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German Pages 1012 Year 2004
Friedemann Spicker Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert
Friedemann Spicker
Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert Spiel, Bild, Erkenntnis
Max Niemeyer Verlag Tübingen 2004
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft, Bonn
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 3-484-10859-2 © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2004 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: AZ Druck und Datentechnik G m b H , Kempten Einband: Norbert Klotz, Jettingen-Scheppach
»Von einem Fachmann. Wie ein Hund vor seinem Hof stand er vor seinem Fach und knurrte schon von weitem jeden an, der sich seinem Fache näherte.« (Hans Albrecht Moser: Ich und der andere)
»Mit Aphorismen gibt man sich ab, weil man im Laufe des Lebens mehrmals Goethes bedeutende Fordernis durch ein einziges geistreiches Wort< an sich selbst erfuhr.« (Martin Kessel: Gegengabe)
»In der Kunst ist es schwer etwas zu sagen, was so gut ist wie: nichts zu sagen.« (Ludwig Wittgenstein: Vermischte Bemerkungen)
Für Α. (Die andere Hälfle. Die eine gehört ihr schon.)
Vorwort Das vorliegende Buch schließt an eine Begriffsgeschichte zum Aphorismus an, die 1997 erschienen ist. Was ich dort im Vorwort ausgedrückt habe, ist nur zu wiederholen. Die Skrupel angesichts des Mißverhältnisses zwischen der knappsten Form des Gegenstandes und der Breite seiner Erörterung sind nicht kleiner geworden, der Band dessenungeachtet nicht schmaler. Sein Umfang ist damit zu begründen, daß ich der Gattung bis in verschiedenste Verästelungen und Randbereiche hinein folge und auch ihren trivialen Bodensatz verkoste. Vielleicht ist das Bemühen um Konzision im Einzelnen erkennbar. Ein engstes Verhältnis zu dieser großen Kleinform, primär wie sekundär, hat mich zu dieser Studie gefuhrt. Geplant und vorbereitet wurde sie seit Mitte der siebziger Jahre; in den neunziger Jahren haben sich vorbereitende und begleitende Arbeiten dazwischengeschoben. Konkret geschrieben habe ich sie seit November 1998. Das Manuskript wurde in der Rohform am 31.12.2001 abgeschlossen; Nachträge habe ich noch bis Ende 2002 vorgenommen, einzelne bibliographische Ergänzungen bis Anfang 2004. Das Projekt hat mich so lange begleitet, daß ich mit ihm geistig wie verwachsen bin. Meine Freude ist groß, es jetzt als Buch vorlegen zu können. Ich habe vielen Autoren zu danken, die mir brieflich und persönlich Auskunft gegeben haben und mir darüber hinaus vielfach Exemplare ihrer Bücher schenkten, so Elazar Benyoetz, Franz Josef Czernin, Dr. Ulrich Erckenbrecht, Dr. Michael Rumpf, Prof. Dr. Gerhard Uhlenbruck und vielen anderen. Durch die jahrzehntelange Sammelarbeit ist der Ansatz zu einem Aphorismus-Archiv entstanden, das ich ausbauen möchte und fur das ich Autoren und Verlage um Unterstützung bitte. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die meine Arbeit zwei Jahre mit einem Stipendium gefördert und einen Druckkostenzuschuß bewilligt hat. Ich danke Birgitta Zeller und Dr. Ulrike Dedner vom Niemeyer Verlag fur die Freundlichkeit, mit der sie dem Verfasser und seinem Manuskript begegnet sind, sowie fur die Sorgfalt und Mühe, die sie diesem gewidmet haben. Im großen Übrigen hat meine Frau, Dr. Angelika Spicker-Wendt, sie materiell ermöglicht. Sie hat mich dafür von der Erwerbsarbeit freigestellt, seit 1995 ganz und seit 2001, als das Beamtengesetz das so nicht mehr zuließ, zur Hälfte. In die Widmung lege ich meinen ganzen Dank. Königswinter, 1. April 2004
Friedemann Spicker
Inhalt Α.
EINLEITUNG
I.
Problemlage 1. Zur Gattungsgeschichte 2. Zum Aphorismus als Gattungsbegriff 2.1. Begriff und Gattung 2.2. Forschungslage 3. Zu den Zielen und dem Aufbau
3 3 6 6 9 16
II.
Die 1. 2. 3.
20 20 23 55
B.
D E R APHORISMUS IN DER ERSTEN JAHRHUNDERTHÄLFTE
I.
Der deutschsprachige Aphorismus nach der Jahrhundertwende 1. Der Aphorismus in Deutschland nach der Jahrhundertwende 1.1. Weiterführung der erprobten aphoristischen Modelle 1.1.1. Aphoristik des Herzens 1.1.2. Gedankensplitter 1.1.3. In der Tradition der Moralistik 1.2. Weltanschauung und Wissenschaft 1.3. Der Aphorismus in Impressionismus und Symbolismus 1.4. Frauenaphoristik I 2. Der österreichische Aphorismus nach der Jahrhundertwende 2.1. In der Tradition des 19. Jahrhunderts 2.2. Karl Kraus 2.3. Im Umkreis von Karl Kraus 2.4. Exkurs: Die Rezeption von Karl Kraus 3. Zusammenfassung
65 65 66 66 69 71 81 108 119 130 131 139 163 174 190
II.
Der deutschsprachige Aphorismus 1910-1933/38 1. Der expressionistische Aphorismus 1.1. Epoche, Strömung, Genre 1.2. Themen 1.3. Formen
192 192 192 196 206
Wurzeln im 19. Jahrhundert Die österreichische Tradition Exkurs: Die Rezeption Nietzsches Der Aphorismus im frühen Deutschen Reich
1
63
2.
Der österreichische Aphorismus bis 1938 2.1. Der österreichische Expressionismus 2.2. Franz Kafka 2.3. Konservativismus 2.4. Feuilleton und Kritik 2.5. Robert Musil Der Aphorismus in der Weimarer Republik 3.1. Der konservative Aphorismus 3.2. Der politisch-satirische Aphorismus 3.3. Auf dem Wege zum nationalsozialistischen Aphorismus Zusammenfassung
211 211 219 233 256 261 270 270 293 296 304
III. Nationalsozialismus und Exil 1. Die nationalsozialistische Literaturwissenschaft und der Aphorismus . . 2. Spruch und Aphorismus im Nationalsozialismus 3. Der Aphorismus der Inneren Emigration 4. Aphorismus und Exil 5. Zusammenfassung
308 310 314 334 340 377
IV. Aphorismus und Wissenschaft 1. An den Nahtstellen von Aphorismus und Philosophie 1.1. Marxismus und Kritische Theorie 1.2. Analytische Philosophie, Religionsphilosophie und andere Gebiete 2. Recht, Kunstwissenschaft und andere Wissenschaften 3. Aphorismustheorie und aphoristische Praxis 4. Exkurs: Brevier-»Aphorismen« 5. Zusammenfassung: Der Aphorismus im Spannungsfeld zwischen Wisssenschaft und Literatur
382 383 384
3.
4.
395 422 431 440 447
C.
D E R APHORISMUS IN DER ZWEITEN JAHRHUNDERTHÄLFTE
449
I.
Der Aphorismus in der frühen Bundesrepublik 1. Keine Stunde Null 2. Restauration der Gattung: der christlich-konservative Aphorismus der Adenauerzeit 3. Erbauung und Lebenshilfe 4. Frauenaphoristik II: Nach 1945 5. Tradition und Erneuerung
451 451
II.
In der Nachfolge des österreichischen Aphorismus nach der Jahrhundertwende 1. Der Konservativismus der Nachkriegszeit 2. Zwischen Cafehaus-Tradition und Politisierung
III. Der Schweizer Aphorismus: Vom Einzelgängertum zu Politisierung und Postmoderne
X
459 481 497 508 537 537 553 559
1. 2.
Konservativismus und Einzelgängertum Von der Politisierung der siebziger Jahre bis zur Postmoderne
559 601
IV.
Der 1. 2. 3.
Aphorismus in der DDR Die Unverantwortlichkeit des Aphorismus Affirmative Satire und Aphorismus Aphorismus und Opposition
617 617 624 638
V.
Zusammenfassung: Der deutschsprachige Aphorismus 1945-1970
646
VI. Der Aphorismus in der Bundesrepublik nach 1970 1. Der sozialkritische Aphorismus 1.1. Adorno und die Folgen 1.2. Gesinnungsaphoristik 2. Aphorismus und Satire 3. Auf der Wortspielwiese oder Kandierte Sätze 4. Halt an der Gattung 4.1. In der Nachfolge der klassischen Moralistik 4.2. Hippokrates und kein Ende 5. Der pragmatische Aphorismus: Business, Lebenshilfe, Meditation 6. Trivialaphoristik
649 649 650 659 664 673 685 685 701 705 713
VII. An den Grenzen der Gattung 721 1. Aphorismus und Wörterbuch 723 1.1. Das satirisch-aphoristische Wörterbuch 724 1.2. Andere Formen 731 2. Essay und Aphorismus 736 2.1. Erwin Chargaff 736 2.2. Albrecht Fabri 742 2.3. Max Bense 746 3. Lyrik 747 3.1. Lyrik und Aphorismus 749 3.2. Spruch und Epigramm 767 3.3. Elazar Benyoetz 786 4. Aufzeichnung und Tagebuch 808 4.1. Aufzeichnung, Tagebuch, Journal: theoretische Vorüberlegungen . 808 4.2. Aufzeichnung und Aphorismus 812 4.3. Ernst Jünger 824 4.4. Elias Canettis »Aufzeichnungen« 831 4.5. Wolfdietrich Schnurre 843 4.6. Peter Handkes Journale 848 5. Postmoderner Fragmentarismus 857 5.1. Botho Strauß 859 5.2. Zur Schnittmenge von Postmoderne und Fragment 865 5.3. Der enzyklopädische Konjunktiv: Franz Josef Czernins
aphorismen VIII. Zusammenfassung: Der deutschsprachige Aphorismus 1970-2000
869 878 XI
Bibliographie Α. Autoren: Primär- und Sekundärliteratur B. Allgemeine Sekundärliteratur
885 887 966
Personenregister
981
Sachregister
997
XII
Α . EINLEITUNG
I. Problemlage 1. Zur Gattungsgeschichte Eine Gattungsgeschichte, die sich dem deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert widmet, hat sich zum einen der Theorie von Gattung und Gattungsgeschichte zu vergewissern. Zum andern muß sie an die Praxis einer Reihe von Literatur- und hier insbesondere Gattungsgeschichten anschließen. Wie sie dort einen Standort beziehen muß, so muß sie hier den Anschluß als Einordnung reflektieren. Die Theorie zu gattungsgeschichtlichen Fragen ist seit den siebziger Jahren aufgeblüht, wie es in den einschlägigen Artikeln des neuen Reallexikons (Gattung, Gattungsgeschichte, Gattungstheorie, Genre) referiert wird. Festzuhalten scheint mir, daß ihre Differenzierungen »auf die Unterscheidung zwischen einem systematischen und einem historischen Gattungsbegriff«1 hinauslaufen. Was den historischen Gattungsbegriff betrifft, so kommt Hempfer dort zu dem Schluß: »Historische Gattungen lassen sich am ehesten über den Wittgensteinschen Begriff der >Familienähnlichkeit< beschreiben«, der nur voraussetzt, »daß die Ähnlichkeit zwischen den >Familienmitgliedern< auf jeweils unterschiedlichen Mengen sich unterschiedlich überlappender Merkmale basiert.«2 Das formuliert - im Gegensatz zu dem Idealkonzept der Trennschärfe - eine gerade für den Aphorismus unerläßliche Offenheit. Ich habe in früheren Arbeiten einen solchen Gattungsbegriff zu untermauern versucht und erprobt.3 Voßkamp erläutert Gattungsge-
Die Nachweise gebe ich in einem dreistufigen Verfahren. Ich weise den Titel nicht gesondert in einer Anmerkung nach, wenn er allgemein erwähnt wird und ohne weiteres aus dem Literaturverzeichnis zu entnehmen ist. So bleibt eine Äußerung wie »Mieder hat Pollaks Aphorismen untersucht« ohne Fußnote; der Anmerkungsapparat wird dadurch aufs stärkste entlastet. Wenn ich aus dem Titel zitiert habe, weise ich ihn in einer Kurzform mit Seitenangabe nach; vollständig ist er dann gleichfalls leicht im Literaturverzeichnis zu eruieren. Titel, die nur einmal zitiert werden und in der Bibliographie sinnvollerweise keinen Platz haben (etwa Literaturgeschichten), erscheinen in den Fußnoten in vollständiger Form. »Ebd.« bezieht sich auf die unmittelbar vorangehende Anmerkung; ansonsten wird der Titel in Kurzform wiederholt. 1
2
3
Dieter Lamping: Gattungstheorie. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller herausgegeben von Klaus Weimar. Berlin, New York: de Gruyter 1997. Band I, S. 6 5 8 - 6 6 1 , hier S. 660. Klaus W. Hempfer: Gattung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 6 5 1 - 6 5 5 , hier S. 653. Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 1 4 - 1 9 ; vgl. Friedemann Spicker: Studien zum deutschen Aphorismus des 20. Jahrhunderts, S. 110-124.
3
schichte als »Darstellung der Geschichte institutionalisierter Textgruppen und -reihen [...], die vom Lesepublikum als solche wiedererkannt werden können und ein eigenes Beharrungsvermögen aufweisen, aber zeitlich begrenzte Dauer und Funktion haben.« 4 Insbesondere an das Verhältnis von Einzeltext und gattungsbildender Textreihe in dieser Definition ist für die Gattungsgeschichte des Aphorismus anzuknüpfen. Für Helmich ist es das Gattungsbewußtsein in diesem Sinne, »das als Zeugnis der Kontinuität fungiert«. 5 Es ist die Gattungserwartung, an die ein Text anschließt, gegen die er verstößt, ohne sich schon außerhalb der >Familie< zu stellen, die er gattungszusammenhangsprengend stört. Daraus ergeben sich die konkreten erkenntnisleitenden Fragen, wie sie unten formuliert sind. Von der Literaturgeschichtsschreibung ist im Unterstrom ihres Hauptzweckes auch Methodisches zu lernen. Sie hat bekanntlich seit den siebziger Jahren als Sozialgeschichtsschreibung geradezu eine Konjunktur erlebt. Ihre Autoren diskutieren in aller Regel ihren Begriff von Sozialgeschichte, die sich im Laufe der Zeit - gegen Widerspiegelungstheorie und empirische Literatursoziologie - auch d e m einzelnen Werk wieder mehr zuwenden will und den Schwerpunkt »literarisches Leben« wählt, bis sie in den neunziger Jahren auch explizit von der Sozialgeschichte abrücken. 6 Was den speziellen gattungsgeschichtlichen Z u g a n g darüber hinaus besonders ermutigt: Ein »gattungsbezogenes >Rückgratautorisiert< oder ob das ein Herausgeber tut. Die sensibelsten Grenzbereiche öffnen sich traditionell zum Essay und zum Tagebuch oder Journal hin, in der Form engerer Verschränkung herkömmlicherweise zum Fragment und neuerdings zur Aufzeichnung, vermehrt auch zur Lyrik. Dazu habe ich früher schon theoretische Überlegungen angestellt;27 im vorletzten Kapitel, das den modernen Aphorismus an den verschiedenen Gattungsgrenzen behandelt, werden sie im Einzelnen aufgenommen. Zur Aufzeichnung scheint es mir bis auf weiteres am ertragreichsten, sie als historisch gewandelte Form einer Geschichte des Aphorismus zu subsumieren. Ein Ersatz des Aphorismus durch das Fragment oder ein präzisiertes Nebeneinander zweier Gattungen läßt sich für die Gegenwart so wenig begründen, wie das in der Romantik möglich ist. Als übergreifendes Ergebnis zeichnet sich insgesamt das Ineinander und teilweise Übereinander der Gattungsbegriffe ab, bei Fragment und Aphorismus ohnehin, bei Tagebuch und Aphorismus nicht weniger als bei Fragment und Tage-
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25 26
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Vielleicht bezeichnet Joost den angemessenen mittleren Rezeptionsweg am deutlichsten. Er stellt »Frickes deduktivem Zugriff« meinen »strikt historisch-induktiven Weg« gegenüber und schließt: »beide Arbeiten ergänzen sich ausgezeichnet« (Ulrich Joost: >Schmierbuchmethode bestens zu empfehlen!. Lichtenbergs >SudelbücherAphorismus< nach Nietzsche meines früheren Buches auf und fuhrt es fort (Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 218-234). Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 212—218. Rudolf Fürst: Deutsche Aphorismen. In: Vossische Ztg. Nr. 47, 1905.
tion auf Schlagwort-Niveau wie bei der »Umwertung aller Werte« von Gerhardt-Amyntors27 oder dem »Uebermenschen« von Oertzens;28 sie vollzieht sich unter der kenntnislos-vereinnahmenden und beredten Litotes: »Nietzsche hat gar nicht so unrecht.«29 Natürlich bezieht etwa Ungers Belesenheit auch Nietzsche ein, ohne daß diese Kenntnis aber auch nur die geringste Auswirkung für seine Bunten Betrachtungen und Bemerkungen hätte: »Es ist zu wundern, daß Nietzsche seiner kurz vor seiner geistigen Umnachtung in krankhaftem Größenwahn verfaßten Selbstbiographie Ecce homo nicht das Motto vorgesetzt hat: >Himmel und Erde werden vergehen, aber meine Worte vergehen nicht. (Lukas 21, 33)«Ideen«< einerseits, die »artifizielle D a r b i e t u n g von >IdeenAphoristikdeutsch< noch stärker zu betonen ist als >AphoristikerLebensweisheitLust und Last< oder >begreifen und verstehen< umspielt, während die Aphoristischen Gedanken des Siebenbürgeners Richard Breckner (geb. 1900) von 1929 aufs äußerste verdünnte späte Wiederholung sind. Originell daran ist nur das Inhaltsverzeichnis, das den Titel Spinngewebe mit Die Kunst der Spinne, Die Beute der Spinne usw. konsequent durchführt. Originell kann man freilich auch diesen Beitrag zur Selbstbezüglichkeit nennen: »Aphorismen sind Halbwahrheiten; sie sind die ausfallenden Haare
154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164
80
Ebd., S. 37. Ebd. Emil Gött: »Zettelsprüche«, S. 35. Ebd., S. 23. Ebd., S. 32. Ebd., S. 23. Vgl. »Selbstgespräch«, S. 46. Ebd., S. 27. Emil Gött: »Selbstgespräch«, S. 24. Volker Schupp: Nachwort zu Emil Gött: »Zettelsprüche«, S. 73. Emil Gött: »Zettelsprüche«, S. 23. Ebd., S. 52.
eines Pelzes, der nicht echt zu sein scheint.«165 Die Vergleiche kennzeichnen das Niveau dieser »Gedanken« am ehesten: Ein schönes Mädchen ist wie ein Fliegenpapier, denn wir Männer gehen ihr immer auf den Leim. 1 6 6 Das Leben ist ein Reibeisen, auch unser größtes Glück wird daran zerrieben. 167
Die wahren Rätsel lösen sie, wie man weiß, ohnehin nicht; so lösen sie sich schließlich in Ahnen und Fühlen auf: »Ahne und fühle, und alle Rätsel lösen sich!«168 Die Verse und Gedanken zur Lebensweisheit, die Franz Carl Endres (1878-1954) unter dem Titel Tag des Lebens 1936 veröffentlicht, knüpfen schon mit dem Untertitel deutlich an die Traditionen des 19. Jahrhunderts an. Im Besonderen denkt man bei dem osmanischen Generalstabschef im Ersten Weltkrieg an einen letzten Nachfolger des älteren Generalstabsaphoristikers von Gerhardt-Amyntor. Unter seinen vielen Veröffentlichungen sind neben Türkei-Bezogenem Romane und Gedichte; ab 1926 in der Schweiz lebend, beschäftigt sich der Autor bevorzugt mit Fragen zu Lebenskunst und Philosophie und Ethik des Alltags. In diesem Zusammenhang stehen seine, das Vorwort eingeschlossen, unoriginellen und ehrenwerten Aphorismen. Güte, Gottgläubigkeit und eine Religion der Tat, Pflicht und Arbeit sind als tragende Werte so vertraut wie die Formen der vertraulichen Du-Ansprache und des treuherzigen Imperativs. Auch die Opposition des Seelischen zur materialistisch bestimmten Moderne ist hinlänglich bekannt: »Die furchtbarsten Folgen eines materialistischen Zeitalters: es herrscht die Quantität. Diese aber ist im Seelischen eine belanglose Angelegenheit.«169 Allenfalls überrascht das deklamatorisch Pazifistische und der mitunter konkret politische Verweis: »Die wirklichen Vaterlandsverräter sind diejenigen, die aus dem Patriotismus der andern Geld machen.« 170 1.2. Weltanschauung und Wissenschaft Neben den Vertretern einer traditionellen Moralistik stehen Aphoristiker, deren Werke eine gesonderte Betrachtung sinnvoll macht, sei es, daß ihre Form sie nahelegt, sei es, daß sie sich als Professorenaphoristik ausgliedern lassen, sei es, daß sie sich durch eine alles durchwirkende Weltanschauung wie die Anthroposophie171 abheben: bei dem Freundeskreis Christian Morgenstern, Friedrich Kayssler, Michael Bauer, schließlich auch bei Rudolf Steiner selbst. Auch hier sind Ubergänge zu beobachten, wie an Gött diskutiert; die Querbezüge sind zahlreich. In Ernst und Fortschrittsgläubigkeit sind
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Richard Breckner: Spinngewebe, S. 23. Ebd., S. 34. Ebd., S. 49. Ebd., S. 65. Franz Carl Endres: Tag des Lebens, S. 21. Ebd., S. 26. Der Begriff ist lange vor Steiner von dem Münsteraner Philosophen Gideon Spicker (1840-1912) geprägt; vgl. Gideon Spicker: Philosophische Aphorismen. Hg. von Harald Schwaetzer. Regensburg: Roderer 1998, S. 8.
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Baer-Oberdorf und Kalischer Arno Nadel verwandt. Paul Garin gehört insoweit dazu, als er (ebenso wie Erwin Kalischer) erkennbar und bewußt aus konfessionell bestimmtem Geist heraus schreibt; ihre bevorzugten Formen indessen ordnen beide genausogut den traditionellen Moralisten zu. Garins Der unbekannte Freund (1907) setzt die 1896 unter dem Titel Dulcamara erschienenen Harmlosen und unmaßgeblichen Gedanken über Gott und die Welt, Religion und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, Gesellschaft fort und will wiederum dem Zeitverfall aus katholischem Geiste steuern. Er fühlt sich dabei von einer Kritik, die ihn als »feinen Menschenkenner nach dem Muster von Pascals, La Bruyeres, La Rochefoucaulds, Lichtenbergs Aphorismen«172 bezeichnet, rundum verstanden. Der den Zeitgenossen »aus der Jugend bekannte Spruchdenker«173 hat durchaus den Anspruch, die Reihe der Moralisten über Nietzsche hinaus weiterzuführen. Er variiert einerseits deren klassische Themen: »Herrschsucht ist eine der häufigsten, aber auch wirksamsten Masken der Furcht.« 174 Seine pointierten, nicht selten antithetischen Sätze (»Man irrt selten, wenn man die Menschen für schlecht, oft aber, wenn man sie für dumm hält.«) 175 verstehen sich in dieser Tradition. Andererseits reicht die formale Palette bis zu ungeformten kurzessayistischen Reflexionen. Das vertrauliche »du« verbindet ihn mit den Herzensaphoristikern, auch der bewußt aufgerichtete Gegensatz von Satire und Humor: »Der Satiriker sieht Skelette, wo der Humorist Gestalten sieht.« 176 Inhaltlich zeigt sich die feste weltanschauliche Position nicht nur, wo er Abendgebet und Klosterleben reflektiert, sondern auch dort, wo er sich gegen »die Phantasien der sozialistischen Lehre«177 an eigenwilligen eigenen Beiträgen zur sozialen Frage um 1900 versucht: »[...] Der König ist der bestbezahlte Arbeiter, weil er der gebundenste Sklave Aller ist. [,..]« 178 Walter Rathenau (1867-1922) verfaßt die »vorwiegend in den Jahren zwischen 1903 und 1908« 1 7 9 aufgezeichneten Aphorismen seiner Notizbücher wie auch die daraus erwachsenen Ungeschriebenen Schriften (1908) als einer der führenden Industriellen des Deutschen Reiches, der neben seiner unternehmerischen Arbeit immer auch wissenschaftlich-literarisch tätig ist. Für Kessler »gehört Rathenau zu der in Deutschland sehr kleinen Gruppe von Schriftstellern, die in Frankreich als >Moralisten< bezeichnet werden.«180 Der Gattung gegenüber verhält er sich bewußt und ambivalent. In seinen Notizbüchern fuhrt er den Topos des Eindringlich-Gewaltsamen im Bildbereich des Aphorismus, von Pfeil und Florett bis Splitter und Stachel, nicht eben originell weiter: »Hart, blank, scharf und biegsam, einer edlen Klinge vergleichbar: das ist die Schönheit des Gedankens.«181 Wo er »die überlegene Kraft der mündlichen Aussprache und
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Aus: Die Grenzboten, hier zitiert nach der Verlagsanzeige im Anhang von Geist und Geister (München 1906). Kurt Walter Goldschmidt: Kleinkunst des Gedankens, Sp. 1452. Paul Garin: Der unbekannte Freund, S. 18. Ebd., S. 48. Ebd., S. 26. Ebd., S. 25. Ebd., S. 20. Walther Rathenau: Auf dem Fechtboden des Geistes, S. 13. Harry Graf Kessler: Walther Rathenau, S. 40. Walther Rathenau: Auf dem Fechtboden des Geistes, S. 20.
des Aphorismus« begründet: »Jede lange oder auch nur zusammenhängende Darstellung ist lügenhaft«, 182 ist er offensichdich von Nietzsche abhängig. In den »Ungeschriebenen Schriften« fuhrt er den Grundgedanken weniger grell aus: Wenn der Begriff einer objektiven Wahrheit beseitigt ist, so kann keine Philosophie die Gelehrten- und Kanzlistenambition des Systems mehr haben. Das Philosophem gewinnt an Bedeutung; es gibt selbst für den Einzelnen Wahrheiten verschiedener Stimmung und Zeiten. 1 8 3
In der Einleitung seines philosophischen Hauptwerkes Zur Mechanik des Geistes (1913) heißt es dann vermittelnd, daß zwar jede Darlegung, »die sich der stolzen Gangart der Systematik bedient, in Gefahr gerät, abgetretene oder verbotene Straßen zu durchlaufen«. Aber: »Vermeidet sie das Übel durch Wahl aphoristischer Formen, die im Sprung ihr Terrain erobern, so muß sie bei allem Vorteil leichterer und unverantwortlicher Aussprache auf Vollständigkeit, Abrundung und Klarheit verzichten.« 184 Schon in der 1901 in Maximilian Hardens Zukunft erschienenen Physiologie der Geschäfte bedient er sich des Aphorismus. Heimböckel möchte sie nicht gerade als Aphorismensammlung bezeichnen, »wenngleich sie mit aphoristischen Sentenzen und pointiert zugespitzten Formulierungen durchwoben ist.« 1 8 5 Die Essays zur Welt der Ökonomie, die ihr Vorbild Bacon ausführlichst zitieren, laufen als Summe in Maximen in der klassischen Imperativischen Form aus: »Setze stets voraus, Dein Gegner sei der Gescheitere.« 186 Sie reichen bis zur prononcierten Umdeutung: »Kollegialität heißt Feindschaft« 187 und lassen ihre moralistische Herkunft dort erkennen, wo sie den Bereich des Geschäftlichen überschreiten: »Unfähige Menschen erkennst du daran, daß sie ihre Nachfolger zu unterdrücken suchen.« 1 8 8 Die Aphorismen aus dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts, wie sie zu Lebzeiten Rathenaus als Teil seiner Reflexionen bekannt und (nach einem Privatdruck von 1923) 1953 als Notizbücher unter dem Titel Auf dem Fechtboden des Geistes in ursprünglicher Fassung und Anordnung veröffentlicht werden, enthalten die Keime zu seinen später erschienenen großen geschichtsphilosophischen und kulturkritischen Werken im Umkreis der Lebensphilosophie, besonders der Mechanik des Geistes. Vom »Reiz der Urfassungen« spricht die Einleitung, 189 und auch Hans Fürstenberg legt seiner Studie besonders die Aphorismen des Nachlasses zugrunde, »weil sie in ihrer Beziehung zum gesamten Opus so etwas wie ein >Urfaust< sind.« 1 9 0 Es bedürfte freilich einer detaillierten Ver-
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Ebd., S. 95. Walther Rathenau: Reflexionen, S. 218. Walther Rathenau: Zur Mechanik des Geistes, S. 18. Dieter Heimböckel: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit, S. 91. In seiner detaillierten Besprechung des Textes (S. 90-100) ist von Bacon her die Beziehung zu Hofmannsthals ChandosBrief von besonderem Interesse. Walther Rathenau: Physiologie der Geschäfte, S. 509. Ebd., S. 506. Ebd., S. 507. Vgl. Harry Graf Kessler: Walther Rathenau, S. 4 5 ^ 9 . Max Ruland: Die Kunst des Gedankens. In: Walther Rathenau: Auf dem Fechtboden des Geistes, S. 14. Harry Graf Kessler: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. Mit einem Kommentar von Hans Fürstenberg, S. 400.
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gleichsstudie, die Rathenaus Komposition von 1908 aus den Notizbüchern rekonstruieren müßte und damit einen Einblick in seine literarische Werkstatt gestattete. Geistige Grundvoraussetzung ist nicht anders als bei Garin oder Baer-Oberdorf die »ideelle Verarmung«191 der Zeit. Im Miteinander von Einzelsätzen und kurzen Erörterungen finden sich hier seine Grundgedanken niederlegt, beginnend mit: »Der Inbegriff meiner Philosophie ist die Beseitigung des Zweckhaften.«192 Kernbegriffe wie Seele (»Der weltschaffende Prozeß der Seele ist durch den Traum erwiesen.«),193 Liebe (»Liebe ist nicht das Höchste. Über der Liebe steht Selbstvergessenheit.«),194 Religiosität (»Liebet Gott und die Kreatur, feiert die Sonne und machet Musik: so habt ihr eine Religion.«) 195 werden kernhaft durchdacht, spontane Pointierungen (»Wer lügt, stößt Gott einen Dolch ins Herz.«) 196 aufgezeichnet, auch in definierender Form: Genie ist der Verdichtungspunkt latenter Massenkräfte." 7 Kunst ist unbewußte, wirksame Betrachtung des Götdichen. 1 9 8 Individualität ist Einheit des Schmerzes. 1 9 9 Wahrheit ist innere Harmonie. 2 0 0
Gelegentlich ist auch der vorläufige Notizcharakter unverkennbar: »Analyse der Liebe aus der Psychologie des Verlustes.«201 Dabei gelingen Rathenau Texte, die sich aphoristisch-apodiktisch und in aller Einfachheit festhaken, ohne von echter oder auch vermeintlicher Brillanz zu sein: Das tiefe Wort ist nicht stark. 2 0 2 Der Kunst des Denkens fehlt heute noch der N a m e . 2 0 3
Gegenüber Weltanschauungsaphoristikern wie Marcus und Jaffe zeigt er Distanz vom Akademischen und damit genuin aphoristischen Zugang: »Zum Beweisen sind die Privatdozenten da.« 204 Neben längeren Betrachtungen läßt Rathenau 1908 innerhalb der Reflexionen als Ungeschriebene Schriften, wie im Vorjahr in der Zukunft, 197 römisch numerierte Aphorismen erscheinen, »Philosopheme« eben, zu Beginn in der generell-umfassenden ersten Person Pluralis, dann auch in der fordernden Intimität des Du. Kessler erinnert sich:
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Walther Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S. Ebd., S.
Rathenau: Auf dem Fechtboden des Geistes, S. 48. 38. 45. 90. 93. 25. 57. 85. 50. 70. Vgl. Walther Rathenau: Reflexionen, S. 202. 51. 49. 21. 100.
Das Buch erschien als bibelartiger Riesenquartband auf kostbarem Papier in Zweifarbendruck; seine pomphafte Ausstattung machte viele irre, die es deshalb für die Laune eines Millionärs hielten. Die Aufmachung wies allzu deutlich auf den Wohlstand des Verfassers u n d seine Schätzung seines Werkes hin. Ich erinnere mich des Eindrucks; er war nicht günstig. M a n las nicht, - oder nur flüchtig, - und lächelte. 2 0 5
Heimböckels jüngere Studien schränken dieses Urteil ein. Er sieht Rathenau an einer werkbiographischen Schnittstelle »gleichsam die Summe seiner bisherigen geistigen und literarischen Existenz«206 ziehen und stellt besonders den hier erstmals verwendeten Begriff der Mechanisierung heraus. Was die Ungeschriebenen Schriften insgesamt von den Notizbüchern unterscheidet, das ist ihre Komposition. Die Aphorismen sind zu Reihen geordnet, die bei aller äußeren Verbindungslosigkeit über den inneren Zusammenhang nie im Zweifel lassen, sondern ihn im Kreisen um Zentralbegriffe wie Gesetzmäßigkeit oder Transzendenz deutlich machen und »Weltanschauung« im engeren Sinne sein wollen: »Das Gedächtnis der Welt ist ewig.«207 Von daher nähern sie sich über die Polarität von Furcht und Liebe dem Denken und Charakter des Menschen und handeln im Rahmen des Ausgangsgedankens »In höchster natürlicher Gesetzmäßigkeit leben, ist höchstes Leben« 208 im zweiten Teil Themen der klassischen Moralistik ab, Mut und Sexualität, Gerechtigkeit und Tod, Tugend und Laster: »Um unserer Laster willen werden wir durch unsere Tugenden vernichtet.« 209 »Zur Kritik der Zeit« - so der Titel seines ersten größeren Werkes — und ihres Materialismus, konkret etwa zu Züchtung, Entwurzelung im Denken, Übervölkerung, Eroberung, Rassenmischung und Patriotismus, bietet Rathenau auch bedenklich spekulative Aphorismen: »Eine neue Romantik wird kommen: die Romantik der Rasse. [...]«.210 Die Kunstreflexionen des letzten Teils passen sich dem ein; daß sich der aphoristische Autor im Rahmen einer konservativen Kulturkritik und am Maßstab Goethes gemessen in der Kunst seiner Zeit insgesamt und speziell in ihrer »Literatenliteratur«211 nicht heimisch fühlt: darin ist Rathenau weder neu noch einzig. Das Aphorismenbuch des jüdischen Malers, Musikers und Dichters Arno Nadel (1878— 1943) Aus vorletzten und letzten Gründen (1909) ist in der zeitgenössischen Kritik immerhin mit den gleichzeitig erschienenen Sprüchen und Widersprüchen von Kraus verglichen worden: »Schwer sind krassere Gegensätze denkbar«; 212 der Rezensent Stössinger charakterisiert den Autor dabei zutreffend: »mit Verantwortlichkeitsgefuhl, das dem Aphoristen am leichtesten fehlt, aber wenig plastisch und schlagkräftig.«213 Dann ist es wie so viele
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Harry Graf Kessler: Walther Rathenau, S. 143f. Dieter Heimböckel: Walther Rathenau und die Literatur seiner Zeit, S. 160. Walther Rathenau: Reflexionen, S. 212. Vgl. als ein Beispiel für die Parallelen Rathenau: Auf dem Fechtboden des Geistes, S. 62. Ebd., S. 224. Ebd., S. 225. Ebd., S. 237. Ebd., S. 269. Felix Stössinger: Spruchweisheit, Sp. 188. Ebd., Sp. 189.
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andere in Vergessenheit geraten. In größeren Literaturlexika lebt Nadel noch fort; von der Ideenwelt einer esoterischen Gottesvorstellung und den mystischen Erfahrungen des Ostjudentums ist dort die Rede, der Aphoristiker wird nicht einmal erwähnt. 214 Nadeis Einleitung gibt in Umrissen ein geistiges Gesamtkonzept vorweg. Da heißt es in Erläuterung des Titels: »Das Ganze ist eine Zweiheit« und: »In den letzten Gründen, da ist vielleicht Einheit«; 215 später lautet eine seiner Definitionen, zumindest sprachlich wünschenswert klar: » P h i l o s o p h i e ( D e f i n i t i o n ) . Die Philosophie ist die Darstellung der Beziehungen zwischen Kosmos und Chaos: zwischen vorletzten Gründen und letzten Gründen.« 2 1 6 In dieses Konzept fügen sich die 729 Aphorismen ein, von einem Satz bis zu einer Reflexion von zwei oder drei Seiten reichend: »Im Geiste dieser Ideen sind die folgenden Aphorismen geschrieben.« 217 Das kennzeichnet seine Aphoristik und macht sie zu einem Prototyp der Weltanschauungsaphoristik. Neben dem übermächtigen Nietzsche ist es Schopenhauer, der - auch im Widerspruch (im vielfältigen Plädoyer fiir den Optimismus) 2 1 8 - im Hintergrund steht; Goethe ist für Nadel wie für viele andere Aphoristiker seiner Zeit der Fixstern, 219 ohne daß er sich aber speziell auf die Maximen und Reflexionen bezöge; auch Lichtenberg ist ihm offensichtlich gut bekannt. 2 2 0 Die Aphorismen selbst entwickeln sich dabei vom Nachvollziehbaren, auch Trivialen in den Kapiteln Vom Schaffenden, Psychologisches, Religion — Moral, Von Weisheit und Kunst und Vom Menschen immer stärker zur Spekulation (Zur Erkenntnis, Vom Chaos) und schließlich zum philosophischen Gedicht. Auch ihre Sprache ändert sich auf diesem Wege. Zunächst bleiben sie nach solcher Einleitung auch thematisch überraschend konventionell. Schwerpunkte sind Kunst und Literatur, Religion und Moral sowie der Mensch und seine Psychologie. Nadeis Ästhetik umkreist den Gedanken der Originalität und das >Wesen< der Kunst und formuliert Kunst-Definitionen, selten überraschend: »Kunst kommt her von Müssen und nicht von Können.« 2 2 1 »Die wichtigste Aufgabe des Schaffenden ist: Die Rettung der menschlichen Ideale. [...]«, 2 2 2 heißt es >idealistischAphorismen< in dem Untertitel dieses Buchs irre. >Aphorismen< sind bewußt geformte, zugeschliffene Formeln, Glasstücke, weithin spiegelnd, körperlich kleinen Randes, aber vermögend, weite Horizonte zu ergreifen, vorwärts und rückwärts in die Zeit und aufwärts und niederwärts in den Raum. 2 9 9
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Michael Bauet: Christian Morgensterns Leben und Werk, S. 298. Ebd., S. 301. Zit. nach Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Band 5, S. 703. Ebd., S. 702. Ebd., S. 704. Ernst Lissauer: Von der Sendung des Dichters, S. 128.
Die Frage, ob Morgenstern als ein »Meister der Form« ihre Erneuerung geleistet habe oder sich mit seinem »geistlichen Tagebuch«300 eher am Rande der Gattung bewege, ist offen geblieben. Lissauer selbst gibt zwar in der Kontrastierung des Gastlichen mit dem Geist reichen oder Geistvollen noch einen Hinweis, entfernt sich aber im Grunde von ihr. Er vergleicht den »Ordensstifter ohne Orden«301 mit Hebbel und vor allem mit Goethe, zu dem die nächste Verwandtschaft bestehe, und schwenkt schließlich auf die Linie Bauers ein: »kein Buch, sondern Leben unmittelbar, Wesen dargeboten gleichsam als pure Substanz.«302 Loveceks Dissertation von 1950 interpretiert das Werk im steten Seitenblick auf Nietzsche und Hille und attestiert Morgenstern eine gewisse Sonderstellung, da er nicht wie andere seiner Zeitgenossen die Motive und Methoden der deutschen Aphoristiker aufnehme. Lovecek betrachtet ihn nicht als »Vollaphoristiker«,303 eine Wertung, die sich dadurch relativiert, daß sie einseitig unter dem Einfluß des französischen Stilideals vorgenommen wird. Die Verbindung mit der Lebensphilosophie, die er für ausschlaggebend hält, bleibt pauschal; daß Morgenstern bis 1905 »als Menschen- und Selbstbeobachter unter die Lebensphilosophen«304 zu rechnen sei, bedarf mehrfacher Prüfung. Lassen Selbstbeobachtung und Introspektion überhaupt noch Raum fur einen Menschenbeobachter, der etwa am Menschenbeobachter Lichtenberg zu messen wäre? Ist nicht eine Differenzierung in Beobachtung und Betrachtung gerade fur Morgensterns Werk fruchtbarer? Seit 1950 finden sich tatsächlich nur vereinzelte Äußerungen zu seinem aphoristischen Werk. Die literaturwissenschaftliche Enthaltsamkeit steht in auffälligem Kontrast zur Wirkung der Stufen, die nicht nur regelmäßig wichtiger Bestandteil der deutschen Anthologien sind, sondern vereinzelt auch in ausländische Sammlungen Eingang finden. Fieguth widmet ihm in kluger Auswahl ein großes Kapitel,305 übergeht ihn aber im Nachwort. Fricke attestiert ihm »wirkliche Kühnheit des Gedankens« und eine »fast prophetisch erscheinende Hellsicht«306 und sieht ihn mit manchen sprachanalytischen Äußerungen in der Nähe Wittgensteins. Die aufgeworfenen Fragen lassen sich nur über eine detaillierte Charakterisierung von Morgensterns Aphorismenbuch angehen; pauschale Einschätzungen verfangen nicht. Es ist formal höchst variabel und reicht in Einzelfällen von Kurzformen unter Satzlänge (»Der Krug des Nichts, aus dem alle Künstler schaffen.«),307 die Metaphern (»Die Liebschaften der Winde«) 308 und Vergleiche bilden (»Er saß da wie ein Stück gefrorener Blitz.«)309 und damit zuweilen an Lichtenberg erinnern, bis zu kürzeren Betrachtungen über italienische Kirchen im Kapitel »Kunst«; vereinzelt finden sich auch kurze Dia-
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Ebd., S. 131. Ebd. Ebd., S. 133f. Josef Lovecek: Morgenstern als Aphoristiker, S. 26. Ebd., S. 27. Gerhard Fieguth (Hg.): Deutsche Aphorismen, S. 191-198. Harald Fricke: Aphorismus, S. 59. Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Band 5, S. 84 (Nr. 329). Ebd., S. 65 (Nr. 239). Ebd., S. 64 (Nr. 232).
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löge. Spezifische aphoristische Formen wie die Definition (»Der Ironiker ist meist nur ein beleidigter Pathetiker« 310 ; »Philosophien sind Schwimmgürtel, gefügt aus dem Kork der Sprache« 311 ) oder die Maxime (»Prüfe gelegentlich deine Adjektiva nach.« ) 3 1 2 finden sich selten, und auch mit dem Wortspiel (»Gymnaseweis«, 313 »Diletalent« 314 ) hält sich Morgenstern äußerst zurück. Das kann für einen Autor, für den das Spiel so zentral ist wie fur ihn, nur bedeuten, daß er es hier bewußt vermeidet: ein erstes wichtiges Indiz dafür, wie er in Abhebung gegen aphoristische Grundtendenzen seiner Zeit seine Aphoristik verstanden wissen will. Das ganze Buch ist von der - unpointierten - Tagebuchaufzeichnung bestimmt, auch in seiner formalen Vielfalt, aber die durchschnittliche Form der Notizen ändert sich innerhalb dieser Bandbreite in den einzelnen Kapiteln stark. Sie sind chronologisch geordnet und reichen von 1891 über die mystische Kehre 1905 und die Hinwendung zu Steiner 1909 bis zum Jahr 1913. So gleichförmig sie aber äußerlich angelegt sind, so verschieden sind sie ihrer inneren Gestalt nach. Wie fur die Aphoristiker typisch, mangelt es auch bei Morgenstern nicht an Bemerkungen, die die eigene Beschäftigung mit der Gattung reflektieren. Daß es ihm dabei - gegen das allgegenwärtige »Schlagwort« 315 - »um Sinn und Wert des einzelnen Wortes« 3 1 6 geht, ist dem Lyriker gegenüber noch keine besondere Kennzeichnung. 1905 hingegen beschreibt er seine diaristisch-aphoristische Tätigkeit in einer Weise, die nachgerade als Paraphrase zu Lichtenbergs »Pfennigswahrheiten« erscheint. Wenn es dort heißt: »Schmierbuch-Methode bestens zu empfehlen. Keine Wendung, keinen Ausdruck unaufgeschrieben zu lassen. [...]«, 3 1 7 so schreibt sein Leser: »Jeden Tag seines Lebens eine feine kleine Bemerkung einfangen - wäre schon genug fur ein Leben.« 3 1 8 Eine kleine, aber wichtige Akzentverschiebung ist aber schon hier darin zu sehen, daß für ihn der Blick auf das eigene Leben ausschlaggebend ist, nicht Ersparnis von Literatur: »Der eine lebt, der andere schreibt sich aus. Das erste Dokument der Kultur war - ein Tagebuch.« 3 1 9 Und im Jahr darauf heißt es in einer längeren Betrachtung im Zusammenhang von Krankheit und geringer Lebenserwartung: »[...] Mein Widerwille nämlich gegen richtiges, zusammenhängendes >Schreiben< ist allzu groß. [...]«. 3 2 0 Dabei ist für ihn ganz im Sinne des Impressionismus die Stimmungserzeugung von besonderem Gewicht: »An den Glockensträngen der Stimmungen.« 3 2 1 Überdies ersetzt sie die alte Bildungsbeflissenheit; man darf darin eine Absage an den Aphorismen-Schatz im Sinne Büchmanns 3 2 2 sehen: »Zitate sind Eis für jede Stimmung.« 3 2 3
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Ebd., S. 274 (Nr. 1265). Ebd., S. 152 (Nr. 639). Ebd., S. 154 (Nr. 648). Ebd., S. 148 (Nr. 616). Ebd., S. 150 (Nr. 625). Ebd., S. 159 (Nr. 681). Ebd., S. 160 (Nr. 685). Georg Christoph Lichtenberg: Schriften und Briefe. Band 1, S. 639 (F 1219). Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Band 5, S. 241 (Nr. 1089). Ebd., S. 110 (Nr. 465). Ebd., S. 41 (Nr. 126). Ebd., S. 256 (Nr. 1161). Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 179f. Christian Morgenstern: Werke und Briefe. Band 5, S. 157 (Nr. 667).
Spezifischer fur ihn und zugleich echt aphoristischen Geistes sind seine selbstreferentiellen Aphorismen dort, wo es um »Erkennen« geht: »Lebendiger Irrtum ist besser als tote Wahrheit.« 324 Mit dem Vorzug der Lebendigkeit stehen sie hier ebenso in der Mitte der Gattung wie mit der Betonung der Totalität von Geist und Seele dort, wo sie Systematiker und Nichtsystematiker gegenüberstellen: »[...] Der Nichtsystematiker wendet sich mehr an die - Seele. Hegel - Nietzsche.«325 Nichts anderes gilt für die Akzentuierung von Skepsis und Zweifel: »Sei nur Skeptiker, es gibt keinen besseren Weg als den fortwährenden Zweifeins. [,..]«. 326 Was aber Morgenstern hier eigentlich charakterisiert, das ist die bezeichnende Wende, die er begründend vornimmt: »Denn nur, wer die Relativität jeder Meinung eingesehen hat, sieht zuletzt auch die Relativität dieser Einsicht ein - und schwingt sich endlich vom letzten Erdenwort in - sich selbst zurück.« 327 Die Skepsis auf sich angewandt, hebt sich auf; Introspektion und letztlich Schweigen scheinen in dieser riskanten intellektuellen Volte die logische Folge. Seine Aufzeichnungen gehen immer in extremer Weise von »sich« aus, pointiert ausgedrückt: »Uber etwas schreiben heißt, sich mit etwas überschreiben.«328 So etwas wie >Objektivität< oder auch nur das Bemühen darum wird man hier zuallerletzt erwarten dürfen: »[...] Eklektiker war ich nie. Nie zeichnete ich etwas auf, wozu ich nicht durch meine ganze Natur und Entwicklung gekommen wäre [...]«. 329 Genau diese Entwickelung wird näher zu betrachten sein; sie markiert nicht umsonst den Untertitel seiner Stufen. Wer Morgensterns Aphorismenbuch unter Beachtung seiner Selbstdeutung nun angemessen detailliert zu charakterisieren unternimmt, der tut gut daran, von den Rändern im nicht-äußerlichen Sinne her vorzugehen: von der Mitte des Buches aus, die nicht das Zentrum ist. Die Aphorismen im Kapitel mit dem klassischen Etikett Lebensweisheit sind alle von ebenso klassischer Kürze. Und - boshaft gesagt - auch von klassischer Bekanntheit, weltbewegend Neues findet sich hier nicht. »Weisheit ist eine Sache des Temperaments, darum kann man Weisheit nicht lehren, nur zeugen.« 330 Das lehren die Aphoristiker durch die Zeiten hindurch. Und wenn er auch die Auffassung mit ihnen teilt: »Alles Festlegen verarmt«, 331 so darf man doch auch bei ihm die übliche Unverbindlichkeits-Schwäche über dem graphisch annoncierten Pointierungswillen nicht übersehen: »In vielen Fällen wäre der gerade Weg der kürzeste - zum Verderben.«332 Sanft belehrende Ermahnung (»Was du andern zufügst, das fügst du dir zu.«) 333 und ein milder Optimismus (»Der Himmel ist groß, es ist immer etwas Blau zu finden.«)334 gesellen sich trivialem Relativismus bei: »Alle Dinge haben zwei Seiten, die simple und die
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Ebd., Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. 288 (Nr. 1351). S. 309 (Nr. 1443). S. 295 (Nr. 1383). S. S. S. S. S. S. S.
115 (Nr. 488). 53 (Nr. 184). 233 (Nr. 1031). 232 (Nr. 1023). 239 (Nr. 1074). 236 (Nr. 1051). 229 (Nr. 995).
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unerschöpfliche.«335 »Es gibt in Wahrheit kein letztes Verständnis ohne Liebe«:336 Das paßt nahtlos zur Herzensaphoristik der Güte und Liebe, steht hier aber doch im Kontext einer ganzen, eigenen Weltanschauung. Ebenso oft beschworen ist der Zusammenhang von Leid und (Selbst-) Erfahrung, auch er bekommt freilich im Ganzen einen persönlichen Akzent: Jede gründliche Erfahrung muß mit eignem Leben bezahlt werden - und fremdem. 3 3 7 Jeder muß sich selbst austrinken wie einen Kelch. 338
Auch im Kapitel Erziehung Selbsterziehung hat er kaum Originelles zu Ehrgeiz und Furcht, zur Funktion des Übens, des Verstärkens und Abschwächens oder gegen Selbstzufriedenheit beizutragen. Dieses Beispiel fur die insgesamt mediokre Gutherzigkeit ist nicht der bösen Willens zitierte Ausnahmefall: »Wir sind allzumal träge, daraus entspringen die meisten Übel. [,..]«. 339 Das allermeiste ist verdächtig (ver-)traut: »Die kleinen Schwächen legt man am schwersten ab [,..]«. 340 Geht der folgende Aphorismus etwa über einen Gemeinplatz hinaus: »Sich immer am Leben korrigieren«?341 Psychologisches bleibt nicht minder in gewohnten Bahnen, ein bißchen auch ein Gemischtwarenladen, der von Rauchen und Matschen, Wirtsstuben, Fliegen, bücherlesenden Geistern und verlorenen Nadeln, von Schelten und Reisen handelt. Er stärkt nicht nur das typisch deutsche »Tiefe«-Klischee: Je tiefer einer wird, desto einsamer wird er [...]. 3 4 2 Die Mutter der Tiefe heißt: Schuld. 3 4 3
Er fuhrt auch exakt die misogyne Linie der zeitgenössischen Aphoristiker fort (wenn vereinzelt auch andere Töne vernehmbar sind): »Ein Weib ohne Bescheidenheit ist dem Manne das Greuel aller Greuel.«344 Die Frau zieht den Mann zu sich hinab: »Der Mann hat sein Ziel und das Weib hat seinen Sinn.« 345 »Das Weib mischt uns ins Leben hinein«: 346 Dieses »Leben« bleibt in solchem Zusammenhang von höchst zweifelhafter Konnotation. »Einander kennenlernen heißt lernen, wie fremd man einander ist«: 347 Über
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Ebd., S. 230 (Nr. 1006). Ebd., S. 235 (Nr. 1045). Ebd., S. 235 (Nr. 1049). Ebd., S. 235 (Nr. 1048). Ebd., S. 250 (Nr. 1137). Ebd., S. 249 (Nr. 1139). Ebd., S. 245 (Nr. 1106). »Gemeinplätze« erkennt schon Beheim-Schwarzbach neben »Genieblitzen« und »kaum brauchbaren Einfallen« darin (Martin Beheim-Schwarzbach: Christian Morgenstern, S. 92). Daß sie ihn dessenungeachtet stark an Novalis' Fragmente erinnern, kann ich nur flir einen kleinen Teil von ihnen nachvollziehen. Ebd., S. 271 (Nr. 1244); vgl. S. 216 (Nr. 932). Ebd., S. 212 (Nr. 911). Ebd., S. 256 (Nr. 1164). Ebd., S. 260 (Nr. 1189). Vgl. S. 269f. (Nr. 1239). Ebd., S. 276 (Nr. 1279). Ebd., S. 265 (Nr. 1219).
dieses durchschnittliche Erkenntnis-, auch Sprachniveau erhebt sich Morgenstern hier nur ausnahmsweise, in einem schönen Bild: »Die meisten Menschen verdunsten einem wie ein Wassertropfen in der flachen Hand«, 348 in einem anregend paradoxen Gedanken: »Der Geist legt den Charakter des Menschen auseinander in seine Teile, aber diese Teile gibt es in Wirklichkeit nicht.« 349 Erst recht muß man Morgenstern Qitwillig und gut herzig statt gut dort nennen, wo er Ethisches sammelt, unzweifelhaft von hohem, auch pathetischem Selbstanspruch: »Nur wer sich selbst verbrennt, wird den Menschen ewig wandernde Flamme.« 350 Er spricht sich scharf gegen leeres Ästhetentum und andere modische Zeiterscheinungen und für einen unbedingten geistigen Elitarismus aus, der ihn allerdings nicht an der All-Liebe hindert; er schwärmt: »Enthusiasmus ist das schönste Wort der Erde«351 und scheut dabei Trivialitäten nicht, wie wir sie von den poetae minores unter den Aphoristikern zur Genüge kennen: »Beim Menschen ist kein Ding unmöglich im Schlimmen wie im Guten.« 352 »Der Welt Schlüssel heißt Demut. [,..]«: 353 Das ist primär die generelle Aussage einer Weltanschauung, die auch gegen Autoren gerichtet ist, die aus Sexualität, Geld oder Macht de verbo Aufschlüsse genuin aphoristischer Art gewinnen. Das reicht bis ins offen Pastorale, das eine ästhetische Beurteilung als unangemessen abweisen würde: Es gibt nur einen Fortschritt, nämlich den in der Liebe; aber er fuhrt in die Seligkeit Gottes selber hinein. 3 5 4 Der Geist baut das Luftschiff, die Liebe aber macht gen Himmel fahren. 3 5 5
Politisches Soziales bringt einen realistisch-konkreten Aspekt ein, der angesichts der ethisch-religiösen Fundierung Morgensterns erstaunt, innerhalb der Aphoristik seiner Zeit aber gleichfalls fest verortet ist. Zum deutschen Nationalcharakter 356 etwa kann man wie zum Thema Frau Ähnliches bei Baer-Oberdorf lesen. Von der Sache her interessant ist sein höchst ambivalentes Verhältnis zum vorwiegend destruktiv interpretierten Judentum. Vereinzelt scheint er gar Kraus verwandt: »Manche Leute müssen über ihre Dummheit durchaus öffentlich quittieren.« 357 Im Wesentlichen läuft es auf eine - auch nicht eben unvertraute - »Kritik der Zeit« 358 hinaus: »Der moderne Mensch >läuft< zu leicht >heißmännlichen< Generalitätsgestus für sich in Anspruch: Eine gescheite Frau hat Millionen geborener Feinde: — alle dummen Männer. 5 7 3 Es gibt mehr naive Männer als naive Frauen. 574
Während sie auch dialektisch vorgeht (»Wo wäre die Macht der Frauen, wenn die Eitelkeit der Männer nicht wäre?«) 5 7 ' und vom Standpunkt des schwach gehaltenen Geschlechts pointierte Sprachkritik übt, die zwischen dem »jedermann« einer Frau und dem »Jeder Mann« eines Mannes 5 7 6 unterscheidet, verstärkt Phia Rilke nur die gängigen Klischees: »Der Instinct des Weibes sieht meistens schärfer, als die Vernunft des Mannes.« 5 7 7 Andererseits übertrifft sie die ältere Autorin wohl zuweilen in ihrer Schärfe. »Manche Trauung ist nur - das Gebet vor der Schlacht« 578 gibt ein wahrhaft kräftig desillusioniertes Bild. Auf der Grundlage durchaus unterschiedlicher Erfahrungen bietet Ebner-Eschenbach die wohl inhaltlich, aber weniger formal »glückliche« Antithese: »Soweit die Erde Himmel sein kann, soweit ist sie es in einer glücklichen Ehe.« 579 Sie bleibt im Ganzen ambivalent, ohne im Übrigen hier literarisch stärker zu überzeugen: »Manche Ehen sind ein Zustand, in dem zwei Leute es weder mit noch ohne einander durch längere Zeit aushalten können.« 5 8 0 Zur Liebe weiß Phia Rilke ein kleines Wortspiel in überdies eingeschränkter Geltung beizusteuern: »Die Grundsteine so mancher Liebe sind - Brillanten.« 581 Der Aphorismus bleibt so trivial schwach wie der folgende
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Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, etwa S. 50, Nr. 52 mit der Herz-Verstand-Opposition, S. 66, Nr. 38 mit dem Gegensatzpaar Ehre und Unschuld, auch S. 38, Nr. 83. Ebd., S. 32, Nr. 47. Ebd., S. 46, Nr. 30. Ebd., S. 28, Nr. 30. Ebd., S. 93f. Phia Rilke: Ephemeriden, S. 19. Ebd., S. 27. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 47, Nr. 34. Ebd., S. 96. Phia Rilke: Ephemeriden, S. 12.
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in seinem gedankenarmen Idealismus: »Die wahre Liebe kann verwundet, aber nicht getödtet werden.« 582 Das mag sein; ein solcher Aphorismus jedenfalls ist nicht erst von dem dann seinerseits wiederum trivialisierten Wortspiel »Die Ware Liebe« getötet worden. Ebner-Eschenbach hingegen fängt das Idealistische mit Witz auf, ohne es preiszugeben: »An Rheumatismen und an wahre Liebe glaubt man erst, wenn man davon befallen wird.« 583 Ihr Aphorismus geht von demselben Grundgedanken aus, vermittelt aber die Idealität mit der Realität und wird dadurch statt zu einem schönen lebensfremden Motto, einer Sprachfahne von rhetorischer Emotionalität zu einem Zeugnis der Menschenkenntnis: »Die Liebe überwindet den Tod, aber es kommt vor, daß eine kleine üble Gewohnheit die Liebe überwindet.« 584 Wo es wie bei Phia Rilke in aller Regel nur um hohe literarisch vermittelte Gefühle geht, erreicht Ebner-Eschenbach durch den überraschend neuen Gedanken der Probe noch einmal Wahrhaftigkeit in der Tat: »Wer auf meine Liebe nicht sündigt, glaubt nicht an sie.«585 Auch wenn Ebner-Eschenbach sich nicht immer über die nur gute Absicht erhebt (»Ein wahrer Freund trägt mehr zu unserm Glück bei, als tausend Feinde zu unserm Unglück.«), 586 auch wenn Phia Rilke nicht immer dabei stehen bleibt (»Unser größter Gewinn beruht zuweilen im Verluste.«):587 Insgesamt reicht sie auch in ihren sonstigen Themen, die Leid, Schmerz und Last dominieren, bei weitem nicht an die ältere Landsmännin heran. »Die Zahl unserer wahren Freunde läßt sich nur im Unglück zusammenstellen«:588 Das kommt über die Sprichwortweisheit nicht hinaus, daß man Freunde in der Not erkennt, wie sie die einschlägigen Lexika dutzendfach verzeichnen. 589 Bei Ebner-Eschenbach verbindet sich dieselbe schlichte Lebenserfahrung zumindest mit einem originellen Nachsatz (»Es gibt wenig aufrichtige Freunde - die Nachfrage ist auch gering.«), 590 wenn sie nicht, sprachkritisch-dialektisch, diese einfache Erfahrungsebene ganz überspringt: »Den Feind unserer Marotte unseren Freund nennen, heißt gescheit sein.«591 Mit diesem Rückschritt innerhalb einer Aphoristik von Frauen — wenn man denn eine solche isolieren will - steht Phia Rilke nicht allein. Edle Gesinnung statt Pointensucht kennzeichnet exemplarisch die Erlebten Gedanken (1909) Ludwig Ecards (1858-1909). Sie zitieren die stereotype Beglaubigung des Aphorismus und verknüpfen Leben und Denken, Erlebtes und Erdachtes im Titel, um Leser und Käufer von vorneherein nicht dem Mißverständnis auszusetzen, hier gehe es um - blutleere, herzlose - Intellektualität. Am ehesten gliedern sie sich damit der Innerlichkeitsaphoristik an. Die Ekloge des
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Ebd., S. 58. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 51, Nr. 55. Ebd., S. 64, Nr. 30. Ebd., S. 76. Ebd., S. 39, Nr. 89. Phia Rilke: Ephemeriden, S. 18. Ebd., S. 19. Karl Friedrich Wilhelm Wander: Deutsches Sprichwörter-Lexikon. Ein Hausschatz für das deutsche Volk. Leipzig: Brockhaus 1862-1880. 1. Band, Sp. 1172ff„ Nrr. 128, 130, 131, 132, 151, 171,183, 195, 199, 222, 226, 230, 231, 232, 233, 252, 253, 260, 261, 264, 273 u.ö. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 82, Nr. 28. Ebd., S. 63, Nr. 19.
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zeitgenössischen Rezensenten für dieses »exzeptionelle Buch« 5 9 2 ist da aufschlußreich, wo sie die Trivialität dieses Hehren verkennt, es gegen die Trivialität des billigen Witzes ins nachgerade Geniale erhebt und damit implizit nur dokumentiert, wie präzise diese Aphoristik die bürgerliche Ideologie des Kaiserreiches widerspiegelt. Und wenn er es ein Buch »voll Menschentiefe und Innenreichtum« 593 nennt, verwendet er die >Kennwörter< »Tiefe« und »Innerlichkeit« dankenswerterweise expressis verbis. Im Mittelpunkt stehen Reflexionen, die das Verhältnis der Geschlechter und insbesondere die Rolle der Frau umkreisen, erklärter- und begreiflichermaßen um den Aspekt der Mutterschaft erweitert. Was diese Aphorismen freilich durch den Grad ihrer - modern gesprochen - political correctness bewirken könnten, das büßen sie durch den Mangel an Konzision wieder ein. Sie beklagen durchweg »die ungleiche Bewertung beider Geschlechter vor dem Gesetz«, 5 9 4 bekommen darin stellenweise aber etwas eher Traktathaftes. »[...] Das Weib ist ein Produkt seiner Erziehung genau so wie der Mann. [...]«, 5 9 5 heißt es hölzern, wenn auch richtig in einem kurzen Text, der von Sokrates bis zum »Adel seiner [des Weibes] Natur« führt. Einer Antithese wie »Das Weib sucht, was es hebt, der Mann, was ihm gefällt. [...]«, 596 die, was immer man davon halten sollte, doch aphoristisch griffig ist, wird eine relativ weitschweifige Erklärung nachgeschoben. Wo mit dem Tarnbegriff der Ehre verdeckt über die Bedeutung der Jungfräulichkeit gestritten wird, geht Ecard inhaltlich gegenüber Ebner-Eschenbach (»Die Unschuld des Mannes heißt Ehre; die Ehre der Frau heißt Unschuld.«) 5 9 7 einen entscheidenden Schritt weiter: »Es gibt nur eine Geschlechtsehre: die menschliche. Mann und Weib haben nicht eine verschiedene Ehre, sondern dieselbe: [...]«. 5 9 8 An anderer Stelle wiederholt sie sie nur: »Die Männer sind naiver wie die Frauen, weil sie zur F a l s c h h e i t nicht angehalten wurden.« 5 9 9 Das lautete bei Ebner-Eschenbach schlicht so: »Es gibt mehr naive Männer als naive Frauen.« 6 0 0 Eine ideologische Einschätzung müßte wohl differenzieren. Die Ambivalenz von Schwäche und Stärke, die auch in das Verhältnis der Geschlechter hineinwirkt, wird aufgedeckt; einerseits heißt es: »Gar manchem Weib wohnt S k l a v e n s i n n inne, zu dem es von Kind an erzogen wurde. [...],« 601 andererseits weiß sie: »Damit der Mann nicht über die Stränge schlagen kann, beschneidet man dem Weibe die Flügel. Die S t ä r k e des Mannes ist des Weibes Schwäche. Es muß schwach sein, damit er stark sein kann.« 6 0 2 Dagegen würden ihre geistigen Urenkelinnen wohl zu Recht energisch erfahren wollen, was sie sich unter »des Weibes prekärer natürlicher Beschaffenheit« 603 vorstellt.
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Kurt Walter Goldschmidt: Kleinkunst des Gedankens, Sp. 1451. Ebd., Sp. 1450. Ludwig Ecard: Erlebte Gedanken, S. 2. Vgl. dazu auch z. B. S. 91. Ebd., S. 30. Ebd., S. 38. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 66, Nr. 38. Die einzigen anderen »Ehren« der Frau sind fiir sie fraglos »die, die sie im Reflex der Ehren ihres Mannes genießt« (S. 74, Nr. 91). Ludwig Ecard: Erlebte Gedanken, S. 29. Ebd., S. 72. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 46, Nr. 30. Ludwig Ecard: Erlebte Gedanken, S. 97. Ebd., S. 64. Ebd., S. 27.
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Hilfe in einem unbefriedigenden Zustand sieht Ecard in der Bildung und in einer veränderten, aber unverändert prononciert bürgerlichen Erziehung: »Im Bürgertum gipfelt die Zivilisation. [...]« 604 Vor allen Dingen aber setzt sie einen anderen thematischen Akzent in einem treuherzigen Bekenntnis zur - weiblichen - Religiosität. Demgegenüber war Ebner-Eschenbachs überlegener Spott schon mehr als einen Schritt weiter: »Die Männer sind auf allen Gebieten die Führenden, nur auf dem Wege zum Himmel überlassen sie den Frauen den Vortritt.«605 Neben diesen Schwerpunkten entwikkeln Ecards Gedanken Reflexionen zum moralistischen Grundbestand; auch bei ihr sind dabei Leiden und Resignation betont: »Es fuhren verschiedene Wege zur Seligkeit, die alle in den einen münden: die R e s i g n a t i o n . « 6 0 6 Zu den >unweiblichen< Themen, die sie streift, Recht und Arbeit, Staat und Nation, ist der neutestamentliche Fundamentalismus wohl doch eher der inadäquate Ansatz: »Eine Nation haßt die andre. Liebten sich die Menschen, die Nationen könnten sich nicht hassen.«607 Die Texte, die Isolde Kurz (1853—1944) unter dem Titel Im Zeichen des Steinbocks (1905) veröffentlicht, haben ein deutlich anderes Gepräge. Unter dem treffenden doppelten Untertitel Aphorismen und Gedankengänge sind sie formal sehr offen gehalten. Einzelsätze von sentenzenartiger Kürze, aber kaum mit pointierender Intention wechseln mit Abschnitten, die nicht selten wie bei Nietzsche mit einer Überschrift versehen sind und vereinzelt bis zum Kurzessay reichen. Der innere Zusammenhang der Gedanken ist deutlich, im Großen, das Abschnitte wie Vom Kinde oder Von der Sprache bezeichnen, wie aber auch im Kleinen. Der Inhalt schafft sich die jeweilige Form, die ermüdende Monotonie etwa eines Baer-Oberdorf wird dadurch vermieden. Die Bezugspunkte für Kurz sind die Griechen, Italien, wo sie fast dreißig Jahre lebte, auch die indische Philosophie, thematische Schwerpunkte neben dem menschlichen Miteinander (Allgemeines vom Menschendasein,608 Unter Menschen)609 das Verhältnis der Geschlechter und insbesondere die Kunstreflexion. Auch sie berichtet Aus der Welt des Herzens610, ohne daß man sie deshalb schon ohne weiteres den Aphoristikern des Herzens beigesellen könnte. Dazu ist ihre Aphoristik nicht einseitig genug auf das edle Innere abgestellt, wiewohl sie im Übrigen deutlich gegen naturalistische Formauflösung und Politisierung, gegen die modernen Tendenzen überhaupt gerichtet ist und eine idealisierende, romantizistische Weltsicht und Kunstauffassung zu erkennen gibt. Sie weiß sich auch sprachlich in einer Spätzeit. Wenn Kurz wie üblich Menschenkenntnis aus der Selbstbeobachtung ableitet, so bedeutet das für sie, oft allzu sehr in ihrem Kreise befangen zu bleiben, etwa wenn »der wahrhaft Bedauernswerte [...] nicht der Proletarier« ist, den sie ganz am Rande wahrnimmt, sondern: »Der wahre Märtyrer unserer Kultur ist der gebildete Mensch, der keine
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Ebd., S. 34. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 97. Ludwig Ecard: Erlebte Gedanken, S. 21. Ebd., S. 88. Isolde Kurz: Im Zeichen des Steinbocks. In: Kurz: Gesammelte Werke. Bd. 4, S. 3 7 4 - 3 9 0 . Ebd., S. 4 7 5 - 4 8 5 . Ebd., S. 4 1 0 - 4 1 3 .
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Mittel hat [,..].«611 Der große Mensch, die schöpferischen, seherisch angelegten Naturen, der Genius stehen unverwechselbar auf der einen, der Durchschnittsmensch, der Philister, der Pöbel auf der anderen Seite. Dennoch gelingen ihr auf dieser Basis Einsichten, die hinter denen der großen Moralisten nicht zurückzustehen brauchen: Auf törichte Wünsche wartet zuweilen eine grausame Strafe: ihre Erfüllung.'' 1 2 Nichts bezeichnet den Menschen mehr, als das, wofür er niemals Zeit
findet.613
Jeder edle Mensch muß vorher alt werden, ehe er jung wird. "* 61
Wenn sie hingegen »Aus Völkerseelen«615 Erkenntnisse ableitet, den »Genius des deutschen Volkes«616 erläutert und vergleicht und »die Seele einer fremden Rasse« 617 erkennt, läßt sich nicht nur viel zeitgebunden völkisch Romantizistisches erkennen, sondern es deuten sich auch ihr lyrischer Nationalismus aus der Zeit des Ersten Weltkrieges und die spätere Affinität zur nationalsozialistischen Ideologie schon an. Die Texte zu Mann und Weib, »zwei Nationen, die sich niemals verbrüdern«,618 sind als ein höchst eigener Beitrag zur Frauenbewegung zu verstehen. Ihr Vorbild, mit dem sie beim größten Teil ihrer Mitstreiterinnen auf eher geteilten Beifall stoßen würde, sind die Frauengestalten der italienischen Renaissance. Nur ausnahmsweise ist ihre kämpferische Gegenstimme knapp pointiert: »Schwachheit des Weibes! Ja, sie ist unaussprechlich, es gibt nur ein Geschöpf, das schwächer ist: der Mann!« 619 In aller Regel holen sie erörternd aus und sind streitbare Kurzargumentation, dabei mitleidlos und (sprachlich) scharf auch gegen »das Raubtier unter den Weibern«620 und andere »Schmarotzerpflanzen des weiblichen Geschlechts«.621 Die Position, die Kurz einnimmt, ist auch innerhalb der Frauenbewegung der Zeit nicht unangefochten: Die »Anforderungen der modernen Zivilisation« überläßt sie nämlich dem Mann, Sache der Frau hingegen ist es, »der Menschheit ihre höchsten Erbgüter zu bewahren.«622 Ihre Kunstreflexion ist auf dem hergebrachten Ideal von Ästhetik und Ethik, Schönheit und Wahrheit gegründet: »Um das Schöne zu schaffen, muß man das Wahre kennen.« 623 Klassische Konzeptionen wie die vom Dichter-Seher, für den menschliche Größe der Untergrund der dichterischen Größe sei, möchte sie unbeschädigt tradieren. Auch für Kurz ist die Vorstellung von der Kunst als Palliativ beherrschend: »Poesie ist als ein notwendiges Luftkissen zwischen uns und die Wirklichkeit geschoben, um deren harten Druck zu erleichtern.«624 Damit ordnet sie sich letztlich in einen bürger611 Ebd., 612 Ebd.,
S. 477. S. 376. S. 377.
615 Ebd., 616 Ebd.,
s. 444-452. s. 444. s. 451. s. 391. s. 392.
613 Ebd., 614 Ebd.
617 Ebd., 618 Ebd., 619 620 621 622
Ebd., Ebd., s. 394. Ebd., s. 392. Ebd., s. 402. 623 Ebd., s. 456. 624 Ebd., s. 458.
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liehen Ruheraum ein, wie er fiiir die Aphoristik des Herzens zu beschreiben war, auch wenn ihr deren spezifische Innerlichkeit abgeht. Von Ecard fuhrt ein gerader Weg hinunter zur religiösen Traktätchenliteratur im Gewände von Splittern und Funken, wie sie Emanuele Meyers Vom Amboß meiner Seele (1921) darstellt. Sie lehnt sich an die gängige Metaphorik der Gattung an. Wichtiger ist allerdings, daß sie nicht zufällig Carmen Sylvas Vom Amboß worn Ende des vergangenen Jahrhunderts zitiert. Aus diesem sprachlich-geistigen Fundus schöpft sie immer noch, wenn sie ihren Leserinnen Aphorismen vom Mysterium Cruris und Vom stillen Gottesboten - Tod einerseits, Vom hohen Muttertum und von Frauenfrage und Menschenrecht andererseits anbietet. Eine Stilprobe aus dem »Meinen Lesern und Kritikern« gewidmeten Vorwort mag das Pathos sektiererischer Gläubigkeit illustrieren: Gedanken sind es - >Funken und Splitter< von heißer Esse des Lebens des Tages Kampfstunden entstiegen — aus dem Schweigen durchwachter Nächte geboren — jetzt schmerzdurchzittertem Sehnen entwachsen — nun glühender Seele entstoben, wo diese randvoll vom Unrecht der Welt und ihrer Q u a l den Becher hat trinken müssen! 6 2 5
Die Sprache ist reiner Gesinnungsträger; der gedankliche Gehalt ist auf Null geschrumpft, religiöse Deklamation hat seinen Platz eingenommen: »Jedes Leben ohne Gott gedacht ist sinnlos im Begriff, und eine Hölle im Erleben!« 626 Von aller politisch-sozialen Entwicklung unbeeinflußt wird immer noch »des inneren Lebens Adeltum« 6 2 7 hochgehalten. Die 800 Aphorismen der Jugendschriftstellerin Ilse Franke-Oehl (geb. 1881), »einer reichen, von den Erfahrungen und Schmerzen des Lebens geläuterten Seele«, 628 zur Lebenskunst von 1908 sind offensichtlich weitgehend verschollen. Es hat aber eine gewisse Wahrscheinlichkeit, daß in Elisabeth Hölling-Röhr eine geistige Nachfolgerin zu sehen ist. Der Band Ringendes Leben (1934) unterteilt seine 252 aphoristischen Texte (er enthält auch Gedichte) in Beiträge zum Frauenleben und in Erfahrungen und Erkenntnisse allmenschlichen Lebens. Bei aller deutschen Seelenfreudigkeit: nie war es so seelenvoll, seelenhaft und -reif und -arm und -tief und -reich und -verwaist und -vertieft wie hier; die »Seelenwellen« 629 in jedem zweiten Text reichen bis zum wirklich erstaunlichen Kompositum des »deutschen Seelenbaumes«. 630 Hölling-Röhr erstrebt in der Verbindung von religiösem Glauben und neuer ideologischer Gläubigkeit »keine Gleichberechtigung mit dem Manne, aber dieselbe Achtung und Wertung - aus der tiefen Verbundenheit zu unserer e i n e n deutschen Volksseele.« 631 Ungleich bedeutendere Beiträge zur Frauenaphoristik leisten in den dreißiger Jahren die Österreicherinnen Rosa Mayreder und auch deren Nachlaßverwalterin Käthe Braun-Pra-
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Emanuele Meyer: Splitter und Funken, S. 6. Ebd., S. 10. Ebd., S. 96. Kurt Walter Goldschmidt: Kleinkunst des Gedankens, Sp. 1453. - Das Buch ist in den deutschen Bibliotheken nicht nachgewiesen. Elisabeth Hölling-Röhr: Ringendes Leben, S. 102 (Nr. 152). Ebd., S. 86 (Nr. 74). Ebd., S. 68.
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ger, die Schwester Felix Brauns. Mayreder (1858-1938) hat als Theoretikerin der frühen bürgerlichen Frauenbewegung auch eine fuhrende politische Rolle gespielt. Daneben ist sie als Malerin und Schriftstellerin hervorgetreten und hat ab 1896 zahlreiche Novellen und Romane veröffentlicht; als ihr Hauptwerk gelten die Essays Zur Kritik der Weiblichkeit (1905). Von 1873 bis 1937 hat sie Tagebuch geführt; 1988 ist eine Auswahl daraus erschienen, deren Einleitung ein biographisches Porträt zeichnet. Ihre Sprüche und Betrachtungen, die 1935 unter dem Titel Gaben des Erlebens erscheinen, bleiben darin aber unerwähnt und sind auch sonst neben den gleichzeitigen >männlichen< Aphorismen allzu sehr vergessen worden. Titel wie Untertitel geben deutlich die Richtung vor. Einerseits heißt es da: »Man stellt Betrachtungen an, um das zu verschweigen, was man nicht mitteilen kann.« 632 Andererseits lebt sie durchaus nicht nur in solchen verschwiegen mitgeteilten »Betrachtungen«, sondern leitet die »Sprüche« aus der Fülle ihres sozialen und politischen Lebens ab: »Nur für den Wirkenden hat das Leben Wirklichkeit.« 633 Die Frauenrechtlerin formuliert ihr principium: »Der >ganze< Mann ist nur ein halber Mensch«, 634 die Politikerin artikuliert sich contra domum: »Politik zerfrißt die Menschlichkeit.« 635 Aus diesen wenigen Beispielen erhellt schon die Eigenart dieser Aphoristik. In die üblichen inhaltlichen Kategorien wie Liebe und Freundschaft, Lebenskenntnis oder Philosophie und Religion unterteilt, ist die Maxime die vorherrschende Form, unpersönlich, in der zweiten Person Singular oder in der ersten Person Plural, oft Imperativisch formuliert und ohne jede Selbstgefälligkeit ethisch orientiert, dabei stets auf dem Grat zwischen Prägnanz und Plakativität: Glücklich sein bedeutet, in seinen Lebensbedingungen sich selbst bestätigt zu finden.636 Wo ein höherer Wille etwas Gesetzmäßiges überschreitet, da ist Größe. 637
In dem zugrunde liegenden Wertgefuge nimmt die autonome Persönlichkeit die oberste Stelle ein. Der Mensch »wird erst ganz er selbst, wenn er das Elementare bändigt« 638 und in einem ausgewogenen Verhältnis von Selbstbewußtsein und Demut von der Pose läßt und Macht über sich selbst hat: »Daß man die Fehler seiner Vorzüge nicht Herr über sich werden läßt, gehört zur Kunst, mit sich selbst auszukommen.« 639 Im Übrigen ist er von Leiden und Einsamkeit bestimmt. Das ist ein höchst vertrautes Weltbild; Schopenhauer und Nietzsche scheinen im Hintergrund auf. 640 Es ist konservativ in dem Sinne, daß der Gegenwart, die vom Flüchtigen, Bestandlosen beherrscht ist, der Glaube an die Dauer dieser Werte entgegengesetzt wird. Die bevorzugte rhetorische Form dabei ist die der Antithese: »Ohne Selbstbeherrschung gewinnt man keine
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Rosa Mayreder: Gaben des Erlebens, S. 53. Ebd., S. 6. Ebd., S. 37. Ebd., S. 75. Ebd., S. 5. Ebd., S. 19. Ebd., S. 89. Ebd., S. 50. Ebd., S. 96, 97.
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äußere Kultur, ohne Selbstüberwindung keine innere.« 641 Damit einher geht ein anderes Strukturmerkmal: die semantische Differenzierung, die einigen Gewinn zieht aus der prägnanten Gegenüberstellung von Vorurteil und Uberzeugung, Gelübde und Gelöbnis, von vergangen und überwunden, verschweigen und verbergen, beirren und beeinflussen: »Sich nicht beirren lassen, zeigt das Maß der persönlichen Kraft, sich nicht beeinflussen lassen, das des persönlichen Starrsinns.«642 In sehr vielen Fällen bleibt es freilich bei der, wenn auch guten, ehrenwerten Formulierung des alten geistigen Bestandes: »Man erzieht mit dem, was man ist, nicht mit dem, was man weiß.« 643 Das gemeinsam erlebte Unglück, das fester verbindet als gemeinsam erlebtes Glück, 644 oder der verlorene Besitz, den man erst als verlorenen ganz zu schätzen weiß, 645 sind schon unangenehm krasse, aber nicht untypische Beispiele. Argerlich wenig überraschend heißt es: »Das Schwerste am Tod widerfährt nicht dem Sterbenden, sondern dem Uberlebenden, der ihn liebt.« 646 »Wir wissen vieles, was wir uns doch nicht eingestehen«:647 das zu formulieren ist nach Freud nun wirklich nicht noch einmal nötig. Aber es bleibt daneben ein Bestand durchaus achtbarer Moralistik, der Mayreder zum Teil in die Nachfolge der Ebner-Eschenbach stellt. »Zum Menschenverächter braucht man bloß scharfen Verstand - zum Menschenfreund ein großes Herz«: 648 Namentlich dort, wo sie in ihren Antithesen die Dichotomie von Herz und Verstand bekräftigt, die »Begabung des Herzens« 649 und den »Herzenstakt«650 als eine der wunderbarsten Eigenschaften gegen die »Verstandesklugheit« ausspielt,651 bewegt sie sich in solchen vorgegebenen Bahnen. »Wenn mein Herz nicht spricht, dann schweigt auch mein Verstand, sagt die Frau. Schweige, mein Herz, damit der Verstand zu Worte kommt, sagt der Mann.« 652 Mayreder führt diesen bekannten Aphorismus Ebner-Eschenbachs weiter: »Man beurteilt einen Menschen mit dem Verstand; aber verstehen kann man ihn nur mit dem Herzen.« 653 Auch wenn sie in der Tradition der »Fehler«, der menschlichen Untugenden, bemerkt: »Die Fehler eines Menschen bilden keinen Einwand gegen ihn, wenn sie die Schattenseiten seiner Vorzüge sind«, 654 scheint sie in ein Gespräch mit der berühmten Vorgängerin einzutreten: »Den Menschen, die große Eigenschaften besitzen, verzeiht man ihre kleinen Fehler am meisten.« 655 Deren Rezeptionsgeschichte wird auch diese Beziehung einmal im Detail klären müssen. Mayreder erinnert nicht nur häufig im Ton an sie, sie nimmt es in der moralistischen Einsicht einzelner Aphorismen auch substanziell durchaus mit ihr auf:
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 19. Ebd., S. 37. Ebd., S. 76. Ebd., S. 80. Ebd., S. 64. Ebd., S. 48. Ebd., S. 31. Ebd., S. 60. Ebd., S. 84. Ebd., S. 34 Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 50 (Nr. 52). Rosa Mayreder: Gaben des Erlebens, S. 57. Ebd., S. 39. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 61 (Nr. 11).
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Manche Menschen besäßen weniger Charakter, wenn sie mehr Verstand hätten. 6 5 6 Die ganz aufrichtigen Menschen sind vielleicht Schamlose, die kein Bedürfnis haben, ihre Blößen zu bedecken. 6 5 7
Dabei ist die Jüngere nicht immer nach Frauenart lieb und gut, sondern auch mit der »tiefen Grausamkeit der menschlichen Natur« 6 5 8 nicht unvertraut: »Die ästhetische Rechtfertigung der Welt ist dem menschlichen Geist gelungen, die moralische nicht.« 659 Und zur Freiheit des Menschen bemerkt sie, die >gut hörte »Weil Du schlecht hörst, glaubst Du, Deine Kette klirre nicht.« 660 Was sie zur Frage der Zeitgebundenheit und Zeitlosigkeit zu sagen hat, geht über den üblichen Affekt hinaus: »Nur so weit ein Mensch nicht in seiner Zeit gelebt hat, fuhrt er ein unsterbliches Leben.« 661 Ihre Religiosität ist von einer eigenen Prägung, die aufmerken läßt: »Jeder Gott wird zum Götzen, wenn man ihn über seinen Rang erhebt.« 662 Bisweilen gelingt ihr aphoristische Kürze aus metaphorischer Ent-deckung: »Kein Ufer ist so fruchtbar wie der >Rand der VerzweiflungFrauen-Büchern< aufzeichnet und in kleine, klar erkennbare Gruppen von Schmerz bis zu Einsamkeit und Tod gliedert, bleiben weitgehend in dem als weiblich geltenden Umkreis von Liebe und Güte, Glaube und Gewissen. Es ist ihr vorbehalten, mit der Idee der Mutterschaft eine Anknüpfung an Nietzsche zu suchen: »Im Manne ist einmaliges Leben, im Weibe des Lebens ewige Wiederkehr.« 667 Die Texte halten sich strikt von jederlei Ironie (»Ironie: kraftloser Haß«) 6 6 8 und Witz fern: Witz ist lieblose Psychologie. 6 6 ' Wer den Witz nicht lassen kann, ist nicht fähig, die Natur zu betrachten. 670
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Rosa Mayreder: Gaben des Erlebens, S. 81. Ebd., S. 39. Ebd., S. 90. Ebd., S. 98. Ebd., S. 45. Ebd., S. 69. Ebd., S. 91. Ebd., S. 79. Ebd., S. 83. Ebd., S. 98. Käthe Braun-Prager: Ahnung und Einblick, S. 9. Ebd., S. 19. Ebd., S. 13. Ebd., S. 23. Ebd., S. 17.
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Sie bleiben ganz konventionell und lassen nur gelegentlich aufhorchen: Richtig leiden heißt: das Leben ehren. 6 7 1 Angst ist eine Stufe unter d e m G e h e i m n i s . 6 7 2
Die Frauenaphoristik mit ihren tragenden Pfeilern Bekenntnis und Lebenshilfe ist in der Tendenz mit starken Ausläufern noch bis in die siebziger Jahre hinein zu verfolgen.
2. Der österreichische Aphorismus nach der Jahrhundertwende Genauer als für das 19. Jahrhundert ist die besondere Beziehung der österreichischen Literatur zum Aphorismus nach der Jahrhundertwende erörtert. Die Versuche, von hier aus zu einer umfassenden historischen Strukturierung zu gelangen, überzeugen aber nicht recht, weder wo sie zurück-, noch wo sie vorausweisen. Johnstons Vienna School ofAphorists mit ihren beiden Wurzeln Feuchtersieben und Hebbel ist sehr konstruiert.673 Fundierter sind da die Erörterungen Grays,674 der sich auf die Zeit der Jahrhundertwende beschränkt und den Nachweis erbringt, daß die fragmentarische Ausdrucksform der Sprachskepsis und ihrem krisenhaften Geist überhaupt besonders gemäß ist. Dennoch ist zur Erklärung dieser Besonderheit noch manches zu tun. So ist die Wirkung Ernst Machs, der die Literatur von Hofmannsthal bis Musil beeinflußt und gleichzeitig eine »Vorliebe für den Aphoristiker G. C. Lichtenberg«675 hat, unter diesem Aspekt noch ungenügend gewürdigt. Die umfangreichste und bedeutendste Vorarbeit hat Kaszyriski geleistet, der den modernistischen österreichischen Aphorismus als Symptom der zerfallenden Realität deutet. Er erprobt offenbar in seinem Bestreben, Ordnung in diese bewegte Landschaft zu bringen, verschiedene Modelle, was durchaus legitim ist, aber eben auch davon spricht, daß es für eine solche Rubrizierung noch sehr früh ist. Die drei Modelle, die für drei Phasen der modernen österreichischen Aphorismusgeschichte charakteristisch seien: die Illumination ftir die Jahrhundertwende, die Deduktion für die Zwischenkriegszeit, die intellektuelle Konstruktion (Canetti) für die Gegenwart,676 wandelt er zu dem Versuch ab, den poetischen (Altenberg, Schaukai, Hofmannsthal, Schnitzler, Musil), den gesellschaftskritischen (Kraus, Friedell, Polgar, Kuh, Hatvani, Unger) und den metaphysischen Aphorismus (Kafka, Kassner, Ebner) zu unterscheiden, immer freilich mit der Einschränkung, die Modelle erschöpften »selbstverständlich bei weitem nicht die kreative Vielfalt der österreichischen Aphorismuskunst«.677 Seine Kleine Geschichte des östereichischen Aphorismus habe ich eingangs schon kritisch gewür-
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Ebd., S. 11. Ebd., S. 31. Vgl. oben S. 21. Richard T. Gray: Aphorism and Sprachkrise in Turn-of-the-Century Austria. Derselbe: From Impression to Epiphany. The Aphorism in the Austrian Jahrhundertwende. Ernst Mach - Werk und Wirkung, S. 41. Vgl. Friedemann Spicker: Zur Geschichte des österreichischen Aphorismus, S. 196. Stefan H. Kaszyriski: Modelle des österreichischen Aphorismus im Zeitalter der Moderne, S. 203.
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digt. 678 Auch das jüngste Modell überzeugt mich an vielen Stellen noch nicht (Musil, Schnitzler). Ich bin bemüht, hier hinter die teils gewagte Abstraktion zurückzugehen zur genauen Differenzierung auf der Grundlage der Detailanalyse. Der Vorarbeiten ungeachtet ist der besonders wichtige österreichische Beitrag zur Gattungsgeschichte noch nicht einmal quellenmäßig in der ganzen Breite erfaßt. Er ist einerseits als solcher herauszuheben, andererseits kann der scharfe chronologische und geographisch-politische Schnitt, wie in der Frauenaphoristik: bei Phia Rilke, Rosa Mayreder und Käthe Braun-Prager, aber auch bei Emanuel Wertheimer zu sehen war, den Übergängen in der einen wie der anderen Hinsicht nur bedingt gerecht werden. 2.1. In der Tradition des 19. Jahrhunderts Wenn hier eine Gruppe österreichischer Aphoristiker als in der Tradition des 19. Jahrhunderts stehend zusammengefaßt wird, so läßt sich diese Einschätzung in den meisten Fällen konkretisieren: bei Wilhelm Fischer, Robert Gersuny und Richard Münzer (EbnerEschenbach) ebenso wie bei JosefUnger (Auerbach) und Oscar Ewald (Nietzsche). Bei dem Grazer Bibliotheksdirektor Wilhelm Fischer (1846—1932), von dem schon verschiedentlich die Rede war, ist der Einfluß Marie von Ebner-Eschenbachs evident. Ahnlich wie bei Phia Rilke sind seine Aphorismen Sonne und Wolke von 1907 am besten unter dieser Perspektive zu analysieren; schon Johnston widmet ihm dieserart ein Kurzporträt. 679 Sie sind, oft als Maximen im engeren Sinne, von idealisiertem Bildungspathos und Gesinnungsgüte geprägt. Ihr christlich-konservatives Pflicht- und Arbeitsethos (»Wer seine Pflicht tut, hat nichts im Leben versäumt.«)680 antwortet genau auf EbnerEschenbach: »Tue deine Pflicht so lange, bis sie deine Freude wird.« 681 Es bleibt so sehr auf dieser Linie, daß man bei dem folgenden Aphorismus über die Autorschaft im Zweifel sein kann: »Man kann vieles in der Welt anklagen: aber stets muß man bei sich selbst anfangen.«682 Seine rhetorische Größe beanspruchende Maxime »Sei eine harmonische Einzelgestalt, und du bist eine Welt« 683 ist bei ihr konkret vorgebildet: »Sei deines Willens Herr und deines Gewissens Knecht«;684 etwas zu stark von der Kanzel sind sie beide gesprochen. Diese Nähe läßt sich über die ganze thematische Breite hinweg verfolgen. Heißt es zu einer der menschlichen Tugenden bei ihr: »Demut ist Unverwundbarkeit«,685 pflichtet er bei: »Demut ist schmerzlos, weil sie Wünsche ausschließt.«686 Wenn er sein Kunstbekenntnis formuliert: »Alle Kunst führt zur Selbsterkenntnis«,687 so geht ihm Ebner-Eschenbach in ihrer Auffassung von der Kunst als »höchster Wahr-
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Vgl. oben S. 14. William M . Johnston: Karl Kraus und die Wiener Schule der Aphoristiker, S. 21. Wilhelm Fischer: Sonne und Wolke, S. 268. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 59. Wilhelm Fischer: Sonne und Wolke, S. 9. Ebd., S. 3. Marie von Ebner-Eschenbach: Aphorismen, S. 17, Nr. 69. Ebd., S. 47, Nr. 35. Wilhelm Fischer: Sonne und Wolke, S. 267. Ebd., S. 201.
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heit« 688 vorauf. Und wo sein Idealismus, der von Marx und den Folgen nichts gehört hat oder nichts hören will, formuliert: »Schätze die Arbeit, und du darfst dich selber schätzen«,689 bleibt er dabei ebenso naiv und guten Willens wie Ebner-Eschenbach: »Der Arbeiter soll seine Pflicht tun, der Arbeitgeber soll mehr tun als seine Pflicht.« 690 Beide bleiben, bei allem rührenden Ethos, hinter den avanciertesten sozialkritischen Überlegungen ihrer Zeit gleichermaßen doch eine Spur zurück. Fischer denkt sich nicht nur im Sinne der Herzensaphoristik in die gängige Opposition von Herz und Verstand, Geist und Gemüt ein, die Integration ist auch bei Ebner-Eschenbach vorgedacht: »Der Verstand und das Herz stehen auf sehr gutem Fuße miteinander. Eines vertritt oft die Stelle des andern so vollkommen, daß es schwer ist zu entscheiden, welches von beiden tätig war.«691 Viele überaus fragliche Implikationen und Leerstellen in seinen Maximen sind nichts als fraglos-gefestigte ideologische Rudimente: »Seinem Wesen gemäß leben ist das Schwerste, weil es das Beste wäre.«692 Und an solchem »Wesen« soll wenn nicht die Welt, dann doch der Einzelne genesen. Unbedingt gehört die Religiosität dazu: »Willst du niemals Ungerechtigkeit erleiden, so mache Gottes Willen zu dem deinen.« 693 Gegenüber solcher gedanken-los realitätswidriger Predigt ist Ebner-Eschenbach doch erheblich skeptischer und damit (nicht: darum) auch besser: »Je weiter unsere Erkenntnis Gottes dringt, desto weiter weicht Gott vor uns zurück.« 694 Fischer ist sich im Dienste seiner Gesinnung auch für ein äußerst schales Wortspiel nicht zu schade: »Willst du das rasch Vermodernde nennen, so nenn es modern.« 695 Man wird Ebner-Eschenbach nicht gerade den Gegnern eines solchen Konservatismus zurechnen können, aber sie ist trotzdem auch hier zum einen geistig offener, zum andern sprachlich von höherem Niveau: »Nicht teilnehmen an dem geistigen Fortschreiten seiner Zeit, heißt moralisch im Rückschritt sein.«696 Fischers Aphoristik führt die Vorläuferin mit seinen künstlerischen Mitteln aus und weiter, indem er das harmonistisch Gütige bei ihr vereinfacht und vereinseitigt. Dort, wo sie es hingegen - im stärksten Teil ihres aphoristischen Werks - skeptisch-dialektisch ausbalanciert, findet sie bei ihm keine Nachfolge. Auch der zu seiner Zeit berühmte Wiener Chirurg Robert Gersuny (1844-1924) ist als Autor in der österreichischen Tradition genau zu bestimmen. Er steht nicht nur ausdrücklich in der Nachfolge Feuchterslebens, sondern ist auch mit Marie von Ebner-Eschenbach persönlich bekannt und verehrt sie. 697 Mit seinem Bodensatz des Lebens (1906; in dritter vermehrter Auflage 1919) bietet er eine heterogene Sammlung von Epigrammen, pointierten Einzelsätzen und kleinen, mit Überschriften versehenen Abschnitten. Die Aphorismen darin traktieren vor allem die klassischen moralistischen Themen von Ehre, Eitelkeit, Wahrhaftigkeit, wie sie schon bei Ebner-Eschenbach noch 688 689 690 691 692 693 694 695 i9erlebt und nicht erklügelt< sind.« 7 0 1 Tausend und Ein Aphorismus (1914) des österreichischen Juristen, Bühnenschriftstellers und Erzählers Richard Münzer (1864-1930) lehnt sich schon formal mit der schlichten Gliederung in Hunderter-Reihen an Ebner-Eschenbach an. Ein Abschnitt aus John Stuart Mills Über Aphorismen von 1837 - 1874 in Übersetzung innerhalb der Gesammelten Werke erschienen - leitet den Band ein, in der Mill zwei Arten von Weisheit, die Philosophie und die unsystematische Weisheit, unterscheidet: die Perspektive also, unter der Münzer gelesen sein will. Er ist politisch konservativ; ein Aphorismus wie der folgende ist im Jahre 1914 allerdings nicht selbstverständlich: »Die verbreitetste Massensuggestion: der Patriotismus.« 702 Vor allem aber ist Münzer wie in Deutschland Hohenemser der klassische Epigone, vielleicht gar aus zweiter Hand, der in klassischer Kürze von einem Satz oder wenig mehr und unter weitgehendem Verzicht auf wortspielerische Effekthascherei, Paradoxa oder ähnliche Mittel die gängigen moralistischen Themen, von menschlichen Eigenschaften wie Eitelkeit, Eifersucht oder Geduld bis zu Liebe, Eigenliebe (amour propre), Freundschaft und Religion, repetiert, nicht selten in Form mehr oder weniger gelungener Definition. Schon der Titel erinnert an die Tausend Gedanken des Collaborators (1875) von Berthold Auerbach und an Peter Sirius' Tausend und Ein Gedanken (1899). Die Texte sind geprägt von einem aphoristischen Relativismus: »Es gibt so viele >Wahrheiten< als es Menschen gibt«, 7 0 3 den man so schon bei Vauvenargues vernimmt: »Wenige Maximen sind wahr in jeder Hinsicht.« 7 0 4 Hier wird er freilich zum Deckmantel des Nichtssagenden: »Dem einen klären sich durch Worte die Gedanken, dem anderen werden sie durch Worte verschwommener.« 705 Variation des Bekannten ist ganz im Sinne der Theorie des Epigonalen ihr Element; Münzer wiederholt die Tradition und sich selbst: Die fixe Idee der Philosophen: >die Wahrheit^ 7 0 6 Auf ihrem Wege zur >Wahrheit< tauschen die Menschen fortwährend e i η e Art Irrtümer für eine andere ein. 7 0 7
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Robert Gersuny: Bodensatz des Lebens, S. 10. Ebd., S. 35. Ebd., S. 12. Otto Frisch: Robert Gersuny. In: Neue österreichische Biographie. Bd. IV, S. 100. Richard Münzer: Tausend und Ein Aphorismus, S. 162. Ebd., S. 145. Fritz Schalk (Hg.): Die französischen Moralisten, S. 115. Richard Münzer: Tausend und Ein Aphorismus, S. 106. Ebd., S. 22. Ebd., S. 37.
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Die Methode der Philosophen ist eine verkehrte: in ihren langatmigen Büchern suchen sie zu ihren >Wahrheiten< die Gründe. 7 0 8
Grundvorstellungen der französischen Moralisten - er spricht nicht selten von ihnen und kennt sie genau - begegnet man bei ihm als neuer Erkenntnis: »Auch sich selbst kann man bezüglich der M o t i v e seiner Handlungen belügen.« 709 Das vielfach Gedachte und Formulierte, zu Verstand und Gefühl, Erwartung und Enttäuschung und anderen >ewig-menschlichen< Themen, wird noch einmal - und entscheidend: nicht besser - formuliert: »Freuden, denen man nachjagt, verscheucht man.« 7 1 0 Um nur zwei konkrete Verweise zu geben: Wenn bei ihm unvermeidlicherweise das bekannte Denken des Herzens erscheint: »Ein Gedanke ist nur dann tief, wenn er an das Herz rührt«, 7 1 1 so hieß es schon bei Vauvenargues: »Große Gedanken entspringen im Herzen.« 7 1 2 Wenn er schreibt: »Höflichkeit ist ein Geschenk, das zu einem Gegengeschenk verpflichtet«, 713 dann konnte man schon bei La Rochefoucauld dazu lesen: »Höflichkeit ist der Wunsch, höflich behandelt und fur fein und gesittet gehalten zu werden.« 7 1 4 Einer der wohl besseren Texte lautet: »In einem geistvollen Paradoxon steckt immer das Recht der Minorität«, 715 aber Münzer selbst bietet kaum eines. Seine Aphoristik ist durchweg trocken, so wenig falsch wie belangvoll oder neu und ohne in Esprit-Verdacht zu kommen: Wer in der Vergangenheit lebt, versäumt die Gegenwart. 7 1 6 Wer mit der menschlichen Unbeständigkeit rechnet, rechnet richtig. 7 1 7 Freundschaft ist ohne Wechselseitigkeit nicht denkbar. 7 1 8
Oder wird sich jemand gegen eine Definition wie: »Die Träne ist das sichtbar gewordene Gefühl« 7 1 9 oder: »Resignation ist der Schatten des Glücks« 7 2 0 auflehnen, eine Erkenntnis wie: »Eigentliche Erfahrungen kann man nicht weitergeben; die muß jeder selber machen« 7 2 1 abstreiten? Schließlich kommt Münzers Aphoristik auf einer Ebene an, die Anlaß zum Weinen gibt: »Für ihr Lachen sollten die Menschen so sorgen wie für ihre Gesundheit.« 7 2 2 Und man kann nur hoffen, daß er die Aphorismen selbst nicht als philosophischen Dilettantismus versteht: »In der Philosophie sind die Dilettanten gewöhnlich die besseren Philosophen.« 723 Eine trügerische Hoffnung, denn nach dem Geleit-
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Ebd., S. 39. Ebd., S. 166. Ebd., S. 40. Ebd., S. 45. Fritz Schalk (Hg.): Die französischen Moralisten, S. 116. Richard Münzer: Tausend und Ein Aphorismus, S. 19. Fritz Schalk (Hg.): Die französischen Moralisten, S. 69. Richard Münzer: Tausend und Ein Aphorismus, S. 168. Ebd., S. 22. Ebd., S. 94. Ebd., S. 96. Ebd., S. 72. Ebd., S. 33. Ebd., S. 78. Ebd., S. 172. Ebd., S. 123.
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wort Mills will sie Münzer genau als die andere, unsystematische Art von Weisheit, die die Sache des Dilettanten ist, gewertet wissen. Dem Wiener Juristen JosefUnger (1828-1913) kann man nicht eben die glücklichere Hand bescheinigen, wenn er sich für seine Sammlung von Anekdotischem und Aphoristischem, 1911 unter dem Titel Mosaik. Der >Bunten Betrachtungen und Bemerkungen dritte Auflage erschienen (zuerst 1906), statt auf Ebner-Eschenbach auf Auerbach bezieht.724 Es werden ohne großen Formehrgeiz Gemeinplätze einbekannt, so zu Jugend und Alter, Politik und Rhetorik. Sie sind zitatenfreudig; die Tradition von Epiktet über La Rochefoucauld und La Bruyere bis zu Nietzsche steht dem gebildeten Juristen zur Verfugung. Goethe und insbesondere dessen Maximen und Reflexionen bilden dabei den Mittelpunkt. 725 Das reicht bis zur unstatthaften Anverwandlung. Ungers »Man kennt seine eigene Sprache nur, wenn man auch fremde Sprachen kennt« 726 hieß bei Goethe: »Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.«727 Die Aphorismen bleiben dennoch ganz in der professoralen Blickwinkelverengung: Es gibt nur ein Leben, das des Lebens wert ist: das Leben im Geiste. 728 Wie das Lehren ist das Lernen eine Kunst: auch das Lernen muß man erst erlernen. 729
Mitunter lassen sie bei einem fachlich doch offensichtlich überaus kompetenten Autor ein erstaunliches Maß an Selbstkritik vermissen. Wie anders läßt sich erklären, daß er einen solchen Aphorismus nicht nur schreibt, sondern auch drucken läßt: »Man kann sich keine größere Freude bereiten, als indem man anderen eine Freude bereitet«?730 Eine intellektuelle Freude ist das nicht. Und für die unsäglichen Wortspiele gilt das in gleichem Maße. Fischer hatte sich mit demselben kleinen Spracheinfall wodern - modern von der Moderne abgesetzt: »Was heute modern ist, wird morgen schon modern.«731 Schon Ungers Biograph Zweig ist nicht unkritisch; er spricht von dem »fast automatischen Zwang, einen Einfall zur Pointe zu schleifen«, die epigrammatische Technik sei »stellenweise zur Manier erstarrt«.732 Man muß die Professoren Unger und Gersuny nicht durch die Brille von Karl Kraus sehen, der nach den »bösen Zeiten des Aphoristikers Gersuny« sich nun »diese Geschwätzigkeit«733 von Ungers »Mosaik« bieten lassen muß, um entschieden eher auf ihren Fachgebieten nach ihren Verdiensten zu suchen. Die Aphorismen Oscar Ewalds (1881-nach 1928), eines Wiener Philosophiedozenten, wären so vergessen wie das ganze 1909 in zwei Bänden veröffentlichte und sogleich
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Josef Unger: Mosaik, S. 6. Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 254f. Ebd., S. 187ff, im einzelnen beispielsweise S. 46 Maximen und Reflexionen Nr. 192; S. 75 Maximen und Reflexionen Nr. 762. Ebd., S. 75. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen Nr. 91. JosefUnger: Mosaik, S. 5. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Egon Zweig: JosefUnger. In: Biograph. Jahrbuch und Dt. Nekrolog 18, 1917. Die Fackel Nr. 301-302 v. 3. 5. 1910, S. 52.
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hochgepriesene Werk Gründe und Abgründe. Präludien zu einer Philosophie des Lebens, in dem sie als Reflexe und Reflexionen versteckt sind, wenn Kraus sie nicht auf seine spezielle Art durch seine Schmähungen fur die Gattungsgeschichte bewahrt hätte: Sein Buch habe ich, wie gesagt, nicht gelesen, aber in den Aphorismen, die sein Buch enthält, habe ich gern geblättert und da gewahre ich allerdings auch den Drang, meine Aphorismen abzuplatten. Er gibt freilich jedem einen Titel und schmückt auch jede Seite mit netten Zusammenfassungen wie: »Distanzen«, »Mysterien«, »Hölle und Himmel«, »Höhen und Tiefen«. Aber was nützt das? Es gibt noch immer keine Höhen, keine Tiefen, nicht Himmel und Hölle und keine Mysterien. Höchstens Distanzen. Herr Ewald ist so sprachfern, daß er sich von der Leichtigkeit, ein tausendseitiges Buch zu schreiben, verfuhren ließ und vor der Schwierigkeit nicht zurückschrak, Aphorismen draufzugeben. Aber er wirds gewiß nicht wieder tun. Wer wird denn umständlich in einer Zeile ausdrücken, was man bequem in hundert Seiten sagen kann? 7 3 4
Des Schmähens ist mit dieser Passage noch lange kein Ende, die von der äußeren Beschreibung bis zum Selbstzitat eines paradoxen Gedankens reicht, der schon einem seiner selbstbezüglichen Aphorismen aus Sprüche und Widersprüche zugrundelag.735 Immer geschieht es unter dem Blickwinkel des Eigenen, immer in der Sorge, plagiiert zu werden. Kraus attackiert Ewalds Aphorismus: »Der Stil ist nicht das Kleid, sondern die Seele des Künstlers«736 und verweist auf den eigenen besseren, allerdings nur allgemein. Er zitiert den eigenen Text, der den ähnlichen Gedanken eigenartig redundant formuliert, gerade nicht, so daß der Leser keine Möglichkeit zum direkten Vergleich hat: »Es gibt zwei Arten von Schriftstellern. Solche, die es sind, und solche, die es nicht sind. Bei den ersten gehören Inhalt und Form zusammen wie Seele und Leib, bei den zweiten passen Inhalt und Form zusammen wie Leib und Kleid.« 737 Auch Ferdinand Ebner setzt sich im Übrigen öfter mit Ewald, »einem Journalisten in der Maske des Philosophen«,738 auseinander. Was ergibt eine weniger befangene, zeitfernere kritische Beschreibung? Ewalds Vorwort bewegt sich vorwiegend in moralistischen Bahnen, nicht nur mit dem mehrfach vorgebrachten Bekenntnis zum »Verzicht auf ein geschlossenes System«,739 nicht nur dadurch, daß er mit dem wiederholten Anschluß an Nietzsche auf Ethik und Psychologie zielt, vor allem auch dadurch, daß er seine Schrift nicht als eine streng wissenschaftliche ansieht, vielmehr als »eine solche, die sich auf der äußersten Grenze zwischen künstlerischem Schauen und philosophischem Begreifen bewegen soll«,7''0 also »Ergebnisse der Selbstbetrachtung«741 zu geben beabsichtigt, in der kein »Satz niedergeschrieben [ist], den ich nicht zuvor gelebt hatte.« 742 Da sind die Aphorismen der
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Die Fackel Nr. 303/304 v. 31. 5. 1910, S. 42. Karl Kraus: Aphorismen, S. 116. Oscar Ewald: Gründe und Abgründe. Erster Teil, S. 542. Karl Kraus: Aphorismen, S. 111. Ferdinand Ebner: Lebenserinnerungen. In: Ebner: Schriften. Band 2, S. 1096. Vgl. Ebner: Schriften. Band 1, S. 1077. Oscar Ewald. Gründe und Abgründe. Erster Teil, S. XV. Ebd., S. XV. Ebd., S. XIII. Ebd., S. XVII.
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Reflexe und Reflexionen, in die der erste Band ausläuft, nicht allein von der NietzscheNachfolge her konsequent. Sie beginnen umständlich diskursiv, wandeln sich dann aber zu »Stücken« in Nietzsches Sinne. Sie handeln von Einsamkeit und Glück, von Liebe und Haß, vom Genie und, in den geistigen Fußstapfen Weiningers, thetisch antithetisch wie gewohnt Vom Weibe: »Objekt und Subjekt: Der tiefste Unterschied zwischen Mann und Weib ist wohl der, daß der Mann die Erlebnisse hat, während die Erlebnisse das Weib haben.« 743 Das ist so prägnant formuliert, wie es ihm nicht immer gelingt. Aber in seinen besten Texten ist Ewald in jedem Falle nachdenkenswert und for eine vernichtende Kritik nicht der geeignetste: Tote Leidenschaften: Wer eine Leidenschaft in sich getötet hat, dem wird sie zum Gespenst. Oder er m u ß an ihr zum Gespenst werden. 7 4 4 Sehnsucht: Wonach man sich am meisten zurücksehnt, ist dasjenige, was man niemals besessen. 745
Seine Aphorismen glänzen nicht unbedingt durch Originalität; dem Philosophieprofessor steht die gesamte Tradition zur Verfügung: Lebensweisheit: Alle Lebensweisheit kommt im letzten Grunde auf ein würdiges Sterben hinaus. 740 Kriterium des Seins: Man ist nichts, wovon man nicht zugleich das Gegenteil ist. 747
Aber sie blenden auch nicht durch fragwürdigen sprachlichen Oberflächenputz: »Wertmesser: Der Wert eines Menschen bestimmt sich in erster Reihe nach dem Inhalt und Umfang dessen, was er zu verschweigen vermag.«748 Dort, wo Ewald mit dem überaus gebräuchlichen, auch von Kraus verwendeten Bild des Pfeiles den Vorstellungsbereich der aphoristischen Aggressivität aufnimmt, repetiert er ihn nicht einfach mit irgendeiner gezwungen spielerischen Volte, sondern denkt an dem Bild weiter und gewinnt so auf jeden Fall mehr Rezeptionsaufmerksamkeit: »Aphorismen: Aphorismen gleichen vergifteten Pfeilen, die der Philosoph abschnellt. An der Schärfe der Pfeile sollen die Leser verderben, denen sie zugedacht sind. Aber an dem Gift - wie seltsam! - der Philosoph selbst.«749 Ungleich erfolgreicher als diese Aphorismen auf gelehrtem Hintergrund sind die beiden Bändchen des Wiener Musikers und Feuilletonisten Otto Weiß (1849-1915) So seid Ihr!, 1906 und 1909 erschienen. 750 Ich habe ihnen früher schon eine exemplarische Analyse gewidmet und fasse die Ergebnisse hier zusammen. 751 Zum ersten Band schreibt
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Ebd., S. 521. Ebd., S. 547. Ebd., S. 550. Ebd., S. 531. Ebd., S. 534. Ebd., S. 484. Vgl. auch Die sieben Paradoxien, ebd., S. 538f. Ebd., S. 548. 4. Aufl. 1907; so auch Walter von Hauff in: Johannes Nacht: Pflugschar und Flugsame, S. 16. Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 250-254.
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Georg Brandes eine Vorrede, die durch den Anspruch bemerkenswert ist, den sie für den Autor erhebt: Keine Geringeren als La Rochefoucauld und Lichtenberg bemüht er dazu. Weiß bezieht sich nicht nur auf die moralistische Tradition; er hat nicht nur den Anspruch, zu diesen Denkern ohne System zu gehören. Er versucht aufs Ganze gesehen, die Vorgänger mit seinen Lebensregeln in materialistisch fundiertem Realitätssinn noch zu übertreffen, kritisiert mit scharfer Desillusion die lebensfremd gewordene, nur noch literarisch perpetuierte Lebensweisheit einer Aphoristik des Herzens und reklamiert für sich den Anspruch wirklicher neuer Menschenkenntnis: »Wie ich höre, gibt es Professoren der Psychologie, die auch M e n s c h e n k e n n e r s i n d . « 7 5 2 Seine durch einen Vulgär-Darwinismus hindurchgegangenen Erkenntnisse vom »wahren« Leben mögen in dieser Form zu seiner Zeit nicht ohne einen gewissen reinigenden Wert sein: »Irgendein Schriftsteller sprach einmal von der >Poesie der Armutunerwarteten< Aphorismen zusammenzustellen. Das ist müßig, aber es zeigt doch schon hier an, daß Kraus nicht unbedingt nur als überragend-isolierte aphoristische Einzelfigur zu betrachten ist. Bei dem niederländischen Anthologisten Cees Buddingh ist er mit drei Einträgen noch heute gegenüber Wertheimer mit ca. 50 und Weiß mit ca. hundert Zitaten hoffnungslos im Hintertreffen.766 Schon seine vernichtende Kritik an Weiß, Unger, Gersuny zeugt immanent davon, daß er auf Unvergleichbarkeit, besser: Unvergleichlichkeit besteht, nicht nur einem Zeitgenossen wie dem Aphoristiker Blumenthal, auch den Gattungsautoritäten Lichtenberg und Nietzsche gegenüber.767 Wie weit dieses Selbstbild der kritischen Uberprüfung standhält, muß eine Interpretation vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Aphoristik erweisen. 2.2. Karl Kraus Das aphoristische Schaffen von Karl Kraus (1874-1936) umfaßt die Jahre 1906 bis 1919. Es wächst aus der Glosse und verwandten journalistischen Formen heraus und mündet in die gebundene Form des Epigramms. Als er 1906 von verschiedenen längeren satirischen Formen zu »Abfällen« oder »Splittern«768 übergeht, bewegt er sich damit terminologisch noch in den bekannten Bahnen. Bald aber werden die Texte durchweg als
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Die Fackel Nr. 290 v. 11. 11. 1909, S. 15. Karl Kraus: Aphorismen, S. 27. Otto Weiß: So seid Ihr!, II. Folge, S. 15. Statt des eingehenden Vergleiches nur ein weiteres Beispiel: »Die Ehe ist eine Mesalliance« ist nicht von Weiß (Karl Kraus: Aphorismen, S. 315), »Gewisse Frauen sind imstande, sich gegen einen Mann entschieden zu wehren - weil er sie durchaus nicht angreifen will«: das ist nicht von Kraus (Otto Weiß: So seid Ihr!, I. Folge, S. 86). Moritz Goldschmidt: Splitter und Balken, S. 80. Heinrich von Hartenrein: Aphorismen, S. 10. Cees Buddingh (Hg.): Spectrum Citatenboek. 1991. Die Fackel Nr. 3 4 5 - 3 4 6 v. 31. 3. 1912, S. 33. Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 283. Die Fackel Nr. 198 v. 12. 3. 1906, S. 1 - 3 und Nr. 202 v. 30. 4. 1906, S. 1-3: Abfalle-, Nr. 201 v. 19. 4. 1906, S. 17: Splitter (Pseudonym: Kyon).
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Tagebuch oder Persönliches bezeichnet und geben nicht nur die angemessene "Wertschätzung durch ihren Autor zu erkennen, sondern auch den biographischen Hintergrund. So entstehen die ersten Aphorismen aus seiner Beziehung mit Bertha Maria Denk. 769 1908 umfassen sie ein ganzes Heft der Fackel.77® Hildebrandt hat die Bedeutung Lichtenbergs dabei deutlicher konturiert.771 Wichtigere neue Aufschlüsse als die jüngere Sekundärliteratur772 hat der Briefwechsel mit dem Freund Otto Stoessl erbracht. Er gewährt nicht nur wertvolle Einblicke in die Entstehung des ersten Aphorismenbandes, sondern auch in beider Auseinandersetzung mit der Gattung. Stoessl regt an, die Aphorismen gesammelt herauszugeben; die Planung dieses Buches fördert er durch Kritik, Anerkennung und praktische (Verlags-)Vorschläge. Kraus teilt ihm, nachdem sie Angriffe, Vorurteile, Gedanken erwogen haben, in seinem Brief vom 16./17. 11. 08 den Vorschlag Sprüche und Widersprüche mit. 773 Stoessl hat zunächst Einwände enggeistig literaturwissenschaftlicher Art. »Spruch« bezeichne eine Form, »die enger ist, als Ihre Aphorismen, die zwar gelegentlich einige direkte >Sprüche< enthalten, aber doch im Ganzen weit über diese gebundene Art hinausgehen.«774 Kraus geht sogar vorübergehend darauf ein: »Ich bleibe also vorläufig beim Titel >VorurtheileIst es ein Hengst?< fragt sie und schläft ein.
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Darauf weist schon Kaszyriski hin, ohne allerdings den Gedanken auszuführen (Stefan H. Kaszyriski: Überlegungen zur Poetik der Aphorismen von Karl Kraus, S. 133). Karl Kraus: Aphorismen, S. 63. Ebd., S. 175f. Ebd., S. 167. Ebd., S. 88. Ebd., S. 344. Ebd., S. 342. Ebd., S. 165. Petra Kipphoff: Der Aphorismus im Werk von Karl Kraus, S. 55-58.
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Dasselbe Mädchen konnte einmal von einem, der ihr nachgegangen war, sagen: >Er hatte einen M u n d , der küßte von selbstDie Sprache Mutter des Gedankens? Dieser kein Verdienst des Denkenden? Ο doch, er muß jene schwängern.< aus Pro domo et mundo machte sich Schönberg ganz zu eigen.« 1 0 1 3 Daß er darüber hinaus von Kraus gelernt habe, bringt er mehrfach zum Ausdruck (ohne damit auf geistige Selbständigkeit zu verzichten): Jemandes Stil verwenden, das heißt ja sich zu ihm bekennen; sich geradezu seinen Schüler nennen. Ihn eitleren verstärkt dieses Bekenntnis noch. Und ich habe Kraus geschrieben: ich habe durch Sie Schreiben, ja fast Denken gelernt. Ich gestand somit von vornherein und immer, daß ich in einem Abhängigkeits-Verhältnis zu Kraus' Stil stehe. 1 0 1 4
Er verfaßt eine Musikkritik für die Fackel und, als Kraus von der Publikation abrät, einen Offenen Brief. Nachdem er schon in der Zeitschrift Die Musik Aphorismen veröffentlicht hat, bietet er auch Kraus 1910 solche Texte an, der aber freundlich ablehnt: »Auch für den literarischen Beitrag danke ich Ihnen sehr. Leider kann ich ihn, so sehr er mich interessiert hat, nicht in die Fackel aufnehmen. A p h o r i s m e n dürfen nämlich keine Rubrik der Fackel sein, sondern nur eine Nothdurft.« 1 0 1 5 Schönberg veröffentlicht eine zweite kleine Sammlung dann zwei Jahre später an weniger prominenter Stelle. 1 0 1 6 Schon im musikalischen Umkreis erinnern Schönbergs Aphorismen an Kraus' Boshaftigkeit: »Komponierende Wunderkinder sind Menschen, die in frühester Jugend schon so schlecht komponieren, wie andere erst im reifen Alter.« 1 0 1 7 Sie befassen sich keineswegs nur mit Musik, bleiben in dem, was sie allgemein (»Mit dem ersten Gedanken entsteht der erste Irrtum.«) 1 0 1 8 oder etwa speziell als Verlegerschelte formulieren, eher konventionell, stehen aber auch hier bisweilen Kraus'schem Anspruch und Temperament in nichts nach: »Ich will ja gar nicht, daß man mir schmeichelt, wo ich es verdiene, sondern nur, daß man mich lobt, wo ich es nicht verdiene.« 1019 Peter Altenberg (1859-1919) und Otto Stoessl (1875-1936) stehen nicht nur dem Zentrum Kraus bedeutend näher, sie spielen auch innerhalb der Gattungsgeschichte die ungleich wichtigere Rolle. Die persönlichen Verbindungen sind eng. Kraus druckt den kompromißlosen Bohemien wiederholt in der Fackel, seine Rede zum 50. Geburtstag 1 0 2 0 und die Rede am Grabe Peter Altenbergs 1021 sind rühmende Porträts, er gibt eine Auswahl aus dessen Büchern heraus. Uber Altenberg finden auch Stoessl und Kraus näher
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Zit. nach Friedrich Pfäfflin: Karl Kraus und Arnold Schönberg, S. 134. Friedrich Pfäfflin: Arnold Schönberg und Karl Kraus, S. 368. Zit. nach ebd., S. 369f. Zit. nach Friedrich Pfäfflin: Karl Kraus und Arnold Schönberg, S. 137. Vgl. Karl Kraus. Eine Ausstellung des Deutschen Literaturarchivs, S. 115. Arnold Schönberg: Aphorismen. In: Der Ruf 1, 1912/13, Η. 1, S. 46-47. Arnold Schönberg: Aphorismen. In: Die Musik 9, 4; 1909/1910, S. 159. Ebd., S. 160. Ebd., S. 162. Über den Einfluß von Kraus auf Schönberg und seine Schule generell: Julian Johnson: The reception of Karl Kraus by Schönberg and his School. In: Gilbert J. Carr, Edward Timms (Hg.): Karl Kraus und Die Fackel, S. 99-108. Die Fackel Nr. 274 v. 27. 2. 1909, S. 1-5. Die Fackel Nr. 508-513, April 1919, S. 8-10.
zueinander. Stoessls überschwängliche Kritik von Altenbergs Prodromes druckt Kraus gleichfalls auszugsweise zustimmend ab. 1022 Stoessl ist in engster Form an der Herausgabe von Kraus' erstem Aphorismenband, auch dem zweiten, beteiligt. Altenbergs Beziehung zu Kraus ist vielerorts dargestellt, ausgehend von seinem Zeitungsartikel von 1917 Wie ich mir Karl Kraus >gewannSpracherlebnissesDu< sich wendenden Gedankens am entschiedensten und deutlichsten aus.« 1202 Zum andern, der Frage nach der Bedeutung des Wortspiels im Aphorismus, ist sie nicht weniger grundsätzlich. Ungeschützter, unverhüllter heißt es im Tagebuch: Karl Kraus und die Wortwerdung seines Gedankens. Die Verliebtheit eines Gedankens in sich selbst (Nietzsche?), die Verliebtheit eines Gedankens im Wort. Verliebtheit im Wort ist aber noch lange nicht die wahre Philologie. Das Verhältnis des Kraus zum Wort ist pervertierte Philologie. Notzüchtigung des Wortes??? 1203
Diese Äußerungen lassen schon ansatzweise erkennen, von welchen Prinzipien er sich in seinem eigenen Aphorismenverständnis leiten läßt. Ganz ähnlich steht es mit Theodor Haecker. Auch er ist nach eigenem Zeugnis ohne Kraus nicht denkbar, 1204 schränkt aber ein: »Ich bin ein Aphoristiker, aber einer, der >das< System voraussetzt.«1205 Von eben diesem katholischen System her, das er unbefragt voraussetzt, kommt er letztlich zu einer ästhetisch wundersamen abwertenden Äußerung: »Ich halte Karl Kraus für einen großen Schriftsteller, aber ich möchte doch die Fackel nicht geschrieben haben. [...] Ich halte Hilty fur keinen großen Schriftsteller und für keinen großen Philosophen - aber ich möchte viele seiner Sachen geschrieben haben, denn er war ein Freund Gottes.« 1206 Während sich diese Rezeptionslinie aus dem Brenner-Yiieis heraus entwickelt, steht eine andere, weit über 1945 hinaus ausstrahlend, im Zusammenhang mit der Zerschla-
Ferdinand Ebner: Schriften. 2. Band, S. 410 (4. 2. 1917). Ebd., S. 266 (22. 2. 1921). 1199 Josef Quack: Bemerkungen zum Sprachverständnis von Karl Kraus, S. 217. 1200 Ferdinand Ebner: Schriften. 2. Band, S. 801 (29. 3. 1918). 1201 Ebd 1. Band, S. 665. Vgl. ebd., S. 964: »Nicht intellektuell, sondern nur existentiell· könnten wir mit ihm fertig werden.« 1202 PerdinsLnd Ebner: Schriften. 1. Band, S. 666f. Vgl. Gerald Stieg: Karl Kraus und Ferdinand Ebner. In: Stieg: Der Brenner und die Fackel, S. 203-234. 1203 Ferdinand Ebner: Schriften. 2. Band, S. 977 (13. 9. 1922). 1204 Gerald Stieg: Karl Kraus und Theodor Haecker. In: Stieg: Der Brenner und die Fackel, S. 153. 1205 So aus dem Nachlaß im Deutschen Literaturarchiv Marbach zit. von Hinrich Siefken: The Diarist Theodor Haecker, S. 127. 1206 Theodor Haecker: Tag- und Nachtbücher, S. 124 (24. November 1940). 1197
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gung des Wiener Geisteslebens und dem politischen Exil nach 1938. Das Spektrum reicht dabei von dem »Denkmalskult«, wie ihn schon Kipphoff in den kritischen Werken Werner Krafts beobachtet, 1207 bis zur Abkehr und auch aphoristischen Neubesinnung aus treuer Anhängerschaft heraus bei Elias Canetti. Die sekundären Bekenntnisse und die primären aphoristischen Zeugnisse müssen dabei keineswegs übereinstimmen. Wie weit sich beispielsweise die Jüngerschaft Krafts in der Art seiner Aphorismen auswirkt, bleibt der späteren Untersuchung vorbehalten. Deutlich schließt Felix Pollak nach den Beobachtungen Grimms an Kraus an. Grimm spricht abwägend von einer »befruchtenden, doch dessen Eigenart in ihrer Entwicklung nirgends hemmenden oder schmälernden Wirkung«. 1208 Beider Wahlverwandtschaft kommt für ihn am deutlichsten im Verhältnis zur Sprache zum Ausdruck. Er breitet Einzelheiten wie das Wortspiel beider aus und resümiert: »Mit Kraus hingegen teilte der Emigrant zwar das hypersensible, geradezu pathologische Sprachbewußtsein; doch der Kraus'schen Tendenz zum kritischen, ja häufig schon krittelnden Ubermaß und überhaupt zum schulmeisterlichen Purismus [...] ist Pollak kaum je erlegen.« 1209 So liege ihm das Pathetische und Zänkische des Vorbildes fern. Die Aphorismen zum 50. Todestag Kraus' geben einen ersten Eindruck von der Nachfolge Pollaks: in seinem Wortspiel (»Da ihm mit Hitler alles einfiel, fiel ihm zu Hitler nichts ein.«), in seiner nicht eben falschen, aber im aphoristischen Sinne unglücklichen Wertung (»Viele der heutigen Realitäten waren seine vorgestrigen Satiren.«), in der - durchsichtig-ungeschickten - Umkehrung (»Er haßte die, die er nicht lieben konnte - eben darum.«) wie in der daraus abgeleiteten Adoration: »Er wurde selbst von denen unterschätzt, die ihn überschätzten.«1210 In einigen Fällen kann sich Pollak so wenig von dem Vorbild lösen, daß man wohl von epigonalen Tendenzen sprechen muß. Das ist aber alles so eng miteinander verschweißt, daß es im Detail an der Analyse seiner Aphorismen selbst gezeigt werden wird. Während Franz Baermann Steiner als gläubigem Juden und Prager Kraus ferner steht, auch Ludwig Strauß, ist der Einfluß von Kraus auf den Wiener Erwin Chargaff ähnlich bedeutsam und vielerorts nachweisbar wie bei Kraft. Mieder hat auf das Verhältnis zu dem Vorbild anhand des Essays Karl Kraus: Verschwundenes Einverständnis der Gedanken schon hingewiesen. Wie weit die Abhängigkeit von dem »größten Kenner der Sprachpathologie« 1211 tatsächlich geht, wird auch hier die Einzelanalyse zeigen müssen. Elias Canettis Verhältnis zu Kraus ist mehrfach beschrieben und analysiert und so facettenreich, daß hier nur Andeutungen und Verweise gegeben werden können. »Ich glaube, daß ich überhaupt niemandem so viel verdanke wie Karl Kraus«, 1212 heißt es 1971 in einem Gespräch mit Rudolf Härtung. Die bezeugte ungeheure Wirkung beruht vor allem auf den Lesungen, deren erste Canetti am 17. April 1924 hört; sie hat 1927
Petra Kipphoff: Der Aphorismus im Werk von Karl Kraus, S. 25. 1208 Reinhold Grimm: ein Aphoristiker im Gehaus: Neues aus dem Nachlaß von Felix Pollak, S. 35. Vgl. Reinhold Grimm: Nachwort. In: Felix Pollak: Lebenszeichen, S. 2 2 0 - 2 2 2 . 1 2 0 9 Ebd., S. 37. 1210 p e i j x Pollak: Aphorismen zum 50. Todestag von Karl Kraus, S. 437. 1 2 1 1 Erwin Chargaff: Vermächtnis, S. 18. 1 2 1 2 Elias Canetti: Gespräch mit Rudolf Härtung. In: Selbstanzeige. Schriftsteller im Gespräch, S. 31. 1207
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nach dem Brand des Justizpalastes und Kraus' Anti-Schober-Plakat ihren Höhepunkt. Schon bald entwickelt Canetti aber auch Vorbehalte, und die Verteidigung des DollfußRegimes durch Kraus als das kleinere Übel 1934 gerät ihm zur »tiefsten Enttäuschung an einem großen Geiste, die ich in meinen dreißig Jahren je erlebt hatte.« 1213 In Essays {Karl Kraus, Schule des Widerstands)1214 und Vorträgen (Der neue Karl Kraus) , 1215 in zahlreichen Aufzeichnungen, vor allem in Die Fackel im Ohr, und in biographischen Reflexionen in Das Augenspiel hat Canetti das Verhältnis selbst gedeutet. So heißt es 1984 (in der erst postum veröffentlichten zweiten Auswahl aus den Jahren 1973-1984/85): »Manchmal denke ich - heute noch — daß Karl Kraus mich zerstört hat.« 1216 Das macht die Sache freilich nicht unbedingt einfacher. Quack hebt die Schicht der »Rhetorik der Übertreibung« 1217 - bildliche Antithesen wie »Sklave« und »Gott« - in diesen Äußerungen ab, ehe er zu einer Analyse des Verhältnisses ansetzt. Auf beider Aphoristik bezogen, stellt schon Fricke in Bezug auf die Erwartung einer »Schülerschaft« fest: »Nichts könnte falscher sein.« 1218 Während Engelmann eher die Gemeinsamkeiten betont und auf das Sprachvertrauen beider abhebt, 1219 stellt er - richtig und wichtig - zwei zentrale Unterschiede heraus: den Verzicht auf die Attitüde des Entlarvens, den Verzicht auf sprachliche Brillanz. Quack ergänzt diese Überlegungen und geht auch einen Schritt weiter, indem er darüber hinaus auf beider unterschiedlichen Satirebegriff und die ästhetisch-ethische SprachaufFassung des einen, die archaisierende des anderen verweist. 1220 Stieg beschäftigt in diesem Zusammenhang vor allem der Kien der Blendung,1221 er verfolgt aber auch den »emblematischen Prozeß der Loslösung«1222 Canettis - verkürzt gesagt: Sonne und Bibel statt Fackel - und kontrastiert das aphoristische Werk beider, indem er die Experimentierfelder des einen mit ihrer oft zum Witz geschlossenen Form dem Geist reiner Offenheit bei dem anderen gegenüberstellt. Jüngst hat es Grubitz noch einmal unmißverständlich klargestellt: »Nicht der entlarvende Sprachwitz von Kraus, sondern die Gedankenexperimente Lichtenbergs wurden Modell fur Canettis Aphoristik.« 1223 Wenn es einstweilen auch bei solch grundsätzlicher Einschätzung bleiben muß, so viel ist deutlich: Canetti, dem Wortspiel und Pointe weitgehend fremd sind, entwickelt eine ganz eigene Art des Aphorismus oder der Aufzeichnung, wie er seine Texte nicht ohne Grund zu nennen vorzieht. Aus irgendeiner >Nachfolge< von Kraus sind sie bei aller ursprünglichen Nähe nicht zu bestimmen.
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Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1 9 3 1 - 1 9 3 7 . München, W i e n : Hanser 1985, S. 310. Elias Canetti: Das Gewissen der Worte. München, Wien: Hanser 1975, S. 39^19. Ebd., S. 2 3 4 - 2 5 6 . Elias Canetti: Aufzeichnungen 1973-1984, S. 117. Josef Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus, S. 123. Harald Fricke: Aphorismus, S. 133. Susanna Engelmann: Babel - Bibel - Bibliothek, S. 130. Josef Quack: Über Elias Canettis Verhältnis zu Karl Kraus, S. 131, 133-140. Gerald Stieg: Elias Canetti und Karl Kraus. Gerald Stieg: Karl Kraus als Emblem in Elias Canettis Autobiographie. In: Autobiographie zwischen Fiktion und Wirklichkeit, S. 184. Christoph Grubitz: Eine Gattung im Exil. Adorno, Canetti, Benyoetz und die deutsche Aphoristik nach 1933, S. 70.
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Während seine Rezeption im Exil uneinheitlich, aber im Ganzen doch beträchtlich ist, ist die Wirkung bei denen, die im Heimatland bleiben können, allen voran bei Heimito von Doderer, auffallend gering. Doderer ist von Kraus von Anfang an nicht so fasziniert wie die meisten, und der Bekannte Anton Kuhs distanziert sich im Laufe der Jahre geistig immer noch mehr. 1224 Zu den stilistischen Möglichkeiten, von denen sein lange geplantes, aber erst postum in Auswahl erschienenes aphoristisches Wörterbuch Repertorium (1969) zeugt, gehören gleichwohl solche, die zwingend an einen Bezug zu Kraus denken lassen. So nutzt die Abschlußpointe seines Artikels Familie·. »Wer sich in Familie begibt, kommt darin um« 1225 nicht nur ein auf das Alte Testament zurückfiihrbares Geflügeltes Wort, sondern versteht sich auch wohl von Kraus' Aphorismus »Das Wort >Familienbande< hat einen Beigeschmack von Wahrheit« 1226 her. Und wenn er »Meinung« definiert: »Meinungen. Meinungen sind so etwas ähnliches wie Hämorrhoiden des Geistes. Ein Schriftsteller hat leider manchmal auch Meinungen. Aber man zeigt solche grausliche Sachen doch nicht unaufhörlich vor. Nur die Hausmeister sind immerfort von irgendwas überzeugt«, 1227 so ist man gleichfalls an Kraus und seinen Meinungs-Begriff erinnert. 1228 Kaszyiiski geht auf diesen Bezug nur ganz am Rande ein; die Methode, Werte zu kompromittieren, habe Kraus vor ihm technisch perfektioniert. 1229 Generell hat Doderer wohl dort, wo er spielerische und kämpferische Elemente nutzt, die Sprichworterweiterung, die Kombination sprichwörtlicher Wendungen, das Bonmot, die Polemik, von Kraus gelernt: »Berufs-Schriftsteller. Der Berufs-Schriftsteller macht seine Muse zur Prostituierten und wird dann ihr Strizzi.«1230 Für Herbert Eisenreich bedeutet die Freundschaft mit dem verehrten von Doderer eine weitgehende Kraus-Immunisierung, und die brave Moralistik Karl Heinrich Waggerls im Stil der Jahrhundertwende ist zu bieder, als daß man einen Einfluß von Kraus auch nur erwöge. In Ludwig Hohls Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung und den Nachnotizen Von den hereinbrechenden Rändern gehört Kraus — wenn auch eindeutig nach Goethe und Lichtenberg - zu den meisterwähnten Schriftstellern. Auch ihn liest er regelmäßig 1231 ; immer auch auf ihn kommt er zurück, wenn er auf die Aphoristiker rekurriert, in deren Tradition der Prägnanz und Kürze er sich sieht. 1232 Er diskutiert das Phänomen von dessen Wirkung 1233 und ist insbesondere von der Beglaubigung durch die Persönlichkeit überzeugt, wenn er ihn wiederholt zitiert. 1234 Einen von Kraus' Apho-
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Wolfgang Fleischer: Das verleugnete Leben. Die Biographie des Heimito von Doderer, S. 163f. Heimito von Doderer: Repertorium, S. 78. 1226 Karl Kraus: Aphorismen, S. 67. 1227 Heimito von Doderer: Repertorium, S. 156. 1228 Vgl. oben S. 147. 1229 Stefan H. Kaszyiiski: Kleine Geschichte des österreichischen Aphorismus, S. 119. 1230 Heimito von Doderer: Repertorium, S. 36. 1231 Ludwig Hohl: Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung, Teil IX, S. 51. 1232 Ebd., Teil V, S. 34. 1233 Ebd., Teil II, S. 319. 1234 So ebd., Teil II, S. 56. Karl Kraus: Aphorismen, S. 224: »Gute Ansichten sind wertlos. Es kommt darauf an, wer sie hat.« 1225
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rismen wählt er zum Motto. 1235 Wer anders also sollte bei seinen Ausführungen über Die Polemik als literarische Gattung 1236 im Hintergrund stehen: »Die echte Polemik ist nicht Streit, sondern eine Kunstgattung«? 1237 Zu ihm als dem Zeitgenossen nimmt Hohl nicht immer die Haltung eines fast distanzlosen Lobpreises ein, so im - nicht unbedingt nächstliegenden - Vergleich von Maupassant und Kraus, wo sich ein Paradoxenspiel um Leicht- und Schwerverständlichkeit eröffnet: »Sein Zugang ist schwer und daher ist er einer der leichtverständlichen Schriftsteller.«1238 Der Aphorismus Karl Kraus, der mit der rhetorischen Frage »Wer ist heute größer?« einsetzt, formuliert zwar - gleichfalls etwas undeutlich - schließlich eine Kritik; sie ist aber an höchsten Maßstäben orientiert: »In Karl Kraus war nicht ein weniger Schöpferisches, sondern ein mehr Schöpferisches; was fehlte, waren die Verbindungen.« 1239 Das herausragende Zeugnis der ebenso stillen wie starken Einwirkung auch auf einen relativ abgeschlossenen Außenseiter wie Hohl aber findet sich am Schluß der Nachnotizen. Da heißt es mit einer für ihn seltenen, gegenüber Kraus allgemein aber durchaus vertrauten Demutshaltung, die sich biblischen Vokabulars bedient (»Meister«, »verworfen«): »Karl Kraus. - Kein Glück kann mir dieses Glück ersetzen, das mir nie widerfahren wird: daß ich bestünde vor dem Angesicht des Meisters; daß ich von ihm nicht verworfen würde. [..,]«1240 Eine solche Haltung fuhrt ihn gleichwohl nicht in die Epigonalität. Max Rychner hört Vorlesungen von Kraus. Er beschäftigt sich mehrfach essayistisch mit ihm, schon 1920, 1241 ohne die kritische Reserve einzubüßen. Die eigenen Aphorismen sind demgemäß von ihm weitestgehend unbeeinflußt. Das gilt cum grano salis auch von dem großen unbekannten Schweizer Aphoristiker Hans Albrecht Moser. 1242 In einem völlig anderen aphoristischen Kontext ist Kraus' Einfluß hingegen sehr bedeutsam. Für Arntzen »ist das Schreiben Theodor Adornos ohne die Texte von Kraus, sei es auch zunächst in der Vermittlung Benjamins, gar nicht zu denken.« 1243 Quack hat herausgearbeitet, »daß Adornos Kunstbegriff auf die gleiche Erfahrung wie der von Kraus zurückgeht, um nicht zu sagen, von diesem abhängig ist«, 1244 zeigt aber in erster Linie, wo Adorno dessen »Einsichten aufnimmt, weiterdenkt und ihre Gren-
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Ebd., Teil VI. Vom Schreiben: »Der Dichter [richtig bei Kraus: der Künstler] soll mehr erleben? Er erlebt mehr!« (Karl Kraus: Aphorismen, S. 283); vgl. Teil VI, S. 8 und Teil S. VI, S. 19 (Eine genaue Rezeptionsanalyse, wie sie diese Skizze nicht leisten kann, hätte sich zum Beispiel mit dem »leicht Verständlichen« bei Kraus genauer auseinanderzusetzen). Ebd., Teil VI, S. 32. Ludwig Hohl: Nachnotizen, Nr. 10. So schon lohannes Beringer: Am Weg zu den andern. Eine Lektüre von Ludwig Hohl, S. 563: »seine an Karl Kraus geschulte Polemik«. Ludwig Hohl: Die Notizen oder von der unvoreiligen Versöhnung, Teil VI, S. 19. Ebd., Teil IX, S. 90. Ludwig Hohl: Nachnotizen, Nr. 574. Max Rychner: Bei mir laufen Fäden zusammen, S. 18-34. In den Anmerkungen sind die erläuternden Briefziate Rychners wiedergegeben: Er habe — »noch ein Bub« - einen Essay über den Bewunderten geschrieben, der auf Wunsch von Kraus in dessen Verlag als Broschüre erschien. »Hofmannsthal [...] war ärgerlich darüber« (S. 383). Vgl. unten S. 583. Helmut Arntzen: Die Kraus-Rezeption nach 1945. Eine Typologie. In: Gilbert J. Carr, Edward Timms (Hg.): Karl Kraus und Die Fackel, S. 173. Josef Quack: Bemerkungen zum Sprachverständnis von Kraus, S. 241.
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zen aufzeigt«, 1245 ist also aphoristisch im Ganzen wenig von Belang. Als Beleg zieht Quack aber gerade einen Aphorismus der Minima moralia heran (die ebenfalls auf die »Gewalt« der Sätze von Kraus wie auf seine »restaurativen Züge« 1246 gleichermaßen abstellen): »In nuce. - Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.« 1247 Der Satz ist nicht nur eine klassische Umkehrung im Kraus'schen Sinne, sondern schöpft auch direkt aus diesem: »Kunst bringt das Leben in Unordnung. Die Dichter der Menschheit stellen immer wieder das Chaos her.« 1248 Auch manche polemische Definition verrät die Schulung, etwa jene Kunst-Definition, die meisterhaft mit der Ambivalenz von Wahrheit und Lüge spielt: »Kunst ist Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.« 1249 In anderen Fällen (»An der Psychoanalyse ist nichts wahr als ihre Übertreibungen.«) 1250 reicht er erkennbar an den Meister nicht heran: »Psychoanalyse ist jene Geisteskrankheit, für deren Therapie sie sich hält.« 1251 Auf Adornos Einleitung zu dem Band Der Positivismusstreit hat Quack in diesem Zusammenhang schon hingewiesen, in dem vom »Modell« 1252 Kraus die Rede ist: »Die von Kraus mikrologisch gewonnenen Analysen sind keineswegs so >unverbunden< mit der Wissenschaft, wie es dieser genehm wäre.« 1253 Über Adorno wirkt Kraus dann auch auf seine Schüler und die Kritische Linke überhaupt. Hermann Schweppenhäuser teilt Kraus' Einschätzung durch seinen Lehrer voll und ganz: »Kraus - der Rechthaber, der es wirklich hat.« 1254 Verbotene Frucht ist geradezu aus der Verbindung von Adorno und Kraus zu werten. Dafür sprechen nicht nur zahlreiche Motti und das Kapitel Die letzten Tage der Menschheit.1255 Stylus widmet sich im Kraus-Stil dessen Thema, 1 2 5 6 und die gute Paradoxen-Schule verrät sich auch sonst an mancher Stelle: Umschlag. - Je geschickter einer lügt, desto eher verstrickt er sich in die Wahrheit. 1 2 5 7 Werktag. — Ein Auskommen läßt sich immer finden, wofern man nur seine Sache recht gründlich halb macht. 1 2 5 8
Für Ulrich Erckenbrechts Sprachkritik ist Kraus das absolute Vorbild. Darüber läßt er theoretisch wie in seinen Aphorismen selbst keinen Zweifel. Die Überlegungen des
Ebd. 1246 Theodor W. Adorno: Minima moralia, S. 281. 1247 Ebd., S. 298. 1248 Karl Kraus: Aphorismen, S. 279. 1249 Theodor W. Adorno: Minima moralia, S. 298. 1250 Ebd., S. 56. 1251 Karl Kraus: Aphorismen, S. 351. 1252 Theodor W. Adorno: Einleitung. In: Theodor W. Adorno, Ralf Dahrendorf, Harald Pilot, Hans Albert, Jürgen Habermas, Karl R. Popper: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, S. 56. 1253 Ebd., S. 57. 1254 Hermann Schweppenhäuser: Dicta importuna, S. 376. 1255 Hermann Schweppenhäuser: Verbotene Frucht, S. 87-96. Vgl. auch Für Karl Kraus (ebd S. 18). 1 2 5 6 Ebd., S. 114-118. 1257 Ebd., S. 123. 1258 Ebd., S. 97. 1245
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Adorno-Schülers zum Sprachdenken gehen von Kraus aus, 1259 über zwanzig Jahrer später denkt er noch einmal über Karl Kraus und die Folgenlosigkeit1260 nach. In den aphoristischen Techniken des Wörtlichnehmens und des Wortspiels ist dessen Einfluß überall bemerkbar; man vergleiche nur die Ergänzung zu Karl Kraus,1261 Vieler Worte bedarf diese Abhängigkeit nicht; Mieder hat sie schon zur Genüge herausgestellt und zu Recht bedauert, daß Erckenbrecht vielleicht zu viel in der Schule des Krausschen Kulturpessimismus gelernt habe. 1262 Kraus ist in der Gegenwart bestimmendes Vorbild für so verschiedene Autoren wie den Literaturwissenschaftler Helmut Arntzen im Westen und den Politiker Andre Brie im Osten. Bei Arntzen steht Kraus nicht nur im Mittelpunkt der literaturwissenschaftlichen Bemühungen, er orientiert sich auch in den eigenen Aphorismen an ihm: »Karl Kraus: seine Liebe mag oft ungerecht gewesen sein, sein Haß war es nie. Und nur darin geht es um Gerechtigkeit.« 1263 Brie steht mit seinen Kraus-Zitaten in der DDR-Aphoristik nicht allein. 1264 Nicht immer läßt sich der Einfluß so deutlich nachweisen wie in Hermann Funkes Unterscheidung von Gedanke und Meinung: »Worin sich Gedanke und Meinung unterscheiden, zeigt sich darin, ob etwas gut gedacht oder gut gemeint ist.« 1265 Aber allein die Tatsache, wie oft die Sprüche und Widersprüche als Titel kopiert werden, 1266 spricht für sich. Auch der Schweizer Felix Renner bekennt, durch Kraus zum Aphorismus gekommen zu sein, 1267 und letztlich zeugt auch noch eine Detailkritik wie die Günter Barudios davon: »Was ich Karl Kraus ankreide? Er hat ohne genaue Kenntnis der Dinge Bismarck einen Künstler genannt. Deshalb konnte ihm auch zu seinem Landsmann Hitler nichts mehr einfallen.« 1268 Bei den bedeutenderen Aphoristikern ist hingegen Zurückhaltung zu spüren, so angesichts der Fülle seiner Zitate besonders auffällig bei Elazar Benyoetz. Grubitz kommt zu einem differenzierten Ergebnis. Er hält Kraus zwar immer noch für den ersten Bezugspunkt der Aphorismen über die Sprache. 1269 Beide verbinden Sprache und Ethik; 1270 im Übrigen sind die Unterschiede beträchtlich. Für Benyoetz ist Sprache nicht mehr
Ulrich Erckenbrecht: Sprachdenken, S. 22ff. Ulrich Erckenbrecht: Die Unweisheit des Westens, S. 83-91. 1261 Ulrich Erckenbrecht: Katzenköppe, S. 89. Er setzt nach bekannter Manier noch eins drauf: auf »Kyfifhäuser« und »Kaufhäuser« (Karl Kraus: Aphorismen, S. 392) »Kiffhäuser«. Vgl. ebd., S. 94f. 1262 Wolfgang Mieder: Sprich wörtlich mit den Redensarten. Zu den redensartlichen Aphorismen von Ulrich Erckenbrecht, S. 260. 1263 Helmut Arntzen: Kurzer Prozeß, S. 25. Vgl. unten S. 433. 1264 Vgl. oben S. 625. 1265 Hermann Funke: Worte und Widerworte, S. 76. Vgl. Friedemann Spicker: Der Aphorismus, S. 287f. 1266 ^ur Übernahme des Titels Sprüche und Widersprüche oder seiner Abwandlung vgl. in der Bibliographie Fienhold, Funke, Grossenbacher, Hindel, Kleinhardt, Mitsch, Rolfs, Stöckle, Uhlenbruck, Weißenborn. 1267 Wolfgang Mieder: Eine aphoristische Schwalbe macht schon einen halben Gedankensommer. Zu den Aphorismen von Felix Renner, S. 163. 1268 Günter Barudio: Wem das Wasser bis zum Halse steht . . . darf den Kopf nicht hängen lassen!, S. 48. 1269 Christoph Grubitz: Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoetz, S. 104. 1270 Ebd., S. 116.
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»Garant der Wahrheit«, 1 2 7 1 auch hat das Wortspiel bei ihm nicht wie fur Kraus eine erkenntnisversichernde, sondern allein eine sprachreflexive Funktion; 1 2 7 2 dessen autoritäre Haltung hebt er durch Selbstironie auf. 1 2 7 3 Auch für den Österreicher Franz-Josef Czernin spielt Kraus' Aphorismusverständnis keine Rolle mehr, obwohl oder gerade weil er sich essayistisch mit ihm beschäftigt. Dieser Rückgang im Einfluß von Kraus verlangt nach Antworten. Sie werden sich als Teil der gattungsgeschichtlichen Beschreibung insgesamt erweisen.
3. Zusammenfassung Die Zwischenstellung des Aphorismus zwischen Ethik und Ästhetik, Wissenschaft und Literatur bildet sich auch bei den Aphoristikern nach der Jahrhundertwende deutlich ab. Sie sind dabei von der Tradition des 19. Jahrhunderts her zu verstehen, namentlich Goethes, Ebner-Eschenbachs, Feuchterslebens. Das wissenschaftliche Element, Erkenntnis und Didaktik, prägt sich im Gefolge Goethes und Feuchterslebens in den Aphoristikern von »Weltanschauung und Wissenschaft« aus, bei Rathenau und Gerland ebenso wie im Erkenntnis-Rigorismus Morgensterns und bei Kayssler, auch bei Altenberg. Bei Ebner-Eschenbach scheinen Form und Erkenntnis in Balance; sie hat in dieser Weise Epigonen und Nachfolger(innen), von Münzer, Fischer und Phia Rilke bis Mayreder, bei Hohenemser stärker verknüpft mit dem Einfluß der französischen Moralistik. Das Ethische verdünnt sich immer mehr; eine Zwischenposition in diesem Prozeß das Jahrhundert hindurch bis Margolius oder Hauschka besetzen die Herzensaphoristiker mit ihrer Flucht in die Innerlichkeit. Das Gute wird immer einseitiger zum moralisch Guten und zum Gutwilligen. Mit Nietzsche verbindet sich die Aufwertung des Artistischen. Das bedeutet die stärkere Integration dieser Pole und die bewußte Ausformung ästhetischer Erkenntnis innerhalb der Gattung. Bei Altenberg, für den der »Aphorismus« unscharf bedeutend Ausdrucksmittel der Moderne innerhalb einer Vielzahl impressionistischer Kleinformen ist, zeigt sich im Vergleich seiner medizinischen Einzelerkenntnisse zu Feuchtersieben der zurückgelegte Weg totaler Emanzipation der literarischen gegenüber der wissenschaftlichen Erkenntnis samt der formalen Konsequenzen wie auch die Gefahr am besten, die sich daraus ergibt, wenn die dem Aphorismus eigene Spannung in seinem ZwischenRaum einer >lebendig-literarischen< wegen aufgegeben wird. In der einseitigen und vehementen Literarisierung des Aphorismus kommen mit Hille auch Bild und Erkenntnis stärker in den Blick, einstweilen in einer oft fragwürdigen Ausformung, die als Ausdruck seines Lakonismus der Stimmung bedingungslos dem »Einfall« hingegeben ist. Im Hinblick auf die weitere Entwicklung ist sie gleichwohl unbedingt hervorhebenswert. Das gilt auch fur den Bezug zu Lebendigkeit und zum (eigenen) Leben, wie er Hille, Altenberg, Kraus, Cale verbindet, und im weiteren Sinne fiir das Autobiographische,
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Ebd., S. 117. Ebd., S. 120f. Ebd., S. 177.
das sich konkret in der verdeckten Nähe zum Tagebuch bei Morgenstern, Gött, Cale, auch bei Kraus, zeigt. Mit dem Konzept ästhetischer Erkenntnis steht Kraus Nietzsche bei allen Unterschieden in der formalen Konsequenz und aller Unvergleichbarkeit (erst recht der subjektiv vermeindichen) prinzipiell nahe. Sprach- und Schauspiel sind entscheidende Kategorien. Ethik und Ästhetik fallen für ihn dabei zusammen, und er beharrt auf der Form als Erkenntnis. Schon zu Beginn des Jahrhunderts sehen wir so das Dreieck von Erkenntnis, Spiel und Bild mit Morgenstern, Kraus und Hille prominent besetzt. Der Erkenntnis-Aspekt steht von Goethe aus bei Morgenstern, Nadel, Gerland, Jaffe, Unger im Vordergrund; aus dieser Linie heraus fuhrt der Weg zu Hofmannsthal. Auf der anderen Seite trennen sich Ethik und Erkenntnis einer-, Ästhetik und Form-Spiel andererseits voneinander, eine Entwicklung, die sich im Gedankensplitter der Jahrhundertwende ankündigt und mit dem Spiel-Witz ohne Erkenntnis bei Weiß noch lange nicht zu Ende ist. Gerade die Verbindung ästhetischer Erkenntnis mit ethischem Anspruch macht die Bedeutung von Kraus aus. Mit diesem Sprach-Schauspiel im weitesten Sinne bezeichnet er den nicht mehr überbotenen Höhepunkt einer Aphoristik, die Erkenntnis aus Spiel gewinnt. Er bestimmt damit die weitere Geschichte der Gattung zum großen Teil und fuhrt sie zugleich in die Sterilität. Seine überaus starke Ausstrahlung beruht auf einer partiellen Rezeption: Ethik und Erkenntnis werden in diesem Strang der Aphoristik des 20. Jahrhunderts zugunsten eines mehr und mehr verflachenden Wort-Spiels vernachlässigt.
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II. Der deutschsprachige Aphorismus 1910-1933/38 1.
Der expressionistische Aphorismus
1.1. Epoche, Strömung, Genre Mindestens in gleichem Maße wie dem Impressionismus bietet sich dem Expressionismus mit seinem Drang zum Wesentlichen der Aphorismus an. Die Verbindung zwischen beidem macht Kurt Pinthus unwiderlediglich deutlich. »Wir Jüngeren lieben das Essentielle; wir polken das Wesentliche aus dem Leben heraus«, 1 heißt es in seinem Aufsatz zu den Kurzformen Glosse, Aphorismus, Anekdote von 1913, und das Ergebnis lautet: »Die Besseren sollten den Aphorismus nicht verschmähen, denn er ersetzt uns die alten, dicken Bücher der Philosophie.« 2 Pinthus kann die massenhaft-triviale Aphorismenliteratur der Generation zuvor nicht übersehen, hält die Gattung aber dennoch für lebendig und erneuerungsfähig: »Doch man bedenke, daß sich in die bewegliche, heitere, bittere Form des Aphorismus mehr Weltweisheit gießen läßt, als in jene syllogistischen Formeln abgeströmter Jahrhunderte.« 3 Darüber hinaus ist sie für ihn in besonderer Weise den expressionistischen Formbestrebungen angemessen, auch wenn seine Begründung mit der knappen Zeit nicht mehr als einen Topos zitiert, der in der Geschichte des Aphorismus seit Börne gebräuchlich ist: Wir gebrauchen diese knappen Formen, nicht aus Faulheit, nicht aus Unfähigkeit, Größeres zu schreiben, sondern weil sie uns Erfordernis sind. Weder wir noch andere haben Zeit zu verlieren. Wenn wir zu viel und zu lang schreiben oder lesen, rinnt draußen zu viel von dem süßen, wehen Leben vorbei, das wir fressen müssen, um weiter leben zu können.''
Neben Elementen besonderer Disposition für den Expressionismus wie eben dem Essentiellen, das Pinthus hervorhebt, einer Zusammendrängung auf das Wesentliche hin, einer Intensivierung, die sich aber eher in der Form der Ballung als in einer Konzentration ausdrückt, sind allerdings auch Aspekte auszumachen, die der Entstehung von Aphorismen als einer formbewußten, intellektuell gebundenen, wenn nicht gebändigten Literatur geradezu diametral entgegenwirken: so Dynamisierung, Gefiihlsintensität und Leidenschaftlichkeit, Formzertrümmerung und Verkündigungspathos, Wille statt Logik, wie sie an der expressionistischen Literatur herausgearbeitet wurden und wie sie im Verein mit der Intensivierung des Wesentlichen die Lyrik begünstigen. Und in der 1
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Kurt Pinthus: Glosse, Aphorismus, Anekdote. Zit. nach dem Wiederabdruck in: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, S. 654. Ebd. Ebd. Ebd. S. 655.
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Tat spielt der Aphorismus eher eine untergeordnete Rolle. Unter den 73 Bänden von Kurt "Wolffs Bücherei einer Epoche (so der Untertitel im Nachdruck) Der Jüngste Tag ist kein einziger Aphorismenband. »Die führenden Zeitschriften bleiben aphoristischen Aussagen streng abgeneigt«,5 heißt es kaum weginterpretierbar knapp 1919 in einer ebendieser »führenden Zeitschriften«. Die Probleme, die sich stellen, will man in der Korrelation eiiier zweifelhaften >Epoche< und einer zweifelhaften >Gattung< zu Aussagen über ein expressionistisches Genre >Aphorismus< kommen, habe ich früher im Einzelnen dargelegt.6 Sie verringern sich nur unbedeutend, wenn man, wie es angezeigt ist, nicht von einer literarischen Epoche ausgeht und also Aphorismenbände ohne jeden Bezug zur expressionistischen Bewegung wie die Münzers, Wertheimers, Hohenemsers oder Heimanns ohne weiteres ausschließt. Es hätte keinen heuristischen Wert, Aphorismenbände von Autoren der Aktion wie Alois Essigmann oder Salomo Friedländer oder der Weißen Blätter (Oscar Levy) nicht hinzuzunehmen, auch wenn Essigmanns epigonaler Aphoristik absolut nichts Avantgardistisches eignet und die Friedländers eine philosophisch orientierte Sonderrolle spielt. Andererseits: Was bliebe den Aussagen an Tragfähigkeit, wollte man Altenbergs ProdrömösNachträge7 oder Friedells Aphorismen Über die Weihet einbeziehen, die in expressionistischen Zeitschriften veröffentlicht wurden? Zwischen einem deutschen und einem österreichischen Anteil strikt zu unterscheiden und ihn je verschiedenen Kapiteln zuzuordnen, wie das für die Zeit davor schon nur relativen Wert hat, ist bei den engen Beziehungen zwischen den literarischen Zentren jetzt noch schwieriger. Dennoch steht der österreichische Aphorismus auch in der Zeit des Expressionismus auch in einem eigenen Zusammenhang, und dieser soll hier im Unterschied zu meinem früheren Vorgehen weiter betont werden. Gerade in seiner Beziehung zu Kraus war er zu beobachten, auch wenn dessen Einfluß im Expressionismus über Österreich hinausreicht. Das andere und wesentlichere gemeinsame Element ist die explizite Berufung auf Nietzsche, von Dallago bis Friedländer.9 Aber auch die aphoristischen Strömungen der Jahrhundertwende wirken ein. In stärkerem Maße als humoristisch gehaltene Gedankensplitter und die Herzensaphoristik einer ängstlich-defensiven Innerlichkeit weist eine Aphoristik der Menschenkenntnis bis in die expressionistischen Zeitschriften hinein. Sie gibt sich in der Nachfolge klassischer Moralistik ein zeitloses Gepräge, sei es in der oberflächlich formverliebten, zynisch-realistischen Variante Otto Weiß', sei es (vor allem) in der bedächtigbedachten, am Gehalt orientierten Art Emanuel Wertheimers, dessen Buch der Weisheit als zweite Auflage und neue Folge 1920 mitten in die Zeit des Expressionismus fällt. Sie sucht weiterhin solche immer noch und immer wieder verlogen vorgeschobenen, nach dem Krieg nun wirklich unerträglich leer gewordenen Ideale wie Glaube, Freundschaft,
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Friedrich Schwangart: Notrufe, S. 73. Friedemann Spicker: Studien zur Geschichte des deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 8 11. Dort ist auch das Material ausgebreitet, dort sind die Einflüsse im Detail untersucht. Ich greife diese Vorstudie hier in verkürzter und veränderter Form auf. Peter Altenberg: Nachtrag zu Prodromos. In: Das Forum 1, 1914, S. 8 4 - 9 7 ; Nachtrag zu meinem Nachtrag zu Prodromos. In: Das Forum 1, 1914/15, S. 2 2 3 - 2 2 4 . Egon Friedeil: Über die Weiber. In: Der Ruf 1, 1912/13, Η. 1, S. 4 1 - 4 2 . Vgl. oben S. 3 4 - 3 8 .
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Humanität zu enttarnen. Aber aufs Ganze gesehen gilt, daß diese gediegen-geschmäcklerische Aphoristik der Menschenkenntnis mit ihrer Form-Verliebtheit und intellektuellen Verspieltheit überwunden werden soll und überwunden ist. Kurt Hiller ist der beste Zeuge dafür; nichts anderes hat er im Sinn, wenn er programmatisch schreibt: »Fluch .. auf die Paradoxie! Mit einem Fluch und einem Gelöbnis: Wir Schreiber wollen endgültig nicht mehr leckere Sätze hinlegen zum Schlecken der Feinschmecker mit ihren Intellektrüsseln.«10 An die Stelle dieser »leckeren Sätze« treten These und Tatorientierung aus »Erlebnisnotwendigkeit«. In Deutschland ist ein Gravitationszentrum des expressionistischen Aphorismus deutlich wahrnehmbar. Der Aktivismus um die Freunde Kurt Hiller (1885-1972) und Rudolf Leonhard (1889-1953), beide 1918 Mitglieder des Politischen Rates geistiger Arbeiter, zeigt auffällige Affinitäten zu dem Genre. Hiller publiziert in den beiden Bänden seiner kämpferischen Zeit- und Streitschrift gegen die Literatur der Jahrhundertwende Die Weisheit der Langenweile von 1913 zwischen Essays, Aufsätzen, Porträts, Polemiken und Glossen immer wieder Aphorismen, etwa zur Denkkultur. Konsequenter noch finden seine 284 durchnumerierten »Sätze« in Der Aufbruch zum Paradies (1922) in »Aphorismus« oder »These« die adäquate Form fur den von ihm propagierten »Aktivismus«. Leonhard ist zweifellos der wichtigste Aphoristiker des Expressionismus. Er entwickelt sich vom Kriegsfreiwilligen 1914 zum aktivistischen Pazifisten und Revolutionsteilnehmer 1918 und beansprucht, als Sozialist Individualist zu sein. 1917 erscheint Äonen des Fegefeuers, mit der schärfsten Distanzierung von einer ersten Fassung Tanz auf der seidenen Leiter im Vorwort; drei Jahre später erscheint Alles und nichts!, »Kurt Hiller, dem Kameraden im Glauben ans Ziel und Freunde auf dem Wege gewidmet«. Die beiden Bände umkreisen, von Pathos und Paradoxie geprägt und durchsetzt von dialogischen Parabeln und Denkbildern, unter einem präzisen philosophisch-politischen Horizont in locker zusammenhängenden Gruppen die verschiedensten Themen, Ästhetik und Philosophie, Kunst und Wissenschaft, Religiosität, Staat, Politik und Geschichte, daneben auch Aspekte klassischer Moralistik wie Freundschaft, Liebe und Eros, Leid und Tod. Ihre unpointiert-aphoristische Erörterung schreitet einen weiten gedanklichen Raum aus, der in Pazifismus und revolutionärem Republikanismus seine Mitte hat und bei aller Wiederaufnahme im jüngeren Band stärkeren Manifest-Charakter annimmt. In engstem politischen Zusammenhang damit stehen Oskar Kanehls (1888-1929) Aphorismen (1913) und Kurt Eisners (1867-1919) Kriegsgedanken (1920) in der Aktion, desgleichen der Versuch zur geistigen Mobilisierung, als der sich Oscar Levys (1867-1946) Kriegsaphorismen (1917) verstehen. Als Einzelgestalten sind daneben der Maler Franz Marc (1880-1916) und zwei Philosophen eigener Art: Salomo Friedländer (1871— 1946) und Oskar Schirmer (geb. 1893) hervorzuheben. Marcs Aphorismen aus den ersten Kriegsmonaten, haben, 1920 zu ungefähr einem Viertel veröffentlicht, zusammen mit den Briefen »eine Breitenwirkung gezeitigt wie keine andere Schrift eines deutschen Malers der Epoche«.11 Erst 1978 werden sie vollständig bekannt. Der »lachende Philosoph< Friedländer, der als Mynona seine Grotesken veröffentlicht, faßt seine apho-
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Kurt Hiller: Der Aufbruch zum Paradies, S. 19. Klaus Lankheit: Franz Marc, S. 146.
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ristisch formulierte Lehre von der Polarität 1913 in seinem Buch Schöpferische Indifferenz zusammen. »Die Aphorismen spiegeln überhaupt seine philosophischen Ideen unmittelbarer und direkter als seine Gedichte, Romane und Erzählungen.« 12 Schirmer schreibt sein Opus metaphysicum (1925), eine Religion des Lebens, in Sätzen, die selbstreferentiell originell verkünden: »Ich nagle den Mantel des Unbekannten sorgfältig mit Aphorismen fest.«13 Wenn man auch nicht von einer expressionistischen Epoche ausgehen kann, so sind doch auch etwaige aphoristische Texte des Surrealismus und Dadaismus einzuschließen, besonders unter dem Gesichtspunkt potentieller formaler Innovationen. Allerdings lassen sich »Affinitäten der Surrealisten zur gnomischen Tradition«, 14 wie sie Helmich von Breton bis Picabia und Marcel Duchamp für Frankreich feststellt, für Deutschland nicht nachweisen. Pabst kommt in seiner Untersuchung der Formen avantgardistischer Sprachspiele als »Anti-Aphoristik und Paradoxie« auf deutsche Autoren nicht zu sprechen. Das französische poeme en prose hat in dem deutschen Prosagedicht, wie es Fülleborn zu entwickeln versucht hat, 15 keine Parallele, die entsprechend aphoristische Strukturen einschlösse. Für den deutschen Sprachraum sind hier allenfalls Die acht Weltsätze16 des »Oberdada« Johannes Baader zu nennen (»Die Menschen sind Engel und leben im Himmel.«), 17 auch vereinzelte Unsinnssprüche Johannes Theodor Baargelds: Die axt im haus erspart den bräutigam. Nieder mit der kompakten majorität der damenschneider. 1 8
Otto Flakes Thesen formulieren als Einleitung zu der kurzlebigen, von Flake, Serner und Tzara herausgegebenen Dada-Zeitschrift Der Zeltweg hingegen dadaistische Programmatik (»Die Kunst stirbt, wie die Religion gestorben ist.«),19 ohne selbst im geringsten dadaistischen Geistes zu sein. Walter Serners (1889-1942) Manifest dada Letzte Lockerung, ein Handbrevier für Hochstapler und solche die es werden wollen von 1920 ist als Zeugnis dadaistischer Aphoristik durchaus mit heranzuziehen.20 Es läßt sich als zynische Zerstörung alles Maximen-
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Joseph Strelka: Mynona. In: Wolfgang Rothe (Hg.): Expressionismus als Literatur, S. 624. »Das magische Ich, geschrieben nach 1935, das wie die Schöpferische Indifferenz eine Art Anhang oder zweiten Teil in Form einer großartigen Aphorismensammlung enthält, ist bis heute ungedruckt« (ebd., S. 634). 2001 wird es gedruckt, indes ist von der »großartigen Aphorismensammlung« nichts zu erkennen (Salomo Friedländer: Das magische Ich. Elemente des kritischen Polarismus. Aus dem Nachlaß hg. von Hartmut Geerken. Bielefeld: Aisthesis 2001). Oskar Schirmer: Sätze, S. 17· Werner Helmich: Der moderne französische Aphorismus, S. 105. Ulrich Fülleborn: Das deutsche Prosagedicht. Zur Theorie und Geschichte einer Gattung. München: Fink 1970. - Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts. Eine Textsammlung. In Zusammenarbeit mit Klaus Peter Dencker hg. von Ulrich Fülleborn. München: Fink 1976. Johannes Baader: Die acht Weltsätze. In: Baader: Oberdada, S. 43. Johannes Baader: [Aphorismen]. In: der Komet 1 (Januar 1919), Blatt 4. Johannes Theodor Baargeld: (Sprüche). In: 113 Dada Gedichte, S. 158. Otto Flake: Thesen. In: Der Zeltweg 1, 1919, S. 1. Während Fülleborn es der von ihm entwickelten Gattung der Prosalyrik zuweist (Ulrich Fülleborn [Hg.]: Deutsche Prosagedichte des 20. Jahrhunderts, S. 105), ordnet es Gilgen wie selbstverständlich der Gattung des Aphorismus zu; vgl. Peter Gilgen: Lockere Sprüche. Walter Serners letzte Lok-
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haften und >Regelrechten< interpretieren, besonderen Aspekten des Aphorismus durch seine Geschichte hindurch.21 Mit dem zweiten Teil von 1927 kehrt Serner zwar formal stärker zur traditionellen Form des Aphorismus als Regel zurück, kann insgesamt aber, eher in Serie variierend, das literarische Niveau des ersten Teils nicht halten. Die Form des Leitfadens in kurzen selbständigen Abschnitten, seine Formreflexion zu Regel und System, seine vielfältigen sprachspielerischen Versuche, sein wilder Gestus der Totalzertrümmerung verbinden sich mit höchst kontrolliertem Hinarbeiten auf eine Reihe von Thesen als Abschluß eines Kapitels, die als Definition verkleidet ein assoziatives Feuerwerk entfachen: »Venusblicke sind das einzig Sichere. Dämonie ist ein Rindslendenstück. Bettgeisttrompeten sind Barbaraien. Die Seele ist kein Brückengeländer. Die Liebe eine Schwanerei.«22 Innerhalb Serners erstaunlicher Renaissance nach 1980, die nicht hinreichend zu verstehen wäre ohne den Gattungsgesichtspunkt, ist der Einfluß auf Franz Josef Czernin von besonderer Bedeutung. 1.2. Themen Die aphoristische Reflexion der Expressionisten ist thematisch nicht begrenzt. So schneidet Hiller unter aktivistischer Perspektive Fragen der Kunst und der Politik, der Religion wie der Sexualität an. Leonhard berührt in seinen beiden Bänden von Chaos und Kosmos bis Krieg und Revolution mit fast pedantischer Konsequenz (und in loser Ordnung) eine breite Palette von Themen. Im expressionistischen Widerspruch »von Ästhetik und Aktion«23 ist aber doch recht bald ein doppelter Akzent auszumachen: der Krieg und die Kunst sowie beider Wechselwirkung. Daß die Expressionisten im Aphorismus wie in Lyrik und Prosa gleichermaßen literarisch gegen den Ersten Weltkrieg kämpfen, nimmt nicht wunder. Unter den Aphoristikern gehören zu seinen Opfern Franz Marc, Franz Janowitz, Curt Frank. In Oskar Levys Kriegsaphorismen, dem »Versuch zur geistigen Mobilisierung« gegen den Chauvinismus in allen Staaten (»Ungleiche Brüder, gleiche Kappen«),24 heißt es mit nichtsdestoweniger total infizierter Metaphorik im Vorwort: »Mit einer Handvoll Aphorismen eine so lange ausgebaute, eine so schwer verschanzte, eine so energisch verteidigte Festung sturmreif zu machen und nehmen zu wollen - es erscheint wie Wahnsinn, und einer von der Sorte ohne Methode.«25 In 114 mit Nietzsche'schen Titeln versehenen Aphorismen gibt er hier Kommentare zu aktuellen Themen auf der Grundlage eines unerschütterlichen Glaubens an den - supranationalen - Geist; programmatisch beginnt Levy: »1. Was ist ein Realpolitiker? - Ein Realpolitiker ist ein Mann, der die grössere Hälfte der
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kerung als Phänomenologie der tabula rasta. In: VerLockerungen. Österreichische Avantgarde im 20. Jahrhundert, S. 9); so auch Franz Josef Czernin: Zu Walter Serners Letzter Lockerung. In: Andreas Puff-Trojan, Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Der Pfiff aufs Ganze, S. 21-28. Der Vergleich, den einer seiner Rezensenten zieht (»heutiger als Grecian's Handorakel«), ist in diesem Sinne gar nicht abwegig (Walter Serner: Das gesamte Werk. Bd. 8, S. 154). Walter Serner: Letzte Lockerung, S. 38. Otto Best (Hg.): Theorie des Expressionismus. Stuttgart: Reclam 1976 (RUB 9817), S. 19. Oskar Levy: Kriegsaphorismen, S. 14. Ebd., Vorwort S. 6.
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Realien in der Politik vergisst, nämlich - den Geist.«26 Das führt ihn zu der - durchaus bestreitbaren - Vermutung: »Dieser Krieg wäre vermieden worden, wenn die leitenden Männer Deutschlands mehr von Göthe verstanden hätten.«27 Franz Marc mythisiert in seinen Aphorismen, »geschrieben 1915 im Felde«, den Krieg. Sein Denken, das von einer geistig-künstlerischen Erstarrung und Verunreinigung ausgeht, bewegt sich in Kategorien von Verfall und Bestrafung, von Reinigung, Rettung und Läuterung: »Der große Krieg hat dem hoffnungslosen Treiben ein rasches Ende bereitet und fuhr als Deus ex machina reinigend über die europäische Bühne.«28 Von daher sucht er den »Sinn des entsetzlichen Krieges«29 und spricht gar von seiner »regenerativen Wirkung«.30 Er kennt reine Motive neben den »unreinen«, wenn er sagt: »Auch alle unreinen Motive, die mit in diesen Krieg gezogen sind, werden gerade durch ihn zu Grunde gehn und fallen allenthalben unter sein Strafgericht.«31 Aber der Vorwurf einer sträflichen De-Realisierung des Krieges ist wohl für diese »Art Abrechnung, ein Zum-Schluß-Kommen einer unendlich langen, mich seit Jahren quälenden Denkarbeit«32 nicht recht angemessen. Kurt Eisner steht 1918 an der Spitze der Münchner Revolutionsregierung und wird im Jahr darauf erschossen; als Allerlei Kriegsgedanken33 druckt Die Aktion aus dem Nachlaß schlichte, journalistisch geprägte und von der Sache geleitete Überlegungen, hier mit einem überraschenden Einstieg: »Der Krieg ist in der Tat die Schule des Altruismus: Niemals denkt man so ausschließlich nur an die anderen und hört nur von den anderen: von der Zahl ihrer Toten, Gefangenen, Verwundeten, von ihren Völkerrechtsverletzungen und ihren Greueln.«34 Darüber sind Georg Davidsohns zwei Jahre zuvor ebendort erschienene Aphorismen »aus dem Felde« schlichtweg zu vernachlässigen, für die der Krieg nur die Kulisse für gar nicht mehr so Ausgefallene Einfalle (»Charaktere machen nicht Karriere.«)35 darstellt. Das gilt ebenso fur Puni, für den der kämpfende Soldat zur gleichen Zeit unter der Prämisse: »Der heutige Krieger ist anders, denn alle vorderen; er ist gezwungen. Nicht der >kriegerische Mensch< allein ist Krieger, jeder andere auch«36 nur der Anlaß einer ebenso leeren wie amoralisch kalten dialektischen Etüde ist. Rudolf Leonhard ist von unvergleichlich höherem Anspruch. Der Kriegsfreiwillige vom August 1914 wird abgelehnt und muß seine Zeit so zunächst, »während Europa umgebaut wird, in einem schauderhaft friedlichen entfernten Orte« 37 verbringen. Ein
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Ebd., S. 13. Ebd., S. 19. Franz Marc: Die 100 Aphorismen Das zweite Gesicht. In: Franz Marc: Schriften, S. 186. Ebd., S. 191. Ebd., S. 193. Ebd., S. 192. Zit. nach Klaus Lankheit in Franz Marc: Schriften, S. 29. Kurt Eisner: Allerlei Kriegsgedanken. In: Die Aktion 10, 1920, Sp. 386-388. Wiederabdruck: Kriegsgedanken eines überflüssigen Zeitungsschreibers, in: Eisner: Wachsen und Werden, S. 60-62. Kurt Eisner: Wachsen und Werden, S. 62. Georg Davidsohn: Ausgefallene Einfalle im Felde. In: Die Aktion 8, 1918, Sp. 359. Puni: Vom »kriegerischen Menschen« (Eine psychologische Dialektik). In: Der Friede 2, 1918/19, S. 158-159. Brief v. 15. 8. 1914; zit. nach Bernd Jentzsch: Rudolf Leonhard, »Gedichteträumer«, S. 13.
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Gespräch m i t Hasenclever, Buber u n d R o w o h l t a m Jahresende bedeutet die entscheid e n d e U m k e h r . D a s »November 1915« datierte Vorwort beginnt: Als ich, aus Kasernen, Schlachten, Lazaretten und Schreibstuben zurückgekehrt, die Schrift dieses nun schon mehrmals beendeten Buches in die Hand nahm, stürzte ein ungeheurer Schrecken mich in die tiefste Verzweiflung meines bisherigen Lebens: jäh erkannte ich, [...] daß ich selbst mit uns allen schuld habe [...]. Schuld, weil ich nichts weiß, und alles nur wissen wollte, um nichts zu wissen. 38 Wie immer man zu der Revolutionsgewißheit stehen mag, in die er sich begibt: den hohen moralischen wie politischen A n s p r u c h k a n n m a n i h m nicht absprechen, auch w e n n m a n berücksichtigt, d a ß es nicht die besten seiner A p h o r i s m e n sind, die der Kriegsteilnehmer zu Krieg u n d Militarismus f o r m u l i e r t . 3 9 D a z u sind sie in aller Regel zu direkt: Im Augenblick, wo sich das Militär in den Krieg begibt, hört der Militarismus auf. 40 Über den Krieg als Zweck ließe sich allenfalls reden, und das Verbrechen dieser Meinung steht zu bekämpfen; aber der Krieg als Mittel ist nicht nur sinnlos und gottlos, sondern auch zwecklos.41 D i e bei Leonhard seltene Pointiertheit f ü h r t zur Plakativität: »Sie schadet uns nicht, u n d es hilft E u c h nichts: w e n n wir nicht Politik treiben, wird sie m i t u n s getrieben.« 4 2 In ähnlichem Sinne ist f ü r Serner der Krieg eine
Ursache seines geistigen R u n d u m -
schlages, der n u r n o c h Schauspielerei zu e r k e n n e n vermag: Krieg! C'est la guerre! Nur hereinspaziert, meine Herrschaften! Nur hereinspaziert! ... Die Leute rennen durcheinander, verwirrt, erschreckt, entsetzt. Wo ist ein Halt? Ein Punkt? Ein Zweck? Ein Sinn? ... Sie wissen eben nicht, die lieben Leute, wozu sie eigentlich da sind, was war und werden soll, und selbst die unterstellte Überlegung, daß sie dem Privattreiben einzelner höchster Gauner dienen, vermöchte daran nichts zu ändern; auch nicht das Wissen darum, daß die Regisseure ihres Schlachtfeldtodes dieses Schauspiel lediglich inszenieren, weil auch sie sich langweilen. 43 I m Prinzip nicht anders lassen sich die A u t o r e n des österreichischen Bundesgenossen v e r n e h m e n . Für Franz Werfel ist der Krieg in seinem Aphorismus
zu diesem
Jahr
(1914)
A u s d r u c k einer umfassenderen Krise, der er sich u n t e r der Polarität von Gestalt u n d Gestaltlosigkeit zu n ä h e r n sucht: [...]Der Ausdruck dieser Krise, die blutige Gestalt des gestaldosen Gespenstes ist eben dieses Jahr 1914. Was stimmt an diesem Krieg nicht? Was ist der leere Raum in uns, was ist die Empfindlichkeit, die so oft durch berauschte Äußerungen in den Zeitungen verletzt wird? Warum sind wir fast ohne Haut gegen lügnerische Begriffe und falsche Gesten?!·..] 44
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Rudolf Leonhard: Äonen des Fegefeuers, S. 1. Ebd., S. 93ff; derselbe: Alles und Nichts, S. 154fF. Ebd., S. 95. Ebd., S. 97. Kurt Leonhard: Alles und Nichts, S. 160. Walter Serner: Letzte Lockerung, S. 23. Franz Werfel: Aphorismus zu diesem Jahr. In: Werfel: Zwischen Oben und Unten, S. 795.
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Wenn Albert Ehrenstein in den Weißen Blättern am Aphorismus orientiert seine Stimme gegen Barbaropa erhebt, beginnt er mit der Variante zu einer Strophe von Stimme über Barbaropa45 in demselben hohen apokalyptischen Ton wie in seiner Lyrik: »O ihr goldenen Abenddämmerungen, wo ist die Brücke des Stroms? Unwegsam dräut Grau-Straße unter der Ubermacht, verschüttet sind die Gleise, verschwemmt alle Furten. Wir treten einher im Wasser des Schlafs und wissen kein Ufer.« 46 Zur Kunstauffassung der expressionistischen Aphoristiker legen keine anderen als Kraus und vor allem Nietzsche die Grundlinien fest. Sie werden selektiv rezipiert und in markanteren Fällen gewissermaßen dienstbar gemacht, dem Eigenen vorgespannt. Die Kunst als höchste Wirklichkeit und Religionsersatz; der Künstler, der, prophetisch begabt, der gemeinen Moral überhoben und durch inspirative Begabung erwählt, ihr existenziell hingegeben ist und sich in der Ambivalenz von Ichvergötterung und Selbstverzweiflung zerreibt: die vitalen Reste eines seit der Romantik herrschenden Denkgebäudes haben — vielfach artikulierten — Bestand. Sie bleiben auch auf dem »linken Flügel· bei veränderter Oberflächensemantik erhalten. Erst im Dadaismus, dort aber brachial, werden sie eingerissen. In gewissem Gegensatz dazu zeigt sich von Kategorien wie Leidenschaft und Fülle her, die nicht nur bei Schwangart denkbestimmend sind, die weitgehend gemeinsame Vorstellung, daß die Kunst einer Weltanschauung diene, das Ästhetische sich dem Ethischen unterordne. Der Vorrang der Kunst ist für Dallago, ebenso wortreich wie pathetisch, Programm.47 Dieselbe Geist-Gläubigkeit steht bei Hiller im Hintergrund der als notwendig gedachten Verbindung von »Litterat und Tat«, fuhrt aber hier zu gänzlich anderen Folgerungen: »Geist ist der Inbegriff aller Bemühungen um Besserung des Loses der Menschen (des physischen und des metaphysischen). [...]«48 Er diskutiert den belasteten Begriff in vielen Anläufen. Seine Vorstellungen haben mit »jenem Geiste, der bloß Schöngeist ist«, 49 nichts zu tun; sie kreisen um ein konkretes Ziel (»Geist ohne Ziel ist Spiel; und je wichtiger er tut, desto mehr bedeutet er Jokus. [...]«) 50 Hiller dringt auf die Verbindung von »Geist und Praxis«.51 Ein solcher Geist-Begriff wird ihm dann geradezu zur »Herzthese«: »[...] Geist, entspringend aus Not und Liebe, will Änderung der Welt in Zeit und Raum - diese unbeweisbare These des Herzens bleibt die Herzthese des Aktivismus.« 52 Von daher will er der Kunst wieder einen Sinn geben: »[...] Wir verwerfen sie nicht, wir retten sie. Herabgeschändet zu Form und Spiel, erhält sie von neuem Inhalt und Ziel.« 53 Zu einer wieder anderen Konsequenz auf derselben Grundlage eines pathetisch formulierten Glaubens an die Kunst und ihre wie auch immer geartete »ethische« Bestim-
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Albert Ehrenstein: Werke. Hg. Von Hanni Mittelmann. München: Boer 1997. Band 4/1, S. 162. Albert Ehrenstein: Stimme gegen Barbaropa. In: Die Weißen Blätter 5, III, 1918, S. 55. - Ein Beispiel dafür, daß an der Grenze von Prosagedicht und Aphorismus noch Forschungsarbeit zu leisten ist. Vgl. unten S. 212f. Kurt Hiller: Aufbrach zum Paradies, S. 102, Nr. 181. Ebd., S. 103, Nr. 184. Ebd., S. 104, Nr. 185. Ebd., S. 98f„ Nr. 179. Ebd., S. 104, Nr. 185. Ebd., S. 97, Nr. 174.
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mung kommt Franz Marc. Wo es ihm um Abstraktion als »Überwindung des sentimentalen Geistes«54 geht, ist ein österreichischer Traditionalist wie Dallago als zu überwindendem gewiß mit einzubeziehen. Marc prophezeit: »[...] Die kommende Kunst wird die Formwerdung unserer wissenschaftlichen Überzeugung sein; sie ist unsre Religion, unser Schwerpunkt, unsre Wahrheit. Sie ist tief und schwer genug, um die größte Formgestaltung, Formumgestaltung zu bringen, die die Welt erlebt hat.«53 Bleibt er einerseits Kategorien wie Wahrheit, Religion, Tiefe verhaftet, bestimmt für ihn andererseits neben einer diffusen Wesenhaftigkeit der von Primitivität und Abstraktion geleitete Formgedanke das Neue in der Kunst, das eine Zeitenwende fordert: »[...] Die Kunst unsrer Epoche wird zweifellos tiefliegende Analogien mit der Kunst längstvergangener primitiver Zeiten haben f...]«. 56 Wie sich Hiller den Rückgriff auf ein traditionelles Künstlerideal durch Differenzierung erlaubt, so ist auch bei Kersten und Kanehl der Elitarismus noch nicht aufgegeben. Kersten glaubt trotz »geheimer Beziehungen zwischen Kunst und Prostitution«57 an die einzigartige Selbstbestimmung des Künstlers: »Der ist kein Künstler, der nicht jede Hoffnung täuscht, die andere für ihn hegen.«58 Kanehl reproduziert dem ersten Anschein zum Trotz die gängige »edle« Analogie der künstlerischen Produktion zum Austragen und Gebären von Kindern: Kunstwerke sind edle Hurenkinder. Sie haben alles von der gebärenden Mutter. Väter sind mehrere und man kennt sie nicht, und es ist sinnlos, nach ihnen zu forschen. Denn ihr vielfältiges Blut ist von der Mutter verwandt. Hurenkinder sind Mutterkinder. Kunstwerke sind edle Hurenkinder. 59
»Künstler« und »Mensch« stehen logisch gesehen eher in einem Ausschließungs- denn in einem Einschließungsverhältnis: »Der Mensch stirbt an Freude und Qual, der Künstler lebt von ihnen. Während der Künstler alle Leidenschaft: in seinem Werke bändigt, wird der Mensch von ihr verzehrt. Jener ist unsterblich, dieser sterblich.«60 Auch bei Hatvani scheint im Übrigen die Überhöhung noch hinter der Ambivalenz durch: »Künstler sind überflüssig. Aber die Lücken, die nicht entstünden, wenn es keine Künstler gäbe, haben Raum für eine ganze Welt.« 61 Erst in der schmalen Aphoristik des Dadaismus werden solche wie alle anderen Ideologien zerstört. In der ersten und einzigen Nummer des Zeltweg entwickelt Flake Thesen, die die gegenwärtige Kunstpraxis verurteilen: [...] Die Kunst macht zu viel Worte um die Dinge. [...] 62 [...] Kunst ist doktrinär, darum ist sie so minderwertig. 63 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63
Franz Marc: Die 100 Aphorismen Das zweite Gesicht. In: Marc: Schriften, S. 210, Nr. 87. Ebd., S. 196, Nr. 35. Ebd., S. 208, Nr. 78. Hugo Kersten: Der Leser und der Schreiber. In: Die Aktion 4, 1914, Sp. 245. Ebd. Oskar Kanehl: Aphorismen. In: Die Aktion 3, 1913, Sp. 890-891. Ebd., Sp. 891. Paul Hatvani: Salto mortale, S. 71. Otto Flake: Thesen. In: Der Zeltweg 1, 1919, S. 3. Ebd.
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Sie gehen von einer klaren, wenn auch parteilichen Analyse traditionalen Kunstverständnisses aus: »Die Kunst war ein Hilfsmittel wie die Religion, um auf anschaulichem Weg Vitalität sichtbar zu machen - Projektion des Dunkels in die Helle. [...]«64 Die daraus resultierende Verweigerungshaltung ist deutlich: Das Lieblingswort des Bürgers heißt: positiv sein. Positiv sein heißt, das Leben bejahen. Es gibt eine höhere Stufe: man ist auf ihr nicht eigentlich negativ, das Leben verneinend, aber man ist jenseits der Banalität der eifrigen Bejahung, man ist unsentimental, klar, skeptisch gegen Pathos. 65
Während dagegen die positive Skizzierung künftiger Kunstausübung bei Flake ganz undeutlich ausfällt, bleibt Serner in der Letzten Lockerung nach einer Aufzählung von Plastik, Musik, Lyrik, Roman und Drama nicht bei dieser programmatischen Summe: »[...] In summa, meine Kleinen: Die Kunst war eine Kinderkrankheit.« 66 Verbale Fanfarenstöße wie »[...] L'art est mort. [..,]«67 oder: »[...] Kunst!!! Die infantilste Form von Magie. [...]«68 gehören zu dem Versuch einer umstürzend neuen Literatur, die restlos alles, die eigene Praxis eingeschlossen, radikaler Destruktion unterwirft. Von daher stellt Backes-Haase den Zusammenhang zum Handbrevier für Hochstapler so her: »Der akzeptable neue Typus des Künstlers kann sich einzig noch in die Rolle des spielerisch agierenden Hochstaplers retten.« 69 Statt Kunst geht es hier um Kunstgriffe bis zum Rat, einem widerborstigen »Gesellschafter« ein Abführmittel einzugeben. 70 Das Scheinhafte der Kunst ist allein übrig in der Form des Hochstaplerischen, als Täuschungsmanöver: »[...] Der Schein ist immer alles.«71 Rudolf Leonhard ist demgegenüber von einer vermittelnden und differenzierenden Haltung ähnlich der Hillers: »Die neue Kunst ist nicht gut, wenn sie nicht die alte und die neue zusammen ist. Daß sie dies zu sein vermag, macht ihren Vorsprung vor der alten aus.«72 Wie der Freund läßt er demungeachtet nur eine politische Tendenzkunst gelten, allerdings ohne aktivistischen Rabatt: »[...] Tendenzkunst ist Kunst, ganz und gar, nach ihren Gesetzen und unter ihren Werten; ist Kunst, nur mit Hinzufugung eines Vorzeichens. [...]«73 Deutlicher als bei Hiller aber steht bei ihm der Kernbegriff der Kunstauffassung des expressionistischen Aphorismus im Zentrum: der des Erlebnisses: Wenn von der Bedeutung des Erlebnisses fur die Kunst gesprochen wird, wenn von ihm aus sogar die Kunst gewertet wird, dann muß schon verlangt werden, daß auch wirklich das Erlebnis, nicht das Erlebte zum Maßstab genommen wird. Auf die Tatsache des Erlebens kommt es dabei an, nicht auf den Gegenstand. [...] 74 64 65 66 67 68 65
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Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Walter Serner: Letzte Lockerung, S. 18, Nr. 9. Ebd., S. 19, Nr. 12. Ebd., S. 43, Nr. 58. Alfons Backes-Haase: >Über topographische Anatomie, psychischen Luftwechsel und Verwandtest S. 200. Walter Serner: Letzte Lockerung, S. 94, Nr. 254. Ebd., S. 130, Nr. 536. Rudolf Leonhard: Alles und Nichts, S. 181. Ebd., S. 179f. Ebd., S. 180. - Vgl. Karl Kraus: »Der Künstler soll mehr erleben? Er erlebt mehr!« (Kraus: Aphorismen, S. 283).
201
Auch wenn es nicht ganz ohne gedankliche und syntaktische Verrenkungen abgeht, wenn Leonhard formuliert, »daß Kunst, wenn auch der ideale Gegensatz zum Leben, dennoch auch nicht als Funktion nur, sondern selbst als Erscheinung lebend im Leben steht«:75 seine Forderung ist eindeutig. Im Zweifelsfall hat die Kategorie des Erlebnisses sogar gegenüber der der Neuheit den Vorrang: »Kunst sei nicht neu, sondern lebendig. [...]« 76 In beiden Aphorismenbänden kreist er in vielen Anläufen um diesen Kernbegriff fur Literatur wie Philosophie und erst recht eine Literatur im Grenzgebiet:77 »Philosophie ist objektives Erlebnis.«78 Auch für die spezifische Erlebnis-Orientiertheit des expressionistischen Aphorismus ist mit Nietzsche der entscheidende Einfluß bezeichnet. Daß wir den Begriff bei Hiller eher marginal formuliert finden, bedeutet nicht, daß er für ihn gedanklich nicht ebenso zentral wäre. Das thesenhaft Antisystematische nämlich, das er pflegt, steht für ihn »in der Beziehung der Erlebnisnotwendigkeit.«79 Nicht von ungefähr formuliert Pinthus in seinem kleinen programmatischen Aufsatz über Glosse, Aphorismus, Anekdote, dem es genügt, »den Namen Nietzsche zu nennen«, als den einen Ursprung expressionistischer Aphoristik: »Ein wühlendes Erlebnis formt sich eines Tages zu einem Satz: der Aphorismus.« 80 Damit reicht sie weit über den Aktivismus hinaus und läßt sich bei den österreichischen Autoren nicht minder eruieren. In Hatvanis Salto mortale heißt es: »Der Dichter spricht: Ich bin das Bewußtsein, die Welt ist mein Erlebnis. - « 8 1 Haefs, der den engen Zusammenhang der Sprachauffassung von Kraus und Hatvani herausarbeitet, analysiert in diesem Zusammenhang auch Hatvanis »Spracherlebnis«.82 Bei Dallago bedeutet der Begriff nicht viel mehr als die Berufung auf eine Kategorie von diffuser Bedeutung: »Wie wenig bedeutet Leben, wo ein Erleben ist.« 83 In Syntheseversuchen wie Grünewalds Erlebnis des Gedanken.r84 (so nennt er eine kleine Gruppe von Aphorismen) hat er dagegen durchaus Erkenntniswert. Am Beispiel Moritz Heimanns hat von Heydebrand den Begriff des Lebens als »Signum der Epoche um 1900«, Rasch folgend, exemplarisch erarbeitet.85 In seinen Aphorismen über Kunst und Leben vollzieht Elster zur Bedeutungshuberei eine Kreisbewegung bis ins Tautologische hinein und fast als magische Beschwörung, die über die Tatsache emphatischer Nachempfindung hinaus nichts mehr transportiert: »Sinn der Kunst ist allein Offenbarung des Lebens. Des wesentlichen Lebens. Des Lebens an sich. Durch den Künstler. Der sein Leben erlebt. Wesentlich erlebt. Der das Leben an sich 75 76 77
78 79 80
81 82
83 84 85
Ebd. Ebd., S. 181. Vgl. Rudolf Leonhard: Aeonen des Fegefeuers, S. 69, 105-115 und Rudolf Leonhard: Alles und Nichts, S. 179-181. Rudolf Leonhard: Alles und Nichts, S. 110. Kurt Hiller: Die Weisheit der Langenweile. 1. Band, S. 14. Kurt Pinthus: Glosse, Aphorismus, Anekdote. Wiederabdruck: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, S. 655. Paul Hatvani: Salto mortale, S. 73. Wilhelm Haefs: »Der Expressionismus ist tot...Es lebe der Expressionismus.« Paul Hatvani als Literaturkritiker und Literaturtheoretiker des Expressionismus. In: Klaus Amann, Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich, S. 476. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. V. In: Der Brenner 1, 1910, S. 304. Alfred Grünewald: Ergebnisse, S. 16f. Renate von Heydebrand: Moritz Heimann, S. 175ff.
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erlebt.«86 In Schirmers Sätzen wird fast so etwas wie eine Religion des Lebens entwickelt. Immer wieder berufen seine Aphorismen das traumhafte, das unergründliche, das allumfassende Leben, ohne daß es dabei zu grundstürzend neuen Einsichten käme: W i r Dichter träumen das Leben, drum ist uns das Leben ein Traum. 8 7 Von dem, der dem Leben offen steht, wird alles Lebendige gleicherweise empfangen und geliebt. 8 8
Allenfalls fragwürdige Metaphern oder spekulative Paradoxa lassen sich zwischen den Bekenntnissen individueller und kollektiver Unzulänglichkeit ausmachen: A u f Lebendiges schieße ich alle meine Pfeile, und doch stecken sie zuletzt immer in einer Attrappe. 8 9 Minnesänger des Lebens, das sind wir schließlich alle, auch die Kläglichsten von uns noch. 9 0
Vom Erlebnis ist es ein kurzer Weg zur Mystik und zum Mystischen, wie es die expressionistischen Aphoristiker auffällig häufig artikulieren.91 So überraschend das auf den ersten Blick ist, so einleuchtend auf den zweiten. Zum einen kann man allgemein feststellen: »Wer sich mit der Religiosität des Expressionismus befaßt, wird endlich die starken mystischen Tendenzen nicht übersehen können, welche die Bewegung geprägt haben.«92 Zum andern ist mit Begriffen wie Paradoxie, Wortkargheit, Lakonik, Sprachskepsis neben dem Erlebnis eine Schnittstelle speziell zwischen Aphoristik und Mystik bezeichnet. »Ich glaube, es erhellt, daß Mystik (als Gehalt) der aphoristischen Gestalt noch näher steht, als der lyrischen, dem System aber fern«,93 mutmaßt ein Rezensent von 1929 nicht zu Unrecht. Mit naheliegendem Paradox und nicht ohne geheime Sympathie stellt sich die Verbindung fvir Serner so dar: Der Mystizismus ist dort, wo er wertvoll ist, d i e Form des Erlebnisses. Er ist der Geist, der das Leben so ernst nimmt, dass er außerstande ist, es so gradeweg ernst nehmen zu können. Im Gegensatz zum Materialismus, der intelligent ist und die Wolke nur als Wassertropfenansammlung begreift. 9 ''
Eykman beantwortet die selbstgestellte Frage »Was aber bedeutet das Adjektiv >mystischnoch nicht Zersprungenes^ das »vor Fülle bebt« und »ganz erfüllt« ist, anstrebt:
134 135 136 137 138 139 140 141 142
Ebd., S. 75. Ebd., S. 84. Vgl. ebd., S. 91 und 115. Ebd., S. 12. Ebd., S. 10. Rudolf Leonhard: Äonen des Fegefeuers, S. 15. Ebd., S. 25. Rudolf Leonhard: Alles und Nichts, S. 61. Ebd., S. 8 (Fußnote). Ebd., S. 114.
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Es geschah, daß ich in leerer Zeit mich nach der Sehnsucht sehnte; aber da ich mich nach der Sehnsucht sehnte, sehnte ich mich. So war die erfüllte Sehnsucht in der Erfüllung nicht aufgehoben, und der vergebliche Zirkel des auf sich selbst Bezognen, da er vor Fülle bebte und vor Leben noch nicht zersprang, stand ganz erfüllt. 143 E r f ü l l u n g in der Selbstbezüglichkeit, w e n n auch eines vergeblichen Zirkels: D i e K o n s e q u e n z solchen D e n k e n s k a n n sich nur in der Selbstreflexivität erweisen. Bei L e o n h a r d wird nicht nur das Vereinbarkeitsdenken auf sich selbst angewandt: »Nicht nur das Unvereinbare ist unvereinbar, sondern auch das Vereinte. D a s Trennende trennt nicht nur, sondern verbindet auch, als Brücke. U n d das All ist nirgends zu finden, weil es überall i s t . « 1 4 4 A u c h der Wahrheitsvorbehalt wird über jede intellektuelle Schmerzgrenze hinaus a u f das Paradoxe selbst bezogen: » M a n kann, w e n n es uns, Abenteurern des G e d a n kens (die wir nur u m so ehrlicher sind), auch schwer wird es zu gestehn, nicht einmal die V e r m u t u n g des Wahren für das Paradoxe in A n s p r u c h n e h m e n . « 1 4 5 L e o n h a r d fährt allerdings fort: »außer nach D u r c h f o r s c h u n g der Welt — d a n n freilich geht es, u n d wenn wir die billige G e m e i n h e i t des gewollten Gegensatzes ausschließen.[...]«. D a m i t hebt er sein Paradoxon expressis verbis — das ist angesichts scheinbarer Gleichheit notwendig - energisch ab von d e m Paradoxon eines Julius Stettenheim, das als Wortspiel verp u f f t (»Ich traf neulich eine Blondine, deren ich m i c h dunkel erinnerte.«), 1 4 6 wie von d e m witzig-aufklärerisch gemeinten Paradoxon eines O t t o Weiß ( » D i e Ereignisse lehren uns oft, daß wir nichts von ihnen l e r n e n . « ) , 1 4 7 fuhrenden Vertretern gewissermaßen des i m m e r n o c h herrschenden Paradoxon-Verständnisses; d a m i t ist er i m m a n e n t d e m notwendigen, weil an die Substanz der G a t t u n g rührenden Paradoxon von Karl Kraus nahe: »Einer, der A p h o r i s m e n schreiben kann, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplitt e r n . « 1 4 8 K o n s e q u e n t ist schließlich auch nur, daß der aphoristische »Satz«, seiner Paradoxic ungeachtet, das Prinzip nicht durchbrechen kann, als »halb wahr« jeweils notwendig nicht mehr als A n n ä h e r u n g an die Wahrheit zu sein; in der gehärteten Sprache seiner Aphoristik: » D i e Wahrheit ist niemals ein Wort. Aber ein Satz verfälscht sie s c h o n . « 1 4 9 D a b e i ist Fortschritt durchaus möglich, u n d wer hier etwa eine neuerliche, n u n wirklich unauflösbare Paradoxie wittert, der hat sich diesem D e n k e n nur a n ( u n ) b e q u e m t . D i e kreisende B e w e g u n g k a n n zu einer spezifischen Fortbewegung
werden; i m Vorwort
zu Alles und Nichts! heißt es: »Unser S y m b o l ist nicht der Kreis, sondern die zitternde, die tragende, die steigende S p i r a l e . « 1 5 0 D i e s e D e n k b e w e g u n g wird in erster Linie a u f ihre F u n d a m e n t e angewandt, a u f »die Irrationalität der Vernunft«. 1 5 1 Sie zielt dabei nicht a u f nebengeordnete Gleichrangigkeit,
143 144 145 146 147 148 149 150 151
Ebd., S. 94. Ebd., S. 85. Ebd., S. 116. Julius Stettenheim: Nase- und andere Weisheiten, S. 36. Otto Weiß: So seid Ihr!, S. 15. Karl Kraus: Schriften, S. 238. Rudolf Leonhard: Alles und Nichts, S. 117. Ebd., S. 9. Ebd., S. 13. Es ist die Vermutung zulässig, daß Leonhard damit eine wichtige Vorläuferrolle für das postmoderne Denken zukommt; vgl. Wolfgang Welsch: Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam 1990 (Reclams Universalbibliothek 8681), S. 30 und 195.
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sondern auf dialektische Verflochtenheit, mehr noch: auf eine strukturelle Integration (»Exaktheit der Intuition«), die auf das >Mentale< in seiner Gesamtheit dringt (»Mut«): »Trage die Konsequenz der Exaktheit, wenn du dem Mute zur Intuition nachgegeben hast; ja habe doch den Mut zur Exaktheit der Intuition!« 152 Aus dieser umfassenden Integrationsbemühung heraus stellt sich das Vorwort zu Alles und Nichts! die rhetorische Frage: »Fühlen, Denken und Wollen: wann und wo waren sie getrennt?«153 Und in Äonen des Feuers heißt es: »Der Gedanke ist der gefährliche, der gefährlichste Weg vom Gefühl zur Phantasie.« 154 In dieser formalen Mitte seiner Aphoristik eröffnet sich offenkundig der Zusammenhang auch mit der Mystik. Wenn wir beobachten, daß das Paradox bei ihm auf einen konsequenten Höhepunkt getrieben und gewissermaßen zur aphoristischen Logik erhoben ist, erweist sich nun, wie diese Denkfigur in den Umkreis eines Mystikers, der Unsagbares sagen möchte, einzuordnen ist (oder wie er sie eingeordnet sehen will): »Das Paradoxe ist eine Erscheinung des Mystischen.«155 Gegenüber der Trivialmoralistik der Jahrhundertwende stellt Leonhards Aphoristik mit philosophisch gegründeter Paradoxie, Interpolation und Dialektik und mit ihrer Verbindung von Revolution und Mystik zweifellos eine innere Form dar, die in der formalen Erneuerung des expressionistischen Aphorismus als Zentrum und Höhepunkt zu begreifen ist. Demgegenüber können daneben, anders als in Frankreich, die vereinzelten dadaistischen und surrealistischen Versuche in Deutschland nicht mehr als einen völlig anders gearteten, schwach ausgeformten, wenn auch radikalen Endpunkt markieren.
2.
Der österreichische Aphorismus bis 1938
2.1. Der österreichische Expressionismus Von den österreichischen Expressionisten war schon mehrfach zu sprechen. An der frühen Rezeption von Karl Kraus sind sie allesamt beteiligt. Der Zusammenhang mit dem deutschen Expressionismus ist der engst denkbare, wie an manchen Stellen, der Kriegsund der Kunstthematik etwa, schon zu sehen war. Die Erlebnisorientiertheit ist nicht auf den deutschen Anteil beschränkt; Grünewald, Dallago, besonders der Theoretiker Hatvani waren schon mehrfach heranzuziehen. Offensichtlich ist aber die besondere Affinität Österreichs zu dem Genre von der Jahrhundertwende her ungebrochen, und sein Anteil ist allein quantitativ so beachtlich, daß er einen eigenen systematischen Überblick sinnvoll erscheinen läßt. Auffallend häufig sind Aphorismen in der kurzlebigen Wiener Zeitschrift Der Friede vertreten, verfaßt unter anderem von Albert Ehrenstein, Paul Hatvani, Paul Baudisch, Johannes Urzidil, Alfred Grünewald, Hermann Kesser und Otfried Krzyzanowski, und auch der Innsbrucker Brenner ist der Gattung in besonderer Weise zugetan. Wenn Klettenhammer als sein Charakteristikum »das Nebeneinander
152 153 154 155
Ebd., S. 126. Ebd., S. 9. Rudolf Leonhard: Äonen des Fegefeuers, S. 15. Ebd., S. 15.
211
von retardierenden Elementen und radikaler Innovation«156 bezeichnet, dann ist bei den dort abgedruckten Aphorismen von Autoren wie Carl Dallago, Franz Janowitz, Hugo Neugebauer, Erik Tesar oder Oskar Vonwiller die Innovation so schwer auszumachen, wie die Retardation augenscheinlich ist. Auch Ferdinand Ebner und Theodor Haecker, von denen an späterer Stelle zu reden sein wird, gehören zum Brenner-Kreis. Carl Dallago (1869-1949) veröffentlicht ab 1910 im Brenner Sämereien vom Gebirge her, aphoristische Reflexionen eines Bergwanderers, der eine in institutionalisiertem Materialismus erstarrte Menschheit auf seinen Weg einer naturorientierten, buddhistisch beeinflußten Spiritualität fuhren möchte. Nach ihrer Buchfassung {Das Buch der Unsicherheiten, 1911) fuhrt er diesen Teil seiner schriftstellerischen Tätigkeit in der Zeitschrift noch bis 1913/14 weiter. Wie stark er sich dabei anfänglich an Nietzsches Kulturkritik orientiert, auf das Vorbild hin stilisiert und ihn dabei für seine religiös-kulturkritischen Intentionen in Dienst nimmt, war schon zu sehen;157 auch der Rang, den er der Kunst zumißt, steht in diesem Zusammenhang. Der Primat der Kunst vor Wirklichkeit und Leben ist eindeutig: Vielleicht sind die einzig feststellenden Realitäten die Realitäten des Gefühls. Danach wäre Kunst höchste Wirklichkeit. 158 Kunst, wie ich sie aufgefaßt wissen möchte, als ein U n t e r b r i n g e n der Natur, ist Zuflucht für das Leben — vor dem M a n g e l an Leben, nicht Zuflucht vor dem Leben. 159
Die herausgehobene Stellung des Künstlers ist ebenso existenziell bedeutsam wie unscharf: »[...]Hier erwächst mir der Unterschied zwischen Pseudo-Kunst und Kunst, - zwischen Pseudo-Künstler und Künstler. Dieser muß sein Werk mit seinem ganzen Menschentum aufwiegen, jener entfernt sich davon.«160 Damit unterwirft er sich einer höheren Moral: »Der schöpferische Künstler muß die Moral verneinen. Es ist sein ethisches Moment.« 161 Dem künstlerischen Gottesgnadentum von der Produktion her gesehen (»Künstlerkraft ist Gotteskraft.«) 162 entspricht der Elitarismus der Rezeption (»Die Kunst gibt nur dem Einzelnen - dem Menschen, nie der Menge.«). 163 »Nicht wer etwas kann, erst wer sich selber kann, ist Künstler. [,..]« 164 Mit diesem Bild striktester Autonomie steht Dallago nicht allein. Janowitz, Neugebauer und Grünewald formulieren den Gedanken selbstbezogener Selbstausschöpfung ähnlich: Der Künstler schafft in allen Werken nur sich, d. h. er behandelt sich als Stoff, macht aus sich ein zweites, besseres Ich. [...] 165
156
157 158 159 160 161 162 163 164 165
Sieglinde Klettenhammer: »Der Scirocco ist kein Tiroler Kind und was uns im Brenner vorgesetzt, ist alles eher als Tiroler Art.« Die Zeitschrift Der Brenner 1910-1915. In: Klaus Amann, Armin A. Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich, S. 296. Vgl. oben S. 37f. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. In: Der Brenner 1, 1910, S. 159. Ebd., S. 203. Ebd., S. 201. Carl Dallago: Kleine Sämereien. In: Der Brenner 2, 1911/12, S. 629. Carl Dallago: Sämereien vom Gebirge her. VI. In: Der Brenner 1, 1910, S. 327. Carl Dallago: Kleine Sämereien. In: Der Brenner 2, 1911/12, S. 633. Ebd., S. 679. Franz Janowitz: Der Glaube und die Kunst. In: Der Brenner 10, 1926, S. 94.
212
Alle andern Berufe geben euch nur Teilwirkungen dessen, der sie ausübt. Der Dichter gibt sich selbst, den ganzen Menschen in seinem Werke. 1 6 6 Der wahre Dichter horcht in sich hinein und wähnt dabei, hinauszuhorchen. Beim PseudoDichter ist es umgekehrt. 1 6 7 Der Künstler, der hin und wieder sich selbst übertrifft, hüte sich vor Übermut. Es kommt vor allem darauf an, daß er sich erreicht. 168
Während eine ideologisch fixierte Geist-Gläubigkeit von Hiller bis Dallago reicht, ist die Verbindung von Glaube und Kunstglaube in einer einheitlichen Geist-Konzeption, deutlich etwa bei Neugebauer (»Dichter fühlen den Gott in sich, Denker versenken sich in Gott.«), 1 6 9 spezifisch fiir den Brenner und nicht verallgemeinerbar. Die Einsamkeitspose nach Nietzsche bestimmt und durchwirkt Dallagos Aphorismen: »Vorbedingung für alle Selbstzucht und Selbsterziehung: Sich n i c h t als M a s s e fühlen. [...]« 1 7 0 Und: »Hohe Errungenschaft: daß man die Schmähungen der Menge, der Massen, der Mehrheitsbegriffe wie einen Adel trage.« 171 Als ebenso prägend war die Verbindung zu Karl Kraus zu erkennen. 172 So wenig Dallago aber stilistisch bei prinzipieller Vergleichbarkeit an Nietzsche heranreicht, so weit entfernt ist er grundsätzlich von Kraus' Satire. Seine Höhenreflexionen, die um Fragen der Kunst, Religion, Politik, speziell um Liebe und Sünde, Mann und Weib kreisen, sind ausschließlich von ihrem gedanklichen Gehalt her bestimmt; der Mythos des Organischen ersetzt den aphoristischen Formwillen: »[...] Indem ich Tag fiir Tag Ähnliches erlebe, versuche ich die Gedanken festzuhalten, um sie säen zu können als ein Gewachsenes von den Bergen her.« 173 Dagegen sind die Ergebnisse Alfred Grünewalds (1884- nach 1941), die 1921 erscheinen, aber erst 1996 überhaupt wieder ins Bewußtsein gerückt werden, ihrer gewissermaßen klassischen Gestaltung wegen hervorzuheben. Es sind Aphorismen eines einzelgängerischen Lyrikers, wesentliche Nebenprodukte eines ebenso sprachbewußten wie kritisch geschärften Beobachters, weitgehend konventionell thematisch gegliedert und kreisförmig von der Antithesis des Künstlers bis zur Antithesis des Lebens aufgebaut. Ihr Titel läßt an Mautners »Klärung« denken, in der Tat sind es alles andere als vordergründig pointierte »Einfälle«: »Das Leck eines Gedankens kann nicht mit Worten verstopft werden.« 174 Was sich bei der Lektüre als erstes erschließt, ist die Angst vor Nähe, das menschliche Desinteresse, die Diskretion auch: die einsamkeitsstolze Gesinnung des als Jude wie als Homosexueller mehrfach Ausgegrenzten: »Vision: Aus dem Pfuhle streckt sich ein Arm und klopft dir auf die Schulter.« 175 Das gilt erst recht fiir den herrschenden Literaturbetrieb: »Der Sudel der neumodischen Literaturköche schmeckt
166 167 168 169 170 171 172 173 174 175
Hugo Neugebauer: Einblicke. Carl Dallago zugeeignet. In: Der Brenner 3, 1912/13, S. 130. Alfred Grunewald: Ergebnisse, S. 11. Ebd. Hugo Neugebauer: Einblicke. Carl Dallago zugeeignet. In: Der Brenner 3, 1912/13, S. 132. Carl Dallago: Das Buch der Unsicherheiten, S. 149. Ebd., S. 150. Vgl. oben S. 177. Ebd., S. 132. Alfred Grünewald: Ergebnisse, S. 16. Ebd., S. 61.
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nach R e z e p t . « 1 7 6 M i t den A p h o r i s m e n schreibt er seine »Gebrauchsanweisung«, bevor er sich den Leuten m s c h r e i b t : »Als ich erkannte, daß m a n sich den Leuten nicht gut ohne Gebrauchsanweisung verschreiben kann, entschloß ich mich z u m A p h o r i s m u s . « 1 7 7 Von formalen Innovationen sind sie frei. In j e d e m Fall ist ersichtlich, was G r ü n e w a l d v o n K r a u s gelernt hat. D i e Parallelen lassen sich bis ins Einzelne z e i g e n . 1 7 8 Sie gelten in B e z u g a u f K u n s t u n d Sprache (»Ungeschehenes geschehen m a c h e n - das Werk des D i c h t e r s . « ) 1 7 9 ebenso wie auf den geistigen Aristokratismus oder die Wortgläubigkeit (»Der Dichter erlöst verwunschene W o r t e . « ) 1 8 0 u n d erst recht a u f formale Elemente wie die U m k e h r u n g , etwa als U m w e n d u n g von Redensarten: »Wenn m a n mir die ganze H a n d gibt, will ich gleich den kleinen Finger.« 1 8 1 D e n gängigen Vergleich m i t Leib u n d Kleid hält G r ü n e w a l d ebensowenig fur zutreffend wie Kraus; er variiert ihn, übersteigt ihn eigentlich, u m die i h m wesentliche untrennbare Einheit z u m A u s d r u c k zu bringen: » G e d a n k e n in Worte kleiden? - Ich glaube, die echten k o m m e n bereits angekleidet a u f die W e l t . « 1 8 2 Grünewald u n d Dallago sind bei völlig unterschiedlichem aphoristischen Formwillen nicht nur in ihrem Elitarismus vergleichbar. B e i d e verstehen sich zunächst als Lyriker u n d nutzen die A p h o r i s m e n zur (Selbst-)Verständigung über ihr dichterisches Schaffen i m R a h m e n des schon dargelegten pathetischen Kunstglaubens: » D e m Dichter offenbart sich das Vertraute u n d wird G e h e i m n i s . « 1 8 3 D a s ist der romantische Künstler m i t seinem Zauberwort, das ist Poetologie aus dritter H a n d : » D e m Dichter ist, als sei sein Werk seit U r b e g i n n vorausgedichtet. Er entziffert Zeilen einer fernen S c h r i f t . « 1 8 4 Bei i m Prinzip gleichen Vorstellungen liegt der große Unterschied bei G r ü n e w a l d in den Paradoxa, die einfacher, aufschließender, origineller, aphoristischer sind (wenn m a n so sagen d a r f ) als das pathetisch Ideologische bei D a l l a g o : »Helle K ö p f e werden i m m e r zur Antithesis u n d z u m Paradoxon neigen. D e n n D e r [!] sah das Antlitz der Welt nicht, der nicht erkannte, daß es ein Janusantlitz s e i . « 1 8 5 Ahnlich gestaltet sich das Paradox bei Franz Janowitz ( 1 8 9 2 - 1 9 1 7 ) in den nachgelassenen u n d i m Brenner veröffentlichten A p h o r i s m e n Der Glaube und die Kunst:
»Ein
Dichter träumt nur beim hellsten Bewußtsein.« 1 8 6 » D i e G n a d e der Kunst«, der Künstler als »eine tragische G e s t a l t « 1 8 7 u n d der K o m p a r a t i v des M e n s c h e n schlechthin, das sind hier die bekannten Ingredienzen: »[...] Er war der erste, der die G n a d e der K u n s t genießen durfte. [...] D e r Künstler ist mannigfaltiger, zusammengesetzter, dunkler u n d heller, höher u n d tiefer, besser u n d schlechter als die übrige Menschheit. A n seiner inneren
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Ebd., S. 78. Ebd., S. 38. Vgl. Friedemann Spicker: Studien zum deutschen Aphorismus im 20. Jahrhundert, S. 28-32. Alfred Grünewald: Ergebnisse, S. 10. Ebd., S. 77. Ebd., S. 32. Ebd., S. 16. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 58. Franz Janowitz: Der Glaube und die Kunst, S. 100. Ebd., S. 93.
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Überfülle müßte er zu Grunde gehen - ohne Kunst. [...]« 188 Stieg resümiert, Janowitz repräsentiere »mit diesen Aphorismen ein christlich gefärbtes Verhältnis zur Kunst, das nirgends seinen Ursprung aus Weininger und Kraus verleugnen«189 könne. Sein Reglement des Teufels, von Kraus mit einer flammenden Vorbemerkung 1925 in der Fackel gedruckt, ist bemerkenswert allein durch die Gesinnung eines jungen Selbstdenkers, der immunisiert ist gegen die herrschende Ideologie seiner Zeit. In literarisch anspruchslosen, eben teuflischen Regeln zerreißt er die anerkannten Ideale wie Volk und Vaterland, Nation und Held: »Das Wort >Volk< mache man überhaupt zu einem breiten Pseudonym, hinter welchem die Namen aller Politiker Platz haben.«190 Die Aphorismen Alois Essigmanns (1878-1937), eines Beiträgers άεϊ Aktion,werden unter dem wahrlich ausgreifenden Titel Gott, Mensch und Menschheit 1916 im Verlag Axel Juncker gedruckt, in dem unter anderen Werfeis Der Weltfreund (1911) erscheint. Insofern sind sie aus dem (deutsch-)österreichischen Expressionismus-Zusammenhang nicht auszuschließen. Essigmann, nach einer militärischen Laufbahn freier Schriftsteller in Wien, bleibt hinter Grünewald stark zurück. »Keine Brücke trägt so viele Menschen als ein guter Spruch!«192 In dieser treuherzigen Überzeugung verfaßt er als Kraus-Verehrer seine konventionellen Aphorismen, so recht zweiter geistiger Aufguß: »Was man denkt, muss man nicht immer sagen; aber was man sagt, muss man auch denken.« 193 Es bleibt bei rhetorischem Pathos und im Übrigen bei witzlos-dürren Worten über Gott und die Welt und die Kunst, die Halt in der Gattung suchen und aus diesem Impetus heraus den Begriff selbstapologetisch umschreiben: »Aphorismen sind Chiffren aus dem Telegrammkodex fur Denker.«194 Paul Hatvani (1892-1975), in den zwanziger Jahren literarisch verstummt und 1939 nach Australien emigriert, ist wie Grünewald erst spät wieder entdeckt worden. Bis etwa 1921 hat er in expressionistischen Zeitschriften Österreichs wie Deutschlands publiziert, vor allem als Theoretiker, der sich selbst als Typ des Wiener Kaffeehausliteraten folgendermaßen charakterisiert: Wir sind Theoretiker. Zwischen Aphorismus und Zigarettenrauch ist das Inventar unseres geistigen Alphabets enthalten; eine Stunde an Kaffeehaustischen, ein ekstatischer Gang mit fremden Freunden durch die Nacht, der Händedruck eines lieben Mädchens, ein Wortspiel, Verzückung oder Verachtung vor einem Bild ... und wir haben das Gefühl, die Welträtsel gelöst zu haben. [...] 195
In einem Aufsatz von 1920, der eine neue, zeitgemäße Form von Prosa sucht, weist er dem Aphorismus als dem »letzten Schlupfwinkel« vergangener Sprachkraft eine Schlüsselrolle zu: »Hat sich im Laufe der Entwicklung epische Form von der balladesken Präg-
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Ebd., S. 93f. Gerald Stieg: Der Brenner und Die Fackel, S. 70. Die Fackel Nr. 691-696, Juli 1925, S. 9. Alois Essigmann: Aphorismen. In: Die Aktion 3, 1913, Sp. 586-587. Alois Essigmann: Gott, Mensch und Menschheit, S. 26. Ebd., S. 31. Ebd., S. 37. Paul Hatvani: Betrachtungen. In: Der Friede 3, 1919, S. 552.
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nanz bis schließlich zur epischen Breite verflacht..., so ist, - etwa im letzten Schlupfwinkel des Aphorismus - irgendwo noch ein Rest unabhängiger Sprachform vegetierend erhalten geblieben.«196 Der Ansatz ist allerdings nicht ausgeführt; es bleibt bei programmatischem Getöse und ebenso groß angelegter wie offener Definition: »Prosa sei Abstraktion«; »Prosa ist Revolution.« 197 Auf Thesen hin konzipiert ist sein Versuch über den Expressionismus aus der Aktion von 1917: »Der Expressionismus macht die Welt bewußt.« 198 Die den Essays zu musikalischen und literarischen Themen, unter anderem zu Lichtenberg, und den Skizzen in Salto morale von 1913 angegliederten Aphorismen sind kunsttheoretisch orientiert und mitunter ganz originell, ohne daß man gleich das Gefühl des Autors teilte, damit »die Welträtsel gelöst zu haben«. Die relativ wenigen aphoristischen Notizen Franz Werfeis (1890-1945) erscheinen ab 1910, ζ. B. in der Aktion der Aphorismus zu diesem Jahr (1914). Er formuliert mit derselben Stoßrichtung wie Hiller gegen den Wortwitz: »Traue einem Witzigen nicht über den Weg, denn wer dich an einen Kalauer verrät, der ist zu jeder Denunziation fähig.« 199 Wie diesem geht es ihm um Ethos und Tat, nicht um Brillanz. Unüberbietbar deutlich heißt es in denselben Ergänzungen zu Ex abrupto 1917: »Die Brillanz ist die Krankheit des Gedankens, die Pointe ein Geschwür, das ein redliches Sinn-Bild zu Verlogenheit, Verrat und Verdrehungen vereitert.« 200 Höchst unwahrscheinlich, daß nicht schon hier Kraus als Gegenbild im Hintergrund stünde. Wichtiger für die Gattungsgeschichte sind seine Theohgumena, die allerdings in die Exilzeit gehören. 201 Von den Autoren der Zeitschrift Der Friede seien neben Hatvani und Grünewald Paul Baudisch (1899-1977), Hermann Kesser (1880-1952) und Otfried Krzyzanowski (1891-1918) hervorgehoben. Der Wiener Schriftsteller und Ubersetzer Baudisch sammelt seine aphoristischen Zeitschriftenbeiträge, so seine Worte in den Wind und seine Anmerkungen, neben Essays in dem Band Fragmente, der 1920 mit der Widmung »Für Novalis« erscheint. Sie haben weniger mit dem romantischen Fragment als mit der Gattung zu tun, wie sie sich zu seiner Zeit durchschnittlich präsentiert. Zwei selbstbezügliche Texte seien der Illustration halber zitiert; ihre Herzenshärte folgt der aktuellen Konvention: Aphorismus und Drama haben dieselbe Spannung: Der Bogen des Unsagbaren ruht auf den Pfeilern der Sprache und des Streites. 202 W i e hart ist dieser Gedanke! Ja; er wurde im heißesten Herzen gehärtet. 203
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Paul Hatvani: Prosaisches "Weltbild. Wiederabdruck in: Paul Pörtner (Hg.): Literaturrevolution 19101925. Dokumente, Manifeste, Programme, S. 302. Ebd., S. 303. Paul Hatvani: Versuch über den Expressionismus. In: Expressionismus. Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1910-1920, S. 41. Franz Werfel: Ergänzungen zu Ex abrupto. In: Werfel: Zwischen Oben und Unten, S. 798. Vgl. oben S. 198. Ebd. Vgl. unten S. 341-343. Paul Baudisch: Aphorismen. In: Baudisch: Fragmente, S. 70. Ebd., S. 71.
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Der Schweizer Kesser ist außer als Erzähler und Dramatiker auch als Essayist hervorgetreten. In dem Band Vorbereitung (1918) sammelt er nebenher ganz ähnlich wie Baudisch seine verstreut erschienenen Aphorismen: »Die Fortschrittlichen denken an einen Weg, die Rückständigen an einen Ausweg.« 204 Krzyzanowski, ein enger Freund Gustav Mahlers, literarische Figur bei Werfel und Rudolf Fuchs, von Nietzsche und dem österreichischen Verfall geprägt, früh verstorben und - fast 205 - vergessen, zielt mit seinen wenigen Aphorismen gegen den Utopismus: »Viele halten mich für konservativ. Ein Irrtum. Ich habe nur vor dem Wald, der gewachsen ist, mehr Respekt als vor einem Tennisplatz.« 206 Von den Autoren des Brenner mag Ludwig ErikTesar (1879-1968) noch gesondert erwähnt sein. Er ist von Weininger geprägt, wird von Kraus sehr geschätzt und ist auch Mitarbeiter der FackelP7 Außer philosophischen Essays erscheinen zwischen 1912 und 1914 seine Gedanken neben Dallagos Sämereien und in ähnlicher Form in von Fickers Zeitschrift. Diese Essay-Kerne fuhren Weininger weiter, verteidigen Kraus und befassen sich mit Fragen der Literatur, mit Talent, Genie und Dilettant, mit dem Symbol. Einige wenige Aphorismen zu literarischen Gegenständen hat auch Franz Janowitz' älterer Bruder Hans (1890-1954) in jungen Jahren veröffentlicht, der wie der in Brünn geborene Wiener Erzähler Oskar Jellinek (1886-1949) und die meisten dieser Autoren in die USA emigrieren mußte. Jellineks Aphorismenhefte im Nachlaß sind noch unpubliziert. Wenn Krzyzanowski gegen den Utopismus polemisiert, so wendet er sich damit zum Beispiel und in besonderem Maße gegen Hugo Sonnenschein (1889-1953), den Vaganten und Sozialisten, der zwischen der Stilisierung zur einsamen Dichterfigur und einer politischen Führungsaufgabe schwankt. Sonnenschein publiziert während des Krieges in der Aktion und anderen expressionistischen Zeitschriften und spielt, mit Werfel und Ehrenstein befreundet, eine Nebenrolle im Wiener Literaturbetrieb; immerhin gerät er Karl Kraus ins Visier. Aphorismen und Definitionen sammelt er in den dreißiger Jahren in Terrhan oder Der Traum von meiner Erde, zusammen mit Erinnerungen, Anekdoten und Reflexionen, Zitaten und Briefauszügen, mit Impressionen und bloßen Sinneswahrnehmungen, Tagebuchaufzeichnungen und Ich-Erkundungen, Gedichten und politischen Bekenntnissen. Es sind allesamt Materialien zu einer Autobiographie, 208 persönlich zusammengehalten von der selbst zugewiesenen Rolle eines charismatischen Vagabundenführers Sonka, thematisch verknüpft durch einen aus Judentum, Christentum und Sozialismus gespeisten Utopismus. So verdienstvoll der Rechercheur Serke ist, seinem literarischen Urteil kann ich nicht folgen: »In seiner Verknüpfung von Poesie und Politik ist Terrhan ein Meisterwerk.« 209
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Hermann Kesser: Vorbereitung, S. 33. Vorher in: Der Aufschwung 1, 1919, Nr. 7, S. 14. Vgl. Hartmut Vollmer: »Diese Zeit ist nicht die meine...«. Zu Leben und Werk des 1918 in Wien verhungerten Dichters Otfried Krzyzanowski. In: Klaus Amann, Armin A.Wallas (Hg.): Expressionismus in Österreich, S. 526—548. Ottfried Krzyzanowski: Aphorismen. In: Der Friede, 2, 1918/19, S. 384. Vgl. Gerald Stieg: Der Brenner und Die Fackel, S. 289-292. Sonka: Terrhan oder Der Traum von meiner Erde, S. 224. Jürgen Serke: Hugo Sonnenschein. In: Serke: Böhmische Dörfer, S. 362.
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Es gibt sich sogleich auch selbst hinreichend als feuilletonistisch-belanglos zu erkennen: »Eine Dichtung wie ein Blitz durch die Kehle des Menschen unserer Zeit.« 210 Sonnenscheins Aphorismen bleiben als politische und poetologische Reflexionen im gedanklich Konventionellen. Sie sind formal unspezifisch, in ihrer Knappheit wohl an der politischen Parole geschult. Zu den großen Themen der Moralisten hat er nichts Neues beizutragen.· Der Trieb nach Geltung und Ruhm ist oft größer als die Angst vor dem Tod. 211 Zur Liebe gehört Wagemut. 212 Die höchste Weisheit des Lebens heißt Geduld. 213
Nur in seltenen Fällen wird eine platte Definition wie »Besitz ist Ballast«214 auch einmal in ein Bild übertragen: »Nichts als die Sonne auf den Schultern tragen.« 215 Sein Dichtungsverständnis spiegelt die Widersprüchlichkeiten seines Lebens zwischen Künstlerbewußtsein und proletarischer Massenbewegung. So heißt es einerseits: »Es gilt das sogenannte Niveau zu verlieren, um von der Masse verstanden zu werden«, 216 andererseits: »Contre coeur kann man keine Kunst machen.« 217 Sein Schwanken zwischen Poesie und Politik wird hinreichend deutlich: Das Leben im Geist ist Erfüllung. 218 Das Leben im Geiste ist nur ein Ersatz des wirklichen Lebens. 21 '
Wenn er fordert: »Ein Dichter muß auch banale Phrasen lebendig machen können«, 220 dann ist er mit solchen aphoristischen Gemeinplätzen weder Dichter noch großer Denker: »Dichten heißt, die Wahrheit sagen.«221 In der Vielfalt seiner Notizen wird der Leser nur selten zum Einhalten veranlaßt, etwa bei dem einfachen sprachlichen Niederschlag der furchtbar ideologisierten Zeit, die ihn erst nach Auschwitz und später ins Zuchthaus der tschechischen Kommunisten bringt: Zwischen Nation und Nation stehen die Toten. 222 Die Sprache wird zu eng für den Inhalt dieser Tage. 223
Nur gelegentlich wird er durch gedanklichen Neureiz zur rezeptiven Nacharbeit animiert: 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223
Ebd. Sonka: Terrhan oder Der Traum von meiner Erde, S. 34. Ebd., S. 8. Ebd., S. 230. Ebd., S. 9. Ebd., S. 12. Ebd., S. 17. Ebd., S. 7. Ebd., S. 8. Ebd., S. 55. Ebd., S. 297. Ebd., S. 36. Ebd., S. 217. Ebd., S. 124.
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Wer gehorchen gelernt hat, kann nicht gebieten. 2 2 4 Man stirbt nur einmal, neu geboren wird man, so lang man lebt. 2 2 5
Wenn Sonnenschein zu seinem Grund- und Lebensthema, der Reibung der Illusion an der Wirklichkeit, bemerkt: »Aus zerstörten Illusionen wachsen schöne Wirklichkeiten«, 2 2 6 dann sehen wir heute leider klarer, daß er auch damit nur wieder eine Illusion formuliert. Die große Aphoristik Österreichs ist mit all diesen Autoren noch nicht berührt. Sie wird in der Zeit des Expressionismus geschrieben, kommt aber erst später zur Wirkung. Das ist nicht der einzige Grund, aus dem das aphoristische Werk Franz Kafkas als singular auszugrenzen und für sich zu betrachten ist. 2.2. Franz Kafka Franz Kafka (1883-1924) hat keine Aphorismen veröffentlicht, er hat auch keine Texte hinterlassen, die er mit diesem Gattungsbegriff bezeichnet hätte. Seine Aufzeichnungen in den Oktavheften 1917/18 und in den Tagebüchern von 1920 nehmen aber unter anderem diese Form an, ob man nun von einer aphoristischen Phase von Herbst 1917 bis Herbst 1920 sprechen will 2 2 7 oder nicht. Aus den Aufzeichnungen im dritten und vierten Oktavheft, die vom 19. Oktober 1917 bis zum 26. Februar 1918 in Zürau unter dem Eindruck der diagnostizierten Tuberkulose und der unausweichlichen Trennung von Feiice entstehen, stellt er eine unbetitelte, numerierte Aphorismensammlung zusammen, im Wesentlichen noch in Zürau, abschließend aber in den Krisenmonaten August bis Oktober 1920 in der Parallelsituation nach der Entfremdung von Milena; acht neu entstandene Stücke fugt er ein. Sie ist allen Anzeichen nach als Vorform einer Druckvorlage anzusehen. 228 Als Betrachtungen über Sünde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg wird sie von Brod und Schoeps 1931 in dem Nachlaßband Beim Bau der Chinesischen Mauer veröffentlicht. Dort ist auch eine zweite, in den Tagebüchern vom 6. Januar bis zum 29. Februar 1920 im Einzelnen datierte Reihe von Aphorismen herausgehoben und unter dem Titel Er abgedruckt; heute findet sie sich wieder richtig in ihrem diaristischen Zusammenhang. 2 2 9 Es sind Dokumente von Lebenskrisen, und sie wurzeln fest im Biographischen. Es läßt sich aber beobachten, wie sie aus diesen Zusammenhängen herauswachsen. Er ist gewiß - der Gattung höchst vertraut - die grammatische Verdeckung des Persönlichen und konstruiert auch bei Kafka (obgleich in besonderer Form, wie zu sehen sein wird) eine eigene literarische Person, die nicht mehr auf Eigenes oder Fremdes rückfiihrbar ist. Die Aphorismen erschöpfen sich also nicht im Diaristisch-Autobiographischen, und
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Ebd., S. 307. Ebd., S. 51. Ebd., S. 184. So Richard T. Gray: Constructive Deconstruction. Kafkas Aphorisms, S. 224. Franz Kafka: Nachgelassene Schriften und Fragmente II, S. 113-140. Die Oktavhefte G und Η ebd., S. 29-112. Der Apparat stellt auch die Argumente zur Datierung zusammen, die sich aus dem Schriftträger ergeben. Franz Kafka: Tagebücher, S. 847-862.
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sie sind im Vergleich zu den episch-fiktionalen Ergebnissen seines Schreibens auch nicht als dessen nicht-fiktionale Reflexionen zu verstehen.230 Im Gegensatz zu dem in der Gattung Gewohnten und im Einklang mit dem bei Kafka Üblichen gibt es eine überreiche Sekundärliteratur. Das 1979 erschienene Handbuch sichtet die ältere Forschung, die die Aphorismen ganz als Texte Kafkas und gar nicht in ihrer Gattungsgestalt wahrnimmt. Der Autor Hoffmann selbst betont erklärtermaßen »die gedankliche Seite gegenüber der Formanalyse«231 und bleibt auch in den späteren Arbeiten in einem religiös-philosophischen Kontext, der von der Kabbala her Themenkreise wie Mensch und Gott oder irdisches und himmlisches Gericht erörtert.232 Es sind dies zweifellos Fragen, ohne die eine angemessene Interpretation von Kafkas Aphorismen nicht möglich ist; hier sollen sie dennoch zugunsten von deren Bewertung innerhalb der Gattungsgeschichte hintanstehen. Herauszuheben unter diesem Aspekt ist eine ältere Arbeit, die scheinbar nichts mit dem Aphorismus zu tun hat, jedenfalls keinen im Titel erkennbaren Bezug zur Gattung herstellt: Neumanns Aufsatz über Umkehrung und Ablenkung. Ohne auf den Aphorismus bei Kafka als Aphorismus zu sprechen zu kommen, bedient er sich in genauester Analyse des »gleitenden Paradoxes« ganz überwiegend aphoristischer Beispiele. Auch sonst streift er von Umkehrung und Paradoxon her den Gattungsbezug nur, aber höchst einsichtig und mit Hinweisen, an die mit Gewinn anzuknüpfen ist. So konstatiert er, es »wäre eine solche Art der moralistischen Diagnose aus dem Paradox des ruhen wollenden und nicht ruhen könnenden Menschen bei La Bruyere so gut zu finden wie bei Montaigne oder Lichtenberg. Für Kafka gilt dieses Denkverfahren des aufschließenden, Denkreize auslösenden oder Unbegreifliches abbildenden Paradoxes nicht.« 233 Die Bände der Kritischen Ausgabe eliminieren die Titel und Anordnungen von fremder Hand und lassen die Texte endgültig mit ihrem Kotext und in gesicherter Textgestalt erkennen. Davon abgesehen bildet weniger das Handbuch den Einschnitt in der Forschungsgeschichte als Grays Studie von 1987, die sich erstmals grundsätzlich und intensiv der Gattung zuwendet und mit dem Titel-Zitat auftauende Zerstörung Kafkas aphoristische Methode bezeichnet sehen will. Im Mittelpunkt steht dabei die österreichische Sprachkrise um die Jahrhundertwende. Obwohl Kafka für mich (in erster Linie) eine andere Krise zu leben scheint und ich in seiner Hinwendung zum Aphorismus keine kalkulierte Strategie zur Uberwindung der Kommunikationskrise erkennen und aufbauende Zerstörung auch nicht als das sehen kann, was er ausdrücklich bezweckt, so ist doch an Grays Ergebnisse, etwa für die möglichen aphoristischen Vorbilder und zur »suggestive metaphor«, unbedingt kritisch anzuknüpfen. Die Genauigkeit der Studie im Einzelnen wie die Vielzahl der Aspekte vor dem Hintergrund der Gattungsgeschichte machen sie schlechthin zur Grundlage.
In diesem Sinne beispielsweise auch Richard T. Gray: Constructive Deconstruction. Kafkas Aphorisms, S. 224. 2 3 1 Werner Hoffmann: Aphorismen. In: Kafka-Handbuch, S. 476. 232 w e r n e r Hoffmann: Kafkas Aphorismen und der Roman »Das Schloß«. In: Was bleibt von Franz Kafka?, S. 9 3 - 1 1 3 . - Derselbe: »Ansturm gegen die letzte irdische Grenze«. Aphorismen und Spätwerk Kafkas. 1984. 2 3 3 Gerhard Neumann: Umkehrung und Ablenkung: Franz Kafkas >Gleitendes Paradoxe In: Franz Kafka, S. 474.
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Die jüngeren Arbeiten, die Kafkas Aphorismen in den Blick nehmen, wenden sich in der Mehrzahl wieder der klassischen Interpretation des Gehalts und der theologischen Einordnung zu. Dietzfelbinger meditiert über die Aphorismen als den »archimedischen Punkt«, »von dem aus Leben und Werk Kafkas erst verständlich werden«:234 »ein Dokument der Erfahrungen mit dem >Unzerstörbaren