdruck gebrachte Konzept könnte – mit Blick auf die Erwägungen zum Verhältnis zur amtlichen Überschrift – seinerseits von dem Begriff der „Tragweite“ umfasst sein. Da dieser wiederum auch in der Sicht der anderen Absätze als vergleichsweise umfassend erscheint, ergeben sich aus dieser systematischen Betrachtung aber für den Begriff der „Bedeutung“ keine verwertbaren Hinweise.
4. Semantische Erwägungen Damit ist zu ermitteln, ob sich aus dem Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in sonstiger semantischer Hinsicht Auslegungshinweise ergeben. Hierbei ist, wie allgemein bei der Auslegung von Primärrecht, der Grundsatz, dass die Fassungen aller 23 Vertragssprachen gleichermaßen verbindlich sind, zu beachten, Art. 55 Abs. 1 Halbsatz 1 EUV n. F. Die vorliegenden Ausführungen müssen sich auf den deutschen, englischen, französischen sowie im Entfernteren den niederländischen Wortlaut, beschränken. Aus den folgenden semantischen Erwägungen können also nur bedingt Folgerungen für die Auslegung gezogen werden45.
a) „Tragweite“ Für den englischen Wortlaut von „Tragweite“ ergibt sich insbesondere aus dem bereits genannten Fehlen präzisierender Hinzufügungen, dass scope im Sinne des 43 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 309. 44 Siehe oben Kapitel 4. A. I.1. 45 Allgemein kritisch zu „Bedeutung und Tragweite“ J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117.
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Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh begrifflich wohl weiter zu verstehen ist als etwa scope of application oder scope of protection46. Aber auch in der deutschen und französischen Fassung lassen „Tragweite“ und „portée“, nicht nur angesichts der untechnischen Begriffsverwendung, an mehr denken, als an „Anwendungsbereich“ oder „Schutzbereich“. Denn die Einschlägigkeit des Schutzbereichs führt oftmals nicht zu einer Rechtsverletzung, löst aber stets die Rechtfertigungsbedürftigkeit hoheitlichen Handelns aus. Ihm kommt für die Grundrechtsprüfung eine Art Schleusenfunktion zu47. Ist eine Einschränkung des Schutzbereichs gerechtfertigt, liegt es nicht nahe, dieses, auch in anderen Sprachfassungen, bildlich als „Tragen“ des Rechts zu begreifen, gerade weil der Schutzbereich oftmals eingeschränkt wird, ohne dass das Grundrecht im Ergebnis als verletzt anzusehen ist. Anders gewendet könnte „Tragweite“, dergestalt bildlich verstanden, durchaus das Ergebnis, also das Greifen des grundrechtlichen Schutzes im Einzelfall meinen. Diese Vorstellung rückt den Begriff „Tragweite“ erneut in die Nähe des sog. Gewährleistungsumfangs. Angesichts dieser semantischen Überlegungen, die von der deutschen Fassung ausgehen, fällt auf, dass im alltäglichen Sprachgebrauch die Begriffsfelder von „Tragweite“ im Deutschen und von portée im Französischen einigermaßen deckungsgleich sind. Beiden kommt sowohl ein gegenständliches als auch ein bildliches Begriffsfeld in dem beschriebenen Sinne zu. Dies ist wohl darauf zurück zu führen, dass etymologisch der deutsche Begriff vom französischen abstammt48. Obwohl der Begriff „Tragweite / scope / portée“ des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vor dem Hintergrund der herkömmlichen juristischen Terminologie untechnisch erscheint, ist es bei dessen Setzung als europäischen Gesetzesbegriff gelungen, im Deutschen wie im Französischen auf ein alltagssemantisch recht deckungsgleiches Begriffsverständnis zurückzugreifen. Diese Aussage lässt sich auch auf den niederländischen Wortlaut „reikwijdte“ erstrecken49. Der italienische Wortlaut „portata“ scheint ebenfalls in diese Richtung zu weisen. Demgegenüber erscheint das englische Wort „scope“ vergleichsweise konturlos50. Bei der allgemein gebotenen Vorsicht gegenüber semantischen Erwägungen im Unionsrecht ist eine Berücksichtigung gerade dieser semantischen Begebenheit im Sinne eines autonom europäischen Verständnisses von „Tragweite / portée / scope“ als Gesetzesbegriff begünstigt. Den Erwägungen entspricht auf tatsächlicher Ebene, 46 Vgl. R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 9, Fn. 34. 47 U. Volkmann, JZ 2005, 261 (265). 48 Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, 24. Auflage 2002, „Tragweite“. 49 Die niederländische Fassung hätte, wie die des Art 31 Abs. 2 EG, zwar auch „draagwijdte“ lauten können. Aber auch „reikwijdte“ deckt sich mit den Begriffsfeldern der anderen Wortlaute. 50 Siehe zum vielseitigen Einsatz dieses Worts im Unionsrecht, wenn es nicht mit Tragweite und portée übersetzt ist, oben unter Kapitel 4. A. I.2.
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dass Französisch ‚Brüsseler Arbeitssprache‘51 und Deutsch die Muttersprache des Präsidenten des Grundrechtekonvents ist52. Der Vorschlag des Präsidiums greift wiederum einen bilingualen, englischen / französischen Vorschlag53 auf 54. Damit spricht einiges dafür, auch auf das bildliche Verständnis von „Tragweite“ im Rahmen der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zurückzugreifen. Es geht bildlich gesprochen darum, wie weit das jeweilige Recht ‚trägt‘.
b) „Bedeutung“ Einer semantischen Betrachtung schwieriger zugänglich erscheint der Begriff „Bedeutung / meaning / sens“. Im Deutschen kann „Bedeutung“ „Wichtigkeit“ oder „Ernst“ meinen. Es geht insofern um die Bedeutung für etwas oder jemanden. In diesem alltagssemantischen Begriffsfeld werden „Bedeutung“ und „Tragweite“ sogar synonym verwendet55. Diese teilweise Bedeutungsgleichheit von Bedeutung und Tragweite findet sich aber weder im Englischen, also „meaning“ und „scope“, noch im Französischen, „sens“ und „portée“, und auch nicht im Niederländischen, „inhoud“ und „reikwijdte“, wieder. In all diesen Sprachen hat die jeweilige Fassung von „Bedeutung“ des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht ein mit Wichtigkeit, Ernst und Tragweite dem Deutschen vergleichbares Begriffsfeld. Es kommt damit als Anknüpfungspunkt für ein autonom unionsrechtliches Begriffsverständnis nicht in Betracht. Mit „Bedeutung / meaning / sens“ wird üblicherweise aber auch der Sinn oder Wortsinn von Begriffen und vor allem Rechtsbegriffen bezeichnet56. Es geht also um das, was im Wege der Auslegung zu ermitteln ist, was durch den Gesetzeswort51
Zu diesem Befund kritisch F. C. Mayer, Der Staat 44 (2005), 367 (374 ff.). Eine höhere arbeitspraktische Bedeutung des Deutschen als gewöhnlich ergibt sich hier aus dem Umstand, dass der Präsident des Grundrechtekonvents Herzog als Verfassungsjurist insbesondere den allgemeinen Bestimmungen, auch Art. 52 Abs. 3 GRCh, neben der Garantie der Menschenwürde (Art. 1 GRCh) sein besonderes Augenmerk gewidmet haben soll. 53 Von einem niederländischen Regierungsvertreter, Dokument CHARTE 4406/00, CONTRIB 262, vom 6. 7. 2000, S. 2, nicht veröffentlicht. Der Vorschlag war aber bereits – ausweislich jenes Dokuments: irrtümlich – als Änderungsvorschlag zum Petitionsrecht veröffentlicht worden, in: Dokument CHARTE 4332/00, CONVENT 35, vom 25. 5. 2000, S. 710, Änderung 582, zweiter Änderungsvorschlag, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über das Öffentliche Register der Ratsdokumente des Rates der Europäischen Union im Internet unter unter „Suche im Register“, „Detaillierte Suche“, Sachgebiet: „CONVENT“. In dieser veröffentlichten Fassung existiert auch eine deutsche Fassung, in der die Übersetzung noch „Geltungsbereich“ lautete (also vergleichbar mit „scope of application“). 54 Dokument CHARTE 4422/00, CONVENT 45, vom 28. 7. 2000, S. 16, abrufbar: siehe Fn. 53. 55 Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Neuausgabe 2000, „Bedeutung“. 56 Wahrig, Deutsches Wörterbuch, Neuausgabe 2000, „Tragweite“. 52
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laut in eine äußere Form und damit zum Ausdruck gebracht ist. Dieses Begriffsverständnis erscheint in juristischer Semantik im Grunde als die nahe liegende Konnotation. Diese zugrunde gelegt, spräche einiges mehr als bislang für ein Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Auslegungsregel. Aber bereits indem Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die „Bedeutung“ auf das Recht, also etwa ein Konventionsrecht, insgesamt bezieht, fällt es schwer, an ein Begriffsverständnis im Sinne von „Wortsinn“ für die Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh anzuknüpfen. Denn der grundrechtliche Schutz besteht aus mehreren Elementen, Schutzbereich, Einschränkungsbegriff und Rechtfertigungsvoraussetzungen, die jeweils auch durch eine Mehrzahl von Rechtsbegriffen, die allesamt einen je eigenen Sinn haben und auslegungsbedürftig sind, bestimmt werden. Zwar wird der Schutzbereich eines Grundrechts mitunter bloß durch ein Wort auf den Begriff gebracht – beispielsweise „Wohnung“ –, so dass mit „Bedeutung“ der Wortsinn solcher schutzbereichsbestimmender Begriffe gemeint sein könnte, die Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf das entsprechende Chartarecht übertragen würde. Indem die Norm sich aber pauschal auf die „Rechte“ bezieht, ist jedenfalls mehr in Bezug genommen als bloß die Schutzbereiche dieser Rechte. Den Wortsinn eines Rechts, auf den eine Norm wie die des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Bezug nehmen könnte, gibt es in diesem Sinne nicht. Versucht man das Verständnis von „Bedeutung / meaning / sens“ als „Wortsinn“ allgemeiner zu fassen, dann geht es insbesondere bei Begriffen bildlich gesprochen um eine Umschreibung des eigentlichen Kerns, den es zu ermitteln gilt. Bei einem Wort, einem gesetzlichen Wortlaut soll dieser ‚Kern‘ im Prozess der Interpretation resp. der Auslegung zutage gefördert werden. „Bedeutung“ beschreibt also gewissermaßen einen Blick in das Innere von etwas, etwa eines Begriffs. In Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist „Bedeutung“ nicht auf einen Begriff, sondern auf ein Grundrecht bezogen. In einem Versuch, das bildliche Verständnis von einem Kern, von etwas Innerem auf Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu übertragen, könnte es also um so etwas wie die Elemente des Grundrechtsschutzes gehen. Ein solcher Versuch, „Bedeutung“ abstrakter, als das ‚Innere‘ beschreibender Begriff, zu verstehen, ließe sich ebenfalls bezüglich des englischen, „meaning“, und französischen, „sens“ Wortlauts vornehmen. Auch der niederländische Wortlaut in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – „de inhoud“ – würde eine solche Überlegung stützen57. 57
Auch der italienische Wortlaut „il significato“ würde einem solchen Begriffsverständnis wohl nicht entgegen stehen. (Frz.:) „Signification“ ist auch der Wortlaut des Vorschlags von niederländischer Seite in Dokument CHARTE 4406/00, CONTRIB 262, vom 6. 7. 2000, S. 2 (Fn. 53). Dieser Wortlaut findet sich auch in der Spruchpraxis des EuGH als französischer Wortlaut zu „Bedeutung / meaning“, Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 19. 5. 2004, Rs. C-447/02 P, KWS Saat AG gegen Harmonisierungsamt für den Binnenmarkt, Slg. 2004, S. I–10107, Rdnr. 73; Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 18. 3. 2004, Rs. C-36/02, Omega (Laserdrome), Slg. 2004, S. I–9609, Rdnr. 95.
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Insgesamt aber ist zu konstatieren, dass die semantischen Hinweise hinsichtlich des Wortlauts „Bedeutung / meaning / sens“ in ihrer Deutlichkeit beträchtlich hinter denen zur „Tragweite“ zurückbleiben, wobei beide Wortlaute einer Auslegung anhand weiterer Methoden nicht nur zugänglich sind. Vielmehr erscheint diese angesichts der gewonnenen wortlaut-systematischen Erkenntnisse in besonderem Maße geboten.
5. Teleologische Auslegung In dem begrifflichen Abstand der Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ zur überkommenen Grundrechtsterminologie und der insofern bewusst untechnischen Begriffsverwendung sowie in der auch bei systematischer Betrachtung sich ergebenden Weite und dem umfassenden Charakter des Begriffs „Tragweite“ sowie der Offenheit des Begriffs „Bedeutung“ ist die Frage nach dem in diesen Begriffen zum Ausdruck kommenden und Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zugrunde liegenden Sinn und Zweck aufgeworfen.
a) Umfassender Charakter von Tatbestandsund Rechtsfolgenseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nimmt mit der jeweiligen Rechtsfolge einer dem Konventionsrecht gleichen Bedeutung und Tragweite für bestimmte Grundrechte eine inhaltliche Ausrichtung an der EMRK vor. Diese Rechtsfolge gilt, soweit die Charta Rechte enthält, die denen der EMRK entsprechen. Im Gegensatz etwa zu einer tatbestandlichen numerischen Auflistung der Rechte der EMRK, die in Bezug genommen werden58, ist der Tatbestand abstrakt und damit subsumtionsfähig und -bedürftig. Für die Frage, von welchem Konventionsrecht das als Bedeutung und Tragweite Bezeichnete im Unionsrecht relevant ist, kommt es darauf an, dass ein Chartarecht diesem im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „entspricht“. Ohne der Untersuchung der Tatbestandsseite der Norm vorzugreifen ist festzustellen, dass sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh damit nur auf solche Rechte der EMRK erstreckt, bezüglich derer die Charta bereits Rechte enthält. Dabei wird mit der Formulierung „soweit diese Charta Rechte enthält“ deutlich, dass insofern kein Recht der Charta ausgenommen ist59.
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Siehe zu einem Beispiel für eine solche Klausel Fn. 8. Hingegen nicht eine partielle Anwendung hinsichtlich bestimmter Rechte, so aber im Grunde P. Szczekalla, § 7. Grundrechtliche Schutzbereiche und Schrankensystematik, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen Grundrechte, 2006, Rdnr. 82; J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f.; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30b. 59
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Darin liegt das eigentlich Erstaunliche des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh: In die Charta einbezogen werden Gehalte von jenen Rechten eines anderen Grundrechtskatalogs, die die sie einbeziehende Charta bereits in Entsprechungen enthält. Die mit „soweit“ eingeleitete Formulierung steht auch dafür, dass über diese Konstellationen des „Entsprechens“ hinaus keine weiteren, überschießenden EMRK-Rechte in die Charta einbezogen werden. Das Anliegen des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist es also nicht, konventionsrechtliche Gehalte in das Unionsrecht einzubeziehen, weil die EMRK Regelungen bereithält, die die Charta nicht vorsieht, auf die etwa der Einfachheit halber verwiesen wird, um eine eigene Kodifikation entbehrlich zu machen. – Damit unterscheidet sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in funktioneller Hinsicht etwa von Verweisungsnormen wie der des Art. 4 Abs. 1 der Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen60. – Vielmehr werden die konventionsrechtlichen Gehalte einbezogen, gerade weil die Charta „Rechte“ bereithält, die sich auf solche Bereiche erstrecken, die auch von Rechten der EMRK erfasst werden. Der Sinn und Zweck der Einbeziehung konventionsrechtlicher Gehalte liegt also darin, eine Abstimmung des Rechts der Charta mit dem der EMRK herbeizuführen. Die Norm bezweckt die Herstellung von Kohärenz61 mit der EMRK. Diesen Sinn und Zweck der Norm stellen auch die Charta-Erläuterungen fest62. Grundlage dieser Kohärenz als Ziel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist mithin, dass in der Charta (positivierte) Unterschiede zur EMRK bestehen. Die Norm bezieht das als „Bedeutung und Tragweite“ der entsprechenden Konventionsrechte Bezeichnete in das Unionsrecht ein, gerade weil die entsprechenden Rechte der Charta sich von denen EMRK unterscheiden. Allerdings bleibt es dabei, dass die in Betracht kommenden Bestimmungen der Charta, insbesondere die im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entsprechenden Artikel, die Schutzbereiche63, aber zum Teil auch Rechtfertigungsvoraussetzungen64, wie etwa die des Art. 52 Abs. 1 GRCh oder Art. 17 Abs. 1 Satz 2 und 3 GRCh, den Konventionsrechten im Wortlaut ähnlich, mitunter sogar wortlautgleich sind65. Auch ohne eine Klausel wie die des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh wäre also bereits in einem hohen Maße inhaltliche Kohärenz mit der EMRK gewährleistet. Daher stellt sich die Frage, warum Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh darüber hinaus noch Kohärenz, insbesondere durch die zen60
Wortlaut: siehe Fn. 7. R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155), nennt Art. 52 Abs. 3 GRCh folgerichtig „Kohärenzklausel“. 62 Siehe oben S. 99 f., These 1. 63 K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (22). 64 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138); S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (114). 65 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29). 61
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
tralen Rechtsfolgenbegriffe „Bedeutung und Tragweite“, gesondert bezweckt. Gefragt ist mithin nach der Idee der Kohärenz, die die teleologische Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh leiten soll.
b) Kohärenz zwischen Charta und EMRK aa) Zur Vermeidung völkerrechtlicher Haftung Die Charta- und Konventionsrechte, die als sich entsprechende gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in Betracht kommen, würden, ihre jeweilige Anwendbarkeit vorausgesetzt, in einem Großteil der Fälle die gleiche Verhaltensweise, das gleiche Rechtsgut oder den gleichen Zustand schützen. Da es sich um eigenständige Grundrechtskataloge verschiedener Verträge, Grundrechtsordnungen handelt, ist es aufgrund eines unterschiedlichen Sinngehalts aber grundsätzlich auch möglich, dass nach dem einen Katalog ein individuelles Verhalten im Ergebnis geschützt ist, nach dem anderen aber nicht. Aus der Sicht des durch beide Grundrechtskataloge verpflichteten Hoheitsträgers wäre dies materiell-rechtlich insofern problematisch, als sein Rechtsakt nach dem einen Katalog eine (Grund-)Rechtsverletzung wäre, nach dem anderen hingegen nicht. Durch die Charta verpflichtet ist in erster Linie die Union als supranationaler Hoheitsträger, Art. 51 Abs. 1 GRCh66. Stellen ihre Rechtsakte am Maßstab der Charta keine Grundrechtsverletzung dar, wohl aber am Maßstab der EMRK, dann hätte – Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh weggedacht – in der Rechtsordnung der Union eine Maßnahme Bestand, die ggf. einen völkerrechtlichen Verstoß gegen die EMRK begründet. Der Umstand, dass Chartarecht und entsprechendes Konventionsrecht sich regelmäßig nur graduell unterscheiden werden, vermag an dieser Bewertung, dass eine Divergenz von völker- und unionsrechtlicher Bewertung und damit Konflikte möglich sind67, nichts zu ändern. In einem solche Fall stellt ein Akt der Union dann einen völkerrechtlichen Verstoß dar, wenn die Union völkerrechtlich an die EMRK gebunden ist, da als völkerrechtlicher Vertrag die EMRK grundsätzlich nur für die Vertragspartner Bindung entfaltet. Zwar ist die Union gegenwärtig nicht Signatar, so dass sie völkerrechtlich nicht an die EMRK gebunden ist. Allerdings ist ein zukünftiger Beitritt der Union zur EMRK absehbar. Insbesondere enthalten die Unionsverträge hierfür nunmehr in Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV n. F. eine Verbandskompetenz der Union68. Auch die 66
Siehe hierzu eingehender unter Kapitel 5. C.III.1.a). K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (22). 68 M. Köngeter, Völkerrechtliche und innerstaatliche Probleme eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa. 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 230 (237). Siehe auch sogleich, unter bb). 67
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Vertragsstaaten der EMRK haben mittlerweile ein Protokoll geschlossen69, nach dem Art. 59 EMRK dahingehend geändert wird, dass auch die zukünftige Union, die kein Staat ist und damit auch nicht Mitglied der völkerrechtlichen Organisation „Europarat“ sein kann70, zumindest der EMRK beitreten kann. Die erörtete Konstellation, dass in der Rechtsordnung der Union ein Akt rechtlichen Bestand hätte, der zugleich als Menschenrechtsverletzung einen völkerrechtlichen Verstoß gegen die EMRK darstellt, wäre damit zumindest für die Zukunft, im Falle eines Beitritts der Union zur EMRK, möglich. Mit einer völkerrechtlichen Bindung ist aber noch nicht die Frage der Geltung der EMRK als Bestandteil der Unionsrechtsordnung beantwortet. Diese Frage gründet auf der Unterscheidung zwischen völkerrechtlichem Dürfen und binnenrechtlichem Können. Sie stellt sich auch im nationalen Recht (vgl. Art. 25, 59 Abs. 2 GG) und wäre bei einem Beitritt der Union zur EMRK zunächst nach allgemeinen Kriterien der Geltung von Völker(vertrags)recht in der Rechtsordnung der Union zu beantworten. Angesichts der auch vor Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon grundsätzlich gegebenen Fähigkeit der Gemeinschaft, nicht nur im Bereich des Handelspolitik (Art. 133 EG), sondern in allen Bereichen, in denen sie nach innen Rechtsetzungskompetenz hat, sich auch, nach außen, völkerrechtlich zu binden71, hat sich diese Frage bereits in der Vergangenheit wiederholt gestellt. Das Gemeinschaftsrecht beantwortet sie bislang – vielleicht nur auf den ersten Blick überraschend72 – tendenziell zu Ungunsten des Völkerrechts73. Das Recht völkerrechtlicher Verträge, die die Gemeinschaft schließt, genießt in der Gemeinschaftsrechtsordnung zwar einen Rang oberhalb des sonstigen Sekundärrechts, aber unterhalb des Primärrechts74. Auf der anderen Seite ist die Rechtsprechung des EuGH zu den Gemeinschaftsgrundrechten materiell in jüngerer Zeit auffallend konventions- und EGMR-freundlich, so dass mitunter sogar die Grenzen zwischen Rechtserkenntnisquelle und den auf dieser Grundlage richterrechtlich geschaffenen Gemeinschaftsgrundrechten zu verwischen droht75. 69 Art. 17 Ziff. 1 des Prot. Nr. 14 zur Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten über die Änderung des Kontrollsystems der Konvention vom 13. 5. 2004, BGBl. 2006 II S. 138, noch nicht in Kraft getreten (Stand: 28. 6. 2008); vgl. S. Winkler, EuGRZ 2007, 641 (642 Fn. 9). 70 Art. 4 der Satzung des Europarats vom 5. 5. 1949 (abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 110). 71 Seit EuGH, Urteil vom 31. 3. 1971, Rs. 22/70, AETR, Slg. 1971, S. 263. 72 C. Tomuschat, EuGRZ 2007, 1 (3). 73 Siehe T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 7 Rdnr. 19, § 30 Rdnr. 33; aus der Reihe: EuG, Urteil vom 21. 9. 2005, T-315/01, Kadi, Slg. 2005, S. II–3649, Rdnr. 222 f. 74 C. Tomuschat, EuGRZ 2007, 1 (3); T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 30 Rdnr. 33. Dies gilt grundsätzlich auch hinsichtlich der EMRK im Falle eines Beitritts, W. Schaller, EuR 2006, 656 (665); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), Verfassung der Europäischen Union, 2006, Art. I-9 VerfV Rdnr. 22. Anders für Recht der Vereinten Nationen: EuG, Urteil vom 21. 9. 2005, T-315/01, Kadi, Slg. 2005, S. II–3649, Rdnr. 222 f. 75 J. Kühling, Grundrechte, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (590 f.); siehe aber EuGH, Urteil vom 27. 6. 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769, Rdnr. 35 ff., 52 ff.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
In dieser Lage tritt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh mit dem Ziel, Kohärenz zur EMRK herzustellen, auf den Plan. Ohne sich der allgemeinen Frage des Unionsrechts nach den Konsequenzen völker(vertrags)rechtlicher Bindungen innerhalb der Unionsrechtsordnung anzunehmen, regelt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh hinsichtlich der EMRK im Verhältnis zum Grundrechtsregime der Charta in einem äußerst völkerrechts-, d. h. konventionsfreundlichen Sinne. Weil es sich um eine Norm des Primärrechts handelt und Menschenrechtsverstöße vor allem durch Sekundärrecht drohen, wird das Prinzip des Vorrangs des Primärrechts76 in den Dienst einer Gewährleistung konventionskonformen Verhaltens durch die Unionsorgane gestellt. Vergegenwärtigt man sich überdies den grundsätzlichen Charakter von Grundrechten als negative Kompetenznormen77 – gerade in Anbetracht der klassischen Freiheitsrechte der EMRK – wird deutlich, dass Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in besonderem Maße der Vermeidung von Völkerrechtsverstößen zu dienen geeignet erscheint78. Festzuhalten bleibt, dass der Kohärenz verwirklichende Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh etwaigen Divergenzen zwischen völkerrechtlicher und unionsrechtlicher Bewertung eines grundrechtsrelevanten Sachverhalts begegnet, indem der äußere, völkerrechtliche Maßstab der EMRK kraft dieser Vorschrift im Unionsrecht als Primärrechtssatz maßgeblich wird. Die Norm unterbindet damit – mit Blick auf einen zukünftigen Beitritt zur EMRK gem. Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV n. F. – auf effiziente Weise einen etwaigen Völkerrechtsverstoß. Die Möglichkeit der völkerrechtlichen Haftung, der Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh begegnet, ist auch in einem weiteren Blickwinkel von Bedeutung. Nach der Rechtsprechung des EGMR erscheint es zukünftig nicht ausgeschlossen, dass die Mitgliedstaaten der EU, die allesamt auch Vertragsstaaten der EMRK sind, für Akte der zukünftigen Union haften, auch wenn diese Akte supranational sind, sie also gerade nicht von den Mitgliedstaaten stammen79. Die Mitgliedstaaten haften nach dieser Rechtsprechung im Grunde für die Entledigung ihrer Hoheitsgewalt an eine supranationale Entität und die damit verbundene Möglichkeit, sich insofern der Bindung durch die EMRK zu entziehen80. Ohne eine Regelung wie die des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erscheint somit das rechtliche Können der Union die Möglichkeit zu beinhalten, eine völkerrechtliche Haftung sogar anderer Rechtsträger, 76 K. Lenaerts / P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 1. Auflage 1999, Rdnr. 14–038. 77 H. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), 53 (89 ff.); K. Stern, § 109. Idee und Elemente eines Systems der Grundrechte, in: HStR V, 1. Auflage 1992, Rdnr. 66. 78 Anders C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1143), diese Funktion wohl eher Art. 53 GRCh zuerkennend. 79 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197; EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107. 80 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197, Rdnr. 152 ff.; EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107, Rdnr. 34 f.
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der Mitgliedstaaten, herbeizuführen. Die Unionsverträge sind rechtliche Schöpfung der Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“. Gerade weil dieses Unionsrecht nicht auf die Union, sondern auf die Mitgliedstaaten zurück geht, aber die Union bindet, für deren Verhalten die Mitgliedstaaten nach der EMRK haften können, bestimmt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, dass letztlich der Union nicht die Kompetenz eingeräumt werden soll, aufgrund derer eine völkerrechtliche Haftung der Mitgliedstaaten herbeigeführt werden könnte. In Kohärenz mit entsprechenden Konventionsrechten erscheint in diesem Lichte das Grundrechtsregime der Charta als Grenze anderweitig – nämlich im Wesentlichen in Titel V des EUV n. F. sowie im AEUV (siehe auch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV n. F. und Art. 51 Abs. 2 GRCh) – auf die supranationale Entität übertragener Kompetenzen. Mit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh schützen die Mitgliedstaaten auch sich selbst vor völkerrechtlicher Inanspruchnahme81.
bb) Als Programm der Unionsverträge Die EMRK fungiert im künftigen Grundrechtsregime der Union zur Vermeidung von Völkerrechtsverstößen nicht nur als Grenze rechtlichen Könnens. Charta und die Unionsverträge überhaupt richten sich vielmehr auch inhaltlich an der EMRK aus. Dies kommt an mehreren Stellen zum Ausdruck. Gemäß Art. 6 Abs. 2 Satz 1 EUV n. F. wird der Union nicht nur die Kompetenz eingeräumt, der EMRK beizutreten82. Vielmehr entspricht dieser Kompetenz zum Abschluss eines völkerrechtlichen Vertrags auch eine primärrechtlichen Verpflichtung der Union, der EMRK beizutreten, also im Grunde eine Unionszielbestimmung83. Die EMRK ist Rechtserkenntnisquelle allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts (Art. 6 Abs. 3 EUV n. F., der Art. 6 Abs. 2 EU entspricht). Die Charta stellt in Art. 53 klar, sie schränke mit keiner ihrer Bestimmungen die EMRK ein oder verletze sie gar. Positiv versteht sich die Charta – ausweislich des Abs. 5 Satz 1 Charta-Präambel – darüber hinaus als Bekräftigung der Rechte, die sich unter anderem aus der EMRK und aus der Rechtsprechung des EGMR „ergeben“. Insgesamt sind die Unionsverträge auf verschiedene Weise bemüht, nicht nur der
81 Nach W. Schaller, EuR 2006, 656 (673), soll der tatsächliche Beitritt der EU zur EMRK gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. sogar die Haftung der Mitgliedstaaten für Konventionsverstöße durch Akte des Sekundärrechts entfallen lassen. Jedenfalls für den „materiellen“ Beitritt der EU zur EMRK nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh muss, in abgeschwächter Form, Entsprechendes gelten. 82 M. Köngeter, Völkerrechtliche und innerstaatliche Probleme eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa. 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 230 (237). 83 M. Köngeter, Völkerrechtliche und innerstaatliche Probleme eines Beitritts der Europäischen Union zur EMRK, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa. 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 230 (238 ff.).
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
EMRK nicht zu widersprechen, vielmehr prägt die EMRK den Inhalt des Primärrechts in vielfältiger Weise. In dem Bemühen des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh um Kohärenz kommt damit auch eine, gewissermaßen positive, Tendenz der Charta und der Unionsverträge zum Ausdruck, sich an den inhaltlichen Vorgaben der EMRK möglichst auch auszurichten. Es geht also um mehr, als die Risiken völkerrechtlicher Haftung so weit wie möglich zu minimieren. Die Ausrichtung an der EMRK ist inhaltliches Programm der Unionsverträge. Dies findet naturgemäß in den grundrechtlichen Aussagen des Primärrechts nach dem Vertrag von Lissabon und damit neben Art. 6 Abs. 2 und 3 EUV n. F. vor allem in der Charta Ausdruck. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erscheint für die entsprechenden Rechte als Vervollkommnung dieses Programms.
cc) Meistbegünstigung und Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Vor dem Hintergrund, dass der Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auch darin liegt, eine völkerrechtliche Haftung nach Möglichkeit zu verhindern, erscheinen die möglichen Subjekte einer solchen Haftung teleologisch in den Mittelpunkt gerückt zu sein, also insbesondere die Union im Falle eines Beitritts zur EMRK und ferner die Mitgliedstaaten für eine Haftung im Sinne der BosphorusEntscheidung des EGMR84. Hieraus folgt auf der anderen Seite, dass es Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht in erster Linie um die Interessen des Bürgers als Grundrechtsberechtigtem geht. Dessen Begünstigung steht nicht im Vordergrund, sie wird sich freilich in der Regel als Reflex der durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bezweckten Kohärenz ergeben. Damit wohnt aber bereits dem Grunde nach ein Meistbegünstigungsgedanke dem Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht inne. Vielmehr schließen die Rechtsfolgenbegriffe „Bedeutung und Tragweite“ auch solche Gehalte des Konventionsrechts, die den Bürger im Vergleich zur Charta schlechter stellen würden, nicht aus. Entsprechendes muss auch für die Tatbestandsseite gelten. Weil in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh insgesamt ein Meistbegünstigungsgedanke gerade nicht zu verorten ist, sind – im Einklang mit der gefundenen Interpretation der Charta-Erläuterungen85 – sowohl auf Rechtsfolgen- als auch auf Tatbestandsseite solche Bestimmungen der EMRK nicht außen vorgelassen, die im Recht der EMRK den Bürger schlechter stellen, als dies in Anwendung chartarechtlicher Bestimmungen der Fall wäre – also etwa des Art. 6 Abs. 1 EMRK für verwaltungsgerichtliche Verfahren im Vergleich zu Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh86. 84 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197; EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107, Rdnr. 34 f. 85 Unter Kapitel 3. B.III.2.a). 86 A. A. („Überschneidungsbereich“-These) S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166; P. Szczekalla, § 7. Grundrechtliche Schutzbereiche und Schrankensystematik, in: Heselhaus / Nowak (Hrsg.), Handbuch der Europäischen
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c) Kohärenz des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Kohärenz in einem umfassenden Sinne Es wird deutlich, warum Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh möglichst alle rechtlichen Gehalte der EMRK erfasst, zu denen solche der Charta sich in Widerspruch stellen und die im Einzelfall wegen eines unterschiedlichen Rechtsanwendungsergebnisses eine völkerrechtliche Haftung herbeiführen könnten. Gerade weil die sich gegenüberstehenden Bestimmungen der EMRK und der Charta sich auch nur graduell unterscheiden können, sollen im Sinne umfassender Kohärenz nicht nur alle Rechte erfasst sein, bei denen diese graduellen Unterschiede vorkommen können – dies betrifft die Tatbestandsseite der Norm. Vielmehr sind auch die jeweils entsprechenden konventionsrechtlichen Gehalte des betreffenden EMRK-Rechts als Gegenstand der Bezugnahme durch die Begriffe Bedeutung und Tragweite im Sinne umfassender Kohärenz bestimmt. Damit normiert Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh den konventionsrechtlichen Gegenstand der Bezugnahme durch die Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ so umfassend, dass auch graduelle Unterschiede hinsichtlich des durch ein EMRK-Recht begründeten Grundrechtsschutzes im Unionsrecht Berücksichtigung finden. Dass der Begriff „Bedeutung“ offen und der der „Tragweite“ umfassend und weit ist sowie dass beide Begriffe untechnisch gesetzt sind, ist auf Rechtsfolgenseite Ausdruck der durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bezweckten umfassenden Kohärenz der Charta mit der EMRK. Im Lichte umfassender Kohärenz erfassen die Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ damit alle Facetten des durch das entsprechende Grundrecht der EMRK vermittelten materiellen Grundrechtsschutzes, weil gerade auch der graduelle Unterschied im Einzelfall zu einer anderen Bewertung eines Rechtsaktes am Maßstab der EMRK im Vergleich zur Charta führen kann87. In dem Maße, wie zwischen Charta und EMRK Unterschiede bestehen können, sollen die Gehalte der EMRK maßgeblich sein.
6. „Bedeutung und Tragweite“ als Begriffspaar für umfassende Kohärenz Eine das Konventionsrecht in allen Facetten erfassende, umfassende Kohärenz zu bewirken, müssen die Begriffe Bedeutung und Tragweite in ihrer Gesamtheit leisten. Da die Auslegung versuchen muss, jedem der beiden Begriffe einen Wortsinn zu entnehmen, ist nach dem jeweiligen Bedeutungsgehalt zu fragen. Dies zugrunde gelegt, erscheint es bedenklich, etwa die Tragweite als Schranken / SchranGrundrechte, 2006, Rdnr. 82; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30b, 33. Vgl. auch C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 87 In diesem Sinne J. F. Lindner, ZRP 2007, 54 (55).
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
ken-Schranken und die Bedeutung als Schutzbereich zu verstehen88. Denn gerade eine solche Zuordnung der Elemente des Grundrechtsschutzes zu einem der beiden Begriffe kann die Gefahr bergen, dass bestimmte Gehalte aufgrund der begrifflichen Abgrenzung beider keine Berücksichtigung finden. Zu fragen wäre z. B., ob bei einem Verständnis der Tragweite als Schranken-Schranken auch die konventionsrechtlichen Anforderungen eines Eingriffsbegriffs von den Begriffen Bedeutung und Tragweite erfasst wären89. Es müssen daher gerade auch ungeschriebene Anforderungen des Konventionsrechts von den Begriffen „Bedeutung“ und „Tragweite“ erfasst sein, diese müssen für eine Entwicklung des Konventionsrechts offen bleiben. Das zeigt das Beispiel eines Eingriffsbegriffs, da sich insofern vergleichbare dogmatische Strukturen wie im deutschen Recht im Recht der EMRK bislang kaum entwickelt haben. Einen Eingriffsbegriff kennt die konventionsrechtliche Dogmatik im Grunde nicht90. Aber auch andere allgemeine Anforderungen, etwa eines (allgemeinen) Anwendungsbereichs, die sich aus den konventionsrechtlichen Grundrechtslehren ergeben könnten – so z. B. hinsichtlich des Gleichheitssatzes des Art. 14 EMRK, dessen Anwendbarkeit von der Anwendbarkeit eines Freiheitsrechts abhängt –, müssen erfasst sein. Schließlich darf die Einbeziehung konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht auf eine Abwehrdimension des entsprechenden Grundrechts beschränkt sein. Dies aber würde durch ein Verständnis von Bedeutung und Tragweite als Schutzbereich resp. Schranken-Schranken zu einem gewissen Grad impliziert. Gerade das Recht der EMRK zeichnet sich auch durch eine objektiv-rechtliche Schutzdimension – die sog. obligations positives – der Grundrechte aus91. Auch diese können im Sinne der geforderten umfassenden Kohärenz ein völkerrechtliches Haftungsrisiko begründen. Die herausgearbeiteten teleologischen Einwände gegen eine Begriffszuordnung Bedeutung / Schutzbereich und Tragweite / (Schranken-)Schranken ergänzen somit die in der Interpretation der Charta-Erläuterungen erörterten systematischen Bedenken92. Versteht man die Begriffe „Bedeutung“ und „Tragweite“ im Sinne um88 C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 124; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 64. Erwogen auch von C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1137), und M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 309; in diesem Sinne möglicherweise auch T. Schmitz, JZ 2001, 833 (838); R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (155). 89 Insofern berechtigt der Einwand von M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a. 90 M. Holoubek, DVBl. 1997, 1031; vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 18 Rdnr. 6 a. E. 91 Siehe nur § 19. Gewährleistungspflichten („obligations positives“), in: C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, S. 117 ff. 92 Siehe oben Kapitel 3. B.III.1.b)bb).
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fassender Kohärenz, die zum Recht der EMRK gewährleistet werden soll, dann müssen sie so beschaffen sein, dass sie in ihrer Gesamtheit sämtliche für die Beurteilung einer Grundrechtsverletzung, und damit auch des etwaigen Völkerrechtsverstoßes, maßgeblichen Elemente des konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes erfassen können. Dies gilt nicht zuletzt im Sinne einer Offenheit auch für dogmatische Weiterentwicklungen des Rechtes der EMRK, gerade auch durch den EGMR.
a) „Tragweite“ in einem umfassender Kohärenz verpflichteten Verständnis Gerade der untechnische Wortlaut weist hier den Weg für das Begriffsverständnis. Im Sinne umfassender Kohärenz erscheint es von zentraler Bedeutung, dass die konventionsrechtlichen Maßstäbe insgesamt bezeichnet sind. Damit kann das bereits in mehrerer Hinsicht indizierte Verständnis der Tragweite als Gewährleistungsumfang93 hier auch teleologisch begründet aufgegriffen werden. Da der Gewährleistungsumfang das bezeichnet, was dem Bürger letzten Endes, unter Hinnahme der rechtfertigbaren Einschränkungen als geschützte Grundrechtsposition in jedem Fall bleibt, vermag das Verständnis von Tragweite als Gewährleistungsumfang dem Sinn und Zweck umfassender Kohärenz mit dem Konventionsrecht gerecht zu werden.
b) „Bedeutung“ als Beschreibung der die „Tragweite“ konstituierenden Elemente Damit bleibt zu klären, was der Begriff „Bedeutung“, der im Sinne umfassender Kohärenz im Gegenüber zum Komplementärbegriff „Tragweite“ auszulegen ist, bezeichnet. An die obigen semantischen Überlegungen anknüpfend erscheint das begriffliche Gegenüber, die „Tragweite“, als eine Beschreibung der Grenze des grundrechtlichen Schutzes – wie weit dieser trägt – ohne zu fragen, woraus sich der grundrechtliche Schutz im Einzelnen ergibt, was ihn konstituiert. Bildlich ausgedrückt beleuchtet der Begriff der „Tragweite“ verstanden als Gewährleistungsumfang den Grundrechtsschutz ‚von außen‘. Denn es kommt bei einem bestimmten Gewährleistungsumfang nicht darauf an, ob etwa dem Bürger eine grundrechtlich geschützte Position nicht zusteht, weil das betreffende Verhalten bereits nicht in den Schutzbereich des Grundrechts fällt, oder aber ein Eingriff hierein gerechtfertigt ist. Das Verhalten des Bürgers ist in beiden Konstellationen nicht von dem Gewährleistungsumfang des Grundrechts erfasst.
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Siehe oben Kapitel 3. B.III.2.c); Kapitel 4. A. I.2.; Kapitel 4. A. I.4.a).
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
Der dem Begriff der „Tragweite“ an die Seite gestellte Begriff der „Bedeutung“, dessen Wortlaut sonst insbesondere „Wortsinn“ meint, erscheint demgegenüber als das ‚Innere‘ beschreibend. Bezogen auf den Gewährleistungsumfang eines Rechts könnte „Bedeutung“ also bezeichnen, was diesen Umfang konstituiert, worauf der materielle Grundrechtsschutz gründet. Der Begriff „Bedeutung“ meint somit die dogmatischen Elemente des Grundrechtsschutzes, die einzelnen Voraussetzungen für das den Gewährleistungsumfang ausmachende Rechtsanwendungsergebnis. Bezeichnet die „Tragweite“ des Rechts als Gewährleistungsumfang das Ergebnis des grundrechtlichen Schutzes, dann beschreibt der Begriff der „Bedeutung“ dieses Rechts ein bestimmtes Verständnis des Schutzbereichs, des Eingriffsbegriffs, der Rechtfertigungsvoraussetzungen und dgl., auf denen dieses Ergebnis beruht. Die Auslegung des Begriffs „Bedeutung“ erhellt sich somit gerade in der Gegenüberstellung zum Begriff der „Tragweite“ und umgekehrt. Er meint die konstituierenden Elemente des Grundrechtsschutzes des entsprechenden Konventionsrechts. Dem Konventionsrecht selbst wohnt ein evolutiver Charakter inne, der EGMR begreift es als „living instrument“94. Bedeutung und Tragweite beschreiben den Grundrechtsschutz, wie er sich im Recht der EMRK ergibt. Diesem evolutiven Charakter der EMRK entspricht es, dass im Verständnis der Konventionsrechte der Rechtsprechung des EGMR eine herausragende Bedeutung beigemessen wird – nicht zuletzt angesichts der mitunter sehr unterschiedlichen Rechtskulturen, die dieser völkerrechtliche Grundrechtsschutz unter seinem Dach vereint. „Bedeutung und Tragweite“ meint somit den Grundrechtsschutz, wie er sich aus der EMRK in der Auslegung durch den EGMR ergibt95. In dieser Auslegung wird Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh dem Gegenstand seiner Bezugnahme sowie dem Sinn und Zweck, umfassende Kohärenz zu bewirken, gerecht96. Die Bezeichnung „Bedeutung und Tragweite“ kann damit insofern als dynamisch begriffen werden, als der bezeichnete Gegenstand, der entsprechende Grundrechtsschutz der EMRK, sich in der Rechtsprechung des EGMR weiterentwickeln kann, und diese Begriffe auch dies zu erfassen vermögen97. Dass auf das Konventionsrecht in der Auslegung des EGMR Bezug genommen ist, wird auch von den Charta-Erläuterungen festgestellt98.
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Seit EGMR, Urteil vom 25. 4. 1978, Tyrer, EuGRZ 1979, 162, Rdnr. 31. A. A. S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (121). 96 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 57. 97 K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (23); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 57. 98 Siehe oben S. 99 f., These 5. 95
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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7. Ergebnis „Bedeutung und Tragweite“ bezeichnen den materiellen Grundrechtsschutz des jeweiligen Konventionsrechts, sowohl von seinen Voraussetzungen her als auch in seinem Ergebnis, und zwar in der Auslegung des EGMR. Beide Begriffe beschreiben damit das Gleiche, aber aus unterschiedlichem Blickwinkel.
II. Transfer konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes als Rechtsfolge („shall be the same“) Mit dem gefundenen Verständnis der zentralen Rechtsfolgenbegriffe ist der Inhalt der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh insgesamt zu ermitteln, ist die Formulierung des Abs. 3 Satz 1, dass die Rechte der Charta die „gleiche“ Bedeutung und Tragweite „haben“, auszulegen. In der vorgeschlagenen Auslegung bezeichnen „Bedeutung“ und „Tragweite“ den materiellen Grundrechtsschutz eines entsprechenden Grundrechts. Damit verengt sich die Fragestellung darauf, was es bedeutet, dass die entsprechenden Chartarechte die gleiche Bedeutung und Tragweite, also einen dem materiellkonventionsrechtlichen gleichen Grundrechtsschutz „haben“, dass deren materieller Grundrechtsschutz in Anlehnung an den englischen und französischen Wortlaut – „shall be the same“ resp. „sont les mêmes“ – so ist, wie derjenige in der EMRK99. Im Sinne umfassender Kohärenz muss es dabei darum gehen, dass der materielle Grundrechtsschutz der „entsprechenden“ EMRK-Rechte im Unionsrecht maßstabgebend ist. Dies spricht für ein Verständnis als Transferklausel. Mit Blick auf die Formulierung „shall be the same“ ist aber zunächst zu fragen, ob (auch) ein Identitätskonzept greift.
1. „Gleiche“ und genuin chartarechtliche Bedeutung und Tragweite Unabhängig von Art. 52 Abs. 3 GRCh bestehen genuin chartarechtliche Rechtfertigungsvoraussetzungen, also insbesondere die allgemeinen des Art. 52 Abs. 1 GRCh, aber auch besondere wie die des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 und 3 GRCh. Auch beschreiben die gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „entsprechenden“ Artikel der Charta Schutzbereiche, beispielsweise die Art. 7, 10, 11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 99 Das „shall“ von „shall be“ ist – in Entsprechung zur indikativischen Formulierung im Deutschen und Französischen – die typische Formulierung eines Normbefehls, vgl. in der englischen Fassung des Vertrags zu Gründung der Europäischen Gemeinschaften z. B. die Art. 28. („Quantitative restrictions on imports and all measures having equivalent effect shall be prohibited between Member States.“) und Art. 29 („Quantitative restrictions on exports, and all measures having equivalent effect, shall be prohibited between Member States.“)
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
GRCh, die den Art. 8, 9, 10 bzw. 11 EMRK entsprechen. Wenn diese Chartarechte nicht lediglich Schutzbereiche beschreiben, sondern normieren, also echte Schutzbereiche sind, dann würden sie zusammen mit den genuin chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen die, in der Terminologie des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, „Bedeutung“ des jeweiligen Chartarechts darstellen. In ihrem Anwendungsbereich würden sie zu einer, genuin chartarechtlichen, „Tragweite“ des jeweiligen Chartarechts führen, letztlich also genuin chartarechtlichen materiellen Grundrechtsschutz entfalten. Dass gerade die „entsprechenden“ Chartaartikel Schutzbereiche normieren, von denen dann zu untersuchen wäre, ob ihnen u. U. auch ein Anwendungsbereich zukommt, wäre nach dem wohl herrschenden „Identitätskonzept“ zu verneinen100. Hiernach sind z. B. chartarechtlicher und transferiert konventionsrechtlicher Schutzbereich ‚eins‘. Der Wortlaut der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, dass die Rechte der Charta eine konventionsrechtliche Bedeutung und Tragweite haben, ihre Bedeutung und Tragweite also so ist, wie die der EMRK, scheint schwer damit zu vereinbaren, dass die Charta tatsächlich genuin chartarechtliche „Bedeutungen“ normiert. Denn, wörtlich verstanden, würde dies die Aussage implizieren, dass neben der gleichen, also materiell konventionsrechtlichen Bedeutung und Tragweite des entsprechenden Rechts noch nicht einmal eine genuin chartarechtliche Bedeutung und Tragweite bestünde. Das in der Literatur vertretene, sog. „Identitätskonzept“ macht sich eine eben solche Position zu eigen101. Sie rekurriert hierzu den „Konventswillen“102.
2. „Entsprechende“ genuin chartarechtliche Schutzbereiche Ob die Charta jeweils, hinsichtlich eines gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entsprechenden Rechts, eine genuin chartarechtliche „Bedeutung“ normiert, erscheint aber mit Blick auf die „entsprechenden“ Artikel der Charta, die Schutzbereiche beschreiben, fraglich. Wenn ein „entsprechender“ Artikel der Charta, der ebenfalls einen Schutzbereich beschreibt, keinen Schutzbereich normiert, dann würde dies bedeuten, 100 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30a; T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 51; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 101 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31; T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839). 102 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31; siehe aber zum topos des Konventswillens unter Kapitel 3. A.III.3.
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dass weite Teile der Charta, insbesondere der am Anfang stehenden Titel I und II, aber auch des Titels VI, insofern gegenstandlos wären, als eine Vielzahl der hierin enthaltenen Artikel einer materiellen Regelung entbehren würden. Einen Eindruck von dem Umfang materieller Bedeutungslosigkeit der Charta als Grundrechtskatalog in einem solchen Fall vermittelt die große Anzahl der in beiden Auflistungen der Charta-Erläuterungen zu Art. 52 genannten Artikel der Charta103. Zwar sind die „entsprechenden“ Artikel der Charta, die Schutzbereiche beschreiben, ihrem Wortlaut nach der EMRK weit gehend ähnlich. Es ließe sich somit argumentieren, dass der Umstand, dass diese Artikel lediglich beschreibend seien, aber materiell nicht regeln würden, nicht so gravierend sei, weil sich dies im Ergebnis nur unbedeutend auswirke. Wortlautidentisch ist aber kaum einer dieser Artikel104. Wäre diesen chartarechtlichen Schutzbereichsartikeln nicht einmal zuzugestehen, dass sie Schutzbereichsnormierungen enthalten, würden die positivierten Unterschiede – wie etwa die „Kommunikation“ als ein Schutzbereich des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens des Art. 7 GRCh im Vergleich zu dem der „Korrespondenz“ gem. Art. 8 Abs. 1 EMRK – nie als Rechtsnormen zur Anwendung gelangen können. In diesen Chartaartikeln keine Schutzbereichsnormierungen zu sehen, erscheint auch systematisch nicht recht stimmig. Denn schließlich sind, unbestritten, den Titeln I, II und VI jedenfalls auch genuin chartarechtliche Schutzbereichsnormierungen enthalten, nämlich in solchen Artikeln, die nicht von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst sind, also etwa das Recht auf Schutz personenbezogener Daten (Art. 8 GRCh) oder die Berufsfreiheit (Art. 15 Abs. 1 GRCh). Rechtlich unverbindliche Schutzbereichsbeschreibungen stünden also in unmittelbarer Nachbarschaft von Schutzbereichsnormierungen, was kaum überzeugt. Dieser Einwand gewinnt an Schlagkraft, wenn er in Richtung solcher Artikel gewendet wird, denen nach ganz herrschender Ansicht zu einem bestimmten Teil die Eigenschaft als Schutzbereichsnormierung zuzugestehen ist, also vor allem die der zweiten Auflistung der Charta-Erläuterung zu Art. 52. So sollen etwa die verfahrensrechtlichen Garantien des Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh, soweit sie Gerichtsverfahren betreffen, die nicht zivilrechtliche Ansprüche oder strafrechtliche Anklagen zum Gegenstand haben (vgl. Art. 6 Abs. 1 EMRK), also insbesondere verwaltungsgerichtliche Verfahren, gem. eben dieser Absätze des Art. 47 GRCh gewährleistet sein. Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh kämen jedenfalls insofern, also als Schutzbereichsnormierungen zur Anwendung105. Im Übrigen aber wären sie nach dem „Identitätskonzept“, 103
Also der Art. 2, 4, 5, 6, 7, 10, 11, 17, 19, 48, 49 GRCh und in Teilen der Art. 9, 12, 14, 47, 50 GRCh. 104 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29). 105 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 166. Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136).
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
wie die anderen „entsprechenden“ Chartaartikel, bloße rechtlich unverbindliche Schutzbereichsbeschreibungen. Diesen von der zweiten Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 benannten Artikeln käme ein seltsam hybrider Charakter zu. Auch dies kann nicht überzeugen. In den „entsprechenden“ Chartaartikeln keine Schutzbereichsnormierungen zu sehen, stößt auch in dem Blickwinkel der Rechtsklarheit auf massive Bedenken. Denn dass die entsprechenden Chartaartikel überhaupt keine Schutzbereiche normieren, ergäbe sich – da sich diese Artikel äußerlich nicht von denen unterscheiden, die unumstritten genuin chartarechtlich Schutzbereiche normieren (z. B. die Berufsfreiheit gem. Art. 15 Abs. 1 GRCh) – erst aus einer profunden Kenntnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Dem in Abs. 4 Charta-Präambel gesetzten Ziel der Charta, für den Bürger den Grundrechtsschutz „sichtbarer“ zu machen und ihn hierdurch zu stärken, vermag dies kaum zu entsprechen. Darüber hinaus ist auch die Rolle eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes für den, freilich unwahrscheinlichen, Fall eines Zusammenbrechens des Grundrechtsschutzes der EMRK pro futuro in den Blick zu nehmen106. Weil ein Transfer von Konventionsrechten dann ins Leere griffe, soll es dem EuGH durch die Charta (also durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh) nicht verwehrt sein, einen genuin unionsrechtlichen Grundrechtsschutz bereitzustellen, damit trotz Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh der Bürger nicht schutzlos steht107. Warum aber nach der Charta auf einen Grundrechtsschutz verwiesen sein soll, der erst durch richterliche Rechtsschöpfung zu schaffen wäre, wenn doch die Charta selbst in den „entsprechenden“ Chartaartikeln Schutzbereiche vorsieht, die zumindest in diesem Fall, subsidiär, zur Anwendung gelangen könnten, vermag ebenfalls nicht einzuleuchten. Schließlich ist im Sinne einer historischen Konkretisierung108 zu berücksichtigen, dass die Charta als schriftlicher Grundrechtskatalog in der Geschichte der europäischen Integration vollkommen neuartig ist. Mit ihr geht in Erfüllung, was das Bundesverfassungsgericht vor Jahrzehnten in der Solange-I Entscheidung109 gefordert hatte110. Die Charta, insbesondere ihre Aufnahme in das Primärrecht, ist das Ergebnis eines bedeutsamen politischen Prozesses, in dem gewichtige Widerstände überwunden wurden. Dass diese Charta, die nach dem Vertrag von Lissabon gem. Art. 6 EUV n. F. zentraler Bestandteil der „gemeinsamen Bestimmung“ des EUV n. F. und damit der Unionsverträge insgesamt ist, in weiten Teilen, aus106
Siehe oben unter Kapitel 2. C. I.1. C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 152; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39 f. 108 F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 67. 109 BVerfGE 37, 271 (285). 110 L. F. M. Besselink, MJ 2001, 68: Patenkind Deutschlands. 107
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gerechnet in ihren ersten beiden Titeln, noch nicht einmal grundrechtliche Schutzbereiche normieren soll, erscheint kaum wahrscheinlich. Gegen die grundlegende Anerkennung eines normativen Charakters „entsprechender“ Artikel, dass diese also genuin chartarechtliche Schutzbereiche bestimmen, ließe sich indes nicht einwenden, hierdurch würde die Kohärenz zur EMRK, wie sie Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh herstellt, in Frage gestellt. Denn dies ist Gegenstand einer weiteren Frage, nämlich inwiefern diesen genuin chartarechtlichen Schutzbereichen ein Anwendungsbereich zukommen soll (hierzu sogleich). Schließlich ist als Argument gegen das „Identitätskonzept“ anzuführen, dass Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh selbst von Rechten und nicht etwa bloß von Artikeln spricht.
3. Transfer und Anwendung von Konventionsrechten Sieht man somit – unter Verwerfung des Identitätskonzepts – in den „entsprechenden“ Artikeln der Charta nicht nur rechtlich unverbindliche Schutzbereichsbeschreibungen, sondern eigenständige, genuin chartarechtliche Schutzbereichsbestimmungen111, dann normiert die Charta – zusammen insbesondere mit den Rechtsfertigungsvoraussetzungen (vor allem Art. 52 Abs. 1 GRCh) – hinsichtlich eines von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfassten Rechts in der Terminologie dieser Norm jeweils eine genuin chartarechtliche „Bedeutung“, die in ihrem Anwendungsbereich eine genuin chartarechtliche „Tragweite“ haben müsste. Demgegenüber impliziert der bloße Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, dass eine genuin chartarechtliche Bedeutung und Tragweite neben der materiell konventionsrechtlichen noch nicht einmal bestehe, weil die Rechte der Charta die Bedeutung und Tragweite der EMRK „haben“. Damit wird aber im Sinne umfassender Kohärenz jedenfalls zum Ausdruck gebracht, dass die materiell konventionsrechtliche Bedeutung und Tragweite anzuwenden sind: Anzuwenden ist gem. Art 52 Abs. 3 Satz 1 jedenfalls Konventionsrecht, nicht aber genuines Chartarecht. Anders als der bloße Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zunächst vermuten lässt, bestehen nach dem soeben Ausgeführtem „entsprechende“ Chartarechte, insbesondere positivierte chartarechtliche Schutzbereiche. Diese sind aber kraft dieser Norm nicht anzuwenden, sondern Konventionsrecht. Gleiches gilt insbesondere auch für die diesbezüglichen genuin chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen112. – Damit ist auch das ebenfalls in der Literatur um111 In diesem Sinne auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 117, 114 f.; Y. Dorf, JZ 2005, 126 (128 f.); H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 2 Rdnr. 19, 20, § 6 Rdnr. 11. 112 A. A. M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
strittene Verhältnis des Art. 52 Abs. 3 zu Art. 52 Abs. 1 GRCh geklärt113, ohne dass es eines Rückgriffs auf Grundsätze über Konkurrenzen, etwa der Spezialität, bedarf. Demgegenüber würde – über systematische Bedenken hinaus, die sich mit Blick auf Art. 52 Abs. 4–7 GRCh ergeben114 – ein Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh als bloße Auslegungsregel allemal zu kurz greifen, und zwar sowohl hinsichtlich des Wortlauts, nach dem sogar die Bedeutung und Tragweite des Chartarechts gleich sein sollen, als auch mit Blick auf den Sinn und Zweck der Norm. Im Sinne umfassender Kohärenz geht es – anders als etwa bei dem Verweis auf mitgliedstaatliche Verfassungstraditionen in Art. 52 Abs. 4 GRCh – nicht darum, dass in die autonom unionsrechtliche Auslegung Ideen einer anderen Rechtsquelle, hier des Konventionsrechts, lediglich einfließen sollen115. Vielmehr soll das als Bedeutung und Tragweite Bezeichnete – also der materielle Grundrechtsschutz des jeweiligen Rechts der EMRK – als solches im Unionsrecht gelten. Der Wortlaut der Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh stellt sich im Grunde, indem er so tut, als bestünden noch nicht einmal eine genuin chartarechtliche Bedeutung und Tragweite, als Übertreibung dar. Dadurch ist aber nicht das gefundene Verständnis der Regelung in Frage gestellt. Dass der Wortlaut die genuin chartarechtlichen Bedeutungen noch nicht einmal in den Blick nimmt, so tut, als gäbe es sie nicht, verleiht vielmehr der normativen Anordnung, wonach der „gleiche“, materiell konventionsrechtliche Grundrechtsschutz zur Anwendung gebracht wird, besonderen Nachdruck. Wenn hiernach der Wortlaut von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh insofern zu weit geraten ist, so ist er doch in der Anordnung 113 Einerseits R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 439, 473; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 8; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262; ebenfalls so noch T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (52 f.); aber nunmehr T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30. Andererseits K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 ff. (293 f.) (arg. ex Art. 53 GRCh); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 146 ff., 150 ff.; J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 170 f.; konsequent T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 38, der Art. 52 Abs. 3 als Hinweis auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle / Auslegungsregel versteht; die kumulative Anwendung von Absatz 1 und Absatz 2 bejaht N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 42. 114 Siehe oben unter Kapitel 4. A. I.3. 115 Vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 78.
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der Anwendung des materiell konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes eindeutig. Im Ergebnis gelangt also gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ein dem jeweiligen Konventionsrecht „gleicher“ Grundrechtsschutz zur Anwendung. Damit bestimmt diese Norm ein unionsrechtliches Abbild der Rechtssätze, die im Recht der EMRK den materiellen Grundrechtsschutz des entsprechenden Rechts ausmachen – beispielsweise der Art. 8, 9, 10 oder 11 EMRK, einschließlich des jeweiligen Absatzes 2, der Rechtfertigungsvoraussetzungen bestimmt, aber auch einschließlich aller ungeschriebenen, diesbezüglich im Recht der EMRK anzuwendenden Rechtssätze. Auch bestimmt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die Anwendung dieses Abbilds. Im Sinne umfassender Kohärenz führt dies in einem konkreten Einzelfall idealiter zum gleichen Ergebnis, wie im Recht der EMRK116. Zugleich ist Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die Bestimmung enthalten, dass die genuin chartarechtlichen Rechtssätze, die einen genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz ausmachen würden, nicht anzuwenden sind – also im Beispiel Art. 7, 10, 11 Abs. 1 oder 12 Abs. 1 GRCh, jeweils in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 GRCh. Diese Bestimmungen, insbesondere die genuin chartarechtlich bestimmten Schutzbereiche, sind zwar mangels Anwendungsbereichs in ihren materiellen Gehalten jedenfalls nach dieser Vorschrift praktisch unerheblich. Der durch sie vermittelte Grundrechtsschutz besteht hiernach bloß theoretisch117. Soweit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Konventionsrecht im Unionsrecht abbildet118, lässt sich dies als „Transfer“ des konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes bezeichnen119. Dies geschieht mit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh durch eine Norm des Unionsrechts und wirkt sich somit nicht in der Rechtsordnung der EMRK aus. Das so transferierte, ein EMRK-Recht abbildendes Recht, das inhaltlich dem Konventionsrecht entspricht, ist Unionsrecht und zu unterscheiden von dem abgebildeten Recht der EMRK. Im Folgenden soll hierfür aber die Bezeichnung „Transfer“ genügen. Die transferierten Rechtssätze, die einen materiell konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz im Unionsrecht ausmachen, bestehen somit kraft Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh neben den entsprechenden, genuin chartarechtlichen Gehalten und sind vorrangig vor diesen anzuwenden.
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Siehe insbesondere aber das Problem grundrechtlicher Kollisionslagen, unter Kapitel
6. C. 117 Aus diesem Grunde ablehnend T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 38. 118 Hiermit soll zum Ausdruck kommen, dass entgegen etwaiger zivilrechtlicher Assoziationen, die mit dem Begriff Übertragung verbunden sind, nichts aus dem Völkerrecht (im Sinne einer Verfügung) ‚weg‘-übertragen wird. 119 Dies lässt den Begriff Transfer gegenüber dem der Inkorporation, der ‚Einverleibung‘, vorzugswürdig erscheinen.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
III. „Entsprechen“ eines Chartarechts und eines Konventionsrechts als Tatbestandsvoraussetzung Auf Tatbestandsseite bestimmt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh durch die Formulierung „soweit diese Charta Rechte enthält, die den durch die … [EMRK] garantierten Rechten entsprechen“ von welchen Konventionsrechten der als „Bedeutung und Tragweite“ bezeichnete Grundrechtsschutz transferiert und im Unionsrecht anzuwenden ist120. Zur Beantwortung der Frage, ob ein Chartarecht einem Konventionsrecht entspricht121, wird in der Literatur mitunter auf den Schutzbereich abgestellt122. Das ist konsequent, wenn man nicht, wie vorliegend vertreten, auch auf der Rechtsfolgenseite den jeweiligen konventionsrechtlichen Schutzbereich als mitübertragen ansieht123. Sieht man hingegen, zu Recht, auf Rechtsfolgenseite den jeweiligen konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz in Gänze transferiert, einschließlich des jeweiligen Schutzbereichs, dann kann nicht auf ein Übereinstimmen der Schutzbereiche auch auf der Tatbestandsseite abgestellt werden. Denn sonst wäre Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in der Tat zirkulär124 normiert. Auch ein Ausweichen auf die Charta-Erläuterungen – wie dies in der Literatur gewissermaßen zur Durchbrechung des Zirkels vorgeschlagen wird125 – würde dann aber nicht genügen, weil – wie gesehen – in diesem Fall auch die Erläuterungen von einem zirkulären Verständnis in dem beschriebenen Sinne ausgehen würden126. Nach anderen in der Literatur vertretenen Ansätzen soll zumindest auch bei geringfügiger Abweichung der Schutzbereichswortlaute ein „Entsprechen“ im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu bejahen sein127. Wenn der Wortlaut des chartarechtlichen Schutzbereichs signifikant von dem im Grunde entsprechenden konventionsrechtlichen abweicht, würde hiernach kein Entsprechen im Sinne 120 Ähnlich engl.: „Insofar as this Charter contains rights which correspond to rights guaranteed by the Convention […].“ und frz.: „Dans la mesure où la présente Charte contient des droits correspondant à des droits garantis par la Convention […].“ 121 K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (23), weist darauf hin, dass es um die gleichen Fragen gehen könnte wie bei der Frage des „Übereinstimmens“ bei Art. 142 GG. 122 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f. 123 So J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 114 f., 116 f. 124 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 125 So M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 31. 126 Siehe oben unter Kapitel 3. B.III. 127 Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136); C. Eisner, Die Schrankenregelung der Grundrechtecharta der Europäischen Union, 2005, S. 122, bei Fn. 733; S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (117).
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vorliegen, so etwa bei der Erstreckung der Verfahrensgarantien des Art. 47 Abs. 2 und 3 GRCh auf verwaltungsgerichtliche Verfahren, nicht aber bei „Kommunikation“ (Art. 7 GRCh) im Verhältnis zu „Korrespondenz“ (Art. 8 Abs. 1 EMRK). Schließlich findet sich der Vorschlag, für das „Entsprechen“ darauf abzustellen, ob die in Betracht kommenden Grundrechte den gleichen Lebenssachverhalt regeln, mithin den gleichen Regelungsbereich haben128.
1. Grundlegungen a) Gebührende Berücksichtigung der Erläuterungen Auch die Auslegung des Tatbestands des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh hat gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh die Charta-Erläuterungen gebührend zu berücksichtigen. Hierbei ist dem Rechnung zu tragen, dass diese, insbesondere die Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52, für die Tatbestandsseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bestimmte Ergebnisse einer Anwendung dieser Norm konstatieren, nämlich paarweise sich im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „entsprechende“ Rechte. Bei der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Rechtssatz des Primärrechts sind somit zum einen diese Ergebnisse zu berücksichtigen, wobei die Auflistungen freilich nicht als abschließend zu verstehen sind, sie also in der Sache zu ergänzen sein können129. Die gebührende Berücksichtigung der Erläuterungen muss sich aber zum anderen auch auf das in ihnen zum Ausdruck kommende Verständnis von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, das den in den Auflistungen konstatierten Rechtsanwendungsergebnissen zugrunde liegt, erstrecken [siehe Kapitel 3. B. I.1.a)]. In einem würdigendem Verstehen der Erläuterungen sind diese insbesondere so zu lesen, dass die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 keine Konstellationen „partiellen Entsprechens“ feststellt. Auch aus diesem Grund greift der Ansatz, eine Auslegung der Tatbestandsseite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh selbst zu meiden und schlicht die in den Erläuterungen festgestellten Ergebnisse der Anwendung zu rekurrieren, zu kurz. Dies gilt umso mehr, als Art. 52 Abs. 7 GRCh nicht die Anwendung überkommener allgemeiner Auslegungsmethoden derogiert, sondern voraussetzt130.
128 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1135); C. Calliess, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17. 129 Siehe oben Kapitel 3. C. 130 Siehe oben auf S. 74 f.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
b) Ähnlichkeit der in Betracht kommenden Charta- und Konventionsrechte Nichtsdestotrotz steht die Auslegung vor dem Befund, dass Charta- und Konventionsrechte weit gehend wortlautgleich sind131, so dass eine Zuordnung entsprechender Rechte keine Schwierigkeiten zu bereiten scheint, selbst wenn es die Charta-Erläuterungen nicht gäbe. Dennoch ist, auch trotz des Bestehens der Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52, die Auslegung auch der Tatbestandsseite nicht von bloß akademischem Interesse. Dies gilt nicht nur, weil die Auflistungen nicht abschließend zu verstehen sind, sondern auch angesichts bereits in der Literatur bestehender Streitfälle132.
2. Die tatbestandliche Erfassung „sich entsprechender“ Rechte als Voraussetzung umfassender Kohärenz Wie bereits erwähnt transferiert Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht Rechte einer anderen Quelle, hier der EMRK, die der Sache nach nicht bereits der Charta enthalten sind. Es bestehen bereits korrespondierende Chartarechte. Bestimmungen der Charta sind sogar der EMRK nachgebildet. Gerade dies greift aber auch die Tatbestandsseite in der auf das „Entsprechen“ abstellenden Voraussetzung auf, im Gegensatz etwa zu einer bloßen ziffernmäßigen Bestimmung der Artikel der EMRK133. Die Besonderheit des durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfolgenden Transfers von Recht der EMRK in das Grundrechtsregime der Charta liegt gerade in dem Bestand entsprechender Rechte der Charta. Sinn und Zweck der Voraussetzung „Entsprechen“ ist es, umfassende Kohärenz mit der EMRK zu schaffen. Ein Bedürfnis nach Kohärenz ergibt sich aber gerade aus der Positivierung entsprechender Chartarechte. Dieser teleologische Zusammenhang ist auch der Auslegung und Anwendung der Tatbestandsseite, also der Bestimmung der konkreten Konventionsrechte, auf die sich die Norm erstreckt, zugrunde zu legen. Die Norm stellt darauf ab, dass Charta- und Konventionsrecht sich entsprechen. Hierfür müssen bereits dem Wortlaut nach die Rechte sich in irgendeiner Weise ähnlich sein. Nach dem Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh greift diese Norm, gerade weil das Konventionsrecht dem Chartarecht ähnelt, aber eben nicht mit diesem übereinstimmt, und sie transferiert als Rechtsfolge den materiellen Grundrechtsschutz des entsprechenden Konventionsrechts in Gänze, da131 M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (29 ff.). 132 Vgl. insbesondere M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 331 ff. 133 Siehe Fn. 8.
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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mit dieser materielle Grundrechtsschutz im Unionsrecht statt dem des entsprechenden Chartarechts angewandt wird. Anders wäre es, wenn die Norm darauf abstellen würde, dass die Rechte (inhaltlich) miteinander übereinstimmen. Dem Sinn und Zweck umfassender Kohärenz mit der EMRK würde dies aber nicht entsprechen, denn so würde Konventionsrecht (nur) insoweit transferiert, als dieses bereits durch genuin chartarechtliche Bestimmung ohnehin abgebildet ist. Die Norm wäre dann in der Tat zirkulär und damit sinnentleert. Würde sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf Rechtsfolgenseite darauf beschränken, die konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen nur insoweit zu übertragen, wie das chartarechtliche Grundrecht materiell konventionsrechtlich ist, könnte der Tatbestand des, dann nicht zirkulären, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh darauf abstellen, dass sich die Schutzbereiche decken134. Dies wäre dann auch systematisch stimmig. Der Sinn und Zweck von Kohärenz mit der EMRK wäre dann aber nur in Abhängigkeit von den genuin chartarechtlichen Schutzbereichen verwirklicht: Soweit diese nicht materiell konventionsrechtlich sind, wäre die Charta von der EMRK abgekoppelt, insoweit wäre Kohärenz nicht durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh gewährleistet135. Indem die Norm aber voraussetzt, dass sich die Rechte „entsprechen“, offenbart sich ihr Sinn und Zweck gerade darin, dass solche Konventionsrechte transferiert und zur Anwendung gebracht werden, gerade auch wenn diese sich nur im Detail und sogar insofern nur hinsichtlich eines Elementes des Grundrechtsschutzes – also etwa der Schutzbereichsebene oder der Rechtfertigungsvoraussetzungen – unterscheiden. Im Sinne des Kohärenzgedankens wird – etwa mit Blick auf die Möglichkeit eines Völkerrechtsverstoßes – das Konventionsrecht, dessen Anwendung auf einen konkreten Lebenssachverhalt zu einem anderen Ergebnis in der rechtlichen Bewertung – und damit zu einem Völkerrechtsverstoß – führen kann, weil es im gleichen Lebensbereich anders regelt als das Chartarecht, transferiert und anstelle des Chartarechts angewandt. Ein entsprechendes Recht ist also ein solches, das auf den gleichen konkreten Lebenssachverhalt angewandt möglicherweise zu einer anderen rechtlichen Bewertung führt, als dies bei der Anwendung des entsprechenden Chartarechts der Fall wäre. Entscheidend ist somit nicht, was die Regelungen jeweils im Einzelnen zum Inhalt haben, sondern, dass das in Frage stehende Recht der EMRK im gleichen Bereich des Tatsächlichen regelt wie das entsprechende Chartarecht. Es kommt für den Tatbestand des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh folglich darauf an, dass die in Frage stehenden Rechte im gleichen Lebensbereich regeln136. 134
J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 116 f., 114 f. Siehe oben unter Kapitel 3. B.III.1.b)aa). 136 So im Ergebnis auch C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1135); C. Calliess, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grund135
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
Darauf, wie in diesem Bereich geregelt ist, ob die Regelungen, also insbesondere die Schutzbereiche, sich decken oder sich unterscheiden, kommt es damit, im Einklang mit den genannten wortlaut-systematischen Erwägungen137, auch nach dem Sinn und Zweck der Norm nicht an. Vollständig unterschiedliche grundrechtliche Regelungen „entsprechen“ sich nicht wegen signifikanter Unterschiedlichkeit nicht, sondern, weil sie nicht den gleichen Regelungsbereich betreffen138. Daran zeigt sich auch teleologisch, dass eine Abhängigkeit des Transfers eines Konventionsrechts davon, ob es sich nur geringfügig von dem Chartarecht unterscheidet, oder, wie die in der zweiten Auflistung der Charta-Erläuterung zu Art. 52 genannten Rechte, sich beträchtlich unterscheidet, als maßgebliche Abgrenzung im Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht in Frage kommt. In welchem Lebensbereich ein Grundrecht regelt, wird durch seinen Schutzbereich bestimmt139. Rechtfertigungsvoraussetzungen, und andere den Grundrechtsschutz dieses Rechts bestimmende Regelungen knüpfen hieran an, betreffen dessen Schutzbereich und Eingriffe hierein, sind aber als solche für die Ermittlung des jeweiligen Lebensbereichs nicht ausschlaggebend.
a) Einzelfallunabhängige Betrachtung Weil die Norm auf Tatbestandsseite auf den gleichen Regelungsbereich abstellt, wird in jeden der Lebensbereiche, deren sich Chartarechte annehmen, Konventionsrecht transferiert, soweit solches besteht. Hieraus ergibt sich, dass die Prüfung, welche Konventionsrechte von der Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 GRCh erfasst sind, erfolgt, indem die Regelungen von Charta und EMRK selbst in den Blick genommen werden. Indem diese Prüfung sich auf die Regelungen als solche bezieht, erfolgt sie unabhängig von einem einzelnen, konkreten Lebenssachverhalt, wie er die Schranken eines Gerichts erreicht140. Die Frage nach der konkreten Reichweite des Tatbestands des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist somit tauglicher Gegenstand einzelfallunabhängiger, dogmatischer Betrachtung. Dies steht im Einklang mit den Aussagen der Erläuterungen, die abstrakt feststellen, dass ein jeweiliges Recht der EMRK einem Recht der Charta entspricht141. rechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17. A. A. T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 28, demzufolge eine „Entsprechens“Prüfung nicht losgelöst von den einzelnen Stufen der Grundrechtsprüfung stattfinden könne. 137 Siehe oben unter Kapitel 3. B.III.1. 138 Vgl. aber C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1136). 139 „Schleusenfunktion“ des Schutzbereichs für die Grundrechtsprüfung, U. Volkmann, JZ 2005, 261 (265). 140 A. A. T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 29. 141 Vgl. T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 23.
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b) Vergleich im Rahmen der Subsumtion Wenn es für die Voraussetzung, dass ein Konventionsrecht einem Chartarecht entspricht, darauf ankommt, dass beide den gleichen Regelungsbereich haben, dieser Regelungsbereich aber jeweils von einem Schutzbereich bestimmt wird, der inhaltlich von dem in Betracht kommenden anderen Schutzbereich abweichen kann, dann stellt letztlich die Ermittlung des gemeinsamen Regelungsbereichs der gegenübergestellten Grundrechte das Bestimmen eines tertium comparationis dar. Ausgehend von den Rechten der Charta („soweit diese Charta Rechte enthält“) ist damit zunächst deren Regelungsbereich zu ermitteln. Sodann sind die Regelungsbereiche von den Rechten der EMRK, die in Betracht kommen, zu bestimmen. Diejenigen Konventionsrechte, die einen Regelungsbereich haben, der auch Gegenstand eines Chartarechts ist, erfüllen den Tatbestand des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Es liegt ein „Entsprechen“ im Sinne der Norm vor. Um den Bestand der transferierten und im Unionsrecht vorrangig vor den genuin chartarechtlichen Gehalten anzuwendenden konventionsrechtlichen Gehalte vollständig zu ermitteln, muss jedes Chartarecht in den Blick genommen werden; auch dies verdeutlicht die mit dem Wort „soweit“ eingeleitete Formulierung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Inwieweit Konventionsrecht transferiert wird, wird somit maßgeblich durch den Bestand der Chartarechte bestimmt. c) Beispiel Beispielsweise enthält das Unionsrecht in Art. 7 GRCh und die EMRK in Art. 8 Abs. 1 EMRK einen Schutzbereich auf Achtung des Privat- und Familienlebens, wobei die Schutzbereiche, bis auf den der Kommunikation resp. der Korrespondenz, wortlautgleich ausgestaltet sind. Die Rechtfertigungsvoraussetzungen – Art. 52 Abs. 1 GRCh resp. Art. 8 Abs. 2 EMRK – unterscheiden sich zwar in einem höheren Maße, sie sind aber für den Vergleich im Rahmen der Prüfung des Entsprechens nicht zu berücksichtigen. Durch den Schutzbereich der Kommunikation werden möglicherweise zwar auch Verhaltensweisen geschützt, die keine Korrespondenz darstellen, wie das oben genannte Beispiel (Kommunikationsmittel über das Internet jenseits von E-Mail, die nicht notwendig einen Kommunikationsaustausch im Sinne einer gezielten Kommunikation mit einem konkreten Kommunikationspartner beinhalten142, aber dennoch dem Bereich des Persönlichen zuzurechnen sein können143). Die Regelungen selbst sind somit insofern unterschiedlich. Ausgehend 142
Vgl. insofern zu Art. 8 Abs. 1 EMRK D. Kugelmann, EuGRZ 2003, 16 (22). Dies erscheint für den Schutzbereich der Korrespondenz gem. Art 8 Abs. 1 EMRK fraglich. Vgl. C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 22 Rdnr. 24, der unter Hinweis auf EGMR, Urteil vom 22. 10. 2002, Taylor-Sabori, Nr. 47114/99, Rdnr. 17 f. (zu Pagern), den Schutzbereich der Korrespondenz bei E-Mails bejaht, weil diese nicht-öffentlich sind, hingegen insbesondere bei Newsgroups verneint. Vgl. hingegen insofern D. Kugelmann, EuGRZ 2003, 16 (22). 143
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von dem jeweiligen Schutzbereich regeln aber beide Rechte den Lebensbereich etwa des Privatlebens als Rückzugsraum der Persönlichkeit. Damit betreffen sie den gleichen Regelungsbereich. Folglich „entsprechen“ sie sich gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Als Rechtsfolge wird der durch Art. 8 EMRK vermittelte Grundrechtsschutz in Gänze transferiert, einschließlich insbesondere der besonderen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 8 Abs. 2 EMRK. Als Rechtsfolge sind gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auch die diesen Grundrechtsschutz konstituierenden Elemente, also Art. 8 EMRK, und nicht Art. 7 GRCh in Verbindung mit Art. 52 Abs. 1 GRCh, anzuwenden. Dieses Ergebnis entspricht dem, was die Charta-Erläuterungen in der Erläuterung zu Art. 52 im 5. Spiegelstrich der ersten Liste und in der Erläuterung zu Art. 7 feststellen. 3. Teleologische Reduktion bei bereits bestehender Kohärenz? Liegt der Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in einer umfassenden Kohärenz zur EMRK, ist zu erwägen, diese Norm nicht anzuwenden, wenn die Charta, also genuin chartarechtliche Bestimmungen, ohnehin umfassend kohärent sind. Letzteres dürfte angesichts der der EMRK weit gehend nachempfundenen Bestimmungen der Charta nicht selten der Fall sein. Auch diese Bestimmungen würden einen weit gehenden Gleichlauf zur EMRK bewirken, so dass es der Anwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht bedürfte. Die Voraussetzung, dass die Rechte sich entsprechen, wäre zwar auch insofern an sich nicht zu verneinen. Zu denken aber wäre an eine teleologische Reduktion der Norm. Dies hätte weitreichende Folgen auch für das Gesamtverständnis der Charta im Blickwinkel eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes. Mit Blick auf seinen Sinn und Zweck ließe sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh insofern zwar als überschießend charakterisieren, indem durch Transfer- und Anwendungsbefehl auch und gerade dort Kohärenz hergestellt wird, wo bereits die Bestimmungen der Charta selbst Kohärenz gewährleisten. Indes entspricht es gerade dem Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, dass er insofern nicht differenziert. Daher beschränkt sich auch der Tatbestand der Norm gerade nicht auf die Teile des Konventionsrechts, in denen sich dieses von den genuin chartarechtlichen Bestimmungen unterscheidet. Bereits die Möglichkeit einer anderweitigen, nichtkohärenten, Interpretation eines Grundrechtsschutzes durch genuin chartarechtliche Bestimmungen soll nicht zuletzt aus Gründen der Rechtsklarheit verhindert werden. Eine teleologische Reduktion ist somit abzulehnen. 4. Streitfall: Art. 5 Abs. 2–5 EMRK Wenn die Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 auch eine hilfreiche Auslegungshilfe darstellen, indem sie für die Tatbestandsseite der Norm sogar feststellen, was das Ergebnis der Anwendung eben dieser sei, so gibt es in der Literatur
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doch auch Streitfälle144 hinsichtlich der konkreten Reichweite des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Nach den hier entwickelten Grundsätzen kann ermittelt werden, auf welche Konventionsrechte Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sich im Einzelnen erstreckt, kann die konkrete Reichweite der Norm bestimmt werden. Indem der Regelungsbereich als tertium comparationis von Chartarechten und Konventionsrechten zu ermitteln ist, werden die Grundrechte als abstrakt-generelle Regelungen selbst in den Blick genommen, so dass es auf einen konkreten Sachverhalt für die Frage des „Entsprechens“ nicht ankommt. In dieser Auslegung soll Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nunmehr in einem in der Literatur umstrittenen Fall angewandt werden. Namentlich für die umstrittene Frage, ob Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auch die Absätze 2–5 des Art. 5 EMRK transferiert145, kommt es zunächst darauf an, ob diese die im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh „Bedeutung“ des Rechts auf Freiheit ausmachen, etwa weil sie hierzu konventionsrechtliche Schrankenregelungen darstellen. Nach zutreffender Ansicht sind – überwiegend im Unterschied zur Rechtslage im deutschen Verfassungsrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2, 104 GG) – in den Absätzen 2–5 aber speziellere Grundrechte zu sehen146. Es handelt sich hierbei nicht um Rechtfertigungsvoraussetzungen147 wie Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a–f EMRK oder Art. 104 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2–3 GG in Verbindung mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG. Die Absätze 2–5 des Art. 5 EMRK stellen ebenfalls Grundrechte dar, die die körperliche Bewegungsfreiheit betreffen. Die Regelungen beziehen sich auf die Inhaftierung, stellen dem Inhaftierten spezielle Rechte wie das auf eine richterliche Entscheidung innerhalb einer angemessenen Frist sowie etwaige Schadensersatzansprüche zur Seite. Ebenso wie die Freiheitsentziehung als speziellerer, da intensiverer, Eingriff einen Unterfall der Freiheitsbeschränkung im weiteren Sinne darstellt, ist bei natürlicher Betrachtung der Lebensbereich der Inhaftierung eine besondere Ausprägung einer Situation der körperlichen Bewegungsfreiheit. Die Absätze 2–5 betreffen somit den gleichen Regelungsbereich wie Art. 6 GRCh; dass konventionsrechtlich dem allgemeinen Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK in den Absätzen 2–5 weitere Rechte an die Seite gestellt sind, lässt mit Blick auf den Sinn und Zweck der Norm auch gerade diese Absätze als von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst erscheinen. Auch die Absätze 2–5 des Art. 5 EMRK 144 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 331 ff. 145 Vgl. M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 334 f. 146 C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (4). 147 Vice versa enthält die Charta den Grundsatz des verhältnismäßigen Strafens in Art. 49 Abs. 3 wohl als eigenständiges Grundrecht. Dies ist insofern konsequent, als auch der EGMR nicht die Verhältnismäßigkeit von Strafen als von Art. 5 Abs. 1 EMRK, dem Art. 6 GRCh nachgebildet ist, erfasst sieht; EGMR, Urteil vom 2. 3. 1987, Weeks, EuGRZ 1988, 316, Rdnr. 50.
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werden hiernach neben Art. 5 Abs. 1 EMRK gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in das Recht der Union transferiert148. Fraglich ist aber, ob gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh jeweils nur ein Konventionsrecht transferiert wird. Dieser Eindruck könnte sich bei einem Blick auf die Listen der Erläuterung zu Art. 52 ergeben. Auch dürfte dies dem praktischen Regelfall des Art. 52 Abs. 3 Satz 1GRCh entsprechen. Indes erscheint der Wortlaut der Norm selbst in dieser Hinsicht offen. Aus dem Sinn und Zweck der Norm folgt, dass es für diese Frage gleichgültig ist, ob konventionsrechtlich mehrere Rechte einem Chartarecht entsprechen, wenn also etwa mehrere, speziellere Rechte Ausdruck eines allgemeinen entsprechenden Chartarechts sind. Entscheidend ist vielmehr, dass Recht der EMRK in einem Lebensbereich regelt, in dem auch ein Chartarecht regelt – gleich, ob dies konventionsrechtlich durch mehrere, etwa speziellere, Grundrechte erfolgt. Denn auch dann ist gleichermaßen das Bedürfnis nach Kohärenz ausgelöst, kann es zu einer unterschiedlichen grundrechtlichen Bewertung des gleichen Lebenssachverhalts kommen. Weil es nicht auf den materiellen Gehalt der Regelung für das Entsprechen auf Tatbestandsseite ankommt, kommt es auch nicht auf einen unterschiedlichen materiellen Gehalt an, wenn sich die Regelung erst aus der (hier: konventionsrechtlichen) Ausgestaltung des entsprechenden Grundrechts im gleichen Lebensbereich durch mehrere speziellere Grundrechte ergibt. Aus einer unterschiedlichen ‚Regelungstechnik‘ der EMRK, aus einer Ausdifferenzierung in Form mehrerer eigenständiger Rechte kann sich aber keine andere Bewertung ergeben. Sinn und Zweck der Norm ergeben folglich, dass auch mehrere Rechte transferiert werden, wenn sie den gleichen Lebenssachverhalt regeln wie ein Chartarecht. Vor diesem Hintergrund ist festzustellen, dass allgemein die Charta jedenfalls im Bereich der Freiheitsrechte im Vergleich zur EMRK bestrebt ist zu abstrahieren. Hierdurch sollte aber nicht etwa der Transfer durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh entsprechender speziellerer Rechte vermieden werden. Damit ist die umstrittene Frage, ob auch die Absätze 2–5 des Art. 5 EMRK transferiert sind, zu bejahen149. Der konventionsrechtliche Grundrechtsschutz des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK, der bis auf den Begriff „Person“ statt „Mensch“ in der deutschen Fassung wortlautgleich mit dem Chartarecht ist, ist somit gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in das Unionsrecht transferiert und hier statt Art. 6 GRCh und insbesondere auch statt Art. 52 Abs. 1 GRCh anzuwenden. Eine Grundrechtsverletzung ist hiernach also am Schutzbereich des Art. 5 Abs. 1 Satz 1 EMRK, die Rechtfertigung eines Eingriffs am Maßstab der Art. 5 Abs. 1 Satz 2 lit. a–f EMRK zu messen; der Schutzbereich des Art. 6 GRCh und die Rechtfertigungsvoraus-
148 So M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 335. 149 So auch M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 335; a. A. C. Grabenwarter, DVBl. 2001, 1 (4).
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setzungen des Art. 49 Abs. 3 GRCh und 52 Abs. 1 GRCh sind hingegen nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht anzuwenden. Letztlich lässt sich dieses Ergebnis auch auf den 4. Spiegelstrich der ersten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 stützen. Dieser stellt pauschal fest, dass Art. 6 GRCh Art. 5 EMRK entspricht, womit mangels Differenzierung wohl auch dessen Absätze 2–5 gemeint sind.
5. Von den Erläuterungen festgestelltes „Entsprechen“ und Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Schließlich ist das Verhältnis von den Aussagen der Charta-Erläuterungen, welche Ergebnisse sich aus der Anwendung des Tatbestands des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ergeben, zu Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in dem gefundenem Verständnis zu beleuchten. Die ambivalente Stellung der Erläuterungen als nützliche Auslegungshilfe, deren Aussagen über die Auslegung der Charta aber durch die Charta selbst eine chartarechtlich eigenständige Bedeutung erlangen, spiegelt sich auch hier in der Frage wider, was die in den Auflistungen festgestellten Ergebnisse bedeuten, wenn diese nicht in Einklang mit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu bringen sind. Zunächst sind die Erläuterungen nicht als abschließend zu verstehen. Wenn die Anwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu einem Ergebnis führt, das nicht in den Auflistungen festgestellt wird, so ist dies von vornherein unproblematisch. Die Auflistungen stellen zudem ausdrücklich die Rechtslage zum Zeitpunkt ihres („aktualisierten“) ‚Erlasses‘ dar, wie sich aus dem sie einleitenden Absatz ergibt. Zumindest theoretisch kann sich die Rechtslage der EMRK dahingehend geändert haben, dass ein dort genanntes Konventionsrecht nicht mehr den gleichen Regelungsbereich des ihm ursprünglich entsprechenden Chartarechts teilt, so dass insbesondere die Auflistungen im Nachhinein unrichtig werden können. Die Erläuterungen selbst gehen von der Zeitgebundenheit ihrer Aussagen zu Art. 52 Abs. 3 GRCh aus150. Damit wird auch deutlich, dass sich jedenfalls bedingt durch zukünftige Änderungen des Konventionsrechts, also etwa durch künftige Protokolle oder gravierende Änderungen der Rechtsprechung des EGMR, weitere Entsprechungen ergeben können. Dennoch ist es nicht a priori ausgeschlossen, dass die Erläuterungen Ergebnisse feststellen, die schlechterdings nicht mit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh im Einklang stehen. Ist das der Fall, stellen die Erläuterungen also fest, ein Chartarecht entspreche einem Konventionsrecht, wenn beiden nicht der gleiche Regelungsbereich zukommt, dann kann hierauf nicht zurückgegriffen werden, weil sich Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, bei aller Verpflichtung gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh, die Er150
Siehe oben S. 99 f., These 8.
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läuterungen bei der Auslegung gebührend zu berücksichtigen, letztlich durchsetzen muss151.
IV. Verhältnis zu Art. 52 Abs. 2 GRCh Schließlich ist zu erörtern, in welchem Verhältnis die Regelung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, nach der entsprechende Chartarechte transferiert werden, zu Art. 52 Abs. 2 GRCh steht, nach dem die von dieser Norm erfassten Rechte (insbesondere die Personenverkehrsfreiheiten gem. Art. 15 Abs. 2 GRCh und die unter den Begriff der Unionsbürgerschaft gefassten primärrechtlich normierten individuellen Rechtspositionen152) im Rahmen der in anderen Teilen der Unionsverträge festgelegten Bedingungen und Grenzen ausgeübt werden. Dieses Verhältnis könnte etwa beim Wahlrecht zum Europäischen Parlament (Art. 39 GRCh) oder beim im Zusammenhang mit der „Unionsbürgerschaft“ stehenden Kommunalwahlrecht (Art. 40 GRCh) jeweils im Verhältnis zum konventionsrechtlichen Recht auf Wahlen (Art. 3 ZP [Nr. 1])153, weniger bei der allgemeinen unionsbürgerschaftlichen Freizügigkeit (Art. 45 Abs. 1 GRCh) oder den Personenverkehrsfreiheiten (Art. 15 Abs. 2 GRCh) im Verhältnis zur konventionsrechtlichen Freizügigkeit (Art. 2 Abs. 1 Prot. Nr. 4) virulent werden154. Art. 52 Abs. 2 GRCh beinhaltet das Ziel, bei den erfassten Rechten keine Änderungen am status quo ante (der Rechtslage vor der Rechtsverbindlichkeit der Charta mit einem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon) herbeiführen zu wollen155. Hier liegt insbesondere bei den Grundfreiheiten eine Jahrzehnte alte, höchst ausdifferenzierte Rechtsprechung vor, die durch eine als Neu-Kodifikation verstandene Positivierung dieser Rechte als Bestandteil der Charta nicht in Frage gestellt sein soll. Denn die Positivierungen in anderen Teilen der Unionsverträge, auf die Art. 52 Abs. 2 GRCh Bezug nimmt, sind Bestimmungen, die im acquis communautaire fest verwurzelt sind, bzgl. derer es also eine ausdifferenzierte Recht-
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M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 331 ff. 152 EuGH, Urteil vom 20. 9. 2001, Rs. C-184/99, Grzelczyk, Slg. 2001, S. I–6193, Rdnr. 31; vgl. bereits EuGH, Urteil vom 12. 5. 1998, Rs. C-85/96, Sala, Slg. 1998, S. I–2961, Rdnr. 62; aber str.; vgl. D. H. Scheuing, Die Freizügigkeit der Unionsbürger in der Europäischen Union, in: FS Würzburger Juristenfakultät, S. 103 (119 ff.). 153 EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107. 154 Vgl. K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 (294). 155 C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (327); T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (50).
A. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh
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sprechung gibt156. Ferner geht es bei diesen Rechten auch um die spezielle, chartarechtliche Bewältigung einer allgemein für die Unionsverträge nach dem Vertrag von Lissabon typischen Problematik157, nämlich die der sog. Doppelnormierung (hier: Doppelgewährleistung158). Zwar wird vertreten, es handele sich bei Art. 52 Abs. 2 GRCh ebenfalls um eine Transferklausel159. Indes sind im Unterschied zu Abs. 3 Satz 1 die Gehalte, auf die sich die Norm bezieht, ohnehin bereits dem Primärrecht enthalten, müssen nicht erst wie das Recht der EMRK gem. Abs. 3 Satz 1 aus einer fremden Quelle in das Unionsrecht übertragen werden. Das Verständnis als Transferklausel schießt somit über das durch Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 2 GRCh vorgegebene Ziel hinaus und ist auch angesichts eines im Vergleich zu Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh unterschiedlichen Wortlauts (Ausübung unter Bedingungen und Grenzen, die in anderen Teilen der Unionsverträge festgelegt sind) nicht geboten. Vor allem würde es die ohnehin nach dem Vertrag von Lissabon hervortretende Problematik der Doppel- und Mehrfachnormierung160 sogar noch verstärken. Daher wird hier vorgeschlagen, Art. 52 Abs. 2 GRCh als Rechtsgrundverweis zu verstehen161. In dem Verhältnis zwischen Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu Art. 52 Abs. 2 GRCh stellt sich letztlich die Frage, welches der gegenläufigen teloi sich durchsetzt: dasjenige, keine Änderungen am acquis communautaire durch die Nennung dieser Rechte in der Charta herbeizuführen162, oder dasjenige, umfassende Kohärenz mit der EMRK zu schaffen163. 156
Art. IV-438 Abs. 4 des Verfassungsvertrags wollte hinsichtlich dieser Rechte des vormaligen EG-Vertrags gewährleisten, dass die Auslegungen des EuGH der entsprechenden Artikel des EG-Vertrags auch mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon ‚weitergelten‘. Mit dem Vertrag von Lissabon, einem Änderungsvertrag der grundsätzlich fortgeltenden Unionsverträge, besteht hierfür keine Notwendigkeit, da es sich bei den betreffenden Artikeln selbst, obgleich neunummeriert, ohnehin um die identischen Rechtssätze handelt. 157 J. Bast, Einheit und Differenzierung der europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 34 (42). Zur methodischen Bewältung ders., ebenda, S. 56 ff. 158 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152. 159 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 49; ders. / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (50); R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 11. 160 J. Bast, Einheit und Differenzierung der europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 34 (42). 161 Die Vorschrift dient der Auflösung von Normkonkurrenzen, T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 1. 162 So, allerdings nur, wenn das Unionsrecht weiter gehend schützt, R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 9, Fn. 35. 163 So K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 (294) (arg. ex Art. 53 GRCh).
164
Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
Ohne die dafür erforderliche umfangreiche Auslegung des Art. 52 Abs. 2 GRCh hier leisten zu können, lässt sich doch vorsichtig sagen, dass die Rechte, die Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in Bezug nehmen will, solche sind, die durch die Charta erstmals kodifiziert werden. In den Anwendungsbereich dieser Kohärenzklausel sollen nicht die Rechte fallen, die spezifisch dem acquis communautaire entstammen und auch bislang nicht einer Kohärenzklausel bedurften. Deshalb erscheint es gerechtfertigt, diese Artikel – insbesondere also Freizügigkeitsrechte – der Charta nicht als von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst zu sehen. Im Beispiel bliebe also die konventionsrechtliche Freizügigkeitsgewährleistung (Art. 2 Abs. 1 Prot. Nr. 4) außen vor. Eine solche Auslegung stünde auch im Einklang mit den Aussagen zu den Erläuterungen, die die unter Art. 52 Abs. 2 GRCh fallenden Rechte nicht als Anwendungsfall von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh begreifen164. Diese Position wäre insbesondere mit der hier vorgeschlagenen Auslegung zu vereinbaren, in Abs. 2 einen Rechtsgrundverweis zu sehen: Solche Rechte, die auch in einem anderen Teil der Unionsverträge normiert sind und auf die Abs. 2 für die Rechtsanwendung vollständig verweist, kommen auch begrifflich nicht als „Rechte der Charta“ im Sinne des Abs. 3 Satz 1 in Betracht. Vielmehr handelt es sich bei diesen Rechten in der hier vertretenen Sicht – wegen Abs. 2 – nicht um Rechte der Charta, sondern der anderen Teile der Unionsverträge. Hiernach ist es auch hier nicht erforderlich, das Verhältnis der Absätze zueinander nach allgemeinen Grundsätzen über Konkurrenzen, insbesondere also den der lex specialis165, zu klären.
B. Zwischenergebnis zur Frage eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes – Bedeutsamkeit der „entsprechenden“ Chartaartikel B. Zwischenergebnis zum genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz
Im Unionsrecht bestehen neben den transferierten Bestimmungen, die einen konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz im Recht der Union begründen, entsprechende genuin chartarechtliche Gehalte. Allerdings werden sie in der Anwendung durch die transferierten konventionsrechtlichen Gehalte der EMRK verdrängt. Transferiert sind insbesondere konventionsrechtliche Schutzbereiche und Rechtfertigungsvoraussetzungen. Das bedeutet, dass insoweit genuin chartarechtlichen Schutzbereichen und Rechtfertigungsvoraussetzungen, also weiten Teilen der Titel I und II der Charta sowie Art. 52 Abs. 1 GRCh, kein Anwendungsbereich zukommt. 164 Siehe jeweils die Erläuterung zu Art. 15, 23, 39–45 bzw. 46, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17. 165 J. Bast, Einheit und Differenzierung der europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 34 (56); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 11.
B. Zwischenergebnis zum genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz
165
Somit werden kraft Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bestehende Unterschiede der Charta im Vergleich zur EMRK zwar nicht im eigentlichen Sinne nivelliert. Indem diejenigen Gehalte, von denen sich die Charta unterscheidet, in die Charta selbst übertragen werden und vorrangig vor jenen angewandt werden, werden die bestehenden Unterschiede aber im Ergebnis durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh gewissermaßen neutralisiert. Hinsichtlich der Schutzbereiche handelt es sich um einen bedeutenden Teil der Bestimmungen der Charta, der nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht anzuwenden ist. Hiermit einher geht darüber hinaus auch eine entsprechende Reduzierung des Anwendungsbereichs der allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh. In den Titeln I und II enthaltene besondere Rechtfertigungsvoraussetzungen gelangen hiernach überhaupt nicht zur Anwendung.
I. Enumerationsfunktion In der Sicht des mangelnden Anwendungsbereichs erscheinen die genuin chartarechtlichen Grundrechte zunächst praktisch bedeutungslos. Indes stellt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh auf sie ab, um die („entsprechenden“) Rechte der EMRK zu bestimmen, die Gegenstand des Transfers sind und im Unionsrecht angewandt werden. Damit sind die im Sinne dieser Norm entsprechenden Chartarechte von weichenstellender Bedeutung für die Frage, welche Konventionsrechte transferiert werden. Den entsprechenden Chartarechten kommt auf der Seite des Tatbestands des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh die Funktion eines Anknüpfungspunktes zu. Indem sie bestimmen, welche Konventionsrechte transferiert und angewandt werden, haben sie eine Enumerationsfunktion. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh stellt im Vergleich zu anderen Transferklauseln auch insofern eine Besonderheit dar. Denn weder wird die EMRK oder deren Menschenrechtsteil vollständig transferiert166 noch werden etwa die Artikel der Konventionsrechte, die Gegenstand des Transfers in das Unionsrecht sind, ziffernmäßig bezeichnet167. Vielmehr bestimmt Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh diejenigen Konventionsrechte, die Gegenstand des Transfers sind, allgemein und abstrakt. Freilich sind den Charta-Erläuterungen Listen als Auslegungshilfe enthalten, und diese sind gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh gebührend zu berücksichtigen. Die gegenwärtige Rechtslage zeichnet sich aber gerade dadurch aus, dass diese Listen gerade nicht in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh selbst enthalten sind168. 166
So etwa Art. 4 Abs. 1 Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, siehe Fn. 7. Siehe Gegenbeispiel in Fn. 8. 168 So aber z. B. ausdrücklich der Vorschlag des Konventsmitglieds Hirsch-Ballin, zitiert nach M. Engels, Bericht über die 17. Sitzung des Konvents am 25. und 26. September 2000 in Brüssel (Koordinierungssitzung der Vertreter der nationalen Parlamente und formelle Konventssitzung), in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2001, S. 377 ff. (379). 167
166
Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
Die abstrakt-generelle Bestimmung der Rechte der EMRK, die transferiert werden, bedeutet auf der anderen Seite, dass es auch von der EMRK abhängt, welche Rechte dies sind, dass also auch die Zahl der transferierten Rechte sich ändern kann, ohne dass das primäre Unionsrecht sich ändert. Auch dieser Aspekt findet in den Charta-Erläuterungen Erwähnung. Die Erläuterung zu Art. 52 leitet in dem den Auflistungen vorangehenden Absatz ein, dass davon auszugehen sei, dass nachfolgend die entsprechenden Rechte bei gegenwärtiger Rechtslage sich entsprächen. In der Tat kann eine Auslegungshilfe der Charta dies – angesichts der abstrakt-generellen Bestimmung transferierten Konventionsrechts – nicht für alle Zeit verbindlich feststellen169. Indem Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRCh die Konventionsrechte, die transferiert werden, abstrakt-generell bestimmt, ist er in der Lage, Änderungen des Konventionsrechts aufzunehmen. Kommen Rechte in der Konvention, die bereits bestehenden Chartarechten entsprechen, durch weitere konventionsrechtliche Protokolle hinzu, werden auch diese in das Unionsrecht transferiert und hier angewandt. Die Auflistungen wären in der Sache somit auch den zukünftigen Rechtsentwicklungen anzupassen, z. B. wegen der Einführung des allgemeinen170 Gleichheitssatzes durch Prot. Nr. 12171 oder einer konventionsrechtlichen Berufsfreiheit. Die abstraktgenerelle Bestimmung würde – teleologisch stimmig – auch diese Garantien erfassen. Auch in dieser Hinsicht mag die abstrakt-generelle Inbezugnahme des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh der Konventionsrechte als dynamisch172 bezeichnet werden173. Damit ist festzuhalten, dass die durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh anwendungsbereichslosen Chartarechte keineswegs bedeutungslos sind. In ihrer Enumerationsfunktion spielen sie bei der Bestimmung der Konventionsrechte, die kraft dieser Norm in das Unionsrecht transferiert und hier angewandt werden, eine zentrale Rolle. Dennoch ist diese Rolle als bloß formell zu charakterisieren. Denn die Chartarechte gelangen nach dem bislang Erörterten in ihren materiellen Gehalten nicht zur Anwendung. Die meisten Artikel der Titel I und II haben hiernach als Grundrechte keine praktische Bedeutung. 169 Sehr kritisch M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, S. 18 ff. 170 Art. 14 EMRK ist akzessorisch, J. Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2003, Art. 14 Rdnr. 5 f. 171 Siehe hierzu J. Meyer-Ladewig, Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, 2003, Art. 14 Rdnr. 3 f. 172 Üblicherweise ist aber, zu Recht, die Erstreckung auch auf die Rechtsprechung des EGMR gemeint; N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44; J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 122. 173 Gegen die Zulässigkeit des dynamischen Verweises auf ein Vertragswerk außerhalb des Unionsrechts bestehen im Ergebnis keine Bedenken. Vor allem sind die Rechtsetzer dieser Verweisungsnorm, die Mitgliedstaaten als Herren der Verträge, ausnahmslos auch Signatarstaaten der EMRK. Siehe hingegen J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 122.
B. Zwischenergebnis zum genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz
167
II. Subsidiärer genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz im Falle eines Absinkens des EMRK-Schutzes pro futuro Der Umstand, dass eine Enumeration zu transferierender Konventionsrechte auch über eine ausdrückliche, ziffernmäßige Bezeichnung der betreffenden Artikel der EMRK, also etwa eine Liste, wie sie in den Charta-Erläuterungen enthalten ist, als Bestandteil des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh hätte erfolgen können174, dieser Weg aber gerade nicht von den Urhebern der Charta gewählt worden ist, weist die Richtung für einen möglichen Anwendungsbereich der im Sinne dieser Norm entsprechenden, genuin chartarechtlichen Bestimmungen. Wie gesehen, ist die abstrakt-generelle Bezeichnung derjenigen Konventionsrechte, die Gegenstand des Transfers sind, insofern dynamisch, als sie nach Unterzeichnung der Unionsverträge der EMRK hinzugefügt werden. Eine Änderung des Konventionsrechts ist – theoretisch – aber auch in umgekehrte Richtung denkbar. So würde es ebenfalls einen außerhalb des Unionsrechts liegenden Umstand darstellen, wenn etwa der Menschenrechtsschutz der EMRK entfiele. Fallen Rechte der EMRK weg, auf die Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zuvor verwies, so ist die Tatbestandsvoraussetzung, dass diese Rechte jenen der Charta entsprechen, nicht erfüllt175, der Transfer und die Anwendung transferierten Konventionsrechts als Rechtsfolge erfolgen somit nicht. Das gilt für den unwahrscheinlichen Fall, dass die Vertragsstaaten der EMRK die betreffenden Artikel durch Änderungsvertrag aufheben würden. Nicht anders zu behandeln wäre der Fall, dass der konventionsrechtliche Grundrechtsschutz versagt176. In jedem Fall gilt, dass das Unionsrechts nicht garantieren kann, dass Szenarien wie diese nicht eintreten. Weil aber in solchen Szenarien die Voraussetzung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht erfüllt ist, ein Recht der EMRK nicht einem der Charta entspricht, wird Konventionsrecht nicht transferiert und gelangt nicht im Unionsrecht zur Anwendung177. Die genuin chartarechtlichen Gehalte sind dann nicht gem. der Rechts174 So der Vorschlag von Hirsch-Ballin, zitiert nach M. Engels, Bericht über die 17. Sitzung des Konvents am 25. und 26. September 2000 in Brüssel (Koordinierungssitzung der Vertreter der nationalen Parlamente und formelle Konventssitzung), in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2001, S. 377 ff. (379). 175 Das gleiche Ergebnis ließe sich auch als Rechtsfolgenlösung über die Sätze 1 und 2 erreichen. Die besseren Argumente sprechen aber dafür, dass bereits kein „Entsprechen“ vorliegt. 176 Im Fall des Versagens ist allenfalls denkbar, das „Entsprechen“ zu bejahen, weil diese Voraussetzung bei einer bloß formellen Betrachtungsweise erfüllt ist. Dann aber wird man jedenfalls auf der Rechtsfolgenseite nicht das transferierte Konventionsrecht zur Anwendung gelangen lassen, weil dies dem Sinn und Zweck des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh widerspräche. Jedenfalls dann würde, auch nach wohl h. M. [siehe oben unter Kapitel 2. C. I.1] Satz 2 greifen. 177 Anderes würde gelten, wenn man im Falle eines bloß materiellen Versagens konventionsrechtlichen Grundrechtsschutzes – im Gegensatz zur theoretischen Fallgestaltung, dass die Konventionsstaaten die Konvention aufheben – bei einer formellen Betrachtungsweise die Voraussetzung „entsprechen“ als erfüllt ansehen würde. Dann aber wäre jedenfalls davon auszugehen, dass der subsidiäre Grundrechtsschutz der Charta über Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zur Anwendung gelangt. Siehe dazu sogleich.
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
folge des Abs. 3 Satz 1 nicht anzuwenden. Indem diese Anwendungssperre entfällt, können die genuin chartarechtlichen Bestimmungen subsidiär einen genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz entfalten. Die abstrakt-generelle Bestimmung der im Unionsrecht anzuwendenden Konventionsrechte nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vermag selbst solche Rechtsentwicklungen zu bewältigen. In diesem Aspekt enthält Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in Verbindung mit den „entsprechenden“, subsidiär anwendbaren, genuin chartarechtlichen Bestimmungen hinsichtlich der Geltung der transferierten Konventionsrechte im Recht der Union in gewisser Hinsicht ein funktionales Äquivalent zu dem, was für das Grundgesetz im Zusammenhang mit dem Solange-II-Vorbehalt178 und, ferner, für das Recht der EMRK der Bosphorus-Rechtsprechung179 gilt. Im Falle des Versagens des ‚fremden‘ Grundrechtsschutzes, dem ansonsten in gewisser Hinsicht ein Vorrang vor dem eigenen Grundrechtsschutz innerhalb der eigenen Rechtsordnung eingeräumt wird, wendet sich in vollem Umfang der eigene Grundrechtsschutz wieder an. Insofern erscheint Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als chartarechtlicher Ausdruck von „interlocking legal orders“180. Freilich tragen die Vergleiche nur bedingt. Während es insbesondere bei dem Solange-Vorbehalt im GG um die Öffnung der Rechtsordnung für fremde, supranationale Hoheitsakte und deren grundsätzlicher Prüfung an ebenfalls fremden Grundrechten geht, bedeutet Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine ‚Öffnung‘ nur für ‚inhaltlich fremden‘ Grundrechtsschutz, der aber, transferiert, als Unionsrecht und wiederum nur für unionale Rechtsakte gilt. Damit ist zusammenzufassen, dass die Charta, soweit sie Konventionsrecht transferiert, einen subsidiären Grundrechtsschutz enthält. Die Schutzbereiche, Rechtfertigungsvoraussetzungen usf., die diesen konstituieren, haben bereits nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in ihren materiellen Gehalten ein – wenn auch tatsächlich unwahrscheinliches – Anwendungsfeld. Dieser subsidiäre genuin chartarechtliche Grundrechtsschutz wäre hiernach, wenn auch nicht als ausschließlich theoretisch, so doch als praktisch von geringer Bedeutung einzustufen.
C. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh C. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh kommt nach dem herrschenden Verständnis eine bloß deklaratorische Bedeutung, die eines politischen Signals der Wahrung unionsrechtlicher Autonomie auch in Grundrechtsfragen zu181. Der Regelung wird allen178
BVerfGE 73, 339. EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197; EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107. Diese Rechtsprechung wird ihrerseits als Parallele zur deutschen Solange-II-Rechtsprechung (Fn. 178) verstanden, S. Winkler, EuGRZ 2007, 641 (642). 180 K. Lenaerts, ICLQ 52 (2003), 873. 181 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39; S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165. 179
C. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
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falls bei einem, tatsächlich unwahrscheinlichen Absinken des EMRK-Schutzes pro futuro eine Funktion zugewiesen. Dann seien der EuGH und der Sekundärrechtsetzer zum Grundrechtsschutz berufen182. In der hiesigen und im Ergebnis wohl herrschenden Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh als Transferklausel würde ein solches Verständnis von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh letztlich beinhalten, dass gerade der abwehrrechtliche Grundrechtsschutz nach der Charta in weiten Teilen kein genuin chartarechtlicher wäre. Es wäre dann an dem, was soeben als Zwischenergebnis zur Bedeutsamkeit der „entsprechenden“ genuin chartarechtlichen Gehalte festgestellt wurde, als Endergebnis festzuhalten. Die genannten entsprechenden Chartarechte gerieten in ihren materiellen Gehalten praktisch nicht zur Anwendung. Bei der hier vertretenen Auslegung des Satzes 1 hängt also letzten Endes die Frage, ob den „entsprechenden“ Chartarechten auch in ihren materiellen Gehalten eine Bedeutung zukommt, von dem Verständnis des Satzes 2 ab. In jüngerer Zeit werden indes die Stimmen lauter, die auch mit Blick auf mehrbegünstigende chartarechtliche Bestimmungen eine konstitutive Bedeutung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh als Ausnahmeregelung zu Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh bejahen183. Bislang nicht beleuchtet ist hierbei, dass ein Verständnis des Satzes 2 als Ausnahme, die den Transfer gem. Satz 1 für bestimmte Bereiche nicht gelten lässt, den Transfergegenstand gewissermaßen durchlöchert. Dieses Herausschneiden von bestimmten Gehalten aus dem Transfer erscheint besonders problematisch, weil die Transferklausel von dem herrschenden Meinungsstrang in Verbindung mit einem Identitätskonzept verstanden wird. Eine Durchlöcherung des Transfers würde in jedem Fall die Rechtsanwendung vor erhebliche Schwierigkeiten stellen184. Hingegen hat sich das Identitätskonzept im Rahmen der vorliegenden Untersuchung als nicht tragfähig erwiesen. Nach dem hier vertretenen Ansatz, wonach neben einschlägigen konventionsrechtlichen Gehalten entsprechende genuin chartarechtliche bestehen, die nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh aber grundsätzlich nicht anzuwenden sind, ist die Grundlegung dafür gegeben, dass diesen Gehalten gem. Satz 2 ein Anwendungsbereich eingeräumt wird, ohne dass insofern Bereiche vom Transfer gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ausgenommen sein müssen. Eine, vor allem in der Rechtsanwendung schwer zu handhabende, einzelfallabhängige Durchlöcherung der Transferklausel wäre nicht notwendig. Wohl aber könnten ge182
Siehe oben unter Kapitel 2. C. I.1. R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53); C. Calliess, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17. 184 Vgl. die Kritik bei J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 182 f., 197 f., an Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, der von ihm als Schrankenklausel verstanden wird und dessen Anwendungsbereich durch die gewählte Auslegung der Tatbestandsseite der Norm ähnlich schwer zu ermitteln ist. 183
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
nuin chartarechtliche Mehrgewährleistungen, seien sie in der zweiten Auflistung der Erläuterung zu Art. 52 benannt oder nicht, zur Anwendung gelangen. Die Regelung des Satzes 2 wäre insofern konstitutiv. Die überragende Bedeutung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh für das gesamte chartarechtliche Grundrechtsregime verlangt daher eine sorgfältige Auslegung des Satzes 2.
I. Ausgangslage 1. Deskriptiver Wortlaut und möglicher deklaratorischer Charakter der Norm Die Formulierung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh in der deutschen Fassung „diese Bestimmung steht dem nicht entgegen“ erscheint zunächst deskriptiv. Dies könnte letztlich einen deklaratorischen Charakter der Norm begründen, wie dieser von der ganz herrschenden Meinung bejaht wird. Insofern könnte es sich sogar nur um ein bloß politisches Signal handeln, dahingehend, dass die Autonomie des Unionsrechts unangetastet bleibe185, wohl, angesichts der systematischen Stellung der Vorschrift, als Komplementierung des weit gehenden Transfers von Konventionsrecht durch Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Signalisiert würde dann, dass diese umfängliche Bindung der Union an das Konventionsrecht in Wahrnehmung voller Autonomie erfolgt, die weit gehende unilateral unionsrechtliche Bindung an Recht der EMRK geradezu Ausdruck dieser Autonomie ist. Doch begründet ein deskriptiver sprachlicher Stil nicht als solcher ein geringeres Maß der Verbindlichkeit einer Norm. Vielmehr vermag eine Formulierung solcher Art allgemein den normativen Befehlscharakter einer Rechtsnorm bis hin zu einer geradezu kategorischen Bestimmung sogar besonders hervorheben186. Dass auch bei Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh die deskriptive Formulierung in der deutschen Fassung den Anspruch voller normativer Verbindlichkeit zum Ausdruck bringt, steht im Einklang mit der englischen Fassung der Norm. Hier findet sich nämlich die typische sprachliche Fassung eines Normbefehls „shall not prevent“ (Hervorhebung d. Verf.)187. Es handelt sich somit jedenfalls nicht um einen bloß politischen Programmsatz. Ob die Regelung eine bloß deklaratorische ist – ob sich das Geregelte auch, Satz 2 hinweggedacht, gleichermaßen aus anderen Regelungen ergäbe –, ist hingegen erst nach vollständiger Auslegung der Norm zu beantworten.
185 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39. A. A. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1140): Ausnahmeregel, die indes durch Art. 53 GRCh wieder eingeschränkt werde. 186 Vgl. J. Isensee, AöR 131 (2006), 173 (174). 187 Siehe Fn. 99.
C. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
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2. Anwendungsbereich des Satzes 1 Ausgehend vom Wortlaut der Norm bezieht sich die Regelung des Satzes 2 auf den vorangegangenen Satz. Mit „dieser Bestimmung“ die dem folgend formulierten weiter gehenden Schutz nicht entgegenstehe, ist die Bestimmung des Satzes 1 gemeint. Es kommt auf die Auslegung des Ausdrucks „diese Bestimmung“ an, den Gegenstand dieser Bezugnahme zu erhellen. Möglich erscheint einerseits188, dass sich der Ausdruck „diese Bestimmung / this provision / cette disposition“ auf das durch Satz 1 Bestimmte bezieht, also auf das, was sich als Ergebnis der Anwendung des Satzes 1 ergibt (ce qui est disposé). In diesem Fall greift Satz 2 dieses Regelungsergebnis auf, um hierauf aufbauend eine weitere Regelung zu treffen, indem es weiter heißt: „[…] steht dem nicht entgegen, dass […]“. Denkbar ist aber auch, dass mit „dieser Bestimmung“ Satz 1 als Rechtssatz gemeint ist. In diesem Verständnis, würde „diese Bestimmung steht dem nicht entgegen“ normieren, dass die in Satz 2 (Halbsatz 2) enthaltene Regelung – Gewährung weiter gehenden Schutzes – statt der Norm des Satzes 1 Anwendung findet. Soweit Satz 2 greift, also dessen Voraussetzungen vorliegen, wäre von vornherein Satz 1 nicht anzuwenden. Damit beträfe Satz 2 die Anwendbarkeit des Satzes 1, würde Satz 2 den Anwendungsbereich von Satz 1 regeln. In der Entscheidung für eine der beiden Lesarten ist das gewonnene Verständnis der Regelung des Satzes 1 als Transfernorm in den Blick zu nehmen. Verstünde man den ersten Halbsatz des Satzes 2 so, dass Satz 2 von vornherein den Anwendungsbereich des Satzes 1 verschließt, wenn die Voraussetzungen des Satzes 2, zweiter Halbsatz erfüllt sind, hieße dies, dass insoweit Konventionsrecht überhaupt nicht transferiert würde. Der Transfer von Recht der EMRK würde gem. Satz 2 Halbsatz 2 davon abhängen, ob „weiter gehender Schutz“ durch das Unionsrecht vorliegt. In diesem Sinne könnten die in der Literatur vertretenen Ansätze, Satz 2 als Ausnahme zu Satz 1 zu sehen189, zu deuten sein. Im Unterschied zur „Überschneidungsbereichs“-These erfolgt nach Sicht dieser „Herausschneidens“These die sachliche Ausnahme vom Transfer konventionsrechtlicher Gehalte gerade nicht über die Nicht-Anwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, also durch ein Verneinen des Tatbestandsmerkmals „entsprechen“. Vielmehr soll durch Satz 2 negativ bestimmt sein, was nicht transferiert wird, würde also insoweit der Anwendungsbereich des Satzes 1 verschlossen. 188
Vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Auflage 2006, § 9 Rdnr. 7. R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (53); C. Calliess, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17; unklar M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39 a. A. 189
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
Diesem Verständnis ist aus folgenden Gründen entgegenzutreten: Der Transfer von Konventionsrecht erfolgt gem. Satz 1 zwar insofern punktuell, als es auf sich „entsprechende“ Rechte ankommt. Hierbei wird aber jeweils auf die grundrechtlichen Regelungen der Charta und der EMRK selbst abgestellt, so dass der Transfer als solcher abstrakt-generell erfolgt. Da Satz 2 in seinen Voraussetzungen darauf abstellt, dass das Unionsrecht weiter gehenden Schutz gewährt, würde der abstrakt-generelle Transfer von Recht der EMRK durch ein Verständnis des Satzes 2 als Anwendungsbereichsregelung des Satzes 1 gewissermaßen durchlöchert und damit letztlich in Frage gestellt. Die Pauschalität der Anordnung steht aber im Zusammenhang mit dem Sinn und Zweck des Verweises. Nur wenn die Rechtssätze insgesamt übertragen werden – und nicht in bestimmten Hinsichten nicht –, wird Kohärenz in einem umfassenden Sinne verwirklicht. Darüber hinaus wäre Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, und damit vor allem der klassische, freiheitsrechtliche Grundrechtsschutz der Charta überhaupt, äußerst schwer handhabbar, weil in einem zu entscheidenden Fall mit Blick auf transferiertes Konventionsrecht bereits über die anzuwendenden Rechtssätze weit gehende Unklarheit herrschen würde. Denn die Voraussetzung des Satzes 2, dass das Unionsrecht weiter gehend schützt, dürfte gerade im Einzelfall nicht immer leicht zu bestimmen sein. Damit aber erscheint diese Auslegung des Satzes 2 auch im Hinblick auf die gebotene Rechtsklarheit bedenklich. Im Grunde widerspricht aber die Auslegung des Satzes 2 als Anwendungsbereichsregelung des Satzes 1 auch bereits einem natürlichen Verständnis der Norm. „Diese Bestimmung steht dem nicht entgegen, dass […]“ erscheint nämlich nicht als Einschränkung „dieser Bestimmung“, des Satzes 1, sondern, umgekehrt, als Nicht-Einschränkung des Folgenden, also des Satzes 2 (zweiter Halbsatz). Somit regelt Satz 2 nicht den Anwendungsbereich des Satzes 1, sondern der erste Halbsatz des Satzes 2 trifft eine Aussage zum Verhältnis beider Sätze, indem er klarstellt, dass der durch Satz 1 bewirkte Transfer nicht zu Lasten der Regelung des Satzes 2 erfolgt. Dies kommt letztlich auch in der systematischen Stellung des Satzes 2, nämlich nach Satz 1, zum Ausdruck. Damit meint „diese Bestimmung / this provision / cette disposition“ nicht die Regelung des Satzes 1, sondern das hierdurch Bestimmte (ce qui est disposé, that is provided). Als Zwischenergebnis ist festzuhalten, dass die Regelung des Satzes 2 ungeachtet des Transfers gem. Satz 1, der durch die Regelung des Satzes 2 nicht berührt wird, greift. In dieser Sicht stehen beide Normen in Idealkonkurrenz. Das Ergebnis der Anwendung des Satzes 1 stehe „dem nicht entgegen“, was als Regelung folgt, erscheint im Grunde als Klarstellung des Anwendungsbereichs des Satzes 2. Es wird klargestellt, dass das durch Satz 1 Bestimmte die Regelung „dass das Recht der Union weiter gehenden Schutz gewährleistet“ unberührt lässt.
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3. Mögliche Verortung von Tatbestand und Rechtsfolge Betrifft somit der erste Halbsatz des Satzes 1 das Verhältnis von Satz 1 und Satz 2, so steckt die eigentliche Regelung des Satzes 2 in dessen zweitem Halbsatz. Dieser lautet „dass das Recht der Union einen weiter gehenden Schutz gewährt“. Fraglich ist angesichts dieses feststellenden Wortlauts, worin die Rechtsfolge und worin Tatbestand der Norm besteht. Eine Zweiteilung im Sinne einer Tatbestandsseite einerseits und einer Rechtsfolgenseite andererseits ist zunächst nicht zu erkennen.
II. „Weiter gehender Schutz“ durch „das Recht der Union“ als zentrale Merkmale der Regelung Die Vorschrift bezeichnet „weiter gehenden Schutz“ durch „das Recht der Union“. Im zweiten Halbsatz der Norm kommt diesen Merkmalen eine zentrale Bedeutung zu.
1. „Recht der Union“ Zunächst ist zu ermitteln, welche Bestimmungen Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh überhaupt erfasst. Die „weiter gehend“ schützenden Normen werden schlicht als „das Recht der Union“ bezeichnet. Die Formulierung erscheint damit sehr weit.
a) Unionsrecht und Gemeinschaftsrecht Der Wortlaut „das Recht der Union“ wurde unverändert von der 2000 proklamierten Fassung des Artikels übernommen. Der Vertrag von Lissabon sieht, wie bereits der Verfassungsvertrag, im Zusammenhang mit den unionalen Rechtsakten einige Modifikationen vor, die sich unter anderem im Zusammenhang mit der Auflösung der Säulenstruktur (der Vergemeinschaftung, insbesondere der sogenannten Dritten Säule) ergeben, so dass z. B. zukünftig an die Stelle des Rahmenbeschlusses die Richtlinie tritt. Diesen Änderungen musste bei der Einfügung der Charta in das Primärrecht nach dem Vertrag von Lissabon Rechnung getragen werden190. Es ist anzunehmen, dass nach dem Rechtsstand des Vertrags von Nizza, jedenfalls aber von Amsterdam, das „Recht der Union“, neben dem Gemeinschaftsrecht, auch das Recht der sog. zweiten und dritten Säule, also mit der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Titel V EU) und der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Titel VI EU) das Unionsrecht im engeren Sinne, meinte. Andernfalls, wenn nur das Recht der ersten Säule gemeint gewesen 190
Vgl. H. Brecht, ZEuS 2005, 355 (377).
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wäre, wäre wohl der Begriff „Gemeinschaftsrecht“191 verwendet worden. Diese Interpretation des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh in der 2000 proklamierten Fassung entspricht auch der Kodifizierung des gemeinschaftsgrundrechtlichen acquis durch den Maastrichter und Amsterdamer Vertrag. Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 46 lit. d EU bedeutet letztlich eine Erstreckung des überkommenen prätorischen Grundrechtsschutzes durch den EuGH auf der Grundlage des Art. 164 EWGV auch auf die zweite und dritte Säule192. Angesichts der mangelnden Rechtspersönlichkeit „der Union“ zum Zeitpunkt der Proklamation der Charta stellen Rechtsakte „der Union“, die nicht Gemeinschaftsrecht sind, regelmäßig Rechtsakte, völkerrechtliche Vereinbarungen dar, die den Mitgliedstaaten zuzurechnen sind193. Hiernach ließe sich sogar erwägen, ob nicht auch sonstige Vereinbarungen der Mitgliedstaaten im Zusammenhang mit der Union, aber nicht notwendigerweise im Rahmen der zweiten und dritten Säule, hierzu zu rechnen sind194. In der Perspektive der proklamierten Fassung der Charta erscheint jedenfalls der Wortlaut „Recht der Union“ als entsprechend umfassend. Mit dem Vertrag von Lissabon wird – zunächst regelungstechnisch – die Säulenstruktur des Unionsvertrags aufgegeben, allerdings unter Beibehaltung von bisherigen Unterschieden in der Sache zwischen der dritten und vor allem der zweiten Säule einerseits und der ersten Säule, den Politikfeldern des herkömmlichen Gemeinschaftsrechts, andererseits. Diese Unterschiede werden aber nunmehr als Ausnahmevorschriften bestimmt. Bestimmungen, deren Vorläufer sich im EUVertrag finden, sind nunmehr in den „einheitlichen“195 Unionsverträgen enthalten, sie sind Gemeinschaftsrecht, Primärrecht im herkömmlichen Sinne. Vormaliges Sekundärrecht der zweiten und dritten Säule (Unionssekundärrecht196) ist nun sekundäres Gemeinschaftsrecht197. Damit ist aber auch die nunmehr „Union“ genannte Europäische Gemeinschaft grundsätzlich198 alleiniges Zurechnungsobjekt 191 Vgl. Art. 16 der Charta in der am 7. 12. 2000 proklamierten Fassung, ABl.EG C 364 vom 18. 12. 2000, S. 1. 192 Vgl. Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 12. 9. 2006, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld, Slg. 2007, S. I–3633 Rdnr. 75 ff. (82). 193 R. Streinz, Europarecht, 7. Auflage 2005, Rdnr. 5; vgl. M. Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Auflage 2004, Rdnr. 189 ff. 194 K. Lenaerts / P. van Nuffel, Constitutional Law of the European Union, 1. Auflage 1999, Rdnr. 15–006 ff. 195 Vgl. J. Bast, Einheit und Differenzierung der europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 34 (39 ff.). 196 R. Streinz, Europarecht, 7. Auflage 2005, Rdnr. 5. 197 J. Bast, Einheit und Differenzierung der europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 34 (41). 198 Anders der Sonderfall in Art. 48 Abs. 6 und 7 EUV n. F.: Der Europäische Rat, der nach Art. 13 Abs. 1 UAbs. 2 EUV n. F. ein Organ der Union ist, die gem. Art. 47 EUV n. F. Rechtspersönlichkeit hat, kann mangels Kompetenz-Kompetenz nicht als Organ der Union Vertragsänderungen beschließen. Hier müssen im Sinne einer falsa demonstratio als Zurechnungsobjekt
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des einheitlichen Sekundärrechts. Gerade im Hinblick auf die diesbezügliche Rechtsprechungshoheit des EuGH erscheint dies als eine nicht zu unterschätzende Änderung der Verträge199. Mit Blick auf die in der Literatur vorhandenen Tendenzen, Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh insofern restriktiv auszulegen, ist zu fragen, ob sich nach dem Vertrag von Lissabon Modifikationen dessen ergeben, was unter „das Recht der Union“ zu verstehen ist. Eine Einengung der als „Recht der Union“ in Betracht kommenden Normen wird zunächst nicht durch die Verwendung des direkten Artikels „das“ (Recht der Union) resp. im Französischen „le droit de l’Union“ gerechtfertigt. Insbesondere greift insofern nicht a priori der Einwand, es sei vom Wortlaut des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh her ausschließlich das Chartarecht des Satzes 1 gemeint, also das jeweilige, entsprechende, im konkreten Fall zunächst in der Anwendung gem. Satz 1 durch das transferierte Konventionsrecht verdrängte. Vor allem der englische Wortlaut greift diesen Gedanken nämlich nicht auf, spricht schlicht von „Union law“ (ohne direkten Artikel) und anders als Satz 1 nicht von „right“. Damit rechnet jedenfalls das gesamte Primärrecht zu den Bestimmungen, die Abs. 3 Satz 2 als Recht der Union bezeichnet. Auch Bestimmungen außerhalb der Charta sind also nicht ausgeschlossen, wobei diesbezüglich die entscheidende Hürde ist, ob sie denn im Vergleich zum transferierten Recht der EMRK weiter gehenden Schutz gewähren. Insoweit ist insbesondere zu fragen, ob auch Sekundärrecht weiter gehenden Schutz im Sinne des Abs. 3 Satz 2 gewähren kann. Diese Frage stellt sich zum einen vor dem Hintergrund der in der Literatur vertretenen Ansicht, die unter Satz 2 in erster Linie die Möglichkeit zu Sekundärrechtsetzung gefasst sehen will200, und zum anderen angesichts der Charta-Erläuterungen, nämlich der Erläuterung zu Art. 52, Abs. 4, wonach „der Union die Möglichkeit gegeben werden [soll], für einen weiter gehenden Schutz zu sorgen“201. Auch sind der des Beschlusses die (Regierungen der) Mitgliedstaaten als „Herren der Verträge“ gemeint sein. Es ist aber stets eine Zustimung der Parlamente nach Maßgabe der innerstaatlichen Vorschriften erforderlich, Art. 48 Abs. 6 UAbs. 2 Satz 3 und Abs. 7 UAbs. 3 Satz 2 EUV n. F. Freilich bestanden schon nach bisherigem Vertragsrecht vergleichbare, sogenannte Evolutivklauseln, siehe R. Streinz, in: Sachs (Hrsg.), Grundgesetz, 3. Auflage 2003, Art. 23 GG Rdnr. 77 ff.; M. Schweitzer, Staatsrecht III, 8. Auflage 2004, Rdnr. 65. 199 J. Bast, Einheit und Differenzierung der europäischen Verfassung – der Verfassungsvertrag als reflexive Verfassung, in: Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 45. Assistententagung Öffentliches Recht, 2005, S. 34 (49 ff.). Freilich haben die jüngeren Rechtsprechungsentwicklungen in der dritten Säule gezeigt, dass die diese Säule konstituierenden Unterschiede zum Gemeinschaftsrecht in der Spruchpraxis nicht in aller Deutlichkeit nachvollzogen werden; siehe EuGH, Urteil vom 16. 6. 2005, Rs. C-105/03, Pupino, Slg. 2005 S. I–5285, Rdnr. 4, 42 f. 200 S. Barriga, Die Entstehung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, S. 165; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 39 f. 201 Siehe oben Kapitel 3.III.2., vor a).
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Charta, die sich als ‚Sichtbar-Machung‘ bereits bestehenden Grundrechtsschutzes versteht, neben dem „Katalog“202 der prätorischen Gemeinschaftsgrundrechte des EuGH, der EMRK und den Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten203 auch Akte des Sekundärrechts zugrunde gelegt, gerade im Titel IV (Solidarität)204. Letztlich wird aber im Zusammenhang mit der Transfernorm des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu berücksichtigen sein, dass es sich bei den transferierten Rechten der EMRK vor allem um klassische Abwehrrechte handelt. Weil das weiter gehenden Schutz gewährende Unionsrecht sich hierauf bezieht, werden die in Betracht kommenden Bestimmungen, trotz des weiten Wortlauts des Satzes 2, nicht solche des Sekundärrechts sein. Sekundärrechtsetzung im Sinne eines abwehrrechtlichen, weiter gehenden Schutzes ist im Grunde nur möglich als das am Maßstab des (primärrechtlichen) Grundrechts überobligationsmäßige Unterlassen von solchen sekundärrechtlichen Akten, die den primärrechtlich definierten Schutzbereich einschränken würden, aber gerechtfertigt wären. Insbesondere soll durch den Begriff „Recht der Union“ nicht Sekundärrecht auf Ebene des Primärrechts „hochgezont“ werden. Eine solch gravierende Folge ist von der Norm erkennbar nicht beabsichtigt205. Der Wortlaut „Recht der Union“ ist insofern zu weit geraten. Treffender wäre eine Formulierung gewesen, wie sie der Grundrechtekonvent als Entwürfe bis zuletzt vorgesehen hatte206, in denen „das Recht der Charta“ genannt war207. Nach dem Vertrag von Lissabon bestehen weder die Kategorien Unionsrecht im engeren Sinne und Gemeinschaftsrecht fort, noch die des Unionsrechts im weiteren Sinne als zusammenfassende Kategorie. Dem trägt allerdings Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh nicht Rechnung; der Wortlaut ist gegenüber der proklamierten Fassung gleich geblieben. Der auch insofern ursprünglich für andere Zwecke weiter 202
I. Wetter, Die Grundrechtscharta des Europäischen Gerichtshofes, 1998. Siehe z. B. Erläuterung zu Art. 49, letzter Absatz, Erläuterungen zur Charta der Grundrechte in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. 12. 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17, zum Grundsatz des verhältnismäßigen Strafens. 204 Insbesondere die Gemeinschaftscharta der Sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer vom 9. 12. 1989 (KOM [89] 248 endg.); abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 190. Diese ist zwar rechtlich nicht verbindlich, gehört aber im weitesten Sinne dem acquis communautaire unterhalb des Primärrechts an. 205 Vgl. für die a. A. die Argumentation zu Abs. 2 bei E. Vranes, EIoP 2003 Nr. 7 (S. 5). Auf dieser Grundlage zusätzlich das Sekundärrecht am Maßstab des Art. 6 Abs. 2 EU (Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.) zu prüfen (ebenda, S. 5), würde bedeuten, unwillkürlich eine normenhierarchische Stufung innerhalb des Primärrechts zu begründen. In diesem Sinne zu recht C. Ladenburger, Chapter IX. Fundamental rights and citizenship of the Union, in: Amato / Bribosia / De Witte (Hrsg.), Genèse et destinée de la Constitution européenne. Commentaire du Traité établissant une Constitution pour l’Europe à la lumière des travaux préparatoires et perspectives d’avenir, S. 311 (327). 206 Bis Dokument CHARTE 4471/00, CONVENT 48, vom 20. 9. 2000, S. 41, Art. 51 Abs. 3 a. E. 207 Vgl. insbesondere P. Lemmens, MJ 2001, 49 (54, Fn. 25). 203
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gefasste Wortlaut bereitet dennoch keine Schwierigkeit in der Auslegung. Unter „Recht der Union“ ist nunmehr schlicht das primäre Gemeinschaftsrecht, das nunmehrige primäre Unionsrecht zu verstehen. Nach dem Gesagten wäre in Parallele zu den Formulierungen in anderen Artikeln des zukünftigen Primärrechts208 „durch die Verträge“209, trefflicher. Angesichts dessen, dass hinsichtlich der unter Art. 52 Abs. 2 GRCh fallenden Rechte, insbesondere solche, die vom Primärrecht unter den Begriff der „Unionsbürgerschaft“ gesammelt werden, aber auch die Personenverkehrsfreiheiten und besondere Gleichheitssätze, nach hier vertretener Ansicht ohnehin nicht von der Transferklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst sind210, erscheint fraglich, inwiefern durch diese Rechte „weiter gehender Schutz“ gewährt sein soll. Es erscheint daher zweifelhaft, ob die tatsächliche Reichweite des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh für solche Bestimmungen, die in den Unionsverträgen, aber nicht in der Charta enthalten sind, besonders groß ist.
b) Recht der Charta Damit aber wird der Blick auf solche Bestimmungen des „Rechts der Union“ gelenkt, die der Charta enthalten sind. Insbesondere kommen – nach obiger Verwerfung der „Identitätsthese“ – solche Rechte der Charta in Betracht, die im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh Konventionsrechten entsprechen, und nach dieser Norm in der Anwendung hinter jenen zurück treten. Indes ist in der Literatur die Position vorherrschend, Bestimmungen der Charta, oder zumindest bestimmte Teile der Charta, seien von „Recht der Union“ nicht erfasst. Auch diese Versuche, bestimmte Gruppen von unionsrechtlichen Bestimmungen von dieser Formulierung als nicht erfasst zu sehen211, gilt es bei der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zu überprüfen. Zunächst gibt der Wortlaut keinen Anlass dazu, „Recht der Union“ auf bestimmte Rechte des primären Unionsrechts zu beschränken. Insbesondere ist nicht ersichtlich, dass gerade nicht die Charta gemeint sein soll. Dem entspricht auch der Umstand, dass „Recht der Union“ statt „Recht der Charta“ gesetzt wurde. Denn hierdurch ist der Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh dem Wortlaut nach geweitet, und nicht etwa verengt oder verschoben worden. Darüber hinaus erlangt der Verweis des Satzes 2 überhaupt erst eine sinnvolle Bedeutung, wenn er auch auf die Charta bezogen wird, weil gerade sie Bestim208
Z. B. Art. 51 Abs. 2, 52 Abs. 2 GRCh. Art. 18, Art. 21 Abs. 2, Art. 45 Abs. 2 GRCh. 210 Siehe oben unter Kapitel 4. A.IV. 211 M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324 f. 209
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mungen zum grundrechtlichen Schutz enthält. Im Einklang mit der hier vertretenen Sicht, dass die unter Art. 52 Abs. 2 GRCh fallenden Rechte, insbesondere also Rechte der Unionsbürgerschaft und die Personenverkehrsfreiheiten, nicht von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh erfasst sind, geht es bei der Frage, ob die Bestimmungen der Charta von vornherein nicht unter Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh fallen, letztlich auch um die praktische Bedeutung dieser Norm. Könnten, mit anderen Worten, diese Bestimmungen nicht von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh erfasst sein, wäre Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh praktisch bedeutungslos. Auch die Ansicht, dass nur Schutzbereiche gemeint sein sollen, wie dies teilweise vertreten wird212, findet im Wortlaut keine Stütze. Insbesondere würde eine solche Beschränkung verkennen, dass Schutzbereich und Rechtfertigungsvoraussetzungen eines Grundrechts untrennbar zusammenhängen213, weil sie aufeinander bezogen sind. Nur Schutzbereichsweitungen der Charta im Rahmen des Satzes 2 gelten zu lassen, würde, systematisch unstimmig, bedeuten, Einschränkungen von Schutzbereichen, die sich insoweit genuin chartarechtlich bestimmen, am Maßstab von transferierten Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK zu messen. Gegen diese Auslegung spricht aber vor allem die systematische Stellung des Satzes 2. Der über Satz 1 transferierte Schutz meint schließlich auch Schutzbereich und Rechtfertigung. Wenn nun Satz 2 einen weitergehenden Schutz durch das Recht der Union gewähren will, ist dies in Bezug auf Satz 1 zu verstehen. Eine Weitung bloß hinsichtlich des Schutzbereichs als ein Element des Grundrechtsschutzes wäre systematisch nicht überzeugend. Eine weitere Position sieht in Abs. 3 Satz 2 eine Schutzklausel ausschließlich für die Grundrechte der Charta, deren konventionsrechtlichen Bestimmungen der EMRK nicht transferiert würden214, wobei dieser Ansatz in Zusammenhang mit dem Identitätskonzept steht. Der Schutz, den diese Grundrechte ohne EMRK-Entsprechungen gewährleisten, dürfte nicht durch das transferierte EMRK-Recht gemindert werden215. Indes entschärft Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh diese Befürchtungen durch das weitere Merkmal „weiter gehender Schutz“. Jedenfalls bietet die Formulierung „Recht der Union“ keinen Ansatz, insofern einschränkend auszulegen. Eine weitere Frage, die diesen Befürchtungen wohl zugrunde liegt, ist es, welche Bedeutung „Recht der Union“ in mehrpoligen Rechtsverhältnissen zukommen soll, an denen sowohl durch etwa Personenverkehrsfreiheiten Begünstigte, 212 So M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324 f. 213 Ebenso hinsichtlich der absoluten Grundrechte auch M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 362: Andernfalls „alle Grundrechte absolute Rechte wären“, da „(fast) alle Grundrechte in der Charta keine Schrankenbestimmungen enthalten […] und dies demnach nicht über Art. 52 Abs. 3 Satz 2 als absoluter Schutz interpretiert werden kann.“ 214 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 41. 215 Vgl. auch die Ausführungen unter Kapitel 6. C.IV.3. a. E.
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Art. 15 Abs. 2 GRCh, als auch Begünstigte von transferierten Konventionsrechten beteiligt sind216. Hierauf wird an gegebener Stelle zurückzukommen sein217.
c) Ergebnis Wenn weiter gehender Schutz durch „das Recht der Union“ gewährt wird, dann ist hiermit in erster Linie das Primärrecht gemeint. „Das Recht der Union“ impliziert gerade nicht, dass von vornherein bestimmte Bereiche des Primärrechts, etwa die Charta, ausgenommen sind218. Im Rahmen des „Rechts der Union“ wird nicht weiter eingeschränkt. Insbesondere sind also die Rechte der Charta umfasst. Diese dürften sogar die Hauptanwendungsfälle von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh sein219. Nach entgegengesetzter Ansicht würde Satz 2 letztlich sinnwidrig verengt und damit im Ergebnis die Bedeutung des transferierten Konventionsrechts übersteigert.
2. „Weiter gehender Schutz“ Mit „weiter gehendem Schutz“ ist in zweifacher Hinsicht eingegrenzt, welches Unionsrecht von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh gemeint ist. Es geht nur um solches Unionsrecht, das „Schutz“ entfaltet, und in dieser Hinsicht muss es „weiter gehend“ sein. Die Formulierung „weiter gehender Schutz“ ist komparativ. Hierbei bezieht sich der Ausdruck auf einen Schutz, der eben nicht so weit geht, wie der hierdurch, also durch Satz 2 bezeichnete. Der Ausdruck „weiter gehender“ Schutz denkt zurückbleibenden Schutz mit, setzt diesen gedanklich voraus. Das weiter gehenden Schutz gewährende (Unions-)Recht ist sprachlich einem Recht gegenübergestellt, das die Eigenschaft hat, nicht ganz so weit gehenden Schutz vermitteln zu können. Die Formulierung „weiter gehender Schutz“ steht in Abs. 3 Satz 2 nicht beziehungslos. Die systematische Stellung weist die Richtung, in welcher der von Satz 2 als zurück bleibend erachtete Schutz zu finden ist. Der einleitende Halbsatz 1 des Satzes 2 setzt Satz 2 in Beziehung zu Satz 1. Da das zentrale Element des Satzes 2 216 Siehe in diesem Zusammenhang auch das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh als Schutzklausel zugunsten von ‚nicht-identischen‘, genuinen Chartarechten im Gegenüber zu transferierten konventionsrechtlichen Positionen, M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 41. 217 Siehe unter Kapitel 5. C.III.1.a) sowie unter Kapitel 6. B.III. 218 Für eine Ausnahme der anderen Teile des Primärrechts, außer der Charta, besteht nach hier vertretenem Ansatz auch keine Notwendigkeit, weil die durch die Charta bestimmten Doppelgewährleistungen bereits keine entsprechenden Rechte im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sind und Art. 52 Abs. 2 GRCh als Rechtsgrundverweis anzusehen ist, siehe oben unter Kapitel 4. A.IV. 219 Vgl. R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, New York 2002, S. 9, Fn. 35.
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in dem Merkmal „weiter gehender Schutz“ besteht, ist gerade dieses systematisch von Satz 1 aus zu verstehen.
a) Schützendes Unionsrecht Das Recht der Union muss „Schutz“ entfalten, damit es von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh erfasst ist. Hierbei wird Bezug auf Satz 1 genommen. Dieser entfaltet zwar selbst, unmittelbar, keinen Schutz. Als „Bedeutung und Tragweite“ wird der entsprechende konventionsrechtliche Grundrechtsschutz transferiert. Zudem ordnet Satz 1 die Anwendung des transferierten Konventionsrechts an. Den „Schutz“, auf den sich Satz 2 bezieht, wird damit durch das transferierte Recht entfaltet. Es handelt sich hierbei – in Entsprechung zu obigen Ausführungen220 – um die Bestimmung des Satzes 1, verstanden nicht als Rechtssatz, sondern als das Bestimmte. Transferiertes Recht der EMRK nach Satz 1 und Unionsrecht gem. Satz 2 entfalten Schutz in gleicher Weise. Damit aber geraten diejenigen Bestimmungen der Charta in das Blickfeld, die jenen transferiert-konventionsrechtlichen Bestimmungen entsprechen. Die „entsprechenden“ genuin chartarechtlichen Bestimmungen sind wegen Satz 1 nicht anzuwenden. Sie sind aber in gleicher Art und Weise wie die transferiert-konventionsrechtlichen schützend, gerade weil sie sich im Sinne des Satzes 1 entsprechen, da sie – ihre jeweilige Anwendbarkeit vorausgesetzt – Grundrechtsschutz im gleichen Lebensbereich entfalten. Das Unionsrecht gem. Satz 2 meint also eben jene Bestimmungen der Charta, die gem. Satz 1 in der Anwendung hinter dem transferierten Recht der EMRK zurücktreten, also die genuin chartarechtlichen Schutzbereiche221, aber auch insofern Art. 52 Abs. 1 GRCh und weitere, besondere Rechtfertigungsvoraussetzungen.
b) Schutz, der „weiter gehend“ ist Allerdings beschränkt sich Satz 2 auf solche Normen des Unionsrechts, die diesen Schutz „weiter gehend“ gewähren. Auch dieses Merkmal ist im systematischen Zusammenhang zu Satz 1 zu verstehen. Der Wortlaut „Schutz“ impliziert, dass für die Frage, ob dieser vorliegt, derjenige in den Blick zu nehmen ist, der durch den transferiert-konventionsrechtlichen und genuin unionsrechtlichen, weiter gehenden Schutz begünstigt wird, der geschützt ist, also der Bürger. Die diesem durch das Grundrecht gewährleis220
Unter Kapitel 4. C. I.2. Versuche in der Literatur, Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh insofern einschränkend auslegen, nämlich dahingehend, dass die „entsprechenden“ genuin chartarechtlichen Schutzbereiche nicht hiervon erfasst sein sollen, scheinen nicht deren im Sinne des Satzes 2 „schützenden“ Charakter in Abrede stellen zu wollen, sondern sehen sie als nicht von dem Merkmal „Recht der Union“ erfasst an. Siehe hierzu aber unter Kapitel 4. C.II.1. 221
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tete Rechtsposition ist der Maßstab für die Frage, ob das grundrechtsschützende Unionsrecht im Vergleich zum transferierten Konventionsrecht weiter gehend ist. Damit ist auch für die Frage, ob der genuin unionsrechtliche Schutz weiter gehend ist, entscheidend auf die Rechtsposition des Bürgers im Fall der Anwendbarkeit, also den Gewährleistungsumfang abzustellen. Ist dieser umfassender, liegt weiter gehender Schutz im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh vor.
3. Ergebnis Unter dem weiter gehenden Schutz gewährenden Recht der Union nach Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh sind im Wesentlichen jene Bestimmungen zu verstehen, die gem. Satz 1 nicht anzuwenden sind, weil insofern transferiertes Konventionsrecht greift, die aber, ihre Anwendung vorausgesetzt, einen Grundrechtsschutz entfalten, der in seinem Gewährleistungsumfang den Bürger günstiger stellt, als nach transferiertem Konventionsrecht.
III. Rechtsfolge und Verhältnis zu Satz 1 Somit ist zu klären, worin die Rechtsfolge des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh besteht. Die Norm benennt weiter gehenden Schutz gewährendes Unionsrecht und damit solches Recht, dem gem. Satz 1 kein Anwendungsbereich zukommt. Satz 2 formuliert aber feststellend, dass dieses Unionsrecht weiter gehenden Schutz gewährt. In dieser bloßen Feststellung liegt folglich die Anordnung, dass dieses zunächst theoretisch, also nur potentiell, weiter gehenden Schutz vermittelnde Unionsrecht nunmehr, tatsächlich, Schutz „gewährt“222. Satz 2 ordnet somit – über die Feststellung, dass es weiter gehenden Schutz gewährendes Unionsrecht gibt, hinaus – auch die Anwendung dieses Rechts an. Damit sind insbesondere die gem. Satz 1 den transferierten Konventionsrechten entsprechenden Chartarechte, die nach der Rechtsfolge dieser Norm keine Anwendung finden, gem. Satz 2 anzuwenden, wenn sie weiter gehend schützen, den Bürger also günstiger stellen. Diese Anwendungsanordnung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh ist konstitutiv. Die Bestimmung des Satzes 1 „steht dem nicht entgegen“. Satz 1 und Satz 2 eröffnen also gleichermaßen sowohl den Anwendungsbereich transferierten Konventionsrechts als auch weiter gehend schützenden, entsprechenden Chartarechts. Gegenüber dem supranationalen Hoheitsträger kann sich der Bürger hiernach auch auf genuines Chartarecht berufen, das in seinem größeren Gewährleistungsum222
Obwohl Grundrechte nach überkommener Vorstellung Rechte nicht gewähren, sondern gewährleisten, kann hier gewähren auch so verstanden werden, dass eben diese Rechtsfolge zum Ausdruck gebracht wird.
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fang, dem weiter gehenden Schutz, ihn günstiger stellt, als er isoliert nach Satz 1 stünde. Zu seinen Gunsten greift von den gleichermaßen anwendbaren Bestimmungen das weiter gehende Chartarecht im Sinne eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes. Damit läuft die Regelung des Art. 52 Abs. 3 GRCh aus der Sicht des Bürgers insgesamt auf eine Meistbegünstigung durch die Bestimmungen, die einen transferiert konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz, und denjenigen, die einen genuin chartarechtlichen konstituieren, hinaus. Diese Auslegung des Satzes 2, und damit deren zentrale Bedeutung im Grundrechtsregime der Charta, beruht letztlich auf der Erkenntnis, dass einerseits die Chartarechte und die entsprechenden transferierten Konventionsrechte nicht identisch sind und dass andererseits konventionsrechtlichen Gehalten durch Abs. 3 Satz 1 nicht bloß dadurch Rechnung getragen wird, dass diese in eine Auslegung der Chartarechte einfließen, sondern als solche transferiert sind. Da somit in der Unionsrechtsordnung „doppelte“223 Gewährleistungen bestehen, stellt sich die Frage des jeweiligen Anwendungsbereichs. Diese Frage löst Abs. 3 sowohl im Sinne der Kohärenz als auch im Sinne der Meistbegünstigung. Indem Konventionsrechte gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in das Unionsrecht transferiert sind, und – etwa auch bei gleichem Gewährleistungsumfang von Konventions- und genuinem Chartarecht – vorrangig zu prüfen sind, erscheint das (transferierte) Konventionsrecht im Unionsrecht als ein Mindeststandard. Im unionalen Grundrechtsregime ist der Grundrechtsschutz materiell keinesfalls weniger schützend, kann im Einzelfall nicht ein geringerer Gewährleistungsumfang gegeben sein, als nach dem Recht der EMRK. Auf der anderen Seite ist nach Satz 2 die durch Art. 52 Abs. 3 GRCh bezweckte Kohärenz nicht auf eine völlige Unterschiedslosigkeit des unionalen Grundrechtsschutz im Verhältnis zur EMRK gerichtet. Der tiefer liegende Grund einer Vermeidung völkerrechtlicher Haftungsrisiken verschließt im Sinne umfassender Kohärenz nicht die Möglichkeit eines – weiter gehend schützenden – genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes. Damit wird in der hier vorgeschlagenen Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh der Kohärenzgedanke konsequent in Satz 1 und der Günstigkeitsgedanke in Satz 2 verortet.
IV. Einzelfallbezogenheit des weiter gehenden Schutzes Der Transfer des Rechts der EMRK erfolgt gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh abstrakt-generell, weil für die Frage, welche Rechte sich entsprechen, die jeweiligen Regelungen unabhängig vom Einzelfall zu subsumieren sind224. Fraglich ist, ob Entsprechendes für Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh gilt. Der Eindruck, es könne 223 224
R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152. Siehe oben unter Kapitel 4. A.III.2.
D. Ergebnis
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abstrakt-generell bestimmt werden, wann entsprechendes Recht der Charta ausnahmsweise zusätzlich zum transferierten Recht der EMRK anzuwenden ist, entsteht vor allem bei einem Blick in die Charta-Erläuterungen. Insbesondere die Spiegelstriche der zweiten Liste der Erläuterung zu Art. 52, konkret der jeweils letzte Halbsatz, weisen ganz allgemein auf jeweils weitere Anwendungsbereiche, also Schutzbereiche der Charta hin, was die Feststellung impliziert, dass diese grundsätzlich auch anzuwenden seien. Allerdings stellt Satz 2 entscheidend darauf ab, dass das entsprechende Chartarecht weiter gehenden Schutz im Sinne eines weiteren Gewährleistungsumfangs in einem bestimmten Sachverhalt ermöglicht. Weil es insofern auf die konkrete Rechtsposition des Bürgers ankommt, ist insbesondere im Gegensatz zu Satz 1 bei Satz 2 für die Frage der ausnahmsweisen Anwendung des genuinen Chartarechts eine einzelfallbezogene Betrachtung anzustellen.
D. Ergebnis D. Ergebnis
Damit kann als Ergebnis der Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh und zur Frage eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes festgehalten werden: I. Art. 52 Abs. 3 GRCh Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferiert enumerativ Konventionsrechte und ordnet deren Anwendung an. Daneben bestehen im Sinne dieser Norm „entsprechende“ Chartarechte, genuin chartarechtliche Bestimmungen, die in ihrem Anwendungsbereich einen genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz konstituieren. Die Anwendung dieser entsprechenden genuin chartarechtlichen Bestimmungen ist nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zwar nicht theoretisch ausgeschlossen, bleibt aber praktisch unwahrscheinlich. In ihren materiellen Gehalten kommen die genuinen Chartarechte nämlich erst im Falle eines Versagens des konventionsrechtlichen Grundrechtsschutz pro futuro zur Anwendung. Bei isolierter Betrachtung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh liegt die eigentliche Bedeutung der „entsprechenden“, genuinen Chartarechte aber vor allem im Zusammenhang der enumerativen, aber abstrakt-generellen Bestimmung der Konventionsrechte, die Gegenstand des Transfers sind. Ihnen kommt im Rahmen des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine als rein formell zu charakterisierende Enumerationsfunktion zu. Der im Gegenüber zu Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh zu verstehende Satz 2 eröffnet den durch jene Norm in der Anwendung verdrängten genuinen Chartarechten in ihren materiellen Gehalten ein Anwendungsfeld. Ist der Bürger im Einzelfall durch das transferierte Konventionsrecht, seinem Schutzbereich und seinen Rechtfertigungsvoraussetzungen nicht geschützt, ist zusätzlich das entsprechende genuin chartarechtliche Grundrecht, also der entsprechende genuin chartarechtliche Schutzbereich und insbesondere die allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des
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Kap. 4: Rekonstruktion des Verständnisses von Art. 52 Abs. 3 GRCh
Art. 52 Abs. 1 GRCh, anwendbar, wenn sie „weiter gehenden Schutz“ bedeuten. In diesem Fall wird der Bürger vor einer supranationalen Grundrechtsverletzung durch genuines Chartarecht geschützt. Weil für die Anwendung eines entsprechenden genuin chartarechtlichen Grundrechts darauf abzustellen ist, ob der Einzelne konkret geschützt wird, also auf den Gewährleistungsumfang, können vor allem den genuin chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen, und damit Art. 52 Abs. 1 GRCh, im Rahmen des Art. 52 Abs. 3 GRCh eine erhebliche Bedeutung zukommen, wenn sie „strenger“, das heißt freiheitsbewahrender sind. Indem für die Frage weiter gehenden Schutzes gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh auf den Gewährleistungsumfang auf Tatbestandsseite abzustellen ist, als Rechtsfolge aber die entsprechenden chartarechtlichen Bestimmungen (genuin chartarechtliche Schutzbereiche, Rechtfertigungsvoraussetzung usf.), die dann einen genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz ergeben, insgesamt anzuwenden sind, verbietet sich in der Grundrechtsprüfung eine ‚Rosinenpickerei‘ von jeweils günstigeren Schutzbereichen, Rechtfertigungsvoraussetzungen der EMRK oder der Charta. Es werden nicht etwa die chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen auf Eingriffe in konventionsrechtliche Schutzbereiche angewandt225 oder umgekehrt konventionsrechtliche Rechtfertigungsvoraussetzungen auf chartarechtliche Schutzbereiche226. Damit werden vor allem in der grundsätzlichen Anerkennung eines Transfers von Konventionsrecht die Anwendungsbereiche von aufeinander bezogenen Bestimmungen, also die jeweiligen Schutzbereiche und Rechtfertigungsvoraussetzungen, nicht auseinander gerissen. Dass das hierdurch ermöglichte jeweils konsistente Verständnis der transferiert konventions- und genuin chartarechtlichen Bestimmungen eine sachgerechte Auslegung ermöglicht, zeigt insbesondere die dogmatische Behandlung der sog. absoluten Grundrechte, also der Frage, ob ein Grundrecht überhaupt einschränkbar ist: Hierbei ist zu differenzieren. Ob das transferierte Konventionsrecht absolut ist, bemisst sich nach dem Recht der EMRK unter Zugrundelegung der Rechtspre225
Ausschließliche Anwendung: N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 44. Kumulative Anwendung zu den konventionsrechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzungen: R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); T. Schmitz, EuR 2004, 691 (710); ders., JZ 2001, 833 (839); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 18; H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 439, 473; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 8; ebenso noch T. von Danwitz / S. Röder, Vorüberlegungen zu einer Schutzbereichslehre der europäischen Charta-Grundrechte, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 31 (52 f.); aber nunmehr T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 30; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 262. 226 So nach M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324 f.
D. Ergebnis
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chung des EGMR. Damit ist aber noch nicht gesagt, ob das entsprechende genuine Chartarecht ebenfalls absolut ist. Denn diese Frage gilt es im Wege der autonom unionsrechtlichen Auslegung des genuinen Chartarechts zu beantworten. Hierbei wird zwar – auch angesichts weit gehender Wortlautgleichheit – die konventionsrechtliche Provenienz chartarechtlicher Schutzbereiche eine herausragende Rolle spielen. Insbesondere kann sich die Nicht-Anwendbarkeit der allgemeinen Rechtfertigungsvoraussetzungen des Art. 52 Abs. 1 GRCh aus dem Verständnis des jeweiligen Schutzbereichs ergeben227, wie dies nach ganz h. M. für die Menschenwürde, Art. 1 GRCh, angenommen wird228. Entsprechendes kann also auch für solche genuinen Chartarechte gelten, denen gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ein absolutes Konventionsrecht entspricht. So dürfte etwa auch das Folterverbot gem. Artikel 4 GRCh als Entsprechung zu Artikel 3 EMRK nicht unter dem Vorbehalt des Art. 52 Abs. 1 GRCh stehen. Dies allerdings ist dann das Ergebnis einer zwar die konventionsrechtliche Genese berücksichtigenden, nichtsdestoweniger autonom unionsrechtlichen Auslegung der Art. 4 GRCh und 52 Abs. 1 GRCh. Damit wird die Frage der ‚Absolutheit‘ von Chartarechten als Gegenstand autonom unionsrechtlicher Auslegung, einem genuin chartarechtlichen Verständnis belassen. Eine eigenständige dogmatische Entwicklung von Grundrechten der Charta ist möglich. Einerseits müssen somit zwar vom EGMR bejahte, aber dogmatisch zu hinterfragende Konstellationen nicht zum chartarechtlichen Schutzbereich eines solchen Rechts rechnen229, dessen konventionsrechtliche Entsprechung absolut ist, um dann im Wege der Inherent-limitations-Lehre doch einer Abwägung zu unterliegen230. Andererseits ist die konventionsrechtliche ‚Absolutheit‘, sind damit weder der Schutz in diesen Konstellationen noch die Inherent-limitationsLehre durch den Transfer und die Meistbegünstigungslösung des Art. 52 Abs. 3 GRCh in Frage gestellt. Da nach Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh für die Anwendung genuinen Chartarechts auf den Gewährleistungsumfang abzustellen ist, können beispielsweise entsprechende Chartarechte selbst dann als solche, die weiter gehenden Schutz gewähren, zur Anwendung gelangen, wenn das entsprechende Konventionsrecht vorbehalt227 D. Triantafyllou, CMLR 39 (2002), 53 (59); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 60. 228 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 1 GRCh Rdnr. 40; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 367; W. Höfling, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 1 GRCh Rdnr. 31 f.; H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 8 Rdnr. 11; S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (184); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 52 GRCh Rdnr. 60. 229 Z. B. kritisch zur Subsumtion von bestimmten, unverhältnismäßigen Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit bei Festnahmen im Recht der EMRK unter das Folterverbot durch den EGMR: H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 10 Rdnr. 8. 230 Kritisch zur Lehre der „inherent limitations“ E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 91 f.
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los gewährleistet ist, das Unionsrecht aber unter dem Vorbehalt des allgemeinen Art. 52 Abs. 1 GRCh steht. Namentlich gilt dies dann, wenn im Einzelfall der Schutzbereich weiter und ein Eingriff hierein nicht gerechtfertigt ist – so etwa beim Fehlen von Negativdefinitionen. Umgekehrt kann aber selbst dann, wenn ein Schutzbereich eines Chartarechts enger oder vollkommen deckungsgleich ist, dieser gem. Satz 2 anzuwenden sein, wenn im konkreten Fall die Anwendung dieses Grundrechtsschutzes aufgrund einer (freiheitsbewahrenderen) chartarechtlichen Rechtfertigungsvoraussetzung zu dem Ergebnis einer Grundrechtsverletzung und damit zu einem umfassenderen Grundrechtsschutz des Bürgers gelangt.
II. Zur Frage eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes In dieser Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh kann auch eine Antwort auf die Frage, wie sehr der Grundrechtsschutz nach der Charta ein genuin chartarechtlicher ist, versucht werden. Diese Frage ist nach Art. 52 Abs. 3 GRCh eine Frage der Anwendbarkeit der entsprechenden genuin chartarechtlichen Bestimmungen. Sie hängt maßgeblich davon ab, ob diese Bestimmungen gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh im Einzelfall „weiter gehenden Schutz“ als nach dem transferierten Konventionsrecht bedeuten. Hierzu muss das transferierte Konventionsrecht im konkreten Fall Schutz versagen und muss das genuine Chartarecht im Ergebnis konkret einen umfassenderen Gewährleistungsumfang begründen. Da es auf den Gewährleistungsumfang ankommt, ist für die Frage, ob das Konventionsrecht nicht und das genuine Chartarecht weiter gehend schützt, unerheblich, ob dies auf einem engeren resp. weiteren Schutzbereich oder unterschiedlich strengen Rechtfertigungsvoraussetzungen beruht. Ob Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh den weithin geltend gemachten231 geringen Anwendungsbereich hat, entzieht sich damit einer pauschalen Feststellung. Auch die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh gebührend zu berücksichtigenden Charta-Erläuterungen, namentlich die zweite Auflistung der Erläuterung zu Art. 52, können, da sie zwangsläufig allgemein gehalten sind, insofern nur ein erstes Indiz sein. Insbesondere werden hier nur Unterschiede, die sich aus ausgedehnteren Schutzbereichen ergeben, genannt. Ein umfassenderer Gewährleistungsumfang, der sich aus freiheitsbewahrenderen, also strengeren Rechtfertigungsvoraussetzungen ergeben kann, wird dort nicht festgestellt.
231 Siehe nur M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 324 f.
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1. Genuin chartarechtlicher Charakter des unionalen Grundrechtsschutzes als Frage der praktischen Reichweite des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh Für die Frage, wie sehr der Grundrechtsschutz der Charta ein genuin chartarechtlicher ist, geht es also darum festzustellen, in wie vielen Fallkonstellationen transferierte Konventionsrechte den Schutz versagen und genuin chartarechtliche Bestimmungen Schutz gewährleisten. Von dieser Frage der Anwendung sowohl der transferierten konventionsrechtlichen als auch der entsprechenden genuin chartarechtlichen Bestimmungen hängt die praktische Reichweite des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh ab. Konkret kann also neben einer Anwendung der transferierten Konventionsrechte erst die Anwendung beispielsweise der Art. 2, 4–7, 10 (bzw. 9)–12, 17 und 19 GRCh, aber eben auch der Rechtfertigungsnorm des Art. 52 Abs. 1 GRCh, die tatsächliche Reichweite des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh und damit die Bedeutung dieser genuin chartarechtlichen Bestimmungen insgesamt zu Tage fördern232. Eine Annahme a priori, Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh komme kaum ein Anwendungsbereich zu, geht somit fehl. Entgegen einer weit verbreiteten Annahme kann damit vor allem Art. 52 Abs. 1 GRCh eine weit bedeutendere Rolle spielen, als bislang angenommen. Dieser kommt über Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zur Anwendung, soweit im Zusammenspiel mit den entsprechenden Bestimmungen der Charta (der Art. 2 ff. GRCh) ein weiter gehender Schutz, ein umfassenderer Gewährleistungsumfang bewirkt wird. In einer Gesamtschau möglicher Fallgestaltungen ist die Bedeutung genuin chartarechtlicher Gehalte damit hoch, wenn das transferierte Konventionsrecht im Ergebnis wenig schützend ausgelegt wird. Sie ist aber auch hoch, wenn trotz schutzextensiver Auslegung von transferiertem Konventionsrecht eine schutzextensivere Auslegung der genuin chartarechtlichen Gehalte vorgenommen wird.
2. Transferiertes Konventionsrecht und genuines Chartarecht in der Rechtsprechungshoheit des EuGH Welche Rolle genuin chartarechtliche Grundrechte im Gegenüber zu transferierten Konventionsrechten spielen, hängt von der Auslegung und Anwendung beider ab. Damit rücken die Organe in das Blickfeld, die dies in der Praxis zu bewerkstelligen haben. Auch transferierte konventionsrechtliche Gehalte bedürfen einer Auslegung, die dem unionalen Bedeutungszusammenhang Rechnung trägt233. Es wird zwar angenommen, der EGMR habe bereits in der Vergangenheit die Bereitschaft gezeigt, 232
Bereits N. Bernsdorff, NdsVBl. 2001, 177 (183). M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 38. 233
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das Konventionsrecht unionsangemessen auszulegen234. Erste Adresse einer unionsangemessen Auslegung dürften aber Unionsorgane und damit in letzter Instanz der EuGH sein. Dieser steht gleichermaßen vor der Aufgabe, transferiertes Konventionsrecht ebenso wie die neuen, schriftlichen Grundrechte der Charta auszulegen. In Auslegung transferierten Konventionsrechts wird er hierbei die inhaltlichen Vorgaben des EGMR abzuwarten haben oder – insbesondere solange die Union nicht der EMRK beigetreten ist – hinsichtlich einer unionsangemessenen Auslegung von Konventionsrecht in Vorleistung treten müssen. Vor Unwägbarkeiten gestellt, könnte dieser geneigt sein, vor allem das genuine Chartarecht, und nicht transferiertes Konventionsrecht in den Mittelpunkt der Auslegungsbemühungen zu rücken und damit zu einer eigenständigeren Rechtsprechung in Grundrechtsfragen zu finden235. Drei Aspekte lassen dies nicht gänzlich unwahrscheinlich erscheinen: Erstens ist das Recht der EMRK durch die Entscheidungen des EGMR, durch Case-Law, geprägt. Hierin wird das Recht der EMRK, insbesondere die Rechtfertigungsvoraussetzungen, wegen der bisherigen Mitgliederstruktur staatsbezogen ausgelegt. Dies wird etwa beim konventionsrechtlichen Gesetzesvorbehalt (der jeweilige Abs. 2 der Art. 8–11 EMRK) deutlich [siehe Kapitel 1. B.]. Selbst wenn zukünftig die Union der EMRK beitritt, wird die weit überwiegende Zahl der Entscheidungen des EGMR sich nicht mit unionalen Zusammenhängen zu befassen haben. Wie dem Erfordernis, die gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferierten Konventionsrechte unionsangemessen auszulegen, Rechnung zu tragen ist, wird der EuGH also nicht nur vor einem Beitritt zur EMRK weit gehend selbst zu beantworten haben. Zweitens ist das Recht der EMRK trotz jahrzehntealter Spruchpraxis der Konventionsorgane, selbst seit der Reform des Rechtsschutzsystems mit dem Inkrafttreten des Prot. Nr. 11, nicht in besonders hohem Maße dogmatisch geprägt. Ohne Präzendenzfall des EGMR erscheint es schwierig, nach konventionsrechtlichen Maßstäben zu entscheiden236. Ein anderes gilt aber zukünftig möglicherweise für den Grundrechtsschutz durch die Charta. Ungeachtet der Forderung nach Dogmatik für europäische Grundrechte237, deren Blickwinkel auch vom Standpunkt des Betrachters in der deutschen Rechtsordnung bestimmt ist, resultiert eine gewisse Unvorhersehbarkeit des Rechts der EMRK aus dem Umstand, dass unter dem Dach der EMRK sehr unterschiedliche Rechtskulturen vereinigt sind. Das Recht der EMRK muss Rechtskonflikte angesichts sehr unterschiedlicher kultureller Erwartungen, die an diese Menschen234
J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (201). U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 78 f. 236 Vgl. S. Alber / U. Widmaier, EuGRZ 2006, 113 (122). 237 J. Kühling, Grundrechte, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (597 f.); T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GrCh Rdnr. 1. 235
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rechte herangetragen werden, lösen. Insofern gilt es zu bedenken, dass die EU in weit höherem Maße als der Europarat von einem Selbstverständnis als Wertegemeinschaft geprägt ist. Zumindest dies lässt es gerechtfertigt erscheinen, von schriftlichen Unionsgrundrechten eine höhere Vorhersehbarkeit zu erwarten, als vom Recht der EMRK. In der Spruchpraxis des EuGH bedeutet geringere Vorhersehbarkeit von Recht der EMRK im Rahmen des Art. 52 Abs. 3 GRCh eine interpretatorische Unwägbarkeit, die durch die autonom unionsrechtliche Auslegung genuiner Chartarechte umgegangen werden könnte. Schließlich zeigt, drittens, das Recht der EMRK in der konventionsrechtlichen Margin-of-appreciation-Doktrin238 einen Charakter, der sich, bei aller Missverständlichkeit des Begriffs239, als völkerrechtlicher „Mindeststandard“ bezeichnen lässt. Nach der Margin-of-appreciation-Doktrin sind bestimmte grundrechtliche Fragen materiell nicht der EMRK oder zumindest prozessual nicht dem EGMR überantwortet – beides wird als „Subsidiarität“ beschrieben –, sondern von den Vertragsstaaten zu entscheiden, so etwa die Frage, inwieweit embryonale Zellen oder der Fötus vom Grundrecht auf Leben geschützt sind240. Im Rahmen seiner Zuständigkeit muss der EuGH diese Fragen aber – z. B. bei Prüfung einer Biopatentrichtlinie am Maßstab des Primärrechts241 – beantworten, wie dies ja auch der EGMR von den mitgliedstaatlichen Gerichten erwartet. Gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh hat der EuGH dies am Maßstab des transferierten Konventionsrechts zu tun, wenn es materiell hierzu Aussagen enthält, auch wenn der EGMR sich insofern zurückhält. Es ist vorstellbar, dass der EuGH die in diesem Zusammenhang zu klärenden Fragen als genuin chartarechtliche, im Beispiel als solche des Art. 2 GRCh und nicht des Art. 2 EMRK begreift, so dass dann eine Prüfung am Maßstab des Art. 2 GRCh gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh erfolgt. Es spricht also manches dafür, dass das über Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh anzuwendende genuine Chartarecht doch nicht eine so geringe praktische Bedeutung haben wird, wie dies auf ersten Blick scheinen mag242. Dies gilt vor allem, so weit das gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh anzuwendende Recht der EMRK in zu entscheidenden Fällen als unausgeleuchtet gelten kann. Dass der EuGH im Alleingang das Recht der EMRK weiter entwickelt, erscheint jedenfalls fraglich. Ob auf 238 E. Brems, ZaöRV 56 (1996), 240; J. Callewaert, Quel avenir pour la marge d’appréciation?, in: GS Ryssdal, S. 147; M. R. Hutchinson, ICLQ 48 (1999), 638; J. Schokkenbroek, HRLJ 1998, 30; W. J. Ganshof van der Meersch, Le caractère „autonome“ des termes et la „marge d’appréciation“ des gouvernements dans l’interprétation de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, 1988, S. 201. 239 Vgl. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1141); J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 104 f. 240 EGMR, Urteil vom 8. 7. 2004, Vo gegen Frankreich, NJW 2005, 727 (730). 241 EuGH, Urteil vom 9. 10. 2001, Rs. C-377/98, Biopatentrichtlinie, Slg. 2001, S. I–7079. 242 J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 125.
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der anderen Seite die Bereitschaft zu einer eingehenden Auseinandersetzung mit den Grundrechten der Charta besteht, ist aber keineswegs ausgemacht243. Allerdings hängt einiges auch davon ab, wie sehr der EuGH grundrechtliche Sachverhalte als mehrpolige Grundrechtsverhältnisse begreift, wie sie allgemein in der Diskussion stehen. Hieraus könnten sich weitere Implikationen für das Verständnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh sowie die Bedeutung eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes ergeben. Darauf wird an gegebener Stelle zurückzukommen sein244. Zunächst aber gilt es, die gefundene Sicht auf den Einfluss der EMRK im Unionsrecht im Hinblick auf Art. 53 GRCh, der ebenfalls die EMRK thematisiert, zu überprüfen.
243
V. Skouris, Gedanken zum Projekt einer Verfassung für die Europäische Union, in: Verhandlungen des 65. DJT, Bd. II / 1, L 19 ff. 244 Siehe hierzu Kapitel 6.
Kapitel 5
Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh auf das gefundene Verständnis der Charta nach Art. 52 Abs. 3 GRCh Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh Das Verständnis des Art. 53 GRCh kann nach dem derzeitigen Diskussionsstand nicht als gesichert angesehen werden1. So soll nach teilweise vertretener Ansicht Art. 53 GRCh, vor allem mit Blick Art. 53 EMRK, eine („klassische“ völkerrechtliche) Meistbegünstigungsklausel2 sein. Vertreten wird auch, es handele sich um eine Mindestschutzklausel3, die im Unionsrecht gewährleiste, dass der Bürger jedenfalls auf dem Niveau der genannten Grundrechtsordnungen Grundrechtsschutz gegenüber der Union beanspruchen könne. Dieser Mindestschutz sei ent1 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); J. B. Lijsberg, CMLR 38 (2001), 1171 ff.; E. Vranes, EIoP 2003 Nr. 7 (S. 9 ff.). 2 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1, 14; K. Stern, Von der Europäischen Menschenrechtskonvention zur Europäischen Grundrechte-Charta – Perspektiven des Grundrechtsschutzes in Europa, in: ders. / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 13 (23); P. Selmer, EuR 2002, Beiheft 3, 29 (39); C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1140, 1143); M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 420 ff.; M. Seidel, EuZW 2003, 97; U. Everling, EuZW 2003, 225; wohl auch L. F. M. Besselink, MJ 2001, 68 (73 ff.). Siehe auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 178, 174, Fn. 873, der von einer „Rechtswahrungsklausel“ spricht. Ähnlich R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156), mit dem Verständnis einer „echten Vorrangklausel“. 3 C. Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563; M. Mahlmann, ZEuS 2000, 419 (437), Fn. 93; A. Weber, DVBl. 2003, 220 (224): „Harmonisierungsgebot“; B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 110 f.; S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (165 ff.); M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (35); J. Molthagen, Das Verhältnis der EU-Grundrechte zur EMRK, Dissertation Hamburg 2003, S. 63 ff., Fn. 872; R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156), spricht von einer „echten Vorrangklausel“; wohl auch J. Meyer / M. Engels, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2001, S. 7 (34), und H. C. Krüger / J. Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (99). Der Sache nach auch C. Calliess, der aber die Begriffe „Schutzverstärkungsklausel“ bzw. „Schutzklausel“ verwendet, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17 bzw. 27.
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weder durch ein in diesem Sinne zu verstehendes genuines Chartarecht, im Sinne einer Schutzverstärkung desselben gewährleistet4, wobei vereinzelt sogar vertreten wird, die Schutzverstärkung bestimme sich nach dem Grundrechtsstandard des jeweiligen Mitgliedstaates5. Oder der Mindestschutz soll durch eine wohl unmittelbare Geltung der in Art. 53 GRCh genannten Quellen im oder als Unionsrecht gewährleistet sein, es ergebe sich ein sog. „plafond“6 durch die jeweils maximal schützende Grundrechtsquelle7. Von manchen wird auch in dieser Norm8 ein Hinweis auf die Rechtserkenntnisquellen gesehen9, die es dem EuGH ermögliche, das Schutzniveau der einzelnen Grundrechtsgewährleistungen auf Grund wertender Rechtsvergleichung autonom für das Unionsrecht zu bestimmen. Ausgehend von diesem Standpunkt, wird in Art. 53 GRCh zusätzlich ein Optimierungsgebot des unionsrechtlichen Grundrechtsschutzes verortet10. Art. 53 GRCh soll aber auch die Funktion zukommen, Völkerrechtsverletzungen zu unterbinden11. Hingegen wird auch vertreten12, die Einfügung des Art. 53 in die Charta13 habe lediglich politischen Befürchtungen, insbesondere des Europäischen Parlaments und des deutschen Bundesrates, mit Blick auf die Integrität des bestehenden Menschenrechtsschutzes der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen14 sowie auf 4 C. Calliess, § 20. Die Europäische Grundrechts-Charta, in: Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Auflage 2005, Rdnr. 17 bzw. 27; E. Riedel, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Kapitel IV, Vorbemerkungen Rdnr. 34; M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (33, 35); wohl auch J. Meyer / M. Engels, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2001, S. 7 (34), und B. Beutler: „möglichst hohes Schutzniveau als Auslegungsregel“, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 104. 5 M. Seidel, EuZW 2003, 97. 6 Vgl. M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 9. 7 Vgl. S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (175 ff.). 8 Zu Art. 52 Abs. 3 GRCh als Hinweis auf die EMRK als Rechtserkenntnisquelle von besonderer Bedeutung siehe oben unter Kapitel 2. B.IV. 9 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14 ff. 10 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 19 ff. 11 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1143). 12 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1; A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392 und 394). 13 Durch den Grundrechtekonvent. 14 Entschließung des Europäischen Parlaments zur Erarbeitung einer Charta der Grundrechte der Europäischen Union (C5–0058/1999 – 1999/2064 [COS]) vom 16. 3. 2000, lfd. Nr. 12, auch veröffentlicht als Dokument CHARTE 4199/00, CONTRIB 80, vom 5. 4. 2000, dort
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europäischer Ebene15 Rechnung tragen wollen16. Zum Teil wird daher sogar eine rechtliche Funktionslosigkeit des Art. 53 GRCh gefolgert17. Die Unterschiedlichkeit der aus den verschiedenen Lesarten folgenden Konsequenzen ist enorm. So ist je nach Ansatz beispielsweise entweder Art. 53 GRCh selbst eine in erster Linie bloß deklaratorische Bedeutung beizumessen18, oder es ist – so das andere Extrem – die praktische Bedeutung von genuin chartarechtlichen Bestimmungen auf ein Minimum reduziert19. Die Folgen reichen mitunter sogar so weit, dass eine Abkehr von gemeinschaftsrechtlichen Entwicklungslinien oder gar ein Bruch mit gesichert geglaubten Prinzipien des Gemeinschaftsrechts stattfindet. Dies gilt etwa für das Verhältnis eines nunmehr geforderten Maximalstandards aller mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen20 im Verhältnis zur gemeinschaftsgrundrechtlichen Tradition wertender Rechtsvergleichung21 oder gar für eine Durchbrechung des Prinzips einheitlicher Geltung22 und damit des Vorrangs des Unionsrechts im Verhältnis zu nationalen Grundrechten. Auch der vorliegende Ansatz, nach dem Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh enumerativ Rechte der EMRK transferiert und, vorbehaltlich einer Mehrgewährleistung durch das entsprechende Chartarecht insbesondere samt chartarechtlicher Rechtfertigungsvoraussetzungen, zur Anwendung bringt, muss sich den unterschiedlichen Auslegungsansätzen zu Art. 53 GRCh stellen. Würde nämlich gem. Art. 53 GRCh etwa ein „plafond“ durch die jeweils am meisten schützenden Grundrechte der Grundrechtsordnungen, die dort genannt sind, zustande kommen, würde dies wohl eine weit gehende Bedeutungslosigkeit des sich aus Art. 52 Abs. 3 GRCh ergebenden Systems eines unionalen Grundrechtsschutzes durch ein Zusammenspiel von transferierten Rechten der EMRK und genuinen Chartarechten beinhalten. S. 6, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) über das Öffentliche Register der Ratsdokumente des Rates der Europäischen Union im Internet unter unter „Suche im Register“, „Detaillierte Suche“, Sachgebiet: „CONTRIB“; Entschließung des Bundesrates zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, lfd. Nr. 5, BR-Drs. 47/00 vom 25. 1. 2000. 15 Entschließung des Bundesrates (Fn. 14), lfd. Nr. 5, BR-Drs. 47/00 vom 25. 1. 2000. 16 Vorschlag des Präsidiums des Grundrechtekonvents: Dokument CHARTE 4235/00, CONVENT 27, vom 18. 4. 2000, abrufbar: siehe Fn. 14 (Sachgebiet: „CONVENT“). 17 So wohl J. B. Lijsberg, CMLR 38 (2001), 1171 ff.; abgeschwächt W. Weiß, ZEuS 2005, 323 (339). 18 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 13. 19 So, wenn man den Ansatz von M. Seidel, EuZW 2003, 97, konsequent weiter verfolgt. 20 Vgl. S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (175 ff.). 21 M. Hilf / F. Schorkopf, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 6 EUV Rdnr. 46 ff. (insbesondere Rdnr. 52). 22 M. Seidel, EuZW 2003, 97.
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Nicht ignoriert werden kann in der Auslegung des Art. 53 GRCh die konventionsrechtliche Herkunft dieser Bestimmung23. Die Norm entspricht dem Wortlaut nach weit gehend Art. 53 EMRK, dieser ist offenkundiges Vorbild24. Welche Folgerungen hieraus für das Verständnis der Regelung des Art. 53 GRCh zu ziehen sind, ist allerdings sehr umstritten25. Mithin ist zu fragen, inwiefern sich Bedeutungsgehalte des Art. 53 EMRK auch in Art. 53 GRCh wiederfinden. Von dem Verständnis des Art. 53 GRCh hängt somit ganz maßgeblich die Sicht auf Art. 52 Abs. 3 GRCh, die Charta als Ganzes und die Bedeutung eines genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutzes ab. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass bislang Art. 53 EMRK in der Literatur kaum26, Art. 53 GRCh hingegen bereits verhältnismäßig große Aufmerksamkeit zuteil wird27.
A. These vom Bedeutungswandel der Art. 53 EMRK entlehnten Regelungen im unionsrechtlichen Zusammenhang A. Bedeutungswandel der Art. 53 EMRK entlehnten Regelungen
In der Literatur ist immer wieder das Argument anzutreffen, die Art. 53 EMRK entlehnte Regelung erfahre als unionsrechtliche Regelung in Art. 53 GRCh einen Bedeutungswandel28, der im Grunde einen Rückgriff auf die konventionsrechtliche Auslegung verschließe29. 23
Vgl. auch Art. 5 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte; Art. 5 Abs. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (jeweils vom 19. 12. 1966 und abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 20 bzw. Nr. 21); Art. 27 der Erklärung des Europäischen Parlaments von 1989, ABl.EG 1989 Nr. C 120, S. 51 ff. (abgedruckt bei M. Borowsky, in: Meyer [Hrsg.], Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1a). 24 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1142); P. Lemmens, MJ 2001, 49 (54); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1a, 15; H.-P. Folz, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. II-113 VerfV Rdnr. 1; J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 178. 25 Z. B. einerseits T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11; andererseits M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 15. 26 So weit ersichtlich im Wesentlichen der Beitrag von J. de Meyer, Brèves réflexions à propos de l’article 60 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, S. 125. 27 Siehe Fn. 2 f. 28 A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392 und 394). 29 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11. Die Argumentation geht wohl zurück auf R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, S. 23.
A. Bedeutungswandel der Art. 53 EMRK entlehnten Regelungen
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Die EMRK bedeute zunächst einen Mindeststandard30 für andere Hoheitsträger, nämlich der Vertragsstaaten, die sich hierdurch völkerrechtlich gebunden haben31. Demgegenüber enthalte das Unionsrecht neben den Grundrechten der Charta selbst die Schaffung eines supranationalen Hoheitsträgers und dessen Ermächtigung zur Ausübung von Hoheitsgewalt32. Die Grundrechte der Charta – anders als die der EMRK im Verhältnis zum mitgliedstaatlichem Grundrechtsschutz – träten also nicht neben andere, ein und denselben Hoheitsträger verpflichtende Grundrechte, sondern beanspruchten für eben diese Union Geltung33. Dass die EMRK Mindeststandard sei, betreffe nicht oder jedenfalls nicht zuvörderst eine Aussage über die Qualität des konventionsrechtlichen Menschenrechtsschutzes34, sondern deren Charakter als Auffangordnung35, wie er sich auch in der Margin-of-appreciation-Doktrin des EGMR niederschlägt. Diese Argumentation findet ihre Grundlage in dem Umstand, dass die Grundrechte der Charta als Teil des Unionsrechts gleichrangig neben eben jenen Vorschriften stehen, die als Kompetenztitel die Grundrechtsverletzung erst ermöglichen36. Die Charta bindet nicht einen anderen Hoheitsträger37, sondern den durch das Primärrecht geschaffenen und ermächtigten (vgl. nunmehr Art. 1 EUV n. F.). Einen solchen Hoheitsträger gibt es in der EMRK nicht; deren Grundrechte binden nicht „EMRK-Gewalt“38. Mit anderen Worten ist die Charta für die Union das, was der Grundrechtskatalog einer Staatsverfassung für einen Staat ist, aber eben nicht ein völkerrechtlicher Menschenrechtspakt39. EMRK und Charta sind grund30
In diesem Sinne J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 104 f. Vgl. aber zur mittelbaren Haftung der Signatarstaaten für Grundrechtsverletzungen der Union unten unter Kapitel 5. C. V.1.a). 32 A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392); R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, S. 23. 33 So R. A. García, The General Provisions of the Charter of Fundamental Rights of the European Union, Jean Monnet Working Paper 4/02, S. 23, der freilich den Blick auf eine unitarisierende Wirkung der Charta im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten richtet. 34 A. A. J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 104 f.; hiergegen C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1141). 35 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11, mit Verweis auf L. Wildhaber / J. Callewaert, Espace constitutionnel européen et droits fondamentaux, in: FS Rodríguez Iglesias, S. 61 (65); A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392). 36 Insbesondere enthalten im AEUV. 37 Zur möglichen Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta siehe sogleich. 38 S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (173). 39 Auch im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten hat die Charta nicht diese Funktion, U. Di Fabio, JZ 2000, 737 (741); ders., GLJ 5 (2004), 945 (955). 31
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
sätzlich verschiedene Systeme des Grundrechtsschutzes40. Es wird argumentiert, die Bedeutung des Art. 53 EMRK ergebe sich ganz entscheidend aus dem Charakter der EMRK als völkerrechtlichem Mindeststandard für auch anderweitig an Grundrechte gebundene Vertragsstaaten. Dieser strukturelle Unterschied schlage sich voll in der Bedeutung des Art. 53 GRCh nieder, die daher eine gänzlich unterschiedliche sei. Dem Argument, Art. 53 GRCh sei als Bestimmung der Charta vor diesem Hintergrund nicht mit Art. 53 EMRK vergleichbar, ist zunächst in der Prämisse zuzustimmen. In der Tat kann eine Regelung, die aus einer anderen Rechtsordnung – hier der EMRK – in das Unionsrecht eingefügt wurde, bedingt durch hier geltende Besonderheiten einen anderen Bedeutungsgehalt haben, selbst wenn sie im Wortlaut identisch ist. Dieser Aspekt erscheint bei der Auslegung vieler Bestimmungen der Charta, insbesondere der Rechtfertigungsvoraussetzungen41, oftmals unterbeleuchtet, und so möglicherweise auch bei Art. 53 GRCh. Das Grundanliegen einer nicht nur autonom unionsrechtlichen, sondern auch unionsangemessenen Auslegung von Bestimmungen der Charta als Primärrecht42 verdient volle Zustimmung. In diesem Zusammenhang erscheint auch zutreffend herausgestellt, dass maßgeblich auf die Grundrechtsbindung der Union und nicht der Mitgliedstaaten abgestellt wird43. Eine weitere Frage ist es aber, ob sich hieraus Folgen für die Interpretation konkret auch des Art. 53 GRCh ergeben – und gegebenenfalls welche – und ob im Ergebnis der Norm auch gänzlich andere Funktionen zuzuerkennen sind als Art. 53 EMRK44. Vor allem aber weist die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh zu berücksichtigende Erläuterung zu Art. 53 GRCh auf das Vorbild Art. 53 EMRK hin. Erforderlich ist somit zunächst ein Blick auf Art. 53 EMRK.
40
T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11; R. A. García, ELJ 8 (2002), 492 (508). 41 Zu nennen ist hierbei nur die unkritische Übernahme eines territorial differenzierenden Gesetzesvorbehalts ins Unionsrecht und die Bejahung der Geltung einer Margin-of-Appreciation-Doktrin, die aber ersichtlich mit dem konventionsrechtlichen Rechtsschutzsystem im Zusammenhang steht. 42 Vgl. M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 38, für das transferierte Konventionsrecht als Unionsrecht. 43 Zum Einfluss der Gemeinschaftsgrundrechte auf die Lösung von Grundfreiheitsrelevanten Fällen, siehe unten unter Kapitel 5. C.III.1.a). 44 Etwa als Mindestschutzklausel (Fn. 3 ff.), als Optimierungsgebot (Fn. 10), als Regelungen von Konkurrenzen im Unionsrecht (vgl. R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 [156 f.]; siehe unten Kapitel 5. C. V.2.).
B. Art. 53 EMRK
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B. Art. 53 EMRK B. Art. 53 EMRK
Art. 53 EMRK45 ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass die durch die EMRK gebundenen Staaten auch anderweitig an Grundrechte gebunden sind, insbesondere durch eigene verfassungsrechtliche Grundrechtskataloge und andere völkerrechtliche Menschenrechtsverträge. Einerseits aus Einsicht in die eigene, wohl auch vorpositiv gedachte46 Unvollständigkeit des Menschenrechtsschutzes der EMRK47 und andererseits in dem eigenen Anspruch voller, umfänglicher Verbindlichkeit hinsichtlich vertragsstaatlicher Hoheitsakte, stellt Art. 53 EMRK klar, dass die EMRK einem höheren Schutzniveau durch Grundrechte der Vertragsstaaten oder anderer völkerrechtlicher Verträge nicht im Wege steht.
I. Regelung der Auslegung Art. 53 EMRK formuliert, die Konvention sei „nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie die Menschenrechte“48 der genannten anderen Grundrechtsordnungen. Fraglich ist, ob dies eine sog. Auslegungsregel dergestalt bedeutet, dass Maßgaben für die Ermittlung des Verständnisses anderer Normen – nämlich der gesamten EMRK – getroffen werden. Jedenfalls von Art. 53 EMRK abgesehen, enthält die Konvention im Unterschied zur Charta keine Regeln für ihre eigene Auslegung. Auslegungsregeln, wie sie etwa in der Charta in Art. 52 Abs. 4–7 GRCh enthalten sind, bezwecken nicht, die Regeln der methodengerechten Auslegung zu derogieren, und können dies wohl auch nicht49. Vielmehr wird eine methodengerechte Auslegung von diesen Regelungen vorausgesetzt. Dies zugrunde gelegt geht es einer Auslegungsregel aber darum, den Auslegungsvorgang in eine bestimmte Richtung zu lenken und somit mittelbar den materiellen Gehalt der auszulegenden Normen im Sinne der Auslegungsregel mitzubestimmen50. So regelt etwa 45
In der Fassung der EMRK vor Inkrafttreten des Prot. Nr. 11: Art. 60 EMRK. J. de Meyer, Brèves réflexions à propos de l’article 60 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, S. 125 (125). 47 Siehe J. de Meyer, Brèves réflexions à propos de l’article 60 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, S. 125. Diese bei Unterzeichnung der EMRK 1950 gegebene Unvollständigkeit des materiellen Grundrechtsschutzes besteht auch nach dem Inkrafttreten des Prot. Nr. 14 fort; nach wie vor sind elementare Grundrechte konventionsrechtlich nicht garantiert, etwa die Berufsfreiheit, oder fällt der materielle Grundrechtsschutz einzelner, selbst „klassischer“ Grundrechte etwa im Vergleich zu Grundrechten des GG zurück. 48 Authentischer englischer und französischer Wortlaut des Art. 53 EMRK: „shall be construed as limitating or derogating“ und „ne sera interprétée comme limitant ou portent atteinte“. 49 Vgl. F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II. Europarecht, 2. Auflage 2007, S. 214 ff. 50 In diese Richtung wohl C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 78; indirekt auch Y. Dorf, JZ 2005, 126 (128 ff.). 46
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
Art. 52 Abs. 4 GRCh, dass die betreffenden Chartarechte im Einklang mit den Verfassungsüberlieferungen auszulegen sind. Dies bedeutet nicht, dass sich im Rahmen einer methodengerechten Auslegung der entsprechenden Rechte der Charta aus anderen methodischen Grundsätzen nicht auch Gesichtspunkte ergeben können, die sich nicht in den Verfassungsüberlieferungen finden. Die Berücksichtigung auch der Verfassungsüberlieferungen in der Auslegung kraft Art. 52 Abs. 4 GRCh sichert aber, dass die letztlich zu ermittelnde Bedeutung der Norm nicht vollends von den mitgliedstaatlichen Verfassungsüberlieferungen losgelöst ist51. Die Verfassungsüberlieferungen beeinflussen so das Ergebnis der Auslegung, also die zu ermittelnde Bedeutung der Norm, mittelbar52. Demgegenüber bestimmt Art. 53 EMRK, dass „diese Konvention […] nicht so auszulegen [ist], als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte“, die in anderen völkerrechtlichen Verträgen oder den Gesetzen einer Vertragspartei anerkannt werden. Mit anderen Worten werden all diese Grundrechtsordnungen nicht durch die EMRK beschränkt oder beeinträchtigt, wie auch immer die EMRK auszulegen ist. Eine zutreffende Auslegung der Konventionsrechte hat also in keinem Fall zum Ergebnis, dass jene Ordnungen beschränkt oder beeinträchtigt würden. Damit regelt Art. 53 EMRK nicht bezüglich des Auslegungsvorgangs, enthält keine Auslegungsregelung im beschriebenen Sinne53, sondern trifft eine Feststellung hinsichtlich der Auslegungsergebnisse. Die Deskription einer Rechtslage durch eine Rechtsnorm stellt nicht in Frage, dass hierdurch eine Regelung erfolgt54; es handelt sich also bei Art. 53 EMRK nicht bloß um eine rechtlich unverbindliche Beschreibung, sondern um eine normative Anordnung. In der Feststellung des Art. 53 EMRK, was keinesfalls Ergebnis der Auslegung der EMRK ist, regelt die Norm nicht die Auslegung anderer Bestimmungen der EMRK, sondern enthält selbst die Regelung, dass die genannten Grundrechtsordnungen hierdurch nicht beschränkt oder beeinträchtigt werden55.
51 Vgl. C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 79. 52 C. Ladenburger, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 78. 53 Im Ergebnis auch A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (394). 54 Sondern unterstreicht dies vielmehr, siehe unter Kapitel 4. C. I.1 55 A. A. ohne Begründung B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 110.
B. Art. 53 EMRK
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II. Regelung hinsichtlich des materiellen Grundrechtsschutzes durch Grundrechte anderer Quellen Die EMRK enthält selbst Grundrechte. Diese wehren Hoheitsgewalt ab, sichern Freiheitsräume vor Eingriffen, greifen aber gerade deswegen selbst nicht in andere Grundrechte ein56. Insofern ist nicht ersichtlich, wie die EMRK selbst andere Grundrechte „beschränken oder beeinträchtigen“ könnte57. Darüber hinaus kann die EMRK auch als völkerrechtlicher Vertrag unmittelbar weder mitgliedstaatliche Rechte58 noch Rechte aus anderen Verträgen einschränken. Wenn Art. 53 EMRK nicht bereits von seinen Voraussetzungen her gegenstandslos sein soll59, ist losgelöst von einem Schutzbereichs-Eingriffs-Denken also in einem weiteren Sinne zu fragen, was nicht „beschränken oder beeinträchtigen“ im Sinne des Art. 53 EMRK meint. Ein solches, weiteres Verständnis könnte daran anknüpfen, dass Art. 53 EMRK eine Aussage zur Konvention als ganze trifft. Indem die EMRK in Bezug zu anderen Grundrechtsordnungen gesetzt wird, ist das Verhältnis zwischen diesen in den Blick genommen. Unterschiedliche Grundrechtsordnungen als Prüfungsmaßstäbe implizieren die Möglichkeit unterschiedlicher grundrechtlicher Bewertungen ein und desselben Hoheitsaktes. Möglich ist, dass ein Rechtsakt am Maßstab der EMRK rechtmäßig, aber am Maßstab nationaler oder anderer völkerrechtlicher Grundrechte rechtswidrig ist. Würde die Konventionskonformität eines Rechtsakts dahingehend verstanden werden, dass diese Konformität die konventionsrechtliche Wertung beinhaltet, der angegriffene Rechtsakt müsse erlaubt sein, könnte daraus eine konventionsrechtliche, also völkerrechtliche, Pflicht zu Veränderung anderer Grundrechtsordnungen gefolgert werden60. In dieser Perspektive erscheint die Regelung des Art. 53 EMRK, dass diese Konvention jene Grundrechtsordnungen nicht beschränke, als auf den materiellen Grundrechtsschutz durch jene Grundrechtsquellen bezogen: Die EMRK soll keinesfalls so verstanden werden, als impliziere die Bindung an sie eine Verpflichtung zur inhaltlichen Beschränkung anderer Grundrechtsordnungen. Mit anderen Worten sind jene in Art. 53 EMRK genannten Grundrechtsordnungen nicht gehindert, in ihrem materiellen Grundrechtsschutz weiter zu gehen als die EMRK61; aus der EMRK ergeben sich keine Änderungsver-
56 U. Everling, EuZW 2003, 225; in diesem Sinne für Art. 53 GRCh auch R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 57 Vgl. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 174. 58 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); vgl. J. F. Lindner, EuR 2007, 160 (166). 59 So auch R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 60 Vgl. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 174. 61 A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392).
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
pflichtungen62. Vielmehr erscheint dies im Sinne einer Einsicht in die eigene Unvollständigkeit63 als konventionsrechtlich durchaus erwünscht64. Die EMRK – als Völkervertragsrecht anders als das Unionsrecht nicht mit Anwendungsvorrang ausgestattet – kann aber bereits nicht ausschließen, dass das mitgliedstaatliche Recht oder andere völkerrechtliche Menschenrechtsverträge aus dem jeweiligen Recht heraus anderen, qualitativ niedrigeren oder höheren, Menschenrechtsschutz konstituieren65. Die EMRK könnte allenfalls völkervertragliche Pflichten im Sinne einer Anpassung anderer Menschenrechtsregime begründen. Ein solches Verständnis wird aber jedenfalls durch Art. 53 EMRK ausgeschlossen. Insofern läuft diese Klarstellung des Art. 53 EMRK darauf hinaus, dass die EMRK sich als völkerrechtlicher Mindeststandard66, oder – angesichts der ‚parallelen Geltung‘ von Grundrechten unterschiedlicher Rechtsordnungen wohl treffender – als völkerrechtliche Auffangordnung67 versteht. Die EMRK beinhaltet kein Grundrechte-Harmonisierungsprogramm.
III. Regelung des Verhältnisses eines anwendbaren Konventionsrechts zu einem gleichermaßen anwendbaren anderen Grundrecht – ‚Konkurrenzenregelung‘ Die EMRK findet eine Lage vor, in der sich auf einen (potentiell) dem Konventionsrecht unterfallenden Sachverhalt möglicherweise bereits ein Grundrecht einer der anderen Quellen, die in Art. 53 EMRK genannt sind, anwendet. Diese Anwendbarkeit eines Grundrechts der genannten anderen Grundrechtsordnungen wird von Art. 53 EMRK tatbestandlich vorausgesetzt68. Für diese Lage kann Art. 53 EMRK die Bestimmung entnommen werden, dass das andere Grundrecht auch anwendbar bleibt, wenn der gleiche Sachverhalt auch unter ein Konventionsrecht fällt. Dies impliziert wiederum, dass auch die Anwendbarkeit des Konventionsrechts durch die Anwendbarkeit des anderen Grundrechts unberührt bleibt. Konventionsrecht und das andere Grundrecht sind somit zugleich
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F. Schorkopf, ZaöRV 64 (2004), 125 (139). J. de Meyer, Brèves réflexions à propos de l’article 60 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, S. 125 (126). 64 Wenn freilich auch in diese Richtung keine konventionsrechtliche Verpflichtung etwa im Sinne eines Optimierungsgebots besteht. 65 So auch für Art. 53 GRCh R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 66 J. H. H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999, S. 104 f. 67 So die wohl herrschende Meinung, vgl. z. B. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1144); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 18. 68 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14. 63
B. Art. 53 EMRK
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anwendbar, treten also gewissermaßen, als Grundrechte unterschiedlicher Grundrechtsordnungen69, in ‚Idealkonkurrenz‘. Art. 53 EMRK kann aber als Bestimmung des Völkerrechts, insbesondere also nicht mit unionsrechtlichem Anwendungsvorrang ausgestattet, unmittelbar nicht die Anwendbarkeit von Bestimmungen anderer Grundrechtsordnungen regeln70, sondern allenfalls eine völkerrechtliche Verpflichtung enthalten, dass diese zu ändern seien. Eine Art Regelung von Konkurrenzen auf einer Meta-Ebene der unterschiedlichen Grundrechtsordnungen kann auch Art. 53 EMRK nicht treffen71. Unmittelbar kann Art. 53 aber die Anwendbarkeit von Grundrechten der EMRK selbst regeln. Somit bestimmt Art. 53 EMRK bei gewollter ‚paralleler Anwendbarkeit‘ eines Konventionsrechts und eines Grundrechts einer der genannten anderen Quellen letztlich lediglich einseitig die Anwendbarkeit des konventionsrechtlichen Menschenrechts. Dieses – so es denn für sich tatbestandlich einschlägig ist – bleibt anwendbar, auch wenn ein anderes Grundrecht zugleich anwendbar ist. Hierdurch wird, zusammen mit der insofern tatbestandlich vorausgesetzten Anwendbarkeit des anderen Grundrechts, die ‚parallele Anwendbarkeit‘, letztlich also eine „Parallelität der Grundrechtsordnungen“72 bewirkt. Konsequenz dieser parallelen Anwendbarkeit ist, dass sich der Bürger im Recht etwa einer mitgliedstaatlichen Rechtsordnung auch dann auf die von ihr gewährleisteten Grundrechte berufen kann, wenn diese ein Schutzniveau gewährleisten, das höher ist, als das der EMRK, weil die parallele Anwendbarkeit ungeachtet der Höhe des jeweiligen grundrechtlichen Standards besteht. Damit ist Art. 53 EMRK Ausdruck einer sog. Meistbegünstigung73, die aber durch die jeweilige Grundrechtsordnung und nicht etwa durch Konventionsrecht, durch Art. 53 EMRK selbst bewirkt wird74.
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Weswegen kein Fall der Idealkonkurrenz im technischen Sinne vorliegt. T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 13. Zumindest insoweit missverständlich R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 71 Zu dem Gedanken solch Rechtsordnungen-übergreifender Normen siehe unten unter Kapitel 5. C. V.1. 72 T. Schmitz, EuR 2004, 691 (698 f.); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 7. 73 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1142); ders., Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 2 Rdnr. 14 ff.; ders. / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (92); P. Lemmens, MJ 2001, 49 (54 f.). 74 P. Lemmens, MJ 2001, 49 (54 f.); vgl. H. D. Jarass, zu Art. 53 GRCh, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 16: „kumulative Anwendung, die als Meistbegünstigung bezeichnet wird“. 70
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
Spiegelbildlich enthalten auch die Menschenrechtsverträge, auf die sich Art. 53 EMRK bezieht, regelmäßig eine vergleichbare Klausel75, erklären sich also ebenfalls jeweils für anwendbar, auch wenn andere Ordnungen anwendbar sind, respektieren aber deren Anwendbarkeit. Auch diese Entsprechungen zu Art. 53 GRCh, Art. 53 EMRK, Art. 5 Abs. 2 IPbpR usf., lassen sich also als besonderer Ausfluss der „Parallelität der Grundrechtsordnungen“ begreifen und tragen zu einer Meistbegünstigung in dem beschriebenen Sinne bei76.
IV. Fazit Art. 53 EMRK sind zwei Regelungsaspekte zu entnehmen. Zum einen wird hinsichtlich des materiellen Grundrechtsschutzes durch Grundrechte anderer Quellen geregelt, dass die EMRK keine Auswirkungen auf deren Inhalt hat – unabhängig davon, ob jene Rechte im Verhältnis zur EMRK weniger oder mehr schützen. Zum anderen wird klargestellt, dass die Anwendbarkeit dieser Grundrechte nicht der Anwendbarkeit der Konventionsrechte im Wege steht, sich also eine „parallele Geltung“ ergeben kann. Damit scheint es der Natur dieser Regelung geradezu zu entsprechen, dass sie in der Spruchpraxis der Konventionsorgane weit gehend bedeutungslos geblieben ist77. Sowohl in dem inhaltsbezogenen Aspekt, dass aus der EMRK keine Änderungspflichten resultieren, als auch in dem anwendungsbezogenen Aspekt, dass die EMRK anwendbar bleibt, erscheint eine Stellungnahme eines Konventionsorgans nicht gefordert78. Dennoch erscheint Art. 53 EMRK nicht als vollends unproblematisch, nicht zuletzt mit Blick auf sog. mehrpolige Grundrechtsverhältnisse79. Sowohl kon75 Art. 5 Abs. 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte; Art. 5 Abs. 2 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (jeweils vom 19. 12. 1966 und abgedruckt in: Sartorius II, Nr. 20 bzw. Nr. 21); vgl. auch Art. 27 der Erklärung des Europäischen Parlaments von 1989, ABl.EG 1989 Nr. C 120, S. 51 ff. (abgedruckt bei M. Borowsky, in: Meyer [Hrsg.], Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 Rdnr. 1a). 76 J. de Meyer, Brèves réflexions à propos de l’article 60 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, S. 125. 77 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1142); J. de Meyer, Brèves réflexions à propos de l’article 60 de la Convention européenne des Droits de l’Homme, in: GS Wiarda, S. 125 (126). 78 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); C. Grabenwarter, Entwicklung zu einer Europäischen Verfassung, in Hohloch (Hrsg.), Wege zum Europäischen Recht, 2002, S. 87 (91 f.); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 7. 79 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1142); vgl. J. F. Lindner, EuR 2007, 160 (165 f.).
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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ventionsrechtliche obligations positives als auch etwa nationale grundrechtliche Schutzpflichten steigern80 die Wahrscheinlichkeit sog. mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse81. Bezeichnend ist denn auch, dass eine Anwendung des Art. 53 EMRK (als wortlautgleicher Art. 60 EMRK) vom EGMR diskutiert wurde, als eine Ausprägung einer gewissermaßen klassischen Konstellation mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse die Schranken des Gerichts erreichte, nämlich in der Sache Dublin Well Woman82, der die Meinungsfreiheit im Fall von Flugblättern über Abtreibungsmöglichkeiten im Ausland betraf. Es stellte sich die Frage, ob eine umfangreichere Schutzpflicht83 nach nationalen Grundrechten eine stärkere Einschränkung eines Abwehrrechts auch der EMRK rechtfertigt. In einer solchen Konstellation mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse könnte Art. 53 EMRK eine Rolle zukommen, die schwieriger zu bestimmen scheint, als in zweipoligen Konstellationen. Inwiefern gilt die nach Art. 53 EMRK gewollte Mehrbegünstigung durch „parallele Grundrechtsordnungen“ auch in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen? Die Bedeutung des Art. 53 EMRK in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen bleibt aber auf dem gegenwärtigen Stand der konventionsrechtlichen Entwicklung vergleichsweise unausgeleuchtet.
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Verständnisses des Art. 53 EMRK C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
Die die Auslegung des Art. 53 EMRK tragenden Gesichtspunkte sind dahingehend zu befragen, ob sie in Art. 53 GRCh auch im unionsrechtlichen Bedeutungszusammenhang Gültigkeit beanspruchen können. Inwiefern diese Aspekte als Bestimmungen des Primärrechts in Art. 53 GRCh einen Bedeutungswandel erfahren, ist im Rahmen der Auslegung dieser Norm zu ermitteln. Hierbei ist Ausgangspunkt der weit gehend dem Art. 53 EMRK entsprechende Wortlaut des Art. 53 GRCh84. Zu untersuchen ist konkret, ob Art. 53 GRCh ebenfalls eine Regelung in dem Sinne enthält, Änderungen anderer Grundrechtsordnungen seien nicht gefordert, und ob er zugleich eine Regelung der Anwendbarkeit im Verhältnis zu „parallelen Grundrechtsordnungen“ darstellt. Auch andere, genuin chartarechtliche Funktionen sind aber in Betracht zu ziehen.
80 F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 28 ff., weist auf Konstellationen hin, in denen ausschließlich Abwehrrechte kollidieren. 81 Siehe hierzu nur C. Calliess, JZ 2006, 321. 82 EGMR, Urteil vom 29. 10. 1992, Open Door and Dublin Well Woman, EuGRZ 1992, 484; hierzu C. Langenfeld / A. Zimmermann, ZaöRV 1992, 259 ff.; dies., EuGRZ 1992, 335. 83 Die irische Regierung berief sich ausdrücklich auf eine weiter gehende Schutzpflicht des (ungeborenen) Lebens nach irischem Verfassungsrecht als nach der EMRK. Der EGMR löste den Fall nicht als Kollision von in Ausgleich zu bringenden Grundrechten, sondern unter Rückgriff auf das „legitimate aim“ „public morals“ und einer anderen Würdigung des Sachverhalts. 84 Siehe Fn. 24.
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
I. Wortlaut Vorab ist kurz auf die Wortlautunterschiede zwischen Art. 53 GRCh und Art. 53 EMRK einzugehen. Während einige dieser Unterschiede eher stilistischer Natur erscheinen85, bedeuten andere einen inhaltlichen Unterschied zu Art. 53 EMRK86. Über die Selbstbezeichnung („diese Konvention“ bzw. „dieser Charta“) hinaus unterscheiden sich die genannten anderen Grundrechtsordnungen. Sicherlich am auffälligsten, und denn auch in der Literatur besonders diskutiert, ist die Nennung der Verfassungen der Mitgliedstaaten statt der konventionsrechtlichen Formulierung „Gesetze[…] einer der hohen Vertragsparteien“. Im chartarechtlichen Wortlaut wird zum einen der Verweis bloß auf die „Verfassungen“ in der Literatur entweder als „verkürzte Redeweise“87 oder aber als bewusste inhaltliche Beschränkung gesehen. Zum anderen ist es wohl auch auf den Plural („Verfassungen der Mitgliedstaaten“ statt „einer Hohen Vertragspartei“) zurückzuführen, dass von einigen, in Parallele zu Art. 6 Abs. 2 EU, auf einen im Wege der wertenden Rechtsvergleichung zu ermittelnden gemeinsamen Grundrechtsstandard abgestellt wird88. 85 Die insgesamt wenig geglückte Formulierung des Art. 53 GRCh unterscheidet sich stilistisch von Art. 53 EMRK im Wesentlichen wie folgt. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich – in dem Bewusstsein, dass allein die französische und die englische Fassung völkerrechtlich verbindlich sind (Schlussformel der EMRK) – wegen der geringen Bedeutung dieser Unterschiede auf den deutschen Wortlaut: Die Menschenrechte und Grundfreiheiten werden in Art. 53 GRCh im Unterschied zu Art. 53 EMRK mit bestimmtem Artikel angeschlossen „der Menschenrechte und Grundfreiheiten“. Sie werden in Art. 53 GRCh „durch“ das Völkerrecht und die Verfassungen der Mitgliedstaaten usf., in Art. 53 EMRK hingegen „in“ den Gesetzen und Übereinkünften anerkannt. Auch substantiviert Art. 53 GRCh, was Art. 53 EMRK prädikativ ausdrückt; die entscheidende Wendung, wie Charta / EMRK nicht auszulegen sind, lautet: „als eine Einschränkung oder Verletzung […]“ resp. „als beschränke oder beeinträchtige sie […]“. Schließlich wird die Gesamtheit der Bestimmungen in Art. 53 GRCh mit „keine Bestimmung dieser Charta“ bezeichnet, in Art. 53 EMRK heißt es: „diese Konvention“ („[…] ist nicht“). Obgleich auch dieser Unterschied nur stilistischer Natur ist, wird er für eine divergierende Auslegung herangezogen; vgl. M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 414 f. 86 Nach M. Borowsky sind Art. 53 GRCh und Art. 53 EMRK insgesamt aber „nahezu gleichlautend“, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1a. 87 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 21. 88 Die mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen werden hiernach im Rahmen des Art. 53 GRCh anders behandelt, als die völkerrechtlichen. Es soll insofern nicht auf einen Maximalstandard verwiesen sein, der sich daraus ergeben könnte, dass die Grundrechte aller Staaten, also auch des Staates mit dem höchsten Grundrechtsstandard, gemeint sind. Vgl. hierzu S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (175 ff.); siehe auch T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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Darüber hinaus wird in Art. 53 GRCh von den „internationalen Übereinkünften“ ausschließlich die EMRK ausdrücklich („insbesondere“) genannt, „aufgrund ihrer besonderen Bedeutung“, wie es in der Erläuterung zu Art. 53 der Charta-Erläuterungen heißt. Zweifelsohne ist von den völkerrechtlichen Menschenrechtsübereinkünften die EMRK für einen europäischen Hoheitsträger die bedeutendste. Der Bestimmung des Art. 53 GRCh – wohl zurückzuführen auf die entsprechende Erläuterung89 – wird aber eine chartarechtliche Wertung entnommen90, die beispielsweise eine bevorzugte Behandlung der EMRK in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen rechtfertigen91 oder aber das schwierige Verhältnis zwischen Art. 52 Abs. 2 GRCh (nach hier vertretener Ansicht als Rechtsgrundverweis92 mit dem maßgeblichen telos der Bewahrung des acquis communautaire für die betreffenden Rechte insbesondere der Unionsbürgerschaft) und Art. 52 Abs. 3 GRCh (mit dem neuen Ansatz eines Transfers von Konventionsrechten) rechtfertigen soll93. Schließlich stellt bei den internationalen Übereinkünften Art. 53 GRCh auf die Stellung der Union oder aller Mitgliedstaaten als Vertragspartei ab. Hier macht sich also bereits im Wortlaut ein Unterschied bemerkbar, der die Norm speziell auf das Mehrebenensystem94 ausrichtet. Allerdings wird auch hier in der Literatur teilweise eine Auslegung vorgenommen, die von dem klaren Wortlaut abrückt95.
Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 15 (kein gemeinsamer Standard, sondern Gewährleistung in mindestens zwei Mitgliedstaaten); a. A. M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 416; E. Vranes, EIoP 2003 Nr. 7 (S. 12). 89 Ohne dass dies allerdings offen gelegt wird. 90 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 18; C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1143); kritisch zur Nennung der EMRK in Art. 53 GRCh: P. Lemmens, MJ 2001, 49 (55, insbesondere Fn. 28); H. C. Krüger / J. Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (99); Y. Dorf, JZ 2005, 126 (130). 91 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1143). 92 A. A. die h. M.: Transferklausel, so etwa T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 45 ff. Hiergegen spricht der Wortlaut der Norm. Aber auch in systematischer Hinsicht ist einzuwenden, dass die in Bezug genommenen Vorschriften bereits ausdrücklich in den Unionsverträgen enthalten sind. Als Rechtsgrundverweis entzieht Art. 52 Abs. 2 GRCh vielmehr die Regelung dieser Rechte dem Regime der Charta, um im Sinne einer Bewahrung des acquis communautaire die überkommenen Rechtssätze zur Anwendung gelangen zu lassen; siehe unter Kapitel 4.A.IV. 93 So u. a. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der Europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1143). 94 Kritisch zu diesem Begriff P. Badura, in: AöR 131 (2006), 423 (436). 95 Vgl. auch T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschafts-Kommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 17, der in Anlehnung an die bisherige Rechtsprechung zu Art. 6 Abs. 2 EU auch solche Übereinkünfte hierunter subsumieren will, die alle Mitgliedstaaten unterzeichnet haben.
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
Hingegen wird dem Formulierungsunterschied „Einschränkung oder Verletzung“ in Art. 53 GRCh statt „beschränke[n] oder beeinträchtige[n]“ in Art. 53 EMRK kaum die Bedeutung eines materiellen Unterschieds beigemessen. Dies erscheint auf den ersten Zugriff insofern plausibel, als die Begriffe bereits konventionsrechtlich vergleichsweise untechnisch gebraucht werden96 und vergleichbare Klauseln anderer völkerrechtlicher Verträge in der Begriffsverwendung ebenfalls variieren, ohne dass jene Normen unterschiedlich ausgelegt werden97. Die Unterschiede, die nicht bloß stilistischer Art sind, gilt es im Folgenden neben dem im Vergleich zu Art. 53 EMRK andersartigen unionalen Bedeutungszusammenhang des Art. 53 GRCh zu berücksichtigen.
II. Regelung der Auslegung Die Ausführungen zu Art. 53 EMRK hinsichtlich der Bedeutung der Norm als Regelung der Auslegung stellen auf Gesichtspunkte ab, die sich aus der Normierung selbst ergeben. Die Bedeutung der EMRK als völkerrechtliche Auffangordnung im Bereich des Grundrechtsschutzes trägt die konventionsrechtliche Argumentation nicht. Ein andersartiger Bezugsrahmen, wie der des Unionsrechts, führt hier somit nicht zu anderen Wertungen. Auch die geringfügigen Wortlautunterschiede des Art. 53 GRCh bringen keine inhaltlich bedeutsame Änderung der Regelung mit sich. Ebenso wie Art. 53 EMRK ein bestimmtes Ergebnis, nämlich dass die genannten Grundrechtsordnungen hierdurch weder eingeschränkt noch verletzt werden, vorgibt, handelt es sich auch bei Art. 53 GRCh nicht um eine Art. 52 Abs. 4–7 GRCh vergleichbare Auslegungsregelung98. 96
Siehe oben. M. Nowak, U. N. Convenant on Civil and Political Rights, 2. Auflage 2005, Art. 5 Rdnr. 12. 98 So auch M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 12; Ansätze, die auf Art. 53 GRCh als eine mit Art. 52 Abs. 4–7 GRCh vergleichbare Auslegungsregel rekurrieren, verdienen somit keine Zustimmung. M. Holoubek, Die liberalen Rechte der Grundrechtscharta im Vergleich zur Europäischen Menschenrechtskonvention, in: Duschanek / Griller (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 25 (35), und B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EU Rdnr. 120, stellen auf Art. 53 GRCh als Auslegungsregel für die Frage des Entsprechens gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ab – wobei diesen zu Gute zu halten ist, dass die Absätze 4 bis 7 des Art. 52 in der 2000 proklamierten Fassung der Charta, auf die sich seine Ausführungen beziehen, nicht vorhanden waren. So sieht etwa T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14 ff., hierin einen Hinweis auf die vom EuGH zu berücksichtigenden Rechtserkenntnisquellen im Rahmen seines „Mandats“ zu wertender Rechtsvergleichung, wobei er zur Optimierung des Grundrechtsschutzes verpflichtet sei, a. a. O, Rdnr. 19 ff. Hingegen hat die Berücksichtigung auch der in Art. 53 GRCh genannten Quellen im Rahmen allgemeiner Auslegungsgrundsätze zu erfolgen, M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 19. 97
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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III. Regelung hinsichtlich des materiellen Grundrechtsschutzes durch Grundrechte anderer Quellen Die EMRK erstreckt sich als völkerrechtliches Menschenrechtsübereinkommen typischerweise auf jedweden Hoheitsakt der sich ihr unterwerfenden Vertragsstaaten, selbst auf die Übertragung von Hoheitsgewalt auf einen supranationalen Hoheitsträger99. Auch vor dem Hintergrund dieses derart umfassenden Charakters stellt Art. 53 EMRK klar, dass die konventionsrechtliche Bindung, weil sie ein Instrument im Dienste der Menschenrechte ist, die gebundenen Staaten nicht hindert, für sich einen höheren Grundrechtsschutz zu gewährleisten, auch durch Eingehung anderweitiger völkerrechtlicher Verpflichtungen. Sofern Art. 53 EMRK regelt, die EMRK beinhalte nicht die Verpflichtung, andere Grundrechtsordnungen zu ändern, stellt sich die Frage, ob eine solche Regelung auch im Recht der Union in Art. 53 GRCh zu sehen ist.
1. Unionaler Bedeutungszusammenhang Die Grundrechte der Charta binden zunächst die Union als supranationalen Hoheitsträger100. Gem. Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh gelten sie aber auch für die Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Unionsrechts101. Wie sehr sich die in Art. 53 EMRK enthaltenen Regelungen in Art. 53 GRCh wieder finden, hängt vor allem davon ab, inwiefern die Bindung der Mitgliedstaaten an die Grundrechte der Charta derjenigen an die Menschenrechte der EMRK strukturell ähnelt. B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 104, 109 f., 119 f., will auch Art. 53 GRCh als Auslegungsregel bei der Schrankenziehung berücksichtigen. „Art. 52 Abs. 3 und 53“ würden auf die entsprechenden „Differenzierungen in der EMRK“ und den mitgliedstaatlichen Verfassungen verweisen, so dass auch die allgemeine Einschränkung in Art. 52 Abs. 1 GRCh nicht unter das Schutzniveau der EMRK sinken dürfe und deren Einschränkungsdogmatik zu beachten habe. 99 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197. 100 T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11; S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (173); M. Cartabia, in: Bifulco / Cartabia / Celotto (Hrsg.), L’Europa dei Diritti. Commento alla Carta dei diritti fondamentali dell’Unione Europea, 2001, Art. 53, S. 363; vgl. A.-M. Widmann, CJEL 8 (2002), 342 (350 ff.). 101 Vorschläge, den Begriff der Durchführung des Europarechts nur auf die unmittelbare Anwendung des Gemeinschaftsrechts, d. h. vor allem auf die Durchführung von Verordnungen zu stützen, blieben ohne Folgen, vgl. N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Handreichungen und Sitzungsprotokolle, 2002, S. 233, auch S. 295; D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (182). Trotzdem wird der Wortlaut des Art. 51 GRCh teilweise so verstanden, dass er sich nur auf die Durchführung von Verordnungen bezieht, C. de Burca, ELR 2001, 126 (137).
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
a) Insbesondere: Bindung der Mitgliedstaaten an Grundrechte der Charta Die gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh gebührend zu berücksichtigenden Charta-Erläuterungen, hier des Art. 51, weisen insofern einerseits auf die Wachauf-Rechtsprechung102 des EuGH hin. Die Bindung der Mitgliedstaaten bei der Durchführung des Rechts der Union meint also insbesondere103, dass ein mitgliedstaatlicher Rechtsakt, etwa in Umsetzung einer Richtlinie, letztlich im Einklang mit den Unionsgrundrechten stehen muss. In der Erläuterung zu Art. 51 wird andererseits aber auch auf die ERT-Rechtsprechung104 des EuGH Bezug genommen. Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte „bei der Durchführung des Rechts der Union“ gem. Art. 51 GRCh soll also auch mitgliedstaatliche Rechtsakte betreffen, die „im Anwendungsbereich des Unionsrechts“ liegen. Dies scheint ein weiteres Verständnis des Art. 51 Abs. 1 und damit eine umfänglichere Bindung der Mitgliedstaaten zu implizieren, als dies der Wortlaut der Norm mit der Formulierung „bei der Durchführung des Rechts der Union“ nahe legt. Allerdings geht es in der ERT-Rechtsprechung um die Relevanz von Grundrechten bei der Anwendbarkeit von Grundfreiheiten auf mitgliedstaatliche Rechtsakte. In dem Verständnis der Erläuterungen, erforderlich für eine gebührende Berücksichtigung in der Auslegung des Art. 51 Abs. 1 gem. Art. 52 Abs. 7 GRCh, gilt es also, eben diese auf die Entscheidung in der Rechtssache ERT zurückgehende Rechtsprechungslinie zu beleuchten.
aa) Bindung in Umsetzung von Gemeinschafts- und zukünftigem Unionsrecht Erlässt die Union einen Rechtsakt, der die Unionsgrundrechte betrifft, handelt sie wie ein Hoheitsgewalt ausübender Staat. Sie ist, wie dieser an nationale Grundrechte, etwa in einem geschriebenen Grundrechtskatalog als Teil der Verfassung enthalten, gebunden ist, an die Unionsgrundrechte gebunden. Nach dem Vertrag von Lissabon ist die Union in der Ausübung von supranationaler Hoheitsgewalt an die geschriebenen Grundrechte der Charta gebunden. Im Folgenden erfolgt die Darstellung in Anlehnung an die überkommene gemeinschaftsrechtliche Terminologie, da – soweit ersichtlich – die überkommenen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts auch nach dem Vertrag von Lissabon weiterhin Geltung beanspruchen dürften.
102
EuGH, Urteil vom 13. 7. 1989, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609. Im Einklang mit der überkommenen Rechtsprechung fällt auch der Verwaltungsvollzug im engeren Sinne hierunter, was besonders in dem Wort „bei“ (der Durchführung) zum Ausdruck kommt; EuGH, Urteil vom 13. 7. 1989, Rs. 5/88, Wachauf, Slg. 1989, S. 2609. 104 EuGH, Urteil vom 18. 6. 1991, Rs. 260/89, ERT, Slg. 1991, S. I–2925. 103
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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Wenn Mitgliedstaaten Unionsrecht umsetzen, sind nach allgemeinen Grundsätzen des Unionsrechts die mitgliedstaatlichen Umsetzungsrechtsakte unionskonform auszulegen105. Soweit etwa ein Mitgliedstaat durch eine Richtlinie gebunden ist, unterliegt der mitgliedstaatliche Rechtsakt kraft des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts dem Erfordernis der richtlinienkonformen Auslegung. Soweit der mitgliedstaatliche Akt durch den Vorrang des Unionsrechts determiniert ist, stellt sich dieser letztlich funktional als ein Hoheitsakt der Union dar106. Diese Sicht bestätigt sich im Fall einer Grundrechtsverletzung. Auch wenn diese sich beim Bürger in einem mitgliedstaatlichen Rechtsakt bemerkbar macht, so stellt sie sich doch als Grundrechtsverletzung durch die Union dar, wenn insoweit der mitgliedstaatliche Rechtsakt unionsrechtlich determiniert ist. Auf Ebene des Unionsrechts wiederum muss die Richtlinie als Sekundärrechtsakt der Union nach dem Grundsatz des Vorrangs des Primärrechts im Einklang mit diesem und damit auch mit den Unionsgrundrechten stehen. Der Vorrang des Primärrechts führt, im Unterschied zum bloßen Anwendungsvorrang im Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht, sogar zur Nichtigkeit des Sekundärrechtsakts, also etwa der Richtlinie, wenn eine primärrechtskonforme Auslegung nicht möglich ist107. Damit aber umfasst die Bindung der Mitgliedstaaten durch das Sekundärrecht nur unionsgrundrechtskonformes (ggf. unionsgrundrechtskonform auszulegendes) Sekundärrecht, nicht unionsgrundrechtswidriges Sekundärrecht108. Insofern ist das Durchschlagen von Unionsgrundrechten in den Sekundärrechts- und den mitgliedstaatlichen Umsetzungsakt notwendige Konsequenz des insoweit vollumfänglichen Anwendungsvorrangs des Unionsrechts. Die „Bindung“ der Mitgliedstaaten in der Durchführung von Unionsrecht ist somit die Beschreibung dessen, wie sich die unionsgrundrechtlichen Direktiven in dem mitgliedstaatlichen Rechtsakt niederschlagen. Vor diesem Hintergrund erscheint auch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 a. E. GRCh als Klarstellung; die Norm ist zumindest insofern deklaratorisch109. Mit einer unmittelbaren „Bindung“, wie sie im Verhältnis der Charta zur Union besteht, ist dies nicht vergleichbar.
105
Std. Rechtsprechung: EuGH, Urteil vom 10. 4. 1984, Rs. 14/83, von Colson und Kamann, Slg. 1984, S. 1891; EuGH, Urteil vom 13. 7. 2000, Rs. C-456/98, Centrosteel, Slg. 2000, S. I–4941. 106 A. Große Wentrup, Die Europäische Grundrechtecharta im Spannungsfeld der Kompetenzverteilung zwischen Europäischer Union und Mitgliedstaaten, 2003, S. 54 ff.; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 12. 107 Jedenfalls kann der EuGH solche Rechtsakte gem. Art. 231, 234 EG für nichtig erklären, M. Schroeder, in: Streinz (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 249 EGV Rdnr. 17; M. Nettesheim, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, Art. 249 EGV Rdnr. 232. 108 U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 76. 109 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 12.
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Ein mitgliedstaatlicher Rechtsakt außerhalb dieses Zusammenhangs, hat, jenseits des Anwendungsbereichs oben angesprochener Grundsätze, keine unionsgrundrechtlichen Implikationen. Dies gilt vor allem auch, soweit ein mitgliedstaatlicher Rechtsakt nicht Unionsrecht umsetzt, weil er etwa unionsrechtliche Umsetzungsspielräume wahrnimmt110. Ob der EuGH auch in Zukunft an dieser klaren Aufgabenteilung zwischen gemeinschaftlichem und nationalem Grundrechtsschutz festhalten wird, erscheint nach dem Urteil in der Rechtssache C-540/03 zu der Familienzusammenführungsrichtlinie wieder fraglich111. Es deutet sich hier bereits ein Anknüpfungspunkt für zukünftige Rechtsprechungslinien an, die im nationalen Verfassungsrecht nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen werden. Auch der Gedanke der Unionsgrundrechtsbindung wegen Veranlassung dieses mitgliedstaatlichen, aber eben unionsrechtlich nicht determinierten Rechts112, ist zu verwerfen. Die sich hieraus ergebenden Schwierigkeiten sind von den mitgliedstaatlichen Gerichten durchaus in den Griff zu bekommen.
bb) Bindung bei Einschränkungen von Grundfreiheiten Unter Zugrundelegung der ERT-Formel vom erforderlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts für eine Bindung der Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte ist hinsichtlich der auf diese Entscheidung zurückgehende Rechtsprechungslinie zu fragen, welche Bedeutung den Unionsgrundrechten für mitgliedstaatliche Rechtsakte, die eine Grundfreiheit einschränken, zukommt. Es stehen hier vor allem113 Sachverhalte vor Augen, in denen, oftmals unter dem Schlagwort des mehrpoligen Rechtsverhältnisses, gegenläufige Individualinteressen bestehen, von denen eine Seite binnenmarktrechtlich, grundfreiheitsrelevant ist (etwa in Ausübung der Warenverkehrsfreiheit, einen LKW zum Transport von Waren grenzüber110 BVerfGE 118, 79 – Treibhausgas-Emissionsberechtigungen; für die Dritte Säule (Rahmenbeschluss) BVerfGE 113, 273 – Europäischer Haftbefehl; T. Kingreen / R. Störmer, EuR 1998, 263 (281). 111 EuGH, Urteil vom 27. 6. 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769. Siehe bereits U. Di Fabio, JZ 2000, 737 (741). Ebenfalls kritisch bereits hinsichtlich früherer Entscheidungen des EuGH T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GRCh Rdnr. 9 ff. (12). 112 So J. Kühling, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (609); T. Jürgensen / I. Schlünder, AöR 121 (1996), 200 (211 f.); R. Störmer, AöR 123 (1998), 541 (567 f.); J. Cirkel, Die Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, S. 84 f.; S. Fries, Die Grundrechtsbindung der Mitgliedstaaten nach dem Gemeinschaftsrecht, 2002, S. 92; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 12. 113 Als weitere Konstellation ist vor allem die zu nennen, in denen die Grundrechte in ihrer abwehrrechtlichen Dimension als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten zum Tragen kommen, vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 11. 7. 2000, Rs. 60/00, Carpenter, Slg. 2002, S. I–6279; EuGH, Urteil vom 26. 6. 1997, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I–3689.
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schreitend auf Verkehrswegen einzusetzen), und die andere Seite die Ausübung eines Grundrechts (etwa die Straßendemonstration gegen den Straßenverkehr, so dass ein solcher LKW am Weiterfahren gehindert ist114) betrifft. Droht eine politische Demonstration den freien Warenverkehr zum Erliegen zu bringen, wird die ordnungsbehördliche Verfügung bemüht sein, den gegenläufigen Interessen Genüge zu leisten. Es stellt sich daher die Frage, ob dieser Interessenausgleich, mit dem Erfordernis praktischer Konkordanz im deutschen Verfassungsrecht vergleichbar115, auf Ebene des Unionsrechts angelegt ist. Mit anderen Worten: Stehen sich in solchen Fällen auf Ebene des Unionsrechts den sich aus der Grundfreiheit ergebenden Erfordernissen solche gegenüber, die sich aus einem Unionsgrundrecht ergeben, erfolgt also der Interessenausgleich im Rahmen der Konkretisierung von gleichrangigen Rechtssätzen116? Wenn dem so wäre, würde das Grundrecht als Unionsgrundrecht im Verhältnis zu dem Mitgliedstaat vergleichbare Wirkung entfalten wie im Verhältnis zur Union. Allerdings werden die Grundfreiheiten – mit Blick auf die binnenmarktrechtliche Zielsetzung der Grundfreiheiten – extensiv ausgelegt117. Der Eröffnung des „Anwendungsbereichs des Gemeinschaftsrechts“ stellen sich regelmäßig keine bedeutenden Hürden in den Weg. Würde man hieran anknüpfend eine Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte bejahen, würde den Unionsgrundrechten für weite Bereiche die Funktion eines internationalen Menschenrechtsstandards, der EMRK vergleichbar, zukommen118. Die bloße ERT-Formel von der Beachtung der Grundrechte, wenn ein mitgliedstaatlicher Akt in den Anwendungsbereich des Unionsrechts fällt, birgt für sich die Gefahr von Missverständnissen. Für ein zutreffendes Verständnis ist es erforderlich zu sehen, wie diese Formel in der Spruchpraxis des EuGH gehandhabt wird. Letztlich geht es in dieser auf die Entscheidung ERT zurückgehenden Rechtspre114 So der zugrunde liegende Sachverhalt von EuGH, Urteil vom 12. 6. 2003, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I–5659. 115 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1995, Rdnr. 72. Dieser Grundsatz wird auch vom Gerichtshof – zumindest im Fall von Grundrechtskollisionen – angewandt, EuGH, Urteil vom 6. 3. 2001, Rs. C 274/99, Connolly gegen Kommission, Slg. 2001, S. I–1611, Rdnr. 148 ff.; hierzu B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 64; W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 281 ff., 365. 116 Eine diesbezügliche Abwägungslösung befürwortend: D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001, S. 162 ff. 117 Deutlich wird dies in der Entwicklung der Rechtsprechung zu den Grundfreiheiten, die sich von einem reinen Diskriminierungsverbot hin zu einem allgemeinen Beschränkungsverbot entwickelt haben, vgl. EuGH, Urteil vom 20. 2. 1979, Rs. 120/78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, S. 649 (Warenverkehrsfreiheit); EuGH, Urteil vom 15. 12. 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I–4921 (Arbeitnehmerfreizügigkeit); EuGH, Urteil vom 3. 12. 1974, Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, S. 1299 (Dienstleistungsfreiheit). 118 Kritisch zur Formel des „Anwendungsbereichs“ T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GRCh Rdnr. 16 f.
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chungslinie, insbesondere also die Urteile in den Rechtssachen Schmidberger119 und Laserdrome120, um die Bedeutung von grundrechtlichen Belangen im Rahmen der Erfüllung von Verpflichtungen, die sich aus den Grundfreiheiten ergeben. Gefordert ist die Berücksichtigung grundrechtlicher Belange durch das Unionsrecht. Dies erfordert aber nicht, in einer im Zusammenhang mit dem Erfordernis praktischer Konkordanz vergleichbaren Art und Weise, dass das Unionsgrundrecht in Anwendung gebracht, der Grundfreiheit an die Seite gestellt wird, damit dieser grundrechtliche Belang im Rahmen der Konkretisierung einen angemessenen Interessenausgleich ermöglicht121. Vielmehr kann das jeweilige Grundrecht im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung bei einer Einschränkung einer Grundfreiheit berücksichtigt werden122. Für eine unmittelbare Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte im Falle der Einschlägigkeit von Grundfreiheiten besteht aber nicht nur kein Bedürfnis. Es ist vor allem nicht ersichtlich, warum die Unionsgrundrechte, die außerhalb des Anwendungsbereichs von Grundfreiheiten die Mitgliedstaaten nicht binden, gerade deswegen anzuwenden sein sollen, weil der Anwendungsbereich einer Grundfreiheit eröffnet ist. Wird eine Grundfreiheit eingeschränkt, kann dies wegen berechtigter grundrechtlicher Interessen, die z. B. im Sinne einer Schutzpflicht ein Tätigwerden des Staates erforderlich machen, gerechtfertigt sein123. Erfordert demgegenüber die Grundfreiheit im Sinne einer Schutzpflichtendimension124 dem Grunde nach das Tätigwerden des Mitgliedstaates (im Beispiel etwa im Sinne einer Verfügung gegen die Demonstranten), dann kann zu einem gewissen Maß das Nicht-Tätigwerden im Interesse der Grundrechtspositionen der Demonstranten ebenfalls gemeinschaftsrechtskonform sein125. Den gemeinschaftsrechtlichen Blickwinkel gibt aber in jedem Fall die Grundfreiheit vor126. So geht es jeweils um die Frage, ob den aus der Grundfreiheit sich ergebenden Anforderungen Genüge getan ist, ob etwa eine Beschränkung der Warenverkehrsfreiheit gerechtfertigt ist, ob den grundfreiheitlichen Anforderungen zum Tätigwerden entsprochen wurde. Entscheidend ist, dass 119
EuGH, Urteil vom 12. 6. 2003, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003, S. I–5659. EuGH, Urteil vom 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, Omega (Laserdrome), Slg. 2004, S. I–9609. 121 So auch P.-C. Müller-Graff, EuR 2006, Beiheft 1, 19 (38), der die Gleichrangigkeit von Grundrechten und Grundfreiheiten allenfalls als Lösung auf rechtspolitischer, nicht auch auf dogmatischer Ebene anerkennt. A. A.: D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001, S. 146 f. 122 Zur Funktion der Gemeinschaftsgrundrechte als Schranken-Schranken der Grundfreiheiten F. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 24 ff. 123 F. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 27 ff. 124 Allgemein zu Schutzpflichten im Europäischen Gemeinschaftsrecht P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002. 125 F. Schorkopf, ZaöRV 64 (2004), 125, spricht von einer „positiven Regulierung“. 126 So auch die Herangehensweise des EuGH im Fall Schmidberger, vgl. hierzu P.-C. MüllerGraff, EuR 2006, Beiheft 1, 19 (29). 120
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die Unionsgrundrechte, anders als die Grundfreiheiten, einen mitgliedstaatlichen Rechtsakt weder fordern noch abwehren. Vielmehr geht es um die unionsrechtliche Anerkennung grundrechtlicher Positionen im Rahmen der Verfolgung von legitimen Zielsetzungen im Rahmen der Grundfreiheitsprüfung127. Grundrechtliche Positionen können im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung auch dazu führen, dass im Einzelfall die Grundfreiheit zurücktritt. Es sind dies aber letztlich jedenfalls nicht unionale Grundrechte, die, wenn sie gegenläufige Anforderungen zu denen der Grundfreiheit stellen, unionsrechtlich anerkannt sind128. Mit der Entscheidung im Laserdrome-Fall hat der EuGH diesen Zusammenhang klargestellt: Grundrechtspositionen anderer sind im Sinne unionsrechtlich anerkannter Zielsetzungen des mitgliedstaatlichen, die Grundfreiheiten betreffenden Rechtsakts bei der unionsrechtlichen Beurteilung am Maßstab der Grundfreiheiten zu berücksichtigen. Nicht die gemeinschaftsrechtliche Menschenwürde stand im Laserdrome-Fall gegen die Grundfreiheiten, sondern die Beschränkung der Grundfreiheiten erfolgte zum Zwecke eines mitgliedstaatlichen Grundrechts, hier der Menschenwürde des Art. 1 Abs. 1 GG, die eine gemeinschaftsrechtlich anerkannte Zielsetzung darstellt, da auch das Gemeinschaftsrecht die Menschenwürde als Rechtssatz kennt129. Deutlich hat dies bereits Generalanwalt Jacobs in der Rechtssache Schmidberger erläutert: „Meines Erachtens verfolgt ein Mitgliedstaat, der versucht, ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Grundrecht zu schützen, automatisch ein legitimes Ziel. Das Gemeinschaftsrecht kann den Mitgliedstaaten nicht verbieten, Ziele zu verfolgen, die die Gemeinschaft selbst zu verfolgen hat.“130 Eine unionsrechtliche Grundrechtsposition ist aber keineswegs Voraussetzung eben dieser Anerkennung des durch den mitgliedstaatlichen, die Grundfreiheiten beschränkenden Rechtsakt verfolgten Ziels. Entscheidungen wie die im Fall Laserdrome dürfen nicht dahingehend missverstanden werden, dass nur Grundrechte und vergleichbar gewichtige Belange des Gemeinwohls legitime Zielsetzungen im Sinne der Cassis de Dijon Rechtsprechung131 darstellen. Angesichts der Tatsache, dass die Grundfreiheiten als Beschränkungsverbote einen weiten Anwendungs127 So in den Fällen, in denen Grundrechte als Schranken-Schranken bei der Einschränkung einer Grundfreiheit fungieren, hierzu F. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 24 ff.; D. Schindler, Die Kollision von Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechten, 2001, S. 134 f.; A. Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV, 2004, S. 137 ff.; T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GRCh Rdnr. 25. 128 Deutlich Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 11. 7. 2002, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003 S. I–5659, Rdnr. 102. 129 EuGH, Urteil vom 14. 10. 2004, Rs. C-36/02, Omega (Laserdrome), Slg. 2004, S. I–9609, Rdnr. 39; ausführlicher Generalanwältin Stix-Hackl, Schlussanträge vom 18. 03. 2004, in diesem Verfahren, Rdnr. 73 ff. 130 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 11. 7. 2002, Rs. C-112/00, Schmidberger, Slg. 2003 S. I–5659, Rdnr. 102. 131 EuGH, Urteil vom 20. 2. 1979, Rs. 120/78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, S. 649.
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bereich haben, hat der EuGH seit jeher auch Gemeinwohlbelange von weit geringerer Bedeutung zugelassen132, so dass nicht erst die Menschenwürde ins Feld geführt werden muss und es auch gar nicht darauf ankommt, ob die Unionsrechtsordnung diesen Belang selbst verfolgt. Freilich ist eine Grundfreiheit in einem höheren Maß durch einen mitgliedstaatlichen Rechtsakt einschränkbar, wenn dieser grundrechtliche Belange verfolgt, die auch die Union verfolgen müsste, hätte sie die Kompetenz hierzu. Schließlich lässt sich die Beeinträchtigung einer Grundfreiheit auch nicht als Umsetzung oder, mit Blick auf Art. 51 Abs. 1 GRCh, Durchführung derselben durch die Mitgliedstaaten begreifen133. Denn grundsätzlich fordert die Grundfreiheit das Unterlassen eines grundfreiheitswidrigen mitgliedstaatlichen Akts – da dieser ein Hindernis für den grenzüberschreitenden Binnenmarkt ist. Auch die Gesamtheit aller nicht gegen die Grundfreiheiten verstoßenden mitgliedstaatlichen Akte kann nicht als Umsetzung der Grundfreiheiten verstanden werden. Weil sie nicht gegen die Grundfreiheit verstoßen, sind sie gerade nicht unionsrechtlich determiniert und setzen dieses damit auch nicht um. Die Grundfreiheit gilt unmittelbar, ist unmittelbar anwendbar und hat unmittelbare Wirkung, setzt sich also gewissermaßen selbst um, wenn der gegen sie verstoßende (mitgliedstaatliche) Rechtsakt unionsrechtswidrig ist. Dies wird durch die Kontrollüberlegung bestätigt, dass der Grundfreiheit grundsätzlich auch Genüge getan ist, wenn überhaupt kein mitgliedstaatlicher Rechtsakt ergeht. Zwar kann ausnahmsweise auch ein positives Tätigwerden der Mitgliedstaaten gefordert sein, aus einer Art Schutzpflichtendimension der Grundfreiheiten. Weil aber, soweit bislang ersichtlich, die grundfreiheitlichen Anforderungen den Mitgliedstaaten in der Art und Weise, wie sie positiv tätig werden, einen sehr weiten Gestaltungsspielraum belassen134, im Grunde nur die Untätigkeit unionsrechtlich sanktioniert ist, kann von unionsrechtlicher Determiniertheit, von Umsetzung, nicht die Rede sein. Die Verpflichtung zum Tätigwerden kann sich zwar aus Grundrechten ergeben. Da die Unionsgrundrechte nicht als solche für die Mitgliedstaaten gelten, sind es aber nicht diese, die in dem Beispielsfall ein Handeln zugunsten der Demonstranten fordern. Es kann sich aber aus dem mitgliedstaatlichen Recht und damit auch aus der Schutzpflichtendimension eines mitgliedstaatlichen Grundrechts die Verpflichtung ergeben, tätig zu werden. Der mitgliedstaatliche Akt, der diese er132
So z. B. eine wirksame steuerliche Kontrolle, Verbraucherschutz; EuGH, Urteil vom 20. 2. 1979, Rs. 120/78, Cassis de Dijon, Slg. 1979, S. 649, Rdnr. 8; die Medienvielfalt, EuGH, Urteil vom 26. 6. 1997, Rs. C-368/95, Familiapress, Slg. 1997, S. I–3689, Rdnr. 18 ff.; das öffentliche Telekommunikationsnetz, Rs. C-202, / 88, Kommission gegen Frankreich, Slg. 1991, S. I–1223, Rdnr. 37. 133 Für eine strikte Interpretation von „implementing“ in Art. 51 Abs. 1 GRCh zu Recht P. Eekhout, CMLR 39 (2002), 945. 134 Wohl etwas strenger F. Schorkopf, ZaöRV 64 (2004), 125.
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füllen will, muss sich aber – wie grundsätzlich jeder mitgliedstaatliche Akt – an den Grundfreiheiten messen lassen. Allerdings wird der hierdurch verfolgte grundrechtliche Belang unionsrechtlich ein höheres Maß an Grundfreiheitseinschränkung rechtfertigen, als dies beispielsweise beim Ziel der Stabilisierung von Produktquoten der Fall sein wird. Zwar muss sich innerhalb äußerer Grenzen der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsverträge (Kriegswaffen o. ä.) jeder mitgliedstaatliche Rechtsakt am Maßstab der Grundfreiheiten messen lassen. Dass die Grundrechte maßgeblich sind, weil mit der Grundfreiheit der Anwendungsbereich des Unionsrechts gegeben sei, darf nicht dazu verleiten, dass wegen der Einschlägigkeit einer Grundfreiheit nunmehr der mitgliedstaatliche Rechtsakt in vollem Umfang wie ein Rechtsakt der Union an den Unionsgrundrechten geprüft wird. Eine solche Sichtweise würde weder dem spezifisch binnenmarktrechtlichen Charakter der Grundfreiheiten noch dem der Unionsgrundrechte gerecht.
cc) Ergebnis Damit ist mit der herrschenden Meinung135 darauf abzustellen, dass Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh kein anderes Verständnis des Verhältnisses der Anwendbarkeit von Unionsgrundrechten zu mitgliedstaatlichen Akten beinhaltet, als dies in den auf die genannten Entscheidungen zurückgehende Rechtsprechungslinien entwickelt worden ist. Gerade deren Verständnis ist aber durchaus nicht unumstritten136. Nach hier vertretener Ansicht ergibt sich die „Bindung“ bei der Durchführung von Unionsrecht in Anwendung allgemeiner Grundsätze des Unionsrechts, soweit mitgliedstaatliche Rechtsakte unionsrechtlich determiniert sind. Im Übrigen ordnet Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRCh keine darüber hinausgehende Bindung an137. Insbesondere ist die Berücksichtigung unionsgrundrechtlicher Belange im Rahmen der Grundfreiheiten kein Fall unmittelbarer Bindung von Unionsgrundrechten, der Charta, wie dies für die Union selbst gilt, sondern eine mit Blick auf die eigene Grundrechtsordnung adäquate Berücksichtigung grundrechtlicher Belange bei der Bestimmung von grundfreiheitlichen Anforderungen gegenüber den Mitgliedstaaten.
135 R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 51 GRCh Rdnr. 7 ff.; I. Pernice / F. Mayer, in: Grabitz / Hilf (Hrsg.), Das Recht der Europäischen Union, Stand: 33. Ergänzungslieferung Oktober 2007, nach Art. 6 EUV Rdnr. 31 f.; J. Kühling, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (610); D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 (182). 136 Vgl. zum Streitstand F. Brosius-Gersdorf, Bindung der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2005, S. 36 ff.; D. H. Scheuing, EuR 2005, 162 ff. 137 Zu einer zurückhaltenden Auslegung insbesondere angesichts der Kompetenzbesorgnisse der Mitgliedstaaten tendiert auch P.-C. Müller-Graff, EuR 2006, Beiheft 1, 19 (32); R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, Art. 51 GRCh Rdnr. 9.
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b) Niederschlag im Verständnis des Art. 53 GRCh Sieht man die Bindung der Mitgliedstaaten an die Unionsgrundrechte als bloßen Anwendungsfall unionsrechtlicher Determiniertheit mitgliedstaatlicher Rechtsakte, dann wird deutlich, dass die Charta im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten auch insofern keineswegs eine weitere Menschenrechtskonvention darstellt. Für Art. 53 GRCh besteht damit im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten von vornherein nicht das Problem, dessen sich Art. 53 EMRK als materielle Regelung, der Grundrechtskatalog (EMRK / Charta) beinhalte nicht die Verpflichtung138, andere Grundrechtsordnungen, an den diese ebenfalls gebunden sind, anzupassen, annimmt139. Es wird auch hier deutlich, dass die Charta nach dem Vertrag von Lissabon für den supranationalen Hoheitsträger das ist, was etwa für den Staat der Grundrechtskatalog einer geschriebenen Verfassung ist. Im Zusammenhang der Supranationalität wird der Hoheitsträger primärrechtlich durch Grundrechte gebunden, der durch eben dieses Primärrecht zur Ausübung von Hoheitsgewalt ermächtigt wird. Die Charta enthält somit unionsspezifisch negative Kompetenznormen140. Eine Regelung mit dem Art. 53 EMRK vergleichbaren Inhalt würde sich in diesem unionalen Bedeutungszusammenhang also zuvörderst an die Union richten.
2. Differenzierung nach den in Bezug genommenen Grundrechtsordnungen Ob eine solche Auslegung des Art. 53 GRCh als Verpflichtung der Union trägt, ist mit Blick auf die in Art. 53 GRCh genannten Grundrechtsordnungen, die die Union auf ganz unterschiedliche Art und Weise betreffen, zu beantworten141.
a) „Recht der Union“ und „Verfassungen der Mitgliedstaaten“ Dies gilt zunächst für den sowohl in Art. 53 GRCh als auch in Art. 53 EMRK genannten mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz. Das, was aus Sicht der EMRK mit Blick auf den Grundrechtsverpflichteten die mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen sind, ist aus Sicht der Charta das Uni138 Art. 53 kann beispielsweise nicht die Charta selbst einschränken, so zu Recht R. UerpmannWittzack, DÖV 2005, 152 (156). Dies entspricht der Rechtslage hinsichtlich Art. 53 EMRK. 139 A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392). A. A. H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 14 f. 140 I. Pernice, EuZW 2001, 673; N. Philippi, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, S. 31 f.; J. F. Lindner, DÖV 2000, 543 (548). Der Begriff hat seinen Ursprung im deutschen Verfassungsrecht, K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1995, Rdnr. 291. 141 U. Everling, EuZW 2003, 225.
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onsrecht, dabei insbesondere die Charta selbst. Bereits hierin unterscheidet sich also die Bezugnahme auf den mitgliedstaatlichen Grundrechtsschutz in Art. 53 GRCh von Art. 53 EMRK. Der Wortlaut des Art. 53 GRCh führt denn auch zusätzlich das „Recht der Union“ an. Soweit Art. 53 EMRK klarstellt, die EMRK habe keine Auswirkung auf die mitgliedstaatlichen Grundrechtsordnungen, würde eine Entsprechung dieser Regelung im Unionsrecht beinhalten, dass die Charta nicht eine an die Union gerichtete Verpflichtung beinhalte, das Recht der Union selbst zu ändern. Das derart Negierte wäre aber ohnehin nicht möglich. Die Unionsgrundrechte sind selbst Primärrecht, und Primärrecht kann grundsätzlich keine rechtlichen Bindungen für anderes Primärrecht erzeugen142. Im Verhältnis zum Recht der Union ist somit ein dem Art. 53 EMRK entsprechender Regelungsgehalt des Art. 53 GRCh abzulehnen. Aber auch im Verhältnis zu den Grundrechtsordnungen der Mitgliedstaaten beinhaltet die Charta von vornherein keine Änderung143 oder Änderungsverpflichtung, deren Nicht-Bestehen Art. 53 GRCh klarstellen müsste. Denn die Charta bindet wie bereits dargelegt – anders als die EMRK – die Union und grundsätzlich nicht die Mitgliedstaaten144. Als Zwischenergebnis ist somit festzuhalten, dass Art. 53 GRCh hinsichtlich des „Rechts der Union“ eine Art. 53 EMRK vergleichbare Regelung, dass eine auf diese bezogene Änderungsverpflichtung durch den Grundrechtskatalog nicht besteht, nicht enthält. Mit Blick auf die „Verfassungen der Mitgliedstaaten“ könnte eine solche Regelung zwar zu bejahen sein145. Sie wäre aber angesichts der Funktion der Charta als Grundrechtskatalog für den supranationalen Hoheitsträger bedeutungslos146.
142
Zu einem änderungsfesten Kernbestand des acquis communautaire U. Di Fabio, CMLR 39 (2002), 1289 (1291). 143 Etwa über den Vorrang des Unionsrechts; vgl. J. F. Lindner, EuR 2007, 160 (168 f.). 144 Siehe oben unter Kapitel 5. C.III.1.a). 145 So M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11; C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (92). 146 Ebenfalls ablehnend A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392). Insofern ist auch ein Verständnis des Art. 53 GRCh als Ausprägung eines menschenrechtlichen „principe de non-régression“ („Rückschrittverbotes“) abzulehnen, jedenfalls wenn das Prinzip so zu verstehen sein sollte, dass es an die Mitgliedstaaten adressiert ist. Vgl. G. Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, Art. 53, S. 267. Folgend M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11, der das Prinzip nur grundrechtspolitisch auffasst, M. Borowsky, ebenda, Rdnr. 11 a. E.
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
b) „Völkerrecht“ und „internationale Übereinkünfte“ Die Frage, inwiefern die materielle Regelung des Art. 53 EMRK auch für Art. 53 GRCh anzuerkennen ist, stellt sich schließlich auch für die in Art. 53 GRCh genannten völkerrechtlichen Bindungen. Die Union als Grundrechtsverpflichteter der Charta kann sowohl an Völkergewohnheitsrecht147 als auch, jedenfalls pro futuro148, an völkervertragliche Menschenrechte, insbesondere an die EMRK und möglicherweise auch an sonstige internationale Übereinkünfte gebunden sein, zumal ihr mit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon Rechtspersönlichkeit zukommt, Art. 47 EUV n. F. (weswegen in Art. 53 GRCh die Gemeinschaft nicht mehr149 genannt ist). Die Lage ist insofern also durchaus vergleichbar mit Art. 53 EMRK, wonach die an die EMRK gebundenen Staaten auch an andere Menschenrechtspakte als die EMRK völkerrechtlich gebunden sein können. Dies gilt auch hinsichtlich des Völkergewohnheitsrechts150. Der unionale Bedeutungszusammenhang steht einem Regelungsgehalt des Art. 53 GRCh in Entsprechung zu Art. 53 EMRK, dass keine Verpflichtung besteht, andere Menschenrechtsverträge zu ändern, somit nicht entgegen. Zu beachten ist aber, dass die Bindung der Union151 an die Charta strukturell eine andere ist, als die völkerrechtliche Bindung der Vertragsstaaten an die EMRK. Denn die Charta hat als Primärrecht für die Union unmittelbare Geltung152. Was in Art. 53 EMRK im Verhältnis der EMRK zu den Staaten als Klarstellung erscheint, dass eine völkerrechtliche Verpflichtung der genannten Art nicht bestehe, kann in Art. 53 GRCh im unionsrechtlichen Gewande die Union darüber hinaus unmittelbar in ihrem rechtlichen Können betreffen. Art. 53 GRCh würde somit regeln, dass die Charta die Union nicht daran hindert, durch das Völkervertragsrecht menschenrechtlich gebunden zu werden. Freilich betrifft diese Regelung nicht die Außenkompetenz für den Abschluss solcher völkerrechtlicher Verträge. Diese ist in Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. nur für einen Bei-
147
C. Tomuschat, EuGRZ 2007, 1 (3); T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 7 Rdnr. 18; EuGH, Urteil vom 12. 12. 1972, verb. Rs. 21–24/72, International Fruit Company, Slg. 1972, S. 1226; EuGH, Urteil vom 14. 7. 1976, verb. Rs. 3, 4 u. 6/76, Kramer, Slg. 1976, S. 1279. 148 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 149 Anders noch die 2000 proklamierte Fassung der Charta. 150 Die praktische Bedeutung dieses Verweises dürfte somit gering sein. 151 Sieht man hingegen auch hier [wie oben a)] die Mitgliedstaaten als Adressaten des Art. 53 GRCh, dann ließe sich in Entsprechung zu Art. 53 EMRK die Regelung entnehmen, die Mitgliedstaaten seien auch nicht verpflichtet, völkerrechtliche Menschenrechtspakte zu ändern. Eine solche Regelung würde aber erst recht ins Leere gehen. So aber M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11. 152 EuGH, Urteil vom 5. 2. 1963, Rs. 26/62, van Gend & Loos, Slg. 1963, S. 1; F. Emmert, Europarecht, 1996, § 15 Rdnr. 1 ff. (1).
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
219
tritt zur EMRK vorgesehen153 und somit auch im Sinne des EMRK-Gutachtens des EuGH154 im Übrigen wohl zu verneinen.
3. Ergebnis und Zwischenergebnis zur These vom Bedeutungswandel Art. 53 GRCh stellt – in diesem Aspekt Art. 53 EMRK durchaus ähnlich –, klar, dass die Charta Bindungen durch Menschenrechte des Völkerrechts unionsrechtlich nicht verhindert155. Hinsichtlich der genannten völkerrechtlichen Bindungen läuft Art. 53 als Regelung, andere völkerrechtliche Verträge seien nicht zu ändern156, als Bestimmung der Charta somit zwar nicht leer, weist aber letztlich darüber hinaus bloß darauf hin, dass die Union auch völkerrechtlich gebunden sein kann. Somit ist auf die Position zurückzukommen, die Einfügung des Art. 53 GRCh habe lediglich politischen Bedenken Rechnung tragen wollen157. Als Beobachtung des politischen Prozesses, in dem die Charta entstand, mag dies zutreffend sein. Dies allein würde aber nicht etwa die Extremposition rechtfertigen, es handele sich bloß um einen politischen Programmsatz. Die rechtliche Analyse zeigt, dass in Entsprechung zum materiellen Regelungsaspekt des Art. 53 EMRK Art. 53 GRCh als Rechtsnorm durchaus eine, allerdings – insbesondere wegen des unterschiedlichen unionalen Bedeutungszusammenhangs – geringfügige Bedeutung zukommt. In einer rechtspolitischen Bewertung erscheint die Einfügung des Art. 53 GRCh aber die Gefahr zu bergen, in Entsprechung zu Art. 53 EMRK als klassische völkervertragliche Klausel missverstanden zu werden. Er wirft auf die Charta unnötigerweise das Licht eines Menschenrechtspakts. Damit erscheint der Art. 53 EMRK nachgebildete Art. 53 GRCh zumindest in dem hier erörterten materiellen Regelungsaspekt als Bestimmung der Charta im Grunde überflüssig. Hingegen erweist sich in diesem Regelungsaspekt die These, der unionale Bedeutungszusammenhang führe zu einem anderen Bedeutungsgehalt des Art. 53 GRCh im Vergleich zu Art. 53 EMRK, als in weiten Teilen zutreffend. Weil der Charta als supranationaler Grundrechtskatalog eine andere Funktion zukommt, 153
So auch R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). EuGH, Gutachten vom 28. 3. 1996, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, S. I–1759. 155 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156), spricht insofern von einer „echten Vorrangklausel“. 156 F. Schorkopf, ZaöRV 64 (2004), 125 (139); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 17; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 11 f.; M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 419 f. 157 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1, 11; A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392 und 394). 154
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
als der EMRK als völkerrechtlicher Auffangordnung158, und vor dem Hintergrund, dass mit Art. 53 GRCh politischen Bedenken Rechnung getragen werden sollte159, wurde im Recht der Charta eine Regelung geschaffen, die rechtlich weit gehend ins Leere greift160.
IV. Mindestschutz durch Geltung von Grundrechten der genannten Quellen im Unionsrecht Nach einer Ansicht in der Literatur bilden die in Art. 53 GRCh genannten Grundrechtsordnungen, also die mitgliedstaatlichen Grundrechte, die EMRK, sonstige völkerrechtliche Verträge sowie das Völkergewohnheitsrecht, einen Mindeststandard. Das sich jeweils aus einem dieser ‚Kataloge‘ ergebende Schutzniveau sei unmittelbar anzuwenden, wenn die chartarechtlichen Bestimmungen selbst hierhinter zurückfallen sollten161. Die so beschriebene Rechtslage ist in zweifacher Hinsicht denkbar. Zum einen könnte Art. 53 GRCh als Regelung der Anwendbarkeit von Unionsrecht im Verhältnis zu den genannten Grundrechten anderer Quellen die Anwendung eines geringer schützenden Rechts der Charta ausschließen, so dass jene Grundrechte – gewissermaßen von sich aus, insbesondere also als mitgliedstaatliches Recht – Maßstab für die Wirksamkeit von unionalen Grundrechtseingriffen wären. Art. 53 GRCh würde in dieser Sicht für den Bereich der Grundrechte – im Sinne einer primärrechtlichen „Neo-Solange-I-Klausel“ – den Vorrang des Unionsrechts durchbrechen. Zum anderen könnte diese Position so verstanden werden, dass die in Art. 53 GRCh genannten Grundrechte als Unionsrecht anzuwenden sind. Indes ist nicht ersichtlich, inwiefern in Art. 53 GRCh eine Transferklausel enthalten sein soll162. Auch die Chartarechte selbst werden hierdurch nicht inhaltlich 158 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 12: „Die Charta wirkt sich auf die existierenden (höheren) Standards nicht aus“, d. h. die Norm enthält insofern keine materielle Regelung. 159 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 1; A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392 und 394). 160 So im Ergebnis vor allem die Untersuchung von J. B. Lijsberg, in: CMLR 38 (2001), 1171 ff. 161 Nach einem weiteren denkbaren Strang dieses Meinungsbündels wäre der genannte jeweilige Standard zumindest in der Auslegung und Anwendung der chartarechtlichen Bestimmung selbst zu berücksichtigen – wobei in weiten Teilen Konventionsrechte transferiert sind und insofern die Auslegungsregel leer liefe. 162 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 8 f.; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 53 GRCh Rdnr. 3; C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (92).
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
221
im Sinne eines Mindestschutzes geändert163, was als Schutzverstärkung bezeichnet werden könnte164. Insbesondere der zusätzlich165 enthaltene Hinweis166 auf den „jeweiligen Anwendungsbereich“ der angeführten Grundrechtsordnungen stellt dies klar167. Soweit Art. 53 GRCh die Funktion einer Mindestschutzklausel zuerkannt wird, so kommt dies allenfalls als Regelung der Anwendbarkeit des Unionsgrundrechtsschutzes, also als ‚Konkurrenzenregelung‘ in Betracht168.
V. Regelung der Anwendbarkeit von Chartarechten Gesteigerte Bedeutung könnte Art. 53 GRCh somit allenfalls in Entsprechung zu Art. 53 EMRK als ‚Konkurrenzenregelung‘169 erlangen. Fraglich ist, ob auch insofern insbesondere der unionsrechtliche Zusammenhang zu einem Bedeutungswandel führt.
Ausgehend davon, dass Art. 53 GRCh im Verhältnis zur EMRK seine eigentliche Bedeutung erst im Falle eines Beitritts der Union gewinnt, vertritt R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156 f.), Art. 53 GRCh sei Transferklausel für zukünftige Protokolle der EMRK, denen auch die Union beitritt. Denn diese seien – entgegen der hier vertretenen Ansicht (siehe oben unter Kapitel 4. A.III.2) nicht bereits gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferiert. 163 C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (92); so aber wohl K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 (294). 164 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 9. 165 Eingefügt mit Dokument CHARTE 4316/00, CONVENT 34, vom 16. 5. 2000 (gegenüber Vorgängerdokument CHARTE 4235/00, CONVENT 27, vom 18. 4. 2000), abrufbar: siehe Fn. 16; vgl. N. Bernsdorff / M. Borowsky, Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2002, sowie M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 3 und 5. 166 In Parallele zu Art. 53 EMRK ergäbe sich dies auch dann aus Art. 53 GRCh, wenn diese Wendung nicht enthalten wäre. 167 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14; U. Everling, EuZW 2003, 225: „Banalität“; J. B. Lijsberg, CMLR 38 (2001), 1171 (1191); M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 416; a. A. (konstitutive Bedeutung dieser Wendung) wohl A. Wallrabenstein, KritJ 2002, 381 (392). 168 Insgesamt ein Verständnis als Mindestschutzklausel („plafond“) ablehnend auch M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 9; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 53 GRCh Rdnr. 3. Zu einem Verständnis als Mindestschutzklausel als Konkurrenzenklausel siehe sogleich. 169 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 12.
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
1. Grundrechte „paralleler Grundrechtsordnungen“ und der Charta Wie die EMRK, so regelt auch die Charta in einer Situation „paralleler Grundrechtsordnungen“. Die Formulierung des Art. 53 GRCh „in dem jeweiligen Anwendungsbereich“ bringt auch diesen Umstand zum Ausdruck170. Diese Lage besteht aber in erster Linie im Verhältnis der Charta zum Völkerrecht, insbesondere also zur EMRK im Falle eines Beitritts gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. Denn nach gegenwärtigem Rechtsstand sind die Chartarechte grundsätzlich nicht zugleich mit den mitgliedstaatlichen Grundrechten anwendbar – weder hinsichtlich mitgliedstaatlicher Rechtsakte [siehe oben unter III.1.a)], noch hinsichtlich Unionsakte, und zwar wegen des Vorrangs des Unionsrechts und der diesbezüglichen Zurückhaltung nationalen Grundrechtsschutzes. Und im Verhältnis zu Grundrechten des „Rechts der Union“ könnte Art. 53 GRCh zwar die Anwendbarkeit von Chartarechten im Verhältnis zu diesen regeln171. Die Ausgangslage ist insofern aber eine andere, weil diese Rechte nicht „parallelen Grundrechtsordnungen“ entstammen. Ob Art. 53 GRCh im unionalen Zusammenhang eine weitere Funktion erfüllt – nämlich als echte Konkurrenzenregelung von Unionsrechten –, ist somit an anderer Stelle zu erörtern [siehe unten unter 2.]. Grundsätzlich vor die gleiche Ausgangslage gestellt wie Art. 53 EMRK, setzt auch Art. 53 GRCh im Verhältnis der Charta zu Menschenrechten des Völkerrechts die Situation voraus, dass zum einen ein solches Menschenrecht und zum anderen ein Chartarecht anwendbar sind172. Gemäß Art. 53 GRCh schränkt die Charta in dieser Situation Rechte jener Rechtsordnungen nicht ein, verletzt sie nicht. Insofern liegt die Annahme nicht fern, hier sei in Entsprechung zu Art. 53 EMRK geregelt, dass auch die Anwendbarkeit jenes Rechts durch die Anwendung des Chartarechts unberührt bleibt173. Auch Art. 53 GRCh würde also den Grundrechtskatalog in ‚parallele‘ Anwendbarkeit zu Grundrechten des Völkerrechts treten lassen, würde letztlich ‚Idealkonkurrenz‘ von Chartarecht und völkerrechtlichem Grundrecht bewirken.
170
Dem entspricht, dass man sich von der Einfügung dieser Wendung versprach, hierdurch sei jedenfalls sicher gestellt, dass Art. 53 GRCh den Vorrang des Unionsrechts nicht in Frage stellen würde; so J. B. Lijsberg, CMLR 38 (2001), 1171 (1175 f.). Schließlich findet sich noch der Deutungsversuch dieser Wendung, dass sie darauf hinweise, anderweitiges Unionsrecht könnte der Anwendung der in Art. 53 genannten Rechte entgegen stehen, so H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 12 a. E. 171 Insofern greift bereits der o. a. Einwand gegen eine ‚Meta-Regelung‘ nicht, weil es sich bei den Rechten, deren Verhältnis geregelt wird, wie Art. 53 GRCh selbst, um solche des Unionsrechts handelt. 172 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14. 173 H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 12, ebenfalls mit Hinweis auf den Wortlaut.
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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Art. 53 GRCh als Regelung der Anwendbarkeit parallel geltender Grundrechte erscheint aber unter einem anderen Gesichtspunkt problematisch. Wenn die Norm gewissermaßen Konkurrenzen zwischen unterschiedlichen Rechtsordnungen regeln würde, würde sie sich gewissermaßen als ‚Metaregelung‘, die die „parallelen Grundrechtsordnungen“ überspannt, gerieren. Jedenfalls die Anwendbarkeit der Grundrechte einer anderen völkerrechtlichen Grundrechtsordnung, wie etwa der EMRK, kann Art. 53 GRCh als Unionsrecht nicht festlegen174. Als Unionsrecht kann Art. 53 GRCh nur bezüglich des Unionsrechts regeln175. Geht es um die Anwendbarkeit von Grundrechten verschiedener in Art. 53 GRCh genannten Quellen und liegt eine gleichzeitige Anwendbarkeit eines Chartarechts und eines Grundrechts einer anderen Quelle von Art. 53 GRCh vor, dann kann in diesem Verhältnis nur die Anwendbarkeit des Unionsrechts bestimmt sein. Die Regelung der Anwendbarkeit durch Art. 53 GRCh (‚Konkurrenzenregelung‘) ist somit dahingehend zu präzisieren, dass sie sich ausschließlich auf die Charta bezieht und damit allenfalls einseitig deren Anwendbarkeit regelt. Konsequenz dieser Anordnung ist freilich, dass die Bewertung der Grundrechtmäßigkeit eines Sachverhalts nach den verschiedenen Ordnungen unterschiedlich ausfallen kann. Weil aber die Charta die Anwendbarkeit der anderen Ordnungen nicht ausschließt, nicht ausschließen kann, bedeutet dies, dass unter Umständen der Bürger völkerrechtlich geschützt ist, wenn er chartarechtlich nicht mehr geschützt ist. Entsprechendes gilt vice versa. In einer vergleichenden Betrachtung der anwendbaren Grundrechtsordnungen ist der Bürger also stets mindestens nach der jeweils am meisten schützenden Ordnung geschützt. Damit entpuppt sich Art. 53 GRCh in Parallele zu Art. 53 EMRK in dem oben beschriebenen Sinne als Meistbegünstigungsklausel176. Hinsichtlich dieses Ergebnisses ergibt sich im Vergleich somit kaum ein Bedeutungswandel. Freilich kann Art. 53 GRCh, ebenso wenig wie die EMRK, den Schutz nach anderen, völkerrechtlichen Grundrechtsordnungen nicht ausschließen. Vor dem Hintergrund der „Parallelität des Grundrechtsschutzes“177 besteht die Meistbegünstigung durch das am meisten schützende Grundrecht als Konsequenz dessen, dass dieses Grundrecht jeweils aus eigenem Recht der jeweiligen Rechtsordnung heraus Geltung beansprucht. Demgegenüber regelt Art. 53 GRCh nicht, dass eine „Meistbegünstigung“ auch als Unionsrecht gilt. Der Begriff „Meistbegünstigung“ ist hier also 174 Ebenso wenig wie auf das Recht der WEU eingewirkt werden konnte (siehe Art. 17 EU in der Fassung des Vertrags von Amsterdam). 175 Im Verhältnis zum mitgliedstaatlichen Recht ist das Unionsrecht zwar mit Anwendungsvorrang ausgestattet. Aber auch insofern will Art. 53 GRCh erkennbar nicht die Anwendbarkeit der mitgliedstaatlichen Grundrechte regeln. Denn diese sind – anders als konkurrierende Grundrechte des Völkerrechts, jedenfalls der EMRK im Fall eines Beitritts – regelmäßig nicht parallel anwendbar. 176 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14. 177 Auch H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 12.
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anders zu verstehen, als bei Art. 52 Abs. 3 GRCh. Der gegen ein völkerrechtliches Menschenrecht verstoßende Unionsakt ist somit nicht schon deshalb gem. Art. 53 GRCh auch charta-, also unionsrechtswidrig.
a) Konkrete Anwendung der Norm als ‚einseitige Konkurrenzenregelung‘ Damit ist nach den Konstellationen zu fragen, in denen neben einem Chartarecht auch ein Grundrecht einer anderen in Art. 53 GRCh genannten Rechtsordnung anwendbar ist. Es handelt sich um die Frage nach der konkreten Anwendung der Norm als ‚einseitige Konkurrenzenregelung‘. Eine gleichzeitige Anwendbarkeit eines Grundrechts einer dieser Quellen zusammen mit einem Grundrecht der Charta erscheint bei näherem Hinsehen nur ausnahmsweise gegeben zu sein. Eine parallele Anwendbarkeit von Unionsgrundrechten und mitgliedstaatlichen Grundrechten ist abzulehnen178. Mit Blick auf eine etwaige parallele Anwendbarkeit der Charta und völkervertraglicher Grundrechte, insbesondere solchen der EMRK, ist festzuhalten, dass zunächst die Union eben diesen Verträgen beitreten müsste. Im Lichte der Aussagen des EMRK-Gutachtens erscheint – von der EMRK gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. abgesehen – die Außenkompetenz für einen Beitritt zu anderen völkerrechtlichen Verträgen aber nicht gegeben179. Damit hat Art. 53 GRCh eine ‚überschießende Tendenz‘180, wie sie sich an vielen Stellen der Charta zeigt181. Insbesondere hinsichtlich der EMRK gilt es zwischen einer charta- und einer konventionsrechtlichen Bindung der Union einerseits und einer Bindung der Mitgliedstaaten andererseits zu differenzieren. Tritt die Union gem. 6 Abs. 2 EUV n. F. der EMRK bei, besagt Art. 53 GRCh, dass die Anwendbarkeit der Charta nicht die Anwendbarkeit der EMRK als Völkerrecht ausschließt182 [siehe oben Kapitel 5. C.III.2.b)] – und damit die EMRK völkerrechtlich den Bürger gegenüber supranationalen Hoheitsakten im Sinne einer Meistbegünstigung schützt, auch wenn – trotz Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh – der chartarechtliche Schutz versagt. Die EMRK stellt dann, wie jetzt schon im Verhältnis zu den nationalen Grundrechtsordnungen, eine völkerrechtliche Auffangordnung auch für jeden einzelnen Unionsakt dar.
178
Siehe oben unter Kapitel 5. C.III.1.a). EuGH, Gutachten vom 28. 3. 1996, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, S. I–1759. 180 Im Verhältnis zur EMRK auch R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 181 Zu dem Problem fehlender Regelungskompetenz der Europäischen Union im Bereich der Charta der Grundrechte der Europäischen Union P. Eeckhout, CMLR 39 (2002), 945 (974 ff.); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 51 GRCh Rdnr. 37 ff.; R. Knöll, NVwZ 2001, 392 (393). 182 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 179
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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Auch eine ‚mittelbare Bindung‘ der Union im Sinne der Bosphorus-Rechtsprechung ist bei Lichte betrachtet nur ein Reflex der Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK, der als solcher von Art. 53 GRCh nicht erfasst ist. Die Mitgliedstaaten haften als Signatare der EMRK für die Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Union, da dies grundsätzlich die Möglichkeit der Menschenrechtsverletzung mit sich bringen kann183. Es geht also um eine völkervertragliche Bindung der Mitgliedstaaten an die EMRK hinsichtlich der Übertragung von Hoheitsgewalt auf die Union, in ihrer Rolle als „Herren der Verträge“. Dies – das Schaffen und Ändern der Unionsverfassung durch die Herren der Verträge – unterliegt nicht den Bindungen der Charta als Bestandteil eben dieser Unionsverfassung, und damit auch nicht denen des Art. 53 GRCh184. Eine gleichzeitige Bindung an die EMRK im Sinne der Bosphorus-Rechtsprechung185 und an die Charta ist nicht möglich. Schließlich kann die Union, gem. Art. 47 EUV n. F. mit Rechtspersönlichkeit ausgestattet, an das Völkergewohnheitsrecht gebunden sein186. Inwieweit sich aus diesem Menschenrechte ergeben, die im Sinne einer Meistbegünstigung über das Recht der Charta hinausgehen, erscheint fraglich. In der Literatur wird an dieser Stelle das Recht auf Entschädigung bei Enteignung von Staatsangehörigen anderer Staaten erwähnt187 (vgl. aber bereits Art. 17 Abs. 1 GRCh).
b) Mindestschutz durch Regelung der Nicht-Anwendbarkeit der Charta Wie gesehen kommt das in der Literatur diskutierte Verständnis des Art. 53 GRCh als Mindestschutzklausel in dem Sinne, dass ein Unionsakt am Maßstab des jeweils höchsten Schutzniveaus der in Art. 53 GRCh genannten Quellen gilt, auch als Konkurrenzenregelung in Betracht188. In diesem Sinne könnte Art. 53 GRCh als ‚einseitige Regelung der Anwendbarkeit‘ den Anwendungsbereich der Chartarechte verschließen, gerade wenn das Schutzniveau nur einer der anderen Grundrechtsordnungen höher ist. Das Grundrecht dieser anderen, höher als die Charta schützenden Rechtsordnung, ist dann als solches und aus eigenem Recht anwend183
EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197; S. Winkler, EuGRZ 2007, 641 (644). 184 Dies aus Sicht des Art. 53 bejahend (aber aus konventionsrechtlicher Sicht verneinend): R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). 185 EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197; EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107. 186 T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 7 Rdnr. 18. 187 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 53 GRCh Rdnr. 17. 188 So wohl P. Lemmens, MJ 2001, 49 (54 f.); vgl. T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 12, mit Verweis auf G. Braibant, La Charte des droits fondamentaux de l’Union européenne, 2001, Art. 53, S. 268 f.; M. Ruffert, EuR 39 (2004), 165 (174).
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
bar189. Zugleich würde eine Mindestschutzklausel in diesem Sinne einseitig auf die an sich gegebene Anwendbarkeit des Unionsrechts verzichten. Das jeweils andere Recht würde sich ggf. selbst anwenden. Beispielsweise würde Art. 53 GRCh die Anwendbarkeit der Charta ausschließen, wenn die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG weiter gehend schützt, so dass sich Art. 2 Abs. 1 GG, seine Anwendbarkeit nach deutschem Verfassungsrecht im Sinne der Solange-IEntscheidung vorausgesetzt, als mitgliedstaatlicher Grundrechtsschutz gegenüber einem Unionsakt anwenden würde. Es ist aber bereits deutlich geworden, dass Art. 53 GRCh bestimmt, dass die Charta bei paralleler Geltung anderer Grundrechte – also etwa bei der völkerrechtlichen Geltung eines Konventionsrechts – anwendbar bleibt. Somit enthält Art. 53 GRCh gerade das Gegenteil eines einseitigen Verzichts der Anwendbarkeit zugunsten von mitgliedstaatlichen Grundrechten. Zudem steht dem die Wendung „in dem jeweiligen Anwendungsbereich“ ausdrücklich entgegen190. Es ist auch kaum anzunehmen, dass Art. 53 GRCh, der dem praktisch weit gehend bedeutungsarmen Art. 53 EMRK nachgebildet ist, ausgerechnet die Bedeutung zukommen soll, den Vorrang des Unionsrechts als tragendem Prinzip des acquis communautaire, ja überhaupt der europäischen Integration und des Prinzips der Supranationalität, in weiten Bereichen und letztlich im Belieben der Mitgliedstaaten auszuhebeln191. Überdies würde Art. 53 GRCh als Mindestschutz im Sinne einer Konkurrenzenklausel auch die Charta als Grundrechtskatalog in weiten Teilen bedeutungslos machen.
189 Vgl. S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (171). 190 Siehe Fn. 170. 191 Ganz h. M.: S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtscharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (177 f.); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 12 f.; G. Hirsch, Die Aufnahme der Grundrechtecharta in den Verfassungsvertrag, in: Schwarze (Hrsg.), Der Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents, 2004, S. 111 (115 f.); J. Bergmann, EuGRZ 2004, 620 (626); B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 109, 184; H.-P. Folz, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. II-113 VerfV Rdnr. 3; M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 405 ff.; U. Everling, EuZW 2003, 225; J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 176, zusätzlich mit dem Hinweis auf Gleichheitsgesichtspunkte.
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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2. Regelung von Konkurrenzen im Unionsrecht Eine echte Konkurrenzenregelung könnte Art. 53 GRCh für Rechtsätze des Unionsrechts, also innerhalb der Unionsrechtsordnung, darstellen192. Was zwischen den Rechtsordnungen als Meta-Regelung nicht möglich ist, dort allenfalls zu einer bloß einseitigen Regelung der Anwendbarkeit des Unionsrechts werden kann, kommt als unionsrechtliche Regelung durchaus in Betracht193. Eine genuin chartarechtliche Funktion des Art. 53 GRCh als Regelung unionsrechtlicher Konkurrenzen ist vor allem auch vor dem Hintergrund zu erörtern, dass, im Unterschied zu einem entsprechenden Verständnis der EMRK, die in Art. 53 GRCh genannten Grundrechte als Unionsrecht gelten könnten. Somit könnte Art. 53 GRCh die Konkurrenzen beispielsweise zwischen einem Konventionsrecht als Unionsrecht und einem Chartarecht regeln. Dies gilt insbesondere für den Fall eines Beitritts zur EMRK194 oder der innerunionalen Geltung von Völkergewohnheitsrecht195. Allerdings stößt dieser Ansatz bereits auf im Wortlaut begründete Bedenken. Die Formulierung „im jeweiligen Anwendungsbereich“ greift zunächst die Anwendbarkeit der Grundrechte der genannten Grundrechtsordnungen auf, beispielsweise also die Anwendung eines bestimmten Menschenrechts als Völkervertragsrecht oder eines mitgliedstaatlichen verfassungsmäßigen Grundrechts als nationales Recht. Hierüber ließe sich noch hinwegsehen, würde man unter „im jeweiligen Anwendungsbereich“ im vorliegenden Zusammenhang die Anwendbarkeit dieser Grundrechte innerhalb des Unionsrechts verstehen. Es ließe sich argumentieren, der Wortlaut sage nichts darüber aus, ob diese etwa als Völkerrecht oder Unionsrecht anwendbar sind. Vielmehr könnte die Formulierung auch so verstanden werden, dass die grundsätzliche Anwendbarkeit von Art. 53 GRCh jeweils vorausgesetzt wird, Art. 53 GRCh also insofern klarstellt, dass er selbst diese Anwendbarkeit gerade nicht herstellt. Auch wenn also die Vorstellung von „parallelen Grundrechtsordnungen“ – nicht zuletzt aufgrund von Art. 53 EMRK als konventionsrechtlichem Vorbild – im Wortlaut mitschwingt, könnte die Norm auch die genannten Grundrechte als Unionsrecht und deren Anwendbarkeit im Unionsrecht betreffen. Die in dieser Sicht von Art. 53 GRCh vorausgesetzte Anwendbarkeit eines Unionsrechts, das nicht Chartarecht ist – etwa des Konventionsrechts als Unionsrecht – kann in verschiedener Hinsicht gegeben sein. Das „Recht der Union“ erfasst zwar vom Wortlaut her auch die Charta. Weil aber Art. 53 GRCh als Konkurrenzenregelung die Anwendbarkeit der Charta 192 193 194 195
So R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156 und 157). Hierzu R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). So auch R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156). T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 7 Rdnr. 18.
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
voraussetzt, neben die die Anwendbarkeit eines weiteren Grundrechts, hier des „Rechts der Union“, tritt, kann ein Chartarecht gerade nicht gemeint sein196. Deshalb stellt auch Art. 52 Abs. 2 GRCh hierzu eine lex specialis dar197, so dass jedenfalls die von Art. 52 Abs. 2 erfassten Rechte nicht von Art. 53 GRCh in einem Verständnis als unionsrechtliche Konkurrenzenregel erfasst sein können. Folglich würde in einem Verständnis von Art. 53 GRCh als Regelung von Konkurrenzen im Unionsrecht zumindest hinsichtlich des „Rechts der Union“ leer laufen. Als Unionsrecht zur Anwendung gelangen aber jedenfalls Rechte der EMRK, nämlich nach hier vertretener Auffassung aufgrund eines Transfers gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh198. Das Verhältnis zwischen genuinem Chartarecht und transferiertem Konventionsrecht regelt aber bereits Art. 52 Abs. 3 Satz 1 selbst. Auch insofern wäre Art. 53 GRCh als Regelung unionsrechtlicher Konkurrenzen verdrängt199. Tritt die Union der EMRK als völkerrechtlichem Vertrag gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. bei, so stellt sich nach bisherigem Gemeinschaftsrecht die Frage, inwiefern und mit welchem ‚Rang‘ diese völkervertraglichen Bestimmungen auch innerunional, also als Unionsrecht gelten. Dieser Problematik nimmt sich etwa im deutschen Verfassungsrecht Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG an200. Im Primärrecht wird die Frage hingegen nicht von Art. 52 Abs. 3 GRCh geregelt. Denn der hierdurch bewirkte „einseitige, materielle“ Beitritt hinsichtlich bestimmter Rechte der EMRK betrifft gerade nicht die allgemeine Rechtswirkung im Fall eines Beitritts, etwa auch für Rechte, die keinem Chartarecht im Sinne dieser Vorschrift „entsprechen“201. Somit stellt sich die Frage, ob Art. 53 GRCh in dem Falle eines Beitritts gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. zumindest das Verhältnis von Konventionsrechten als Unionsrecht zu der Charta (einschließlich ggf. auch der gem. Art 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferierten Konventionsrechte als Chartarechte) regelt. Die Stellung völkervertraglicher Bestimmungen im Unionsrecht dürfte sich aber auch nach dem Vertrag von Lissabon in Abwesenheit einer anderen ausdrücklichen Regelung als nach dem EG-Vertrag202 nach allgemeinen unionsrechtlichen Grundsätzen, wie sie der EuGH etwa im Verhältnis zum WTO-Recht entwickelt 196
So auch T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 17; M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 16. 197 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 16. 198 Siehe oben unter Kapitel 4. A.II.3. 199 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); P. Lemmens, MJ 2001, 49 (54 f.). 200 Wobei auch das verfassungsrechtliche Gebot völkerrechtsfreundlicher Auslegung eine bedeutende Stellung einnimmt, BVerfGE 111, 307. 201 Hierzu R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156); wohl auch Y. Dorf, JZ 2005, 126 (128). 202 Insbesondere Art. 300 EG.
C. Auslegung des Art. 53 GRCh unter Berücksichtigung des Art. 53 EMRK
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hat, bemessen203. Angesichts dessen ist nicht anzunehmen, dass Art. 53 GRCh an der Geltung dieser Grundsätze, auch für den Fall eines Beitritts zur EMRK, etwas ändern soll204. Insbesondere ist nicht erkennbar, dass diese Norm die völkervertraglichen Bestimmungen innerunional mit primärrechtlichem Rang ausstatten will205. In dem Versuch, Art. 53 GRCh als Regelung unionsrechtlicher Konkurrenzen zu verstehen, würde jedenfalls ein entsprechendes Verständnis der Wendung „im jeweiligen Anwendungsbereich“, den innerunionalen ‚Rang‘ der völkervertraglichen Bestimmungen, nämlich unterhalb des Primärrechts206, bestehen lassen207. Schließlich dürfte Entsprechendes für Art. 53 GRCh auch im Verhältnis zu einer innerunionalen Geltung von Menschenrechten des Völkergewohnheitsrechts gelten208. Folglich ist auch ein genuin chartarechtliches Verständnis209 des Art. 53 GRCh als unionsrechtliche Konkurrenzenregelung zu verwerfen.
3. Ergebnis und weiteres Zwischenergebnis zur These vom Bedeutungswandel In Entsprechung zu Art. 53 EMRK stellt Art. 53 GRCh klar, dass die Charta auch „parallel“ zu den von dieser Norm genannten Grundrechtsordnungen gilt210. Im Zusammenspiel211 mit anderen „parallel“ anwendbaren Grundrechtsordnungen ergibt sich somit eine Meistbegünstigung für den gleichermaßen Grundrechts-
203 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (154); vgl. zu Art. 300 Abs. 7 EG bzw. Art. 228 Abs. 7 EGV: A. Epiney, EuZW 1999, 5 (7); C. Timmermans, The EU and Public International Law, EFAR 1999, 181 (188 ff.). 204 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (154). 205 So aber ansatzweise R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (157). 206 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (154); vgl. zu Art. 300 Abs. 7 EG bzw. Art. 228 Abs. 7 EGV A. Epiney, EuZW 1999, 5 (7); C. Timmermans, The EU and Public International Law, EFAR 1999, 181 (188 ff.). 207 R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (157); siehe auch C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1141 ff.). 208 Zur Geltung des Völkerrechts im innerunionalen Raum T. Oppermann, Europarecht, 3. Auflage 2005, § 7 Rdnr. 19. 209 Schließlich kommt Art. 53 GRCh nicht die Rolle einer Konkurrenzregelung im Verhältnis des Art. 52 Abs. 3 GRCh zu Art. 52 Abs. 2 GRCh (und zu Lasten der letzteren) zu, so aber K. Lenaerts / E. De Smijter, CMLR 38 (2001), 273 (294). Das Verhältnis der gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferierten Konventionsrechte, nämlich deren vorrangige Anwendung, ergibt sich bereits aus der letztgenannten Norm. 210 Ganz deutlich H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 16: „kumulative Anwendung, die als Meistbegünstigung bezeichnet wird.“ 211 Weil die Meistbegünstigung sich nicht bloß aus Art. 53 GRCh ergibt, schlägt J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 178, 174, Fn. 873, den Begriff „Rechtswahrungsklausel“ vor.
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Kap. 5: Mögliche Auswirkungen des Art. 53 GRCh
berechtigten212. Allerdings sind – im Unterschied zur entsprechenden Lage gem. Art. 53 EMRK – vor einem Beitritt zur EMRK kaum praktische Konstellationen hierfür ersichtlich. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass auch im Sinne einer Anwendbarkeitsklausel zu Lasten der Geltung von Chartarechten kein Mindestschutz im Sinne einer Durchbrechung des Vorrangs des Unionsrechts aus Art. 53 GRCh folgt. Schließlich kommt Art. 53 GRCh auch nicht die Bedeutung einer Regelung von unionsrechtlichen Konkurrenzen zu.
D. Ergebnis D. Ergebnis
Als Ergebnis ist festzuhalten, dass es sich bei Art. 53 GRCh um eine dem Art. 53 EMRK in weiten Teilen vergleichbare Klausel handelt213, die zum einen klarstellt, dass aus der Charta keine Änderungspflichten insbesondere hinsichtlich der EMRK resultieren, und zum anderen eine Meistbegünstigung bei „parallel anwendbaren“ Grundrechtsordnungen zur Folge hat214, 215, wobei sich der spezifisch unionale Bedeutungszusammenhang jeweils in mehrfacher Hinsicht bemerkbar macht216. Damit ergeben sich nach richtigem Verständnis des Art. 53 GRCh aus dieser Norm keine Gesichtspunkte, die eine Modifikation des Grundrechtsschutzes der Charta, wie er sich aus dem Zusammenspiel genuinen Chartarechts und transferierten Konventionsrechts gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh ergibt, mit sich bringen. Dies wird schließlich auch durch die Streichung des dritten Satzes der Erläuterung zu Art. 53 der Charta-Erläuterungen in der Fassung des Präsidiums des 212 M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 14; R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 53 GRCh Rdnr. 3; C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (92); auch H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 15 und 16 f.; J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 178, 174, Fn. 873. 213 Und zwar in beiden Aspekten, so auch M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 15. 214 Ähnlich auch H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 3 Rdnr. 12: Konkurrenzregel in dem Sinne, dass die Anwendbarkeit der genannten anderen Bestimmungen die Anwendbarkeit der Charta nicht ausschließt. Der Bürger ist aber nicht gehindert, sich auf jene, ihm u. U. günstigeren Normen zu berufen. Vgl. J. F. Lindner, ZRP 2007, 54 (55). 215 Zu Recht weisen C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (93), auf die Zielsetzung dieser Regelung möglichst schonender Einfügung in das bestehende Geflecht des Grundrechtsschutzes hin. 216 Für die grundsätzliche Übertragbarkeit des Verständnisses von Art. 53 EMRK auch M. Bühler, Einschränkungen von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 419.
D. Ergebnis
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Grundrechtekonvents bestätigt: Dass chartarechtlich der Schutz nicht unter dem Schutzniveau der EMRK liegen kann, ergibt sich aus dem Transfer der entsprechenden Gehalte gem. Art. 52 Abs. 3 GRCh, nicht aber aus Art. 53 GRCh217. Deswegen wurde im Rahmen der „Aktualisierung“ der Charta-Erläuterungen zu Recht dieser Satz bei der Erläuterung zu Art. 53 GRCh gestrichen und in den ersten Absatz der Erläuterung zu Art. 52, der sich mit Art. 52 Abs. 3 GRCh befasst, eingefügt218.
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Siehe bereits die Kritik an der Fassung der Charta-Erläuterungen vor der Aktualisierung durch das Präsidium des Europäischen Konvents M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 1. Auflage 2003, Art. 53 GRCh Rdnr. 9; J. B. Lijsberg, CMLR 38 (2001), 1171 (1192). 218 Siehe M. Wendel, Die Auslegung der Verfassung für Europa, WHI-Paper 4/05, 2005, Anlage 2: Synoptischer Vergleich der ursprünglichen mit den aktualisierten Charta-Erläuterungen, abrufbar (Stand: 28. 6. 2008) unter: .
Kapitel 6
Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte Das sogenannte mehrpolige Grundrechtsverhältnis ist in der Diskussion1. Unter dem Schlagwort wird die dogmatische Bewältigung gegenläufiger grundrechtlicher Individualinteressen erörtert. Auch im Europarecht wird, zumindest von deutscher Seite, dem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis große Aufmerksamkeit zuteil2. Dies gilt vor allem mit Blick auf die Charta der Grundrechte3. Hier wird, ungeachtet der im Einzelnen vertretenen Auslegungsansätze insbesondere zu Art. 52 Abs. 3 und Art. 53 GRCh, zumindest in allgemeiner Form den chartarechtlichen Bestimmungen ein Nebeneinander von Kohärenz- und Günstigkeitsregelungen entnommen4. Dieses Nebeneinander habe sich in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zu bewähren. In der hier vertretenen Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh stellt sich zum einen die Frage, inwiefern diese Regelung, die Kohärenz mit dem Recht der EMRK bezweckt, in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auch letztendlich Konventionsverstöße vermeiden kann. Zum anderen ist für das zentrale Merkmal des Satzes 2, „weiter gehender Schutz“, zu fragen, worauf hierfür im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis abzustellen ist, in dem ein Nebeneinander von grundrechtlichen Positionen zu bewältigen ist, wenn, wie vorliegend vertreten, es auf den günstigeren Gewährleistungsumfang im Einzelfall ankommt. In der Literatur werden für das Unionsrecht mehrpolige Konstellationen vor allem im Verhältnis zwischen Grundfreiheiten und Grundrechten ausgemacht5. Diesbezüglich ist zu überprüfen, ob die Denkfigur „mehrpoliges Rechtsverhältnis“, 1 Vgl. C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 256 ff.; ders., JZ 2006, 321; W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492. 2 Z. B. W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (496 ff.), der sich vor allem mit dem Verhältnis des deutschen Verfassungsrechts zur EMRK auseinandersetzt. 3 Hierzu z. B. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1140 ff.); H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Vorb. Rdnr. 50 ff.; H.-D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 34; C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische GrundrechteCharta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (93). 4 H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Vorb. Rdnr. 50 ff.; wohl auch J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 123 f. 5 So etwa das Beispiel von C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger S. 1129 (1140 f.).
A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse
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die aus der deutschen Verfassungsrechtsliteratur6 stammt, den unionsspezifischen Zusammenhängen gerecht wird, sie also übertragbar ist. Denkbar sind aber auch solche Konstellationen, die denen des nationalen Verfassungsrechts sehr ähnlich sind – gewissermaßen gewöhnliche mehrpolige Grundrechtsverhältnisse –, da die Union als supranationaler Hoheitsträger dem Staat vergleichbar an Grundrechte gebunden ist. Bevor auf diese Fragen eingegangen werden kann, gilt es, ein Bild von den mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zu gewinnen.
A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse als Herausforderung der Rechtsanwendung A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse
Der Begriff „mehrpoliges Grundrechtsverhältnis“7 beschreibt eine Anwendung der Grundrechte in Sachverhaltskonstellationen mit mehreren Bürgern und gegenläufigen Interessen als Grundrechtsfragen. Vor allem geht es um die Konstellationen, in denen sich ein Bürger auf eine grundrechtliche Schutzpflicht berufen kann, zu deren Erfüllung der Staat in ein grundrechtliches Abwehrrecht, das zugunsten eines anderen Bürgers anwendbar ist, eingreifen muss8. I. Grundrechtskollision als mehrpoliges Grundrechtsverhältnis Die dogmatische Bewältigung von Sachverhalten mit mehr als einem Grundrechtsberechtigtem9 und gegenläufigen, grundrechtlich fundierten Interessen erfolgt in der überkommenen Terminologie als Grundrechtskollision10. Der Begriff ist missverständlich, da nach allgemeinem Verständnis eine Normkollision eine 6 Vgl. zur Entwicklung der „mehrdimensionalen Freiheitsprobleme“ C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 309. 7 Unter Einbeziehung sonstigen Verfassungsrechts auch: „mehrpoliges Verfassungsrechtsverhältnis“, so C. Calliess, JZ 2006, 321 (325 f.); ders., Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 509 ff. 8 Denkbar sind aber auch gegenläufige Positionen ein und desselben Grundrechts, in positiver und negativer Abwehr; siehe F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 30, zu den sogenannten Schulgebets-Fällen. 9 C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 319 ff. 10 Vgl. C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 453, Kritik: S. 455 ff.; F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 28; C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 319 ff. Zur Grundrechtskollision: H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Vorb. Rdnr. 157; C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 319 ff.; F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 28 ff.
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
widersprüchliche Anordnung zweier Normen angewandt auf den gleichen Lebenssachverhalt bezeichnet11. Eine widersprüchliche Anordnung liegt im Fall der Grundrechtskollision jedoch gerade nicht vor (dazu sogleich), weil letztlich die Grundrechte sich inhaltlich von vornherein nicht in Widerspruch stellen, sondern einen Interessenausgleich im Rahmen der Rechtsanwendung fordern. Der Begriff der Grundrechtskollision hat sich aber gleichwohl etabliert. Er ist zu unterscheiden von dem der Grundrechtskonkurrenz. Dieser betrifft die Frage der Anwendbarkeit eines von mehreren möglicherweise einschlägigen Grundrechten, die in einem Sachverhalt zugunsten eines Bürgers in Betracht kommen12. Zunächst kann mit dem Begriff mehrpoliges Grundrechtsverhältnis das Gefüge der konkreten Rechte und Pflichten, die sich aus der Anwendung der Grundrechte in einem konkreten Lebenssachverhalt, insbesondere in Anwendung der dogmatischen Grundsätze der Grundrechtskollision ergeben, bezeichnet werden. In bestimmten Sachverhaltskonstellationen würden die grundrechtlichen Anforderungen gegenüber einem Bürger, gälten sie isoliert und insofern absolut, das Erfüllen der grundrechtlichen Anforderungen gegenüber einem anderen Bürger zumindest partiell unmöglich machen. So kann etwa eine Einschränkung eines Abwehrrechts zugunsten eines Bürgers gefordert sein, um die Anforderungen des Grundrechts zugunsten eines anderen zu erfüllen. Hierbei kann sich eine Gegenläufigkeit, ein Spannungsverhältnis insbesondere aus dem geschilderten Zusammentreffen von Schutzpflicht und abwehrrechtlicher Dimension von Grundrechten ergeben. Die Möglichkeit solcher Konstellationen hat auch Art. 52 Abs. 1 GRCh ebenso wie die Absätze 2 der Art. 8–11 EMRK für die Rechtfertigung von Grundrechtseinschränkungen mit der Formulierungen, dass Einschränkungen des Schutzbereichs den Erfordernissen des Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer tatsächlich entsprechen müssen, im Blick13. Weil aber einerseits nicht der grundrechtliche Anspruch des einen Bürgers sich vor dem eines anderen schlechthin durchsetzt und andererseits die Grundrechte keine widersprüchlichen Rechtsbefehle enthalten, fordert jedes Grundrecht vom Hoheitsträger von vornherein, aller im konkreten Sachverhalt in Rede stehenden grundrechtlich geschützten Interessen gerecht zu werden. Jeder Bürger hat also von vornherein nur Anspruch auf einen grundrechtlichen Schutz, der inhaltlich bereits die grundrechtlichen Anforderungen der im konkreten Sachverhalt bestehenden grundrechtlichen Ansprüche anderer aufnimmt14. Im Beispiel geht die 11
Vgl. hierzu K. Larenz / C.-W. Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Auflage 1995, S. 87 f. 12 C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3, Rdnr. 289 f. 13 Verhältnismäßigkeitsprüfungen, wie sie von den genannten Normen vorgesehen sind, sind letztlich auf einen Interessenausgleich und damit auf die Lösung von Kollisionslagen gerichtet, hierzu W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (494 ff.). 14 C. Calliess, JZ 2006, 321 (329).
A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse
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Abwehr nur so weit, wie sie mit dem geforderten Tätigwerden des Staates im Einklang steht. Dies folgt letztlich daraus, dass die Grundrechte auf Normebene gewissermaßen Rechtssätze aus gleichem Recht sind, was in einem weiter greifenden Zusammenhang auch aus der „Einheit der Verfassung“15 folgt. Auf dieser Ebene beanspruchen die Grundrechte gleichermaßen größtmögliche Wirkung. Damit beinhalten sie von vornherein das Momentum eines Interessenausgleichs. Dieser kann aber nicht abstrakt, sondern nur in der Anwendung der Grundrechte auf einen konkreten Lebenssachverhalt erfolgen. Somit ergibt sich aus kollidierenden Grundrechten das Erfordernis eines Interessenausgleichs in der Konkretisierung der Grundrechte, also im Rahmen der Rechtsanwendung16. Im Sinne praktischer Konkordanz17 geht es um eine optimale Wirkung des Grundrechts im konkreten Einzelfall und hierzu um einen schonenden Ausgleich der grundrechtlichen Interessen. Indem die Anwendung der Grundsätze der Grundrechtskollision auf einen konkreten Lebenssachverhalt als mehrpoliges Grundrechtsverhältnis begriffen wird, ist zunächst ein Perspektivenwechsel vorgenommen. Mit „Rechtsverhältnis“ ist die Anwendung der Grundrechte auf einen konkreten Lebenssachverhalt gemeint. Der Gegenstand der Betrachtung ist aber zunächst kein anderer, es finden grundsätzlich die hergebrachten dogmatischen Grundsätze Anwendung18. Insbesondere wird die subjektiv-rechtliche Struktur der Grundrechte nicht in Frage gestellt19. Deshalb besteht aber im Sinne eines Rechtsverhältnisses keine grundrechtliche und verfassungsrechtliche Rechtsbeziehung zwischen den beteiligten Bürgern. Sie sind zueinander von Grundrechts und Verfassungs wegen auch im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis nicht berechtigt oder verpflichtet. Vielmehr laufen die im Sachverhalt maßgeblichen Grundrechtsansprüche, die in ihrer Struktur ‚bipolar‘ sind, auf der Seite des grundrechtsverpflichteten Staats zusammen. Dies lässt sich als Rechtsverhältnisse-Bündel beschreiben. Diese Erwägungen stehen zwar einer Bezeichnung als mehrpoliges Grundrechtsverhältnis nicht entgegen. Jedenfalls die Rede von einem Dreiecksverhältnis birgt aber die Gefahr eines Missver-
15
Zum Gedanken der Einheit des Primärrechts C. Last, Garantie wirksamen Rechtsschutzes gegen Maßnahmen der Europäischen Union, 2008, S. 47 ff. 16 F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 28. 17 K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Auflage 1995, Rdnr. 72. Dieser Grundsatz wird auch vom Gerichtshof – zumindest im Fall von Grundrechtskollisionen – angewandt, EuGH, Urteil vom 6. 3. 2001, Rs. C 274/99, Connolly gegen Kommission, Slg. 2001, S. I–1611 (Rdnr. 148 ff.); hierzu B. Beutler, in: von der Groeben / Schwarze (Hrsg.), Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, 6. Auflage 2003, Art. 6 EUV Rdnr. 64; W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 281 ff., 365. 18 C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 445 ff., 461 ff., 587 ff., fordert allerdings eine höhere Gewichtung der Schutzpflichten; ders., JZ 2006, 321 (327). 19 C. Calliess, JZ 2006, 321 (327 f.).
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
ständnisses20. Denn zwischen dem jeweiligen Bürger besteht zum Staat jeweils eine Rechtsbeziehung, in der der Staat durch das Grundrecht verpflichtet ist, etwa zum Unterlassen eines Grundrechtseingriffs. Bei zwei Bürgern lässt sich diese Rechtsbeziehung jeweils zwar bildlich als geometrischer Schenkel eines Dreiecks bezeichnen, weil es stets nur einen Grundrechtsverpflichteten, den Staat, gibt, der der oben liegenden Ecke des Dreiecks zuzuordnen wäre. Indes fehlt verfassungs- und grundrechtlich der dritte Schenkel des Dreiecks (der Boden). Ein unten liegender Schenkel wäre bei einer unmittelbaren Drittwirkung von Grundrechten gegeben, diese aber wird im deutschen Verfassungsrecht abgelehnt21. Das zur Bewältigung der Grundrechtskollision möglicherweise einfach-gesetzlich, etwa durch ein Zivilgesetz, ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen vorgenommen wird22, vermag nicht darüber hinweg zu täuschen, dass grundrechtlich, verfassungsrechtlich eine Beziehung zwischen den Bürgern gerade nicht besteht.
II. Mehrpoliges Grundrechtsverhältnis als an die Methodik gerichtete Forderung Das mehrpolige Grundrechtsverhältnis thematisiert die Rechtsanwendung – „-verhältnis“ meint die rechtlichen Beziehungen die sich in Anwendung der kollidierenden Grundrechte in einem konkreten Fall ergeben. Es wird darauf aufmerksam gemacht, dass stets alle in einem Sachverhalt in Betracht kommenden grundrechtlichen Interessen für die Bewertung in den Blick zu nehmen sind. Das in der Rechtsanwendung erforderliche, methodengerechte Hin-und-Her-Wandern des Blicks zwischen Rechtsnorm und Wirklichkeit23 darf sich nicht willkürlich auf einen Bürger beschränken. Diese Gefahr aber mag durch die subjektiv-rechtliche Struktur des Grundrechts – der Staat als Verpflichteter, der Bürger als Be-
20
So sogar C. Calliess, JZ 2006, 321 (326). So die ganz herrschende Meinung, vgl. H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Vorb. Rdnr. 98 ff. Hierbei werden dann aber auch die Dreiecksschenkel zum Hoheitsträger außer Betracht bleiben, etwa wenn den Grundrechten die Fähigkeit beigemessen wird, durch eine Ausstrahlungswirkung unmittelbar in diese Rechtsbeziehung einzuwirken. Selbst dann ist aber zu fragen, ob es sich nicht um einen Fall der grundrechtskonformen Auslegung von Zivilgesetzen handelt, da auch die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten nur bestehen, weil die staatliche Rechtsordnung dies – grundrechtlich garantiert durch die Privatautonomie – so vorsieht. Soweit ersichtlich, wird die unmittelbare Drittwirkung auch bei unionsrechtlichen Grundfreiheiten und Grundrechten abgelehnt, wenn auch teilweise solche Tendenzen in der Rechtsprechung zu sehen sind, vgl. z. B. EuGH, Urteil vom 15. 12. 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I–4921 (Rdnr. 83). 22 So C. Calliess, JZ 2006, 321 (326). Kritisch hierzu C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 320, 325. 23 K. Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 2. Auflage 1960, S. 15. 21
A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse
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rechtigter – gefördert werden. Die Rede ist auch von einem „konsequenten Denken im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis“ als „dogmatischem Instrumentarium“.24 Bei dieser Frage der Perspektivenwahl in der Rechtsanwendung geht es im Grunde um eine Forderung nach konsequenter Weitung des Blickwinkels bei der Grundrechtsprüfung. Damit handelt es sich um eine an die Methodik der Rechtsanwendung gerichtete Forderung.
III. Vor- und Nachteile eines Denkens in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen Ein möglicher Verdienst der Sichtweise von mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen macht sich in der kritischen Würdigung solcher Fälle, in denen eine verengende Perspektivenwahl das Ergebnis verfälschen kann, bemerkbar. Die treffliche grundrechtliche Bewertung des Falles, dass Terroristen als Passagiere eines Flugzeugs dieses in ihre Gewalt bringen, um es als Waffe auch gegen ein von Menschen bewohntes Hochhaus einzusetzen, kann nur gelingen, wenn bei der rechtlichen Beurteilung als Sachverhalt nicht nur die Flugzeuginsassen, sondern auch die Hochhausbewohner berücksichtigt werden25. So weit ein „Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen“ als eine an die Methodik gerichtete Forderung nicht die rechtlichen Maßstäbe der grundrechtlichen Bewertung ändert, sondern es darum geht, die Beurteilungsgrundlage der rechtlichen Bewertung richtig zu erfassen26, ist sie zu begrüßen. Dem Verdienst des Denkens in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen stehen freilich auch mögliche Nachteile gegenüber. Weil die Grundrechte bereits als ranghöheres Recht Vorrang genießen, tendieren in dieser Sicht nachrangige Rechtssätze – nicht nur des Privatrechts27 – als einfach-gesetzliche Regelung der Grundrechtsabwägung und damit gewissermaßen als bloßer Vollzugsakt der Grundrechte zu erscheinen28. Denn in der Bewältigung gesellschaftlicher Fragestellungen durch einfache Gesetze geht es häufig um einen Interessenausgleich. Das Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen birgt insofern die Gefahr, in jedem einfach-gesetzlichen Interessenausgleich sogleich grundrechtliche Implikationen anzunehmen und somit das einfache Gesetz als Grundrechtsumsetzung zu begreifen. Es ist wohl kein Zufall, dass von Anhängern der Denkfigur mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse angenommen wird, mehrpolige Grundrechtsverhältnisse seien
24
C. Calliess, JZ 2006, 321 (326). Zu diesem Fall J. Isensee, AöR 131 (2006), 173 (192). 26 So wohl W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (496). 27 C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 303 ff. 28 C. Calliess, JZ 2006, 321 (326). 25
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
heute häufiger als früher29. Nicht erkennbar ist aber, mit welchem empirischen Instrumentarium dieser Annahme nachzugehen wäre. Auch wenn bereits die Grundrechtsinterpretation stets ein Spiegelbild gesellschaftlicher Veränderung darstellt, so ist doch das beobachtete vermehrte Auftreten von mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zunächst eine Reklamation der Veränderung der tatsächlichen Umstände30. In der Tat mögen zwar auch die gesellschaftlichen Umstände – etwa der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt – sich dergestalt geändert haben, dass der Hoheitsträger vermehrt vor die Aufgabe gestellt ist, die Belange mehrerer im Rahmen eines mehrpoligen Grundrechtsverhältnisses in Ausgleich zu bringen. Ob aber tatsächlich technologischer Fortschritt31, umweltpolitische Herausforderungen32, die neuartige Bedrohungslage durch internationalen Terrorismus dazu geführt haben, dass die Grundrechte „fast nur noch in mehrpoligen Konstellationen“ Anwendung finden33, harrt noch der wissenschaftlichen Bearbeitung. Eine grundrechtseinschränkende Vorschrift der Gesundheitspolitik, etwa zu Lasten der Berufsfreiheit, wird vielleicht vorschnell als Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht aus dem Recht auf körperliche Unversehrtheit gedeutet. Auch für das gemeinschaftliche bzw. unionale Sekundärrecht ist diese Gefahr nicht von der Hand zu weisen, vor allem angesichts primärrechtlicher Unionszielbestimmungen und Querschnittsklauseln, etwa zur Gesundheits-34 oder Umweltpolitik35. Problematisch wäre dies mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung, im Unionsrecht dem Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts36. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, gesellschaftliche Konflikte zu regeln, und nicht der Gerichte. Diese aber könnten nach der Denkfigur mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse geneigt sein, einen einfach-gesetzlich geregelten Interessenausgleich über den Vorrang der Grundrechte zu ‚vergrundrechtlichen‘ und damit den von ihnen für richtig gehaltenen Interessenausgleich an die Stelle desjenigen des Gesetzgebers setzen37. Insofern wohnt, in Verbindung mit dem Gesetzesvorbehalt, bei einem ‚überkonsequenten‘ Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen die Tendenz zur (Über-)Regulierung inne. 29
J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 175. W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (493), sieht in der „vorangetriebenen Konstitutionalisierung der Rechtsordnung“ einen wichtigen Grund für die steigende Beachtung von mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen. 31 W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492, mit Beispielen aus dem Bereich der Netzregulierungen. 32 Hierzu C. Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, v. a. S. 256 ff. 33 So J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 123. 34 Art. 168 AEUV. 35 Art. 11 AEUV, Art. 3 Abs. 3 UAbs. 3 Satz 2 a. E. EUV n. F. 36 Vgl. hierzu U. Di Fabio, § 27. Gewaltenteilung, in: HStR II, 3. Auflage 2004, Rdnr. 86 ff.; im Ergebnis so auch A. von Bogdandy, JZ 2001, 157 (165). 37 Zur Rolle der deutschen Gerichte bei der Beurteilung von mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen, W. Hoffmann-Riem, EuGRZ 2006, 492 (496 ff.). 30
A. Mehrpolige Grundrechtsverhältnisse
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Das Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen kann sich dann als Übertonung bestimmter Aspekte darstellen, die letztlich, entgegen der wohl zugrunde liegenden Intention, auch zu einer verzerrten rechtlichen Bewertung führen könnten. Wenn etwa die grundrechtliche Aufladung eines Mietverhältnisses dazu führt, dass der Mieter entgegen der vertraglichen Vereinbarung beider zu Lasten des Eigentumsrechts des Vermieters eine Parabolantenne zum Empfang von Satellitenfernsehen (als Ausfluss der Informationsfreiheit) anbringen darf38, dann bedeutet dies letztlich eine Beschneidung der Vertragsfreiheit beider. In einem solchen Sachverhalt kann das Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen die Perspektive auf die grundrechtliche Wahrnehmung gegenläufiger Interessen verengen und damit letzten Endes zu einem Verlust von grundrechtlicher Freiheit beitragen39. Das Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen könnte eine Tendenz befördern, die eine Schwächung der Abwehrrechte mit sich bringt40. Dies erscheint gerade für das Gemeinschaftsrecht nicht unproblematisch. Denn hier werden, trotz einer erfreulichen Entwicklungstendenz41, nach wie vor Defizite im klassisch abwehrrechtlichen Schutz der Grundrechte ausgemacht42, deren Verringerung nicht zuletzt in die Erwartungen an einen schriftlichen Grundrechtskatalog wie den der Charta eingeflossen sind. Das Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen als jüngeres Petitum der deutschen Grundrechtsdogmatik, in der der abwehrrechtliche Schutz der Grundrechte als weit entwickelt angesehen werden kann, erscheint für die geforderte dogmatische Entwicklung des unionalen Grundrechtsschutzes als ein zweiter Schritt vor dem erforderlichen ersten. Vor diesem Hintergrund muss sich die Forderung nach einem „Denken in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen“ auch im Unionsrecht letztlich immer die Frage stellen, ob diese Perspektivenwahl den Erkenntnisgewinn in der Lösung von Fällen mit sich bringt, den sie sich auf die Fahnen geschrieben hat. 38
Vgl. BVerfGE 90, 27 (36 f.). Hinsichtlich der Unionsgrundrechte U. Di Fabio, GLJ 5 (2004), 945 (946 f.). 40 J. Isensee, § 111. Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1. Auflage 1992, Rdnr. 20, spricht in diesem Zusammenhang von der Gefahr einer „interpretatorischen Hypertrophie“. 41 So z. B. hinsichtlich der Frage der Kontrolldichte: C. D. Classen, Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, 1996, S. 180; M. Burgi, in: Rengeling / Middeke / Gellermann (Hrsg.), Handbuch des Rechtsschutzes in der Europäischen Union, 2. Auflage 2003, § 7 Rdnr. 107; R. Rausch, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und -würdigungen durch den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften, 1994, S. 266; O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S. 399 ff., jedenfalls für die Grundrechte mit stark personalem Bezug. 42 E. Pache, NVwZ 1999, 1033 (1039). Allgemein zu einer höheren Kontrolldichte: T. Stein, EWS 2001, 12; ders., „Gut gemeint…“ – Bemerkungen zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, in: FS Steinberger, 2003, S. 1425 (1431); H.-W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 442 mit Fn. 22; T. von Danwitz, EWS 2003, 393 (395). 39
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
Angesichts der beanspruchten gesteigerten Bedeutung mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse erscheint es vorliegend erforderlich, die sich hieraus ergebenden Fragen im Unionsrecht auf einer theoretischen Ebene im Hinblick auf Art. 52 Abs. 3 GRCh zu erörtern.
B. Konstellationen mehrpoliger Rechtsverhältnisse im Primärrecht B. Konstellationen mehrpoliger Rechtsverhältnisse im Primärrecht
Anknüpfungspunkte für mehrpolige Rechtsverhältnisse im Unionsrecht sind zum einen die Unionsgrundrechte und zum anderen die Grundfreiheiten, die den Einzelnen als Marktbürger ebenfalls individuell berechtigen43. Dies gilt vor allem deshalb, weil sich aus den Unionsgrundrechten Schutzpflichten ergeben können44. Darüber hinaus bestehen zum einen neben den Grundrechten die Grundfreiheiten, die dem Bürger als Marktbürger unterschiedliche individuelle Rechte vermitteln. Auch diese beinhalten neben Diskriminierungsverboten mit den Beschränkungsverboten Unterlassungsverpflichtungen, die strukturell der abwehrrechtlichen Funktion von Grundrechten ähneln45. Schließlich ist den Grundfreiheiten zum anderen selbst die Verpflichtung zum (positiven) Tätigwerden entnommen worden, so dass, den grundrechtlichen Schutzpflichten vergleichbar, die dogmatischen Voraussetzungen mehrpolige Rechtsverhältnisse möglich erscheinen lassen46. Mit Art. 15 Abs. 2 GRCh, der Nennung der Personenverkehrsfreiheiten als Bestandteil der Charta der Grundrechte, wird der Verdacht positiviert, im Unionsrecht erhöhten Grundfreiheiten neben den Unionsgrundrechten das Potential mehrpoliger Rechtsverhältnisse. Stellt ein ‚mehrpoliges Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnis‘ die unionsrechtliche Herausforderung schlechthin an den Hoheitsträger dar, der den Anforderungen beider gerecht werden muss?
43 Für die Warenverkehrsfreiheit: EuGH, Urteil vom 22. 3. 1977, Rs. 74/76, Iannelli, Slg. 1977, S. 557 (Rdnr. 13); für die Arbeitnehmerfreizügigkeit: EuGH, Urteil vom 15. 10. 1969, Rs. 15/69, Ugliola, Slg. 1969, S. 363 (Rdnr. 7); EuGH, Urteil vom 4. 12. 1974, Rs. 41/74, van Duyn, Slg. 1974, S. 1337 (Rdnr. 7); EuGH, Urteil vom 15. 12. 1995, Rs. C-415/93, Bosman, Slg. 1995, S. I–4921 (Rdnr. 93); für die Niederlassungsfreiheit: EuGH, Urteil vom 21. 6. 1971, Rs. 2/74, Reyners, Slg. 1974, S. 631 (Rdnr. 24 ff.); für die Dienstleistungsfreiheit: EuGH, Urteil vom 3. 12. 1974, Rs. 33/74, van Binsbergen, Slg. 1974, S. 1299 (Rdnr. 27); EuGH, Urteil vom 17. 12. 1981, Rs. 279/80, Webb, Slg. 1981, S. 3305 (Rdnr. 13). 44 P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 601 ff.; J. Kühling, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 583 (603 f.); H.-D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 5 Rdnr. 10 ff. 45 Insofern werden Grundfreiheiten und Gemeinschaftsgrundrechte auch von einigen Autoren gleichgesetzt, vgl. z. B. J. Cirkel, Bindungen der Mitgliedstaaten an die Gemeinschaftsgrundrechte, 2000, S. 25 Fn. 18; differenzierend: A. Schultz, Das Verhältnis von Gemeinschaftsgrundrechten und Grundfreiheiten des EGV, 2004, S. 106 ff. 46 Ausführliche Auswertung der Rechtsprechung bei P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 634 ff.
B. Konstellationen mehrpoliger Rechtsverhältnisse im Primärrecht
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Im europäischen Mehrebenensystem üben Union und Mitgliedstaaten Hoheitsgewalt aus. Sowohl Union als auch Mitgliedstaaten kommen als Verpflichtete sowohl der Unionsgrundrechte als auch der Grundfreiheiten grundsätzlich in Betracht.
I. Mehrpolige Unionsgrundrechtsverhältnisse Übt die Union supranationale Hoheitsgewalt aus, erlässt sie einen Rechtsakt des Sekundärrechts, ist sie an die Unionsgrundrechte gebunden. Die Lage ist vergleichbar mit dem Staatsgewalt ausübenden Staat, der an nationale Grundrechte, insbesondere eines geschriebenen Grundrechtskatalogs gebunden ist. Auch sollen bisher die ungeschriebenen Unionsgrundrechte gem. Art. 6 Abs. 2 in Verbindung mit 46 lit. d EU eine Schutzpflichtenfunktion enthalten47. Die Charta erwähnt Schutzpflichten nicht ausdrücklich. Es sind aber durchaus Ansätze vorhanden, die die Möglichkeit bestehender Schutzpflichten in der ein oder anderen Weise aufnehmen, so etwa in Art. 1, Art. 52 Abs. 1 Satz 2, Art. 51 Abs. 2 GRCh (vgl. insofern Art. 6 Abs. 1 UAbs. 2 EUV n. F.)48. Damit sind die dogmatischen Grundlegungen für mehrpolige Grundrechtsverhältnisse gegeben, soweit es um eine Grundrechtsbindung der Union geht. Mit Blick auf das im deutschen Verfassungsrecht diskutierte „mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnis“ ist insbesondere zu erörtern, wie sehr im Unionsrecht der Rechtsetzer im Verhältnis zum EuGH durch die Einbeziehung von Unionszielbestimmungen49 oder Querschnittsklauseln50 in der Gestaltungsfreiheit begrenzt wird. In der Tradition des Gemeinschaftsrechts, in der dem „Gemeinschaftsgesetzgeber“51 ein weiter Gestaltungsspielraum, gerade auch in grundrechtsrelevanten Fällen eingeräumt wurde52, stünde dies aber nicht. Die Mitgliedstaaten sind durch die Unionsgrundrechte selbst nicht gebunden [siehe oben Kapitel 5. C.III.1.a)], ihre Bindung bei der Durchführung des Rechts 47
P. Szczekalla, Die sogenannten grundrechtlichen Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 610 ff. 48 Insbesondere Art. 51 Abs. 2 GRCh wurde in die Grundrechtecharta aufgenommen, um einer weitreichenden Annahme von Schutzpflichten, die in mitgliedstaatliche Kompetenzen eingreifen könnten, vorzubeugen; vgl. R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 51 GRCh Rdnr. 14; J. Pietsch, ZRP 2003, 1 (3); H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 4 Rdnr. 5. 49 In Art. 3 EUV n. F. genannt. Erfasst sind sehr unterschiedliche Zielsetzungen wie z. B. Frieden, Wohlergehen der Bürger, ein ausgewogenes Wirtschaftswachstum und Preisstabilität. 50 Wie z. B. zur Gesundheitspolitik (Art. 168 AEUV). 51 Z. B. jüngst EuGH, Urteil vom 9. 11. 2006, Rs. C-216/05, Kommission der Europäischen Gemeinschaften gegen Irland, Slg. 2006, S. I–10787, Rdnr. 27. 52 O. Koch, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 2003, S. 544 ff. Zur diesbezüglich zurückgenommenen Prüfungsdichte des EuGH A. von Bogdandy, JZ 2001, 157 (163); W. Frenz, EuR 2002, 603 (611); J. Kokott, AöR 121 (1996), 599 ff.
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
der Union ist bereits in dem Vorrang des Primärrechts vor dem Sekundärrecht angelegt.
II. Mehrpolige Grundfreiheitsverhältnisse Die Grundfreiheiten, also nicht nur die Personenverkehrsfreiheiten, Art. 15 Abs. 2 GRCh, sondern insbesondere auch die Warenverkehrsfreiheit, berechtigen den Marktbürger im Verhältnis zum Hoheitsträger in einer den Grundrechten vergleichbaren Weise, insbesondere als Beschränkungsverbote. Im Hinblick auf den durch die jeweilige Grundfreiheit bezogenen Bereich wird hoheitliches Handeln einem Rechtfertigungszwang unterworfen. Entsprechend der Zielsetzung zur Öffnung der nationalen Märkte gelten die Grundfreiheiten zunächst für mitgliedstaatliche, ansonsten aber außerhalb des Unionsrechts stehende Akte. Dies verdeutlicht bereits der Wortlaut der Grundfreiheiten. Zumindest der Warenverkehrsfreiheit kommt auch eine Art Schutzpflichtendimension zu53. Insofern könnte von einer dogmatisch vergleichbaren Ausgangslage im Verhältnis zu den Grundrechten gesprochen werden. Allerdings decken die Grundfreiheiten nur bestimmte Bereiche des grenzüberschreitenden Wirtschaftslebens ab. Deshalb stellt sich bereits auf Normebene die Frage, ob den Grundfreiheiten das Potential innewohnt, dass sie miteinander in Kollision geraten können. Allerdings werden die Grundfreiheiten seit jeher extensiv ausgelegt. Auch die personelle Reichweite der Grundfreiheiten tendiert dazu, umfassend zu sein54. Eine sachlich-inhaltliche Ausdehnung des Beschränkungsverbots der Dienstleistungsfreiheit liegt etwa in der Anerkennung der passiven Dienstleistungsfreiheit, die durch eine touristische Auslandsreise ausgeübt wird55. Die Grundfreiheiten richten sich zwar in der Rechtsprechung des EuGH auch gegen die Union56. Setzt die Union Recht, das eine Grundfreiheit betrifft, ergibt sich in ähnlicher Weise wie auf nationaler Ebene die Konstellation eines mehrpoligen Rechtsverhältnisses, wenn zugleich Grundrechtspositionen anderer in Rede stehen. Die Grundfreiheiten sind aber in einem potentiell höheren Maß eher Beschränkungen durch die Mitgliedstaaten als durch die Union ausgesetzt. 53
Vgl. EuGH, Urteil vom 12. 6. 2003, Rs. C-112/03, Schmidberger, Slg. 2003, S. I–5659. Sie können zugunsten Dritter, etwa Familienangehöriger, wirken, deren Tätigkeit nicht in Rede steht, weil sie nicht der geforderten wirtschaftlichen Tätigkeit entspricht, die aber in einem gemeinschaftsrechtlich anerkannten Zusammenhang zu einem im Sinne der Grundfreiheiten wirtschaftlichem Akteur stehen, vgl. EuGH, Urteil vom 11. 07. 2002, Rs. 60/00, Carpenter, Slg. 2002, S. I–6279. 55 EuGH, Urteil vom 15. 3. 1994, Rs. C-45/93, Spanische Museen, Slg. 1994, S. I–911; EuGH, Urteil vom 2. 2. 1989, Rs. 186/87, Cowan, Slg. 1989, S. 195. 56 EuGH, Urteil vom 11. 5. 1989, Rs. 76/86, Kommission gegen Deutschland, Slg. 1989, S. 1021 (Rdnr. 22 f.); EuGH, Urteil vom 25. 6. 1997, Rs. C-114/96, Kieffer und Thill, Slg. 1997, S. I–3629 (Rdnr. 27). 54
B. Konstellationen mehrpoliger Rechtsverhältnisse im Primärrecht
243
Denn die Grundfreiheiten schützen grenzüberschreitendes Verhalten des Marktbürgers57, die Union setzt aber von vorneherein unionsweit geltendes Recht. Zwar können auch unionsweit geltende Rechtsakte der Union zur Segmentierung nationaler Märkte beitragen. Dies kann etwa bei einem unionalen absoluten Werbeverbot für Produkte, die maßgeblich durch ein Image, und damit aufgrund von Werbung58, bestehen, gelten. Vor allem aber droht eine Rechtsverletzung durch die Mitgliedstaaten. Die Union kann durch ihre Rechtsakte zwar das mit den Grundfreiheiten definierte marktbezogene Verhalten ebenfalls beeinträchtigen, sie wird dies aber in aller Regel nicht bezogen auf spezifisch grenzüberschreitende Sachverhalte tun. Hingegen kann bei einem Mitgliedstaat der grenzüberschreitende Bezug bereits dadurch hergestellt sein, dass er regelmäßig ein gesellschaftliches Problem in anderer Weise regelt als andere Mitgliedstaaten. Bereits dies kann unter Umständen eine Verletzung eines grundfreiheitlichen Beschränkungsverbots darstellen. Indem die Grundfreiheiten vor allem die Mitgliedstaaten ins Visier nehmen, unterscheiden sie sich maßgeblich von den Unionsgrundrechten, die als solche primär die mit Hoheitsbefugnissen ausgestattete Union verpflichten59. Aber selbst hinsichtlich der Mitgliedstaaten hat eine jahrzehntealte Entscheidungspraxis des EuGH zu den Grundfreiheiten, so weit ersichtlich, mehrpolige Grundfreiheitskonstellationen nicht zutage gefördert. Ein mehrpoliges Grundfreiheitsverhältnis vor allem hinsichtlich mitgliedstaatlicher Akte ist von den dogmatischen Voraussetzungen zwar nicht von vornherein ausgeschlossen, scheint praktisch aber unwahrscheinlich.
III. Mehrpolige Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnisse Gerade in der chartarechtlichen Literatur werden unter dem Schlagwort „mehrpoliges Grundrechtsverhältnis“ die Konstellationen wie die im Fall Schmidberger diskutiert, in denen es um die rechtliche Würdigung von Straßendemonstration zu Lasten grenzüberschreitenden Warentransporte am Maßstab der Grundfreiheiten geht, also eine Grundfreiheit im grundrechtlichen Interesse Dritter beschränkt wird60. Dies mag, obwohl es sich bei den Grundfreiheiten nicht um Grundrechte handelt, damit zusammenhängen, dass selbst die Charta der Grundrechte in Art. 15
57
R. Streinz, Europarecht, 7. Auflage 2005, Rdnr. 792. Dies gilt z. B. für Produkte der Tabakindustrie; hierzu EuGH, Urteil vom 5. 10. 2000, Rs. C-376/98, Tabakwerberichtlinie, Slg. 2000, S. I–8423. 59 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 5. C.III.1.a). 60 C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1138 f.); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 20. 58
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
Abs. 2 GRCh Grundfreiheiten, nämlich die Personenverkehrsfreiheiten, nennt61. Zunächst ist hier nach dem Verpflichteten zu differenzieren. Auch die Union ist an die Grundfreiheiten gebunden. Verbunden mit dem Umstand, dass sowohl Grundfreiheiten als auch Unionsgrundrechte eine Art Schutzpflichtendimension kennen, sind also vergleichbare dogmatische Grundlegungen vorhanden, wie sie im nationalen Verfassungsrecht für mehrpolige Grundrechtsverhältnisse gegeben sind. Wie gesehen dürften grundfreiheitsrelevante Sachverhalte durch Sekundärrechtsetzung der Union wegen des dort regelmäßig fehlenden charakteristischen grenzüberschreitenden Elements jedoch die praktische Ausnahme bilden. Dies lässt mit Blick auf die Union als Verpflichteten mehrpolige Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnisse als nicht sehr wahrscheinlich erscheinen. Anders ist dies bei der Möglichkeit von mehrpoligen Grundrechtsund Grundfreiheitsverhältnissen hinsichtlich mitgliedstaatlicher Akte; dort stehen Sachverhaltskonstellationen wie die des Schmidberger-Falles vor Augen. Wie gesehen [unter Kapitel 5. C.III.1.a)] sind hier die Mitgliedstaaten aber nicht in gleicher Weise an die Unionsgrundrechte gebunden, wie es die Union in Ausübung von Unionsgewalt ist62. Insbesondere ergibt sich im erörterten Fall eine Schutzpflicht zugunsten der Demonstranten nicht aus den Unionsgrundrechten. Vielmehr handelt es sich hier um ein von der Rechtsordnung der Union im Rahmen der Rechtfertigung der Einschränkung einer Grundfreiheit anerkannte Zielsetzung. Auch das grundrechtlich vom mitgliedstaatlichen Recht bestimmte zulässige Maß der Einschränkung der Grundfreiheit wird vom Unionsrecht (insbesondere vom unionsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit63) bestimmt. So könnte es sein, dass das mitgliedstaatliche Grundrecht in der Schutzpflichtendimension mehr fordert, als unionsrechtlich gerechtfertigt, auch wenn dies ‚grundrechtsfreundliche‘ Einschränkungen der Grundfreiheiten in einem höheren Maß zulässt, als zur Verfolgung anderer, nicht-grundrechtlicher Zielsetzungen. Aufgrund des Vorrangs des Unionsrechts setzt sich im Ergebnis die Abwägung durch, die das Unionsrecht ausgehend von der Einschränkung der Grundfreiheit vornimmt. Charakteristisch für derartige Konstellationen ist somit, dass die rechtlichen Anforderungen der Grundfreiheit resp. des Grundrechts „ebenenverschieden“ sind. Hiermit unterscheidet sich die Konstellation grundlegend von denen, die im nationalen Recht als mehrpolige Grundrechtsverhältnisse diskutiert werden und die mit den dogmatischen Grundsätzen der Grundrechtskollision letztlich im Sinne praktischer Konkordanz bewältigt werden. Ausgangspunkt der Überlegung ist 61 Art. 15 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 52 Abs. 2 GRCh ist nach hier [siehe oben unter Kapitel 4. A.IV] vorgeschlagener Auslegung ein Rechtsgrundverweis. 62 U. Di Fabio, Der Verfassungsstaat in der Weltgesellschaft, 2001, S. 75 f. 63 Dieser Grundsatz ist allgemein in Art. 5 Abs. 4 EUV n. F., für die Einschränkung von Grundrechten in Art. 52 Abs. 1 GRCh, normiert. Vgl. hierzu R. Streinz, in: ders. (Hrsg.), EUV / EGV, 2003, Art. 52 GRCh Rdnr. 1; Art. 5 EGV Rdnr. 47.
B. Konstellationen mehrpoliger Rechtsverhältnisse im Primärrecht
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dort aber, dass die Grundrechte, auch im Rahmen einer Einheit der Verfassung, weder widersprüchliche Rechtsbefehle enthalten, noch voreinander Vorrang beanspruchen64. Aufgrund der Ebenenverschiedenheit der grundfreiheitlichen und grundrechtlichen Anforderungen kommt es nicht zu einer der Grundrechtskollision vergleichbaren Spannungslage. Die Vergleichbarkeit mit dem, was im nationalen Verfassungsrecht als mehrpoliges Grundrechtsverhältnis diskutiert wird, ist nicht gegeben. Die Figur des mehrpoligen Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnisses ist somit mit Blick auf mitgliedstaatliche Hoheitsakte abzulehnen.
IV. Fazit Entgegen einem sich insbesondere aus Art. 15 Abs. 2 GRCh ergebenden Verdacht, das Unionsrecht fordere den unionsrechtlich gebundenen Hoheitsträger in besonderer Weise in mehrpoligen Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnissen, dürfte gerade eine solche Konstellation die praktische Ausnahme bleiben. Auch ein mehrpoliges bloßes Grundfreiheitsverhältnis erscheint sowohl hinsichtlich der Bindung der Mitgliedstaaten als auch der Union als die praktische Ausnahme. Mehrpolige Rechtsverhältnisse rücken damit im Unionsrecht nach dem Vertrag von Lissabon in erster Linie als mehrpolige Grundrechtsverhältnisse, deren Verpflichtete die Union ist, in das Blickfeld65. Wenn die Charta, insbesondere das Nebeneinander von Kohärenz- und Günstigkeitsklauseln, durch mehrpolige Rechtsverhältnisse herausgefordert werden wird, dann gilt den mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen mit Blick auf die grundrechtsverpflichtete Union das Augenmerk66. Diese Ausgangslage ist vergleichbar mit der Bindung des Staates in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen des nationalen Verfassungsrechts.
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Siehe hierzu oben unter Kapitel 6. A. I. M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 319; C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (93). 66 Demgegenüber wird in der Literatur teilweise pauschal angenommen, dass transferierte Konventionsrechte und Grundfreiheiten in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis miteinander kollidieren, so etwa M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 20. 65
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
C. Kohärenz im mehrpoligen Charta-Grundrechtsverhältnis C. Kohärenz im mehrpoligen Charta-Grundrechtsverhältnis
I. Herausgeforderte Kohärenz durch primärrechtliches Nebeneinander von transferierten Konventionsrechten und genuinen Chartarechten Begegnet nach dem Recht der Charta der Unionsrechtsetzer in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis gegenläufigen in Einklang zu bringenden grundrechtlichen Interessen, so ist er in diesem konkreten Fall gehalten, die geschützten Interessen im Sinne praktischer Konkordanz in Ausgleich zu bringen. Hierbei kann sich insbesondere angesichts der Fülle potentiell anwendbarer transferierter Konventionsrechte ergeben, dass ein durch die EMRK geschütztes grundrechtliches Interesse einem solchen gegenüber steht, welches durch ein genuin chartarechtliches Grundrecht geschützt ist. Beispielsweise muss zur Erfüllung einer grundrechtlichen Schutzpflicht zugunsten eines Bürgers, wie sich dies etwa aus dem gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh transferierten und anzuwendenden Art. 2 EMRK67 ergeben könnte, die Union in die Berufsfreiheit des Art. 15 Abs. 1 GRCh oder die Freiheit der Wissenschaft des Art. 13 Satz 1 und 2 GRCh zu Ungunsten eines anderen Bürgers eingreifen. Umgekehrt erscheint es denkbar, dass sich aus Art. 3 Abs. 1 und 2 GRCh – etwa für den Bereich biomedizinischer Sekundärrechtsetzung68 – eine Schutzpflicht ergibt, zur Erfüllung derer die Union in das transferierte Konventionsrecht des Eigentums, Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh in Verbindung mit Art. 1 ZP [Nr. 1] eingreift. Bedenkt man, dass auch ein genuines Chartarecht, das keine Entsprechung in der EMRK hat, vom Hoheitsträger ein Verhalten fordern kann, welches zwar nach der EMRK für sich (etwa in einer zweipoligen Konstellation) zulässig wäre, hiernach aber nicht gefordert ist (weil es jenes Recht dort nicht gibt), zeigt sich, dass bloß durch das Nebeneinander von transferierten Konventionsrechten und genuinen Chartarechten in einer mehrpoligen Konstellation im Unionsrecht ein anderes Ergebnis der grundrechtlichen Bewertung eines Unionsaktes möglich ist als im Völkervertragsrecht am ausschließlichen Maßstab der EMRK69.
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Zur Rechtsprechung des EGMR hinsichtlich einer Schutzpflicht gegenüber dem menschlichen Leben vgl. nur EGMR, Urteil vom 4. 5. 2001, Jordan, Nr. 24746/94, Rdnr. 104; EGMR, Urteil vom 17. 1. 2002, Calvelli und Ciglio, RJD 2002-I, Rdnr. 51. 68 Z. B. Richtlinie 98/44 / EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, ABl.EG L 213 vom 30. 7. 1998, S. 13. 69 So im Ergebnis auch M. Bühler, Einschränkung von Grundrechten nach der Europäischen Grundrechtecharta, 2005, S. 319.
C. Kohärenz im mehrpoligen Charta-Grundrechtsverhältnis
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II. Teleologische Bedenken In der geschilderten Situation würde Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht verhindern können, dass derjenige, der sich auf ein transferiertes Konventionsrecht gegenüber der Union beruft, in einer mehrpoligen Konstellation schlechter gestellt ist, als er völkerrechtlich nach der EMRK stünde. Sinn und Zweck der Norm ist es aber, umfassende Kohärenz mit dem Recht der EMRK herzustellen, auch um einen Völkerrechtsverstoß zu vermeiden. Gerade letzteres wäre in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen nicht garantiert. Im Blickwinkel mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse ergeben sich teleologische Bedenken70.
III. Konkretisierung der Grundrechte und Kohärenz Für mehrpolige Grundrechtsverhältnisse ergibt sich folgendes Bild: Auf der abstrakten Ebene besteht ein Nebeneinander transferierter Konventionsrechte und genuiner Chartarechte. Die enumerativ transferierten Konventionsrechte stellen – jedes für sich – eine exakte Abbildung der einschlägigen völkerrechtlichen Rechtssätze dar. In einer mehrpoligen Konstellation kann die sich aus dem einen oder dem anderen Recht ergebende Position stärker weichen müssen, als dies völkerrechtlich allein am Maßstab der EMRK der Fall wäre. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass der Ausgleich mit den Rechten anderer erst im Wege der Konkretisierung herbeigeführt wird und nicht etwa bereits auf der abstrakten Rechtssatzebene stattfindet71. Der Transfer von Konventionsrechten bezieht sich aber auf die Rechtssätze, die nach dem jeweiligen, „entsprechenden“ Konventionsrecht Grundrechtsschutz vermitteln. Zum anderen werden die Konventionsrechte transferiert in einen anderen Regelungszusammenhang gestellt. Bereits die Tatsache, dass enumerativ nicht sämtliche Konventionsrechte transferiert werden, führt dazu, dass diese mit den genuinen Chartarechten einer anderen Rechtsposition gegenüberstehen können, als in der völkerrechtlichen Grundrechtsordnung der EMRK. Darüber hinaus hält die Charta eigene genuine Chartarechte bereit, neben die die transferierten Konventionsrechte gestellt werden. Insbesondere können diese genuinen Chartarechte auch Schutzpflichten beinhalten. Diese können dann im mehrpoligen Verhältnis Anforderungen beinhalten, die mit denen der transferiert-konventionsrechtlichen Rechte in Ausgleich zu bringen sind, die aber keine Entsprechungen auf Ebene der EMRK haben. Auch die umgekehrte Konstellation ist möglich72. 70 Für den umgekehrten Fall hingegen stellt Art. 53 EMRK bereits auf völkerrechtlicher Ebene klar, dass ein „Mehr“ an grundrechtlichem Schutz keinen Verstoß gegen die EMRK bedeutet. Siehe hierzu oben unter Kapitel 5. B. 71 F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 28. 72 Für Herstellung praktischer Konkordanz bei kollidierenden Grundrechten der Charta auch T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
IV. Mögliche Implikationen 1. Absoluter Vorrang von transferierten Konventionsrechten Zur Verwirklichung eines höheren Maßes an Kohärenz73 – um das Recht der Charta den völkerrechtlichen Anforderungen der EMRK weiter anzunähern – erscheint es aber jedenfalls nicht Ziel führend, die gefundene Auslegung dahingehend zu modifizieren, dass den transferierten Konventionsrechten in der Abwägung in jedem Fall, also absoluter Vorrang vor einem gegenüberstehenden genuinen Chartarecht eingeräumt wird74. Denn eine einzelfallunabhängige Betrachtung müsste insbesondere die Intensität der jeweiligen konkreten Einschränkung unbeachtet lassen. Es wäre aber ein schlechterdings untragbares Ergebnis, wenn etwa in einer mehrpoligen Konstellation der sich auf ein transferiertes Konventionsrecht Berufende nur deshalb überhaupt keine Einschränkung hinnehmen müsste und der Berechtigte des gegenläufigen Interesses schutzlos gestellt wäre, nur weil dessen Interesse durch ein genuin chartarechtliches Grundrecht geschützt ist.
2. Determinierung des Abwägungsvorgangs Dass der Bürger, der sich im Unionsrecht auf ein transferiertes Konventionsrecht beruft, unter Umständen schlechter stehen kann, als völkerrechtlich nach der EMRK, ergäbe sich in der jeweiligen Konkretisierung, in dem hierbei erforderlichen Interessenausgleich. Damit ist zu fragen, ob nicht die Konkretisierung selbst dahingehend determiniert ist, dass die Rechtsposition dieses Bürgers im Ergebnis seiner völkerrechtlichen Stellung nach der EMRK angenähert wird. Dies erscheint möglich, wenn das grundrechtliche Interesse, das auf einem transferierten Konventionsrecht beruht, stärker als das eines genuinen Chartarechts zu berücksichtigen wäre. Es geht damit um die Frage, ob im Rahmen der hier durchzuführenden Abwägung der Belange im Einzelfall denjenigen ein höheres Gewicht beizumessen ist, die eine Position des transferierten Konventionsrechts darstellen. Als dogmatischer Rahmen hierfür wäre an eine Modifikation des Über- und – soweit im Unionsrecht anzuerkennen:75 – des Untermaßverbots zu denken. Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 20; wohl auch A. von Bogdandy, JZ 2001, 157 (165); M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 20. 73 Vgl. zu diesem und den folgenden Abschnitten E. Klein, Preferred Freedoms-Doktrin und deutsches Verfassungsrecht, in: FS Benda, S. 135 (insbesondere 139 ff.). 74 Missverständlich: C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und GrundrechteCharta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1142 ff.). Nach R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152 (156), soll sich aus Art. 52 Abs. 3 GRCh (nicht aber aus Art. 53 GRCh), dem Kohärenzgedanken folgend, ergeben, dass sich bei einer echten Kollision die Konventionsverbürgung durchsetzt. 75 Hierzu P. Szczekalla, Die sogenannten Schutzpflichten im deutschen und europäischen Recht, 2002, S. 111 ff.
C. Kohärenz im mehrpoligen Charta-Grundrechtsverhältnis
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Dass die in der Rechtsanwendung geforderte Güterabwägung gehalten ist, den transferierten Konventionsrechten ein höheres Gewicht beizumessen, kann sich wiederum nur aus dem Recht der Charta selbst ergeben. Zu fragen ist, ob es eine gesonderte Norm gibt, die bestimmt, dass in mehrpoligen Konstellationen dem konventionsrechtlich gestützten Interesse ein höheres Gewicht beizumessen ist76. Handelt es sich bei den Konventionsrechten um eine höherwertigere Grundrechte77?
3. Höhere Gewichtung konventionsrechtlich geschützter Interessen Eine höhere Gewichtung des auf einem transferierten Konventionsrecht beruhenden Interesses im Rahmen der geforderten Güterabwägung muss in den Blick nehmen, um welche Rechte es sich handelt. In der Literatur ist eine gewisse, auch allgemeine Tendenz zu beobachten, dem Recht der EMRK innerhalb des Unionsrechts den Vorzug zu geben78. Dies gilt es zu hinterfragen. Welche Rechte aus dem Recht der EMRK in das Unionsrecht transferiert sind, bestimmt sich, wie gesehen, enumerativ aus der Rechtsanwendung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh weit gehend mit dem Ergebnis, wie es in den Auflistungen der Erläuterung zu Art. 52 GRCh konstatiert wird. Für die hier zu erörternde Frage, ob den transferierten Konventionsrechten im Rahmen der Abwägung ein höheres Gewicht beizumessen ist, kann es aber nicht auf dieses Ergebnis der Anwendung des Abs. 3 Satz 1, die Enumeration ankommen, das sich ändert, wenn sich das Recht der EMRK ändert79. In diesem Blickwinkel kann es auch nicht von ausschlaggebender Bedeutung sein, dass tatsächlich nicht nur einige wenige Konventionsrechte, sondern weite Teile des Grundrechtsteils der EMRK transferiert werden. Eine präferierende Behandlung der transferierten Konventionsrechte kann nicht konkret darauf abstellen, dass etwa die konventionsrechtliche Meinungsfreiheit und das konventionsrechtliche Eigentumsrecht transferiert sind. Vielmehr ist auf den Rechtssatz selbst abzustellen, also auf Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, und somit darauf, unter welchen abstrakt-generellen Gesichtspunkten dieser Konventionsrechte transferiert. Es kommt darauf an, ob diese Gesichtspunkte ein höheres Ge76 So nach R. Uerpmann-Wittzack, DÖV 2005, 152, Art. 52 Abs. 3 GRCh im Verhältnis von genuinen Chartarechten zu transferierten Konventionsrechten gem. Abs. 3 (ebenda, 156) und Art. 53 GRCh im Verhältnis zu sonstigen Konventionsrechten nach einem Beitritt (ebenda, 157). 77 Vgl. zur sogenannten „preferred freedoms-Doktrin“ E. Klein, Grundrechte, soziale Ordnung und Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS Benda, S. 135; F. Ossenbühl, § 15. Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: HGR I, 2004, Rdnr. 28. 78 C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 4 Rdnr. 16; J.-P. Jacqué, RUDH 2000, 3 (4). Kritisch hierzu aber W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 494. 79 Siehe zu dem insofern dynamischen Charakter oben unter Kapitel 4. B.
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
wicht der kraft dieser Norm transferierten Konventionsrechte im Rahmen der Abwägung sachlich rechtfertigen. Insofern ist der Bestand der Rechte, einerseits der Charta und andererseits der EMRK, entscheidend sowie, dass jeweils diesbezügliche Entsprechungen vorliegen müssen. Rechte der EMRK werden transferiert, soweit die Charta entsprechende Rechte enthält. Wenn die Charta aber ein entsprechendes Recht nicht bereithält, wird ein Recht der EMRK nicht transferiert, und sei es noch so bedeutsam. Auch der Umstand, dass die EMRK gegenwärtig weit weniger wirtschaftsbezogen ist als die Charta der Grundrechte, begründet damit keine Wertung, die für den Transfer gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh maßgeblich ist. Dass neben der konventionsrechtlichen Eigentumsgarantie kaum wirtschaftsbezogene Grundrechte transferiert sind, ist nicht etwa Ausdruck der in Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh steckenden Wertung. Außerhalb des Unionsrechts ist dies schlicht auf den Umstand zurückzuführen, dass sich die Konventionsstaaten bislang noch nicht politisch darauf verständigen konnten, durch völkerrechtlichen Vertragsschluss solche Grundrechte – wie etwa die Berufsfreiheit – durch ein Protokoll in den Katalog der konventionsrechtlichen Menschenrechte aufzunehmen80. Zwar ließe sich argumentieren, die Rechtsetzer des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh hatten eine bestimmte Gestalt der EMRK vor Augen, auf die sich die Norm auch in ihren Wertungen bezieht. Dem wäre aber jedenfalls entgegen zu halten, dass die Norm gerade nicht an einen starren Rechtszustand anknüpft, die Norm insofern als dynamisch zu charakterisieren ist und ihr auf Kohärenz ausgerichteter Sinn und Zweck als solcher die inhaltliche Entwicklung der EMRK umfasst81. Der (bloß) enumerative Transfer gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ist Ausdruck der hierdurch bezweckten Kohärenz. Wenn transferierte Konventionsrechte bei der Abwägung prävalieren sollen, dann kann sich dies allenfalls aus dem Gedanken dieser Kohärenz ergeben. Wird dem transferierten Konventionsrecht in der Güterabwägung nicht ein höheres Gewicht beigemessen, scheint dies im Vergleich zur völkerrechtlichen Lage als Relativierung der konventionsrechtlichen Rechtsposition und damit – anders als von Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh vorgesehen – als Schmälerung von Kohärenz. Wie die Ausführungen aber zeigen, ist der Mangel absoluter Ergebnisgleichheit die Folge einer Systementscheidung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Dass Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh keine ‚perfekte Kohärenz‘ in der Rechtsanwendung im Sinne von Ergebnisgleichheit bezweckt, zeigt sich auch an anderer Stelle. Im Sinne umfassender Kohärenz ist auch in der Auslegung des transferierten Konventionsrechts der konventionsrechtlichen Auslegung des EGMR zu folgen82. Doch verpflichten diese transferierten Konventionsrechte den suprana80 Vgl. zu dem recht kargen Bestand wirtschaftlicher Grundrechte in der EMRK C. Grabenwarter, Europäische Menschenrechtskonvention, 2. Auflage 2005, § 25 Rdnr. 1 ff., Rdnr. 25. 81 Hierzu oben unter Kapitel 4. B. 82 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 4. A.I.6.b).
C. Kohärenz im mehrpoligen Charta-Grundrechtsverhältnis
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tionalen Hoheitsträger; sie stehen in einem unionsrechtlichen Zusammenhang. Als Unionsrecht macht das transferierte Konventionsrecht insofern eine „unionsangemessene“ Auslegung erforderlich, die sogar andere Anforderungen stellen und zu einem anderen Ergebnis führen kann, als sich dies bei einer rein völkerrechtlichen Auslegung ergäbe. Auch andere Normen als Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh stellen keine ‚Kollisionsregel‘ bereit83, nach der den transferierten Konventionsrechten im Rahmen der Güterabwägung in einer mehrpoligen Konstellation ein höheres Gewicht beizumessen wäre. Insbesondere ergibt sich dies nicht aus Art. 53 GRCh84. Damit aber genießt das Recht der EMRK im Unionsrecht selbst, als transferiertes Recht nicht „uneingeschränkte Wahrung“85. In analoger Begründung ist im Übrigen auch der Vorschlag zu verwerfen, Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh enthalte, umgekehrt, die Regelung, in mehrpoligen Konstellationen sei bestimmten genuinen Chartarechten Vorrang einzuräumen oder ein höheres Gewicht beizumessen86.
V. Ergebnis Damit bleibt festzuhalten, dass bei der Konkretisierung der Grundrechte in mehrpoligen Konstellationen die Interessenabwägung allein durch die sachgerechte Bewältigung des konkreten Falles bestimmt ist. Im Rahmen dessen hat in unterschiedlichem Maß die transferiert-konventionsrechtliche oder die genuin chartarechtliche Position zurückzutreten, ohne dass dem einen oder anderen von vornherein ein höheres Gewicht beizumessen wäre87. 83
U. Everling, EuZW 2003, 225. C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1143); ders. / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (93); T. von Danwitz, in: Tettinger / Stern (Hrsg.), Kölner Gemeinschaftskommentar zur Europäischen Grundrechte-Charta, 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 12; S. Griller, Der Anwendungsbereich der Grundrechtecharta und das Verhältnis zu sonstigen Gemeinschaftsrechten, Rechten aus der EMRK und zu verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten, in: ders. / Duschanek (Hrsg.), Grundrechte für Europa, 2002, S. 131 (177); H.-P. Folz, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. II-112 VerfV Rdnr. 9. A. A. wohl M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 53 GRCh Rdnr. 20. 85 So aber C. Grabenwarter, Die Menschenrechtskonvention und Grundrechte-Charta in der europäischen Verfassungsentwicklung, in: FS Steinberger, S. 1129 (1144). 86 Zumindest missverständlich M. Borowsky, in: Meyer (Hrsg.), Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2. Auflage 2006, Art. 52 GRCh Rdnr. 41. 87 Kritisch hierzu, allerdings mit der Konsequenz, dass das künftige Primärrecht gar keine Regelungen zur Auflösung von Grundrechtskollisionen in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen vorsieht, C. Grabenwarter / K. Pabel, Grundrechtsschutz in der Rechtsprechung des EuGH 84
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
Muss der Träger der transferiert-konventionsrechtlichen Position im Vergleich zur völkerrechtlichen Ebene Einbußen hinnehmen, steht dies nicht im Widerspruch zu Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh. Denn die Norm überträgt nicht eine bestimmte Rechtsposition, wie sie sich aus der völkerrechtlichen Konkretisierung ergibt. Vielmehr bezieht sich der enumerative Transfer auf die abstrakten Rechtssätze, die im Recht der EMRK den Grundrechtsschutz des entsprechenden Grundrechts bestimmen88. Diese werden in das Recht der Charta gestellt. Die Konkretisierung desselben erfolgt aber ggf. im Zusammenspiel mit anderen transferierten oder genuin chartarechtlichen Chartarechten innerhalb der Unionsrechtsordnung. Ein Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz kann hier ebenso wie auf der völkerrechtlichen Ebene erforderlich sein. Allerdings bestehen in der Charta Rechte, die die EMRK nicht kennt, und nicht alle Rechte der EMRK werden transferiert, so dass es in der Rechtsanwendung im äußersten Fall durchaus zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen kann89.
D. „Weiter gehender Schutz“ gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis D. „Weiter gehender Schutz“ gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
Bezieht man in die Perspektive mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse die Norm des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh mit ein, erscheint auch diese für die bezweckte Kohärenz zur EMRK problematisch. Gemäß Satz 2 ist ein genuines Chartarecht als Anwendungsfall des „weiter gehenden Schutzes“ statt des transferierten Konventionsrechts dann anzuwenden, wenn hierdurch der Bürger günstiger steht, als nach dem entsprechenden transferierten Konventionsrecht. Dies ist im mehrpoligen Verhältnis problematisch, wenn sich zwei Bürger auf ein transferiertes Konventionsrecht berufen können. Hier würde eine Schutzweitung gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh zugunsten des einen zwangsläufig zu einer Schutzminderung zu Lasten des anderen führen. Etwas anderes würde allenfalls dann gelten, wenn sich der andere ebenfalls auf ein weiter gehend schützendes genuines Chartarecht berufen kann. Damit ergäbe sich zwar ein vergleichbares Bild, wie in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis in isolierter Anwendung des Satzes 1: es stünden sich ein genuines Chartarecht und eine transferiertes Konventionsrecht gegenüber. Im Rahmen der bei Konkretisierung beider Rechte erforderlichen Abwägung wäre es möglich, dass das transferiert-konventionsrechtliche Interesse zugunsten der anderen stärker zurücktreten muss, dass also der sich auf das transferiert-konven-
und des EGMR, in: Stern / Tettinger (Hrsg.), Die Europäische Grundrechte-Charta im wertenden Verfassungsvergleich, 2005, S. 81 (93). Ähnlich A. Weber, DVBl. 2003, 220 (224), der davon ausgeht, dass die Probleme nur im Wege der Kooperation und gegenseitigen Rücksichtnahme zu lösen seien. 88 Vgl. hierzu oben unter Kapitel 4. A.III.2.a). 89 Eine Relativierung der Kohärenz in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen sieht i. E. auch H. D. Jarass, EU-Grundrechte, 2005, § 6 Rdnr. 34 m. w. N. in Fn. 81.
D. „Weiter gehender Schutz“ gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
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tionsrechtliche Interesse Berufende schlechter steht, als er ohne Satz 2 gestellt wäre und völkerrechtlich gestellt ist. Der Unterschied besteht aber in dem jeweiligen Grund für die Anwendung des genuinen Chartarechts. Dieser liegt im ersten Fall darin, dass es (überhaupt) kein entsprechendes Konventionsrecht gibt, und im zweiten Fall darin, dass ein entsprechendes genuines Chartarecht einen weiter gehenden Schutz gewährleistet und somit die Voraussetzung des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh erfüllt ist, weswegen das korrespondierende Konventionsrecht in der Anwendung verdrängt wird. Ein gewisses Maß an Divergenz in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen ist zwar bereits in der Systementscheidung eines eigenständigen Grundrechtskatalogs in Verbindung mit dem enumerativen Transfer des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh angelegt90. Indes sollen durch die nach Satz 1 bezweckte Kohärenz letztlich auch völkerrechtliche Konventionsverstöße vermieden werden. Dies zeigt sich auch daran, dass Satz 2 von der ausschließlichen Anwendung des Konventionsrechts nach Satz 1 zwar im Sinne eines Günstigkeitsprinzips abweicht, dies aber in zweipoligen Grundrechtsverhältnissen – auch, wegen Art. 53 EMRK, völkerrechtlich91 – weit gehend unproblematisch ist. Hinsichtlich mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse ist daher zu erörtern, ob Satz 2 so zu verstehen ist, dass im Verhältnis zu der gem. Satz 1 geschaffenen Lage nicht noch mehr Abweichungen vom Völkerrecht ermöglicht werden, als dies in mehrpoligen Konstellationen nach Satz 1 ohnehin der Fall ist92.
I. Konventionsverstoßvermeidende Auslegung des Satzes 2 Finden in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zugunsten verschiedener Beteiligter sowohl transferierte Konventionsrechte als auch genuine Chartarechte Anwendung, resultiert die Abweichung der grundrechtlichen Bewertung dieses Einzelfalls von der EMRK aus dem geforderten Ausgleich der Rechtspositionen. Ist erst einmal ein genuines Chartarecht in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis anzuwenden, lässt sich die Abweichung vom Völkerrecht nicht ausschließen. Insofern gilt für die Anwendung von genuinen Chartarechten nach Satz 2 nichts anderes als nach Satz 1. Die Anwendung des „entsprechenden“ genuinen Chartarechts über Satz 2 im Gegenüber zu einer (anderen) transferiert konventionsrechtlichen Position beinhaltet, dass die (im Vergleich zur völkerrechtlichen EMRK) ‚Einbuße‘ des sich 90
Siehe den vorigen Abschnitt. Vgl. J. F. Lindner, EuR 2007, 160 (167). 92 Zu der Frage, wie Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen anzuwenden ist, äußern sich viele Vertreter in der Literatur gar nicht, da sie diesem Satz von vornherein eine neben Satz 1 eigenständige Bedeutung absprechen, vgl. oben unter Kapitel 1. A. II. 91
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
nach wie vor auf eine transferiert-konventionsrechtliche Position Berufenden dadurch vermeidbar ist, dass Satz 2 nicht angewendet würde. Eine in diesem Sinne konventionsverstoßvermeidende, den Anwendungsbereich des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh reduzierende Auslegung kann an dem Merkmal „weiter gehender Schutz“ anknüpfen93. Fraglich ist, ob „weiter gehender Schutz“ begrifflich auch dann vorliegt, wenn die Anwendung der diesen Schutz ausmachenden Norm in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis eine (im Vergleich zum Völkerrecht) Schutzeinbuße zu Lasten eines anderen, der sich auf eine transferiert-konventionsrechtliche Position beruft, bedeutet.
II. „Weiter gehender Schutz durch Recht der Union“ im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis 1. Isolierte Betrachtung des jeweiligen Individualinteresses Nach hier vertretenem Ansatz bedeutet „Schutz“ im Sinne von Satz 2 nicht bloß den Schutzbereich, sondern, umfassender, den Gewährleistungsumfang eines Grundrechts in einem konkreten Einzelfall. Insofern kann es aber nicht auf die Perspektivenwahl oder auf die Person des Antragstellers ankommen. Vor allem berücksichtigt ein grundrechtlicher Anspruch im Sinne praktischer Konkordanz bereits von vornherein gegenläufige Interessen anderer94, so dass sich eine Aussage zu dem Gewährleistungsumfang eines Grundrechts nicht treffen lässt, ohne zugleich auch andere im Fall einschlägige Grundrechte zu berücksichtigen95. Der gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh erforderliche Vergleich der hypothetischen Anwendung eines in Rede stehenden genuinen Chartarechts mit der sich aus Satz 1 ergebenden Rechtslage und der Frage, ob erstere einen umfassenderen Gewährleistungsumfang ergibt, muss hiernach alle Beteiligten einbeziehen. Damit ist zu fragen, inwiefern „weiter gehender Schutz“ in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis alle in Rede stehenden Positionen einbezieht.
93 In der Literatur wird daher erwogen, dass Satz 2 von vornherein nur in zweipoligen Grundrechtsverhältnissen anwendbar ist; vgl. J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 124 f. 94 Siehe hierzu oben unter Kapitel 6. A. I. 95 So im Ergebnis auch W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 469.
D. „Weiter gehender Schutz“ gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh
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2. Gesamtbetrachtung der in Ausgleich zu bringenden Positionen Dies ist zunächst dahingehend denkbar, dass in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen das Merkmal „weiter gehender Schutz“ eine Gesamtbetrachtung fordert. Die isolierte Schutzsenkung zu Ungunsten eines sich auf eine transferiertkonventionsrechtliche Position berufenden Bürgers wäre denkbar, wenn zugleich die isolierte Schutzweitung zugunsten eines anderen sich ebenfalls auf eine derartige Position berufenden Bürgers derart gestärkt wird, das sie diese aufwiegt. Dann wäre insgesamt bei wertender Betrachtung „weiter gehender Schutz“ zu bejahen. Gegen eine solche Lesart spricht aber, dass die einzelnen Positionen in der Abwägung im Grunde nicht addierbar sind. Denn individuelle Freiheit ist im Einzelfall nicht quantifizierbar, sie ist kein messbarer Gegenstand. Ob insgesamt weiter gehender Schutz, und damit letztlich ein Mehr an Freiheit für alle Beteiligten vorliegt, ließe sich allenfalls im Wege der wertungsmäßigen Betrachtung ermitteln. Dies aber erscheint im Grunde nur durch eine (weitere) Abwägung vorgenommen werden zu können. So müsste abgewogen werden zwischen den Vor- und Nachteilen sowohl für den einen als auch für den anderen Beteiligten einer hypothetischen Anwendung des genuinen Chartarechts in einem mehrpoligen Verhältnis gegenüber der Anwendung gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, also des transferierten Konventionsrechts. Die Vorteile einer Anwendung genuinen Chartarechts zugunsten eines Bürgers müssten die hieraus resultierenden Nachteile zu Ungunsten eines anderen überwiegen. In einer Gesamtbetrachtung wäre Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh damit aber nur als hyperkomplex zu verstehen96. Ein solches Verständnis der Norm wäre in der Praxis der Rechtsanwendung nicht handhabbar97. Zudem ist zu bezweifeln, ob der enorme Verlust an Rechtsklarheit überhaupt die materiell gewonnene Schutzweitung aufwiegen kann98. Darüber hinaus könnte ein Abstellen auf eine Gesamtbetrachtung zwar theoretisch wertungsmäßig das Merkmal „weiter gehender Schutz“ ausfüllen. Weil aber letztlich die Anwendung eines genuinen Chartarechts gem. Satz 2 bei einer Gesamtbetrachtung zu einer Schwächung der Position eines Beteiligten führen kann – die im Rahmen der Gesamtbetrachtung zwar aufgewogen würde –, könnte auch ein – zu vermeidender – Konventionsverstoß in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen nicht ausgeschlossen werden. 96 Individuelle Freiheit ist eben nicht beliebig steigerbar; H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1, 2. Auflage 2004, Vorb. Rdnr. 50. 97 A. von Bogdandy, JZ 2001, 157 (164), zweifelt bereits die Handhabbarkeit der Bestimmung des höchsten Schutzniveaus in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen an, bei deren Bewältigung lediglich eine Rechtsordnung zu berücksichtigen ist. 98 So auch die Kritik von H. Dreier, in: ders. (Hrsg.), Grundgesetz, Bd. 1. 2. Auflage 2004, Vorb. Rdnr. 52.
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Kap. 6: Transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte
Folglich ist eine Gesamtbetrachtung für das Merkmal „weiter gehender Schutz“ durch Unionsrecht gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh abzulehnen.
3. Maximalstandard Damit ist zu erörtern, ob „weiter gehender Schutz“ im Sinne des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh bedeutet, dass im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis die Anwendung eines genuinen Chartarechts für keinen der Beteiligten zu einer Verringerung seines jeweiligen Gewährleistungsumfangs führen darf. „Weiter gehender Schutz“ könnte erst dann vorliegen, wenn das Schutzniveau aller beteiligten Konventionsrechtspositionen mindestens erhalten bleibt. Die in Satz 1 verwirklichte Zielsetzung der Kohärenz durchbricht Satz 2 im Sinne einer Mehrbegünstigung. In einem zweipoligen Grundrechtsverhältnis erhöht sich hierdurch jedoch nicht die Möglichkeit eines Völkerrechtsverstoßes; Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh erscheint vielmehr als Korrelat zu Art. 53 EMRK99: Wenn und soweit der Konventionsverstoß auch ohne Satz 1 vermieden wird, gilt „weiter gehender Schutz“ durch Recht der Union gem. Satz 2. Denn die Mehrbegünstigung nach Satz 2 ist ihrem Sinn und Zweck nach nur insoweit anwendbar, als die eigentliche Zielsetzung der Kohärenznorm des Satzes 1 – die Vermeidung des Konventionsverstoßes – ohnehin erfüllt ist. Diese Erwägungen müssen aber auch im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis gelten. Hierauf übertragen bedeutet „weiter gehender Schutz“ durch Unionsrecht im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis, dass kein Beteiligter durch die Anwendung dieses Rechts schlechter gestellt wird, als er konventionsrechtlich stünde. Mit anderen Worten: würde die Anwendung von genuinem Chartarecht in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis zu einer Reduzierung des Gewährleistungsumfangs für einen Beteiligten führen, bliebe es bei der Anwendung transferierten Konventionsrechts (ggf. neben genuiner Chartarechte) gem. Satz 1. „Weiter gehender Schutz“ durch Recht der Union gem. Satz 2 beinhaltet somit für keinen der Beteiligten eine Einbuße des Gewährleistungsumfangs im Vergleich zur Nicht-Anwendung des entsprechenden genuinen Chartarechts im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis. Folglich ist bei mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen im Rahmen des Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh auf einen Maximalstandard abzustellen. Letztlich wird dies bedeuten, dass im mehrpoligen Grundrechtsverhältnis die Voraussetzung des Abs. 3 Satz 2 – „weiter gehender Schutz durch das Recht Union“ – regelmäßig nicht erfüllt ist100.
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Vgl. H. C. Krüger / J. Polakiewicz, EuGRZ 2001, 92 (95). So im Ergebnis auch W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 469. 100
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III. Ergebnis In einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis kann es nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vorkommen, dass derjenige, der sich auf ein transferiertes Konventionsrecht stützt, im Vergleich zum Völkerrecht einen geringeren Gewährleistungsumfang hinzunehmen hat, wenn zugleich ein genuines Chartarecht zugunsten eines anderen anwendbar ist. Demgegenüber kann sich nach hier vertretener Auslegung in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis ein Bürger in aller Regel nicht gem. Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh auf genuines Chartarecht berufen, welches ihn theoretisch zwar besser stellen würde, im konkreten Fall aber nicht zu Anwendung gelangt, gerade weil dies eine Abweichung vom Völkerrecht bedeuten würde101. Letztlich werden also genuine Chartarechte, die von vornherein keine konventionsrechtliche Entsprechung haben, und Chartarechte, die zwar transferierten Konventionsrechten entsprechen, denen aber ein potentiell umfassenderer Gewährleistungsumfang zukommt, in einem mehrpoligen Grundrechtsverhältnis von Art. 52 Abs. 3 GRCh unterschiedlich behandelt. Diese Andersbehandlung durch Satz 1 und Satz 2 rechtfertigt sich durch die Zielsetzung der Kohärenz. Diese kann zwar durch Satz 1 in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen nicht vollkommen erreicht werden. Satz 2 aber erhält in solchen Konstellationen zumindest dieses Maß an Kohärenz, um das Risiko eines Konventionsverstoßes zu verringern102. Sollten im Unionsrecht mehrpolige Grundrechtsverhältnisse an Häufigkeit zunehmen, würde dies nicht nur wie im nationalen Verfassungsrecht zu einer Vergrundrechtlichung103, einer „Hypertrophie der Grundrechte“104 führen. Vielmehr bedeutet dies im Recht der Charta zugleich die Schwächung der Bedeutung genuin chartarechtlicher Gehalte und damit der materiellen Eigenständigkeit des unionalen Grundrechtsschutzes nach der Charta.
101 W. Rengeling / P. Szczekalla, Grundrechte in der Europäischen Union, 2004, Rdnr. 469, sprechen insofern von einem „relativen Vorrang der EMRK“. 102 Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh kann freilich, ebenso wenig wie Art. 53 GRCh, Inkohärenzen in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auch nicht ausschließen, so zu Recht H.-P. Folz, in: Vedder / Heintschel von Heinegg (Hrsg.), Europäischer Verfassungsvertrag, 2007, Art. II-112 VerfV Rdnr. 9. 103 Warnend vor einer rechtsdogmatischen Verwirrung in diesem Zusammenhang auch C. Starck, in: von Mangoldt / Klein / Starck (Hrsg.), Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 5. Auflage 2005, Art. 1 Abs. 3 GG Rdnr. 319, 325. 104 J. Isensee, § 111. Das Grundrecht als Abwehrrecht und staatliche Schutzpflicht, in: HStR V, 1. Auflage 1992, Rdnr. 20.
Schluss Schluss Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist, so sie denn mit dem Vertrag von Lissabon rechtsverbindlich wird1, der vorläufige Höhepunkt der Entwicklung der Grundrechtsbindung der Union als supranationalem Hoheitsträger. Auf dem Gemeinschaftspfad der europäischen Integration kommt den Gemeinschafts- resp. Unionsgrundrechten zunächst ein gewissermaßen retardierendes Moment zu: Grundrechte, die den supranationalen Hoheitsträger binden, verhindern bestimmte, grundrechtswidrige Sekundärrechts- und Rechtsprechungsentwicklungen. In ihrer unmittelbaren, rechtlichen Bedeutung führen sie im Ausgangspunkt nicht zu einem Mehr an Vergemeinschaftung, nicht zu einer Kompetenzausweitung2. Dies wird für die Charta auch durch Art. 51 Abs. 2 GRCh klargestellt. Tritt man einen Schritt zurück, so ergibt sich in einem größeren Bild, dass supranationale Grundrechte aber auch Vergemeinschaftung ermöglichen: Indem andere, nationale3 Grundrechtsordnungen angesichts supranationaler Grundrechte auf eine Anwendung ihrer nationalen Grundrechte auf das Supranationale verzichten, ist letztlich die einheitliche Geltung und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gesichert4. Die Charta erscheint neben einem zunächst selbstständigen Pfad der Vergrundrechtlichung, dem der EMRK. Auch hier hat über Jahrzehnte eine beträchtliche Europäisierung stattgefunden, vor allem im Zusammenhang mit der Änderung 1 Der EuGH hat es bislang zu Recht abgelehnt, die Charta in Anwendung zu bringen. Vgl. aber die immer drängender werdende Appelle der Generalanwälte, etwa jüngst Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 12. 9. 2006, Rs. C-303/05, Advocaten voor de Wereld VZW gegen Leden van de Ministerraad, Slg. 2007, S. I–3633, Rdnr. 76 ff. Zumindest missverständlich (Bestätigung eines bereits gegebenen „rechtsverbindlichen Status der Charta der Grundrechte“) der Beschluss des Europäischen Parlaments vom 29. 11. 2007, abgedruckt in: EuGRZ 2007, 751 (752). F. C. Mayer, JZ 2007, 593 (599, Fn. 55), spricht von einer heute bereits gegebenen „normativen Wirkung“. 2 Freilich deuten sich mit dem Urteil des EuGH zu der Familienzusammenführungsrichtlinie nun Rechtsprechungsentwicklungen an, die letztlich zu Kompetenzausweitungen führen; EuGH, Urteil vom 27. 6. 2006, Rs. C-540/03, Europäisches Parlament gegen Rat der Europäischen Union, Slg. 2006, S. I–5769. 3 Aber auch in einem mittelbareren Zusammenhang das Konventionsrecht; EGMR, Urteil vom 30. 6. 2005, Bosphorus, NJW 2006, 197; EGMR, Urteil vom 18. 2. 1999, Matthews, NJW 1999, 3107. 4 Dieser Zusammenhang wird insbesondere in der Abfolge der Entscheidungen deutlich, die im Entstehungszusammenhang des prätorischen Gemeinschaftsgrundrechtsschutzes stehen, insbesondere: Costa / ENEL, Solange I, Simmenthal II, Solange II usf. In diesem Sinne auch T. Kingreen, in: Calliess / Ruffert (Hrsg.), EUV / EGV, 3. Auflage 2007, Art. 51 GRCh Rdnr. 1, der von einem „legitimatorisch notwendigen Bestandteil des unmittelbar geltenden und Vorrang beanspruchenden Unionsrechts“ spricht.
Schluss
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des konventionsrechtlichen Rechtsschutzsystems durch das Protokoll Nr. 11 in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wodurch insbesondere die Anzahl der Entscheidungen von Konventionsorganen (dann des EGMR) beträchtlich erhöht wurde. Die EMRK bindet als völkerrechtlicher Vertrag die Staaten, die Vertragspartner sind. Freilich verfügen diese bereits auf nationaler Ebene über Grundrechtsschutz gegenüber staatlichen Hoheitsakten. Die EMRK ist insofern zunächst völkerrechtliche Auffangordnung für den Fall, dass eine staatliche Grundrechtsverletzung durch das Netz des nationalen Grundrechtsschutzes fällt. Diese Funktion soll der EMRK aufgrund eines Beitritts der Union gem. Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. zukünftig auch im Verhältnis zur Union zukommen. Aber auch ohne diesen Beitritt werden im Primärrecht nach dem Vertrag von Lissabon diese beiden Pfade der Europäisierung in zweierlei Hinsicht zusammengeführt, und zwar durch die Charta. Dieser primärrechtlich verbindliche Grundrechtskatalog der Union enthält einerseits zahlreiche Grundrechte, die weit gehend der EMRK nachgebildet sind. Dies gilt vor allem für eine Vielzahl von Schutzbereichsartikeln in den Titeln I, II und VI, aber teilweise auch für die Voraussetzungen der Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung. Vor allem aber ist andererseits mit Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh eine allgemeine Bestimmung in der Charta enthalten, die Kohärenz mit der EMRK herstellt, indem Konventionsrechte transferiert und deren Anwendung anstelle von genuin chartarechtlichen Grundrechten angeordnet wird. Dieses Zusammenführen des supranationalen Grundrechtsschutzes und dem der EMRK im Unionsrecht ist in der Substanz aber gar nicht so neuartig, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Bislang basierte der Grundrechtsschutz der Union auf richterlicher Rechtsschöpfung auf der Grundlage der Art. 6 Abs. 2, 46 lit. d EU; er war prätorisch. Im Rahmen dessen war die Bedeutung der EMRK deshalb hoch, weil sie einen Grundrechtsstandard darstellt, der allen Mitgliedstaaten jedenfalls als Mindeststandard gemeinsam ist. Darüber hinaus lässt sich die EMRK aber auch als Rechtserkenntnisquelle aus eigenem Recht verstehen, auch in dieser Hinsicht hat sie seit jeher eine gewichtige Bedeutung5. Insbesondere in jüngerer Zeit hat es Entscheidungen des EuGH gegeben, die den Eindruck erwecken, dass Maßnahmen der Europäischen Gemeinschaften gemeinschaftsrechtlich unmittelbar am Maßstab der EMRK geprüft würden6. Auch in der Literatur wird eine stärkere Rolle der Konventionsdogmatik bei der Entwicklung der prätorischen Gemeinschaftsgrundrechte gefordert7. 5
Art. 6 Abs. 2 EU nennt die EMRK denn auch selbstständig, neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten. 6 EuGH, Urteil vom 20. 5. 2003, verb. Rs. C-465/00, C-138/01 und C-139/01, Österreichischer Rundfunk, Slg. 2003, S. I–4989, Rdnr. 72 ff., obgleich Art. 6 Abs. 2 EU, der den Prüfungsmaßstab vorgibt, zuvor (Rdnr. 69) ausdrücklich erwähnt wird. 7 E. Stieglitz, Allgemeine Lehren im Grundrechtsverständnis nach der EMRK und der Grundrechtsjudikatur des EuGH, 2002, S. 146; J. Kühling, Grundrechte, in: von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, S. 583 (598 f.).
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Dennoch hebt sich Art. 52 Abs. 3 GRCh, indem er primärrechtlich die Rolle der EMRK in der Unionsrechtsordnung unabhängig von einem EMRK-Beitritt festgelegt, entscheidend von der bisherigen Lage ab. Im Rahmen der Art. 6 Abs. 2, 46 lit. d EU (Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.) ist der EuGH zur richterlichen Rechtsschöpfung berufen. Auch wenn die EMRK hierfür als eigenständige Rechtserkenntnisquelle neben den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten benannt ist, liegt es letztlich in der Entscheidung des EuGH, wie stark die Rolle der EMRK im unionalen Grundrechtsschutz sein soll. Demgegenüber ist nach der Charta die Rolle der EMRK im unionalen Grundrechtsschutz durch Art. 52 Abs. 3 GRCh, den der EuGH und die mitgliedstaatlichen Gerichte auszulegen und anzuwenden haben, festgelegt; sie ist daher ein Stück weit rigider. Die eigenständige Normierung von genuin chartarechtlichen Grundrechten, insbesondere deren Rechtfertigungsvoraussetzungen, selbst wenn sie in weiten Teilen dem Recht der EMRK entlehnt sind, stellt jedoch einen Kontrapunkt zur Kohärenzklausel des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh dar. Vor allem Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh eröffnet diesen genuin chartarechtlichen Grundrechten einen Anwendungsbereich. Die Regelung des Art. 52 Abs. 3 GRCh zeichnet sich dadurch aus, dass sie sowohl Kohärenz mit dem Recht der EMRK sucht als auch den Gewährleistungen der Charta eine inhaltliche Eigenständigkeit gewährt. Damit versucht sie, gegenläufige Ideen des unionalen Grundrechtsschutzes in Einklang zu bringen. Entscheidend ist hierbei, dass zum einen enumerierte, transferierte Konventionsrechte und genuine Chartarechte auf die gleiche Ebene des Primärrechts gestellt werden (Satz 1). Zum anderen löst die Regelung des Art. 52 Abs. 3 GRCh die Gegenläufigkeit derart auf, dass zwar eine Mehrbegünstigung durch genuines Chartarecht erfolgen kann (Satz 2). Dies gilt aber nur so weit, wie die Kohärenz mit der EMRK nicht beeinträchtigt ist, was insbesondere in sog. mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen zu Schwierigkeiten führt. Denn in mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen kann es vorkommen, dass ein konventionsrechtlich geschütztes Interesse eine Einbuße hinnehmen muss, weil die Charta individuelle Interessen schützt, die die EMRK als grundrechtlich gewährleistete nicht kennt. Dieses Problem besteht aber bereits nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh und wird durch die hier vorgeschlagene einschränkende Auslegung des Satzes 2 in mehrpoligen Grundrechtsverhätlnissen zumindest nicht noch durch letztere Norm verschärft. Damit kann auch die Regelung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, selbst wenn es Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh nicht gäbe, keine perfekte Kohärenz in dem Sinne gewährleisten, dass ein (völkerrechtlicher) Konventionsverstoß schlechthin ausgeschlossen ist. Dieses Kohärenzdilemma lässt sich nicht auflösen8. Es beruht auf 8 Sehr kritisch J. F. Lindner, EuR 2007, 160 (173 f.): „Mehr als den programmatischen Appell […], für einheitliche Maßstäbe und dogmatische Instrumentarien zu sorgen, die einen annähernden Gleichlauf […] ermöglichen, wird man von Art. 52 Abs. 3 Satz 1 nicht erwarten können.“ Versöhnlicher ders., ZRP 2007, 54 (56).
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der Entscheidung der Charta zugunsten eigener Grundrechte und wirtschaftlicher Freiheiten, die es so in der EMRK eben nicht gibt. Die Frage, wie sehr der Grundrechtsschutz der Charta materiell konventionsrechtlich oder genuin chartarechtlich ist, beantwortet sich im Falle einer Kollision eines transferierten Konventionsrechts und eines genuinen Chartarechts dahingehend, dass weder das eine noch das andere absolute Geltung beanspruchen. Bei diesen Grundrechtskollisionen stößt das Kohärenzbestreben des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh an seine Grenzen. Der eigentliche Nachteil der Regelung liegt aber an anderer Stelle. Bei dem Versuch, Kohärenz mit der EMRK und die Selbstständigkeit eigener grundrechtlicher Gewährleistungen in Einklang zu bringen, scheint insgesamt die praktische Handhabbarkeit der Regelung in der Rechtsanwendung aus dem Blick geraten zu sein. Die Norm erscheint insofern als zu komplex9. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union haben in ihren Verfassungen andere Wege im Zusammenspiel der Grundrechtsordnungen beschritten. Als Konventionsstaaten sind sie wegen der unmittelbaren völkerrechtlichen Bindung bereits jetzt schon in einem weit stärkeren Maß vor ein vergleichbares Problem gestellt als die Union. Die Selbstständigkeit einer nationalen Grundrechtsordnung gegenüber der EMRK ist in Einklang zu bringen mit deren völkerrechtlichen Anforderungen. Es geht um innerstaatliche Vorkehrungen gegen einen Konventionsverstoß. Während insofern einige Staaten auf einen eigenen Grundrechtskatalog verzichten und andere darüber hinaus auf den Grundrechtskatalog der EMRK zurückgreifen, wie z. B. Österreich, ermöglicht in Deutschland der verfassungsrechtliche Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit in der innerstaatlichen Rechtsordnung, die sich aus der EMRK und den Grundrechten des Grundgesetzes ergebenden Anforderungen weit gehend in Harmonie zu bringen10. Indem die EMRK in der Normenhierarchie der deutschen Rechtsordnung unterhalb des Grundrechtskatalogs des Grundgesetzes angesiedelt ist, zugleich aber eine konventionsfreundliche Auslegung allen nationalen Rechts verfassungsrechtlich geboten ist, ist Kohärenz ermöglicht. So können Friktionen zwischen den konventions- resp. national-grundrechtlichen Anforderungen, die im äußersten Fall auftreten können, sachgerecht bewältigt werden. Die Notwendigkeit hierfür besteht im Grundgesetz ebenso wie in der Charta. Denn ein selbstständiger Grundrechtsschutz mit inhaltlich eigenständigen Aussagen bedeutet denknotwendig, dass im äußersten Fall die Anfor9
So, unter Zugrundelegung eines anderen Auslegungsansatzes, J. Pietsch, Das Schrankenregime der EU-Grundrechtecharta, 2005, S. 197 f. 10 BVerfGE 111, 307; M. Herdegen, in: Maunz / Dürig / Herzog / Scholz (Hrsg.), Grundgesetz, Stand: 51. Ergänzungslieferung Dezember 2007, Art. 1 Abs. 2 GG Rdnr. 41, 48; A. Bleckmann, DÖV 1996, 137; C. Tomuschat, § 172. Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR VII, 1. Auflage 1992, Rdnr. 8, 22 ff.; kritisch C. Hillgruber, JöR 54 (2006), 57 (92 f.); ders., § 32. Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, in: HStR II, 3. Auflage 2004, Rdnr. 125 ff.
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derungen beider Grundrechtskataloge unterschiedlich sein können und somit ein Völkerrechtsverstoß droht. Dies muss eine Grundrechtsordnung binnenrechtlich bewältigen können. In dieser Sicht scheint sogar eine gewisse Ähnlichkeit zwischen der herkömmlichen gemeinschaftsrechtlichen Bewältigung des Problems auf der Grundlage des Art. 6 Abs. 2, 46 lit. d EU und der des Grundgesetzes durch den Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit zu bestehen. Auf diesem Weg hätte man vertragspolitisch auch weiter gehen können, indem entsprechend den Anforderungen des EMRK-Gutachtens des EuGH11 schlicht eine Ermächtigungsgrundlage für einen EMRK-Beitritt beigefügt worden wäre, man aber im Übrigen auf eine eigenständige Grundrechtskodifikation und möglicherweise sogar auf die Beibehaltung der prätorischen Gemeinschaftsgrundrechte verzichtet hätte12. Der Beitritt der Gemeinschaften zur EMRK wurde als rechtspolitische Option in der Zeit vor dem „Mandat von Köln“ als Alternative zu einem primärrechtlichen Grundrechtskatalog diskutiert. Vielleicht wäre auch ein anderes, weicheres Instrument auf Primärrechtsebene zur Vermeidung von Völkerrechtsverstößen als Art. 52 Abs. 3 GRCh zielführender gewesen. Im Angesicht des Beitritts der EU zur EMRK nach Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. wird sich daher zeigen, ob nicht im Binnenrecht der Union das Verhältnis von Recht, das aus völkerrechtlichen Verträgen fließt, zum sonstigen Unionsrecht, zumindest hinsichtlich der zukünftigen Verpflichtungen aus der EMRK, neu justiert werden muss. Hier bietet im Falle des EMRK-Beitritts möglicherweise Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. einen Anknüpfungspunkt. Die Frage, ob es sinnvoll ist, Art. 52 Abs. 3 GRCh auch im Falle eines Beitritts der Union zur EMRK beizubehalten, wurde in der Literatur bereits aufgeworfen13. Nach dem soeben Ausgeführten steht dahinter die allgemeine Frage nach dem Maß der Selbstständigkeit einer Grundrechtsordnung eines Konventionspartners im Verhältnis zur EMRK, insbesondere im Binnenraum der Rechtsordnung dieses Vertragspartners. Diese Frage erregt mitunter die Gemüter, wenn es um die Mitgliedschaft eines Staates zur EMRK geht. Behauptet eine nationale Rechtsordnung Selbstständigkeit gegenüber dem Recht der EMRK, schwingt bei Einwänden hiergegen der Vorwurf einer Europäisierungsfeindlichkeit mit. Es geht aber, allgemeiner gefasst, um das Verhältnis zweier Grundrechtsordnungen innerhalb einer Rechtsordnung, um das Für und Wider von deckungsgleicher Kohärenz und der Selbständigkeit als Rechtsordnung, um die Möglichkeit zu eigenständiger und damit eben auch äußerstenfalls abweichender Wertung.
11
EuGH, Gutachten vom 28. 3. 1996, Gutachten 2/94, EMRK, Slg. 1996, S. I–1759. Also eine Streichung des Art. 6 Abs. 2 EU (bzw. Art. 6 Abs. 3 EUV n. F.) bei gleichzeitiger Einfügung des Art. 6 Abs. 2 EUV n. F. ohne Einfügung eines Art. 6 Abs. 1 EUV n. F. 13 J. Callewaert, EuGRZ 2003, 198 (200), befürwortet dies unter Hinweis darauf, dass ein Beitritt eo ipso nicht zu einem gleichen Rang der EMRK in der Rechtsordnung der Union führt. 12
Schluss
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Der vorliegende Zusammenhang eines genuin europäischen Grundrechtskatalogs zur Bindung eines supranationalen Hoheitsträgers mag Anlass bieten, für die auch hier zugrunde liegende rechtliche Problemstellung einen nüchterneren Blick zu gewinnen und zugleich ein in der heutigen Zeit seltsam antiquiert anmutendes Lagerdenken in ein ‚für Europa‘ und ein ‚für die Staaten‘ abzustreifen.
Thesen Thesen 1. Das Gesamtverständnis des Grundrechtsschutzes der Europäischen Union nach dem Rechtsverbindlich-Werden der Charta hängt maßgeblich von Art. 52 Abs. 3 GRCh ab. 2. Die Norm bezieht – in umstrittener Intensität – Recht der EMRK in das Grundrechtsregime der Charta ein. 3. Die Reichweite der Einbeziehung bestimmt vice versa auch die Frage, wie sehr der Grundrechtsschutz der Union nach der Charta ein genuin chartarechtlicher ist. 4. Eine hervorgehobene Bedeutung bei der Auslegung der Charta, und somit auch bei der Auslegung von Art. 52 Abs. 3 GRCh, kommt den sog. „Erläuterungen zur Charta der Grundrechte“ kraft primärrechtlicher Anordnung zu (Art. 52 Abs. 7 GRCh; auch Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n. F.). 5. Nach hier vertretener Auslegung transferiert Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh bestimmte Rechte der EMRK umfassend in das Rechtsregime der Grundrechtecharta. Von dem Transfer umfasst sind insbesondere deren Schutzbereiche, sog. (tatbestandliche) Negativdefinitionen, ein konventionsrechtlicher Eingriffsbegriff sowie die jeweils einschlägigen Voraussetzungen für die Rechtfertigung einer Grundrechtseinschränkung. Maßgebend ist dabei jeweils die Auslegung der Rechte durch den EGMR. 6. Neben diesen transferierten Konventionsrechten bestehen im Unionsrecht entsprechende genuin chartarechtliche Bestimmungen. Es gibt somit „doppelte“ Gewährleistungen; ein insofern als Auslegung des Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh vertretenes Identitätskonzept, das davon ausgeht, dass das jeweilige Chartagrundrecht und das entsprechende Konventionsrecht im Unionsrecht ‚eins‘ sind, ist abzulehnen. 7. Gemäß Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh sind die transferierten Konventionsrechte vorrangig vor den entsprechenden genuinen Chartarechten anzuwenden. 8. Dennoch sind die entsprechenden genuinen Chartarechte bereits nach Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh nicht bedeutungslos. a) Ihnen kommt in einer als bloß formell zu charakterisierenden Weise die Funktion von Anknüpfungspunkten für die abstrakt-generelle Bestimmung der Konventionsrechte, die Gegenstand des Transfers sind, zu (Enumerationsfunktion).
Thesen
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b) Im Falle eines Versagens des konventionsrechtlichen materiellen Grundrechtsschutzes pro futuro kommen die genuinen Chartarechte in ihren materiellen Gehalten zur Anwendung. Sie entfalten dann subsidiär einen genuin chartarechtlichen Grundrechtsschutz. 9. Einen Anwendungsbereich von weitaus größerer praktischer Bedeutung erhalten die genuin chartarechtlichen Bestimmungen – also die den transferierten Konventionsrechten entsprechenden Schutzbereiche sowie insbesondere jeweils einschlägige allgemeine und besondere Rechtfertigungsvoraussetzungen der Charta – durch Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh. 10. Die genuinen Chartarechte sind hiernach als im Verhältnis zu den Konventionsrechten „weiter gehend“ schützende dann anzuwenden, wenn sie im Einzelfall zugunsten des Bürgers einen umfangreicheren Gewährleistungsumfang konstituieren. 11. Allenfalls in sog. mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen auf Ebene der Europäischen Union ist Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh derart einschränkend auszulegen, dass sonst mögliche Verstöße gegen die EMRK auf der Ebene des Völkerrechts vermieden werden. 12. Von der EMRK im Völkerrecht abweichende Ergebnisse in der Anwendung der Grundrechte können sich im Recht der Charta, ungeachtet der Möglichkeit weiter gehend schützenden Chartarechts nach Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh, auch bereits aus Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh ergeben. a) Denn in der Bewältigung von grundrechtlichen Kollisionslagen, in denen transferierte Konventionsrechte mit genuinen Chartarechten zusammentreffen, können die durch das transferierte Konventionsrecht geschützten grundrechtlichen Interessen unter Umständen hinter den Interessen zurücktreten, die durch genuine Chartarechte geschützt sind. b) Eine höhere Gewichtung transferiert-konventionsrechtlich geschützter Interessen bei Grundrechtskollisionen ist ebenso abzulehnen wie deren absoluter Vorrang. 13. Art. 53 GRCh der Charta wirkt sich auf das gefundene Verständnis von Recht der EMRK und genuin chartarechtlichem Grundrechtsschutz im Grundrechtsregime der Charta nicht aus. Aufgrund des spezifisch unionalen Bedeutungszusammenhangs kommt dieser Norm ein geringerer Anwendungsbereich zu als der ihr im Übrigen weit gehend entsprechenden völkerrechtlichen Bestimmung des Art. 53 EMRK.
Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge – Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge – in der anlässlich der Proklamation der Charta am 12. Dezember 2007 veröffentlichten Fassung, ABl.EU C 303 vom 14. 12. 2007, S. 17 Erläuterung zu Artikel 5 – Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit 1. Das Recht nach Artikel 5 Absätze 1 und 2 entspricht dem gleich lautenden Artikel 4 Absätze 1 und 2 EMRK. Nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta hat dieses Recht also die gleiche Bedeutung und Tragweite wie Artikel 4 EMRK. Daraus folgt: – Eine legitime Einschränkung des Rechts nach Absatz 1 kann es nicht geben. – In Absatz 2 müssen in Bezug auf die Begriffe „Zwangs- oder Pflichtarbeit“ die „negativen“ Definitionen nach Artikel 4 Absatz 3 EMRK berücksichtigt werden: „Nicht als Zwangs- oder Pflichtarbeit im Sinne dieses Artikels gilt a) eine Arbeit, die […]“ […] Erläuterung zu Artikel 7 – Achtung des Privat- und Familienlebens Die Rechte nach Artikel 7 entsprechen den Rechten, die durch Artikel 8 EMRK garantiert sind. Um der technischen Entwicklung Rechnung zu tragen, wurde der Begriff „Korrespondenz“ durch „Kommunikation“ ersetzt. Nach Artikel 52 Absatz 3 haben diese Rechte die gleiche Bedeutung und Tragweite wie die Rechte aus dem entsprechenden Artikel der EMRK. Ihre möglichen legitimen Einschränkungen sind daher diejenigen, die der genannte Artikel 8 gestattet: „1. Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz. 2. Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ […] Erläuterung zu Artikel 10 – Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Das in Absatz 1 garantierte Recht entspricht dem Recht, das durch Artikel 9 EMRK garantiert ist, und hat nach Artikel 52 Absatz 3 der Charta die gleiche Bedeutung und die gleiche
Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge –
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Tragweite wie dieses. Bei Einschränkungen muss daher Artikel 9 Absatz 2 EMRK gewahrt werden, der wie folgt lautet: „Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu bekennen, darf nur Einschränkungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die öffentliche Sicherheit, zum Schutz der öffentlichen Ordnung, Gesundheit oder Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.“ Das in Absatz 2 garantierte Recht entspricht den einzelstaatlichen Verfassungstraditionen und der Entwicklung der einzelstaatlichen Gesetzgebungen in diesem Punkt. […] Erläuterung zu Artikel 52 – Tragweite und Auslegung der Rechte und Grundsätze Mit Artikel 52 sollen die Tragweite der Rechte und Grundsätze der Charta und Regeln für ihre Auslegung festgelegt werden. Absatz 1 enthält die allgemeine Einschränkungsregelung. Die verwendete Formulierung lehnt sich an die Rechtsprechung des Gerichtshofes an, die wie folgt lautet: „Nach gefestigter Rechtsprechung kann jedoch die Ausübung dieser Rechte, insbesondere im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation, Beschränkungen unterworfen werden, sofern diese tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismäßigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der diese Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet“ (Urteil vom 13. April 2000, Rechtssache C-292/97, Randnr. 45). Die Bezugnahme auf das von der Union anerkannte Gemeinwohl erstreckt sich nicht nur auf die in Artikel 3 des Vertrags über die Europäische Union aufgeführten Ziele, sondern auch auf andere Interessen, die durch besondere Bestimmungen der Verträge wie Artikel 4 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union, Artikel 35 Absatz 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union und die Artikel 36 und 346 dieses Vertrags geschützt werden. Absatz 2 bezieht sich auf Rechte, die bereits ausdrücklich im Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft garantiert waren und in der Charta anerkannt wurden und die nun in den Verträgen zu finden sind (insbesondere die Rechte aus der Unionsbürgerschaft). Er verdeutlicht, dass diese Rechte weiterhin den Bedingungen und Grenzen unterliegen, die für das Unionsrecht, auf dem sie beruhen, gelten und die in den Verträgen festgelegt sind. Mit der Charta wird die Regelung hinsichtlich der durch den EG-Vertrag gewährten und in die Verträge übernommenen Rechte nicht geändert. Mit Absatz 3 soll die notwendige Kohärenz zwischen der Charta und der EMRK geschaffen werden, indem die Regel aufgestellt wird, dass in dieser Charta enthaltene Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, einschließlich der zugelassenen Einschränkungen, besitzen, wie sie ihnen in der EMRK verliehen werden. Daraus ergibt sich insbesondere, dass der Gesetzgeber bei der Festlegung von Einschränkungen dieser Rechte die gleichen Normen einhalten muss, die in der ausführlichen Regelung der Einschränkungen in der EMRK vorgesehen sind, die damit auch für die von diesem Absatz erfassten Rechte gelten, ohne dass dadurch die Eigenständigkeit des Unionsrechts und des Gerichtshofs der Europäischen Union berührt wird. Die Bezugnahme auf die EMRK erstreckt sich sowohl auf die Konvention als auch auf ihre Protokolle. Die Bedeutung und Tragweite der garantierten Rechte werden nicht nur durch den Wortlaut dieser Vertragswerke, sondern auch durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und durch den Gerichtshof der Europäischen Union bestimmt.
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Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge –
Mit dem letzten Satz des Absatzes soll der Union die Möglichkeit gegeben werden, für einen weiter gehenden Schutz zu sorgen. Auf jeden Fall darf der durch die Charta gewährleistete Schutz niemals geringer als der durch die EMRK gewährte Schutz sein. Die Charta berührt nicht die den Mitgliedstaaten offen stehende Möglichkeit, von Artikel 15 EMRK Gebrauch zu machen, der im Falle eines Krieges oder eines anderen öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht, eine Abweichung von den in der EMRK vorgesehenen Rechten erlaubt, wenn sie nach ihren in Artikel 4 Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union und in den Artikeln 72 und 347 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union anerkannten Verantwortlichkeiten Maßnahmen im Bereich der nationalen Verteidigung im Kriegsfalle oder im Bereich der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung treffen. Die Rechte, bei denen derzeit – ohne die Weiterentwicklung des Rechts, der Gesetzgebung und der Verträge auszuschließen – davon ausgegangen werden kann, dass sie Rechten aus der EMRK im Sinne dieses Absatzes entsprechen, sind nachstehend aufgeführt. Nicht aufgeführt sind die Rechte, die zu den Rechten aus der EMRK hinzukommen. 1. Artikel der Charta, die dieselbe Bedeutung und Tragweite wie die entsprechenden Artikel der Europäischen Menschenrechtskonvention haben: – Artikel 2 entspricht Artikel 2 EMRK; – Artikel 4 entspricht Artikel 3 EMRK; – Artikel 5 Absätze 1 und 2 entsprechen Artikel 4 EMRK; – Artikel 6 entspricht Artikel 5 EMRK; – Artikel 7 entspricht Artikel 8 EMRK; – Artikel 10 Absatz 1 entspricht Artikel 9 EMRK; – Artikel 11 entspricht Artikel 10 EMRK unbeschadet der Einschränkungen, mit denen das Unionsrecht das Recht der Mitgliedstaaten auf Einführung der in Artikel 10 Absatz 1 dritter Satz EMRK genannten Genehmigungsverfahren eingrenzen kann; – Artikel 17 entspricht Artikel 1 des Zusatzprotokolls zur EMRK; – Artikel 19 Absatz 1 entspricht Artikel 4 des Protokolls Nr. 4 zur EMRK; – Artikel 19 Absatz 2 entspricht Artikel 3 EMRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte; – Artikel 48 entspricht Artikel 6 Absätze 2 und 3 EMRK; – Artikel 49 Absatz 1 (mit Ausnahme des letzten Satzes) und Absatz 2 entsprechen Artikel 7 EMRK. 2. Artikel, die dieselbe Bedeutung haben wie die entsprechenden Artikel der EMRK, deren Tragweite aber umfassender ist: – Artikel 9 deckt Artikel 12 EMRK ab, aber sein Anwendungsbereich kann auf andere Formen der Eheschließung ausgedehnt werden, wenn die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften diese vorsehen; – Artikel 12 Absatz 1 entspricht Artikel 11 EMRK, aber sein Anwendungsbereich ist auf die Ebene der Union ausgedehnt worden;
Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge –
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– Artikel 14 Absatz 1 entspricht Artikel 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK, aber sein Anwendungsbereich ist auf den Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung ausgedehnt worden; – Artikel 14 Absatz 3 entspricht Artikel 2 des Zusatzprotokolls zur EMRK, was die Rechte der Eltern betrifft; – Artikel 47 Absätze 2 und 3 entsprechen Artikel 6 Absatz 1 EMRK, aber die Beschränkung auf Streitigkeiten in Bezug auf zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen oder strafrechtliche Anklagen kommt nicht zum Tragen, wenn es um das Recht der Union und dessen Anwendung geht; – Artikel 50 entspricht Artikel 4 des Protokolls Nr. 7 zur EMRK, aber seine Tragweite ist auf die Ebene der Europäischen Union ausgedehnt worden und er gilt zwischen den Gerichten der Mitgliedstaaten; – schließlich können die Unionsbürgerinnen und -bürger im Anwendungsbereich des Unionsrechts wegen des Verbots jeglicher Diskriminierung aufgrund der Nationalität nicht als Ausländer angesehen werden. Die in Artikel 16 EMRK vorgesehenen Beschränkungen der Rechte ausländischer Personen finden daher in diesem Rahmen auf die Unionsbürgerinnen und -bürger keine Anwendung. Die Auslegungsregel in Absatz 4 beruht auf dem Wortlaut des Artikels 6 Absatz 3 des Vertrags über die Europäische Union und trägt dem Ansatz des Gerichtshofs hinsichtlich der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen gebührend Rechnung (z. B. Urteil vom 13. Dezember 1979, Rechtssache 44/79, Hauer, Slg. 1979, 3727; Urteil vom 18. Mai 1982, Rechtssache 155/79, AM&S, Slg. 1982, 1575). Anstatt einem restriktiven Ansatz eines „kleinsten gemeinsamen Nenners“ zu folgen, sind die Charta-Rechte dieser Regel zufolge so auszulegen, dass sie ein hohes Schutzniveau bieten, das dem Unionsrecht angemessen ist und mit den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen im Einklang steht. In Absatz 5 wird die Unterscheidung zwischen „Rechten“ und „Grundsätzen“ in der Charta näher bestimmt. Dieser Unterscheidung zufolge sind subjektive Rechte zu beachten, während Grundsätze einzuhalten sind (Artikel 51 Absatz 1). Grundsätze können durch Rechtsakte oder Durchführungsvorschriften (die von der Union im Einklang mit ihren Zuständigkeiten erlassen werden, von den Mitgliedstaaten aber nur dann, wenn sie Unionsrecht umsetzen) umgesetzt werden; sie erhalten demzufolge nur dann Bedeutung für die Gerichte, wenn solche Rechtsakte ausgelegt oder überprüft werden. Sie begründen jedoch keine direkten Ansprüche auf den Erlass positiver Maßnahmen durch die Organe der Union oder die Behörden den Mitgliedstaaten; dies steht sowohl mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs (vgl. insbesondere die Rechtsprechung über das „Vorsorgeprinzip“ in Artikel 191 Absatz 2 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union: Urteil des Gerichts erster Instanz vom 11. September 2002, Rechtssache T-13/99 Pfizer gegen Rat, mit zahlreichen Nachweisen aus der älteren Rechtsprechung, sowie eine Reihe von Urteilen zu Artikel 33 (ex-39) über die Grundsätze des Agrarrechts, z. B. Urteil des Gerichtshofs in der Rechtssache 265/85, Van den Bergh, Slg. 1987, 1155, Prüfung des Grundsatzes der Marktstabilisierung und des Vertrauensschutzes) als auch mit dem Ansatz der Verfassungsordnungen der Mitgliedstaaten zu „Grundsätzen“, insbesondere im Bereich des Sozialrechts, in Einklang. Zu den in der Charta anerkannten Grundsätzen gehören beispielsweise die Artikel 25, 26 und 37. In einigen Fällen kann ein Charta-Artikel sowohl Elemente eines Rechts als auch eines Grundsatzes enthalten, beispielsweise Artikel 23, 33 und 34.
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Anhang: Erläuterungen zur Charta der Grundrechte – Auszüge –
Absatz 6 bezieht sich auf die verschiedenen Artikel in der Charta, in denen im Sinne der Subsidiarität auf die einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und Gepflogenheiten verwiesen wird. Erläuterung zu Artikel 53 – Schutzniveau Der Zweck dieser Bestimmung ist die Aufrechterhaltung des durch das Recht der Union, das Recht der Mitgliedstaaten und das Völkerrecht in seinem jeweiligen Anwendungsbereich gegenwärtig gewährleisteten Schutzniveaus. Aufgrund ihrer Bedeutung findet die EMRK Erwähnung. […]
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Sachverzeichnis Akt der Verfassunggebung 63 Art. 52 Abs. 1 GRCh 22, 28 Art. 52 Abs. 2 GRCh 162 – lex specialis 164 – Rechtsgrundverweis 163 Art. 52 Abs. 3 Satz 1 GRCh, Meinungsstand – Auslegungsregel 40–41 – Rechtserkenntnisquelle 42–45 – Schrankenklausel 37–39 – Transferklausel 29–36 Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh – Absinken des EMRK-Schutzes 47, 169 – Anwendungsbereich 171–172 – deklaratorische Bedeutung 168 – Einzelfallbezogenheit 183 – konstitutive Bedeutung 48, 169 – mehrpoliges Unionsgrundrechtsverhältnis 256 – Recht der Union 173–178 – Satz 1 Auslegungsregel 51 – Satz 1 Schrankenklausel 50 – Satz 1 Transferklausel 46–49 – weiter gehender Schutz 179–180 Art. 53 EMRK – Meistbegünstigung 201 – Parallelität der Grundrechtsordnungen 201 Art. 53 GRCh – Auslegungsregelung 198 – echte Konkurrenzenregelung 227 – einseitige Regelung der Anwendbarkeit 225 – keine Änderung 217 – keine Auslegungsregelung 206 – Meinungsstand 191–193 – Meistbegünstigung 223 – Meta-Konkurrenzenregel 201, 223 – Mindeststandard 200 – Neo-Solange-I-Klausel 220 – parallele Grundrechtsordnungen 222 – These vom Bedeutungswandel 194–196 – Wortlautunterschiede 206
Auslegungsregeln 26, 40–41 Bedeutung – Elemente des Grundrechtsschutzes 144 – Kern 133 – Sinn 132 – untechnisches Verständnis 127 Bedeutung und Tragweite – Auslegungsregel 150 – bezweckte Kohärenz 135 – dynamisches Verständnis 144 – Entwicklungsoffenheit 142 – gemeinschaftliche Bedeutung 125 – Identitätskonzept 105–112 – Kohärenz 136–141 – Rechtsprechung des EGMR 100, 144 – Schrankenklausel 113 – Spruchpraxis des EuGH 127 – systematischer Zusammenhang 129–130 – Transferklausel 183–185 – zentrale Rolle 124 Bindung der Mitgliedstaaten an Unionsgrundrechte – Durchführung 208–210 – Grundfreiheiten 210–214 Bindung der Union an Unionsgrundrechte 25 Bosphorus 168, 225 Doppelgewährleistung 163 Dublin Well Woman 203 Eingriffsbegriff, Divergenzen 22 Entsprechen – ausdifferenzierte Regelung 160 – einzelfallunabhängig 156 – geringfügige Abweichungen 152 – keine teleologische Reduktion 158 – Regelungsbereich 156 – Schrankenklausel 152 – soweit 157
Sachverzeichnis – tertium comparationis 157 – umfassende Kohärenz 154 – zirkuläres Verständnis 152 Enumerationsfunktion 165 Erläuterungen zur Charta der Grundrechte 57 – anwendbare Schutzbereiche 102 – Art. 6 Abs. 1 UAbs. 3 EUV n.F. 75–77 – Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh 118 – Art. 52 Abs. 7 GRCh 75 – Auflistungen zu Art. 52 Abs. 3 GRCh 96–98 – Aussagen zur Auslegung des Art. 52 Abs. 3 GRCh 96 – Bedeutung der Schranken-Schranken 103 – Charta-Präambel 79 – dokumentarischer Charakter 86 – Erklärung Nr. 12 zum Verfassungsvertrag 80–81 – genetische Auslegung 86–87 – geringfügige Schutzbereichsdivergenzen 102 – Konventspräsidiumswille 88–89 – Konventswille 88–89 – Neuartigkeit 64 – Neuveröffentlichung 2007 61 – nicht abschließend 161 – positivierte Bezugnahmen 62 – Schrankenklausel 105–112 – überkommene Auslegungsmethoden 62 – Überschneidungsbereichtsthese 105–112 – Veröffentlichung im ABl.EU 80 – Zeitgebundenheit 161, 166 – Zurechnung zum Konvent 91 – Zurechnung zum Konventspräsidium 91– 94 ERT 26, 208 Europäischer Konvent 60 genuin chartarechtlicher Grundrechtsschutz 20, 24, 186–190 – Auslegungsregel 55–56 – Schrankenklausel 54 – Transferklausel 51–52 Grundrechtekonvent 60 Identitätskonzept 149
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Kommunikation 157 Konventswille 57 körperliche Bewegungsfreiheit 159 Laserdrome 212 living instrument 144 Mandat von Köln 57 mehrpoliges Grundfreiheitsverhältnis 243 mehrpoliges Grundrechts- und Grundfreiheitsverhältnis 243–244 mehrpoliges Grundrechtsverhältnis – Dreieck 235 – Grundrechtskollision 233 – Häufigkeit 238 – konsequentes Denken 237 – positivierter Verdacht 240 – praktische Konkordanz 235 – Schutzpflicht 234 – Vergrundrechtlichung 238 mehrpoliges Unionsgrundrechtsverhältnis 241 – absoluter Vorrang der EMRK 248 – Art. 52 Abs. 3 Satz 2 GRCh 256 – Kohärenzgefährdung 246 – konventionsfreundliche Abwägung 251 Neutralisierung 165 Primärrecht, Charta als 64 Rechtserkenntnisquelle, Hinweis auf 42– 45 Schmidberger 212, 243 Schrankenklausel 37–39 Schranken-Schranken, Divergenzen 22–24 Schutzbereiche, Divergenzen 20, 147 shall be the same 123, 145–151 – Identitätskonzept 146 Solange-II 168 subsidiärer Grundrechtsschutz 168 Tragweite – EG-Vertrag 128 – Gewährleistungsumfang 106, 128, 131, 143 – untechnisches Verständnis 126
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Sachverzeichnis
Transfer als Abbildung 151 Transferklausel 29–36 Verbot des Missbrauchs der Rechte 26 Verfassung 63
Völkerrechtsfreundlichkeit 261 Wachauf 26, 208 weiter gehender Schutz – Gewährleistungsumfang 118, 181