Der demokratische Nationalstaat in den Zeiten der Globalisierung: Politische Leitideen für das 21. Jahrhundert. Festschrift zum 80. Geburtstag von Iring Fetscher 9783050081212, 9783050037561

Iring Fetscher (geb. 1922) lehrte von 1963 bis 1987 Politikwissenschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankf

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German Pages 273 [276] Year 2002

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Der demokratische Nationalstaat in den Zeiten der Globalisierung: Politische Leitideen für das 21. Jahrhundert. Festschrift zum 80. Geburtstag von Iring Fetscher
 9783050081212, 9783050037561

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Herfried Münkler Marcus Llanque Clemens K. Stepina (Hg.) Der demokratische Nationalstaat in den Zeiten der Globalisierung

Herfried Münkler Marcus Llanque Clemens K. Stepina (Hg.)

Der demokratische Nationalstaat in den Zeiten der Globalisierung Politische Leitideen für das 21. Jahrhundert Festschrift zum 80. Geburtstag von Iring Fetscher

Akademie Verlag

Gedruckt mit Unterstützung der Friedrich-Ebert-Stiftung, der Stadt Frankfurt/M. und des Landes Hessen

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Ein Titeldatensatz für diese Publikation ist bei Der Deutschen Bibliothek erhältlich ISBN 3-05-003756-3 © Akademie Verlag GmbH, Berlin 2002 Das eingesetzte Papier ist alterungsbeständig nach DIN / ISO 9706. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Einbandgestaltung: Günter Schorcht, Schildow Satz: Katrin Moya Restrepo Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer", Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany

INHALT

Vorwort I.

II.

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Kulturkonflikt und Identitäten

13

Leszek Kolakowski Kann die Menschheit ihr Menschsein noch retten?

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Erhard Denninger Integration und Identität. Eine Bitte um etwas Nachdenklichkeit

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Dan Diner Neutralisierung und Tolerierung von Differenz Über institutionelle Internalisierungen von Religion und Ethnos

41

Wolfgang Huber Europa als Wertegemeinschaft. Seine christlichen Grundlagen gestern, heute, morgen

57

Globalisierung, Menschenrechte, Völkerrecht

71

Udo E. Simonis Wer rettet die globale Ökologie? Plädoyer für eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung

73

Oscar Negt Ist die Welt eine Börse? Notwendige Differenzierungen der Wirklichkeitsschichten im Globalisierungsprozeß

89

Klaus von Beyme Globalisierung, Europäisierung, nationalstaatliche Integration und Regionalisierung

101

Klaus Jürgen Gantzel „Völkerrechtswidrig!" - zu leicht dahin gesagt. Essayistische Überlegungen eines Friedensforschers

113

INHALT

6

Dieter Senghaas Der aufhaltsame Sieg der Menschenrechte

127

Erhard Eppler Die privatisierte Gewalt und der Krieg

137

III. Die Zukunft der Demokratie

143

Ernst Gottfried Mahrenholz Das Volk und seine Wahlzeit

145

Norman Birnbaum Einige Probleme mit der Demokratie

151

Herfried Münkler Neue Oligarchien? Über den jüngsten Wandel der Demokratie unter dem Einfluß von neuen Medien und veränderter Bürgerpartizipation

163

Walter Euchner Die Deutschen und ihre Revolutionen

175

Thomas Meyer Parallelgesellschaft und Demokratie

193

Jürgen Kocka Die Vielfalt der Moderne und die Aushandlung von Universalien

231

Axel Honneth Idiosynkrasie als Erkenntnismittel. Gesellschaftskritik im Zeitalter des normalisierten Intellektuellen

241

Bibliographie der Schriften von Iring Fetscher

253

Autorenverzeichnis

273

Vorwort

Die Vita eines produktiven Wissenschaftlers und Autors erzählt sich oft detaillierter und anschaulicher über die Bibliographie als über die dürren Daten der Biographie. Die Herausgeber haben sich darum entschlossen, der Festschrift zum 80. Geburtstag Iring Fetschers eine umfassende Bibliographie seiner Werke und Schriften beizufügen, die im übrigen - ein eindrucksvollerer Nachweis geistiger Vitalität und praktischer Präsenz ist kaum vorstellbar - von Iring Fetscher selbst erstellt worden ist. Sie bilanziert zugleich eine besonders intensive Begleitung der politischen Geschichte Deutschlands von den 50er Jahren bis heute und zeugt von Fetschers unausgesetztem Bemühen, durch die kritische Auseinandersetzung mit der politischen Ideengeschichte, insbesondere mit Hobbes und Rousseau, Hegel und Marx, Antworten auf die politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der jeweiligen Gegenwart zu finden. Die Bibliographie Iring Fetschers stellt insofern das sich über einen Zeitraum von mehr als fünfzig Jahren erstreckende Begleitstück dessen dar, was auch die Beiträger der Festschrift in ihren Aufsätzen und Essays versuchen: eine kritische Bestandsaufnahme der Gegenwart, die zum Ziel hat, die früheren Erwartungen mit deren aktuellem Realisierungsgrad abzugleichen, nicht bloß, um deren Gelingen oder Scheitern zu konstatieren, sondern um daraus zugleich Perspektiven und Prognosen für die Zukunft und die sich in ihr stellenden Herausforderungen zu entwerfen. Der Titel dieser Iring Fetscher zum 80. Geburtstag gewidmeten Festschrift Der demokratische Nationalstaat im Zeitalter der „Globalisierung". Politische Leitideen für das 21. Jahrhundert - nimmt insofern die Grund intention auf, die Iring Fetschers politikwissenschaftliche Studien wie seine politisch-publizistischen Interventionen stets angeleitet und getragen hat. Iring Fetscher wird in dieser Festschrift nicht zum ersten Mal geehrt. Bereits anläßlich seines 60. Geburtstags fand an der Johann Wolfgang Goethe-Universität, an der er von 1963 bis 1987 Politikwissenschaft lehrte, ein wissenschaftliches Symposium statt, das der Frage gewidmet war, ob in einem nach dem sich damals ab-

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VORWORT

zeichnenden Ende des „sozialdemokratischen Jahrzehnts" bereits erkennbaren Neuaufstieg des Konservatismus eine Gefahr für die Freiheit zu sehen sei. Die Beiträge dieses Symposiums sind - gleichsam als eine erste Festschrift - als Buch veröffentlicht worden.1 In der Antwort, die Fetscher damals auf seine von Kurt Sontheimer im Rahmen des Symposiums vorgetragene Charakterisierung als ,Konservativer Utopist' 2 gegeben hat, hat er sein politisches Denken gegen einen abgründigen Pessimismus, wie er bei vielen Konservativen zu finden sei, aber auch „gegen den unreflektierten Optimismus der Technokraten und ihr Versprechen einer endlosen quantitativen Steigerung des Konsums" zu konturieren versucht. Dabei hat er für sich eine philosophische Anthropologie reklamiert, die auf der Annahme beruht, „daß ein über das Lebensnotwendige hinausgehender Konsum Ersatzbefriedigung für schwerwiegende Verluste sei, während wahre Befriedigung nur aus sinnvoller Betätigung und Anerkennung erwachsen könne".3 „Iring Fetscher", so hatte Sontheimer zuvor geltend gemacht, „hat seinen Rousseau, mit dem er sich vor Jahrzehnten in die deutsche politische Wissenschaft eingeführt hat, nie im Stich gelassen."4 Dem hätte und hat Fetscher nicht widersprochen, und er hätte wohl auch nicht widersprochen, wenn Sontheimer hinzugefügt hätte, daß zu dem prägenden Einfluß Rousseaus zeitweilig starke Anregungen durch die von Marx wie Freud gespeiste Kapitalismuskritik Herbert Marcuses hinzugekommen sind. Fetscher selbst hat im übrigen in seinem autobiographischen Versuch, das eigene Leben in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und während der Nachkriegszeit zu verstehen, notiert, er sei 1956 eigens wegen Herbert Marcuse von Tübingen nach Frankfurt gefahren, um sich mit dessen freudianisch angeleiteter Kritik des Kapitalismus auseinanderzusetzen.5 Daß es danach noch über zehn Jahre gedauert hat, bis Marcuse in Deutschland ,entdeckt' worden ist, zeugt von Fetschers Sensibilität für Themen, Probleme und deren attraktive Bearbeitung, auf die man sich fast immer verlassen konnte. Das zeigt sich in seiner vor allem in den 60er Jahren erfolgten intensiven Auseinandersetzung mit dem Marxismus und seinen ideologischen Verzweigungen, vor allem aber in dem immer wieder unternommenen Versuch, unter den Verzerrungen und Verstellungen des parteioffiziellen Marxismus den ursprünglichen emanzipatorischen Impuls der Marxschen Theorie wieder freizulegen.6 Es kam die Thematisie-

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Eike Hennig/Richard Saage (Hg.), Konservatismus - eine Gefahr für die Freiheit? Für Iring Fetscher, München/Zürich 1983. Kurt Sontheimer, Iring Fetschers utopisch verlängerter ,Wertkonservatismus', in: Konservatismus- eine Gefahr für die Freiheit?, a. a. O., 318-324. „Zusammenfassung der Diskussion", in: Konservatismus - eine Gefahr für die Freiheit?, a. a. 0., 349f. Sontheimer, Iring Fetschers utopisch verlängerter ,Wertkonservatismus', 324. Mit „seinem Rousseau" spielt Sontheimer auf Fetschers Habilitationsschrift an, die unter dem Titel Rousseaus politische Philosophie. Zur Geschichte des demokratischen Freiheitsbegriffs, Neuwied/Berlin 1960, erschienen ist. Iring Fetscher, Neugier und Furcht. Versuch, mein Leben zu verstehen, Hamburg 1995, 470ff. Hier ist vor allem zu nennen: Iring Fetscher, Karl Marx und der Marxismus. Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, München 1967, ders., Der Marxismus. Seine Geschichte

VORWORT

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rung des Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik Deutschland hinzu, und zwar zu einem Zeitpunkt, da er noch nicht ins allgemeine Bewußtsein getreten und auch kein in den Medien immer wieder behandeltes Thema war, 7 sowie die intensive Auseinandersetzung mit dem Terrorismus, der vor allem in der zweiten Hälfte der 70er Jahre die Bundesrepublik erschütterte, und der teilweise kontraproduktiven Reaktion der Staatsseite auf die zunächst als Provokation angelegten terroristischen Aktionen. Und als viertes Feld von Fetschers wissenschaftlich-publizistischem Engagement ist schließlich die intellektuelle Begleitung der Ökologiebewegung seit den späten 70er/frühen 80er Jahren zu nennen, in der Fetscher versuchte, dem zunächst nur punktuell und situativ angelegten Engagement Hinweise zu geben, wo intellektuelle Vorläufer und Bausteine für eine Theorie ökologischer Reformen zu finden seien, und in der er sich zugleich darum bemühte, Gewerkschaften und Sozialdemokratie stärker für die ökologische Herausforderung zu sensibilisieren. 9 Viele Jahre vor Bildung der ersten rot-grünen Koalition in Hessen hat Fetscher über deren theorie- und ideengeschichtliche Grundlagen nachgedacht. 1987 fand anläßlich Fetschers 65. Geburtstag erneut ein wissenschaftliches Symposium an der Goethe-Universität Frankfurt statt, das sich dieses Mal dem Zusammenhang von Kultur und Politik widmete und der Frage nachging, wie die inzwischen allenthalben zu konstatierenden Brechungen der seit dem wirtschaftlichen und politischen Wiederaufstieg der Bundesrepublik Deutschland vorherrschenden Fortschrittsperspektive politisch fruchtbar gemacht werden könnten. 10 Freilich war der Eindruck einer tiefgreifenden intellektuellen Ratlosigkeit der politischen Linken zu diesem Zeitpunkt bereits vorherrschend, und es zeugt abermals von Fetschers Sensibilität für politisch-intellektuelle Konstellationen, daß der Beitrag, den er selbst zu diesem Symposium beisteuerte, sich mit Fragen der politischen Satire von Brecht bis Grass beschäftigte. 11 Das kam natürlich nicht von ungefähr, hatte Fetscher zuvor sich doch selbst mehrfach am literarischen Genre der Satire erprobt und mit seinen Verwirrungen von 13 (!) Märchen der Gebrüder Grimm einen großen

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in Dokumenten, 3 Bde., München/Zürich 1976, und vor allem ders., Von Marx zur Sowjetideologie, Frankfurt/M. 1956. Iring Fetscher (Hg.), Rechtsradikalismus, Frankfurt/M. 1967, sowie ders., Neokonservative und ,Neue Rechte', München 1983. Iring Fetscher, Terrorismus und Reaktion, Frankfurt/M. 1977, sowie ders./Herfried Münkler/Hannelore Ludwig, Ideologien der Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland, in: Iring Fetscher/Günter Rohrmoser, Ideologien und Strategien. Analysen zum Terrorismus, Bd. 1, Opladen 1981, 15-271. Iring Fetscher, Überlebensbedingungen der Menschheit. Zur Dialektik des Fortschritts, München 1980, noch einmal in überarbeiteter Form: Berlin 1991, sowie ders., Vom Wohlfahrtsstaat zur neuen Lebensqualität. Die Herausforderungen des demokratischen Sozialismus, Köln 1982. Herfried Münkler/Richard Saage (Hg.), Kultur und Politik. Brechungen der Fortschrittsperspektive heute. Für Iring Fetscher, Opladen 1990. Iring Fetscher, Politische Satire in der Bundesrepublik Deutschland - Anmerkungen eines Sozialwissenschaftlers, in: Münkler/Saage (Hg.), Kultur und Politik, 19-32.

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VORWORT 1 ")

publizistischen Erfolg erzielt. Daß er dabei unter den Verwirrmethoden neben denen der philologischen Textkritik auch die der Psychoanalyse sowie die des historischen Materialismus einsetzte, zeigt einmal mehr die gelassene, immer die Möglichkeit der ironischen Distanzierung einschließende Art, in der er schrieb und lehrte. Dabei blieb er im Kern seines Wesens immer ein Moralist, getreu dem Motto, daß die Satire die Maskierung des Moralisten sei. In den achtziger Jahren hat sich Fetscher wieder verstärkt seinem wissenschaftlichen Hauptarbeitsgebiet, der politischen Ideengeschichte zugewandt, die er auch in den beiden vorangegangenen Jahrzehnten seit Übernahme der Professur für Politikwissenschaft in Frankfurt immer wieder mit Schwerpunktsetzungen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert bearbeitet hat.13 Mit dem Projekt eines Handbuchs der politischen Ideen, das nicht nur einzelne Autoren darstellen, sondern auch größere Entwicklungsprozesse bis in ihre untergründigen Tendenzen hinein erfassen sollte, ging es auch darum, der politischen Ideengeschichte in Deutschland eine umfassend angelegte, interdisziplinär ausgerichtete und den Stand der Forschung zusammenfassende Darstellung zu verschaffen, die beispielsweise mit der Cambridge History of Political Thought oder der Storia delle idee politiche, economiche e sociali vergleichbar wäre. In Zusammenarbeit mit Kollegen aus der Geschichtswissenschaft, der Philosophie, der Jurisprudenz und insbesondere der Politikwissenschaft entstand während eines Zeitraums von zehn Jahren ein fünfbändiges Handbuch der politischen Ideen, mit dem es noch einmal gelang, die führende Rolle der Politikwissenschaft bei der Bearbeitung ideengeschichtlicher Fragen zu behaupten.14 Der Beitrag, den Iring Fetscher damit für die Positionierung der Politikwissenschaft innerhalb des universitären Fächerspektrums geleistet hat, kann kaum überschätzt werden. Anläßlich Iring Fetschers 70. Geburtstag im Frühjahr 1992 erschien eine weitere Schrift ihm zu Ehren, die sich mit Grundproblemen der Demokratie beschäftigte.15 An sie knüpft die nunmehr anläßlich Fetschers 80. Geburtstag vorgelegte Festschrift an, die sich mit den Perspektiven politischer Ordnung nach dem Niedergang des Nationalstaats beschäftigt. Kollegen, Freunde, Schüler und Weggefährten haben Beiträge geliefert. Die Drucklegung dieser Festschrift wäre nicht möglich gewesen ohne namhafte Zuschüsse von Frau Ministerin Ruth Wagner im Namen des Hessischen Ministeriums für Wissenschaft und Forschung, der Oberbürgermeisterin der 12

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Iring Fetscher, Wer hat Dornröschen wachgeküßt? Das Märchen-Verwirrbuch, Düsseldorf 1972, seit 1974 auch als Taschenbuch: Frankfiirt/M.; vgl. weiterhin ders., Der Nulltarif der Wichtelmänner. Märchen- und andere Verwirrspiele, Düsseldorf 1982, seit 1984 auch als Taschenbuchausgabe: Frankfurt/M. Ausdruck dessen ist der auf Politiktheoretiker vom 17. bis 19. Jahrhundert bezogene Band Herrschaft und Emanziption. Zur Philosophie des Bürgertums, München 1976. Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, 5 Bde., München/Zürich 1985-1993. Herfried Münkler (Hg.), Die Chancen der Freiheit. Grundprobleme der Demokratie. Iring Fetscher zum 70. Geburtstag, München 1992.

VORWORT

il

Stadt Frankfurt am Main, Frau Petra Roth, im Namen des Magistrats sowie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Der Leiter des Akademie Verlags, Dr. Gerd Giesler, war sogleich bereit, das Projekt zu unterstützen und es in das Programm des Verlages aufzunehmen. Allen, die zum Gelingen dieser Festschrift beigetragen haben, gilt unser aufrichtiger Dank. Herfried Münkler Marcus Llanque Clemens K. Stepina

Berlin/Wien, Februar 2002

I. Kulturkonflikt und Identitäten

LESZEK KOLAKOWSKI

Kann die Menschheit ihr Menschsein noch retten?1

Werden wir noch den Zerfall der Kommunistischen Regime betrauern? Sie hielten j a - wie es scheint - nationale Feindseligkeiten mit Gewalt unter dem Deckel und sorgten dafür, daß sie keine explosiven Formen annehmen; und dürfen wir nicht sagen, daß die Nationen Jugoslawiens, die - wie sie selber sagen - ihr Selbstbestimmungsrecht befestigen wollten, heute kaum in einer besseren Lage sind als unter Titos Diktatur? Das ist natürlich eine Halbwahrheit. Je schwächer und unglaubwürdiger die herrschende Ideologie des Kommunismus wurde - und deren Verfall zog sich über einige Jahrzehnte hin - , desto mehr mußten die Regierenden nach einem anderen Legitimierungsprinzip suchen, um einen minimalen Kontakt mit der Bevölkerung aufrechtzuerhalten, und nationales Interesse, nationaler Ruhm waren das einzige, was geblieben war, um ihrer Macht den Anschein von Legitimität zu verleihen. Die ursprüngliche Erwartung der kommunistischen Ideologie, der zufolge die Nationalismen und die Nationen selbst als die anachronistischen Überbleibsel bald dahinschwinden würden, hatte sich als falsch herausgestellt, und das ist den kommunistischen Eliten offenbar schon früh klar gewesen. Wir nahmen diesen Zerfall von Ideologie und Macht des Kommunismus, als er voraussehbar wurde, mit Freude, aber auch mit begründeter Unruhe zur Kenntnis. Heute, da wir einem weitverbreiteten, oft blutigen Chauvinismus die Stirn bieten möchten, ihn aber zumeist nur hilflos beobachten, stehen wir unter dem Eindruck von zwei Wahrheiten oder besser von zwei Gruppen von Wahrheiten, die beide, wie es fast immer in menschlichen Angelegenheiten der Fall ist, gut begründet erscheinen und doch einander entgegenstehen und sich ausschließen. Wir wissen nicht, wie

1 Das Manuskript wurde vor dem 11. September 2001 abgeschlossen.

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Leszek K o l a k o w s k i

sie zu versöhnen sind, und doch glauben wir, es sei notwendig, sie zu versöhnen, um die Selbstzerstörung unserer Zivilisation zu verhindern. Worum es in der ersten Gruppe von Wahrheiten geht, ist die schiere Realität von Nationen oder ethnischen Einheiten und ihr Recht, sich gegen ihre Vernichtung oder Aufteilung zu verteidigen. Es ist wahr, daß die Zugehörigkeit zu einer kulturell, geschichtlich und sprachlich bestimmten Gemeinschaft ein natürliches menschliches Bedürfnis darstellt. Wir wollen mit Unseresgleichen zusammen sein, uns zu Hause fühlen; es ist nichts anstößiges oder beklagenswürdiges daran, daß wir unserer kulturellen Gemeinschaft eine präferentielle Solidarität bezeugen, daß wir sie als einen Wert an sich betrachten und ihren Fortbestand, ihre Lebensfähigkeit schützen und bewahren wollen. Zu einem vollkommenen Kosmopoliten zu werden, ist vielleicht für einen einzelnen möglich, nicht aber für die überwiegende Mehrheit. Was also ist empörend daran, daß die Menschen ihre Heimat, das Land der Väter, verteidigen, daß sie ängstlich auf Massenimmigration reagieren, durch die ihre kulturelle Identität, ihr geistiger, nicht nur ihr physischer Raum bedroht wird, daß sie ihre kulturelle Identität nicht zergehen lassen wollen? Es ist bekannt, daß auch Tiere ihre territorialen „Rechte" bewahren, indem sie Länderräuber, sogar solche ihrer eigenen Gattung, bekämpfen oder töten. Zugegeben, wir sind keine Tiere, oder wir sind mehr als Tiere, und gerade deshalb brauchen wir nicht nur das räumliche Territorium, sondern auch die geschichtliche Kontinuität, die mit einem dauerhaft bewohnten Lebensgebiet verbunden ist. Vaterland ist naturwüchsig. So klingt das erste Argument. Nun kommen aber die liberalen Gegen-Wahrheiten. Daß der ethnisch reine Staat eine völkermörderische Vorstellung und Parole ist, kann niemand bezweifeln; dafür liefert die Geschichte des 20. Jahrhunderts, die jüngsten Entwicklungen eingeschlossen, mehr Beweise als nötig. Und die Geschichte bietet zugleich unzählige Beispiele dafür, daß unterschiedliche Völker und ethnische Gruppen auf demselben Gebiet über Jahrhunderte miteinander leben können, vielleicht nicht ganz ohne Reibungen, aber doch ohne Krieg und Blutvergießen. Erfahrungsgemäß ist es nicht unausweichlich, daß eine gemischte Bevölkerung Bürgerkriege hervorruft; das ist keine natürliche, sondern eine ideologische Tatsache. Mehr noch: Die Geschichte in allen Teilen der Welt zeigt, daß sich verschiedene Zivilisationen gegenseitig befruchteten, daß das Zusammentreffen der Kulturen normalerweise Nutzen bringt. Ein sich selbst in seiner Exklusivität einsperrendes Volk, das auf alles, was es als anderes wahrnimmt, feindlich reagiert, und sich in seiner Verschlossenheit auf ewig befriedigt fühlt, beraubt sich nicht jedes schöpferischen Geistes; es ist auf dem besten Weg zum totalitären Despotismus. So ausgedrückt, liegt die Wahrheit auf beiden Seiten. Und doch, wenn wir in beiden Richtungen konsequent sein wollen und beide Wahrheiten praktisch anwenden, bemerken wir sofort, daß sich die praktischen Anwendungen als unvereinbar erweisen. Sollen wir im Namen liberaler Grundsätze verlangen, daß alle Grenzen offenstehen, daß alle Menschen frei sein sollen, sich überall, wo sie nur wollen, an-

KANN DIE MENSCHHEIT IHR MENSCHSEIN NOCH RETTEN?

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zusiedeln? Wir wissen j a , es ist eine unmachbare, irreale, aus ideologischen Prämissen abgeleitete Forderung, die die politische Wirklichkeit geringachtet. Es gibt mindestens drei Umstände, die den Charakter der Migrationen, im Vergleich zur Vergangenheit, in der heutigen Welt grundsätzlich geändert haben und die auch unsere Einstellung zur Migration mitgestalten. Der erste ist einfach das Tempo des Reisens: Früher einmal dauerten Migrationen jahrhundertelang, heute kann man fast von irgendeinem Ort auf der Erde zu irgendeinem anderen während eines Tages umziehen. Der zweite ist der Welfarestate, das in den entwickelten Ländern angenommene Prinzip, nach dem der Staat für den minimalen Wohlstand der Bürger verantwortlich ist, besonders der Arbeitslosen und der Ratlosen, und die Vorräte sind, wie alles in der Welt, begrenzt. Der dritte ist die schiere Bevölkerungsdichte mit ihren ökologischen und sozialen Folgen. In der radikal liberalen Ideologie werden aber biologische und physische Begrenzungen menschlicher Existenz kaum in Erwägung gezogen. Die Erde ohne Grenzen und die unkontrollierte Immigration sind in voraussehbarer Zukunft nur ein Traum; er setzt eine Welt voraus, in der ökonomische, demographische und kulturelle Zustände überall ungefähr dieselben sind. Diese Voraussetzungen zu erwähnen, reicht aus, um ihre Hoffnungslosigkeit zu erkennen. Die Grenzen sind aber Hauptursache der Kriege in der ganzen uns bekannten Geschichte gewesen. Und wenn man „gerechte Grenzen" verlangt, bemerkt man leicht, daß solche Grenzen nirgends in Europa und kaum irgendwo in der Welt aufgezeichnet werden können. Eine „gerechte Grenze" müßte j a drei verschiedene, voneinander unabhängige Kriterien erfüllen: das ethnische, das gesetzliche und das historische. Es ist aber offensichtlich, daß diese Kriterien so gut wie nirgends zusammentreffen, und das müßten sie, um von einer „gerechten Grenze" reden zu dürfen. Die Grenzen Ost- und Mitteleuropas waren meist durch Stalins Dekrete festgesetzt. Jetzt muß man sie so bestehen lassen, wie sie sind, denn jeder territoriale Anspruch in Europa könnte nur in einer schrecklichen Katastrophe enden. Es gibt keine „gerechten Grenzen". Nicht die Grenzen sind wichtig, sondern Respekt für ethnische Minderheiten und ihre kulturellen Rechte. Die afrikanischen Staaten waren vernünftig genug zu entscheiden, daß sie ihre Grenzen, die sie doch fast alle durch zufallige Feststellungen ehemaliger Kolonialmächte erbten, nicht ändern werden. Die Entscheidung war vernünftig, verhinderte aber nicht unzählige Bürgerkriege zwischen Stämmen, da einfach keine zuverlässigen politischen Werkzeuge ausgearbeitet waren, um tribale Konflikte zu kanalisieren. Traditionelle Strukturen brachen zusammen unter dem Einfluß der westlichen Zivilisation, und nichts war einfacher, als Waffen zu kaufen; und da schon erste Breschen in das Prinzip der Nichtänderung gestoßen wurden, dürfen wir weitere Breschen und noch mehr Kriege erwarten. Und wenn jemand die jetzigen Grenzen nach den ethnischen Kriterien in Afrika korrigieren wollte, wäre das Resultat eine apokalyptische Katastrophe, ein allumfassender Krieg aller gegen alle.

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Leszek K o l a k o w s k i

Im Lichte der Ereignisse der letzten Dezennien sehen wir vielleicht besser als je zuvor die gefahrliche Zweideutigkeit des Grundsatzes des nationalen Selbstbestimmungsrechtes. Dieser Grundsatz wirkte gewiß als eine nützliche Waffe im Kampf gegen nationale Unterdrückung, besonders in drei kontinentalen Großmächten Europas vor dem Ersten Weltkrieg, und er war am Anfang formuliert in Anbetracht historisch wohlgestalteter ethnischer Gemeinschaften, deren nationales Bewußtsein reif war und die man ohne Zweifel als Nationen identifizieren konnte. Dieser Grundsatz trug ansonsten kräftig zum Zerfall der zaristischen und ottomanischen Imperien bei und war sehr wichtig für die Festsetzung des Kommunismus in Rußland. Die österreichischen Sozialisten, wie Otto Bauer, bestimmten vor dem Ersten Weltkrieg nationale Rechte nicht durch territoriale Ansprüche, da diese meistens, angesichts so vieler gemischter Gebiete und sprachlicher Inseln, unlösbare Konflikte erzeugen mußten, sondern vielmehr durch individuelle Selbstbestimmungen, die gut genug schienen, um den Minderheiten kulturelle Autonomie zu sichern; bald aber sahen die Theoretiker, daß der separatistische Druck der slawischen Völker zu streng ist und daß das Kaisertum in seiner existierenden Form unrettbar war. Heute sehen wir, daß alle für die Losung der Selbstbestimmung eintreten und fast alle machen - praktisch, nicht notwendig in Worten - eine Ausnahme, wenn es sich um die Minderheit oder Minderheiten in ihrem eigenen Land handelt. Nationales Selbstbestimmungsrecht ist eine vortreffliche Erfindung, sofern es als Grundlage dient, auf der wir territoriale Ansprüche gegen unsere Nachbarn erheben können, nicht aber, wenn analoge Ansprüche von Seiten der Nachbarn gemacht werden. Alle an sich guten und edlen Losungen und Worte können natürlich mit wenig Erfindungskraft in Werkzeuge der Unterdrückung umgeschmiedet werden, Freiheit, Gleichheit, Vaterland, Gerechtigkeit, Selbstbestimmungsrecht und Gott eingeschlossen. Ferner erkennen wir, indem wir gegenwärtige ideologische Auseinandersetzungen beobachten, daß so gut wie jeder - aus diesem oder jenem Grund - zu einer unterdrückten Minderheit gehört, mag sie durch Nation, Geschlecht, Rasse, Klasse, sexuelle Präferenzen, Alter, Beruf, Gesundheitszustand und was auch immer bestimmt sein; endlich muß man die Frage überlegen, wo die unterdrückenden Mehrheiten sind, da sich doch alle beklagen, sie gehören zu einer unterdrückten Minderheit. Gute Worte wurden so verfälscht und entwertet, daß eine besondere Wachsamkeit nötig ist, um sie nicht gemäß ihrem nominalen Wert anzunehmen; man ist versucht zu denken, es wäre am besten, aufzuhören, sie überhaupt zu benutzen. Das betrifft auch das Wort „nationales Selbstbestimmungsrecht".

Tatsächlich kann man leicht die nationale Zugehörigkeit eines einzelnen bestimmen, denn es ist Sache des individuellen Gefühls. Wenn jemand sagt: „ich bin ein Franzose", „ein Jude" oder „ein Engländer", beweist er dadurch, daß er wirklich ein Franzose, ein Jude oder ein Engländer ist; außer dieser Erklärung braucht man keine

KANN DIE MENSCHHEIT IHR MENSCHSEIN NOCH RETTEN?

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weiteren Argumente. Das nationale Bewußtsein ist aber, wie wir wissen, immer ein Erzeugnis historischer Zufalle und Prozesse, es läßt eine Gradation zu und läßt sich nicht weit in die Vergangenheit projizieren (obgleich, natürlich, die Nationalisten ihre Geschichte fast mit der Weltschöpfung beginnen lassen). Bis vor kurzem definierten viele Menschen, besonders die Bauern, ihre Identität durch ein kleines Gebiet, einen Dialekt, eine Provinz oder bezeichneten sich einfach als „die von hier". Und auch heute, wenn von dem nationalen Selbstbestimmungsrecht die Rede ist, kommen solche Unsicherheiten zu Wort. Eine Definition der Nation, die alle Fälle zweifellos entscheidet, ist nicht vorhanden. Deshalb ist dieses Recht, wenn es territoriale Rechte einschließt, kein angemessenes Werkzeug - außer in ganz klaren Fällen - , um mit den ethnischen Feindseligkeiten und Streitigkeiten fertig zu werden. Auch ein souveräner Staat kann eine völkermörderische Tyrannei sein, und auf der anderen Seite kann es eine ethnische Einheit geben, die an keiner Unterdrückung und an keinen Hindernissen ihrer kulturellen Autonomie leidet. Zivilrechte sind wichtiger als die Vermehrung von Paßkontrollstellen und Zollämtern. Das ist auch wahr und einfach zu sagen, ergibt aber für sich allein betrachtet, sogar als Ideal, als abstrakte Regel, noch keine genügende Grundlage, um den Zusammenstoß zweier bereits erwähnter Wahrheiten zu erledigen, denn das Räumliche läßt sich nicht von der nationalen Selbstbestimmung, auch individueller Selbstbestimmung, trennen. „Bei sich sein" schließt notwendigerweise den Raum ein. Bei sich sein heißt, im Zentrum der Welt zu leben, worauf alle anderen Gebiete bezogen sind. „Hierzu gehöre ich": Demnach ist das „hier" ein Zentrum des Kosmos und muß als solches verteidigt werden.

Für das radikal liberale Denken erscheint das Nationale, die Nation, nicht weniger als Religion und die ganze, aus der Überlieferung der Geschichte stammende kulturelle Verschiedenheit der Menschheit als irritierendes, nutzloses Hindernis, das die Reinheit des Weltbildes verdunkelt. Und diese Verschiedenheit, mit allen Bedrohungen, die sie immer trägt, läßt sich nicht durch liberale Losungen austreiben. Denn aus der Verschiedenheit kommt letztlich fast alles, was in der Neuzeit zur geistigen und technischen Entwicklung der europäischen Zivilisation beigetragen hat. Verschiedenheit gebärt unvermeidlich Konflikte, auch Kriege, ohne sie würden wir aber in kulturelle Erstarrung geraten. Die Verschiedenheit gleichschalten zu wollen heißt, den schöpferischen Geist zu töten. Wenn wir also sagen: „die Kontakte der Zivilisationen und Völker sind fruchtbar und nützlich", darf kaum jemand dagegen Einspruch erheben. Wenn wir konkrete Fälle anführen, von denen keine zwei ganz identisch sind, bemerken wir sofort, daß es bei dieser unstrittigen Redensart nur so von Schwierigkeiten wimmelt. Was sollen wir sagen im Angesicht von Völkern, wie ζ. B . den Esten, die lange Zeit unter fremder Herrschaft, jeder Souveränität beraubt, versklavt lebten, während der so-

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wjetische Staat die kleine, aber als Nation wohlgestaltete Republik mit der Masse von Russen absichtlich bevölkerte, um dadurch die einheimische Bevölkerung schmelzen zu lassen? Die Regierung von Estland sagt jetzt, sie wolle die Russen gewiß nicht aussiedeln, sondern verlangt, daß sie, falls sie die Bürgerschaft bekommen möchten, die Sprache des Landes innerhalb von zwei Jahre beherrschen müssen. Darf man wirklich sagen, das sei eine extravagante Forderung? Und in Lettland ist es dem sowjetischen Staat gelungen, die einheimische Bevölkerung zu halbieren. Oder man vergleiche das noch drastischere Beispiel des chinesischen Imperialismus. Seit Dezennien versuchen die Chinesen, eine der ältesten kontinuierlich lebenden Zivilisationen, die tibetanische, mit Gewalt zu vernichten; neben Massakern, kulturellem Vandalismus und Terror werden dazu Massenübersiedlungen benutzt; das tibetanische Volk wird bald - vielleicht ist es schon so weit - zur Minderheit im eigenen Land, und endlich wird es wahrscheinlich völlig verschwinden. Daß die westlichen Regierungen sich kaum wagen, sogar ein bescheidenes, symbolisches Zeichen der Solidarität mit dem zur Ausrottung verurteilten Volk zu zeigen, ist verständlich: China ist wichtig und mächtig, Tibet ist unwichtig und schwach; der Widerstand ist den kleinen hilflosen Gruppen überlassen. Man darf sagen, daß viele Zivilisationen- meistens durch Kriege und Überfalle - vernichtet wurden; das ist eine historische Tatsache. Wenn man aber diese Tatsache in ein normatives Prinzip des Nichts-Tuns verwandeln will, ist man kaum berechtigt, gleichzeitig von anderen normativen Grundsätzen, wie etwa den Menschenrechten, zu reden, wenn es politisch bequem ist. Und wenn wir uns vorstellen, daß eines Tages - was leider höchst unwahrscheinlich ist - Tibet seine nationale Souveränität wiedergewinnt, was sollen wir von diesen Millionen Chinesen in dem seiner Kultur enteigneten Land sagen? Werden wir uns mit der Losung zufriedengeben, daß der Kontakt der Zivilisationen fruchtbar ist? Oder daß die tibetanische Gesellschaft vor der imperialistischen „Befreiung" sehr rückständig, äußerst arm und auf großen Ungleichheiten gebaut war (was tatsächlich der Fall ist)? Gewiß, oft nehmen verzweifelte kleine Nationen und ethnische Einheiten im Terrorismus Zuflucht. Der Terrorismus blüht vielleicht besser in demokratischen Staaten, wo die Gesetze wirken und es fast unmöglich ist, des Terrorismus verdächtige Menschen pauschal zu töten und die Bevölkerung mit Staatsterror einzuschüchtern. Oft hören wir: Man darf Terrorismus natürlich nicht gutheißen oder loben, man soll aber seine Ursachen - historische, kulturelle, psychologische - verstehen lernen. Und dasselbe hört man angesichts der barbarischen Angriffe auf fremde Immigranten. Kein Politiker kann es wagen, sie zu billigen, aber „die Ursachen verstehen" wollen scheint harmlos zu sein. Das klingt trivial: Man sollte immer versuchen, die Ursachen von allem, was geschieht, zu verstehen - Nazismus, Stalinismus, jede Form der Oppression, Völkermord und Kannibalismus eingeschlossen; das ist nötig und wichtig. Unsere Sprache ist aber selten ganz unschuldig. „Ursa-

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chen" - ja, von den „Ursachen" zu den „Gründen" überzugehen, ist ein fast unbemerkbarer Schritt; von „Gründen" zur „Begründung", und von hier zur „Rechtfertigung" ist es ebenfalls nicht ganz schwer. Das Wort „Ursache" ist neutral, „der Grund" dagegen zweideutig. Sogar das Wort „verstehen" kann zweideutig sein, und von hier zur „Einfühlung" ist es auch nicht weit. Deshalb ist der Ausdruck „man soll die Ursachen verstehen" als Antwort auf Barbarei gefährlich. Er wirkt leicht als ein scheinbar unschädlicher Euphemismus, der weit davon entfernt ist, neutral zu bleiben. Alle Monstrositäten im menschlichen Leben haben ihre Ursachen, die zu kennen notwendig ist, um dagegen kämpfen zu können. Aus dieser einfachen Regel ergibt sich jedoch nichts spezifisches; wir brauchen mehr, um jede Zweideutigkeit zu vermeiden; und es handelt sich um die Zweideutigkeit, worin die Grenze zwischen Zivilisation und Barbarei verwischt wird. So stehen wir zwischen zwei einander entgegengestellten Wahrheiten, von denen keine sich annullieren läßt, und beide anzunehmen, scheint widerspruchsvoll. Es ist freilich möglich, sie im Himmel moralischer Plattheiten zu versöhnen, nicht aber, wenn es sich um praktische Maßnahmen und um unsere Einstellungen handelt. Wir sind einfach nicht aus einem Block, einem einzigen Erz ausgeschnitten, sondern vielmehr aus dem krummen Holz, nach Kants berühmtem Gleichnis. Unsere Loyalitäten, Aspirationen, Angehörigkeiten bilden kein kohärentes Ganzes; sie zerreißen uns. Das Schöpferische in der menschlichen Geschichte, aber auch das Grausamste, wachsen aus diesen Widersprüchen heraus. Der Konflikt läßt sich weder durch die Vernichtung einer Seite noch durch eine „Synthese" beseitigen. Damit zu enden, wäre aber unverzeihlich; das würde uns in eine paralysierende Unbeweglichkeit hineinstürzen; vielleicht würden wir sogar gezwungen sein zu sagen: Ein jeder hat seine guten Gründe, die Welt ist, wie sie ist, vergebens bemüht man sich, gegen menschliche Natur zu kämpfen usw. Es ist aber eine Flucht vor der Wirklichkeit aus schlechtem Gewissen. Wenn uns auch keine institutionellen oder technischen Vorschläge zur Verfügung stehen, um dem Übel in der Welt abzuhelfen, so wissen wir doch, daß es naturwüchsige Triebe und Begierden gibt, die das Beste, und andere, die das Schlimmste im Menschen fördern; ohne zu hoffen, daß die Menschheit je im seligen konfliktlosen Zustand leben und das eigene Böse vernichten wird, kennen wir zumindest die Richtung der Bewegung, die weniger oder mehr Böses verspricht. Diese Richtung ist durch eine einfache Gegenüberstellung der geschlossenen und der offenen Gesellschaft bestimmt. „Der geschlossene Handelsstaat" ist bekanntlich Fichtes Wort und Erfindung. Gewiß, der geschlossene Handelsstaat sollte auch in Fichtes Absicht dem geistigen Aufblühen jedes einzelnen dienen, das echt Menschliche in uns wachsen lassen. In praktischer Anwendung, falls möglich, würde er sich fatal in den nationalen Totalitarismus verwandeln. Sonst sollte Totalitarismus in allen seinen Formen die sogenannte Befreiung des Menschen (niemand weiß, was dieses Wort bedeutet), unsere

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sowohl materielle als auch kulturelle Entwicklung herbeiführen; die Ergebnisse dieser Verheißung sind uns besser bekannt, als wir es wünschen mögen. „Die offene Gesellschaft" ist dagegen bekanntlich Bergsons Wort und Gedanke. Er beschrieb sie in geistigen, nicht institutionellen Kategorien, mehr als einen wahren Glauben, weniger als eine spezifische politische Einrichtung. Offene Gesellschaft ist, sozusagen, ein Potential, das ein jeder von uns, meistens verborgen, in sich trägt. Sie besteht einfach in der Anerkennung derselben Würde und desselben unendlichen Wertes in jedem Menschen. Bergson glaubte, daß zwischen Angehörigkeit zu einer partikularen Gruppe, einem Stamm oder einer Nation und der Anerkennung desselben Menschseins in allen Mitgliedern unserer Gattung ein Unterschied besteht wie zwischen dem Endlichen und dem Unendlichen; dieser Unterschied ist nicht quantitativ; man steigert nicht allmählich vom Endlichen zum Unendlichen; eine geistige Umwandlung oder Bekehrung ist dazu nötig. Stämme und Nationen sind Erzeugnisse der Natur, während das Menschsein als moralisch, nicht zoologisch bestimmte Wirklichkeit göttlichen Ursprungs ist. Deshalb betonte Bergson, daß der Gang zur als Möglichkeit angesehenen offenen Gesellschaft hauptsächlich ein Werk der großen Religionen ist und daß es das Christentum war, das dieser Entwicklung den mächtigsten Anstoß gab, weil die Anerkennung der unvermeidbaren Würde und des unmeßbaren Wertes in jedem menschlichen Wesen erst im Christentum erfolgte. Er selbst ist, wie es scheint, spät zu diesem Schluß gekommen. Früher, ehe er seine „Zwei Quellen der Moralität und Religion" schrieb, hatte er kraß nationalistische Aufsätze während des Ersten Weltkrieges veröffentlicht, wo er sogar das Wort „Kultur", wenn es sich um die deutsche Kultur handelte, mit Anfuhrungszeichen versah. Diese Sache dürfen wir aber beiseite lassen. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage bestehen: Ist die Idee der offenen Gesellschaft in diesem Sinne ein frommer Wunsch, eine vielleicht unschädliche, aber naive Utopie, der der wirkliche Gang der Dinge gleichgültig bleibt, wie sonst allen anderen erhabenen Idealen, wovon der Müllhaufen der Geschichte überfüllt ist? Ich glaube, nein. Es ist natürlich wahr, daß viele utopische Gedanken zu nutzlosen, toten Sägespänen der Kultur wurden, keineswegs aber alle von ihnen, und nicht notwendig aus dem Grunde, daß sie den Gebräuchen trotzten. Wir wissen nie im voraus, was sich später in unserer Gedankenwelt als lebensfähig erweist oder nicht. Die ursprüngliche christliche Botschaft konnte offensichtlich als eine weltfremde Ausgeburt der Phantasie gelten, und niemand kann sagen, sie habe nicht den Gang der Geschichte wesentlich geändert. Es ist immer menschlich sicherer, wenn auch nicht notwendig praktisch sicherer, an die herkömmliche Unterscheidung zwischen Gutem und Bösem festzuhalten, als sie im Namen dessen, was wir in diesem Moment als möglich beurteilen, einfach wegzuwerfen. Man muß aber zugeben: Aus der Idee der offenen Gesellschaft, so als mögliche idée force, als Richtung aufgefaßt, lassen sich keine wohlbestimmte Strategie, kein

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Plan und keine praktischen Entscheidungen für unsere Probleme, unsere Schwierigkeiten, Konflikte und Kriege deduzieren. Und doch dürfen wir nicht behaupten, sie sei ein eitler Traum, ein naives Gerede. Das ist überhaupt kein Traum von der Vollkommenheit und kein „endgültiges Ziel". In konkreten Fällen kann diese Idee für uns keinen Entschluß fassen, sie genügt aber, um uns in Streitfragen in diese und nicht jene Richtung zu leiten, unsere Reaktionen so mitzubilden, daß wir einfach wissen, was menschenfeindlich oder menschenfreundlich ist; hier ist unser Menschsein am Werk, und sie verlangt natürlich, daß wir ein nicht-empirisches, nicht aus faktischer Geschichte entnommenes, vielmehr der faktischen Geschichte aufgedrängtes Bild des Menschseins im Gedächtnis tragen - ob es als transzendentale Idee im Kantschen Sinne gilt oder aus religiöser Überlieferung und religiöser Erfahrung geschöpft ist. Wir wollen zugestehen, daß dieses Bild kein Ergebnis wissenschaftlicher Forschung darstellt; ohne es aber müßten wir anerkennen, daß das, was uns von anderen Gattungen wesentlich unterscheidet, die Unbegrenztheit unserer Bedürfnisse, unserer Aspirationen ist, unser ewiges und unendliches Unbefriedigtsein. Dieses Unbefriedigtsein macht uns auf der einen Seite zu Menschen im empirischen Sinne, und es war die Grundbedingung der geistigen Evolution; auf der anderen Seite schafft es, falls es als die fundamentale Kennziffer unserer kollektiven Existenz betrachtet wird, keinen Platz für die Menschheit als ein Gemeingut, als ein Sein, das für sich selbst als Ganzes und für alle seine Teile verantwortlich ist. Wenn uns an diesem Glauben mangelt, existieren keine Hindernisse mehr, um partikulare Interessen und Teilgebilde wie Stamm, Nation oder Staat oder einfach mich selbst zu einem Absoluten zu erheben, mit allem, was das einschließt und was wir so gut kennen. Und wenn wir auch rational überzeugt sein dürfen, daß unser Bild des Menschseins nie mit dem empirischen menschlichen Leben übereinstimmt, war und bleibt immerfort seine Anwesenheit keineswegs unwichtig; es unter dem Vorwand der praktischen Unmachbarkeit in Vergessenheit geraten zu lassen, läuft darauf hinaus, unsere Verzweiflung als das Endgültige, als Eschaton festzusetzen. Es ist nicht wahr, daß man diese einfachen Gebote vergeblich wiederholt, weil die Welt unrettbar oder unveränderlich ist; sie wirken doch langsam non vi sed saepe cadendo, nicht durch Zwang, sondern durch hartnäckige Wiederholung. Noch etwas sollten wir leider in diesem Zusammenhang zugeben. Mag es wahr sein, daß der Glaube an die un vernichtbare menschliche Würde in den Traditionen der großen Weltreligionen eingewurzelt ist, die alle ethnischen Begrenzungen durchbrochen haben, über kulturelle Partikularismen hinausgegangen sind und ihre Botschaft an die ganze Welt richteten, so ist es nicht weniger wahr, daß sie alle sicher nicht ohne bemerkenswerte Differenzen - in politische und nationale Konflikte so tief eingewickelt waren, daß der Unterschied zwischen religiösen und politischen Grenzen und Stellungen ganz unklar wurde. Das wissen wir alle, es ist jedoch schwer, eine zufriedenstellende Antwort auf die Frage zu finden: Warum ist die politische Rolle der Religion so bedeutend in den letzten Dezennien angestie-

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gen? Warum gibt es so viele Gebiete auf Erden, wo in den Kriegen und blutigen Kämpfen Nationen, Rassen, Staaten so untrennbar mit Konfessionen gemischt sind, daß die letzteren von der ersteren ununterscheidbar scheinen, wie im Libanon, in Jugoslawien, Nordirland, Indien, Kaschmir, Sudan, Zypern, Ost-Timor oder auf dem Kaukasus? Daß in diesen Konflikten meistenteils - nicht überall, gewiß - der Islam beteiligt ist, ist unleugbar; auch erscheint er als die aggressivste Kraft, mit einer Tendenz zur theokratisch-totalitären Ordnung, wo religiöse Gesetze direkt als Staatsgesetze wirken und mit einem Strafgesetz versehen sind, das nach europäischen Normen bemessen extrem grausam ist. Ob und wie diese Tendenz im Gehalt des muslimischen Glaubens selbst verankert ist, bin ich nicht imstande zu sagen. Es ist auch klar, daß die islamischen Staaten sich wesentlich voneinander unterscheiden und daß man selbstverständlich nicht alle Moslems aller Extravaganzen der Fanatiker beschuldigen darf. Das Bild des fanatischen Islams, das wir haben, ist aber nicht nur aus Vorurteilen geformt, sondern der Erfahrung entnommen, mag sie auch zu unrecht verallgemeinert werden. Theokratische Tendenzen, obschon weniger auffallend, scheinen ferner allgemein zu wachsen, nicht abzunehmen, auch im Christentum und Judaismus. Stehen wir an der Schwelle neuer Religionskriege, die, wie wir hofften, nach dem siebzehnten Jahrhundert auf ewig zu einem Anachronismus geworden waren? Ist die Aufklärung in dem, was in ihr edel war, abgestorben, gedeiht aber in dem, was gefahrlich und giftig war? Man darf vielleicht plausibel vermuten, daß diese Politisierung der Religion teilweise erklärbar ist durch den Zusammenbruch der globalen säkularen Ideologien, die ihren Bekennern eine vollkommene mentale Sicherheit zu geben versprachen, und nachdem die Quelle der unerschütterlichen Gewißheit ausgetrocknet war, mußten die Konfessionen nun auch als säkulare Ersatz-Ideologien wirken. Daran ist nichts neues, selbstverständlich; alle hoch institutionalisierten Religionen wirkten jahrhundertelang auch als politische Körper; was neu ist, ist vielmehr die Rückkehr zu dem Alten. Es erübrigt sich zu sagen, daß die Religion, die entweder als eine Seite oder als schweigende Helferin an nationalen Kriegen und Terror teilnimmt oder theokratische Ansprüche erhebt und von dem Staat verlangt, daß er ihre spezifischen Gebote in Strafgesetzbücher überträgt, sich selbst verhängnisvoll degradiert und unfähig wird, diese erzieherischen Aufgaben zu erfüllen, von welchen das Geschick unserer Zivilisation abhängt. Man konnte nicht diesen Priestern Glauben schenken, die die Gewalt im Namen ihres Stammes oder ihres Staates billigten oder keine eindeutige Stellung dazu nehmen wollten und gleichzeitig wiederholen, wir alle seien Kinder desselben Vaters. Glaubten sie daran, oder benutzten sie Gott als eine Keule, um unheilige, profane Interessen zu fördern? Ich bin überzeugt, daß, falls unsere Zivilisation ihre religiösen Wurzeln ausdörren läßt, sie mit ihnen zugrunde gehen wird; dieses Erbe ist für uns notwendig, um uns unsere Sünden und

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Verpflichtungen zu vergegenwärtigen, nicht aber, um unsere Prätentionen, Ansprüche und Vergeltungsrechte religiös zu kodifizieren. Das alles ist natürlich schon tausendmal gesagt worden. Und es lohnt sich, dasselbe noch tausendmal zu wiederholen.

ERHARD DENNINGER

Integration und Identität. Eine Bitte um etwas Nachdenklichkeit.

I. „Integration" ist in aller Munde. Der Begriff ist leichtgängig, ubiquitär und hierzulande in hohem Maße positiv besetzt. Inwieweit er einen postmodern-friedlichen Ausdruck der fatalen ewig-deutschen „Sehnsucht nach Synthese"1 bezeichnet, der Bevorzugung der „Einheit" vor Vielfalt und Pluralität, der „Gemeinschaft" und „Einmütigkeit" vor „Differenz" und gar „Konflikt" , mag hier auf sich beruhen. Im alltäglichen Sprachgebrauch der „Europäischen Integration"2 haben wir uns an die Konnotationen ,Eingliederung in ein größeres Ganzes' und ,Einheitsbildung' gewöhnt. Die lateinischen Begriffe ,integer', integrare', ,integritas' decken aber ein viel breiteres Bedeutungsspektrum ab. Das reicht von der „Unversehrtheit" über „volle Gesundheit", „geistige Frische", „Unparteilichkeit", „Vorurteilsfreiheit" bis zur „Unschuld", „Sittenreinheit" und „Lauterkeit". ,Integratio' ist auch die Erneuerung, Auffrischung, Verjüngung. Dies führt uns unmittelbar zum Thema: Gegenstand meiner Bitte um Nachdenklichkeit ist der Gebrauch des Begriffs Integration' in den zahllosen Äußerungen, nicht nur aller Parteien, zur Zuwanderungs- oder Migrationspolitik, unter denen der Bericht der Unabhängigen Kommission ,Zuwanderung' vom 4. Juli 2001, der so genannten „Süssmuth-Kommission", nach Umfang und Qualität herausragt.3 Das Wort „Integration" läßt sich , wohl weil es so positiv besetzt ist und den Wohlklang des Heilen, des Heilens, ja vielleicht des Heils mitschwingen läßt, auf wunderbare Weise mit allen möglichen Subjekten, Funktionen und RaumzeitBestimmungen verknüpfen. Wer es gebraucht, erwartet Zustimmung und empfindet 1 R. Dahrendorf, Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 1965, 1968, 159ff. 2 Vertrag über die Europäische Union, Konsolidierte Fassung ( Nizza), Präambel, 1. Erwägung. 3 Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung": „Zuwanderung gestalten - Integration fördern", Bezugsquelle BMI, Öffentlichkeitsarbeit, 11014 Berlin. Siehe auch: www.bmi.bund.de

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schon die bloße Frage, was es denn eigentlich inhaltlich bedeute, als ungehörige, „desintegrierende" Zumutung. Wer sich auf „Integration" beruft, bürdet dem Kritiker alle Beweislast auf. Das war, jedenfalls was Ausländer-Integration in Deutschland angeht, bis vor kurzem anders. Eine vielbeachtete Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 1985 sprach dem „öffentlichen Interesse daran, den ausländischen Bevölkerungsanteil im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die eine angemessene Integration bereitet, zu begrenzen und damit ganz allgemein Gefahren für das soziale Leben vorzubeugen ", bei der Ermessensentscheidung über die Aufenthaltserlaubnis einer seit fast zehn Jahren in Deutschland lebenden Jordanierin „ein erhebliches Gewicht" zu.4 Die Frau hatte 1972 in Jordanien nach dortigem Recht einen Jordanier geheiratet. Der Ehe entsprossen drei Kinder. Der Mann lebte seit 1961 rechtmäßig in der Bundesrepublik; 1964 hatte er, ebenfalls mit einer Jordanierin, eine erste Ehe geschlossen, die kinderlos blieb, aber weiterbestand. Die drei Erwachsenen und drei Kinder lebten in Deutschland in einem gemeinsamen Haushalt. Die zweite Ehefrau beantragte die Aufenthaltserlaubnis, um sich, rechtmäßig, der Haushaltsführung und Kindererziehung widmen zu können. Das BVerwG betont entgegen dem Urteil der Vorinstanz (OVG Münster), daß das gegen die Einwanderung der ,Zweitfrau' [ die immerhin schon fast zehn Jahre in Deutschland gelebt und hier zwei ihrer drei Kinder zur Welt gebracht hat !] sprechende „öffentliche Interesse" nicht einfach durch den Grundrechtsschutz der Familie oder durch Elternrecht und -pflicht gemäß Art. 6 GG und auch nicht durch das Menschenrecht aus Art. 8 Abs.l EuMRK verdrängt werde, vielmehr müsse man die einander widerstreitenden Interessen und (Grund-)Rechte nach dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gegeneinander abwägen. Heute, so hat man erkannt, drohen Gefahren für das „soziale Leben" nicht von der Einwanderung, sondern von der McA/einwanderung.5 „Wir brauchen Zuwanderung, weil die Bevölkerung Deutschlands altert: Die Lebenserwartung steigt, während die Kinderzahl pro Familie anhaltend niedrig ist, und die Geburten sinken. Im 21. Jahrhundert wird die Bevölkerung deshalb abnehmen."6 Daß es nicht so schlimm kommt wie im Dreißigjährigen Krieg, als Deutschland vierzig Prozent seiner für 1618 auf etwa zwanzig Millionen geschätzten Bevölkerung einbüßte, wird Vielen kein Trost sein. Aber angesichts der Gefahr, „wächst das Rettende auch"7: Ein „Paradigmenwechsel" kündigt sich, so liest man, mit der „Greencard" für IuKFachkräfte an, freilich gedämpft durch die „Kinder statt Inder"-Parole und die noch

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BVerwGE 71, 228, 233, Hervorh. von mir, E.D., U. v. 30. 4. 1985. Ich folge hier der Terminologie des Berichts der Siissmuth-Kommission, 13: „Zuwanderung" umfaßt alle Arten der Migration, auch diejenigen, die nur vorübergehenden Charakter haben. Auf Dauer gemeinte Niederlassung in Deutschland wird als „Einwanderung" bezeichnet. Bericht der Süssmuth-Kommission, 11. F. Hölderlin, Patmos.

INTEGRATION UND IDENTITÄT. EINE B I T T E UM ETWAS N A C H D E N K L I C H K E I T .

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im Hintergrund virulente undifferenzierte und schwammige Vorstellung von einer deutschen „Leitkultur". 8 Auf die Verwendung dieses Wortes verzichtet man lieber; was damit gemeint ist, liest sich im Zuwanderungs-/Integrations-Papier des CDUBundesvorstandes vom 3. Mai 2001 so: „Grundlage des Zusammenlebens in Deutschland ist nicht multikulturelle Beliebigkeit, sondern die Werteordnung der christlich-abendländischen Kultur, die von Christentum, Judentum, antiker Philosophie, Humanismus, römischem Recht und Aufklärung geprägt wurde. Integration setzt voraus, daß diese Werteordnung akzeptiert wird." 9 Der Versuch, die Verweisungen auf die vielfältig antagonistischen Einzelprägungen dieser „Werteordnung" auch nur ansatzweise inhaltlich zusammenzudenken, muß einem deutschen oder jedem beliebigen europäischen Philosophie- oder Juraprofessor Schwindel erregen und dürfte selbst dem Jubilar, diesem profunden Kenner der europäischen Ideengeschichte, dem diese Zeilen in freundschaftlicher Bewunderung gewidmet sind, Schweißperlen konzentriertester Anstrengung abnötigen. Wie soll also ein in einer islamischen oder hinduistischen Kultur aufgewachsener Computerfachmann damit umgehen? 10 Wenn Übereinstimmung darüber erzielt werden könnte, daß das universalistische, auf „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit", auf Menschenwürde, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbauende, und heute in zahlreichen internationalen Konventionen und Deklarationen statuierte Menschenrechtskonzept als eine wesentliche „Frucht" dieser „abendländischen" Geistes- und Realgeschichte anzusehen ist, dann ist die Versuchung groß, nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis bisheriger „Integrationspolitik" zu fragen. Dann ist, wie dies von den Repräsentanten der „Dritten Welt" täglich geschieht, auch zu fragen, inwieweit nicht der weltumspannenden Menschenrechts-Theorie eine durchaus „eurozentrische", j a provinzielle Praxis des Umgangs mit „Fremden" entspricht. Mehr noch, ob nicht der außereuropäischen Religionen und Kulturen gegenüber so behende erhobene Vorwurf des „Fundamentalismus" auf die heimischen Interpretationen zurückschlagen muß, wenn nämlich „fundamentalistische Bewegungen" als der „ironische Versuch" zu begreifen sind, „der eigenen Lebenswelt mit restaurativen Mitteln Ultrastabilität zu verleihen." 11 ? 8

Vgl. zum Beispiel „Thesen zur Zuwanderungspolitik" - beschlossen v o m Parteivorstand der C S U am 23. April 2001 in Bayreuth, 7. Als Grundlage der deutschen „Leitkultur" nennt das Papier die „europäisch-abendländischen Werte mit den Wurzeln Christentum, Aufklärung und Humanismus.

9

C D U , Antrag des Bundesvorstandes vom 3. Mai 2001, „Zuwanderung steuern. Integration fördern", II. A. Ziele der Integrationspolitik, 23f.

10

Ebenso entmutigend erging es dem Verfasser mit der Frage nach der „Identität" Europas. Vgl. den Versuch unter dem Titel: Das wiedervereinte Deutschland in Europa: Zur „Identität" und „inneren Verfassung" Europas, in: KritV, 3/1995, 263ff.

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Habermas, Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat, in: Ch. Taylor, Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung. 1993, 147ff., 176.

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Die sachliche Berechtigung solcher Fragenumkehr hängt von den politisch wirksamen Bedeutungen ab, mit denen Begriffe wie „Integration" oder „nationale Interessen", „nationale Identität", Bewahrung der „Identität als Aufnahmegesellschaft" belegt werden. 12 Bemerkenswert ist dabei zunächst, daß „Integration" und „Identität" vornehmlich in einem Spannungsverhältnis gesehen werden, daß „Identität" mit oder ohne Berufung auf die christlich-abendländische Werteordnung - retrospektiv, den status quo verteidigend evoziert wird, aber nirgendwo im Sinne einer aufgrund der „Integration" möglichen ,neuen' Identität. „Identität" wird angstvoll als Gegenstand möglichen Verlusts begriffen, als Verengung, nicht als bereichernde Erweiterung des historischen Erwartungshorizontes. 13 II. „Integration" in aller Munde, aber was heißt das? 14 Die SPD-Bundestagsfraktion will ein „Jahrzehnt der Integration" starten.15 Dabei sollen „Integrationslotsen und Integrationslotsinnen" den „Zuwanderinnen und Zuwanderern" beratend helfen. Wir lesen von „gelungener" oder „gescheiterter" Integration, von einem „Nebeneinander" statt des erwünschten „Miteinander". Ob die „Lotsinnen" wissen, wohin die Reise gehen soll? Und wie man die zahlreichen Klippen sicher umschifft? Der Zuwanderer muß eine „Integrationsverpflichtung" eingehen, er soll einen individuellen „Integrationsvertrag" abschließen, 16 bei dessen erfolgreicher Erfüllung dem Immigranten u. a. eine Abkürzung der Wartefrist zur Einbürgerung (auf sechs Jahre) winkt. Der institutionalisierenden Phantasie sind kaum Grenzen gesetzt: Von der Gründung einer „Integrationsstiftung mit angeschlossener Akademie" über das „Migrationsmuseum" unter dem Motto „Deutschland ist ein Einwanderungsland" bis zur stärkeren Berücksichtigung von Immigranten· Journal i sten und -künstlem in den Medien: alles wird plausibel vorgeschlagen, ohne einen Hauch von Klarheit über den Begriff der Integration. Unwillkürlich denkt man an des Grafen Leinsdorf „Parallelaktion". Charakteristische und der Begriffserhellung vielleicht nützliche Unterschiede werden in den programmatischen Aussagen der großen Parteien zu den soziokultu-

12 13 14

Vgl. Antrag des Bundesvorstandes der CDU (Fn. 9), 3; Bericht der Süssmuth-Kommission, 200. Zur Funktion dieses Begriffs vgl. R. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1989, 349ff. Zu den unterschiedlichen Begriffsverständnissen von „Integration" in der empirischen Migrationsforschung vgl. C. Leggewie, Integration und Segregation, in: Bade/Münz (Hrsg.), Migrationsreport 2000, 2000, 85ff., 88f. In meinen Bemerkungen geht es nicht primär darum, einen dieser „wissenschaftlichen" Integrations-Begriffe zugrunde zu legen, sondern darum, die charakteristische Hilflosigkeit der parteipolitischen Programmtexte gegenüber Begriff und Phänomen aufzuzeigen. Zu weiteren Begriffen von Integration vgl. G. Frankenberg, unten zu III.

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SPD-Bundestagsfraktion, Steuerung, Integration, innerer Friede. Bundestagsfraktion, 2001, 9ff. Vgl. die Empfehlung der Süssmuth-Kommission, Bericht, 261.

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Die

Eckpunkte

der

SPD-

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relien Leitvorstellungen sichtbar. Einerseits dürfe Integration nicht mit Assimilation verwechselt werden. Die vollständige Anpassung der Zuwanderer an die Kultur und die Lebensformen des Aufnahmestaates sei nicht das Ziel. Andererseits soll die Integration mißlungen sein, wenn die „Gefahr der Segmentierung und der Bildung von Parallelgesellschaften" entsteht.17 Eine deutliche Sprache sprechen hier die Thesen der CSU zur Zuwanderungspolitik.'8 Das Integrationsziel müsse ein echtes Miteinander sein, nicht ein bloßes Nebeneinander. Die „Echtheit" zeige sich in einer „wirklichen" Eingliederung. Denn wer auf Dauer in Deutschland leben will, „muß sich nach besten Kräften in unsere rechtliche, politische und gesellschaftliche Ordnung einfügen. Er muß die Grundwerte unserer Gesellschaft akzeptieren und Verantwortung für sie übernehmen." Wo der Unterschied zwischen einem solchen Sich-einfügen „nach besten Kräften" und einer schlichten Assimilation liegen sollte, ist nicht auszumachen. Und zur „Übernahme von Verantwortung" für die „Grundwerte unserer Gesellschaft" - gemeint können ja wohl nur verfassungsgeschützte Werte sein - hat das Bundesverfassungsgericht unlängst in seinem ZeugenJehovas-Urteil einige längst fallige Klarstellungen und Begrenzungen gebracht, die für die Rechtsstellung ausländischer ethnischer oder religiöser Minderheiten gleichermaßen von großer Bedeutung sind.19 Jedenfalls darf die von ausländischen „Mitbürgern" zu fordernde „Loyalität" - von der unten noch zu reden sein wird nicht stärker sein als die der Staatsangehörigen. Das Postulat einer „wirklichen" Eingliederung durch „Sich-einfügen" dürfte für Zuwanderungswillige, die ihre eigene kulturelle Identität bewahren wollen, wenig attraktiv sein, auch wenn sie im übrigen bereit sind, die Sprachbarrieren zu überwinden und die deutschen Gesetze zu achten. Und die bereits hier lebenden Ausländer müssen sich durch die Unbestimmtheit der an sie gerichteten Erwartungen verunsichert fühlen. Wann ist das „Miteinander" „echt"? Bedeutet es , daß sie am Münchener Oktoberfest konsumstark teilnehmen sollen, daß sie auf Kopftuch und langes Kleid verzichten und sich eine teuere Wohnung in einer auch von Deutschen bewohnten Straße suchen sollen, anstelle ihrer primitiven, aber erschwinglichen Wohnung in dem vor allem von Landsleuten bewohnten Altstadt- oder Stadtrand-Viertel? Und sind die einheimischen Vermieter, Arbeitgeber, Nachbarn, Arbeitskollegen und Lehrer immer bereit, das ihnen Mögliche zur „Echtheit" des Miteinander beizutragen und die Verfestigung von „Parallelgesellschaften" aufzuhalten? In anderen Programmtexten werden die Probleme der soziokulturellen Integration differenzierter beschrieben, wird vor allen Dingen gesehen, daß es dabei um einen Prozeß wechselseitiger Annäherung gehen muß, also ein beiderseitiges Aufeinanderzugehen, und daß dies Konsequenzen für den Respekt vor fremden Lebensweisen und für die Pflege und Toleranz fremder Kulturformen haben muß. 17 18 19

Antrag des Bundesvorstandes der CDU (Fn. 9), 23. Vgl. Fn. 8,6. BVerfGE 102,370, 395ff. U. v. 19.12. 2000.

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Die Tendenz zu getrennten Wohnvierteln (als räumlicher Basis für eine „Parallelgesellschaft"), als „Segregation" kritisiert,20 kann dann als eine „normale" Erscheinung bei Einwanderungsprozessen, insbesondere im Hinblick auf die erste Zuwanderergeneration verstanden werden,21 bei der die Sprachbarrieren und die Unvertrautheit mit inländischen Gebräuchen natürlicherweise besonders stark sind. Die zweite Generation, der es gelingt, in Familienbetrieben ein erfolgreiches „EthnicBusiness" aufzubauen, kann in Ballungsgebieten, die als „soziale Brennpunkte" verschrieen sind, sogar den „prosperierenden Kern einer im übrigen auf wohlfahrtsstaatliche Transfers angewiesenen Problemzone" bilden.22 In solchen „sozialen Brennpunkten" findet keine säuberliche Trennung nach „Ethnien" oder gar Religionen statt, vielmehr sind Arbeitslosigkeit, Armut und Alkohol in diesen Vierteln das „einigende Band". Aber: „Kinderreiche, auf Transfereinkommen angewiesene Migrantenfamilien leben mit einheimischen alleinerziehenden Müttern, arbeitslosen Drogenabhängigen und Alkoholikern, entlassenen Strafgefangenen und diese Merkmale kumulierenden Problemfamilien zusammen. Dabei bilden sie [die Migranten!] in solchen Vierteln und Punkt-Hochhäusern mittlerweile die ökonomisch stärkste Gruppe und auch, dank relativ intakter Familienbindungen, einen Faktor moralischer Stabilität."23 „Wirkliche Eingliederung", „gelungene Integration"?! III. Das Ergebnis der Textanalysen der parteipolitischen Programmaussagen, aber auch des „überparteilichen" Berichts der Süssmuth-Kommission, erscheint offensichtlich enttäuschend, wenn man präzisere Vorstellungen über Integration als einen erstrebenswerten Zustand, als ein zu erreichendes Ziel erwartet. „Gelungene Integration", heißt es, sei „gesellschaftliche Koexistenz in kultureller Toleranz und sozialem Frieden". Sie führe im Ergebnis „zur sozialen und ökonomischen Gleichstellung mit Blick auf Einkommen, Bildung, Rechtsstellung, Wohnungssituation, Teilhabe und sozialer Sicherheit."24 Die aktuelle Aufmerksamkeit gilt mehr dem Prozeß der Integration, seinen Schwierigkeiten und Hindernissen, als dem Ziel. Wir treffen auf den vordergründig paradox erscheinenden Befund, daß die Politik eine Fülle von Mitteln vorschlägt und diskutiert, ohne doch das Ziel, welchem diese dienen sollen, inhaltlich klar und konsensfähig definieren zu können. Meine These ist, daß dieser handlungstheoretisch wenig befriedigende Zustand nicht etwa Ausdruck der Gedanken- oder Formulierungsschwäche der Verfasser der zahlreichen „Integrations"-Papiere ist, son20

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und, schlimmer noch, zuweilen als „Ghettoisierung" stigmatisiert, wobei verkannt wird, daß der Ausdruck von der venezianischen Insel „Ghetto" herrührt, welche ab 1516 den dortigen Juden als Zwangsaufenthalt zugewiesen wurde. Ähnliches geschah in vielen Städten Europas, auch in Deutschland. Vgl. SPD-Bundestagsfraktion, Eckpunkte, (Fn. 15), Anlage 5,41. Leggewie, a. a. O. (Fn. 14), 92. Leggewie, a. a. O., 102, mit weiteren Nachweisen. CDU, Antrag des Bundesvorstandes, a. a. O. (Fn. 9), 23.

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dem seine Ursache im Problem der Integration selbst, in der (begrenzten) Fähigkeit der Menschen zur Vergesellschaftung und damit in der condition humaine überhaupt hat. Dies sei hier an vier Aspekten des Phänomens „Integration" erläutert, die in ihren bisher zu wenig bedachten Konsequenzen nicht ganz so „harmlos" sind, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mögen. 1) „Integration" ist ein Grundproblem jeder Gesellschaft und, wie man spätestens seit Rudolf Smend weiß, jedes Staates.25 Es betrifft das Verhältnis des Staates zu „seinen" „Staatsangehörigen" - die Sprache macht es einem schwer, sich von unterschwelligen paternalistischen Assoziationen zu lösen, so als „gehöre" der Bürger zu den „Angehörigen" = Verwandten des „Vater-Landes", das nicht nur das „Land der Väter", sondern selbst der Große Vater ist. „Integration" betrifft genau so das Verhältnis zwischen diesen „Staatsangehörigen", „Inländern" [aber sind die ,Ausländer' nicht auch Inländer, wenn sie ,im Lande' sind?], also zwischen den „Einheimischen" untereinander. Auseinandersetzungen um die „freiheitliche demokratische Grundordnung" oder um den „sozialen Frieden" - von „Klassenkampf' oder „Klassenkonflikt" zu reden ist längst politically incorrect erinnern daran.26 Diese Selbstverständlichkeit wird hier nur erwähnt, um der Versuchung vorzubeugen, an die Integration von Ausländern andere und strengere Maßstäbe anzulegen als an die von „Inländern" untereinander. Wer käme denn auf die Idee, mit Bezug auf die räumliche und die soziale Distanz zwischen deutschen Bewohnern von Villenvororten einerseits und Altstadtsanierungsgebieten andererseits die Existenz von „Parallelgesellschaften" zu beklagen und Überlegungen zu einer besseren „Durchmischung" der Population anzustellen? Und wie groß sind die kulturellen, politischen, bildungsmäßigen ( nicht zu reden von den ökonomischen) Gemeinsamkeiten zwischen den Golfspielern an den Taunushängen und den Fußballfans aus dem Frankfurter Gallusviertel? Sind die sozialen Kontakte zwischen den Inländern so verschiedener „Milieus" häufiger und intensiver als die zwischen Angehörigen von „Minderheiten", die viel zu oft unkritisch „der Mehrheit" konfrontiert werden, welche als solche aber nur ein Theorie-Konstrukt ist. Und wie steht es mit dem Heiratsverhalten? Wenn in Deutschland geborene Kinder von Zuwanderern einen im Ausland lebenden Partner aus dem Herkunftsland ihrer Eltern ( anstelle eines Einheimischen) heiraten, so soll dies als „Scheitern" der Integration gelten.27 Aber wer käme etwa auf die Idee, die relative Seltenheit von ,Aschenbrödel-Hochzeiten' unter Deut-

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R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 1955, 119fr. Dort 136:1. als „grundlegender Lebensvorgang des Staats". Mit Recht hat G. Frankenberg „Tocquevilles Frage" (Zur Rolle der Verfassung im Prozeß der Integration, in: Schuppert/Bumke [Hrsg.], Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, 2000, 3Iff.) keineswegs beschränkt auf die Immigrationsproblematik neu gestellt. Dort (33, Fn. 12ff.) finden sich auch wichtige Hinweise zur Literatur über „Integration". Mit Recht kritisch dazu der Bericht der Süssmuth-Kommission, 229.

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sehen als ein „Integrationsdefizit" auszumachen? 28 Man sollte also nicht einmal als statistischen Indikator Erwartungshaltungen formulieren, die man für die Beziehungen zwischen „Einheimischen" nicht beachtet oder sich „abgewöhnt" hat. 2) „Integration" kann sinnvoll nur als ein ergebnisoffener Prozeß beschrieben werden. Über das Ergebnis desselben, wenn er „gelungen" ist, können ( und sollen) wir nicht mehr aussagen als über das „Paradies", den „Ewigen Frieden" oder ähnliche Eschatologismen. Reflektierte bildliche Darstellungsversuche, sogar von einem Botticelli, sind schön, aber langweilig. Mehr als friedlich-tolerante Koexistenz kann dabei nicht herauskommen (s. o.) 29 Integration als inhaltlich ausgefülltes Ergebnis ist ebenso utopisch wie uchronisch. Sie wäre das Ende der Geschichte. Ein Versuch einer solchen, Geschichte beendenden, Festschreibung ist die Fixierung einer „Leitkultur" und eines dieser entsprechenden Begriffes von „Bildung", die meint, zweieinhalbtausend Jahre „geronnener" okzidentaler Geschichte auf einen Begriff bringen zu können. Eine ähnlich a-historische, nämlich die Zukunftsáimenúon der Geschichte negierende Festschreibung läge in dem Versuch, über die Definition einer „nationalen Identität" Ausschließungseffekte zu erzielen. 30 „Integration" als „Ergebnis" wäre die Erfüllung der Sehnsucht nach Synthese, wäre die Aufhebung der Zerstreuung der Menschheit nach dem Turmbau zu Babel, wäre die Wiederkehr der menschheitsuniversalen Ursprache im realen Vollzug des „Pfingstwunders". 31 Diesseits solcher Utopie behelfen wir uns recht und schlecht mit Computer-Englisch. Der Versuch, den Prozeß von Integration(en) mit einem retrospektiv-geschichtssynthetischen Begriff von „Leitkultur" 32 einzurahmen ( und damit politisch stillzustellen), ist nichts anderes als die Projektion und optimistische Umdeutung einer negativen Betrachtung der Geschichte als Verfallsgeschichte von „Gemeinschaft" zur („bloßen") „Gesellschaft" in die Zukunft 33 : die Sehnsucht nach und die Hoffnung auf eine neue „Gemeinschaft" oder auf die Wiederkehr des Goldenen Zeitalters in Gestalt der globalisierten und total durchdigitalisierten „Weltgesellschaft". Vielleicht tun wir mit dieser Interpretation den erklärten und den viel zahlreicheren verschwiegenen Anhängern von „Leitkultur"-Vorstellungen geschichtstheoretisch Unrecht. Aber gerade wenn wir uns dann erleichtert und er-

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Die Begeisterung der Norweger über das jüngste Beispiel in ihrem Lande belegt, daß auch dort, „wo doch jeder jeden kennt", das Märchen dennoch „märchenhaft" bleibt. Bezeichnenderweise nennt auch Frankenberg, a. a. O. (Fn. 26), 33, für Integration als Resultat nur: Zusammenhalt, Einheit, gelungene Vergesellschaftung, Gemeinschaft. Dazu, daß dies auch indirekt über eine rechtlich folgenreiche Definition des Begriffs des „Deutschen Volkes" geschehen kann, vgl. unten. Zum Problem der Ursprache vgl. U. Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 1994. „Wertordnung aus der Zusammenschau von 2000 Jahren abendländischer Geschichte" oder ähnliche Verkürzungen und Klitterungen. Zur Kritik des dualistischen Schemas Gemeinschaft/Gesellschaft vgl. M. Riedel, Gesellschaft, Gemeinschaft, in: Brunner/Conze/Koselleck, Geschichtliche Grundbegriffe, II, 1975, 1979, 801ff., 861f.

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frischt auf „die Unbestimmtheit des diskursiven Verfahrens, auf die lokale Begrenztheit verfügbarer Informationen und Gründe, überhaupt auf die Provinzialität unseres endlichen Geistes gegenüber der Zukunft"34 zurückziehen, bleibt die Erkenntnis bestehen, dass gesellschaftliche Integration, geschehe sie unter Inländern oder Ausländern oder von beiden untereinander, notwendigerweise ein inhaltlich unbestimmter und damit für politische Auseinandersetzungen offener Begriff ist und bleiben wird. 3) Wird Integration als ein ergebnisoffener Prozeß begriffen, so bedeutet das nicht nur ihre dauernde Aktualität als Gegenstand der Politik ( insoweit würden wir uns noch ganz im Rahmen der Smend 'sehen Kategorien bewegen !), sondern es bedeutet, daß eine große Bandbreite möglicher Verdichtungsformen des sozialen „Miteinander" oder „Nebeneinander" in Betracht gezogen werden muß. Die Vokabeln der „verräumlichenden" Sprache (: nebeneinander') verlieren ihre Aussagekraft. Es macht dann wenig Sinn - außer in erklärter (ausländer)politischer Absicht - eine Diskussion über „Integration" mit dem Ziel zu führen, daß ein bestimmtes Maß an sozialen Kontakten erreicht werden soll, um von daher dann das zu fordernde Maß an Sprachbeherrschung bestimmen zu wollen. Stets werden die einen einen höheren Grad an „Multikulturalität", also auch an unverbundenem Nebeneinander' der Kulturen akzeptieren wollen, während die anderen „Integration" wesentlich als „Einfügung", „Anpassung", „Akkulturation", mehr oder weniger „Assimilation", begreifen. Nahezu unendlich viele Zwischenformen sind denkbar. Es wäre sinnlos ( und unmöglich), hier von Staats wegen bestimmte Zustände fixieren und durchsetzen zu wollen. Natürlich kann der Staat für Einreise, Aufenthaltserlaubnis oder Einbürgerung bestimmte rechtliche Bedingungen normieren. Er soll aber nicht den Anspruch erheben, gewissermaßen den idealen, den besten, den zweitbesten und drittbesten usw. „Deutschen" definieren zu wollen. 35 Es kann nur darum gehen, die „Kunst des Verbindens" zu üben und zu unterstützen, wie M. Walzer heute sagt36, und von der A. de Tocqueville als „l'art de s'associer" schon vor 150 Jahren gesprochen hat,37 um die zivile Gesellschaft als einen ,Handlungsraum von Handlungsräumen' ( Walzer) dauerhaft zu konstituieren. 4) „Integration" kann nur als ein komplexes, ganzheitliches Phänomen angemessen beschrieben und normativ begleitet werden. Integrationsvorgänge betreffen die ganze Gesellschaft und nicht etwa nur den staatlichen Bereich; Vorgänge religiös-kultureller Integration und sozialer Integration dürfen nicht isoliert betrachtet, 34 35 36 37

J. Habermas, Erläuterungen zur Diskursethik, 1991, 207. Aus den Erfahrungen, die man mit der Praxis des Art. 116 GG („Statusdeutsche") gemacht hat, könnte man lernen. M. Walzer, Was heißt zivile Gesellschaft?, in: van den Brink/van Reijen, Bürgergesellschaft, Recht und Demokratie, 1995, 44ff., 55. A. de Tocqueville, De la Démocratie en Amérique, II, 2. Kap. 5, am Ende, édition 1850, 124. Walzer zitiert Τ. nicht.

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vielmehr müßen sie in Verbindung mit der politisch-rechtlichen Integration und ihren Wechselwirkungen aufeinander gesehen werden. Dies war, nebenbei bemerkt, bereits Programm und Thema der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" Jacob Burckhardts vor über 130 Jahren , seiner Lehre „von den drei Potenzen" und seiner daraus folgenden „Betrachtung der sechs Bedingtheiten". Natürlich lassen sich die damaligen, auf eine Universalhistorie gemünzten Fragestellungen nicht einfach auf unser Thema von „Integration und Identität" im Rahmen einer deutschen Immigrationspolitik übertragen. Doch sind die Fragen nach den Verhältnissen der „Potenzen" zueinander im demokratischen Kontext, und keineswegs auf den nationalen Rahmen beschränkt, aktueller denn je. Zu den „schwierigsten und dringendsten Fragen" des gegenwärtig beginnenden politischen Zeitalters gehört die nach der möglichen Anerkennung und Berücksichtigung kultureller Verschiedenheiten und Minderheiten in einer demokratischegalitär-sozialstaatlichen Verfassung.38 Dabei ist die Frage der verfassungsrecMzchen Umsetzung kommunitaristischer Lebensformen - etwa durch MinderheitenSchutz-und-Förderungsklauseln39 oder durch eine nach Gruppen differenzierte Staats-Bürgerschaft40 oder (nur) durch eine aktivierende und optimierende Interpretation individueller Grundrechte41 - von sekundärer Bedeutung gegenüber den vorrangig zu überwindenden Schwierigkeiten. Zu diesen gehören vor allem zwei bisher ungelöste, in Wechselwirkung miteinander stehende Probleme: a) die Frage der Staatsbürgerschaft der Immigranten, ihrer „vollen politischen Partizipation" und damit die Frage nach einer Neukonzeption des Begriffs des „Staatsvolks ". b) die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit friedlicher Koexistenz religiös oder kulturell fundamentalistisch geprägter Gruppen („Minderheiten "). Volle Zustimmung verdient die Feststellung der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung", Deutschland sei ein Einwanderungsland geworden.42 Nur ist Deutsch38

Vgl. J. Tully, Strange Multiplicity. Constitutionalism in an A g e o f Diversity, 1995, zit. nach S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, 1999, 13. Die Frage ist Thema des Buches von: G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000. Vgl. ferner R. Nickel, Gleichheit und Differenz in der vielfältigen Republik, 1999; E. Denninger, Menschenrechte und Grundgesetz, 1994.

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Zur Diskussion um die Empfehlung der Aufnahme eines Art. 2 0 b GG vgl. Nickel, a. a. O. (Fn. 38), 2 0 4 f f ; Bericht der Gemeinsamen Verfassungskommission, BT-Drs. 12/ 6000 v. 5. 11. 1993, 71ff. Vgl. I. M. Young, Das politische Gemeinwesen und die Gruppendifferenz. Eine Kritik am Ideal des universalen Staatsbürgerstatus, in: Nagl-Docekal/Pauer-Studer (Hrsg.), Jenseits der Geschlechtermoral, 1993, 267ff., 278; zum Problem ferner die Beiträge von Benhabib, Young, Kymlicka, Gould, Fraser in: S. Benhabib (Hrsg.), Democracy and Difference. Contesting the Boundaries o f the Political, 1996.

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In diesem Sinne G. Britz und R. Nickel, jeweils a. a. O. Bericht der „Süssmuth-Kommission", 13. Vgl. demgegenüber die Feststellung der CSU-Thesen v o m 23. April 2001: „Deutschland ist kein klassisches Einwanderungsland und kann es auf Grund seiner historischen, geografischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten auch nicht werden." (These 1) Die erste Hälfte des Dictums ist wohl richtig, rätselhaft bleibt die Bedeutung der zweiten. Soll Deutschland also ein „nichtklassisches", ein „modernes", „neuartiges" Einwanderungsland werden oder nicht doch lieber gar keines? D i e Betonung der „Begrenzung der Zuwanderung aus Nicht-EU-Staaten" zur Bewah-

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land, wie eben diese Kommission durch eindrucksvolle Zahlen und Graphiken belegt,43 alles andere als ein Einbürgerungsland. Wohnbevölkerung und „Staatsvolk" ( mit „Bürgerstatus"), ökonomische und politische „Integration" klafften und klaffen weit auseinander. Solange diese Diskrepanz nicht - wie dies stets die Politik „klassischer" Einwanderungsländer gewesen ist - grundlegend verringert wird, sind alle Bemühungen um kulturelle, soziale, bildungsmäßige und ökonomische Integration weitgehend zum Scheitern verurteilt. Die Süssmuth-Kommission hat dies im Prinzip erkannt, wenn sie die Einbürgerung als einen „entscheidenden Schritt auf dem Weg zu einer gelungenen Integration" ansieht.44 Vorsichtigen Optimismus legt sie in Bezug auf die reale Entwicklung an den Tag. Es werde im gesellschaftlichen Bewusstsein „künftig immer selbstverständlicher werden, dass Staatsangehörigkeit nicht zwangsläufig mit der ethnischen Herkunft verbunden ist."45 Voraussetzung hierfür ist allerdings, daß einige, auch repräsentative Hand- und Lehrbücher des deutschen Staatsrechts bald umgeschrieben werden. Der Begriff des „Staatsvolks" kann in einem „Einwanderungsland" ja gerade nicht mehr auf eine traditionalistische „Wir-Gruppe" (,Sippe', ,Stamm', .Nation' usw.) und deren Identitätsbewußtsein zurückgeführt werden. Ein Staatsvolk bestehe, so lesen wir aus einflußreicher Feder, „in einer sich ihrer Zusammengehörigkeit bewußten Gemeinschaft, deren Mitglieder durch Herkunft und Tradition einander verbunden, durch die Gemeinsamkeit von Werten geprägt, in wirtschaftlichen und technischen Anliegen, Bedürfhissen nach Frieden und Existenzsicherung aufeinander verwiesen, weitgehend auch durch Sprache, Kultur und Religion innerlich verbunden sind, ,.." 46 Man kann leicht abschätzen, wieviele dieser Merkmale von den bereits hier zumeist auf Dauer lebenden 7,3 Millionen „ausländischen Mitbürgern" nicht erfüllt werden können. Von den neuen Zuwanderern gar nicht zu reden. Sie alle müßten nach der Definition, anstatt „Staatsbürger" zu werden, bloße „Staatsbetroffene" bleiben47. Und dieses soll das Bauprinzip der „freiheitlichen Demokratie" sein: „Der Bürger legitimiert die Staatsgewalt in dauernder Zugehörigkeit, der Betroffene mäßigt sie in gegenwärtiger Beschwer." Eine hübsche „Arbeitsteilung", bei der die Rolle der „Staatsbetroffenen" = „unserer ausländischen Mitbürgerinnen und -bürger" doch zu sehr an die der „Mitbewohner"= „Metoiken" im alten Athen erinnert, nur mit dem Unterschied, daß diese auch noch Kriegsdienst leisten mußten. Es fragt sich freilich, ob der Zustand der „gegenwärtigen Beschwer" ohne politische Mitspracherechte auch für die höchst- und hochqua-

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rung der „Identität unseres Landes" und der „Integrationschancen der rechtmäßig bei uns lebenden Ausländer" (These 4,4) läßt das Letztere vermuten. Vgl. dazu die Kritik im Text. A. a. O., 246. Nur Portugal (!) hat im europäischen Vergleich eine niedrigere Einbürgerungsquote. Bericht der Unabhängigen Kommission, 245. Ebd., 248. P. Kirchhof, Der demokratische Rechtsstaat - Staatsform der Zugehörigen [!], in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HbStR IX, 1997, § 221, Rn. 16, dort Rn. 17 zum Folgenden. Terminus von Kirchhof, vgl. auch das folgende Zitat.

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lifizierten Arbeitskräfte, die man doch so gerne hätte, attraktiv genug erscheint, um Deutschland als „Einwanderungsland" im „Wettbewerb um die besten Köpfe" interessant erscheinen zu lassen! Es waren und sind vor allem religiöse Verschiedenheiten und deren kulturelle Ausprägungen im Alltagsleben, welche die Wahrnehmung des „Fremden" und das Bewußtsein von den Integrationsproblemen geschärft haben. Das Tragen des Kopftuchs, die Ablehnung koedukativen Sportunterrichts, die Durchsetzung des Schächtverbots, aber auch die Entfernung des Kruzifixes aus dem Klassenzimmer sind Stichwörter, die dem Juristen sogleich einfallen. Dabei entstehen die gravierenden, die „Integrationskraft" einer freiheitlichen und demokratischen Rechtsordnung auf die Probe stellenden Probleme erst, wenn Glaubenssätze oder Glaubensangehörige „fundamentalistischer" Religionen oder Weltanschauungen aufeinander stoßen oder mit den Geboten eines religiös-weltanschaulich neutralen Staates ( wie der Bundesrepublik) kollidieren. Der Begriff des „Fundamentalismus" wird hier als stark abkürzende Chiffre für komplexe Sachverhalte im Sinne der von Habermas verwendeten Definition verwendet. Fundamentalistische Weltbilder (religiöse oder nichtreligiöse) sind dadurch charakterisiert, daß sie keinen Spielraum für eine Reflexion auf ihre Beziehung zu fremden Weltbildern lassen, mit denen sie dasselbe Diskursuniversum teilen. „Sie lassen keinen Platz fur Reasonable disagreement'". Nichtfuijdamentalistische Weltbilder hingegen erlauben, im Geiste Lessing'scher Toleranz, „einen zivilisierten Streit der Überzeugungen, in dem eine Partei ohne Preisgabe des eigenen Geltungsanspruchs die anderen Parteien als Mitstreiter um authentische Wahrheiten anerkennen kann."48 Die rechtsstaatliche Verfassung multikultureller Gesellschaften könne nur Lebensformen tolerieren, die sich im Medium nicht-fundamentalistischer Überlieferungen artikulieren. Die gegenseitige Anerkennung der verschiedenen kulturellen Mitgliedschaften könne nur gesichert werden, wenn „die ethische Integration von Gruppen und Subkulturen mit je eigener kollektiver Identität ... von der Ebene der abstrakten, alle Staatsbürger gleichmäßig erfassenden politischen Integration entkoppelt" wird.49 Dieses Konzept einer Trennung der politischen und der kulturellen Ebene der Integration voneinander, das der „universalistisch" liberal orientierte Habermas vorstellt, ähnelt in wesentlichen Zügen dem Modell, das der „kommunitaristisch" liberal ansetzende M. Walzer zu den notwendigen Grenzen der Toleranz gegenüber fundamentalistischen Bestrebungen entwickelt. Dieser will alle „intoleranten", „fanatischen", eben „fundamentalistischen" Kräfte, seien sie religiösen oder ethnischen Ursprungs, zwar im gesellschaftlichen Leben im Rahmen der Strafgesetze tolerieren, sie jedoch aus dem staatlich-politischen Leben konsequent fernhalten. „They

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Habermas, Die Einbeziehung des Anderen, 1996, 262; auch schon in Ch. Taylor, a. a. O. (Fn. 11). Ders., a. a. O. (Fn. 48, 1996), 262; in Ch. Taylor, a. a. O. (Fn. 11), 177f.

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are confined to civil society: they can preach and write and meet; they are permitted only a sectarian existence."50 Beide, Habermas, wie Walzer, sind von der ja durch zahllose historische Beispiele genährten Sorge geleitet, die jeweilige „Mehrheitskultur" könne, sobald sie in den Besitz der politischen und damit rechtlichen Macht komme, die Minderheitenkulturen überwältigen. Deshalb dürfe auch der „Verfassungspatriotismus" der übergreifenden gemeinsamen politischen Kultur, obschon aus historischen Erfahrungen gespeist und „ethisch imprägniert", „die Neutralität der Rechtsordnung gegenüber den auf subpolitischer Ebene ethisch integrierten Gemeinschaften nicht beeinträchtigen; er muß vielmehr den Sinn fur die différentielle Vielfalt und die Integrität der verschiedenen koexistierenden Lebensformen einer multikulturellen Gesellschaft schärfen."51 Dieses hier kurz als Trennungsmodell bezeichnete Konzept, in der Habermas 'sehen wie in der Walzer 'sehen Version, beschreibt eine elementare und notwendige Grundbedingung des modernen Verfassungsstaates , die Trennung von Religion und Politik, von Kirche und Staat. Dennoch reicht es nicht aus, um eine friedliche Koexistenz ganz verschieden ethisch integrierter Gruppen unter dem schützenden Dach einer Verfassung zu gewährleisten. Erst recht genügt es nicht, wenn das „dynamisch verstandene Projekt der Herstellung einer Assoziation von Freien und Gleichen" fortentwickelt werden soll.52 Was in Europa in einem Jahrhunderte währenden, zum Teil blutgetränkten Lernprozeß der Trennung von Staat und Religion (Kirche), der Säkularisation, Emanzipation und Aufklärung , in einem mühsamen, auch im postnationalen Zeitalter noch nicht abgeschlossenen ,Projekt der Moderne' gelernt und verinnerlicht wurde, das kann nicht innerhalb weniger Jahrzehnte von Gruppen und Subkulturen, die fundamentalistischen Denk- und Lebensformen verhaftet sind, nachvollzogen werden. Das bedeutet aber, daß fundamentalistische Impulse immer wieder auf die Ebene der politischen Integration durchschlagen werden und zwar besonders dann, wenn über die „beste Interpretation derselben Grundrechte und Prinzipien" Streit gefuhrt wird, die den Bezugskern des Verfassungspatriotismus bilden. Grundlegende Dissense in Grundrechtsfragen, wie sie im Abtreibungsrecht, in anderen bioethischen Fragen, aber auch bei Problemen der religiösen Erziehung virulent geworden sind, vor allem auch Fragen der Gleichstellung der Frau zeigen, wie schwierig, ja unmöglich die „Entkoppelung" der Ebenen der politischen und der kulturellen Integration werden kann. Die Integrationsprobleme werden nicht geringer sondern größer, wenn die Verfassung, wie das Grundgesetz, einer menschenrechtlichen Tradition, dem Grundsatz der Menschenwürde und den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit verpflichtet ist. Dann kann die Rechtsordnung nämlich bestimmten kulturell und religiös fundierten 50 51 52

M. Walzer, On Toleration, 1997, 82. Habermas, a. a. O. (Fn. 48, 1996), 263. Ebd., 263. Dieses ,Projekt' ist nichts anderes als die materiale Definition von „Integration".

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„Sitten und Gebräuchen" nicht mit wertrelativistischer Gleichgültigkeit begegnen, kann sie nicht der durch „Religionsfreiheit" abgeschirmten Privatsphäre der Familien überlassen. Zwangsverheiratung von Kindern kommt hier ebenso in den Blick wie Riten der Beschneidung von Mädchen oder körperliche Züchtigungen. Will man nicht in der sprachlosen Einigkeit über die Uneinigkeit verharren, die der Absicherung durch äußeren Zwang bedarf und somit das Musterbild unerwünschter „Parallelgesellschaften" bietet, muß man bestimmte, von der Mehrheit für unerträglich gehaltene, menschenrechtsverletzende Praktiken einer beharrlichen öffentlichen Diskussion mit rechtlich-normativen Konsequenzen zugänglich machen.53 Im günstigen Falle kann hierbei die bewußte Verbindung der beiden Integrationsebenen einen Prozeß wechselseitigen Lernens in Gang setzen, der mit aller Vorsicht, von „gelingender Integration" zu sprechen erlaubt.

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In diesem Sinne verstehe ich S. Benhabib, Kulturelle Vielfalt und demokratische Gleichheit, 1999, 59ff.

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Neutralisierung und Tolerierung von Differenz Über institutionelle Internaliserungen von Religion und Ethnos

Im Arsenal neuzeitlicher politischer Theorie ist der Begriff der Toleranz mit dem Namen John Locke auf das Engste verbunden. Der englische Denker steht fur eine pragmatische Tradition politischer Duldung in Gemeinwesen unterschiedlicher konfessioneller Zugehörigkeit. Mit seiner im Winter 1685/86 in Amsterdam abgefaßten Schrift „Ein Brief über die Toleranz" reagierte Locke auf die seit 1679 in England dräuende Gefahr eines die Kultusfreiheit einschränkenden Legitimitätsstreites, dessen Folgen die Revolution von 1688 entfachen sollten. 1 Streitpunkt war das Anliegen König Karls II., seinem katholischen Bruder Jakob, dem Herzog von York, die Thronfolge zu sichern. Damit war ein schier unlösbarer Konflikt vornehmlich zwischen der hochkirchlichen und der katholischen Partei vorgezeichnet - und dies, obschon beide Fraktionen die unmittelbare Abkunft des fürstlichen Herrscherrechtes von Gott und die mit diesem Prinzip verbundene Erbfolge nicht anzutasten trachteten. 2 Umso mehr konzentrierte sich der Konflikt um ein von Karl II. der Quelle göttlicher Legitimität entnommenen Rechts ihn von den Folgen der von ihm exekutierten Suspension parlamentarischer Gesetze zu dispensieren. 3 Ein solch hoheitliches Suspensionsrecht reklamierte der König schon seit seiner 1660 erfolgten Thronbesteigung. Mit der einseitig behaupteten königlichen Präroga-

1 Karl Kluxen, Großbritannien von 1660-1783, in: Handbuch der europäischen Geschichte, Bd.4, hrsg. von F. Wagner, Stuttgart 1968, 304-377; Iring Fetscher/Herfried Münkler (Hrsg.), Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 3: Neuzeit, München/Zürich 1985; Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt/M 1977. 2 J. H. Franklin, John Locke and the Theory of Sovereignty. Mixed Monarchy and the Right of Resistence in the Political Thought of the English Revolution, Cambridge 1978; R. Eccleshall, Order and Reason in Politics. Theories of Absolute and Limited Monarchy in Early Modern England, Oxford 1978. 3 John Locke, Ein Brief über Toleranz. Übersetzt, eingeleitet und in Anmerkungen erläutert von Julius Ebbinghaus, Hamburg 1996. Nachdruck der 1957 erschienenen Erstauflage; Baron Cay Brockdorff, Die englische Aufklärungsphilosophie, München 1924.

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tive der Dispensionsgewalt ausgestattet, beabsichtigte Karl II. das ihm vom Parlament aufgenötigte und in hohem Maße intolerante anglikanische Kirchengesetz zur Beschränkung der Kultusfreiheit anderer wirkungslos zu machen - eine Suspension, die nicht allein Katholiken, sondern auch Presbyterianern, Quäkern und anderen Denominantionen zugute kommen sollte.4 Im Jahre 1662 machte Karl II. Anstalten, sich die mittels Gottesgnadentum zugeschriebene Dispensionsgewalt vom Parlament legitimieren zu lassen - ein Vorhaben, das an proceduralen Verzögerungen wie überhaupt am hinhaltenden Widerstand des Gesetzgebers scheiterte. Zehn Jahre darauf suchte sich der König aufs neue durchzusetzen, nunmehr auf Basis seiner kirchlichen Obergewalt, um eine Indulgenzerklärung aller strafrechtlichen Maßgaben der von der anglikanischen Staatskirche verfemten religiösen Abweichler betreffend zu veröffentlichen. Doch auch diesem Vorhaben war kein Erfolg beschieden. Die antikatholische Partei anerkannte eine königliche Prärogative in kirchlichen Dingen ebensowenig an, wie die protestantischen Nonkonformisten ihrerseits nicht bereit waren, sich Toleranz in einer ihrem Dafürhalten derart demütigenden Weise offerieren zu lassen - und lehnten ab. Die Lage schien heillos verfahren. Eine unhaltbare institutionelle Konstellation kündigte sich an: In seiner Absicht durchaus im Sinne konfessioneller Toleranz und damit von Religionsfreiheit zu handeln und für diese gegen ein tyrannisches Parlament vorzugehen, verstieß der König gegen die parlamentarische Prärogative der Gesetzgebung insofern, als er sich und damit die Exekutive in den Rang eines uneingeschräkten Souveräns versetzte und diesen über die Legislative erhob. Mittels eines solchen Ansinnens drohte er ein legitimes Widerstandsrecht gegen sich selbst zu provozieren und so einen Bürgerkrieg auszulösen.5 Was sich auch immer abzeichnete - John Locke, der als Sekretär, Erzieher und Arzt im Hause eines prononcierten Widersacher Karls II., Lord Shaftesbury, tätig war, hielt es eben dieser persönlichen Abhängigkeit und angesichts der sich zuspitzenden Lage wegen fur angebracht, England den Rücken zu kehren. In Amsterdam angelangt machte er sich daran, die von ihm hinter sich gelassenen Wirren staatstheoretisch mit der Absicht zu durchdenken, wie einander in verhängnisvoller Weise bekämpfende Glaubensbekenntnisse institutionell neutralisiert werden könnten. In seiner von den konkreten historischen Umständen absehenden und erst in geraumen Abstand nach ihrer Abfassung erschienenen Schrift Ein Brief über die Toleranz plädiert John Locke für ein Auseinandertreten von Kirche und Staat, für die Freiheit des Gewissens von den ekklesialen Autoritäten, ebenso wie fur die Beschränkung der staatlichen Gewalt auf die Garantie von Sicherheit und Eigentum. 4 5

I. M. Green, The Re-Establishment o f the Church of England, 1 6 6 0 - 1 6 6 3 , Oxford 1978. G. Clark, The Later Stuarts 1 6 6 0 - 1 7 1 4 , in: The Oxford History o f England, Bd. X, Oxford 1961; H. Ch. Schröder, Die englischen Revolutionen des 17. Jahrhunderts, Frankfurt/M 1986; R. Ashcrafl/M. M. Goldsmith, Locke, Revolution Principles, and the Formation o f Whig-Ideology, in: Historical Journal, 2 6 (1983), 7 7 3 - 8 0 0 .

NEUTRALISIERUNG UND TOLERIERUNG VON DIFFERENZ

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Im Großen und Ganzen handelt es sich bei dieser Schrift um eine zwar von aktuellen politischen Umständen angestoßenen, indes weit über diese hinausgehenden und tief ins Grundsätzliche vorstoßenden Fürsprache dessen, was rückblickend durchaus als ein fundamentales Phänomen von Säkularisierung zu interpretieren wäre - nämlich als ein weiterer und mittels ebenjener Schrift sich ideengeschichtlich formierender Schub der Verwandlung von vormodernen und lebensweltlich traditionell verfaßten Religionen in zu internalisierenden sowie aller Öffentlichkeit und Politik entzogenen Konfession, d. h. einer regelrechten Privatisierung des Glaubens. 6 Mit seinem staatstheoretisch angelegten Plädoyer für eine mit der Verwandlung von Religion in Konfession einhergehenden kirchlichen und obrigkeitlichen Toleranzpflicht geht John Locke wesentlich weiter als sein Vorläufer Thomas Hobbes, der im Leviathan allein schon mittels der ständig wiederkehrenden emblematischen Formel „that Jesus is the Christ" die Neutralisierung des konfessionellen Bürgerkrieges durch den allmächtigen Staat allein auf der den sich befehdenden Parteien gemeinsamen Grundlage des christlichen Glaubens zurückzuführen sucht. 7 Lockes Vorstellung einer außerkirchlichen und dem Zugriff des Staates entzogenen Gewissensfreiheit und sein Vorhaben der Neutralisierung und Entpolitisierung der Religion reicht deshalb weiter als die des Thomas Hobbes, weil Locke als ersterer auch nicht-christlichen Glaubensgemeinschaften das Privileg der Kultusfreiheit zuspricht. Von der Duldung ausgenommen freilich bleiben Atheisten - und dies vor allem deshalb, als der Unglaube für Locke gleichbedeutend mit der Leugnung aller menschlichen Verpflichtung ist. Für wen die Drohung mit ewigen Strafen jenseits der Staatsgesetze und die Verheißung ewigen Lohns jenseits weltlichen Glücks keine Geltung hat, weil er Gott auch nur im Gedanken aufgehoben hat, der sei als eine zum Eide unfähige Person weder vertragsfahig noch rechtsgeschützt, sondern gleichsam vogelfrei. Der Atheist hat als Nihilist und als Verächter aller Ordnung zu gelten - und ist ihr auszustoßen. Er steht mithin hors la loi. Solch ultimativer Ausschluß aus der bürgerlichen Gesellschaft wirft im übrigen ein überaus interessantes Licht auf den sprichwörtlichen Lockeschen Kontraktualismus: Die Vertragsfähigkeit und die mit ihr einhergehende fundamentale Regel des pacta sunt servanda bleibt ohne Glauben an Transzendenz und göttlicher Macht leere Formel. Erst durch Gottesglauben findet sich die eingegangene bürgerliche Selbstverpflichtung im Tauschakt gedeckt. So nimmt der Glaube an Gott auch im Profanen letztinstanzliche Bedeutung an. In der Tat: In God We Trust. Der durch Säkularisierung zunehmend ins Innerweltliche zurückgenommene Glaube - seine Konfessionalisierung - kommt der Friedens- und Rechtsordnung insofern zugute, als aller Glaubenszwist durch die Verlegung von Anteilen einer vor6 7

Ethel Groffier/Michel Paradis (Hrsg.), The Notion o f Tolerance and Human Rights. Essays in Honour o f Raymond Klibanski, Ottawa 1991. Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. von C. B. Macpherson, P. III, ch. 43, Harmondsworth 1968, 621; Kurt Schilling, Naturrecht, Staat und Christentum bei Hobbes, in: Ztschr. F. Phil. Forschung II, 2/3 (1948).

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mais politisch aufgeladenen Religion in einen sich zunehmend als Privatsphäre ausbildenden Raum hinein pazifiziert und neutralisiert wird. 8 Damit erfahrt die dem Phänomen der Säkularisierung eigene und der Ausbildung der Modernen unabkömmliche Aufteilung eines vorausgesetzten lebensweltlich Ganzen in die Bereiche dessen, was in jeweiliger Unterscheidung als intim, privat oder als öffentlich zu gelten hat einen weiteren signifikanten Schub. 9 Solch fortschreitende Säkularisierung ist der Lockschen Schrift über die Toleranz durchaus zu entnehmen. So soll das Öffentliche für jedermann insofern auch offen bleiben, als es von allen Spuren sektiererischer, auf den Umsturz des Ganzen gerichteter parteilicher Inanspruchnahmen bewahrt wird. Wenn also - wie von Lokke exemplarisch vorgeführt - die Quäker ihrer Sitte nach gehalten sind, vor niemanden den Hut abzunehmen, treiben sie mittels eines solchen demonstrativ gemeinten Verhaltens ein politisches Unterscheidungsmerkmal in die Sphäre der Öffentlichkeit hinein, das der Ausbildung eines zunehmend anwachsenden und sich sukzessive von der Staatsgewalt unabhängig dünkenden Machtfaktors Vorschub leistet. Das bloße Zurschaustellen von „Hüten und Turbanen" allein ist nach Locke nicht schon Ausdruck von Gefährdung öffentlicher Sicherheit und Ordnung. Gefahren gehen von den nach Außen gekehrten und zur Schau getragenen Unterscheidungsmerkmalen freilich dann aus, wenn ihre Bedeutung als Ausdruck von Oppositionsgesinnung und damit eines Begehrens deutlich wird, jenseits von Meinungsäußerung oder der jeweiligen Gottesverehrung die bestehende öffentliche Ordnung durch eine andere ersetzen zuwollen. Solch erkanntem Ansinnen gelte es als aufrührerisches Vorhaben mit Sanktionen zu begegnen, also mit Maßnahmen dezidierter Intoleranz. Ob und wann ein solcher Zustand der Gefahrdung als eingetreten gelten könne, darüber werde eine klug handelnde Staatsmacht von Mal zu Mal zu befinden wissen. Gewährt sie der Zurschaustellung von als Emblemen der Unterscheidung gedachten Malen der Zugehörigkeit in der Öffentlichkeit Raum, gibt sie mittels eines solchen Gewährens zu erkennen, daß die Schwelle einer ernstzunehmenden Beeinträchtigung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nicht wirklich überschritten ist. In ebenjener Hinnahme von bloßen Regelverletzungen hat ihr Handeln also als tolerant zu gelten. Erweist sich hingegen die öffentliche Sicherheit als wirklich bedroht, dann mag die Obrigkeit sinnvollerweise Maßnahmen erwägen, ihre vormalig tolerante Haltung mittels intoleranten Handelns in sein Gegenteil zu verkehren. Auf solcher Achse hoheitlicher Unterscheidungsfahigkeit zwischen einem der öffentlichen Ordnung gerade noch zuträglichen und einem sie bereits gefährdenden

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Giacomo Marramao, Die Säkularisierung der westlichen Welt, Frankfurt/M-Leipzig 1996. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt/M 1992 (1959), 47, hat daraufhingewiesen, dass bereits bei John Locke die bürgerliche Moral über die Gesetzgebung zur öffentlichen Gewalt wird und damit ein entscheidender ideengeschichtlicher Einbruch in die Festen des absolutistischen Staates zu verzeichnen ist.

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Verhalten, ist der pragmatische Kern des Lockschen Toleranzbegriffs situiert. Diesem Begriff von Toleranz ist im übrigen und nicht weniger als allen anderen Vorstellung von Sinn und Zweck einer ebensolchen Haltung eine durchaus negative Konnotation eigen. Schließlich bedeutet seitens der Staatsgewalt Toleranz ausüben nichts anderes, als Dinge hinzunehmen, die man - obwohl im Besitze der Macht nicht verhindert, und dies obschon die Staatsgewalt sich durchaus in der Lage sieht, sie zu verhindern. Die Locksche Vorstellung von Toleranz und ihre pragmatische Handhabung scheint wesentlich von jener im Zeichen der Säkularisierung stehenden Tendenzen der Neutralisierung eines sich vormals politisch aufspreizenden nicht-Identischen durch seine konfessionelle Verwandlung und Internalisierung vorausgesetzt zu werden. Die Neutralisierung der Religion und die von einer solchen Neutralisierung ausgehende Entlastung des öffentlichen Lebens von den sie belastenden Anmaßungen politisierter Zugehörigkeit, steht - von der frühen Neuzeit ausgehend und sich in die Moderne fortzeugend - recht eigentlich für die Erfahrung der westlichen Christenheit. 10 Allen der Latinität hervorgegangenen Gemeinwesen war ebenjene Tendenz von Säkularisierung eingeschrieben: Je mehr sich die öffentliche Sphäre des christlichen Staates von Elementen des Glaubens frei zu machen vermochte, desto offener, allgemeiner und abstrakter wurde sie. Dieser Vorgang läßt sich am historischen ubiquitären Exempel der Judenemanzipation ebenso studieren, wie an den später sich anschließenden Schüben von Laizisierung. 11 Die Richtung dieser Entwicklung war vorgeschrieben: Der Staat gab sukzessive seinen christlichen Charakter auf während die christliche Religion sich ihrerseits konfessionalisiert, d. h. sich in die entpolitisierte Sphäre des Privaten zurückzieht. Erst mittels einer solchen Privatisierung der Religion, ihrer konfessionellen Verwandlung, vermögen Menschen unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit die öffentliche Sphäre gemeinsam zu teilen, was ebenjene Neutralisierung von ursprünglich nach außen gerichteten und politische Geltung erheischenden Anteilen von Zugehörigkeit erforderlich macht. Erst die Konfessionalisierung der Religion vermag Gemeinwesen im Sinne von Toleranz politisch zu imprägnieren und sie so nach innen hin friedensfahig zu machen. Toleranz bedingende Konversionen von Religion in Konfession mochten im Bereich des Westens als lateinischer Christenheit halbwegs erfolgreich verlaufen sein.12 Dies vor allem deshalb, weil die Kultur des Westens jenseits aller konfessionellen Unterschiede Ausdruck einer ihnen gemeinsamen, wenn auch säkularisierten Christlichkeit ist. Insofern haben sich die Religionen im Westen ebenjener Art „pro-

10 11 12

Hans Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, 2. Teil: Theologischer Absolutismus und humane Selbstbehauptung, Frankfurt/M 1966, 75ff. Karl Marx, Zur Judenfrage, in: Deutsch-Französische Jahrbücher (1844), MEW, Bd. 1. Wolfgang Reinhard, Die lateinische Variante von Religion und ihre Bedeutung fur die politische Kultur Europas, in: Saeculum, Bd. 43 (1992), 231-255.

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testantischer" Version von Konfession anverwandelt, als sie sich in unterschiedlichem Maße der Sphäre der Öffentlichkeit und damit der Politik entzogen oder gar aus dieser vertrieben wurden. Dies gilt für die christlichen Konfessionen ebenso wie für ein konfessionell konvertiertes Judentum in seiner reformierten oder konservativen Variante - aber auch für einen Katholizismus, der sich mancherorts dem Protestantismus anverwandelt. 13 Die Tendenz einer Protestantisierung der Religionen hat sich vor allem in den Vereinigten Staaten bewährt, einem aus verschiedenen Bevölkerungsgruppen komponiertem Gemeinwesens, wo die Religion als Konfession ihre Verbannung aus dem öffentlichen Raum bzw. ihrer Abspaltung von der Politik mittels eines ganz besonderen Zuspruch in der Sphäre des Privaten kompensiert. So ist Amerika sowohl ein Gemeinwesen des Laizismus wie ein Land von tiefer Religiosität. Daß ebenjene Religiosität trotz ständiger Versuche und Versuchungen sich der öffentlichen Sphäre zu bemächtigen ständig und immer wieder in die Privatheit verwiesen wird, ist jener strikten und die Amerikanität des Gemeinwesens garantierenden verfassungsmäßigen wie kulturellen Sphärentrennung zu danken. 14 Ob eine der frühneuzeitlichen europäischen Entwicklung analoge Verwandlung von Religion in Konfession auch im Islam zu verwirklichen ist, begleitet als ständige Frage der Moderne die Zivilisation der Muslime. 15 Hinsichtlich der Zukunft und angesichts der Vielfalt der Strömungen im Islam ist kein abschließendes Urteil erlaubt. Dennoch dürften Versuche im Sinne einer solchen Verwandlung - ebenjene „Protestantisierung" des Islam im Sinne einer Angleichung an die konfessionellen Formen des Westens, unter den Muslimen auf erhebliche Widerstände stoßen. Bereits die Tatsache, daß die weltweit sich ausbreitende Zivilisation des Westens eine zwar säkularisierte, aber doch eine Kultur christlich säkularisierter Provinienz ist, dürfte im islamischen Kontext zum Aufbau so mancher Abwehr führen. Schließlich dürfte für den Islam als einem sich traditionell wie historisch auch und gerade von der Christenheit abhebenden Kulturzusammenhang die erklärte Übernahme jener säkularisierten, ihrer Genesis nach jedoch christlichen Form nicht ganz ohne Einbuße auf die eigene Befindlichkeit wie für das eigene Selbstwertgefühl bleiben. 16 Und dies vor allem deshalb, als der Islam als die letzte geoffenbarte monotheistische Religion sich ihren Vorläufern - Judentum wie Christentum gegenüber - überlegen dünkt. Darüber hinaus hat der Islam als eine monotheistische, wenn nicht die monotheistischste aller monotheistischen Religionen Säkularisierung wenn, dann nur in einem äußerst begrenztem Maße erfahren. Jedenfalls war solche Proto-Säkularisie-

13 14 15 16

Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Weit, München 1924. Daliin H. Oaks (Hrsg.), The Wall between Church and State, Chicago 1963. Bernard Lewis, The Islam and the West, Oxford 1993. Dan Diner, Universale Rechtsform und partikulare Differenz. Islam und Völkerrecht, in: ders., Weltordnungen. Über Geschichte und Geltung von Recht und Macht, Frankfurt/M 1993, 165-195.

N E U T R A L I S I E R U N G U N D T O L E R I E R U N G VON D I F F E R E N Z

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rung durch eine dem Islam eingeschriebenen Einheit von Religion und Staat erheblich behindert worden - eine Einheit, die sich im Bereich der lateinischen Christenheit als Westen erst unter erheblichen Erschütterungen und Verwerfungen entmischte - und dies in einem Prozeß von langer Dauer. 17 Neben einer theologisch postulierten Einheit von Religion und Staat im Islam wirkten auch und gerade gesellschaftliche Umstände der für die Moderne gleichsam konstitutiven Trennung der Sphären von Öffentlich und Privat sowie der damit verbundenen Entmischung von Politik und Glauben entgegen. Hier ist von einer - und an der westlichen Entwicklung gemessenen - Besonderheit der als „orientalisch" bezeichneten Gesellschaften die Rede, die über Epochen hinweg als Schlüssel zum Verständnis des Unterschieds zwischen der „westlichen" und ebenjener „orientalischen" Formation gelten kann. 18 Es ist die theologische Einheit von Religion und Staat verfestigende Präsenz des Staates bzw. seiner Einrichtungen in der „Stadt", d. h. die unmittelbare Wirkung von staatlicher Macht innerhalb der Mauern einer Urbanen Kultur und eben nicht dieser von außen her entgegenstehend - einem Gegensatz also, aus der heraus sich anderenorts die Institutionen von Bürgerlichkeit wie das Privateigentum, der Schutz des Individuums, die Ausbildung öffentlicher Räume und Einrichtungen sowie manches mehr haben ausbilden können - jedenfalls all das, was für die westliche Zivilisation und ihren Vorstellungen von Freiheit sowie was zu einer Ablösung von den traditionellen Gewalten sowie zu einer zunehmenden Autonomie dessen führte, was im Unterschied zum Staat und sich von diesem absetzend gemeinhin unter „Gesellschaft" verstanden wird. 19 Das sich im Verlaufe der Geschichte der islamischen Zivilisation im „Orient" abspielende Drama eines an Wiederholungszwang erinnernden Vorganges einer sich der Stadtkultur von außen auferlegenden, vornehmlich nomadischen Lebensgewohnheiten praktizierende bewaffnete Macht hat der bedeutende arabische politische Denker und Soziologe des 13./14. Jahrhunderts, Ibn Khaldun, in beeindrukkender Weise beschrieben und somit die Grundlagen zum Verständnis dessen gelegt, was aus moderner Perspektive als das unerlöste Verhältnis von „Staat" und „Gesellschaft" in solchen Kulturen und Zivilisationen verstanden werden mag, in denen der Islam dominant wurde und über Jahrhunderte hinweg auch dominant geblieben ist. Jedenfalls erlaubt das Werk Ibn Khalduns einen tiefen Einblick in die kulturgeographischen, ökologischen, ökonomischen und herrschaftssoziologischen Umstände dessen, was eine Aufspaltung der Sphären von Öffentlich und Privat, von Politik und Ökonomie sowie die konflikthafte Ausbildung von Individualität aus kollektiv formierten Verbänden heraus als Bedingungen von Moderne im „Orient"

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Tilman Nagel, Geschichte der islamischen Theologie. Von Mohammed bis zur Gegenwart, München 1994. C. H. Becker, Islamstudien, Bd. 1, Leipzig 1924. Emest Gellner, Der Islam als Gesellschaftsordnung, München 1991.

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derart strukturell erschwert, j a langfristig verhindert haben mochte. 20 Die sozialwirtschafts- und institutionengeschichtliche Forschung über den islamischen Orient hat diese - verglichen mit der westeuropäischen Entwicklung - dramatische Selbstblockade plausibel nachgezeichnet sowie neben den endogenen Umständen für j e nes als stagnativ beklagte Verhältnis auch die dadurch erleichterten äußeren Eingriffe westlicher Mächte in den Raum des Islam hinein erklärt. Daß es sich hier um vielfaltig geschichteten Umstände und nicht um schlicht monokausal rückfuhrbare Verursachung handelt - vor allem nicht um die Religion als letzte causa - dürfte im Lichte der Forschung einsichtig sein. 21 Zum allgemeinen Verständnis dieses Zusammenhanges sollte es jedenfalls genügen, daraufhingewiesen zu haben, daß es vornehmlich jene materiellen, d. h. kulturgeographisch, ökologisch und herrschaftssoziologisch geartete Umstände waren, die jene vom Islam durchdrungenen Formationen daran hinderten Entwicklungen einzuleiten, die es zu einer Garantie des Privateigentums und seines Schutzes vor dem Zugriff der Staatsgewalten ebenso gebracht hätten, wie die Sicherung individueller Freiheiten und der mit ihr einhergehenden Trennung der Sphären von privat und öffentlich sowie - endlich - der Konfessionalisierung der Religion als bloßer Glaube in seiner Abspaltung vom Staate und einer monopolitischen ecclesialen Gewalt. 22 Aus westlicher Perspektive ist jedenfalls auffällig, daß in den Gemeinwesen des islamischen Orients Staat, Militär, Religion, Wirtschaft und Gesellschaft sich wenig bzw. kaum entmischt haben. Viele der gegenwärtig auch und vor allem von den Bevölkerungen dieser Gemeinwesen beklagten Mißstände sind auf den Mangel an ebenjenen Institutionen zurückzuführen, die Sphärentrennung ebenso garantieren, wie daraus hervorgehende Gewaltentrennung, Rechtssicherheit, die Freiheiten des Individuums und ihr Schutz und nicht zuletzt auch jene wirtschaftliche Prosperität, die doch diesen Freiheiten zu danken ist. 23 Die Kritik an den als „Korruption" erachten Mißständen in den arabisch-islamischen Gemeinwesen hat nach dem Niedergang einer vorgeblich säkularen und zudem kollektivistisch blockierten Heilsversprechens des Nationalismus und Sozialismus, einem islamisch aufgeladenen Diskurs Platz gemacht. 24 Die dabei traktierte Legitimation bleibt jedoch im Corpus innermuslimischen Deutungen befangen, als die beklagte Gegenwart mit einer vermeintlich glorreichen Vergangenheit kontra-

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24

Ibn Khaldun, The Muqqadima, übersetzt von Franz Rosenthal, engl. Ausgabe hrsg. von H. J. Dawood, London 1967. R. Brunschwig/G. E. von Grunebaum (Hrsg.), Classicisme et decline culturel das l'histoire de l'islam. Actes du symposium international de la civilisation musulmane, Paris 1957. Bassam Tibi, Die Krise des vormodernen Islam. Eine vorindustrielle Kultur im wissenschaftlich-technischen Zeitalter, Frankfurt/M 1991. Der aus dem Ägypten Mohammed Alis nach Paris entsandte Rifa'a Rafi' Al-Tahtawi, Ein Muslim entdeckt Europa, München 1988, hat anlässlich der Juli-Revolution in Paris 1830 die Beobachtung des Zusammenhangs von Gewaltenteilung und Prosperität gemacht. Emmanuel Sivan, Radical Islam. Medieval Theology and Modern Politics, New Haven/London 1985.

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stiert und ihr Niedergang zudem mit zweierlei Vorgängen begründet wird: Zum einen mit der schwindenden Frömmigkeit und Gottgefälligkeit der Muslime bzw. der sie repräsentierenden Regime, zum anderen mit einer als „Verschwörung" denunzierte Machtausübung des Westens in seiner ihm vorgeblich eigenen Feindschaft gegen den Islam. 25 Mit solchen Deutungen wird die ohnehin bestehende gesellschaftliche Wirkungsmacht sakraler Texte über ihre traditionelle Geltung und Bedeutung hinaus verstärkt. Hinzu tritt, daß dem islamisch verhafteten Diskurs über Legitimität und Herrschaft schon aus Gründen religiös vorausgegangener Kanonisierung von Texten ein sich hegemonial auswirkender Wahrheitsbonus ebenso eingekerbt ist, wie auch den klassischen Texten politischer Theorie frühneuzeitlichen Ursprungs ihre zutiefst christliche bis christologische Herkunft bei bestem Willen nicht auszureden ist. Jedenfalls sind ihnen jeweils Elemente aufdringlicher Sakralität eingeschrieben. So erscheinen sie Muslimen nicht nur fremd, sondern aus dem geschichtlichen Kontext ihrer Entstehung her auch feindlich gewogen. 26 Nun gilt es sich des Umstandes zu vergegenwärtigen, daß Gesellschaft weniger von Texten geprägt, als umgekehrt die Ausdeutung der Texte wesentlich von den sich wandelnden Lebenswirklichkeiten angeleitet wird. Dort, wo Muslime nicht in einem homogen islamischen und sich allein islamisch legitimierenden Gemeinwesen wie etwa Pakistan leben, sondern wenn sie - und dies im übrigen in noch größerer Zahl - als gleiche Bürger integriert in einer religiös, ethnisch, sprachlich und sozial pluralistisch verfaßten Demokratie wie in Indien leben, treten sie dort nicht weniger erfolgreich und selbstbewußt auf, als Angehörige anderer dort vorfindlicher Religionen und Kulturen. 27 Eher dürfte sich der Eindruck bestätigen, Muslime in nicht-islamischen wie demokratisch verfaßten Gemeinwesen vermögen dort bessere Leistungen zu erbringen, als unter den wenig anheimelnden Bedingungen muslimisch homogener Staaten. In einer nicht-islamischen Umgebung sind sie jedenfalls nicht gehalten, repressiven religiös begründeten Anpassungen Folge zu leisten - und dies, ohne ihren Glauben aufzugeben oder diesem gar Einschränkungen zu unterwerfen. Es ist die islamische Erfahrung in der Diaspora, in der die Voraussetzungen einer Konfessionalisierung des Islam im Sinne seiner Internalisierung als Glaube und nicht als eine allumfassende und mittels gesellschaftlicher Kautelen auf den Einzelnen einwirkenden Religion ermöglicht wird. 28 Bei den Muslimen Indiens handelt es sich um den Fall einer historisch gewachsenen und nicht erst über Immigration sich einstellenden muslimischen Diaspora. Dennoch gilt es sie als Prototyp einer unter Umständen zu verallgemeinernden Er25 26

Bassam Tibi, Al-Mua'mara. Die Verschwörung, Hamburg 1993. Paul Honigsheim, Türkenkrieg, Türkenbündnis und Türkengleichberechtigung in Renaissance und Absolutismus, in: Friedenswarte, 55 (1959/60), 239ff.

27

J . Kotkin, Tribes. How Race, Religion and Identity Determine Success in the Global Economy, New York 1993.

28

Gilles Kepel, Allah im Westen, München 1996; Bernard Lewis/Dominique Schnapper (Hrsg.), Musulmans en Europe, Arles 1992; Claus Leggewie, Alhambra - Der Islam im Westen, Reinbek 1993.

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fahrung islamischer Säkularisierung und Konfessionalisierung zu verstehen. Dieser Entwicklung wie den indischen Muslimen überhaupt kommt es zugute, daß sie in ihrer überwiegenden Mehrheit davon verschont geblieben sind, sich in einem von mehrheitlicher muslimischen Bevölkerung bewohntem, obendrein strittigen und zudem an ein muslimisches Gemeinwesen angrenzenden Landesteil wie Kaschmir aufzuhalten, in dem sich der dort vorfindlichen Homogenität der muslimischen Bevölkerung wegen eine Territorialisierung der Religion aus einer gewissen und obendrein engen islamozentrischen Perspektive gleichsam anzubieten scheint und so auf Sezession drängt. Paradoxerweise bietet die muslimische Erfahrung auf dem indischen Subkontinent Material für zweierlei und dabei gegenläufige Varianten der Entwicklung des Islam. Zum einen der Umstand einer muslimischen Diaspora innerhalb der demokratisch verfaßten Indischen Union, die als ein republikanisches Gemeinwesen und damit Frankreich nach dem 1871 erfolgten Verlust Elsaß und Lothringens nicht unähnlich - kaum auf Gebiete mit einer von der Bevölkerungsmehrheit ethnisch bzw. religiös sich unterscheidenden Volksgruppe verzichten kann, ohne ihren republikanisch-universellen Charakter als wesentliches Integrationsmoment des Gemeinwesens verlustig zu gehen. Zum anderen die mit einer Art von Grenzerfahrung verbundene Radikalisierung des indischen Islam, wie er sich von den 20er Jahren an 1947 in die muslimische Staatsgründung Pakistans hinein territorialisierte. Beide Erfahrungen - die Erfahrung der islamischen Diaspora in der Indischen Union wie die pakistanische Staatsgründung aus Britisch-Indien heraus - stellen aus ein und demselben historischen Kontext heraus zwei verschiedene, gar gegenläufige Varianten möglicher Entwicklung auf. So hat der indische Grenzislam nicht nur den Staat Pakistan hervorgebracht, sondern trug nicht zuletzt zur Ausbildung jener Variante muslimischen Selbstverständnisses bei, der heute als fundamentalistisch oder islamistisch gilt. Eine solche Radikalisierung an der indischen Grenze der Kernländer des Islam war nicht zuletzt durch den Zusammenbruch des letzten muslimischen Imperiums, des Osmanischen Reiches im Gefolge des Ersten Weltkrieges verschärft worden - und dies vor allem deshalb, als islamische Institutionen wie das Kalifat und die des obersten Rechtsinterpreten, den Sheik-ül-Islam, spätestens durch die Begründung des türkischen Republik durch Mustapha Kemal, regelrecht abgeschafft worden waren. So ihrer islamischen Institutionen verwaist bildete sich in Britisch-Indien bald darauf eine Kalifatsbewegung heraus, um den dortigen Muslimen Orientierung zu geben, wie die 20er/30er Jahre überhaupt ein Jahrzehnt der Unruhe und Umorientierung unter den Muslimen bedeuteten, was zur Begründung von Organisationen wie der Muslim-Brüder in Ägypten führte - einer Ursprungsorganisation von später sich ihr heraus abspaltenden radikalen Islamistengruppen. 29 29

R. P. Mitchell, The Society of the Muslim Brothers, London 1969; Israel Gershoni, Rejecting the West: The Image of the West in the Teachings o f the Muslim Brotherhood, 1928-1939, in: Uri Dann (Hrsg.), The Great Powers and the Middle East, 3 7 0 - 3 9 0 .

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In den Ländern des heutigen Westens, in denen sich Muslime als Emigranten in einer neuen, ihnen wenig vertrauten Umgebung als Fremde wiederfinden, mögen sich dem indischen Exempel analog wiederum zwei durchaus gegenläufige Entwicklungen anbieten: Zum einen die Chance durch Akkulturation an die Formen des Westens einer Konfessionalisierung des Islam den Weg zu ebnen; zum anderen durch Entfremdung verursacht und durch abstrakte Textnähe hervorgerufen, zu einer Radikalisierung und Politisierung einer vormalig doch eher traditionell angelegten Religion beizutragen. Ein solches Paradox ist nicht ungewöhnlich. Auch die jüdische Orthodoxie erfahrt in der Moderne eine Radikalisierung insofern, als mit dem Niedergang der Tradition die Textnähe zunimmt und die Exegese mittels gegenseitig sich radikalisierender Interpretationsvarianten verschärft wird. Je weniger nämlich gewachsene Tradition und eine mit ihr verbundene Pragmatik des Alltages Platz greift, desto stärkerer stellt sich ein der Entfremdung und zunehmender Selbstvergewisserung geschuldeter Textbezug ein - sowie ebenjene von rivalisierender Ausdeutung der Verschriftlichung angestoßenen Verschärfungen. 30 Migration in den Westen kann also zweierlei nach sich ziehen: Einerseits ebenjene und der Radikalisierung des eigenen Glaubens beschleunigende Entfremdung ebenso wie eine andererseits den Vorgaben der Konfessionalisierung sich anverwandelnden Religion. Je vielfaltiger religiös und ethnisch ein Gemeinwesen komponiert ist, desto mehr sichtbare Anteile der Zugehörigkeit gilt es zu internalisieren bzw. zu neutralisieren. Das Ausmaß einer solcher Verwandlung bedingt den Pegel der in einer solchen Gesellschaft realisierbaren Toleranz. In den Vereinigten Staaten, deren Bevölkerung sich wesentlich aus „Fremden", d. h. aus Einwandern und Flüchtlingen sowie deren Nachkommenschaft zusammensetzt, gilt es aus Gründen gedeihlichen Zusammenlebens die öffentliche Sphäre von allen partikularen Emblemen der jeweiligen Zugehörigkeit freizuhalten. Dieser Neutralisierung wegen vermag der amerikanische Patriotismus sich alleine auf Werte zu stützen - auf den Wert der Freiheit als solcher wie die sie komponierenden Freiheiten. Sie sind konfessionell wie ethnisch farbenblind und damit letztendlich universell.31 Neutralisierung der Herkunft als Bedingung institutioneller Toleranz dem jeweils Anderen gegenüber mag hinsichtlich der Religion in ihrer Verwandlung in 30

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Haym Soloveitchik, Rupture and Reconstruction: The Transformation of Contemporaty Orthodoxy, in: Tradition. A Journal of Orthodox Jewish Thought, 28 (1994), 64-130; Menahem Friedman, Life Tradition and Book Tradition in the Development of Ultraorthodox Judaism, in: Harvey E. Goldberg (Hrsg.), Judaism Viewed from Within and From Without, Albany 1987, 235-238; Menahem Friedman, The Lost Kiddush Cup: Changes in the Ashkenasi Haredi Culture: A Lost Religious Tradition, in: Jack Wertheimer (Hrsg.), The Uses of Tradition: Jewish Continuity in the Modem Era, New York 1992, 175-186. Richard J. Neuhaus, The Naked Public Sphere. Religion and Democracy in America, Grand Rapids 1984.

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Konfession, d. h. ihre fortschreitende „Protestantisierung", noch historisch eingängig sein. Die „Internalisierung" von Malen ethnischer Zugehörigkeit, die Embleme vorausgehender Herkünfte, nimmt sich da schon schwieriger aus. Schließlich läßt sich die äußerlich sichtbare Verschiedenheit der Herkünfte nicht ungeschehen machen bzw. optisch ignorieren. Jedenfalls ist die jeweilige physiognomische Äußerlichkeit im Unterschied zum Glauben, der in einem säkular verfaßten Gemeinwesen nur zu bestimmten Zeiten und an bestimmten Orten in Erscheinung tritt, nicht zu übersehen. Dennoch trägt ein demokratisch und republikanisch verfaßtes Gemeinwesen zu einer „Internalisierung" der physiognomischen Unterschiede insofern bei, als daß das Regelwerk der Verfassung einen politischen und gesellschaftlichen Effekt von Distanz und Gleichgültigkeit ebenjenen äußeren Differenzen gegenüber sowie einen gleichsam anthropologisch zu verallgemeinernden Effekt insofern nach sich zieht, als das politischen Auge mit den Maßgaben einer Art von öffentlicher „Farbenblindheit" ausgestattet wird. Distanz und Gleichgültigkeit im öffentlichen Raum sind Mechanismen der Regelung in einem wesentlich auf Institution und Verfahren - auf Proceduren beruhendem politischen System. Voraussetzung der Teilnahme und Teilhabe an einem solchen institutionellen Regelsystem sind die Maßgaben formeller Freiheit und Gleichheit. Und alles was der Freiheit und Gleichheit des Einzelnen als Bürger, als citizen dient, dient dem Rechtsfrieden wie der reibungslosen Funktionsfähigkeit des Gemeinwesen als ganzem. In den Vereinigten Staaten als dem Land der Zukunft und als einem Gemeinwesen, das den Menschen unterschiedlichster Herkunft und Konfession Heimat und Sicherheit von den typischen Verwerfungen traditioneller Gemeinwesen gewährt, erfolgt Naturalisierung als Neutralisierung von Herkunft über Verfahren. Das Verfahren der Amerikanisierung, das sich als Schwur auf die Verfassung als einem Canon weiterer Verfahrensvorschriften gründet, zieht die kulturelle Aneignung von alltagsgerechten, den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit angemessenen Verhaltensformen nach sich. So gehört zum neutralisierenden Procedere des Alltagsverhaltens etwa der Verzicht auf eine die vorausgegangene Herkunft entblößende Nennung des Nachnamen in der Anrede ebenso wie als Signal kommunikativer, wenn auch nur symbolischer Gleichbehandlung als Bedingung einer wesentlich allein über den Markt vermittelten und kontraktualistisch konstruierten Teilhabe am Gemeinwesen. Sieht man von den schwarzen Amerikanern einmal ab, deren vormaliges Dasein als Sklaven und damit als einziger Bevölkerungsteil, der nicht aus eigenen Stücken nach Amerika kam, sondern mittels Zwanges dorthin verbracht wurde und dessen sich darauf gründende Sonder- und Schlechterstellung anfangs durch gesetzliche, später durch eine untergründig wie offen wirksame Alltagsdiskriminierung sich in das Bewußtsein der Schwarzen wie in das der anderen Amerikaner einzukerbte, so hat die bis in die 1960er Jahre hinein beherrschende Tendenz, sich aller Sichtbarkeiten vormaliger Zugehörigkeiten und Herkünfte zu begeben, in den letzen

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zwei Jahrzehnten eine paradoxe Wende in Richtung kollektiven Sichtbarwerdens genommen - jene „Hyphenisierung" der Amerikaner, d. h. die mittels Bindestrich erfolgte Konstruktion ethnisch anmutender Zugehörigkeiten unterhalb der relevanten Schwelle von Staatsangehörigkeit, von citizenship. Daß eine solche Umkehrung jener vormalig durchgängig akzeptierten Angleichung als Vorstellung vom melting-pot gerade von den sich ihres Selbstverständnisses neu versichernden schwarzen Bevölkerung ausgegangen ist, dürfte allein schon den oben erwähnten, sich in die Gegenwart hinein verlängernden und anthropologisch gelesenen historischen und sozialen Bedingungen ihrer Abkunft geschuldet gewesen sein. Da die Male der Herkunft ihr vormaliges Schicksal öffentlich machten und es so - wenn auch in anderer Weise - sozial in die Gegenwart hinein verlängerten, vermochten diese nur insoweit neutralisiert zu werden, als sich die umgekehrte Tendenz einstellte, nämlich die Herkunft aller zum Gegenstand öffentlicher Sichtbarkeit zu machen - eben jene von den späten 60er ausgehende „Hyphenisierung" der Amerikaner. Ein solches Sichtbarmachen der jeweiligen Herkünfte als Afro-American, IrishAmerican, Muslim-American etc. neigt im Unterschied zu den nationalen und ethnischen Zugehörigkeiten in Europa oder anderer Traditionsgesellschaften eben nicht dazu, eine sich jeweils territorial absondernde und politisch vermachtende Sphäre auszubilden. 32 Insofern sind die Vereinigten Staaten eben nicht wie so oft und aus einer europäisch-essentialistischen Perspektive heraus als ein Vielvölkerstaat zu verstehen, sondern als ein Gemeinwesen, in dem auch mittels der neuerlichen Praxis die Abkünfte eher herauszustellen, denn zu verdecken, diese dabei politisch neutralisiert bleiben. Bestenfalls lassen sie sich als kulturalistische Embleme verstehen, die sich irgendwo zwischen der Sphäre des Privaten und Öffentlichen ansiedeln, ohne letztere für sich in Anspruch nehmen zu können. Die Amerikanität indes, die eigentliche Teilhaftigkeit am Gemeinwesen, schlägt sich bei aller herausgestellten Differenz allein im Verfahren nieder. Das Verfahren als konstitutiver Bestandteil des amerikanischen Selbstverständnisses findet sich wiederum im Zeichen jenes hyphen symbolisiert, der zwischen der Bezeichnung der vormaligen Herkunft und der staatsrechtlichen Zugehörigkeit wie nebensächlich aufscheint. Amerika, die Vereinigten Staaten, weisen mit ihrer das Gemeinwesen bestimmenden Konstruktion einer strikten Trennung zwischen citizenship einerseits und religiöser wie ethnischer Herkunft andererseits in eine Zukunft, die allen harrt. Mögen historisch gegenläufigen Tendenzen in den Vereinigten Staaten noch so sehr sDiskriminierungen und handfeste Unterdrückungen kennen - die prinzipielle Offenheit den jeweiligen Herkünften gegenüber ist für das Gemeinwesen allemal konstitutiv. Anders ließe sich jene Neue Welt der Einwanderer und Flüchtlinge nicht realisieren.

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Craig Calhoun, Nationalism and Ethnicity, in: American Review of Sociology, no. 19 (1993), 234f.

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Angesichts des amerikanischen Exempels haben es die Alten Welten im Zeitalter der Globalisierung schwerer. Bei aller ihnen von den Umständen der Zeit auferlegten Offenheiten sind sie aufgrund vormaliger oder zumindest behaupteter vormaliger Homogenität eher ihren konfessionellen oder ethnischen Ursprüngen zugewandt, sind eher ausschließenden denn einschließenden Charakters. Der Hinweis auf eine vergleichsweise, wenn auch wenig überzeugende herrschende Harmonie führt dabei in die Irre. Schließlich sind in Amerika bei größter Nähe bei weitem krassere Unterschiede in Herkunft und Zugehörigkeit zu überbrücken als in Europa oder anderen Traditionsgesellschaften. So ist plausiblerweise anzunehmen, daß bei einer größeren religiösen und ethnischen Heterogenität der Bevölkerung in den Gemeinwesen der alten Welt sich der dabei einstellende Pegel von Toleranz tiefer anschlagen dürfte als in Amerika, das von vornherein nicht auf Homogenität der Herkunft angelegt war, mochte diese früher auch empirisch bestanden haben. Paradoxerweise wirkt sich die den europäischen Gemeinwesen eigenen Sicherheiten sozialer Wohlfahrt hinsichtlich des Neuankömmlings exklusivistisch aus.33 Schließlich werden soziale Rechte den Bürgern auf Grundlage von Anwartschaften oder gar von Herkunft gewährt. Die Erschwernisse einer Öffnung solcher Gemeinwesen dem Anderen gegenüber rührt also daher, daß Anwartschaften der Dauer bedürfen ein teures Gut, mit dem Neuzugänger zum Gemeinwesen schon der Natur der Sache nach nicht aufzuwarten vermögen. So neigen die Gemeinwesen der alten Welten dazu, Einlaß Begehrende eher abzuweisen oder zurückzusetzen, als dies in Amerika der Fall sein kann - ein Land der Zukunft, das zwar eine Verfassung hat, aber keine Herkunft kennt. Die Verwerfungen der Globalisierung konfrontieren die Gemeinwesen weltweit mit den Vorzügen wie mit den Schattenseiten einer offenen Gesellschaft. Zu den Vorzügen gehören die Potentiale höheren Wachstums - zu den Schattenseiten ein zunehmendes innergesellschaftliches Wohlstandsgefalle. Zudem wird den staatlichen Gemeinwesen der sich weitenden Offenheit wegen - ebenjenen Maßgaben der Inklusion - ein höheres Maß an innergesellschaftlicher Toleranz abverlangt. Diese verwirklicht sich weniger darin, daß die Menschen charakterlich zu einem moralisch Besseren bekehrt werden, denn in der Etablierung von Institutionen zur Regulierung der Verschiedenheit. Eine solche Regulierung wiederum beruht vornehmlich und zuerst auf einer Neutralisierung der jeweiligen Herkünfte - seien sie nun ethnisch oder religiös. Der Prozeß einer solchen Neutralisierung hob in Europa der frühen Neuzeit an, als die konfessionellen Unterschiede innerhalb der Christenheit zur Bändigung eines alles in seinen Sog ziehenden Bürgerkrieges zunehmend in die Sphäre des Privaten verlegt wurden. Diese zivilisatorische Leistung einer Entpolitisierung der Re33

Rolf-Peter Sieferle, Weltmarkt und Nationalstaat. Das Dilemma des Wohlfahrtsstaates im Zeitalter der Globalisierung, in: Helga Breuninger/Rolf Sieferle (Hrsg.), Markt und Macht in der Geschichte, Stuttgart 1995,349-376.

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ligion ging keineswegs konfliktfrei vor sich und war zudem von langer Dauer. Außerdem nahm sie in den unterschiedlichen Regionen und Gemeinwesen Europas unterschiedliche Formen an. J e weiter der Blick nach Osten schweift, desto enger war die sich ausbildende nationale Zugehörigkeit mit der ihr vorausgehenden religiösen verbunden. Mancherorts, vornehmlich im Bereich der Orthodoxie, deren politische Philosophie sich von der des lateinischen Westens unterscheidet, sind ganze politische Gemeinwesen den jeweiligen Autokephalien erwachsen. 34 Die östliche Perspektive mag so die Sicht für die gewaltigen Erschwernisse schärfen, mit denen Kulturen wie der Islam belastet sind, im Zeitalter einer zunehmenden Offenheit das kulturell wie religiös Eigene zu bewahren, andererseits aber Prozesse einzuleiten, die zur Teilung der Sphären von öffentlich und privat, von Politik und Ökonomie, von Individualität und Kollektivität ebenso wie die mit dieser Aufspaltung einhergehende Konfessionalisierung des Glaubens im Unterschied und in Abgrenzung zur Politik herbeizufuhren. Die Überlegungen des John Locke über Toleranz sind hierfür bis in die Gegenwart hinein von bleibender Geltung. Professor Dan Diner, Historiker, The Hebrew University o f Jerusalem; Direktor des Simon Dubnow-Instituts an der Universität Leipzig

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Gilbert Dragon, Empereur et pretre. Etudes sur le „cesaropapisme" byzantin, Paris 1996; Dan Diner, Zweierlei Osten. Europa zwischen Westen, Byzanz und Islam, in: Otto Kallscheuer (Hrsg.), Das Europa der Religionen, Frankfurt/M 1996, 9 7 - 1 1 6 ; Edgar Hoesch, Geschichte der Balkanländer, München 1993.

WOLFGANG HUBER

Europa als Wertegemeinschaft. Seine christlichen Grundlagen gestern, heute, morgen

1. Die Frage nach den christlichen Anteilen Europas Im Jahr 1799 brachte Friedrich von Hardenberg, genannt Novalis, in Jena einen Text zu Papier, der alsbald erhebliche Kontroversen auslöste. Sechsundzwanzig Jahre war der Autor erst alt, der schon zwei Jahre später starb. Vor allem Goethes Einspruch verhinderte zunächst die Veröffentlichung des Essays über „Die Christenheit oder Europa". Dabei handelt es sich um den ersten Text in deutscher Sprache, der eine umfassende Vision einer europäischen Gemeinschaft entwirft. Die Grundlage der europäischen Einheit sieht Novalis in der Religion. Sie oder genauer: das Christentum verbürgt die Einheit Europas. „Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Welttheil bewohnte. Ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs." Wenn Europa auf dem Christentum als seinem Fundament ruhte, dann mußte freilich die Abkehr von ihm den gesamten Bau erschüttern. Novalis bleibt freilich nicht dabei stehen, den Abfall von den christlichen Wurzeln der europäischen Einheit zu beklagen. Er sieht aus den Wirren, die insbesondere durch die Französische Revolution ausgelöst wurden, eine religiöse Erneuerung emporwachsen - wenn die Menschen sie nur ergreifen: Der Krieg „wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren furchtbaren Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt. ... Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern, und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes friedensstiftendes Amt installieren." Und noch herausfordernder heißt es: „Die andern Welttheile warten auf

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Europas Versöhnung und Auferstehung, um sich anzuschließen und Mitbürger des Himmelsreichs zu werden." Ist das eine kühne Vision oder ein romantischer Traum? Die Züge der rückwärtsgewandten Beschwörung sind nicht zu übersehen. Welche Epoche der Vergangenheit ist es wohl, die Novalis mit den „schönen glänzenden Zeiten" meint? Romantisch wird hier das Mittelalter als ein christliches Zeitalter überhöht; seine durchaus unchristlichen Züge werden verdrängt. Wann immer eine vergangene Form der Verbindung von Christentum und Europa einfach zum Maßstab des Künftigen gemacht wird, hat man es mit einer solchen Idealisierung der Vergangenheit zu tun. An die Vision des Novalis läßt sich schon wegen ihrer rückwärtsgewandten Romantik nicht anknüpfen. Sie ist uns aber auch aus einem anderen Grunde fremd. Das Christentum ist längst kein europäischer Besitz mehr, der von hier aus - dank „Europas Versöhnung und Auferstehung" - in die anderen Weltteile exportiert werden könnte. Manche halten vielmehr - in einer freilich überzogenen Betrachtungsweise - „Die Christenheit oder Europa" heute schon für einen Gegensatz. Wahr ist, daß die Christenheit sich heute in anderen Kontinenten, in Nord- und Lateinamerika, im Pazifik, in Asien und Afrika fruchtbarer als in Europa entfaltet und Zuwächse zu verzeichnen hat. Europa dagegen hat sich zu erheblichen Teilen vom Christentum abgewandt. Die Frage nach Gott ist einem Teil der Europäer „gründlich ausgetrieben" worden; andere haben ihr von sich aus den Abschied gegeben. In vielen anderen Teilen der Welt erleben wir gegenwärtig eine Abkehr von der Säkularisierung, eine „Desäkularisierung" also, wie Peter L. Berger das genannt hat; in Europa dagegen setzt sich die Säkularisierung noch immer fort. Mit übertriebenem Selbstbewußtsein über die christlichen Wurzeln Europas zu sprechen, besteht auch dann kein Grund, wenn man die Situation zwischen Tschechien und den Niederlanden, Deutschland eingeschlossen, nicht als paradigmatisch für ganz Europa ansieht. Bei aller Nüchternheit besteht aber auch kein Anlaß, die nach wie vor vorhandene Prägekraft des Christentums in Europa zu leugnen. Von den 720 Millionen Menschen in Europa sind immerhin mehr als 500 Millionen Christinnen und Christen. Dieser Tatsache wird man nicht gerecht, wenn man in einem allgemeinen Lamento über die Säkularisierung erklärt, das Christentum sei in Europa ganz oder doch beinahe tot, seine geistige Substanz sei in Europa entkernt. Nicht nur in der Vergangenheit haben Christenmenschen sich in Europa für Werte eingesetzt, die diesen Kontinent geprägt haben: für die Erkenntnis der Natur als Schöpfung, für die Würde des Menschen, für die Ehre Gottes. Auch durch viele Irrtümer sind sie dabei gegangen und haben Schuld auf sich geladen: in der Ausbeutung der Natur, in der Gewalt gegen andere Menschen, in der Leugnung Gottes. Aber das Christentum war es, das selbst die Maßstäbe setzte, an denen solche Irrwege aufgedeckt wurden. Das Christentum ist nicht nur verflochten in eine Geschichte der Schuld; es ist auch die Quelle von Schulderkenntnis und Neubeginn.

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An keinem Thema läßt sich das eindrücklicher zeigen als an der Vorstellung von der unantastbaren Menschenwürde und den aus ihr abgeleiteten Menschenrechten. Gewiß: Diese Einsicht mußte in der Neuzeit in erheblichem Umfang gegen die Kirchen durchgesetzt werden; doch zugleich kann man nicht davon absehen, daß sie sich christlichen Quellen verdankt. Denn in ihr drückt sich eine Vorstellung von der menschlichen Person aus, deren Würde deshalb unantastbar ist, weil sie in der Gottebenbildlichkeit ihren Ursprung hat. Die Europäische Union steht heute vor der doppelten Aufgabe der Erweiterung und Vertiefung zugleich. Mit der Erweiterung, die zu den langfristigen Auswirkungen der Wende von 1989 gehört, ist eine schon längst überfallige Ostverschiebung unserer Wahrnehmung verbunden. Sie wird uns lehren, auch die Bedeutung des Christentums mit anderen Augen zu sehen. Die Rolle des Katholizismus ist in Polen eine andere als beispielsweise in Frankreich, die Bedeutung der östlichen Orthodoxie ist uns in West- und Mitteleuropa ohnehin weitgehend unbekannt. Die Forderung nach einer Vertiefung des europäischen Einigungsprozesses aber nötigt dazu, nach der kulturellen und religiösen Verankerung dieses Prozesses zu fragen. Gewiß wird man sich eine solche Verankerung nur so vorstellen können, daß sie dem europäischen Pluralismus und damit auch der Verschiedenheit kultureller Ausprägungen und religiöser Orientierungen Rechnung trägt. Das romantische Bild einer religiösen Einheitskultur, wie Novalis es gezeichnet hat und wie es auch heute immer wieder aufflackert, taugt nicht als Leitbild für die Zukunft. Doch der relativistische Werteverzicht, der sich häufig mit einem rein technokratischen Bild Europas verbindet, versagt erst recht vor der Aufgabe, eine Vertiefung der Zusammengehörigkeit in Europa zuwege zu bringen. Ein Blick auf die gegenwärtige Lage des Christentums in Europa stimmt nüchtern; aber er veranlaßt nicht zur Resignation. Er gibt vielmehr Anlaß, zunächst auf Europas christliche Wurzeln zurückzuschauen, um von hier aus zu bestimmen, worin der Beitrag des Christentums zu Europa als einer Wertegemeinschaft bestehen kann.

2.

Europas christliche Wurzeln

Europa ist in stärkerem Maß eine kulturelle als eine geographische Größe. Es ist in stärkerem Maß eine religiöse als eine ethnische Einheit. Geographisch würde man diese Halbinsel am westlichen Rand Asiens kaum als einen Kontinent bezeichnen können. Und ethnisch ist es durch eine außerordentliche Vielfalt bestimmt. Nur seine kulturelle und religiöse Geschichte begründet, warum wir Europa einen Kontinent nennen. Für diese kulturelle und religiöse Prägung aber sind drei Namen kennzeichnend: Athen, Rom und Jerusalem. Den Griechen verdankt Europa den Geist der Philosophie, den Aufbruch zur Wissenschaft, die Offenheit für die Künste. Ein Erbe ist das übrigens, dessen Über-

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lieferung zu einem erheblichen Teil dem mittelalterlichen Islam zu danken ist. Den Römern verdankt Europa die Stiftung einer Rechtsordnung, den Sinn für politische Einheit und gestaltete Herrschaft. Jerusalem schließlich verdankt Europa die Bibel, die prägende Religion, das bestimmende Bild vom Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Das Christentum ist aus dem Judentum hervorgegangen; die Bibel der Christen schließt die Hebräische Bibel ein. Jesus, Petrus und Paulus - um nur diese drei zu nennen - waren Juden. Wann immer das Christentum sich von diesen jüdischen Wurzeln emanzipieren wollte, hatte das schreckliche Folgen. Für die Zukunft hat deshalb nur ein Christentum Berechtigung, das sich seiner Herkunft aus dem Judentum bewußt ist. Wer von den christlichen Wurzeln Europas spricht, muß sein Verhältnis zum antiken Erbe ebenso wie die jüdischen und islamischen Einwirkungen auf die europäische Entwicklung ins Auge fassen. So wenig es einen Grund gibt, das Christliche an Europa zu marginalisieren, so unbegründet ist es auch, Europa mit dem Christentum gleichzusetzen. Für keine Epoche der europäischen Geschichte ist das angemessen. Von einer Entstehung Europas kann man eigentlich erst vom vierten Jahrhundert an sprechen. Sie ist durch eine Doppelbewegung geprägt: Auf der einen Seite wurde das Christentum als Staatsreligion des römischen Reiches anerkannt; auf der anderen Seite löste sich das römische Reich selbst auf. In dem geschichtlichen Augenblick, in dem sich ein christliches Europa bildete, differenzierte es sich sogleich in das spannungsvolle Gegeneinander zwischen Byzanz und Rom, zwischen Morgenland und Abendland, zwischen Orient und Okzident. Die östliche Christenheit, ihrerseits bis in Kernfragen des christlichen Bekenntnisses von tiefen Spannungen durchzogen, entwickelte ein Verhältnis zur Welt, welches man als Symphonie, als Zusammenklang von Himmel und Erde wie von geistlicher und weltlicher Herrschaft deuten kann. Der Caesaropapismus gilt deshalb als die charakteristisch byzantinische Gestaltungsform des Verhältnisses von Staat und Kirche. Daß der Glaube gleichwohl dieser Welt auch immer fremd gegenübertritt, wurde im Gegenüber von Welt und Wüste symbolisiert. Für dieses Gegenüber stehen jene eindrucksvoll heiligen Gestalten, die sich aus der Welt in die Wüste gerufen wußten. Im Westen nahm das Verhältnis von Glaube und Welt, von Kirche und Staat eine andere Gestalt an. Früh schon entwickelte sich ein Bewußtsein für die Differenz beider Größen. In der Lehre von den zwei Schwertern fand sie einen sinnenfälligen Ausdruck. Weltliche und geistliche Herrschaft traten sich in einer grundsätzlichen Eigenständigkeit gegenüber, die den Stoff für große Konflikte in sich trug. Zugleich enthielt dieses Denkmodell eine frühe Vorbedingung für den modernen Verfassungsstaat in sich. Er beruht bis zum heutigen Tag auf der Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Herrschaft. Auch im Westen kannte man - wie im Osten - heilige Personen, in denen sich eine göttliche Berufung exemplarisch zeigte. Doch anders als im Osten wollten sie zumeist in dieser Welt zeigen, daß sie nicht von die-

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ser Welt waren. Nicht Weltflucht, sondern Weltgestaltung war das vorherrschende Programm, sei es in der Leitung der Kirche, im politischen Amt, in der Pflege von Wissenschaft und Kunst oder in der Verantwortung für Handel und Wandel. Europa war schon gespalten, als Karl der Große seinem westlichen Teil eine neue politische Gestalt gab, was ihm den Titel „Vater Europas" eintrug. Er schuf den politischen Rahmen dafür, daß zwischen dem 9. und dem 11. Jahrhundert auch die Länder nördlich des Limes, die bis dahin noch nicht christianisiert waren, das Christentum annahmen. Auch wenn wir die Umstände, unter denen das geschah, als problematisch empfinden, können wir doch die Augen nicht davor verschließen, daß es kein europäisches Land gibt, das nicht mindestens vor einem Jahrtausend zum Christentum übergetreten ist. Diese Bindung an das Christentum stellt ganz unausweichlich einen wichtigen Bestandteil der europäischen Identität dar. Das Gesicht Europas ist durch das Christentum mitgeprägt. Der Kontinent ist überzogen von Marksteinen christlicher Präsenz, von Kirchen und Klöstern, Schulen und Hospitälern, Wegkreuzen und Kapellen. Der Rhythmus der Zeit trägt eine christliche Gestalt, von der Siebentagewoche, die mit dem Tag der Auferstehung ihren Anfang nimmt, bis zum liturgischen Kalender, der den Jahreslauf bestimmt. Und vor allem: Das Bild vom Menschen ist von hier aus geprägt: das Bild von der menschlichen Person, die aus dem Gegenüber zu Gott ihre unantastbare Würde empfängt. Aber der christliche Glaube verband sich von Anfang an mit den unterschiedlichen regionalen Kulturen Europas. Er wurde eingebettet in die Lebenswelten der lateinischen oder keltischen, germanischen oder slawischen - Völker, die zusammen Europa bildeten. Im Westen entstand, wie Peter Brown gesagt hat, „ein Mosaik benachbarter, aber getrennter ,Mikro-Christenheiten"'. Die mittelalterliche Entwicklung der westlichen Christenheit war aber auch durch die beständige Spannung zwischen einer sich hierarchisch verfestigenden Kirche und sich dagegen auflehnenden Erneuerungsbewegungen bestimmt. Was Petrus Waldus oder Jan Hus bereits versuchten, gewann in der Reformation des 16. Jahrhunderts dann weltgeschichtliche Bedeutung. Dabei hatte es die Reformation des 16. Jahrhunderts auch der politischen Konstellation zu verdanken, daß sie nicht wie die Erneuerungsbewegungen des Mittelalters als Ketzerei niedergeschlagen wurde. Die Figurenkonstellation im Berliner Dom, in der die Reformatoren zusammen mit evangelischen Fürsten des 16. Jahrhunderts die Kuppel rahmen, zeichnet insofern ein durchaus realistisches Bild. Als die „Protestanten" auf dem Reichstag in Speyer sich einem Mehrheitsbeschluß der Reichsstände in Fragen des Glaubens widersetzten, fugten sie zur abendländischen Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt einen weiteren Baustein für die Entstehung des modernen Verfassungsstaats hinzu. Sie verlangten die Anerkennung von Gewissensfreiheit und die Selbstbeschränkung der politischen Autorität in Fragen der Religion. Sie ebneten damit den Weg zur Aufklärung ebenso wie zur Anerkennung von religiöser Pluralität.

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Dieser Weg wurde freilich - insbesondere in Deutschland - auf sehr eigene Weise gegangen. Für die einzelnen Territorien galt nun die Bestimmungsmacht des Landesherrn über die Konfessionszugehörigkeit seiner Untertanen. Im Reich insgesamt herrschte dagegen konfessionelle Parität. Wie wenig tragfahig dieses Konzept war, zeigte sich in den Konfessionskriegen der nachreformatorischen Zeit. Sie nötigten zu einer Neukonstruktion eines europäischen Friedens, der nicht unmittelbar auf der Religion beruhte, sondern auch dann Bestand haben sollte, wenn man annähme, daß es Gott nicht gäbe. Insofern nötigte die Unversöhnlichkeit der konfessionell bestimmten Kriegsparteien selbst zu einer Friedensordnung, die auch gegen die Konfessionen durchgesetzt werden konnte. Daran muß man sich immer wieder erinnern, wenn die These vertreten wird, der Frieden zwischen den Völkern setze den Frieden zwischen den Konfessionen und Religionen voraus: „kein Weltfrieden ohne Religionsfrieden". Gegebenenfalls muß der Frieden - Gott sei's geklagt - auch gegen Konfessionen und Religionen durchgesetzt werden. Auch das gehört zu den Lehren der europäischen Entwicklung. Die Kirchen selbst müssen ein Interesse daran haben, daß der Rechtsfrieden gegen diejenigen behauptet wird, die ihn gefährden - und sei es unter Inanspruchnahme religiöser Motive. Nordirland ist dafür ebenso ein aktuelles Beispiel wie der Balkan. Gerade die europäische Erfahrung spricht dafür, die Bedeutung der Religion fur die Gesellschaft und den weltlichen Charakter der Rechtsordnung deutlich voneinander zu unterscheiden. Die geschilderten Entwicklungen des konfessionellen Zeitalters brachten es mit sich, daß sich im 17. und 18. Jahrhundert immer weitere Lebensbereiche der konfessionellen Prägung entzogen. Das galt nicht nur für die Politik und die ihr dienende Rechtswissenschaft, sondern auch für die Philosophie, die Geschichtswissenschaft und die Naturwissenschaften. Schon in dieser Zeit verlor die Theologie in Europa das Monopol auf die Deutung von Welt und Mensch. Seitdem muß sie ihre eigenen Deutungen argumentativ - und das heißt auch: möglichst prägnant - in den Diskurs mit anderen Deutungen einbringen - es sei denn, sie zieht sich in eine Sonderwelt zurück, in der sie ihr Eigenes pflegt, ohne sich der Auseinandersetzung mit konkurrierenden Interpretationen zu stellen. Von der prägenden Bedeutung des Christentums für Europa zu sprechen, bedeutet zugleich, die europäische Pluralität anzuerkennen. Denn das Christentum hat auf seine Weise zu dieser Pluralität beigetragen. Die Toleranz gegenüber Glaubensfremden, zuerst in protestantischen Staaten gewährleistet, war dazu ein wichtiger Schritt. Dabei meinte Toleranz zunächst nur praktizierte Duldung. Minderheiten wurden aufgenommen, ohne daß deren Anwesenheit an der Grundorientierung der Mehrheit etwas änderte. Bestimmte Abweichungen von den herrschenden Prinzipien wurden hingenommen, die für die Gesellschaft im Ganzen gleichwohl in Geltung blieben. Auch die preußische Toleranz des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutete keine aktive Bejahung eines konfessionellen oder gar eines - die Juden einschlie-

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ßenden - religiösen Pluralismus. Man war noch weit entfernt von einer bewußten Anerkennung des andern in seinem Anderssein. Der Übergang zur vollen Religionsfreiheit stand noch bevor. Er vollzog sich erst in dem Augenblick, in dem die staatsbürgerlichen Rechte sich von der Religionszugehörigkeit lösten. Diese „Bresche", wie René Rémond sich ausdrückt, wurde in der Französischen Revolution geschlagen. „Niemand darf wegen seiner Ansichten, selbst religiöser Art, bedrängt werden ..." heißt es erstaunlich zurückhaltend in der „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte" von 1789. Aber die Einsicht, daß Unterschiede des religiösen Bekenntnisses keine staatsbürgerliche Benachteiligung zur Folge haben dürfen, war weitreichend. Diese Entkoppelung setzte sich schrittweise in ganz Europa durch. Erst der Ausschluß der Juden von der Staatsbürgerschaft im Deutschland der Nazizeit - aber auch im Frankreich der Vichy-Regierung - war eine tragische Abweichung von dem nun errungenen Prinzip. Wer immer heute von Europa als Wertegemeinschaft spricht, wird gerade deshalb dieses Prinzip zu den Werten zählen, hinter die Europa nicht wieder zurückgehen kann. So wie durch die Reformation die Gewissensfreiheit zu einem europäischen Grundwert wurde, so durch die Französische Revolution die staatsbürgerliche Gleichheit. Es gibt jedenfalls in meinen Augen keinen Zugang zum Wertekonsens Europas an diesen beiden Weichenstellungen vorbei. Die Kirchen haben die Unabhängigkeit des Staatsbürgerrechts von der Religionszugehörigkeit nicht selbst durchgesetzt. Auch deshalb hat dieser epochale Wandel sich in einem Säkularisierungsschub Ausdruck verschafft, der zwei Jahrhunderte - das 19. wie das 20. Jahrhundert - prägte. Nicht nur in überwiegend protestantischen Gegenden - mit ihrer traditionell geringeren Kirchenbindung - , sondern auch in katholischen Regionen löste sich das Deutungsmonopol der Kirchen ebenso auf wie ihr direkter Zugriff auf die Lebensorientierung der einzelnen. Die heiligen Zeiten werden entweiht. Der Rhythmus der Woche wie des Jahres wird profanisiert. Die religiöse Grundierung des Alltags schwindet. Atheistischer Humanismus wie atheistisches Ressentiment werden zu verbreiteten Haltungen. Glaubensfeindliche Ideologien bestimmten die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts Nationalsozialismus und Kommunismus; ihre auf unterschiedliche Weise kollektivistischen Bilder vom Menschen liegen hoffentlich auf Dauer hinter uns. Inzwischen überlagern sich Säkularisierung und religiöse Pluralität. Die Wanderungsbewegungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führten zu einer verstärkten Präsenz nichtchristlicher Religionen in Europa, allen voran des Islam. Daß Religionsfreiheit auch die Freiheit der Andersglaubenden ist, wird - vor allem angesichts der Anwesenheit von 10 Millionen Muslimen in Europa - zu einer täglichen Erfahrung. Doch alle Ambivalenzen, die mit dem Säkularisierungsprozeß verbunden sind, ändern nichts an der epochalen Bedeutung des Übergangs zu gleichen Bürgerrechten, die von der Religionszugehörigkeit unabhängig sind. Einem Staat, der diesen

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Grundsatz leugnete, würden wir heute vorhalten, daß er gegen die europäische Werteordnung verstößt. Europa als Wertegemeinschaft ist durch eine Vorstellung vom Verfassungsstaat geprägt, der die gleiche Würde jedes Menschen und ebenso die Gleichheit vor dem Gesetz unabhängig von der Religionszugehörigkeit respektiert. Denn das gehört zur Unbedingtheit der Menschenwürde. So sehr diese sich einem christlichen Impuls verdankt, so sehr kann sie rechtlich nur in einem säkularen Verfassungsstaat gesichert werden. Dabei gehört es zur Tragik der europäischen Entwicklung, daß diese Einsicht in Frankreich in einer antiklerikalen, ja antichristlichen Frontstellung durchgesetzt wurde. Dies gab der Säkularisierung der Verfassungsordnung eine laizistische Schlagseite, die noch in die heutigen Überlegungen zur Verfassung Europas hineinwirkt. Die Verwechslung einer Säkularisierung der Verfassungsordnung mit einer laizistischen Gestalt des gesellschaftlichen Lebens ist heute sehr verbreitet. Viele sehen in den anstehenden europäischen Entwicklungen die Möglichkeit oder sogar den Zwang, das Religionsverfassungsrecht für ganz Europa laizistisch umzugestalten. Unter der Überschrift einer „Trennung von Staat und Kirche" soll die Teilhabe der Religionsgemeinschaften am öffentlichen Raum reduziert oder sogar beseitigt werden. Manche verstehen unter Laizismus auch ein gesellschaftliches Klima, das durch Gleichgültigkeit gegenüber der Prägekraft und der Orientierungsbedeutung der Religionen überhaupt bestimmt ist. Daß solche Tendenzen nicht zwangsläufig sind, kann man sich am Vergleich mit den Vereinigten Staaten von Amerika klarmachen. Die Säkularisierung der Verfassungsordnung wurde auch dort vollzogen. Die Verfassungsklausel, nach welcher es kein „Establishment" zwischen Staat und Kirche geben darf, ist unmittelbar mit der Gewährleistung der Religionsfreiheit verknüpft. Die staatsbürgerlichen Rechte sind nicht an die Religionszugehörigkeit gebunden. Trotzdem vollzieht sich in den Vereinigten Staaten von Amerika kein gesellschaftlicher Säkularisierungsprozeß, den man mit dem europäischen auf eine Stufe stellen könnte. Religion im Sinn der wahrgenommenen und gestalteten Gottesbeziehung hat dort eine weit höhere Bedeutung. Die aktive Teilhabe am Leben der Gemeinden, den Gottesdienstbesuch eingeschlossen, geht über die europäischen Verhältnisse weit hinaus. Wachsende Kirchen sind nicht nur auf dem lateinamerikanischen, sondern auch auf dem nordamerikanischen Kontinent zu beobachten. In weit stärkerem Maß wird der Glaube als Halt im Leben und im Sterben, als Orientierung im Wandel in Anspruch genommen. Sowohl die evangelischen und orthodoxen als auch die römischkatholische Kirche in den USA haben unter diesen Bedingungen erkannt, daß gerade eine vom Staat unabhängige Kirche einen Beitrag zur geistigen Orientierung und zu den moralischen Grundlagen des Gemeinwesens leisten kann. Gewiß lassen sich amerikanische Verhältnisse nicht einfach auf den europäischen Kontinent übertragen. Aber auch hier können die Kirchen ihren Ort in der Zivilgesellschaft neu wahrnehmen und die bleibende Bedeutung christlicher Überzeu-

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gungen und christlicher Lebensorientierung in den Dialog der Gesellschaft einbringen. Die Rolle der Kirchen ist dann freilich weder in der Fortsetzung des Staatskirchentums noch in der Position von Toynbees „schöpferischer Minderheit" zu sehen. Nur indem sie die Glaubensgewißheit in den eigenen Reihen stärken und zum missionarischen Wirken nach außen bereit sind, werden die Kirchen ihren Ort in der Zivilgesellschaft wahrnehmen und einen Beitrag zum europäischen Wertebewußtsein leisten. Ob sie das in Übereinstimmung oder in Dissonanz tun, wird fur das Gewicht dieses Beitrags erhebliche Bedeutung haben. Nicht nur in einem solchen Kalkül, sondern vor allem in der ihnen aufgetragenen Botschaft selbst ist die ökumenische Zusammenarbeit der Kirchen begründet. Die Differenzen zwischen den Kirchen behalten in dieser Zusammenarbeit ihr Gewicht. Doch das, was sie verbindet, hat die größere Bedeutung. Dafür, dass sie zugleich zeigen wollen, warum sie auf je eigene Weise Kirche sind, hat gerade das vergangene Jahr bemerkenswerte Beispiele geliefert. Auch auf absehbare Zeit wird die Ökumene nicht die Gestalt einer organisatorischen Einheit annehmen; sie wird sich auch nicht unter dem römischen Bischof als gemeinsamem Sprecher der Christenheit versammeln. Sie wird vielmehr den Charakter einer - hoffentlich - versöhnten Verschiedenheit tragen.

3.

Europa als Wertegemeinschaft

Von Europa als Wertegemeinschaft war in der jüngsten Vergangenheit wiederholt die Rede. Der EU-Vertrag hat dieser Diskussion dadurch Nahrung gegeben, daß er ausdrücklich bestimmt: „Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam." Die Charta der Grundrechte für Europa hat der Debatte zusätzlichen Auftrieb gegeben; sie verweist in ihrem ersten Satz auf „gemeinsame Werte" als Grundlage einer friedlichen Zukunft wie einer engeren Union. Solche Hinweise verdeutlichen, daß die Identität Europas nicht allein durch wirtschaftliche Interessen definiert und auch nicht allein durch politische Institutionen verbürgt werden kann. Die Frage nach den tragenden Kräften Europas ist auch nicht durch den Hinweis auf die Pluralität der regional verwurzelten Kulturen in Europa zureichend beantwortet. Denn es geht gerade um die Frage, wie diese unterschiedlichen Kulturen sich miteinander verbinden und aufeinander beziehen können. Mit der europäischen Pluralität kann nicht das gleichgültige Nebeneinander unterschiedlicher Weltanschauungen gemeint sein. Denn das würde faktisch die Rücknahme der geistigen Orientierung in den Bereich des Privaten und die Preisgabe des öffentlichen Raums an einen nichtssagenden Relativismus bedeuten. Worum es geht, läßt sich freilich auch nicht durch die Formel vom „christlichen Abendland" beschreiben. Ihr wohnt die Entgegensetzung von Orient und Okzident,

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von Rom und Byzanz inne; sie ist insofern mit der Ostverschiebung unserer Wahrnehmung unvereinbar, die in der gegenwärtigen Entwicklungsphase Europas unausweichlich ist. Es muß, um das aktuellste Beispiel zu nennen, gelingen, auch Makedonien in den europäischen Wertekonsens einzubeziehen, statt es aus einem abendländischen Europabild auszugrenzen. Die Rede vom Abendland ist zusätzlich durch Oswald Spenglers Diagnose vom „Untergang des Abendlands" verbraucht. Vor allem aber unterstellt die Rede vom christlichen Abendland der europäischen Wertegemeinschaft eine Homogenität, die so nie gegeben war; auch fur die Zukunft ist mit ihr nicht zu rechnen. Noch einmal muß man betonen, daß Europa als Wertegemeinschaft sich einer Mehrzahl von Einflüssen verdankt. Mit den Worten von Kardinal Walter Kasper gesagt: „Antiker Humanismus, neuzeitliche Aufklärung und nicht zuletzt das Christentum in seiner byzantinisch/slawisch-orthodoxen, in seiner lateinischkatholischen wie in seiner reformatorischen Ausprägung haben sich in das geistige und kulturelle Gesicht Europas unauslöschlich eingeprägt." So plural diese christlichen wie nichtchristlichen Traditionen sind: im Blick auf das Bild vom Menschen treffen sie in wichtigen Grundelementen zusammen. Gemeinsam haben sie ein Bild vom Menschen hervorgebracht, für das Individualität und Sozialität, Freiheit und Verantwortung in gleicher Weise kennzeichnend sind. Wer sich auf dieses Bild eines seiner selbst bewußten, auf die Gemeinschaft mit anderen angelegten, für Gott offenen Menschen beruft, rückt freilich auch die Kontroversen in den Blick, die sich an dieses Bild heften. Nur durch diese Kontroversen hindurch, nicht an ihnen vorbei kann sich dieses Bild festigen. Dafür sind die Debatten, die von aktuellen Entwicklungen in den Lebenswissenschaften ausgehen, ein eindrückliches Beispiel. Ist schon alles Notwendige gesagt - so muß man beispielsweise fragen - , wenn die Menschenwürde an die Fähigkeit zur Selbstachtung gebunden wird? Gewiß kann man in der Selbstachtung die herausragende Fähigkeit sehen, die den Menschen vom Tier unterscheidet; aber die Unbedingtheit der menschlichen Würde verlangt gerade, daß die Achtung, die wir einem anderen Menschen entgegenbringen, unabhängig davon ist, ob dieser andere zur Selbstachtung fähig ist und von dieser Fähigkeit Gebrauch macht. Zum Gedanken einer unbedingten Menschenwürde gehört eine Kultur der Anerkennung, die nicht bestimmte Entwicklungsstadien des menschlichen Lebens oder bestimmte Gruppen - Kranke oder Alte beispielsweise von dieser Anerkennung ausschließt. Nicht eine Leitkultur braucht Europa, sondern die Verständigung auf eine Kultur der Anerkennung, die auf dem Respekt vor der unantastbaren Würde der menschlichen Person beruht. Nichts gefährdet in meinen Augen diese Kultur der Anerkennung mehr als eine sich ausbreitende Tendenz, die Rede von der Menschenwürde zur bloßen Leerformel zu erklären. Gewiß darf man das Menschenwürdeargument nicht uferlos verwenden, indem man jede Einzelfrage unmittelbar auf die Men-

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schenwiirde zurückfuhrt. Die Warnung vor „Uferlosigkeit" darf dagegen nicht dazu mißbraucht werden, bestimmte Menschen und Menschengruppen oder auch bestimmte Entwicklungsstufen menschlichen Lebens einfach aus dem Geltungsbereich der Menschenwürde auszuschließen. Nicht nur für die Fragen von Präimplantationsdiagnostik oder „therapeutischem Klonen", sondern auch für die Frage des Schwangerschaftsabbruchs hätte ein solcher Ansatz schwerwiegende Folgen. Der Eingriff zur Beendigung einer Schwangerschaft würde dann nicht mehr als rechtswidrig, wenn auch unter bestimmten Bedingungen als straffrei, sondern als schlechterdings erlaubt und damit als zusätzliche Methode der Familien- oder eher der Geburtenplanung gelten. Mit einer Kultur der Anerkennung ist eine solche Entwicklung nicht zu vereinbaren. Denn eine Kultur der Anerkennung macht den achtsamen Umgang mit dem werdenden Leben auch dann zur Pflicht, wenn dieses denselben Schutz und dieselbe Fürsorge - trotz der Pränatalmedizin - noch nicht erlangen kann, der dem geborenen Leben zukommt. Solche Stufen wachsender Fürsorgemöglichkeiten können nicht im Sinn ontologischer Trennungen verstanden werden. Dafür kann man auch nicht die Unterscheidung zwischen Mensch und Person in Anspruch nehmen, wie sie sich in der Charta der Grundrechte für Europa findet. Denn jeder Mensch ist darauf angelegt, Person zu sein; die Personrechte dürfen deshalb nicht von Voraussetzungen abhängig gemacht werden, deren Definition dem Staat, den Eltern oder wem auch sonst überlassen wird. Die Stärke des Personbegriffs würde damit gerade verspielt. Denn sie besteht darin, daß der Mensch als Person niemals bloß als Sache, als Mittel zu einem Zweck behandelt werden darf. Auf allen Entwicklungsstufen und in allen Lebenssituationen wird und ist er ein Jemand, nicht nur ein Etwas. Niemand hat deshalb ein Recht, ihn aus einem Jemand zu einem Etwas zu machen. Die Unbedingtheit der Menschenwürde zeigt sich schließlich daran, daß die Rechtsgemeinschaft sich nicht damit abfindet, wenn ein Mensch rechtlos gemacht wird. Solche Rechtlosigkeit ist auch heute häufig politisch verursacht; deshalb stellt die Rechtsordnung politisch Verfolgte und Flüchtlinge unter besonderen Schutz. Die Frage nach den Standards eines gemeinsamen europäischen Asylrechts ist deshalb von erheblichem Gewicht. Rechtlos werden Menschen aber auch, wenn sie von einzelnen oder Gruppen verächtlich gemacht werden und Gewalt erleiden, ohne ausreichenden Schutz zu finden. Der gemeinsame Widerstand gegen Denkweisen, die Minderheiten diskriminieren und Fremde ausgrenzen, die Gewalt verharmlosen oder selbst ausüben, ist deshalb eine wichtige Dimension einer europäischen Wertegemeinschaft. Die Unbedingtheit der Menschenwürde ist der eine, die Verbindung von Individualität und Sozialität ist der andere Eckpfeiler eines gemeinsamen Menschenbilds, ohne das von Europa als einer Wertegemeinschaft nicht die Rede sein kann. Der Staat hat es nicht in der Hand, daß Menschen sich auf verbindliche Lebensformen einlassen. Aber die gesetzlichen Rahmenbedingungen, die er schafft, können das

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gemeinsame Leben in verbindlichen Lebensformen fördern oder erschweren. Deshalb verdienen Ehe und Familie nach wie vor die besondere Förderung des Staates. Aber auch für andere Verantwortungsgemeinschaften muß es einen angemessenen Rechtsrahmen geben. Freiheit und Verantwortung miteinander zu verbinden, ist darüber hinaus die Grundidee der Demokratie. Nachdem mit dem Ende der kommunistischen Diktaturen in Europa auch das kollektivistische Menschenbild ein Ende gefunden hat, besteht die große Aufgabe darin, ein Menschenbild zu entwickeln und zu fördern, das Freiheit und Verantwortung in ihrem Zusammenhang sieht. Daraus, daß der Kollektivismus hinter uns liegt, folgt keineswegs zwangsläufig, daß nun einem isolierten Individualismus das Feld zu überlassen sei. Denn eine Freiheitsauffassung, für welche das Wesen der Freiheit in ihrem willkürlichen Gebrauch besteht, löst sich nicht nur aus der Verbindung mit einem christlichen Begriff der Freiheit, sondern aus der europäischen Tradition überhaupt. Auch die Aufklärung beispielsweise bekennt sich dazu, daß der vernünftige Gebrauch der Freiheit dem gemeinsamen Leben mit anderen nicht entgegensteht. Gerade in ihrer Freiheit ist die einzelne Person auf ihr Zusammensein mit anderen angelegt. Deshalb hebt die Vorstellung von der Autonomie der freien und selbstbestimmten Person die Verantwortung für das gemeinsame Leben nicht auf, sondern begründet sie. In diesem Sinn erwächst die Verantwortung aus der Freiheit. Der Umgang mit dem Wahlrecht ist für diesen Gedanken ein anschauliches Beispiel. Obwohl eine Wahlverweigerung aller Bürgerinnen und Bürger die Demokratie obsolet machen würde, verzichten die allermeisten Staaten aus gutem Grund darauf, das Wahlrecht mit einer Wahlpflicht zu verbinden. Denn damit würden sie dem Gedanken widersprechen, daß die Verantwortung für das gemeinsame Leben aus Freiheit wahrgenommen wird. In diesem sehr praktischen Sinn ist der Verfassungsstaat auf Voraussetzungen angewiesen, die er selbst nicht garantieren kann. Die Bereitschaft zur Verantwortung aus Freiheit kann er nicht selbst hervorbringen. Sie muß sich aus anderen Quellen speisen. Von einer Wertegemeinschaft kann schließlich nur die Rede sein, wenn Verantwortung für Frieden, Gerechtigkeit und Naturbewahrung in den eigenen Grenzen wie über die eigenen Grenzen hinaus praktiziert wird. Europa kann es sich im Innern nicht leisten, mit einer wachsenden Kluft zwischen Reich und Arm zu leben. Politische Integration - insbesondere auch der Staaten in Mittel- und Osteuropa, die sich auf den Beitritt zur Europäischen Union vorbereiten - heißt deshalb auch, an der Vergleichbarkeit der Lebensbedingungen im größeren Europa zu arbeiten. Daß die Dynamik der Wirtschaft nicht spaltend wirkt, die überwundenen Gräben in Europa wieder vertieft, die sozialen Ungleichheiten verschärft - das ist eine Aufgabe, die jeden Einsatz verdient. Alles Bemühen um einen Konsens über europäische Werte verpufft, wenn sich in Mittel- und Osteuropa der Eindruck durchsetzt, daß es doch einzig und allein auf die Durchsetzung wirtschaftlicher Machtinteressen an-

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kommt. Gerade für die europäischen Übergangsgesellschaften ist die Frage von großer Bedeutung, ob denn eine europäische Wertorientierung auf den faktischen Gang der europäischen Entwicklung einen erkennbaren Einfluß hat; sie werden nämlich andernfalls zu der Einschätzung kommen, das Bemühen um europäische Werte sei ein folgenloses Alibiunternehmen. Ob die Bändigung der Marktwirtschaft in sozialer wie ökologischer Hinsicht gelingt, ist deshalb für die politische Kultur des größer werdenden Europa von ganz außerordentlicher Bedeutung. Das Zutrauen zu einer solchen Bändigung und die Bereitschaft zu demokratischer Mitverantwortung stehen miteinander in unmittelbarer Wechselwirkung. Europa kann sich aber auch nach außen nicht als eine Insel der Reichen abschotten, sondern muß dazu beitragen, daß die ärmeren Regionen der Erde faire Chancen erhalten. Es muß nicht nur im Innern einen Umgang mit den natürlichen Ressourcen praktizieren, der mit dem Gebot der Nachhaltigkeit vereinbar ist; es muß den eigenen Ressourcenverbrauch auch daran messen, welche ökologischen Folgen ein vergleichbarer Ressourcenverbrauch in anderen Weltgegenden nach sich zieht. Eine Kultur der Anerkennung wie eine Balance zwischen Freiheit und Verantwortung sind auf eine Erneuerung der Kräfte angewiesen, die Europas Identität in der Geschichte auf je neue Weise geprägt haben: auf den Geist von Wissenschaft und Kunst, auf die Herrschaft des Rechts, auf die Quellen der Religion. Mir liegt der Gedanke fern, daß die Religion allein für eine solche europäische Identität maßgeblich ist. Aber genauso fern liegt mir die Vorstellung, daß diese Identität ohne die Quellen der Religion auskommt. Auch für Europa gilt Tocquevilles Satz: „Der Despotismus kommt ohne Glauben aus, die Freiheit nicht." Deshalb verdient die Frage unsere Aufmerksamkeit, wie das werdende Europa mit den Quellen des Glaubens umgeht. Dabei beschäftigt mich nicht so sehr die Frage, ob die am 7. Dezember 2000 proklamierte Charta der Grundrechte für Europa den Gottesbezug ausdrücklich zur Sprache bringt. So wünschenswert das wäre, so sehr muß man respektieren, daß der Konvent unter Roman Herzogs Vorsitz dem Pluralismus in Europa an dieser Stelle Tribut gezollt und nur von dem „geistigreligiösen und sittlichen Erbe" der Europäischen Union gesprochen hat. Wichtiger ist die Frage, ob die Religionsfreiheit nicht nur in individueller, sondern auch in korporativer Hinsicht sowie nicht nur in ihrer negativen, sondern auch in ihrer positiven Bedeutung gewürdigt wird. Hier kann man nicht bestreiten, daß in den Beratungen über die Grundrechtecharta wirkliche Fortschritte erzielt wurden. Ausdrücklich heißt es nun: „Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit. Dieses Recht umfaßt die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht, Bräuche und Riten zu bekennen." In diesen Zusammenhang gehört auch die Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam, die feststellt: „Die Europäische Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemein-

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Schäften in den Mitgliedsstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht. Die Europäische Union achtet den Status von weltanschaulichen Gemeinschaften in gleicher Weise." Schließlich hat auch die Richtlinie vom 27. November 2000 über die Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf dem Selbstbestimmungsrecht der Kirchen Rechnung getragen und abweichend von früheren Entwürfen eingeräumt, daß für die Kirchen die Religionszugehörigkeit ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine wesentliche berufliche Anforderung darstellt. Es ist keineswegs selbstverständlich, daß Europa sich seiner religiösen und kulturellen Wurzeln erinnert und seine spirituellen und ethischen Quellen erneuert. Doch daß alle Zeichen dagegen stünden, stimmt nicht. Es liegt vielmehr an uns allen, daß Europa sich nicht nur als Wirtschaftsgemeinschaft versteht, sondern sich zur Wertegemeinschaft entwickelt. Wir brauchen nicht dem Mißverständnis Vorschub zu leisten, als drehe sich in Europa alles um das Kapital und seine Verzinsung. Es ist auch nicht unausweichlich, daß Europa einfach mit dem Euro gleichgesetzt wird. Für die Arbeit an der religiösen und kulturellen Identität Europas ist es nicht zu spät. Aber diese Aufgabe muß angepackt werden - so wie die Europa der griechischen Sage den Stier bei den Hörnern nahm. Ob die europäische Idee für unsere Breiten, wie manche sagen, die „letzte Utopie" sei - wer kann das wissen? Aber geschichtliche Gnade hat uns die Möglichkeit eröffnet, daß das größere Europa nicht Utopie bleibt, sondern Wirklichkeit wird. Berlin, Bayerische Landesvertretung, 28. März 2001

II. Globalisierung, Menschenrechte, Völkerrecht

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Wer rettet die globale Ökologie? Plädoyer für eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung

Im Jahr 1978 (S. 790) schrieb Iring Fetscher den prophetischen Satz: „Die eigentliche Bedrohung des Weltfriedens geht von der Ungleichheit der Lebensbedingungen und Lebenschancen zwischen den Nationen ... aus und auch vom Fehlen einer akzeptierten, als gerecht anerkannten und anerkennbaren ökonomischen Weltordnung." Wie würde Fetschers Votum heute lauten, wenn er nicht nur die Ökonomie sondern auch die Ökologie, nicht nur die internationale Wirtschafts-, sondern auch die Umweltpolitik, nicht nur die ökonomische, sondern auch die ökologische Weltordnung im Auge hätte? Nun, ökologisch gesehen waren die Nationen, Industrie- und Entwicklungsländer schon immer eng verflochten und diese Verflechtung hat in den zweieinhalb Jahrzehnten seit der Formulierung des Satzes weiter zugenommen. Es gibt auch gewisse gemeinsame Interessen zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, die aus der ökologischen Verflechtung, aus gravierenden trans-nationalen und globalen Umweltproblemen resultieren. Ohne einen ökologischen Umbau der Wirtschaft der Industrieländer und ohne eine ressourcen- und energiesparende Gestaltung der nachholenden Entwicklung in den Entwicklungsländern driftet die Welt in eine ökologische Sackgasse. Diese globale Problematik läßt sich durch lokale und nationale Initiativen mildern, doch nur in Verbindung mit globalen Politikansätzen wirklich angehen. Bislang reagierte die Politik hierauf zunächst mit dem Versuch einer verbesserten Koordination und Kooperation der Staaten: Eine wahre „Explosion umweltvölkerrechtlicher Verträge" (Richard E. Benedick) ist festzustellen. Aber wurden diese Verträge auch umgesetzt, nutzten diese Rechtstexte der Umwelt? Halten sich die Regierungen an das, was sie auf den großen internationalen Umwelt- und Entwicklungskonferenzen, wie 1972 in Stockholm, 1992 in Rio de Janeiro und 1997 in N e w York beschlossen haben?

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Manche Erfolge sind unbestreitbar. Im Gefolge der Umsetzung der Konvention über weitreichende grenzüberschreitende Luftverschmutzung (1979, in Kraft 1989) konnten die Schwefelemissionen in Europa drastisch reduziert werden. Das Montrealer Protokoll zum Schutz der Ozonschicht (1987, in Kraft 1989) bewirkte in den Industrieländern, daß Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) nicht mehr hergestellt werden. Die Klimarahmenkonvention (1992, in Kraft 1994) war dagegen bislang wenig erfolgreich, weltweit werden heute zehn Prozent mehr Treibhausgase freigesetzt als damals. Und ob die Biodiversitätskonvention (1992, in Kraft 1993) das Artensterben seither aufhalten konnte, ist mehr als fraglich. Im Folgenden soll daher ein Vorschlag unterbreitet werden, wie die Umsetzung von internationalen Vereinbarungen verbessert werden kann, im Sinne der Markierung von Eckpunkten einer Reform des Institutionensystems der globalen Umweltund Entwicklungspolitik.

Neue Politikarchitektur erforderlich Gängig ist die Sichtweise, daß die bestehenden internationalen Organisationen zu schwerfällig seien und eine schlankere Form sowie effizientere Verfahren benötigten. Diese Sicht der Dinge soll hier nicht im Detail diskutiert werden. Zweifelsohne wäre viel gewonnen, wenn das Management des UN-Umweltprogramms (UNEP; vgl. Kasten 1) oder der UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD, vgl. Kasten 2) effizienter würde. Ein Königsweg ist diese minimalistische Strategie einer Effizienzsteigerung der vorhandenen Bausteine einer globalen Umweltpolitik aber sicherlich nicht. Kasten 1: Das Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) Im Zuge der Stockholmer „Konferenz über die Umwelt des Menschen" beschloß die UN-Vollversammlung 1972 die Einrichtung eines eigenständigen UN-Umweltprogramms (United Nations Environment Programme, UNEP). UNEP ist keine Sonderorganisation mit eigener Mitgliedschaft und Rechtspersönlichkeit, sondern lediglich ein Nebenorgan der UN-Vollversammlung. UNEP sollte im Gesamtsystem der Vereinten Nationen vor allem als „Umweltgewissen" dienen, mit bescheidenen Finanzmitteln als „Katalysator" zu Umweltschutzprojekten anderer Organe und Sonderorganisationen anregen und die UN-Umweltpolitik koordinieren. Während die Verwaltungskosten des Sekretariats und des Verwaltungsrates vom allgemeinen UN-Haushalt gedeckt werden, finanziert ein zusätzlicher, aus freiwilligen Mitteln gespeister Umweltfonds einzelne Projekte. Dieses Programmbudget belief sich in jüngster Zeit auf etwa 100 Millionen US-Dollar pro Jahr. Als Sitz des UNEP-Sekretariats wurde Nairobi gewählt, wodurch erstmals ein UN-Organ in einem Entwicklungsland angesiedelt wurde.

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Kasten 2: Die UN-Kommission für nachhaltige Entwicklung (CSD) 1992 wurde, im Zuge des „Erdgipfels" von Rio de Janeiro, ein neues Gremium innerhalb der Vereinten Nationen geschaffen: die „Kommission für nachhaltige Entwicklung" {Commission on Sustainable Development, CSD). Diese neue Kommission ist dem Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC), einem ihrer Hauptorgane, beigeordnet; ihre 53 Mitglieder werden auf regionaler Grundlage gewählt und sollten möglichst auf Ministerebene vertreten sein. Arbeitsgrundlage ist die Agenda 21, das umfangreiche, völkerrechtlich unverbindliche „Aktionsprogramm für eine nachhaltige Entwicklung", das 1992 in Rio de Janeiro beschlossen worden war. Von den Verwaltungskosten abgesehen, verfügt die CSD über keine eigenen Finanzmittel. Häufig wird auch eine bessere Koordination zwischen diesen und den anderen Akteuren der internationalen Umweltpolitik gefordert, wie insbesondere der von Weltbank, UNEP und UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) koordinierten Globalen Umweltfazilität (GEF), den Vertragsstaatenkonferenzen zur Klimarahmenkonvention, Biodiversitätskonvention und Desertifikationskonvention, dem Montrealer Protokoll, den Konventionen über die Feuchtgebiete, das Weltnaturerbe, den Schutz der weitwandernden Wildtiere und weiteren Verträgen. Zwischen all diesen Institutionen gibt es Überschneidungen im Aufgabenbereich; eine Abstimmung findet, wenn überhaupt, nur ad hoc statt, indem einzelne Vertragsstaatenkonferenzen mit UN-Organisationen oder untereinander Absprachen treffen. Deshalb wäre eine bessere Vernetzung dieser Umwelt-Institutionen mit den anderen UNOrganisationen sowie mit Weltbank, Währungsfonds (IMF) und Welthandelsorganisation (WTO) sicherlich ein wichtiger Schritt zur Optimierung der globalen Umwelt- und Entwicklungspolitik. Eine solche bessere Vernetzung wird allerdings ohne eine entsprechende institutionelle und finanzielle Stärkung keine ausreichenden Fortschritte bewirken - eine neue Architektur der integrierten internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik ist gefragt. Im Auftrage der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) haben wir hierzu das Modell einer Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung ( World Environment and Development Organization) entworfen (Biermann/Simonis 1998). Diese neue Sonderorganisation der Vereinten Nationen sollte mindestens das UNEP, die CSD sowie die relevanten umweltpolitischen Konventionssekretariate integrieren, eventuell auch das UNDP. Eine enge Zusammenarbeit mit den Bretton-WoodsOrganisationen, der WTO und den themenverwandten UN-Sonderorganisationen müßte darüber hinaus sichergestellt werden (vgl. hierzu Abbildung 1).

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Entwicklung

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Begründung Wer in Zeiten von Haushaltskürzungen den Aufbau einer neuen Organisation empfiehlt, muß dies mit guten Argumenten begründen können. Wir halten eine solche Organisation nicht nur für realistisch, sondern, mehr noch, den gegenwärtigen Zeitpunkt für besonders geeignet, einen entsprechenden Vorschlag einzubringen. Zieht man die möglichen Synergien durch die Integration bestehender Programme in Betracht, würden die Kosten einer solchen neuen Organisation auch nicht übermäßig hoch sein, zumal die Integration der einzelnen Programme und Konventionssekretariate erhebliche Einsparungen bei den Verwaltungskosten mit sich brächte. Eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung müßte von der UNGeneralversammlung beschlossen werden, die Mandat, Budget, Finanzierungsschlüssel und Verfahrensfragen festzusetzen hätte. Nicht alle Staaten der Welt müßten mitmachen, und anders als bei einer Änderung der UN-Charta, besitzen die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates bei dieser Frage kein Vetorecht. Welche Funktionen sollte einer solchen neuen Weltorganisation im internationalen Institutionensystem übertragen werden? Im Wesentlichen geht es wohl um drei Aufgaben: - einen höheren Stellenwert für die Aufgaben der globalen Umwelt- und Entwicklungspolitik bei den nationalen Regierungen, internationalen Organisationen und privaten Akteuren, auch dadurch, daß dem Thema nachhaltige Entwicklung absolute Priorität eingeräumt wird; - die rasche Umsetzung der bestehenden Instrumente der Umwelt- und Entwicklungspolitik sowie eine geeignete institutionelle Umgebung, um akute Probleme auf die Agenda setzen und detaillierte Ziele und Maßnahmen, auch neue Konventionen, verhandeln zu können; sowie - die Stärkung der Handlungskapazität der ärmeren Staaten Afrikas, Asiens, Ozeaniens und Lateinamerikas.

Höherer Stellenwert der Umwelt- und Entwicklungspolitik Die Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung sollte, wie es Aufgabe aller Sonderorganisationen der Vereinten Nationen ist, das spezifische Problembewußtsein fördern und den weltweiten Informationsstand als Entscheidungsgrundlage verbessern - die Information über das Erdsystem, die akuten und absehbaren Umwelt· und Entwicklungsprobleme ebenso wie die Information über den Stand der Umsetzung der internationalen und nationalen Politiken zur Steuerung des globalen Wandels. Dabei muß das Rad nicht neu erfunden werden: Sämtliche globalen Umweltverträge verpflichten schon heute ihre Vertragsparteien zur regelmäßigen Berichterstattung über ihre Politik; Sonderorganisationen wie die Weltorganisation

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für Meteorologie (WMO), die Internationale Seeschiffahrtsorganisation (IMO) oder die Weltgesundheitsorganisation (WHO) sammeln und verbreiten wertvolles Wissen und fordern weitergehende Forschung; die CSD leistet wichtige Beiträge zur Entwicklung, das Komitee für Entwicklungspolitik der Vereinten Nationen (CDP) befaßt sich mit der Frage der Verwundbarkeit (vulnerability) von Ländern. Was fehlt, ist jedoch die entscheidungsorientierte Aufbereitung, Weiterleitung und Umsetzung all dieses Wissens. Was von den verschiedenen internationalen Akteuren erarbeitet wird, benötigt daher einen Fixpunkt im internationalen Institutionensystem. UNEP könnte dieser Fixpunkt sein, doch reichen die Ressourcen und Kompetenzen dieses der UN-Vollversammlung beigeordneten Programms bei weitem nicht aus. Viel eher wäre das möglich bei einer vertraglich abgesicherten, finanziell mit zusätzlichen Mitteln gestützten und institutionell eigenständigen Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung.

Besseres Umfeld der Politikumsetzung Globale Umwelt- und Entwicklungspolitik erfolgen über internationale Regime, in denen die Staaten sich auf gemeinsame Ziele und Maßnahmen einigen. Die „Weltlegislative" sitzt dabei in den diplomatischen Konferenzen, den Versammlungen und Ausschüssen der Vereinten Nationen und ihrer Sonderorganisationen und in den Bretton-Woods-Organisationen. Wie bei dem Thema Information, fehlt aber auch hier die entsprechende Verknüpfung. Beispielsweise mangelt es an der Koordination der Klima- und der Biodiversitätspolitik. So kann es geschehen, daß die Anrechnung von Treibhausgassenken im Rahmen des Kyoto-Protokolls Anreize in der Waldpolitik setzen wird, die den Zielen der Biodiversitätspolitik schlicht zuwiderlaufen, weil das Abholzen von (artenreichen) Urwäldern und das anschließende Wiederaufforsten mit (artenarmen, aber schnellwachsenden) Plantagen als klimapolitische Maßnahme tendenziell prämiert wird. Ein weiteres grundsätzliches Problem besteht darin, daß die globale Umweltkrise kein Problem ist, das sich durch sektorale Politik allein lösen ließe: Nötig ist eine integrierte politische Strategie, die dem Ziel der nachhaltigen Entwicklung in der internationalen Handelspolitik, in der Entwicklungszusammenarbeit und der internationalen Finanzpolitik wirkungsvoll Gehör verschafft. Dies kann das UNEP nicht leisten; auch die CSD war hier bisher wenig erfolgreich. Gerade deshalb könnte die Gründung einer starken Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung ein neues Forum für die Vereinbarung und Durchsetzung einer globalen Strategie der nachhaltigen Entwicklung bieten.

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Handlungskapazität der Entwicklungsländer erhöhen! Die Rio-Konferenz von 1992 hat explizit den Grundsatz der „gemeinsamen, aber unterschiedlichen Verantwortlichkeiten und Fähigkeiten" der Staaten in der globalen Umwelt- und Entwicklungspolitik anerkannt. Hieraus ergab sich in mehreren der Folgeverträge eine Differenzierung der Pflichten: Entwicklungsländer müssen weniger für den Erhalt der globalen Ökologie leisten als Industrieländer; daraus folgt die Pflicht der Industrieländer, die den Entwicklungsländern entstehenden Mehrkosten beim Schutz globaler Umweltgüter zu finanzieren. Was die globale Ökologie betrifft, erklärte der Norden sich also bereit, den Süden in seinen Anstrengungen finanziell und technisch zu kompensieren. Auch hier ist jedoch das internationale Institutionensystem von einem ad ocAnsatz gekennzeichnet, der den Erfordernissen der Transparenz, Effektivität und Beteiligung der Betroffenen bestenfalls zum Teil gerecht wird. So wird die GEF zum Beispiel von vielen Entwicklungsländern weiterhin nicht als Finanzierungsmechanismus akzeptiert, weil ihre Vergabekriterien zu wenig den unmittelbaren Interessen der Entwicklungsländer entsprechen (vgl. Kasten 3). Neben der GEF gibt es eine Vielzahl von separaten, nicht koordinierten Fonds: der Ozonfonds, die Fonds zum Schutz von Feuchtgebieten, zum Schutz des Welterbes, zum Schutz des Mittelmeeres, der neue „Clean Development Mechanism" der Klimapolitik und andere mehr. Kasten 3: Die Globale Umweltfazilität (GEF) Um die Forderung der Entwicklungsländer nach einem unabhängigen Klimafonds oder Weltumweltfonds abzuwehren, war auf deutsch-französische Initiative hin 1990 die Gründung einer „Globalen Umweltfazilität" (Global Environment Facility, GEF) in der Weltbank beschlossen worden. Die Gelder der GEF sollen dem Schutz „globaler Umweltgüter" dienen: dem Schutz des Klimas, der Ozonschicht, der internationalen Gewässer, der Biodiversität sowie des Bodens, soweit ein Zusammenhang mit den ersten vier Problemfeldern besteht. Dadurch werden Projekte mit lediglich lokaler Bedeutung für die Entwicklungsländer nicht gefordert, etwa die Sondermüllbeseitigung, der Trinkwasserschutz oder der Umgang mit gefahrlichen Chemikalien. Das Finanzvolumen der GEF betrug bislang rund 700 Millionen US-Dollar pro Jahr. Die Weltbank verwaltet diese neue Globale Umweltfazilität gemeinsam mit UNDP und UNEP. 1994 wurde die GEF grundlegend umstrukturiert. Diese „GEF-II" ist nun eine eigenständige Körperschaft mit Vollversammlung, Rat und Sekretariat. Von den 32 Sitzen im Rat werden 16 von Entwicklungsländern, zwei von Transformationsländern und 14 von OECD-Ländern eingenommen. Ist ein Konsens nicht erreichbar, wird mit qualifizierter Mehrheit entschieden, welche zugleich 60 Prozent der Gesamtzahl der GEF-Teilnehmer und 60 Prozent der gesamten Beitragszahlungen einschließen muß.

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Die Gründung einer Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung bietet daher eine neue Möglichkeit, die verschiedenen Finanzierungsmechanismen zur Realisierung synergetischer Effekte zusammenzuführen bzw. die Mittel der sektoralen Fonds zu übernehmen und treuhänderisch zu verwalten. Hierin könnten auch die Funktionen der GEF eingegliedert (und diese damit aufgelöst) werden. Für die finanziell betroffenen Industrieländer könnte dieser Vorschlag dadurch akzeptabel werden, daß die Weltorganisation fur Umwelt und Entwicklung ein der GEF entsprechendes Entscheidungsverfahren erhielte (was weiter unten beschrieben wird).

Andere Vorschläge verfolgen? Die hier vorgeschlagene Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung soll im Wesentlichen auf die genannten drei Kernfunktionen beschränkt bleiben. Es gibt hingegen eine Reihe von maximalistischen Vorschlägen, die deutlich weiter gehen und fundamentale Änderungen im internationalen Institutionensystem voraussetzen oder zur Folge haben. Einige Vorschläge betonen die Notwendigkeit der Aufgabe an nationaler Souveränität, zum Beispiel durch Einsetzung eines „Weltumweltrates" oder einen „Umweltsicherheitsrates", der Zwangsgewalt zur Durchsetzung von Mehrheitsentscheidungen in der Weltumweltpolitik erhalten müßte. Solche Vorschläge sind aber für die nahe und mittlere Zukunft eher unrealistisch, weil sie unter anderem eine Änderung der UN-Charta voraussetzen - und das kann nur mit Einwilligung von zwei Dritteln aller Staaten erfolgen, einschließlich der Stimmen der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates (China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und USA). Derzeit stemmen sich gerade die Entwicklungsländer (vor allem China) gegen jegliche Andeutung einer Souveränitätseinschränkung, aber auch die Industrieländer (vor allem die USA) wollen hier nicht sehr weit gehen. Ähnlich stellt sich das Problem dar bei dem Vorschlag, den bestehenden UNTreuhandrat, der nun, nach der politischen Unabhängigkeit der letzten Treuhandgebiete, obsolet geworden ist, in einen „Weltumwelt-Treuhandrat" umzuwandeln. Dieser Gedanke wurde von UN-Generalsekretär Kofi Annan in seinem Reformprogramm Erneuerung der Vereinten Nationen (1997) aufgegriffen, doch blieb der Generalsekretär eher vage hinsichtlich der Funktionen eines solchen Rates. Praktikabel erscheint eine treuhänderische Verwaltung seitens der Vereinten Nationen nur für staatsfreie Gebiete, wobei aber selbst eine stärkere UN-Kontrolle über die Antarktis gegen den Widerstand der Parteien zum Antarktisvertrag kaum durchzusetzen sein dürfte. Zu erwägen wäre indes eine Treuhandfunktion der Vereinten Nationen für die Meere, vor allem jenseits der 200-Meilen-Zone, sowie für den Weltraum. Seit einiger Zeit ist auch ein Internationaler Umweltgerichtshof'' in der Diskussion, vor allem bei Juristen, für die höchstrichterliche Entscheidungen die typi-

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sehe Lösung von gesellschaftlichen Konflikten darstellen. Aber auf die Weltumweltpolitik ist dieses Modell nicht ohne weiteres übertragbar. So darf der Internationale Gerichtshof (IGH) in Den Haag zwar über alle Fragen des Völkerrechts urteilen, also auch über die Auslegung und Umsetzung von internationalen Umweltverträgen; das Gericht darf aber nur richten, wenn Kläger und Beklagter mit seiner Anrufung einverstanden sind - und dies ist natürlich nur höchst selten der Fall. Zur Auslegung von Umweltverträgen wurde der IGH denn auch noch nie eingeschaltet. Grundsätzlich könnte die Einhaltung von bestimmten Umweltstandards auch durch handelsbeschränkende Maßnahmen erzwungen werden. Beim Montrealer Protokoll sind gegenüber Nichtvertragsstaaten Einschränkungen des Handels mit FCKW wie auch des Handels mit FCKW-haltigen Produkten vorgesehen. Da das Protokoll anfangs nur von Industrieländern verhandelt worden war, sahen viele Entwicklungsländer in diesen Handelsrestriktionen einen Fall von „ÖkoKolonialismus", weil auf diese Weise die strengen (und teuren) Umweltstandards des Nordens dem Süden über dessen Integration in den Welthandel aufgezwungen werden könnten. Eine andere Art, das ökonomische Nord-Süd-Gefalle zur Förderung der Umweltpolitik in Entwicklungsländern zu nutzen, sind die Kampagnen von Umweltverbänden aus Industrieländern fur die Einführung von Umweltstandards in der Exportfinanzierung, also etwa bei den sog. Hermes-Bürgschaften. Hiermit soll verhindert werden, daß Industrieunternehmen des Nordens in Entwicklungsländern wesentlich niedrigere Standards anwenden als in Industrieländern, wenn sie eine Exportbürgschaft erhalten wollen. Auch dies fuhrt aber in der Tendenz dazu, daß Entwicklungsländer sich externem ökonomischen Druck beugen bzw. sich den umweltpolitischen Zielen der Industrieländer zumindest teilweise anpassen müßten. Handelsbeschränkende Maßnahmen sind also ein zweischneidiges Schwert. Einerseits ist es zwar richtig, daß ein „race to the bottom" bei den Umweltstandards vermieden werden muß, daß also die Konkurrenz der Standorte in Nord und Süd nicht zu einem Verzicht auf effektiven Umweltschutz führen darf. Andererseits darf bei den Umweltproblemen, die nur eine lokale oder regionale Bedeutung haben, nicht in die freie Entscheidung der Entwicklungsländer über die für sie optimale Umwelt- und Entwicklungspolitik eingegriffen werden. Was dagegen die globalen Umweltprobleme angeht, so sollen ja gerade international einvernehmlich verhandelte Konventionen - und die hier vorgeschlagene Weltorganisation fur Umwelt und Entwicklung - zu ökonomisch effizienten, sozial akzeptablen und ökologisch effektiven Lösungen beitragen. Die internationalen Verträge zu Klima, Biodiversität und Ozon bieten - dementsprechend - einen Kompromiß an, indem Entwicklungsländern für ihren Beitritt sowohl das Recht auf niedrigere Umweltstandards als auch die Erstattung derjenigen Mehrkosten zugesichert wurde, die ihnen durch ihren Beitritt zu den Verträgen entstehen.

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Zur Funktionsweise einer Weltorganisation fur Umwelt und Entwicklung A und O des Erfolges einer jeden politischen Institution sind die Verfahren, nach denen entschieden wird. Auch wenn sich im UN-Alltag das Konsensverfahren immer mehr durchgesetzt hat, wäre es falsch, die Relevanz der Stimmrechte in den Gremien zu übersehen. Die jeweils besonderen Aufgaben und Probleme haben in den verschiedenen internationalen Organisationen zu recht unterschiedlichen Verfahren geführt. Gewisse Elemente dieser unterschiedlichen Entscheidungsverfahren ließen sich für eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung kombinieren, um so ihre administrative Effektivität wie ihre politische Akzeptanz sicherzustellen. Sinnvoll dürften vor allem solche Entscheidungsverfahren sein, die Nord und Süd eine gleichberechtigte Stellung einräumen. Dies würde gewährleisten, daß Entscheidungen der neuen Weltorganisation zu Strategie und Programm weder den Interessen der Entwicklungsländer noch jener der Industrieländer zuwiderlaufen würden. Nord-süd-paritätische Entscheidungsverfahren sind ein „dritter Weg" zwischen dem süd-orientierten Entscheidungsverfahren der UN-Vollversammlung (ein Land, eine Stimme) und der nord-orientierten Prozedur der Bretton-WoodsOrganisationen (ein Dollar, eine Stimme). Im Ozonregime (und für den Multilateralen Ozonfonds) wurde 1990 festgelegt, daß jegliche Entscheidung die Zustimmung von zwei Dritteln aller Vertragsparteien erfordert, wobei diese zwei Drittel zugleich die einfache Mehrheit der Entwicklungsländer und die einfache Mehrheit der Industrieländer einschließen müssen. In der GEF erfordern die Entscheidungen des Verwaltungsrates seit 1994 ebenfalls eine Zweidrittelmehrheit, die 60 Prozent der an der Fazilität beteiligten Staaten und zugleich 60 Prozent der finanziellen Beiträge zur Fazilität repräsentieren muß. Auch dies ist im Ergebnis ein nord-süd-paritätisches Verfahren, das den Entwicklungsländern und den Industrieländern jeweils ein effektives Vetorecht einräumt. Beide genannten Ausgestaltungen des paritätischen Verfahrens kämen für die Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung in Betracht. Problematisch bei strikt paritätischen Verfahren bleibt allerdings die Einigung auf die Gruppenzugehörigkeit. Im Ozonregime wird zum Beispiel problemspezifisch graduiert: Wenn ein Entwicklungsland mehr als 300 Gramm FCKW pro Kopf und Jahr verbraucht, wird es automatisch als Industrieland eingestuft; es muß dann die schärferen Reduktionspflichten der Industrieländer erfüllen und wird bei der paritätischen Abstimmung zur Gruppe der Industrieländer gezählt. Bei einer Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung scheidet eine solche problemspezifische Graduierung jedoch aus. Übrig bliebe daher als zweitbeste Lösung die Selbstdefinition der Staaten, wie das in der UNCTAD oder in der UN-Vollversammlung der Fall ist. Zumindest sollte man erwarten können, daß Entwicklungsländer, die der

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O E C D beitreten (wie vor einiger Zeit Mexiko und Südkorea), automatisch die umweltpolitischen Pflichten der Industrieländer erfüllen müssen.

Beteiligung von Nichtregierungsorganisationen In den internationalen Verhandlungen zur Umwelt- und Entwicklungspolitik hat die Bedeutung der über Staatsgrenzen hinweg agierenden Umwelt- und Entwicklungsorganisationen (NROs) deutlich zugenommen. Solche transnationalen Vereinigungen liefern vielfältige Dienstleistungen im internationalen Institutionensystem: Sie leisten kostengünstige Forschung und Politikberatung durch qualifizierte Mitarbeiter, kontrollieren die gegenseitigen Verpflichtungen der Staaten, informieren Regierungen und Öffentlichkeit sowohl über die Handlungen der „eigenen" Diplomaten als auch über die der anderen Verhandlungspartner - und erlauben so eine Rückkopplung der Regierungsvertreter auf diplomatischen Konferenzen mit der innenpolitischen Situation vor Ort. Vor diesem Hintergrund mehren sich die Stimmen, die den nichtstaatlichen Umwelt- und Entwicklungsorganisationen einen internationalen Rechtsstatus einräumen wollen. Ein möglicher Präzedenzfall hierbei ist das Entscheidungsverfahren der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), bei dem jeder Mitgliedstaat mit vier Stimmen vertreten ist, von denen zwei auf die Regierung und je eine auf die Arbeitgeberverbände und die Gewerkschaften entfallen. Beim Übertragen eines solchen Entscheidungsverfahrens auf die globale Umwelt- und Entwicklungspolitik träten derzeit aber noch gewisse Probleme auf: Es gibt kaum Zusammenschlüsse von Umwelt- und Entwicklungsorganisationen, die ihre gesamte nationale Klientel überzeugend repräsentieren. Doch können sich solche Koalitionen in Zukunft sehr wohl herausbilden - ja, dieser Prozeß könnte dadurch befördert werden, daß im Statut der Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung die Einbindung stimmberechtigter N R O ' s aus beiden Interessen lagern förmlich festgelegt wird.

Finanzierung sichern Es gibt verschiedene Möglichkeiten, die Aufgaben einer Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung zu finanzieren. Zum einen erkennen die Industrieländer schon seit den 60er Jahren und noch immer das politische Ziel an, 0,7 Prozent ihres Bruttosozialprodukts für Entwicklungshilfe aufzubringen. Bislang haben allerdings nur die skandinavischen Staaten und die Niederlande dieses Ziel eingehalten; manche von ihnen überschritten zeitweise sogar die 1-Prozent-Grenze. Die Erinnerung an diese Zahlungszusage der Industrieländer und deren Einhaltung wäre also eine Möglichkeit, die Aufgaben der Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung zu finanzieren.

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Daneben hat die Schuldenkrise der Entwicklungsländer zu Vorschlägen geführt, die Lösung dieser Krise mit der Lösung umweit- bzw. entwicklungspolitischer Probleme zu verknüpfen. So begannen Mitte der 80er Jahre US-amerikanische Umweltverbände, Schuldentitel von Entwicklungsländern auf dem Weltmarkt aufzukaufen und diese bei den jeweiligen Regierungen gegen bestimmte umweltpolitische Programme „einzutauschen" (debt for nature swaps), wobei in der Regel Regenwaldgebiete unter Schutz bzw. pflegliche Nutzung gestellt wurden. Eine auf Umweltschutz zielende Schuldenstreichung oder -Streckung stellt dann ein erhebliches Finanzierungspotential dar, wenn die Industrieländer öffentliche Schuldentitel von Entwicklungsländern an die Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung abtreten oder ihr die Rückflüsse aus diesen Krediten als „Anschubfinanzierung" zur Verfügung stellen würden. Ein Grundproblem aller multilateralen Finanzierungsmechanismen bleibt aber weiterhin, daß es keine verbindlichen, durchsetzbaren Verpflichtungen gibt. Selbst wo vertraglich festgelegte Mitgliedsbeiträge existieren - etwa für den Haushalt der Vereinten Nationen - , zeigt sich immer wieder, daß Zahlungen politisch instrumentalisiert oder von der Wirtschaftskonjunktur abhängig gemacht werden. Sinnvoll und realistisch erscheint daher die Einfuhrung automatischer Finanzierungsquellen, das heißt einer Art indirekter Steuern zur Finanzierung globaler Gemeinschaftsaufgaben, die nicht vom Willen nationaler Finanzminister abhängen. In der Wissenschaft, jüngst aber auch in der CSD, sind zwei Arten solcher Finanzierungsquellen intensiv diskutiert worden, die beide mit internationalen Transaktionen zu tun haben: eine internationale Luftverkehrssteuer und eine Devisenbzw. Börsenumsatzsteuer. Eine Steuer von fünf US-Dollar für jeden geflogenen „Passagiersektor" würde jährlich globale Einkünfte von etwa 1,5 Milliarden Euro erbringen. Da eine Steuer auf den Luftverkehr vergleichsweise leicht und mit geringen Kosten eingetrieben werden kann, zum Beispiel zusammen mit der Erhebung der (üblichen) Flughafengebühr, ist ihre Praktikabilität als sehr hoch einzuschätzen. Eine zweite gute Möglichkeit, die Weltorganisation fur Umwelt und Entwicklung zu finanzieren, besteht in der Einführung einer internationalen Devisenumsatzsteuer (Tobin-Steuer). Dieser Vorschlag hat in jüngster Zeit an Zustimmung gewonnen, und zwar nicht nur wegen der dadurch möglichen „Abbremsung" der ungesteuerten internationalen Devisentransaktionen, sondern auch und gerade wegen der Eleganz und Leichtigkeit der Erzielung zusätzlicher Steuereinnahmen für globale Umwelt- und Entwicklungsaufgaben. Eine Steuer von 0,5 Prozent auf die weltweiten Devisentransaktionen könnte rund 150 Milliarden Euro pro Jahr erbringen.

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Ausblick: Ein Projekt für das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts Effizienzsteigerung und bessere Koordination sind wünschenswert, reichen allein aber nicht aus, um die Wirksamkeit des bestehenden Institutionensystems der internationalen Umwelt- und Entwicklungspolitik nennenswert zu erhöhen. Zusätzlich sollte daher - und möglichst noch in diesem Jahrzehnt - eine Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung als weitere Sonderorganisation der Vereinten Nationen eingerichtet werden, die den drängenden Aufgaben der globalen Umwelt- und Entwicklungspolitik einen höheren Stellenwert bei nationalen Regierungen, internationalen Organisationen und privaten Akteuren verschaffen, das institutionelle Umfeld für die Aushandlung und Umsetzung neuer Konventionen und Aktionsprogramme verbessern und die Handlungskapazität der ärmeren Staaten in Afrika, Asien, Ozeanien und Lateinamerika stärken sollte. Hinsichtlich der Entscheidungsverfahren wäre eine größtmögliche Akzeptanz einer Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung durch Einführung von nordsüd-paritätischen Entscheidungsverfahren nach dem Modell des Ozonregimes zu erzielen. Dabei hätte die Mehrheit der Entwicklungsländer und zugleich die Mehrheit der Industrieländer jeweils ein Gruppenvetorecht über die Entscheidungen. Zusätzlich sollten Repräsentanten der Umwelt- und Entwicklungsverbände und der Wirtschaft nach dem Modell der ILO stimmberechtigt sein. Auch die Finanzierung einer Weltorganisation für Umwelt und Entwicklung ist realisierbar. Einmal würden durch die Integration der bestehenden Organisationen, Programme und Konventionssekretariate erhebliche Kosten eingespart. Darüber hinaus wäre eine Finanzierung zu sichern durch Erfüllung des 0,7-Prozent-Ziels der Industrieländer, durch Umwidmung von Schuldentiteln der Entwicklungsländer für die Aufgaben der Weltorganisation und/oder durch Einführung automatischer Finanzierungsmechanismen, vor allem einer internationalen Luftverkehrssteuer oder einer Devisenumsatzsteuer. In einem Aufsatz zum Thema „Arbeit - wozu?" verwandte Iring Fetscher ein schönes Bild: „Ein Bauherr entwickelt seine Vorstellungen von einem Haus, der Architekt entwickelt einen Bauplan, ein Baumeister korrigiert ihn auf Grund seiner praktischen Erfahrung." In diesem Aufsatz kamen Architekten zu Wort, die ihren Bauherrn eigentlich noch nicht kennen. Der Baumeister, der den Bauplan aus praktischer Erfahrung verbessert, ließe sich dagegen leicht benennen. Iring Fetscher: Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag!

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OSCAR NEGT

Ist die Welt eine Börse? Notwendige Differenzierungen der Wirklichkeitsschichten im Globalisierungsprozeß

Vorbemerkungen Lieber Iring, ich kann Dir zu Deinem 80. Geburtstag eine kleine schriftliche Aufmerksamkeit nicht zukommen lassen, ohne dem einige Bemerkungen vorauszuschicken. Zunächst muß ich erklären, daß unsere letzten kurzen Begegnungen bei mir nie den Gedanken aufkommen ließen, daß du jetzt auf die Achtzig gehst. Vielleicht hat das damit zu tun, daß ich mir von Dir ein Bild gemacht haben, das Dich eher mit einer jugendlichen Aura umgibt. Prägend für mich nämlich war Dein Rousseau-Buch, und wenn ich mich recht erinnere, hast Du Dich mit dieser Schrift 1959 in Tübingen habilitiert. Ich habe auf dieses Buch immer wieder in meinen Vorlesungen zurückgegriffen und finde es nach wie vor eine zentrale Untersuchung über Rousseau in seiner komplexen Struktur als fortwährender Aufklärer. Du hast aber auch sonst für ganze Generationen von Studierenden Textzugänge für Probleme geschaffen, für die es in den 60er Jahren produktive öffentliche Debatten überhaupt noch nicht gegeben hat. Ich erinnere an die Herausgeberschaft der Marxismusstudien, aber auch an viele einzelne Arbeiten, in denen Du die zum Teil unterdrückten Linien von Marx zu Lenin und Stalin dokumentiert und mit größter Behutsamkeit kommentiert hast. Vielleicht wird man eines Tages dogmenhistorisch im einzelnen nachzeichnen können, wo Spuren Deines eigenen Denkens in den öffentlichen Diskursen der aufbrechenden Studentenbewegung und der späteren Jahre zu finden sind. Ich persönlich jedenfalls verdanke Dir sehr viel an Fingerzeigen, wo ich suchen muß, um bestimmte Probleme am Text lösbar zu machen. Das gilt für die größeren Projekte, wie die hervorragenden Textsammlungen zum Marxismus und seiner Geschichte in Dokumenten, das gilt aber auch für eine so kleine Schrift wie die über Spiel und Arbeit. Ich bewundere Deine Unermüdlichkeit und den Mut,

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Deine Grundideen nicht aufzugeben und doch der dogmatischen Rechthaberei, zum Beispiel was Marxinterpretationen betrifft, nicht zu verfallen. Für das, was man heute philosophische Diskurse nennt, hast Du viel Gedankenarbeit und Textmaterial beigetragen. Ich möchte Dir im Folgenden einen kleinen Beitrag widmen, der sich mit den Wirklichkeitsschichten der Globalisierung auseinandersetzt. Ich nehme hier die erste Wirklichkeitsschicht, die der Realabstraktionen, um das Prinzip meiner Argumentation zu verdeutlichen. In meinem Buch „Arbeit und menschliche Würde", das gerade in Göttingen erschienen ist, entfalte ich in einem Sinne, der Deiner Denkweise entspricht, nämlich auf dem Weg abnehmender Abstraktion, die anderen drei Wirklichkeitsschichten. Wenn wir uns nicht damit zufrieden geben wollen, aus den gegenwärtigen Globalisierungsprozessen keinen weiteren Erkenntnisgewinn zu entnehmen, als sich die Welt in Gestalt einer Börse oder eines Kasinos vorzustellen, auf der mit hohen Einsätzen spekuliert wird, wo man viel gewinnen und ebenso viel verlieren kann, dann sehe ich die Verantwortung des Forschers und des politischen Intellektuellen vor allem auch darin, den zur Substanz geschmiedeten Globalisierungsbegriff in seine Bestandteile auseinander zu legen und dadurch zu entmythologisieren, daß wir uns seiner völlig disparaten, ja widersprüchlichen Wirklichkeitsschichten vergewissern. Denn daß die endlich errungene Einheit der Welt, durch die gewaltigen wirtschaftlichen und technischen Potentiale ermöglicht, den einzigen Sinn und Zweck gehabt haben soll, daß sich eine Art Dritte Kopernikanische Wendung vollzieht: Nämlich derart, daß jetzt das Kapital zum Erd- und Weltmittelpunkt geworden ist, also zur Sonne, um welche die Menschen jetzt ihre vorgeschriebenen Bahnen ziehen - das würde Kant wohl, um ihn hier vorerst zum letzten Mal zu zitieren, als eine völlige Verkehrung der Weltordnung ansehen. „... Denn fur die Allgewalt der Natur, oder vielmehr ihrer uns unerreichbaren obersten Ursache, ist der Mensch wiederum nur eine Kleinigkeit, daß ihn aber auch die Herrscher von seiner eigenen Gattung dafür nehmen, und als eine solche behandeln, in dem sie ihn teils tierisch, als bloßes Werkzeug ihrer Absichten, belasten, teils in ihren Streitigkeiten gegeneinander aufstellen, um sie schlachten zu lassen - das ist keine Kleinigkeit, sondern Umkehrung des Endzwecks der Schöpfung selbst."1 Damit der Mensch nicht zu dieser seiner Würde und seines autonomen Tätigkeitsumkreises beraubten Kleinigkeit wird, bedarf es einer Analyse der Raum- und Zeitmaße in den verschiedenen Wirklichkeitsschichten, die mit den Globalisierungsvorgängen verknüpft sind. Eine der angefochtensten und mißverständlichsten Äußerungen Hegels findet sich in der Vorrede zu seiner Rechtsphilosophie von 1820; indem er der Philosophie

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Der Streit der Fakultäten, Werke in 6 Bänden, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Hrsg. Wilhelm Weischedel 1956, Band VI, 362.

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die Aufgabe zuweist, im Ergründen des Vernünftigen Jenseitigkeit des leeren Ideals zu vermeiden und sich an eitlen Ideen zu erfreuen, formuliert er die These: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig." Schon seine Schüler haben sich an diesem Brocken festgebissen, aber selbst die kritischen Linkshegelianer haben das weniger als ängstliches Anpassungsverhalten gegenüber der bestehenden Wirklichkeit verstanden als im Sinne der Frage: Was heißt hier Wirklichkeit? Hegel selbst gibt eindeutige Antworten: Das Wirkliche ist weder bloß zufälliges Dasein, „faule Existenz" nennt er das zuweilen, noch die Abstraktion, das vom Zusammenhang nach isolierten Merkmalen Abgezogene. Das ist für ihn stets formalisierte Leere, das mit der Breitseite der Gewalt „oder mit einer Art TugendTerror" auftritt. Insofern kann er davon sprechen, dass derjenige, der Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend macht, sich auf dem Wege befindet, Wirklichkeit zu zerstören. Womit haben wir es also zu tun, wenn wir der Globalisierung einen Wirklichkeitsstatus zusprechen, der die Bewegungsgesetze der Welt, ja die Weitdefinition bestimmt? Ist Globalisierung im gesellschaftlichen Beziehungsgefuge so zentral wie die Erkenntnisse von Kopernikus, Kepler und Galileo im Zusammenhang der Planetenkonstellationen und in Bezug auf Raum und Zeit Einsteins Relativitätstheorie? Da es jedoch nicht um Verhältnisse zu tun ist, die jenseits menschlicher Handlungsmöglichkeiten liegen, sondern für die der Mensch durch eigene Taten und Unterlassungen mitverantwortlich ist, sind die Erfahrungen der Menschen für die Bestimmung der Kriterien, mit deren Hilfe Realitätsschichten zu messen sind, nicht sachfremdes Beiwerk. Als Zeitzeugen haben wir gute Gründe, über den inneren Realitäts- und Wahrheitsgehalt von Verhältnissen nachzudenken, die sich mit suggestivem Schein ausstatten, als wäre hier ein neues gesellschaftliches Naturgesetz entdeckt worden. Wir erfahren dagegen zur Zeit, daß Betonerzeugnisse ganzer Staatengebilde abgerissen werden und Parteien, die ein halbes Jahrhundert Herrschaftsfunktionen ausgeübt haben, wie die „Democracia Christiana" (DC) Italiens, von der geschichtlichen Bühne einfach verschwinden, wie eben jene faulen Existenzen, von denen Hegel spricht. Ich unterscheide vier Wirklichkeitsschichten im Globalisierungszusammenhang. Es sind Veränderungen der Raum-Zeit-Koordinaten, in methodischer Blickrichtung also das Verfahren der ablehnenden Abstraktion, geringer werdende Geschwindigkeiten und Beschleunigungen in den Bewegungsformen von Menschen und Dingen. Je weiter wir in die Realitätsschicht der sozialen und kulturellen Lebenszusammenhänge der Menschen eindringen, desto schwerfälliger, widerständiger und eigensinniger ist der Veränderungsrhythmus, der zusätzlich durch manche Reaktionsbildung unterbrochen und abgelenkt wird. Den objektiven Schichtungen entsprechen, mittels derartiger Realitätsabstufungen, Differenzierungen im Weltverständnis des Einzelnen. Es wäre jedoch eine völlig verfehlte Relativierung, wollte man diese Schichtungen auf subjektive Merkmale, auf Bildung, religiöse Zugehörigkeit, Emp-

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findungen und Erfahrungen reduzieren. Es sind vielmehr objektive Tatbestände, auf die die Subjekte reagieren, die sie als Opfer wahrnehmen, subjektiv verarbeiten oder in tätiger Gewalt beantworten. Einem Börsenspekulanten, einem Großimporteur, einem sprachbegabten Wissenschaftler, die sich der elektronischen Mittel in letzter Ausstattung bedienen und die Vorteile des digitalen Kapitalismus für sich zu nutzen wissen, für alle diese mit moderner Kompetenz ausgestatteten Berufsgruppen wird die Entwicklungsrichtung der Weltordnung, ob nun in feinsinniger Unterscheidung von Globalität, Transnationalem, Weltbürgergesellschaft, Globalisierung oder auch nicht, wird das Realitätsverständnis einen ganz anderen Rang einnehmen, als für die wachsende Zahl jener Menschen dieses Globus, die sehr wohl eine Ahnung von der Welt und der Freiheit der Weltmeere haben (wie jener gescheite Affe in Kafkas Akademie), die aber gleichzeitig in ihrer Alltagswirklichkeit erfahren, daß Globalisierung ihren Lebenszuschnitt keineswegs erweitert, sondern in vielen Fällen sogar beträchtlich verengt. Sie bleiben, wie sie sich auch anstrengen mögen, die alten Höhlenbewohner mit ihren schattenhaften Existenzen, ohne die Sonne der Weltgesellschaft j e erfahren zu können. Es ist bestürzend, anschaulich und unmittelbar zu erfahren, wie in einer Favela (also einem Elendsquartier) in Säo Paulo ein Text lebendig wird, als wäre er heute und für diese Verhältnisse geschrieben. Ich meine Piatos Höhlengleichnis in seiner Politeia; wie Sokrates es Glaukon vorträgt, um unsere Natur in bezug auf Bildung und Unbildung zu kennzeichnen: „Sieh Menschen wie in einer unterirdischen, höhlenartigen Wohnung, die einen gegen das Licht geöffneten Zugang längs der ganzen Höhle hat. In dieser seien sie von Kindheit an gefesselt an Hals und Schenkel, so daß sie auf demselben Fleck bleiben und auch nur nach vorne hin sehen, den Kopf aber herumzudrehen der Fessel wegen nicht vermögend sind. Licht aber haben sie von einem Feuer, welches von oben und von ferne her hinter ihnen brennt." 2 Diese Gefangenen sehen nur die Schatten, die Schatten der Werkzeuge, die Schatten der Gegenstände, an einer ihnen gegenüberliegenden Wand sich selbst auch sehen sie nur als Schatten, sie haben die Sonne nie direkt gesehen, diese würde sie, kämen sie plötzlich ins volle Licht, derart blenden, daß sie sofort wieder in die Höhle zurück wollten. Plato zeichnet dieses Gleichnis so drastisch, um die Unbildung zu geißeln; die Polis, der Staat hat die Aufgabe, diese Menschen aus ihren Höhlen zu befreien. 5,5 Millionen von einer Stadtbevölkerung von rund 13 Millionen in Säo Paulo wohnen und leben in solchen Höhlen, und es ist keineswegs zufällig, daß ihr menschliches Bedürfnis, etwas von den Sonnenstrahlen wahrzunehmen, sich darin ausdrückt, daß das erste, was sie mit ihrem schmalen Geld sich beschaffen oder auch durch Raub sich aneignen, ein Fernseher ist, der ihnen das Fenster zum Universum einen Spaltbreit öffnet und somit ihr Bedürfnis nach Sonnenstrahlen ein wenig stillt. Übrigens hat das Globalisierungsjahrzehnt, auf das die heutige sozialdemokratische

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Piaton, Politeia, Sämtliche Werke, Band 3, Hamburg 1958, 224 f.

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Regierung Cardoso so stolz zurückblickt, mit der Erhöhung des Reichtums der Wohlstandsinseln gleichzeitig die Zahl der Höhlenbewohner verdoppelt. Kenner der Weltverhältnisse wissen, daß die Höhlen von Säo Paulo keine zufalligen und unwesentlichen Begleiterscheinungen am Rande der GlobalisierungsHeerstraße sind, sondern ihr zusätzliches Produkt, und es ist die Situation in jeder zweiten Großstadt außerhalb des europäisch-amerikanischen Kosmos, eine kompakte und brutale Wirklichkeitsdimension, die zu übersehen die besondere Leistung einer erblindeten Sozialwissenschaft ist. Erste Wirklichkeitsschicht. Daß durch Raum-Zeit-Koordinaten in einem Weltzusammenhang, in dem Information als eines der höchsten Güter gehandelt wird und die Technologie Vernetzungen der Informationssysteme bis zu jenem Punkt getrieben hat, daß praktisch Gleichzeitigkeit herrscht, Weltkontakte ganz neuartig geschaffen sind, scheint zu den gesicherten und völlig unstrittigen Tatbeständen dieser Wirklichkeitsschicht der Globalisierung zu gehören. Der Sprung vom Reich der Notwendigkeit ins Reich der Freiheit, bei Hegel und Marx noch als Übergang vom würdelosen Zustand abhängiger Kausalitäten in die Welt der bewußten Regulierung gesetzgebender Subjektivität und der Gesellschaft verstanden, erfährt hier eine ironische Brechung mit tragischen Folgen. Und nichts ist kennzeichnender für diese Wirklichkeitsschicht, als die Abkopplungstendenz des abstraktesten Mediums menschlicher Beziehungsverhältnisse, dem „ubiquitären Geldfetisch", von allen rechtlichen, politischen und moralischen Kontrollinstanzen der Gesellschaft. 3 Das Versprechen rational kalkulierbarer Beziehungen wird zur Ideologie; „Entbettungen" der Geldmacht und der Finanzierungsströme aus dem Alltagszusammenhang der Erwerbs- und Arbeitsgesellschaft gehören zu den folgenreichsten und bedrohlichsten Abspaltungen von Wirklichkeitssegmenten in der Welt der Erosionskrise. Es entsteht eine Geldgesellschaft mit eigenen Gesetzen. „Entbettung" (disembedding) ist das sozial-kulturelle Kriterium, an dem diese Abtrennungen und Abstraktionen von den konkreten Lebenszusammenhängen bewertet und begründet werden. Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf haben diese Entbettungsvorgänge eindrucksvoll und differenziert beschrieben. Sie sind historisch nicht etwas völlig Neues; Funktionsdifferenzierungen im Verhältnis von Staat und Gesellschaft, arbeitsteilige Spezialisierungen und Herrschaftsaufteilungen, die Entstehung von Expertensystemen, das alles ist vielfach beschrieben worden, von Marx über Max Weber bis zu Joseph Schumpeter. Was unter Entbettung freilich heute verstanden werden kann, hat eine ganz andere Dimension, weil die Entwicklung der Informations- und Kommunikationstechnologien bestimmte Wirklichkeitsschichten nicht nur von den gesellschaftlichen Verankerungen im Territorialstaat, in den sozialstaatlichen Sicherungssystemen und den kulturellen Besonderheiten der 3

Siehe dazu die hervorragende Analyse von Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf, Grenzen der Globalisierung, Münster 1996. Hier kommt besonders der zweite Teil in Betracht: „Der entfesselte Weltmarkt, der ubiquitäre Geldfetisch, die Versprechen des Freihandels".

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einzelnen Länder ablöst, sondern sie geben der Realabstraktion „Geld" ein Ansehen und eine Macht, welche die Realitätsdefinitionen unserer Lebensbereiche entscheidend beeinflußt. „Geld emanzipiert sich von der Substanz, die ihm einen materialen und lokalen Charakter gibt. Geld emanzipiert sich von der Arbeit, monetäre und reale Ökonomie entkoppeln sich. Geld wird zum Zeichen realer Verhältnisse, das aber wie eine drakonische Gesetzestafel wirkt: Geld verlangt die Einhaltung der Regeln durch die wirtschaftlichen Akteure. Es verwandelt die Gesellschaft in eine Geldgesellschaft, in eine gespaltene Gesellschaft, da die Geldvermögensbesitzer Geldeinkommen beziehen und die Schuldner durch reale Leistungen fur den Schuldendienst aufkommen müssen." 4 Der Kapitalismus wird zu einer Clubgesellschaft des Geldvermögensbesitzer, der Weltmittelpunkt ist die Börse. In der Tat hat hier der Geldfetisch, der nach Marx sein materielles Fundament im inneren Widerspruch der Ware hat (phantasmagorische Verkehrung von Gebrauchswert und Tauschwert bestimmen den Fetischcharakter der Ware), in der heutigen Institution der Börse ein reichhaltiges Betätigungsfeld gefunden, dem an magischen Praktiken nichts fehlt. In der Geschichte der Börse spiegelt sich die Entmaterialisierung des Zahlungsverkehrs; im späteren Mittelalter wurden aus ursprünglich formlosen Zusammenkünften von Kaufleuten rechtlich geregelte Einrichtungen, teils durch staatliche, teils durch gewohnheitsrechtliche Bestimmungen oder Selbstverwaltungen. Der Name Börse taucht erst im 16. Jahrhundert auf und stammt von dem Platz in Brügge, auf dem schon im 13. Jahrhundert Versammlungen stattfanden und der de Beurse oder de Burse hieß, benannt nach dem Hause einer Patrizierfamilie mit Namen van der Beurse, die drei Geldbeutel im Wappen hatte. Die erste internationale Börse hatte Antwerpen 1531. Es ist also zunächst ein fester Ort, an dem sich Kaufleute treffen, um Zahlungsmodalitäten festzulegen und Handelsverträge abzuschließen. Bestimmt hat man hier auch über Schulden, Anleihen, Kredite gesprochen und Tilgungsraten vereinbart, aber das Wort bursa im Lateinischen, auf das die holländischen Kaufleute ihren Namen zurückführten, verweist auf den ledernen Geldbeutel, etwas materiell Faßbares. Es ist ein langer Weg, bis die Börse diesen gleichsam über der Gesellschaft stehenden Rang erobert hat, den sie heute besitzt. Für Marx z. B. ist die Realabstraktion des Geldes mit ihren phantasmagorischen Verdrehungen und dem Fetischismus ein zentrales Problem der Ideologiebildung, d. h. der Selbstverschleierung der Interessen, ihm ist es jedoch nie in den Sinn gekommen, der Börse eine das kapitalistische Geschehen insgesamt prägende Bedeutung zuzusprechen, obwohl er die zunehmende Rolle des Aktienkapitals sehr wohl einzuschätzen wußte. In Ergänzung und Nachtrag zum dritten Buch des „Kapital" hat deshalb Engels ein kleines Kapitel über die Börse geschrieben. Marx hatte im 27. Kapitel des Dritten Bandes des „Kapital" über die Rolle des Kredits in der kapitalistischen Produktion und über die Entstehung bloßer Geldkapitalisten geschrie-

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Elmar Altvater/Birgit Mahnkopf, a.a.O., 149.

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ben. Engels erscheint das jedoch nicht ausreichend. Er sagt: „Nun ist aber seit 1865, wo das Buch (1. Band des „Kapital") verfaßt, eine Veränderung eingetreten, die der Börse heute eine um ein bedeutendes gesteigerte und noch stets wachsende Rolle zuweist und die bei der ferneren Entwicklung die Tendenz hat, die gesamte Produktion, industrielle wie agrikulturelle, den gesamten Verkehr, Kommunikationsmittel wie Austauschfunktion, in den Händen von Börsianern zu konzentrieren, so daß die Börse die hervorragendste Vertreterin der kapitalistischen Produktion selbst wird ... 1865 war die Börse noch ein sekundäres Element im kapitalistischen System." (MEW Band 25 S. 917) Mir geht es hier nicht um eine ökonomische Analyse der Börsenfunktionen im weltwirtschaftlichen Zusammenhang; dafür fehlt mir die Fachkompetenz. Was in meiner Argumentationslinie wichtig ist, liegt in der Frage nach der Bedeutung einer Geldvermittlungsinstitution, die mit einer suggestiven Realitätsdefinition ausgestattet ist, zu dem Begriff einer Weltordnung, der ja von den realen Lebensverhältnissen der auf diesem Globus existierenden Menschen nicht abtrennbar ist. Es ist also die naive Frage des aufgeweckten Kindes in Andersens Märchen, woran wird hier eigentlich gewebt und was sind die Webstühle, die man bedient? Wenn kritische Ökonomen davon sprechen, daß Geld als Zirkulationsmittel zum Geld als Vermögen und Kredit geworden ist, die Finanzsphäre sich gegenüber der Realwirtschaft und der Produktion verselbständigt hat; wenn der tägliche Umsatz an den Devisenmärkten sich 1995 auf rund 1,3 Billionen Dollar belief, aber nur 2-3 % an der Finanzierung des Exports von Waren- und Dienstleistungen beteiligt waren? „Die überwiegende Masse der Transaktionen dient also der Absicherung gegen Währungs-, Aktienkurs- oder Zinsrisiken bzw. der reinen Spekulation." (Edelbert Richter). Wenn in wenigen Tagen, wie vor einiger Zeit Zeitungsmeldungen berichteten, bei einem kleinen Crash eine Billionen Dollar wie in einem ökonomischen Bermuda-Dreieck einfach verschwinden - wie wird hier mit Geld, Reichtum, menschlichen Schicksalen gespielt und was hat das fur Folgen im Alltag jener Milliardenmasse von Menschen, die dieses Spiel an den Bildschirmen verfolgen können, ohne den geringsten Einfluß darauf zu haben? Wer die Welt als Börse begreift, hier spekuliert, gewinnt, verliert, nicht ortsansässig gebunden ist, mittlerweile selbst darauf verzichten kann, in Börsennähe zu leben, der ist darauf bedacht, dieses merkwürdig fremdartig klingende Wort disembedding (Entbetten) zur Hauptparole politischen Handelns zu machen. Es geht darauf, alle Weghindernisse, mögliche Kartellämter, Fusionsregeln, alles was dem abstrakten Geldverkehr und der Reichtumshäufung auf dieser von der Gesellschaft abgespaltenen Ebene widerspricht oder behindern könnte, als rückständig und dem Globalisierungsgeschehen unangemessen, aus dem Wege zu schaffen. Diese Wirklichkeitsschicht ist heute jene Real-Abstraktion, die den Rohstoff aller Ideologieproduktion enthält. Auch die Hoffnungen auf weltweite Befreiung sind mit gesetzt; am 20. Juli 2000 ist in Hanoi eine Börse eröffnet worden - vier Firmen

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waren mit Aktien beteiligt. Am nächsten Tag ist sie gleich wieder geschlossen worden, weil noch die gesetzlichen Grundlagen fehlten. Aber die Börse ist zum Prinzip Hoffnung selbst dort geworden, wo noch vor zweieinhalb Jahrzehnten Bürgerkrieg tobte und die Amerikaner sich der Illusion hingaben, ein Gebiet sei partisanenfrei, sobald sich ein Markt bildet. In globalisierten Abstraktionen, die gleichwohl Gewalt ausüben, sind also Utopien und Befreiungshoffnungen wirksam; es sind Raum- und Zeitutopien, in denen Bildwelten entstehen, von denen die Menschen seit Urzeiten geträumt haben. So entwickelt sich die Vorstellung von Gleichzeitigkeit; nach Schätzungen der Prähistoriker hat sich das technische Wissen im Neolithikum mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich fünf Kilometer pro Jahr ausgedehnt (Ackerbau, Züchtung, seßhafte Anordnung von Dörfern usw.). 5 Seitdem gibt es eine Beschleunigung der kulturellen Information bis zu dem Punkt, wo Zeit aufgehoben erscheint, jedenfalls Zeitfolge, also Gleichzeitigkeit entsteht. Vorteile hat der, der sich auf diese Geschwindigkeit einläßt; deshalb protestieren die Fusionstheoretiker, die gerne auf alle nationalen und kulturellen Bindungen der Unternehmungen verzichten möchten, gegen die Errichtung von Weltkartellbehörden, denn die damit verbundenen Genehmigungsverfahren fur Großfusionen bedeuten Zeitverlust. Der digitale Fanatismus, der den Regeln der Politik als bloßer Beschleunigung entspringt, wird, wenn dieses Wirklichkeitssegment als das Ganze zu verstehen ist, einem Begriff von Rationalität folgen, der dem Max Webers von der Zweck-MittelRelation keinerlei Sinn abgewinnen kann. Denn vieles in der Welt spricht j a dafür, daß die elektronischen Medien und die Informationstechnologien unsere herkömmlichen Vorstellungen von Raum und Zeit außer Kraft setzen. War es bei Kant das transzendentale Subjekt, das der Natur seine Gesetze vorschreibt und in allem anwesend ist, was praktische Vernunft und Erkenntnis bewirken kann, so kann man heute diesen kantischen Transzendentalismus auf Leistungen beziehen, die eben von dieser Welt der Börse, der Medien, der Kommunikationstechnologien ausgehen. Sie prägen die Welt, und wie in der Kantischen Philosophie ist alles übrige nur Material möglicher synthetischer Leistungen auf der Formengrundlage dieser Kategorien. Geld und Technik sind die beiden mächtigsten Komponenten der Real-Abstraktion; mit ihnen sind magische Praktiken verknüpft, nicht selten politische Beschwörungsrituale. Der Weltwirtschaftsgipfel auf Okinawa hat eine Entwicklungshilfe ganz eigener Art proklamiert; es müsse die „digitale Spaltung" der Welt überwunden werden, was zunächst wohl nur die Bestückung der armen Länder mit Computern und Internet-Anschlüssen bedeutet. Wie dadurch Armut und Elend der Massen in Afrika, Indien oder anderswo in der Welt überwunden werden können, ohne in diesen Ländern Grundlagen für eine Arbeits- und Erwerbsgesellschaft zu schaffen,

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Siehe dazu Herbert Jankuhn, Vor- und Frühgeschichte. Vom Neolithikum bis zur Völkerwanderungszeit, Stuttgart 1969.

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bleibt völlig offen. Besonders Japan scheint daran interessiert zu sein, den digitalen Technologierückstand der Entwicklungsländer zu verringern, indem es ein Finanzpaket aus Entwicklungshilfe und Krediten von umgerechnet 30 Milliarden Mark zur Verfügung stellt. Es liegt auf der Hand, daß der Ankauf der elektronischen Apparaturen hauptsächlich auf dem japanischen Markt erfolgen soll. „Der reiche Norden sucht nach Wegen, wie dem armen Süden der Zugang zum Internet und zu anderen Informationstechnologien (IT) erleichtert werden kann. Dazu zählt die Überbrükkung der sogenannten digitalen Spaltung, also der wachsenden Kluft zwischen reichen und armen Ländern bei der Nutzung des Internets und anderer moderner Kommunikationsmittel." 6 Mit der kapitalistischen Digitalisierung der Welt jedoch die Hoffnung zu verknüpfen, daß die armen Länder durch Ausgleich des Gefälles technologischer Informationszugänge etwas stärker Marktgerechtigkeit gewinnen, um dem Elend im eigenen Land besser beikommen zu können, erweist sich auch in diesem Punkt als trügerisch. Die Globalisierung von Kommunikationstechnologien trägt wenig zur Erweiterung der Chancengleichheit bei, wenn nicht gleichzeitig in die bestehenden Herrschafts- und Machtstrukturen eingegriffen wird. „Wir können eine Verräumlichung der Ungleichheit beobachten, die sich sowohl in der Geographie der Kommunikationsinfrastruktur als auch in den entstehenden Geographien des elektronischen Raumes selbst zeigt. Die globalen Städte sind Hyperkonzentrationen an Infrastruktur und damit verbundenen Ressourcen, während weite Landstriche in weniger entwickelten Regionen sehr dürftig versorgt sind. Aber auch innerhalb der globalen Städte können wir eine Geographie der Zentralität und eine der Marginalität beobachten. Ζ. B. hat New York City die höchste Konzentration an Gebäuden, die ans Glasfasernetz angeschlossen sind, doch stehen sie hauptsächlich im Zentrum, während Harlem, das schwarze Ghetto, nur ein derartiges Gebäude hat; das südliche Zentrum von Los Angeles hat überhaupt keines. Es gibt viele Aspekte dieser neuen Geographie des ungleich verteilten Zugangs .. .".7 Der digitale Kapitalismus produziert also eine neue Raum-Zeit-Ordnung im Weltgefuge; es entsteht ein objektiver Schein, als würden die Zeit-Koordinaten und die materiell befestigten Orte in Bewegung geraten und dieselbe Entbettung (disembedding) erfahren, wie die Real-Abstraktionen von Geld und Währungen. Aber es zeigt sich immer deutlicher, daß die formell geöffneten Zugänge zu den Börsen ebenso wie zu den Informationspoolen unterlaufen werden durch Schwerkraftelemente, die zu Konzentrationen genau an jenen Orten fuhren, wo ökonomische Tätigkeit und Macht bereits etabliert ist. In den neuen Abstraktionen des Cyber-Space sind deshalb Großfusionen angelegt, durch die die Risiken der Konkurrenz und der damit verbundenen Unsicherheiten in den weltweiten Besitzverhältnissen nach feu6 7

Süddeutsche Zeitung, 22./23. Juli 2000. Saskia Sassen, Cyber-Segmentierungen. Elektronischer Raum und Macht, in: Mythos Internet, Hrsg. Stefan Münker/Alexander Roesler, Franfurt/M. 1997, 221 f.

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daler Art in gesicherte Territorien und in privilegierten Grundbesitz umgewandelt werden soll. Es ist die Grundüberzeugung der wirtschaftlich Mächtigen dieser Welt, daß im elektronischen Raum, in dem wachsende Geschwindigkeit, also Beschleunigung, bestimmendes Kriterium ist, über eine neue Topographie der „Landnahme" entschieden wird, d. h. die Besitz- und Machtverhältnisse eine Neuordnung erfahren, ohne durch die schwerfälligen, an sozialen Sicherungssystemen und den vielfachen Ausdrucksformen anthropologischer Antiquiertheit hängenden Lebensverhältnisse gestört wird. Aber diese Wirklichkeitsschicht, von der ich spreche, teilt das Schicksal aller Entmythologisierungen, die Aufklärung als Selbstzweck durchsichtig gewordener Verhältnisse versteht, die nicht mehr durch alltagspraktische Bedürfnisse, Konfusionen der Lebensweise oder Träume durchkreuzt werden; dieser Abstraktionsprozeß, in dem Raum- und Zeit-Fixierungen beseitigt und eine rasante Beweglichkeit etabliert werden soll, verliert mit diesen Schwerkraftfeldern gleichzeitig ihr Maß und ihre Zwecksetzung. Schon sind die Börsen selbst Gegenstand dieser Entmythologisierung von Raum und Zeit; sie sind zu konkret, ortsgebunden, Frankfurt, New York, Tokyo. Fusionen größeren Ausmaßes sind in Planung. In der „Financial Times Deutschland" heißt es deshalb schon: „Die Aktienmärkte sind facettenreicher geworden. Die ,Börse' gibt es nicht mehr." 8 Allerdings zieht ein solches Wirklichkeitsmedium, in dem das Handeln und Denken von jeder Beständigkeit und Verantwortung für etwas sichtbar Befestigtes abgezogen ist, ganz bestimmte Charaktere an; denn sich in diesen Abstraktionen zu bewähren und bei Störungen des Systems oder in extremen Ausschlägen seiner Ausnutzung hervorragende Leistungen zustande zu bringen, bedeutet ja, den selbstgesetzten Spielregeln dieser Welt zu folgen. Je komplexer die Kommunikationssysteme sind, desto störanfälliger; da bildet sich eine Berufsgruppe der Hacker, äußerst kompetent offenbar, imstande Viren ins Internet zu setzen, die den Alltagsverkehr ganzer Städte lahmlegen können. Es ist eine durchaus ambivalente Figur, die hier im virtuellen Raum höchst materielle Wirkungen erzeugen und Schaden in Milliardenhöhe zufügen kann. Am Donnerstag morgen, acht Uhr (04. Mai 2000) entdeckt eine finnische Virenschutzfirma einen Virus mit Namen „I love you". Im Laufe des Tages sind es 350 000 US-Computer, die vom Virus befallen sind, am Abend weltweit 3 Millionen. Man begegnet diesen neuen Anarchisten mit Achtung und Respekt. In einer Tageszeitung heißt es: „Der Kapitalismus hat aus dem Individualismus eine Ersatzreligion gemacht. Der Hacker nimmt sie beim Wort. Er schlitzt keine U-BahnPolster auf und zerlegt keine Telefonzellen. Das braucht er nicht. Denn er hat viel mehr Macht. Er ist der globale Asoziale, mächtiger als alle seine historischen Vorgänger. Das ist seine hassenswerte Seite. Aber nicht alles an ihm ist hassenswert. ...

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Financial Times Deutschland, 06. März 2000, 29.

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Der Hacker rächt sich an der Zivilisation, indem er ihr fortschrittlichstes Werkzeug, den Computer, als eine Waffe gegen sie benutzt. Der Hacker macht das Leben wieder abenteuerlich. Wenn die Hacker siegen, bricht alles zusammen. Wir sitzen wieder am Lagerfeuer und grillen selbst gefangene Kaninchen. Das ist die Utopie des Hackers, ein Allmachtstraum, den fast jeder hin und wieder hat." 9 Dem Hacker, diesem neuen Asozialen als global player, der anarchistische Traumphantasien wiederbelebt, entspricht ein anderer Menschentyp, der in dieser Wirklichkeitsschicht sich zu Hause fühlt. Es sind die dotcoms, junge Unternehmer und Cyber-Pioniere, die ihre Subkulturen verlassen haben und in die Domäne der Weltwirtschaft eindringen. Die dotcoms spekulieren hoch und sind eben solche Verlierer. „Die Yuppies der achtziger Jahre hatten ihre Gier wenigstens noch gemäß den Traditionen des Wirtschaft-Establishments ausgelebt. Sie verstanden sich als Erben des Kapitalismus, arbeiteten sich aggressiv von unten nach oben, trugen Brooks-Brother-Anzüge unten auf der Park Avenue und das große Geld behielt seine elitäre Aura. Die Welt war vielleicht nicht ganz gerecht, aber doch in Ordnung. Die dotcoms aber scherten sich nicht um die Alten und verweigerten sich den Institutionen, weil sie ihnen längst überlegen waren." 10 Diese dotcoms haben mit ihren phantasierten Risikoeinsätzen, denen absolut nichts mehr in der Realität entsprach, Millionenbeträge bekommen, um daraus mehr Geld zu machen. Aber 80 % der Internetfirmen, die in den USA an die Börse gingen, haben keinen Profit gemacht, häufig haben sie noch nicht einmal Profit versprochen. Die Börse, bis dahin ein Gradmesser für wirtschaftliche Realitäten, wurde so zum Marktplatz für Illusionen und Phantasien. Das Tätigkeitsfeld dieser dotcoms entspricht dem Weben ohne Faden und Webstuhl. Es folgt den Gesetzen der absoluten Beschleunigung und der Entmaterialisierung, die eben soweit geht, daß bei Börsenzugängen noch nicht einmal mehr Bilanzen über den Warenverkehr, über Gewinne und Verluste Beachtung finden müssen. Hacker, dotcoms, und Jürgen Schremp, der Vorstandchef der jetzt vereinigten Daimler-Chrysler-Unternehmen, liegen soweit nicht auseinander, wie man das gerne nach Soliditätsmaßen sehen möchte; als Schremp nach der Großfusion erklärte, Schnelligkeit bei solchen Zusammenschlüssen sei entscheidend, Schloß er in dieses Plädoyer für Beschleunigung die Forderung ein, alle bürokratischen Hemmnisse durch EU-Kommissionen, Betriebsratsbindungen der Belegschaften, Kartellämter zu beseitigen". Die Forderung von Entbettung, Entkleidungen, Abkoppelung von der Schwerkraft menschlicher Lebensverhältnisse hat eben die Ten9 10 11

Harald Martenstein, Die Hacker und das Internet. Sie sind schon drin, in: Der Tagesspiegel, 06. Mai 2000. Adrian Kreye, Jenseits von Gut und Börse. Mit dem Crash ist auch der Kurswert der Jugendlichkeit abgestürzt, in: Süddeutsche Zeitung, 17. April 2000. Es ist verblüffend, wie schnell der Erfahrungssatz alter Militärstrategen die besonders rasanten Manager einholen kann, daß das enthüllte Geheimnis der Blitzkriege die Niederlage ist. Im November 2000 kämpft Schremp schon um seinen Ruf und seinen Posten, weil diese Fusion fast 2 Milliarden D M Verluste bei Chrysler bewirkt hat.

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denz, sich auf alle übrigen Wirklichkeitsschichten als verbindliche Norm zu legen. W o das tatsächlich praktiziert wird und gelingt, da wird aus der virtuellen Welt, aus Cyber-Space und Spielleidenschaft der global players sehr schnell materielle Wirklichkeit und Gewalt.

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Globalisierung, Europäisierung, nationalstaatliche Integration und Regionalisierung

Vier Prozesse konkurrieren in der Dimension des Raumes in der gegenwärtigen Welt miteinander: die Globalisierung, die Europäisierung, die nationalstaatliche Integration (Nationalisierung kann man nicht sagen, weil der Terminus für die Verstaatlichung von Produktionsmitteln verbraucht worden ist) und die Regionalisierung. Nationalstaatliche Integration oder Nation-building lag mit Prozessen des Regionalismus und Partikularismus auch im 19. Jahrhundert im Konflikt, weit mehr als zuvor, als multiethnische Reiche vielfach die ethnische und religiöse „itio in partes" duldeten. Über zweihundert Jahren nationalstaatlicher Mythenbildung wurde vergessen, wie stark die Nachzügler in der Welt der Nationalstaaten von regionalen Problemen zerrissen waren. In Deutschland von Lothringen bis zu den Polen in Westpreußen, in Italien von den Friaulern bis zu den Sizilianern. Antonio Gramsci (1998, Bd. 8: 2035ff) als Sarde blieb hellsichtig für die Tatsache, daß eine national integrierte Kultur für die einfachen Italiener durch ein paar pseudodemokratische Anschlussplebiszite nicht entstanden war. Im Vergleich zu den Konflikten zwischen Nationalstaatlichkeit und Regionalismus sind die Konfliktlinien durch die neuere Europäisierung und Globalisierung wesentlich unüberschaubarer geworden. Immerhin beginnt - wenigstens in Europa - die tägliche Konfrontation mit der Mehrebenen-Loyalität neue Toleranzmargen für anscheinende Unvereinbarkeiten und Widersprüche bei den Bürgern zu erzeugen.

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1) Globalisierung Globalisierung ist ein Terminus, der im ökonomischen Bereich kreiert wurde. Er bezog sich ursprünglich auf die Entstehung globaler Finanzmärkte. Immer wenn ein Modebegriff aufkommt, wird er rasch zu Tode geritten und überdehnt. Er wurde auf die Kapital- und Migrationsströme übertragen und auf die weltweite Kommunikation und Umweltzerstörung ausgedehnt. Der Zerfall der zweiten sozialistischen Welt und seine Rückwirkungen auf die Entpolarisierung und Segmentierung der Dritten Welt hat die Begriffsüberdehnung befördert. Im Bereich der Kapitalinvestitionen und bei den Migrationswellen zeigte sich im Licht der empirischen Forschung, daß das Neue der Globalisierung im Vergleich zu der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg überschätzt worden ist (Busch/Plümper 1999: 28f)· Ein Teil des wirklich Neuen an der Globalisierung sind Folgen der Europäisierung, die vielfach mit Globalisierung gleichgesetzt wird. Für die Beziehung von Globalisierung und Nationalismus ist der objektive Befund über das tatsächliche Ausmaß der Globalisierung zweitrangig. Wie in der Zeit des Ost-West-Konflikts wird die Katastrophengefahr ideologisch hochgespielt. Das Ausmaß des Gewalteinsatzes der Globalisierungsgegner und ihres RandaleTourismus kann schwerlich mit der empirischen Abwiegelung durch Daten bekämpft werden. Der Urgrund von Globalisierungsängsten ist der Aufklärung schwer zugänglich. Bundeskanzler Schröder empfahl im September 2001 diese Ängste der Menschen ernst zu nehmen. Der Globalisierung wird große Wirkungsmacht zugeschrieben, obwohl die Weltgesellschaft eher in den luftigen Höhen autopoietischer Systemtheorien angesiedelt ist, als daß sie sich in den emotionalen Niederungen einer empirisch nachweisbaren Identität der Bürger finden läßt. Der Nationalismus und der Regionalismus sind nur eine Antwort auf die Globalisierung. Beide gehen von wirklichen Alternativen aus. Der Randale-Tourismus, der dazu führte, daß sich die Staatsmänner der G 8 eigentlich nur noch geheim auf Inseln treffen können, bekämpft den Teufel mit dem Beelzebub: internationale Netzwerke von autonomen Gruppen, die jede Kontrolle unterlaufen, sind nicht weniger globalisiert wie das Übel, das sie bekämpfen wollen. Es vergeht kein internationaler Kongreß der Wirtschaft oder der Gewerkschaften, der Kirchen oder der Interessengruppen, ohne daß die Festredner die Gefahren der Globalisierung beschwören. Der Redner beeilt sich meist, zu erklären, daß der Prozeß unumkehrbar sei, verlangt aber mit Recht die Milderung der Folgen für die Lebenswelt der Menschen, die von der Globalisierung in Mitleidenschaft gezogen werden. Am unmittelbarsten wird die Folge der Globalisierung bei transnationalen Fusionen großer Unternehmen sichtbar, die regelmäßig mit Werkschließungen und Stellenabbau einhergehen. Bundespräsident Rau sagte unlängst auf einem interna-

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tionalen Gewerkschaftskongreß, daß, wo das Kapital sich internationalisiere und anonymisiere, die Menschen „Heim und Heimat, Nachbarn und Nähe" brauchten. Gefühlvoll hieß es: „Das bringt den Riß ins Herz" (zit. FAZ. 6.9.2001: 1). Das klang betulicher als es vermutlich gemeint war. Regionalisierung und Heimat werden häufig als Ausweg aus dem Dilemma der Entstehung immer großräumigerer Integrationsrahmen gesehen. Dabei wird eine falsche Intimität aus der Kleinräumlichkeit abgeleitet. In Regionen kann es ebenso erbitterte Konflikte geben wie in großen Nationalstaaten, man denke nur an das Problem der Nord-Irland-Protestanten, ob katholische Kinder über ihre Straße in die katholische Schule gehen dürfen. Selbst in der Intimitätsinstitution par excellence, der Familie, herrscht bekanntlich alles andere als eitel Harmonie. Je kleinräumiger das Zusammenleben, umso brutaler die Konflikte, wenn sie aufbrechen, wie Bosnien, der Kosovo oder Mazedonien zeigten. Das Verhältnis von Nationalismus und Regionalismus zur Globalisierung ist durchaus ambivalent. Der Nationalismus des frühen 19. Jahrhunderts entstand vielfach in Opposition zu den übernationalen Empires in Italien, Österreich-Ungarn, Deutschland, Rußland oder dem Osmanischen Reich. Er richtete sich nicht gegen globale Phänomene, sondern gegen die Unterwerfung unter eine fremde Ethnie, die im multinationalen Gebilde die Hegemonie ausübte. Länder, wie Spanien, Frankreich oder Großbritannien, die einen alten Nationalstaat verwirklicht hatten, entwickelten den Nationalismus eher auf der Grundlage des Imperialismus. Erst spät bekamen sie im Aufstand der Regionen die Quittung dafür präsentiert, daß ihre Nationswerdung mit Gewalt schon in absolutistischer Zeit erfolgreich beendet wurde. Eine Art Globalisierung, die Aufteilung der Welt in Einflußsphären und Kolonialgebiete, wurde zum Antrieb der Machtausdehnung des Nationalstaats. Es war vielleicht kein Zufall, daß die früh vollendeten Nationalstaaten von Portugal und England bis Rußland sich als erste an ihre Ausdehnung wagten. Paradoxer Weise weichten sie mit dem Kolonialismus die gewaltsam hergestellte kulturelle Homogenität wieder auf. Die austarierte Balance der klassischen Pentarchie (Deutsches Reich, Frankreich, Großbritannien, Spanien, Schweden, später Preußen und Rußland) ging im 19. Jahrhundert verloren, als die christliche Wertgemeinschaft durch die Dynamik der ökonomischen Moderne überlagert wurde. Dabei wurde in vielen Ländern ein Hegemon beargwöhnt: im 19. Jahrhundert war das Großbritannien. Im 21. Jahrhundert tauchte nach dem Ende der bipolaren Konstellation ein neuer aufgeklärter Welthegemon auf: die USA. Globalisierungskämpfe begannen sich erneut mit einem periodisch auflebenden Haß auf Amerika zu verbünden. Auf internationaler Ebene blieb den kleinen Einheiten und den Nationalstaaten der Triumph, daß die

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Weltorganisationen G A T T oder W T O mit ihrer Regulierung der Europäischen Union heimzuzahlen beginnen, was diese einst den Nationalstaaten angetan hat.

2) Beschwörungen der Gegenmacht gegen die Globalisierung Mehrere Gegengewichte gegen die Globalisierungstendenzen werden beschworen, wie die -

transnationale Gewerkschaftsmacht, internationale Gegenmacht durch Einigung von Nationalstaaten, die sich vom Casino-Kapitalismus fiskalisch geprellt fühlen. Absonderung der Nationalstaaten in der Propaganda der Rechtspopulisten Einigelungstendenzen in den Regionen, die der Gegensteuerungskapazität der Nationalstaaten kein Vertrauen mehr entgegenbringen.

Als Oskar Lafontaine sich auf der Suche nach einer neuen politischen Plattform der im Januar 2000 in Frankfurt gegründeten Organisation „Attac" anschloß, reagierte Bundeskanzler Schröder unerwartet milde: die vielen Globalisierungsgegner seien keineswegs „nur Spinner". Das homöopathischste Gegenmittel gegen Exzeße des Casino-Kapitalismus beschränkt sich auf herkömmliche Steuerungsinstrumente. Die Attac-Bewegung setzt sich die Forderung zum Ziel, die Finanzmärkte zu „entwaffnen". Die Abschaffung von Steuerparadiesen und die Einfuhrung der nach einem amerikanischen Nobelpreisträger genannten Tobin-Steuer wird propagiert, die Verbrauchssteuern auf Devisengeschäfte erhebt. Nur 0.1% einer solchen Steuer würden jährlich 166 Milliarden Dollar erbringen, die der Dritten Welt als Globalisierungsverlierer zufließen könnten. Vom französischen Premier Jospin bis zum brasilianischen Präsidenten Cardoso haben sich bereits einige Staatsmänner für diese Idee erwärmt, auch wenn Tobin sich inzwischen von seinen neuen - wie er meint - falschen Freunden distanziert. Härtere Mittel gegen die Globalisierung werden gelegentlich von den Gewerkschaften anvisiert. Aber schon in der Ölkrise 1973-75 erlebten wir einen Boom von Hoffnungen auf die transnationale Gegenmacht der Gewerkschaften. In den 80er Jahren war bereits klar, daß die bekämpften Multis am längeren Hebel saßen. Die „Multis" in der Terminologie der 70er Jahre schienen noch greifbar im Vergleich zu den Transaktionen des heutigen Casino-Kapitalismus. Der Nationalstaat erwies sich zudem im Kampf gegen die Ölkrise keineswegs als ohnmächtig, wie einige d e f ä t i stische linke Theorien unterstellt hatten. In der jetzigen Runde der Suche nach Gegenmitteln gegen die Globalisierung von oligopolistischer Wirtschaftsmacht richten sich die Hoffnungen letztlich gleich auf den Nationalstaat. Neuere Horrorszenarien sehen den Nationalstaat durch Globalisierung und Regionalisierung im Zweifrontenkrieg geschwächt. Er scheint an Steuerungsfähigkeit verloren zu haben. Die nationalen Gesellschaften haben da-

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durch nicht profitiert, da ihr Staat durch die Diffusion der Machtebenen weniger kontrollierbar geworden ist (Zürn 1996: 96). Dennoch ist der Nationalstaat noch immer der wichtigste Akteur geblieben. Der Nationalstaat ist auch nicht nur ausgehöhlt worden. Durch die Globalisierung des Rechts und die regionale Integration wie die Europäisierung ist er partiell auch wieder gestärkt worden. Er gewann an multilateraler Verhandlungskraft und an Geschlossenheit beim Aufbau von Abwehrfronten - nicht zuletzt durch die Globalisierung des Rechts.

3) Globalisierung des Rechts? In der Welle des Triumphes des Neoliberalismus konnte von Globalisierungsgegnern diese Ideologie noch immer mit einer vorgeblichen Amerikanisierung gleichgesetzt werden. Aber es gab auch Prozesse, die sichtbar mit den USA nichts zu tun hatten. Zwar wurde seit Präsident Carter der Korb III der Helsinki-Akte von den USA stark betont. Die Förderung der Menschenrechte in der Dritten Welt - vor allem in China - wurde vielfach als der neueste Trick des „Imperialismus" denunziert. Aber in anderen Bereichen der Verrechtlichung des modernen politischen Lebens war keineswegs Amerika führend. Wo Common-Law-Traditionen stark blieben, waren diese selbst Relikte einer früheren Globalisierung, in denen die Angelsachsen sich resistent gegenüber dem römischen Recht zeigten. Die neuen Tendenzen einer Universalisierung gewisser Rechtsprinzipien fußten eher auf französischen Traditionen, die sich vor allem in der EU mächtig ausbreiteten. Der Siegeszug der Verfassungsgerichtsbarkeit - der eher dem deutschen als dem amerikanischen Modell des judicial review folgte - hatte diese Europäisierung und Universalisierung verstärkt. Das läßt sich etwa an der Häufigkeit ablesen, mit der Urteile des Karlsruher Verfassungsgerichts in den europäischen Staaten zitiert werden. Vor allem in Osteuropa sind die Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen (BVerfGE) neben den heimischen Gesetzen die meist zitierte Quelle. Das westliche Rechtssystem auf der Grundlage christlich-humanistischer Werte wurde zum Wiederanknüpfungspunkt für die post-kommunistischen Länder Osteuropas. Hingegen wurde das gleiche Rechtsdenken gelegentlich zum Stein des Anstoßes in der Dritten Welt. Nicht wenige Länder, die sich modernisieren, leiden an der Doppelgeltung von Normen, wie die Germanen es einst bei der Übernahme des römischen Rechts erlebten: In Ägypten weiß der Oberste Gerichtshof oft nicht, ob das Islamische Recht oder das Recht des laizistischen Staates anzuwenden ist. In Südafrika gilt das europäische Recht, aber partiell auch das Stammesrecht. Vor allem im Bereich der Familien führen die verschiedenen Normen zu konträren Entscheidungen. Die Universalisierung von Menschenrechten und einigen rechtlichen Grundprinzipien, die im nordatlantischen Raum positiv als Fortschritt bewertet werden, gerieten in der Dritten Welt vielfach als Ausfluß der bekämpften Globali-

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sierung in Mißkredit. Gleiches gilt von der Universalisierung gewisser Standards in der Umweltpolitik. Was vom Westen als Fortschritt gefeiert wird - so schwach auch die Prinzipien in ihrer Implementierbarkeit bleiben - wird von einigen Ländern der Dritten Welt als Versuch gewertet, die wirtschaftliche Entwicklung der Nachzügler der wirtschaftlichen Modernisierung zu bremsen, nachdem die Vorreiter der Entwicklung ihre Modernisierung hemmungslos auf Kosten der Umwelt durchgesetzt haben. Der Konflikt unterschiedlicher Rechtsauffassungen hat im Zuge der Globalisierung aufgehört, ein Problem des Völkerrechts und der internationalen Beziehungen zu sein. Längst ist er Teil der Debatte in den Nationalstaaten. Auch aufgeklärte Demokratien stehen ständig vor der Frage, wie weit ihre multikulturelle Toleranz gehen kann. Die politische Philosophie hat die Grenze der Toleranz meist dort angesetzt, wo wehrlosen Kinder bleibende schwere körperliche Schäden im Namen einer traditionellen ethnischen Kultur zugefugt werden - von Stammesnarben bis zur Frauenbeschneidung (Parekh 1991). Die geläufigste Reaktion gegen die Globalisierung scheint der Nationalismus zu sein. Er ist in seiner kollektivistischen Prägekraft umso stärker, j e geringer in einer Gesellschaft die Spielräume für die Individualisierung des Einzelnen sind. Der traditionelle Nationalismus wird bei den Gebildeten und Vernünftigen zunehmend von einem Verfassungspatriotismus abgelöst. Die postnationale Gesinnung - in der dissentierenden Jugend mit „Null Bock auf Nation" anscheinend weit verbreitet - erweist sich noch als ein Minderheitenphänomen. Vor allem den Fußball hat diese Position auch bei der Jugend nicht erfaßt, von der weite Teile hysterisch reagieren, wenn die gegnerische Nationalmannschaft sich dem deutschen Strafraum nähert. Der Verfassungspatriot hingegen müßte eigentlich seine Sympathien für Spielergebnisse nach ihrem Beitrag zum Völkerfrieden beurteilen und eine Niederlage von 5 : 1 gegen England aus Gründen eines aufgeklärten Nationalgefühls begrüßen. Aber selbst der Verfassungspatriotismus kam immer wieder in Verdacht, zur „fremd verordneten Einheitlichkeit des Lebens" beizutragen (R. Bubner). Je stärker die Identitätsgefühle forciert auf größere Einheiten gelenkt werden, umso häufiger regen sich Tendenzen eines Neonationalismus. Daneben entstehen neue Bewegungen der regionalen Identitätssuche. Aber selbst die regionale Identitätssuche kann sich als Bumerang erweisen und einen Beitrag zur Europäisierung und Globalisierung leisten. Die Regionen haben die EU als Forum benutzt, um mit Hilfe von Brüssel den Nationalstaat in die Schranken zu weisen. Der Teufel, der mit dem Beelzebub ausgetrieben wurde, aber blieb und der Beelzebub (EU) hat sich noch zusätzlich gestärkt. Die von Brüssel geförderten Regionen blieben in den meisten föderalistischen oder dezentralisierten Ländern nicht nur von der Zentrale abhängig, sondern gerieten mit der EU in eine zweite Abhängigkeit. Konzertierte Aktionen

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zweier Ebenen, der EU und der Regionen einerseits und der globalen Organisationen und der Nationalstaaten andererseits haben gelegentlich die Bestrebungen zur Erhaltung des sozialen und ethnischen status quo auch „verschlimmbessert".

4) Mehrebenenloyalitäten in Europa Nirgendwo auf der Welt werden die Reibungsflächen, die durch Globalisierung und Europäisierung einerseits und durch periodisches Wiederaufleben von Nationalismus und Regionalismus so systematisch angegangen wie in der Europäischen Union. Das Resultat ist durchaus noch widersprüchlich, da die nationalen Traditionen der einzelnen Mitgliedstaaten sich nur langsam einander annähern. Aber langfristig ist für die Bewußtseinsbildung eine neue Bürgerkonzeption von „citizenship" fruchtbar, welche die Divergenzen der Europäisierung, der Re-Nationalisierung und der Regionalisierung mildern. Artikel 8 des Maastrichter Vertrages gewährt jeder Person die Unionsbürgerschaft, welche Bürgerqualitäten in den Nationalstaaten besitzt. Der Artikel ist im Sinne einer Theorie der Zivilgesellschaft nicht als Vertrag zwischen Staaten, sondern als Vertrag der Bürger untereinander interpretiert worden, als eine Art Gesellschaftsvertrag (Merkel 1999: 29). Die schöne Harmonie eines modischen Neokontraktualismus kann jedoch nicht vermeiden, daß jeder Unionsbürger unterschiedlichen „Staatsvölkern" oder „demoi" angehört: der Union, dem Nationalstaat, den Regionen. Hatte die ältere Gruppentheorie von Bentley bis Truman in den „overlapping memberships" Garanten einer Milderung des Gruppenkampfes gesehen, so werden die „overlapping loyalties" als Garanten der Entschärfung nationaler und ethnischer Konflikte gesehen (Weiler u. a. 1995: 18). Voraussetzung ist freilich, daß im Mehrebenensystem der europäische Demos nicht den nationalen und regionalen Demos zu verdrängen versucht. Dem europäischen Bürger wird zugemutet, daß die Loyalitäten in schöner Mischung vorkommen: als Europabürger muß er ganz Verfassungspatriot sein, auch wenn er sich noch einem nationalen Demos zugehörig fühlt. Bei letzterem besteht die Option, traditionale, verfassungspatriotische und postnationale Optionen zu bevorzugen. Eine deutsche Studie (Westle 1999) zeigte, daß noch keine Mehrheit verfassungspatriotisch fühlt und daß die Mischungsverhältnisse sogar in den Landesteilen - Ost und West - sehr unterschiedlich sein können. Vier Staatslegitimationsmuster sind inzwischen von allen Ideologien und parteilichen Lagern in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen akzeptiert worden. Marshall hat dem politischen und dem rechtlichen Bürger längst den sozialen Bürger hinzu gefugt (Marshall 1976). Als die egalisierende Kraft des Wohlfahrtsstaats in den Verdacht geriet, eine oppressive ganzheitliche Utopie zu sein, und die subjektiven Identitäten jenseits von Staat und sozialer Gemeinschaft wiederentdeckt

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wurden, hat man die „cultural citizenship" der Dreiteilung Marshalls hinzu gefügt, um die Gleichberechtigung des Prinzips „Anerkennung" neben der „Distribution" zu betonen (Turner 1994: 159). Soweit Ethnien sich in ihrem Staat unterdrückt fühlten und nach Autonomie oder Selbstbestimmungsrecht bis zur Sezession strebten, haben sie die „Nation" unter dem Begriff cultural citizenship neben Rasse und gender wieder eingereiht, weil die nationale Frage nur für die privilegierten Großen gelöst schien. Die Gefahr war dabei, daß ein ethnischer Ausschließlichkeitsanspruch unter harmlos-spielerisch klingenden Etiketten wieder hoffähig zu werden drohte (Heller/Puntscher Riekmann 1996). Die U S A mit dem multikulturellen Emblem des Seeadlers über der Deklaration „e pluribus u n u m " verhinderte nicht eine fast sakrale Weihe der Zugehörigkeit zur „Verfassungsnation". David Brewer, ein Richter am Supreme Court, formulierte 1900: „Das Wahllokal ist der Tempel der amerikanischen Institutionen. W e d e r ein einzelner Stamm noch eine Sippe sind auserwählt, die heilige Flamme zu sehen, die auf seinem Altar brennen. Wir alle sind die Priester" (Walzer 1992: 147). Fahnenklamauk und inbrünstiges Singen der Nationalhymne waren vielen Europäern fremd. Deutschland hingegen berief sich in seiner Konzeption bis hin zu Rudolf Smend immer wieder auf eine „Wertegemeinschaft". Die Kühle des Verfassungspatriotismus birgt Erlebnisdefizite. Eine Balance zwischen kognitiven und affektiven Elementen der Identifikation ist anzustreben. Wie aber kann dies im Hinblick auf die Union geschehen? Kann die EU affektive Identifikationen erzeugen? Verschiedenen Politikern wurde das Bonmot zugeschrieben: „Man kann nicht einen Markt lieben". Auch eine politische Union wird nicht verhindern, daß der „Staatenverbund" auch weiterhin überwiegend als ein gemeinsamer Markt wahrgenommen wird. Es wird zunehmend sogar befürchtet, daß der Verfassungspatriotismus selbst auf eurpäischer Ebene Gefahren in sich birgt. Die „fremd verordnete Einheitlichkeit des Lebens" löst in vielen europäischen Ländern zunehmend nationalistische Gegenreaktionen aus (Bubner 1991: 20). Je stärker die Identitätsgefühle forciert auf größere Einheiten gelenkt werden, umso häufiger regen sich Tendenzen eines Neonationalismus in den europäischen Nationalstaaten und der regional istischen Identitätssuche, wenn der Nationalstaat nach dem Gefühl der Bürger gegen „Brüssel" zu willfährig gewesen ist. Die Zahlen des Eurobarometers zeigen, daß Deutschland in der europäischen Identifikation im Mittelfeld liegt und daß die regionale Identifikation (27%) nur von Belgien, Spanien und Portugal übertroffen wird. Bei der Forderung einer europäischen Staatsbürgerschaft ist Deutschland im unteren Mittelfeld (36%). N u r die Skandinavier und Österreich zeigen weniger Begeisterung. Nationalismus kann dafür kaum verantwortlich gemacht werden. Deutschland bildet mit 4 5 % das Schluß-

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licht, und wird selbst von Belgien weit übertroffen (69%), wo fraglich ist, ob es sich noch um eine Nation handelt. Der Toleranzindex gegenüber Ausländern zeigt, daß Deutschland wiederum im Mittelfeld angesiedelt ist. 40% finden, daß zu viele Ausländer im Land leben, an Duldsamkeit nur von Ländern wie Portugal, Spanien und Irland übertroffen, deren Ausländeranteil gering ist. Luxemburg bildet hier die Ausnahme. In der trilingualistischen Kultur hat sich die Bevölkerung an einen hohen Anteil von Ausländern gewöhnt, zumal dieser großenteils von mittelständischen Ausländern gestellt wird. Die Umfragedaten des Eurobarometer legen den Schluß nahe, daß die nationale Identifikation nicht im Absterben begriffen ist, sich aber mit einer Option für eine europäische Staatsbürgerschaft verträgt. Die Neigung zu Exklusion von Ausländern korreliert nicht mit dem faktischen Anteil von Ausländern an der Bevölkerung. Nicht die am stärksten vom Problem betroffenen Länder, sondern Griechenland rangiert bei diesem Indikator an der Spitze. Umfragedaten bieten Momentaufnahmen. Wo Aversionen gegen die EU hochgespielt werden, wie in Deutschland aufgrund der Debatte um überhöhte Transfers nach Brüssel, kann sich das Bild rasch verschlechtern. Wo der Tod des Nationalstaats mit dem Tod der Politik gleichgesetzt wird (Guéhenno 1994: 39), kann es rasch zu Bewegungen kommen, die die Wiederherstellung der Politik mit einem neuen Nationalismus verbinden. Bestehende Nationen sind nicht immer als integraler Wiederanknüpfungspunkt politischer Aktionen geeignet. In multiethnischen Staaten, wie der Schweiz, die dem homogenisierenden Einfluß der Europäischen Union vorerst nur indirekt ausgesetzt sind, zeigen sich Rückzugstendenzen in die vier Ethnien und ihre Kantone. Belgien, nur noch ein Dachhaus, wird als Drohung für andere multiethnische Staaten empfunden. Deutschland ist ethnisch ziemlich homogen. Aber auch für dieses Land wurden Szenarien entwickelt, daß die EU die erneute Trennung in zwei deutsche Staaten fördern könnte. Die bloße „DM-Identität" (Egon Matzner) kann nach dieser Meinung nicht bestehen, wenn die DM dem Euro weichen muß (Bausinger 1995: 19). Dieses Szenario ist einerseits ohne Kenntnis der Befragungsstudien zum nationalen Identitätsgefühl der Ost- und Westdeutschen skizziert worden. Andererseits unterschätzt das Szenario die Ambiguitätstoleranz einer wachsenden Zahl von Bürgern in der Entwicklung mehrdimensionaler Identitäten. Österreich mit seinem eigentlich erst nach 1945 voll entwickelten nationalen Identitätsgefühl ist als Musterbeispiel dafür angeführt worden, daß eine Staatsnation mit erstaunlichen Widersprüchen der Selbstperzeption leben kann, was in die Hegeische Paradoxie zu münden scheint, nach der die Identität eine Identität mit der Nichtidentität ist (Menasse 1995: 54). Die Fähigkeit Symbiosen herzustellen - in Luxemburg sogar in einem trilingualistischen Modell - und dennoch seine nationale und kulturelle Identität zu

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KLAUS VON B E Y M E

festigen - scheint gerade den ambivalenten Spätnationen den W e g nach Europa besonders zu erleichtern. Die Typologie von Traditionalismus, Verfassungspatriotismus und Postnationalismus macht die ersten Typen klar unterscheidbar. Traditionales Nationalbewußtsein schließt vorpolitisch-ethnische

und transpolitische-kulturelle

Elemente ein,

kann j e d o c h indifferent gegenüber der politischen Demokratie und den Werten der Verfassung sein. Weniger gut ist das postnationale Bewußtsein vom Verfassungspatriotismus abzugrenzen, da beide die primordiale Bedeutung der Nationen und Ethnien leugnen. Postnationales Bewußtsein ist jedoch kaum auf das politische und das Rechtssystem bezogen, sondern kann vom idealisierten Weltbürgertum bis zum Rückzug in die alternative Ö k o - K o m m u n e eine Fülle von Identifikationsmuster umfassen. Der Postnationalismus wird von einigen Autoren als die Form der Identitätsbildung der Zukunft gesehen. Aber es gibt keinen Anlaß, diese Form zu idealisieren, weil

ihre Ansatzpunkte für Identität sehr diffus sind. Die

Geschichte

demonstrierte, daß die bloße Vermeidung von Nationalismus im „Negativpatriotismus" (Isensee) noch keine Garantie sozialen Friedens ist. Experimente, die Rassen, Klassen, Gender-Gruppen oder Anarcho-Kommunen zum exklusiven Bezugspunkt der Identifikation zu machen versuchten, haben das gezeigt. V o n radikalen Liberalen wird j e d e Form forcierter Identitätssuche - auch die nach der personalen Identität - ganz sicher aber die nach nationaler oder kultureller Identität - als Attentat auf die individuellle Freiheit empfunden. Identitätssuche droht die Widersprüche und Ambivalenzen der Freiheit zu beseitigen und in kollektiven Prozessen den Einzelnen sozialen Zwängen zur Adaption auszusetzen (Herzinger 1997: 149). Seit die political correctness die Identitätssuche immer neuer Opfergruppen forciert hat, wird das Verdikt, das sich noch bei Walzer findet, daß die Nation Hauptrepräsentant eines verwerflichen

Partikularismus sei,

vielfach

schon bezweifelt. Walzer ( 1 9 9 6 : 174; 1992: 2 3 5 ) ging noch davon aus, daß die politische Nation jedem Partikularismus abhold ist. Radikale Minderheitenvertreter bezweifeln dies - und fordern damit die Gegenmobilisierung der egalitären Staatsbürgernation heraus. Ein liberal-demokratisches System kann mit Widersprüchen der Identitätsgefühle der Bürger leben und begrüßt sie sogar. Daher bietet sich der Verfassungspatriotismus als kleinster gemeinsamer Nenner für viele Forscher an, die kein Element der Identifikation der Bürger mit ihrem System bevorzugen und keine normativen Empfehlungen fur die Identitätssuche geben wollen. Die Verflüssigung aller sozialen Beziehungen macht am wenigsten vor dem G e fühl der nationalen Identität halt. Differenzen werden angesichts der transnationalen Mobilität leichter akzeptiert und verarbeitet. Ein Rest von affektivem Patriotismus, in Verbindung mit einem rationalen Verfassungspatriotismus erscheint daher in konsolidierten Demokratien nicht mehr als Gefahr. Dieser Rest könnte als Kompen-

G L O B A L I S I E R U N G , E U R O P Ä I S I E R U N G UND R E G I O N A L I S I E R U N G

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sation für mangelnde emotionale Identifikationsmöglichkeiten mit einer fernen, fur die meisten schwer durchschaubaren Europäischen Union sogar an Bedeutung gewinnen. Postnationalismus in der Form eines negativen Nationalismus, der unkritisch Identifikationsobjekte vom K i e z bis zum Weltstaat akzeptiert, und nur den nationalen Ansatzpunkt für Identifikationsgefühle für suspekt hält, bleibt vermutlich ein Traum - und nicht einmal ein schöner. In allen europäischen Ländern ist die Symmetrie der Legitimationsgrundlagen in den vier Identifikationsbereichen nicht vollkommen. Kein Land hat j e d o c h solche Asymmetrie durchlebt wie Deutschland und von Regime zu Regime den Legitimationsmix gewechselt, etwa bei der Betonung von Nation und Kultur als Rasse verengt plus einiger Elemente der Sozialstaatlichkeit im Nationalsozialismus unter Verletzung von Rechtsstaat und Demokratie. Auch die D D R wich von dem normalen Legitimationsmix ab, vor allem zugunsten einer sozialistisch-egalitär definierten Wohlfahrtspolitik in der Spätzeit des Trabi-plus-Datscha-Sozialismus. W o ein Gleichgewicht erreicht scheint - auch in der Bundesrepublik nach allen politischen-Kultur-Studien mit einer Schlagseite zugunsten der Sozialstaatlichkeit bleibt es instabil. Es schwebt über j e d e r legitimatorischen Konsolidierung die bange Frage, welche Legitimation sich in einer Krise durchsetzt. Im Zweifel der Nationalismus. Er kann bereits bei Entfremdungserscheinungen durch entrückte europäische Entscheidungen aufbrodeln. Die Proteste von Seattle gegen die Globalisierung haben selbst vor den U S A nicht haltgemacht, die doch Hauptverursacher von Globalisierung sind. Globalisierung wird ohnmächtig in einzelnen internationalen Organisationen angeprangert. Europäisierung kann konkreter dingfest gemacht werden und hat einen Ort: Brüssel. Daher muß im Prozeß der Europäisierung darüber nachgedacht werden, wie die Balance von europäischem Verfassungspatriotismus und nationalem Patriotismus stabil gehalten werden kann.

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KLAUS JÜRGEN GANTZEL

„Völkerrechtswidrig!" - zu leicht dahin gesagt. Essayistische Überlegungen eines Friedensforschers

Es ärgert mich, wie schnell Kritiker und Gegner sogenannter humanitärer Interventionen den Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit erheben, sehr massiv zum Beispiel gegen die NATO-Intervention 1999 gegen Jugoslawien wegen dessen menschenrechtswidrigen Verhaltens im Kosovo 1 (im folgenden kurz Kosovo-Intervention genannt). Angesichts möglicher militärischer Reaktionen der USA oder gar einer ad Aoc-Koalition von Staaten auf die menschenverachtenden, in ihrem Ausmaß und in ihrer verschwörerischen internationalen Netzwerk-Vorbereitung und -operation noch nie dagewesenen Terrorangriffe vom 11. September 2001 kann die Frage der Völkerrechtswidrigkeit noch erhöhte Bedeutung gewinnen. Deshalb will ich hier in zugespitzter, teils polemischer Form eine Reihe von Argumenten anfuhren, die zumindest zur Vorsicht bei solchen Anklagen raten, aber in der wissenschaftlichen, politischen und Medienöffentlichkeit selten beachtet werden. Als Politikwissenschaftler mit Schwerpunkt Internationale Politik und Friedensforschung werde ich mich nicht im einzelnen auf die Interpretation von Völkerrechtsregeln und deren judikative Anwendung einlassen. Schon gar nicht will ich die Probleme der sogenannten Kosovo-Intervention analysieren2; sie dient allenfalls der Veranschaulichung. Es geht mir um grundsätzliche Fragen. Dafür muß ich zunächst den generellen Hintergrund meiner Argumentation darlegen.

1 Sehr dezidiert und öffentlichkeitsorientiert Lutz/Mutz in ihrem offenen Brief vom März 2001 an die Fraktionsvorsitzenden und Mitglieder des Deutschen Bundestags. 2 Sehr differenziert hierzu im Hinblick auf das ins ad bellum und das ius in bello Hermann Weber (2000). Dennoch kann ich seiner Auslegung nur teilweise folgen, weil der von ihm berücksichtigte (damals noch nicht voll bekannte) Tatsachenhintergrund lückenhaft ist, und zwar in der entscheidenden Frage der Menschenrechtsverletzungen im Kosovo vor Beginn der NATO-Luftangriffe im März 1999, und weil Webers Völkerrechtsverständnis mir zu staatsorientiert und damit zu konservativ ist.

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Völkerrecht, Menschenrecht und die Dynamik zur Weltgesellschaft Wir befinden uns in einer weltgeschichtlichen Epoche, in der die Dynamiken, Konflikte und Widersprüche in und zwischen nationalen Gesellschaften immer schneller auf die Herausbildung einer Weltgesellschaft zutreiben 3 . Nicht auf einen irdischparadiesischen Endzustand harmonischer Weltgemeinschaft, sondern auf ein immer dichter gewebtes Netz von interessenbezogenen kooperativen wie konfliktiven Kommunikationen und Interaktionen zwischen staatlich verfaßten Gesellschaften, organisierten Gruppen und einzelnen Menschen. Haupttriebkraft, auch des Widerstands seitens traditionaler Lebensformen und Weltbilder, ist der unwiderstehliche, alles durchdringende Kapitalismus, und dies schon seit seinen Vorläufern des kolonialistischen, sogenannten Handelskapitalismus ab der frühen Neuzeit, zunächst in seinen europäischen Zentren und dann in deren überseeischen Ablegern, hier vor allem in den USA. Ungewollte Triebkraft sind aber auch die Gegner dieser Entwicklung, und zwar sowohl die „No-global"-Bewegung als auch Terroristen vom Schlage des 11. September. Zum Teil erreichen sie das Gegenteil von dem, was sie aufhalten oder zurückdrängen möchten. Jedenfalls sind sie selber Teil des dialektischen Globalisierungsprozesses. Läßt man ihre zeitbedingten, fragwürdigen politischen und praxeologischen Schlußfolgerungen außer acht, dann lesen sich zentrale analytische Passagen des Kommunistischen Manifests von 1848 von Karl Marx und Friedrich Engels wie eine präzise, glänzend formulierte Prognose, in die man ohne weiteres die Beobachtungen und Daten unserer Zeit einfügen kann. In der Sache kongruent, in seiner Entwicklung sowohl insgesamt als auch regional zeitlich verschoben, entstand das Völkerrecht - genauer: Staatenbeziehungsrecht - und mündete in der Praxis zunächst im Westfälischen Frieden von 1648, also in den Axiomen der unantastbaren Souveränität des territorialen Staates, damals noch in feudalistischer, absolutistischer oder dynastischer Form. Erst mit der Französischen Revolution und den nordamerikanischen Unabhängigkeitskämpfen begannen die Menschenrechte ihren tapferen Zug, aber es dauerte bis nach den barbarischen Weltkriegen des 20. Jahrhunderts, also bis nach dem zweiten, nunmehr erfolgreichen Versuch der Gründung einer interstaatlichen Weltorganisation in Form der UN (1946), um Menschenrechte mit universellem Geltungsanspruch zunächst wenigstens formulieren zu können. Der Gedanke unveräußerlicher und unantastbarer Menschenrechte ist viel älter und wurzelt in naturrechtlichen Vorstellungen. Verbindliche Norm wurden sie aber erst durch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, 1948 von der Generalversammlung der UN verkündet, in der Folgezeit konkret unterfuttert durch internationale Pakte über bürgerliche und politische sowie über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, in Kraft getreten 1976, und durch weitere Konventionen z. B. über die Rechte des Kindes, über die 3

Skizzen zu diesem 1975 von mir eingeführten Topos bei Gantzel (1975), (1995/96) und (1997). Hervorragend Siegelberg (1994).

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politischen Rechte der Frau und gegen Rassendiskriminierung. Das heißt, daß das Individuum als internationales Rechtssubjekt neben die Staaten zu treten begonnen hat. Diese rechtliche Individualisierung entsprach und entspricht absolut der liberalistischen Norm und der tatsächlichen Entfaltung und Ausbreitung des Kapitalismus. Wie in der nationalgesellschaftlichen so in der weltgesellschaftlichen: der einzelne Mensch, nicht nur das „Volk"4 beansprucht Souveränität und Rechtsfähigkeit. Das ist eine positive Entwicklung, trotz aller Langsamkeit, Mängel und Verstöße bei der Umsetzung von Menschenrechten in praktische Politik. Allein schon die öffentliche Formulierung der Menschenrechte unter dem Schirm der UN bietet einerseits Legitimationsgründe für Demokratisierungsbestrebungen und setzt diejenigen, die sie aufhalten oder gar verletzen, unter Rechtfertigungszwang. Wo die kapitalistische Gesellschaftsformierung sich gegen traditionelle Formen oder gar Traditionalisten durchsetzen muß, erzeugt dieser Prozeß oft Gewalt und Elend. Hat sich der Kapitalismus aber erst einmal durchgesetzt, dann entfaltet er sein pazifizierendes Potential. Das ist jedenfalls die Erfahrung der in politischer, wirtschaftlicher und zivilisatorischer Hinsicht am weitesten fortgeschrittenen Länder, auch wenn das Maximum an Zivilisierung noch nirgendwo erreicht ist. In unserer Zeit konkurriert das staatliche Souveränitätsrecht mit den Menschenrechten. Dieses Dilemma, auf das der UN-Generalsekretär Kofi Annan zum Beispiel am 7. April 1999 in Genf vor der Menschenrechtskommission und am 20. September 1999 vor der UN-Generalversammlung hinwies, muß man als eine Phase weltgesellschaftlicher Entfaltung begreifen. Dem Trend folgend vermute ich, daß ganz allmählich die Menschenrechte Priorität gegenüber den staatlichen Souveränitätsrechten gewinnen - wie langsam und mit welchen zeitlichen oder regionalen Rückschlägen auch immer. Die gegenwärtig zu beobachtende Herausbildung und Institutionalisierung eines internationalen Strafrechts, eines „Völkerstrafrechts", liegt in der Logik dieser Entwicklung. Sie zeigt zugleich wieder die Dialektik des Prozesses: Die Staaten stehen unter dem Druck, Menschenrechten Geltung zu verschaffen und Verletzungen zu ahnden.

Das Dilemma fordert Kompromisse Vor dem geschilderten Hintergrund geht es nicht an, weltweit, zumindest von den anerkannt demokratischen Staaten und Gesellschaften her, einerseits die Menschenrechte zum Maßstab, zur condition sine qua non zu erklären5, zum Beispiel auch bei 4

Der deutsche Ausdruck „Völkerrecht" ist in einem gewissen Sinne blasphemisch gegenüber der Menschenwürde. Volk wird mit Staat gleichgesetzt, als ob die Regierungen primär daran interessiert gewesen seien oder es gegenwärtig seien, zum Wohle der Menschen zu handeln. „International Law", „droit international" und „derecho internacional" sind viel ehrlichere Ausdrücke.

5

Dabei ist es nur historiographisch, nicht aber weltgesellschaftlich interessant, daß besonders unter USPräsident Carter die Menschenrechte zum antikommunistischen Instrument für den Umgang mit lateinamerikanischen und sowjetischen Ansprüchen und Strategien instrumentalisiert wurden.

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der Vergabe von Entwicklungshilfe oder bei der Abwehr durchsichtiger einschränkender Menschenrechtsinterpretationen aufgrund partikularer Herrschaftsinteressen nach staatsautoritär-chinesischem oder fundamental-theokratischem Muster6, sich aber andererseits gemütlich in den Fernsehsessel zu hocken, couch potato zu spielen und massive Menschenrechtsverletzungen in anderen, meist noch rückständigen Ländern und Regionen untätig zu begaffen. Wer Rechtsnormen postuliert - und aus historischer, philosophischer wie persönlicher Überzeugung halte ich die universale Geltung und die globale Realisierung der Menschenrechte für unabdingbar - muß sich auch für ihre Durchsetzung einsetzen. Das bedeutet, das nach Jahrhunderten heftiger Kämpfe schließlich akzeptierte staatliche Gewaltmonopol auch international zu etablieren. Nun haben wir keinen Weltstaat zur Erzwingung eines legitimen Gewaltmonopols, und wir werden in überschaubarer Zeit auch keinen haben. Vielmehr kommt auf uns ein vielfach geschichtetes, über mehrere Ebenen geflochtenes Netzwerk von „Weltstaat" zu, strukturell sehr unähnlich dem Leviathan des Thomas Hobbes, funktional aber gleichwertig. Ein Superstaat nach dem Modell des herkömmlichen Nationalstaates wäre ein demokratisch nicht zu kontrollierbares Ungeheuer. Man bedenke allein die vielen legitimatorischen Vermittlungsschritte von der lokalen bis zur mondialen Ebene, die erforderlich wären, um eine derartige Weltregierung mit Legitimität und Handlungsfähigkeit auszustatten. Dennoch muß in dem zu erwartenden Netzwerk ein Weg gefunden werden, zwischenstaatliche ebenso wie terroristische und illegitime innerstaatliche Gewaltanwendung zu kontrollieren und gegebenenfalls zu bekämpfen; denn die Herstellung des Gewaltmonopols, also eines legitimen Herrschaftssystems, ist nach Norbert Elias neben der Lösung des materiellen Reproduktionssystems sowie des Problems einer geistigen Orientierung eine der drei grundsätzlichen Aufgaben, die jegliche Gesellschaft lösen muß, ob sie klein und homogen oder groß und heterogen ist - oder eben mondial. Ich weiß nicht, wie das globale Netzwerk eines Tages aussehen wird. Ich habe auch keine konkrete Vorstellung, wie in dem Netzwerk die Frage des Gewaltmonopols gelöst werden wird. Insofern sehe ich mich - sind wir alle - in der gleichen Lage wie ehedem in Europa die feudalen, absolutistischen, bürgerlich-autoritären und schließlich demokratischen Herrschaftsakteure einerseits und die rebellierenden Bauern, die gebeutelte Arbeiterklasse und schließlich auch die kolonialistisch Unterworfenen andererseits. Trotz zum Teil utopischer Zielsetzungen handelten sie wie wir nicht nach langfristigen, Generationen übergreifenden Plänen, sondern aufgrund jeweils aktueller Situationen und Interessen, und die waren in allen west-, nord- und südeuropäischen Ländern jeweils sehr unterschiedlich. Dennoch haben 6

Wie eurozentrisch und arrogant es auch klingen mag: Menschenrechte sind nicht relativierbar, weder nach Kultur oder Religion noch nach Entwicklungsstand. Allenfalls für eine Übergangszeit dürfen Einschränkungen geduldet werden, weil Menschenrechte zu ihrer Realisierung eines Mindestmaßes bestimmter politischer, sozialer und ökonomischer Infrastruktur brauchen.

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sich alle diese einzelstaatlich verfaßten Gesellschaften mehr oder weniger in der gleichen Richtung bewegt; heute unterscheiden sie sich nur noch relativ geringfügig und schließen sich über die europäische Integration immer enger aneinander. Norbert Elias hat hervorgehoben, daß dieser geschichtliche Wandel, dieser Zivilisationsprozeß nicht rational geplant war; die Veränderung „vollzieht sich als Ganzes ungeplant, aber sie vollzieht sich nicht ohne eine eigentümliche Ordnung"7. Gewiß ist nur „die Richtung, in der die Art unserer Verflechtung weitertreibt"8. Also ein ungeplanter, aber zielgerichteter Prozeß! Überträgt man diese historische Erfahrung gleichsam modellhaft auf die Weltebene unserer Zeit - ich sehe keinen triftigen Grund, dies nicht zu tun - dann müssen wir uns auf einen sehr langwierigen, konfliktreichen Weg zum Weltfrieden einstellen und dafür eine Menge Frustrationstoleranz mitbringen. Dogmatische Völkerrechtsnormen helfen dabei wenig. Hier sind Pragmatismus und - manchmal schmerzvolle - Kompromisse gefragt, wie sie die Völkerrechtsentwicklung immer wieder prägten. Vor diesem Hintergrund gehe ich nun allgemein, nicht kasuistisch auf konkrete Argumente ein, die gegen die Rechtmäßigkeit „humanitärer Interventionen", etwa der NATO im Fall des Kosovo, vorgebracht worden sind.

Die fragwürdige Legitimität des UN-Sicherheitsrates Der Vorwurf der Völkerrechtswidrigkeit der NATO-Intervention stützt sich darauf, daß die NATO und auch sonst kein Akteur ein ausdrückliches Mandat des UNSicherheitsrates hatte, der - ausgenommen im Selbstverteidigungsfall - das Monopol der Androhung und Anwendung von Gewalt zur „Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit" beansprucht. Was aber ist der Sicherheitsrat? Auf seine interessengeformte Entstehung im Gefolge des Zweiten Weltkriegs brauche ich nicht erst hinzuweisen. Offenkundig ist er keine wirklich demokratische Institution, weil in ihm aus unterschiedlichen historischen Gründen einige Mitgliedstaaten „gleicher" sind als die anderen. Die fünf sogenannten Ständigen Mitglieder China, Frankreich, Großbritannien, Rußland und die USA können nicht abgewählt werden und haben zudem ein Vetorecht. Die übrigen, von der UN-Generalversammlung turnusmäßig gewählten Mitglieder des Sicherheitsrates haben de facto nicht mehr als einen Beraterstatus, geben dem Sicherheitsrat aber nach außen einen größeren Schein von Legitimität. Wenn also eines oder mehrere Ständige Mitglieder in einem Konfliktfall den Weltfrieden und die internationale Sicherheit als nicht hinreichend bedroht definieren, weil sie ein Interventionsmandat als einen Präzedenzfall furchten, der eines Tages gegen sie selbst gewendet werden könnte, oder weil sie traditionell gute Beziehungen zum Übeltäter-Staat nicht gefährden wollen, dann ist der Sicherheitsrat - oder wie oft euphorisch formuliert wird: die Staaten7 8

Elias (1980), 313. Ebd., 438.

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gemeinschaft - handlungsunfähig. Wenn aber irgendwo aus ethnopolitischen, meist „niedrigen" Beweggründen Menschen in großer Zahl vertrieben oder gar massakriert werden und Flüchtlingsströme in andere Länder erzeugt werden, die diese nicht verkraften können, dann ist der Weltfrieden bedroht, wenngleich vielleicht nur in regionalem Ausmaß. Was dann tun? Resignieren? In einer solchen Lage sollte ein Eingriff zum Schutz der bedrohten Menschen auch ohne Mandat des Sicherheitsrates erlaubt sein. Er wäre eine legitime „Ersatzvornahme", selbst wenn nach geltendem Völkerrecht nicht legal. Dann allerdings wäre zum Beispiel ein so großes Staatenbündnis wie die NATO weit eher zur „humanitären Intervention" berechtigt als ein Einzelstaat, weil es nach Mitgliedschaft und Entscheidungsregeln trotz aller noch bestehenden Lücken und Mängel demokratisch strukturiert ist. Es darf auch nicht übersehen werden, daß im Sicherheitsrat die Gewaltenteilung als unabdingbares Erfordernis von Demokratie nicht gegeben ist. Im Gegenteil, in ihm sind Legislative, Exekutive und Judikative in einer Instanz vereinigt. Als Législateur definiert er Weltfrieden und internationale Sicherheit; als Gericht urteilt er darüber, ob ein vorliegender Konfliktfall den selbstgesetzten Kriterien entspricht oder nicht; als Exekutor befindet er über die Maßnahmen. Ich will nicht behaupten, der Sicherheitsrat sei überflüssig und verdiene keine Anerkennung. In einer ganzen Reihe von Fällen hat er zur Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit beigetragen. Aufgrund seiner oben angedeuteten Mängel sehe ich in ihm jedoch ein notwendiges Übel einer Übergangszeit zu demokratischer und effizienter Gewaltkontrolle auf Weltebene, auch wenn der Übergang lange dauern wird 9 . Für diese Übergangszeit wird auf die Machtkonzentration bei den Ständigen Mitgliedern nicht zu verzichten sein. Gewaltkontrolle, die Durchsetzung von Recht und Frieden bedarf der Verfugung über die notwendigen Machtmittel. Man stelle sich des Extrems halber nur vor, die Ständigen Mitglieder seien Andorra, Grenada, Tonga, Nepal und Togo. Betrachtet man den Sicherheitsrat als eine Übergangsform, dann darf man ihn aber auch nicht zur Instanz mit absoluter Kompetenz erklären, sondern er muß im Notfall übergangen werden können. Vielfach ist die Reformbedürftigkeit des Sicherheitsrates betont worden, und es wurden Vorschläge gemacht. Ich habe keinen Vorschlag gelesen, der sowohl die grundsätzlichen Mängel angehen oder gar beseitigen würde als auch realistisch wäre. Wir werden uns noch geraume Zeit mit der unvollkommenen Instanz einrichten müssen. Die Frage ist: Nach welchem Szenario von Interessen- und Machtkonstellation wäre es möglich oder gar wahrscheinlich, daß der Sicherheitsrat grundlegend reformiert würde und derart an weltweiter Legitimität und Durchsetzungskraft gewönne, daß keine politische Gruppe, kein Staat und kein Staatenbündnis ohne seine 9

Es sei daran erinnert, daß bis heute nicht einmal der in den Artikeln 26 und 4 7 der UN-Charta vorgesehene Generalstabsausschuß zwecks Entwurfes eines Systems von Rüstungsregelungen und z w e c k s Beratung und Unterstützung des Sicherheitsrates im Hinblick auf militärische Maßnahmen die ihm zugedachte Bedeutung erlangt hat.

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Einwilligung oder sogar sein Gebot kriegerische Gewalt anzuwenden wagen würde? Ich kann kein solches Szenario vorfuhren, halte es aber fur wahrscheinlich, daß eines Tages eine Situation eintreten wird, in der selbst die Mächtigen, also die fünf Ständigen, Macht abgeben bzw. teilen müssen10. Aus der Geschichte sind „Qualitätssprünge" bekannt, die vorher niemand erwartet hatte. Wer hätte 1618 gedacht, wie und mit welchen nachhaltigen Folgen es mit dem Westfälischen Frieden von 1648 enden würde? Wer vermutete Ende des 18. Jahrhunderts die langfristigen Auswirkungen der Napoleonischen Expansionen für die Emanzipation des europäischen Bürgertums? Wer erwartete 1917/19 die Weltlage von 1945? Selbst der rasche Zusammenbruch des Sowjetreiches kam für alle überraschend. Eines Tages wird also vermutlich der Sicherheitsrat an Demokratisierung und Gewaltteilung und damit an Legitimität gewinnen. In seiner gegenwärtigen Struktur ist seine Handlungsfähigkeit wegen des Überwiegens partikularer Interessen von Ständigen Mitgliedern nicht garantiert und somit auch kaum berechenbar. Auch diese Tatsache sollte zögern lassen, die völkerrechtliche Beurteilung einer humanitären Intervention allein vom Sicherheitsrat abzuleiten. Dazu kommt ein weiteres Argument, das die Legalisierung einer humanitären Intervention allein durch den Sicherheitsrat relativiert, aber in der öffentlichen Debatte kaum berücksichtigt worden ist. In der „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" von 1948 bestätigen die vertragsschließenden Parteien in Art. 1, „daß Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung und Bestrafung sie sich verpflichten" (Hervorhebg. von mir). Dem entsprechend hat auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag das Völkermordverbot und seine Durchsetzung als verbindliche Verpflichtung und Aufgabe aller Staaten bezeichnet11. Dabei definieren Art. 2 und 3 der Konvention den Völkermord ziemlich weit. Weil diese Definition in der Öffentlichkeit anscheinend wenig bekannt ist, sei sie hier zitiert12. Art. 2: „In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: (a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; (b) Verursachung von schwerem körperlichen oder seelischen Schaden an 10

Vor wenigen Tagen, am 26. September 2001, las ich in der Frankfurter Rundschau, daß - zwei Wochen nach den Terrorangriffen in New York und Washington - der Kongreß 582 Millionen Dollar bewilligt hat zur Bezahlung von US-Schulden bei den UN. Das erscheint als ein Indiz dafür, daß die USA die lange geübte Ignoranz gegenüber der Weltorganisation aufzugeben beginnen, weil sie merken, daß sie mit einem internationalisierten Terror von solchen Ausmaßen nicht mehr allein fertig werden. Schon im 2. Golfkrieg von 1991 brauchten sie eine große Koalition, und sei es auch nur aus symbolischen Gründen.

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Vgl. Ehrhart/Karádi (1999), 2. In der Präambel der Konvention heißt es, daß Völkermord ein Verbrechen sei, das dem Geist und den Zielen der Vereinten Nationen zuwiderlaufe und von der zivilisierten Welt verurteilt werde. Damit bezieht sie ihre Legitimität direkt aus der UN-Charta. - Die Konvention hatte übrigens auch das titoistische Jugoslawien unterzeichnet. Heinsohn (1998), 355.

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Mitgliedern der Gruppe; (c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizufuhren; (d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; (e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe. " Art. 3 besagt: „Die folgenden Handlungen sind zu bestrafen: (a) Völkermord, (b) Verschwörung zur Begehung von Völkermord, (c) unmittelbare und öffentliche Anreizung zur Begehung von Völkermord, (d) Versuch, Völkermord zu begehen, (e) Teilnahme am Völkermord. " Ein Dilemma tut sich allerdings auf hinsichtlich „Verhütung" und „Bestrafung". Welche Mittel dafür von den Staaten eingesetzt werden dürfen, läßt die Konvention offen. Für die Verhütung eines Völkermords scheint mir eine humanitäre Intervention mit militärischen Mitteln durchaus angemessen, wenn sie zielgerichtet im Sinne der Konvention operiert. Schwieriger ist das Problem der Bestrafung zu lösen. Bestrafen dürfen nur Gerichte, gemäß der Konvention sowohl einzelstaatliche als auch internationale, am ehesten ein Internationaler Strafgerichtshof. Ihm fehlen jedoch die polizeilichen Mittel, um die Verantwortlichen vor seine Schranken bringen zu können 13 , und auch die Einzelstaaten haben nur militärische Instrumente zur Verfügung. Wir haben es hier wiederum mit Schwierigkeiten zu tun, die dem Entwicklungsprozeß von Weltrecht geschuldet sind. Wesentlich ist jedenfalls, daß die Konvention jeden Unterzeichner-Staat verpflichtet, gegen Völkermord einzuschreiten, und er braucht dafür nicht einmal ein Mandat des Sicherheitsrates. Umgekehrt gesehen macht sich sogar jeder Unterzeichner-Staat der unterlassenen Hilfeleistung schuldig, der im Falle eines drohenden oder bereits im Gange befindlichen Völkermordes nicht interveniert. Die Konvention folgt schon weit mehr der Linie weltgesellschaftlicher Zivilisierung als die machtbedingte UN-Charta, soweit es den Sicherheitsrat betrifft; unter anderem deshalb, weil zwischenstaatliche Kriege, auf die die UN-Charta und UN-Struktur hin ausgelegt sind, kaum noch vorkommen, dafür aber viele innerstaatliche Kriege, häufig mit ethnopolitischen Komponenten. Und in wachsendem Maße kommt gewaltsamer Terror als Konfliktmittel hinzu.

Aus Fehlern lernen Ein weiteres Argument gegen humanitäre Interventionen ist ein situatives. Den Interventen seinerzeit im anarchischen Zerfallsprozeß Somalias wie auch den allein luftgestützten Maßnahmen der NATO 1999 gegen Jugoslawien wird vorgeworfen, sie hätten gravierende Fehler gemacht. In Somalia hatten die Interventionsstaaten nicht einmal einen hinreichenden Überblick über die wirkliche Situation im Lande und die widerstreitenden Parteien, so daß die Intervention ein schmählicher Mißer13

Wir können dieses Problem beobachten bei dem Versuch, der Kriegsverbrecher in den kroatischen und bosnischen Kriegen habhaft zu werden.

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folg wurde 14 . Wer erinnert sich nicht der schon komischen Fernsehbilder, in denen Bundeswehrsoldaten, muslimisch verkleidet, im Training den unverkleideten Soldaten konfrontiert wurden. Im Kosovo wäre die Intervention vermutlich glaubwürdiger, zielgerichteter und hinsichtlich ziviler „Kollateralschäden" schadensärmer verlaufen, wenn die NATO, statt sich nur auf Luftangriffe zu verlassen, ab März 1999 sofort Bodentruppen eingesetzt hätte. Vor letzterem hatten die Regierungen Angst; denn es hätte ja ein Soldat der „Unseren" von serbischen Militärs oder Sicherheitskräften oder von UCK-Rebellen erschossen werden können. Solche Angst ist verständlich, aber nicht zu billigen, wenn ihretwegen unbeteiligte Zivilisten zu leiden haben oder ums Leben kommen. In allen Interventionen sind Fehler gemacht worden. Sei es, daß die Situation falsch eingeschätzt wurde; sei es, daß die falschen Mittel oder nur einseitig Mittel eines bestimmten Typs eingesetzt wurden; sei es, daß die gebotene Verhältnismäßigkeit der eingesetzten Mittel nicht gewahrt wurde usw. Solche Fehler sind zu verurteilen und gegebenenfalls zu ahnden. Aber in der Übergangsphase, in der wir uns befinden, sind Fehler unvermeidlich. Es gibt kaum Erfahrungen über das angemessene Verhalten, Vorgehen und Verhandeln in Situationen, die eine humanitäre Intervention erfordern. Das muß wirklich erst erlernt werden. Auch fehlen die angemessenen Instrumente und Strategien. Bislang wurde fast ausschließlich Militär fur humanitäre Interventionen eingesetzt. Es ist dafür ungeeignet. Einerseits sind Militärs auf Verteidigen, Zerstören, Töten, Vernichten hin ausgerichtet und entsprechend trainiert und ausgerüstet. Gefordert sind jedoch polizeiliche Funktionen und Fähigkeiten. Es bedarf nicht nur einer schnellen Eingreiftruppe, die EU und NATO aufbauen, sondern - und mehr noch - einer geschulten Polizeitruppe, deren prinzipielle Aufgaben Schützen, Trennen der Gegner, Entwaffnen, Vermitteln lauten15. Leider zeigten die Gesichter der Offiziere, denen ich solches in der Führungsakademie der Bundeswehr einmal vortrug, wenig Begeisterung. Sie sollten Polizisten werden? Eventuell sogar Streife gehen? Pfui Deibel! Das lag unter ihrer Würde. Doch gerade die polizeiliche Funktion wird ihnen in Zukunft abgefordert werden und zugleich Ansehen einbringen. Das erfordert allerdings grundlegende Änderungen in Ausbildung, Einstellung und Ausrüstung des Militärapparats jeder beteiligten Nation. Es sind sicherheits- und friedensstiftende Apparate und Menschen gefordert, die lernfähig sind, denen das Erlernen von und Lernen an neuen Situationen im Umgang mit der gesellschaftlichen Umwelt gleichsam zur intrinsischen Motivation wird. Dafür sollten sie auch viel besser bezahlt werden. 14

Fehleinschätzung der Lage ist einer der gröbsten Fehler, den die USA in Vietnam und die UdSSR in Afghanistan bitter bezahlen mußten. Besonders die USA unterstützen immer die falschen Freunde, wie sie jetzt wieder durch die Terrorangriffe seitens der Osama bin Laden-Gruppe erfahren mußten; sie handeln nach dem altindischen Kautilya-Theorem: meines Feindes Feind ist mein Freund. Solche uralte Politmechanik eignet sich nicht mehr in einer hochdifferenzierten Weltgesellschaft.

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Provokateure sowie Ordnungskräfte, die vor allem schwache, friedliche Demonstranten niederknüppeln, wie ζ. B. im Juli 2001 in Genua anläßlich des G7-Gipfels, können allerdings kein Vorbild sein.

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Im Falle der Kosovo-Intervention ist auch argumentiert worden, erst die Intervention habe die Flüchtlingsströme ausgelöst und die Vertreibungen durch Jugoslawien angeheizt. Das stimmt so nicht, wie inzwischen bekannt ist. Es gab vor den Luftangriffen Vertreibungen in einem Ausmaß, das ein Eingreifen von außen dringlich gebot. Doch unabhängig von dieser speziellen Sachlage gibt es hier ein praktisches Problem: Welches Ausmaß von Menschenrechtsverletzungen muß erreicht sein, um eine Intervention zu rechtfertigen? Hierfür existiert bisher kein objektives Kriterium, und ich weiß auch nicht, wie es aussehen könnte. Bleibt also nur eine fallweise subjektive Feststellung zum Beispiel durch den Sicherheitsrat 16 , was aber zurückführt zu den genannten Problemen mit dieser Instanz. Mit diesem Problem verbindet sich ein zeitliches: Wie lange darf mit einer humanitären Intervention abgewartet werden? Erfolgt sie sehr früh und wehrt den Anfängen, riskiert sie den Vorwurf der UnVerhältnismäßigkeit. Erfolgt sie zu spät, verfehlt sie den Zweck oder gerät in eine heillos verfahrene Situation. Diesem praktischen Dilemma kann wohl nur begegnet werden, indem differenzierte, sorgfältig abgestufte Interventionsmethoden entwickelt und eingeübt werden.

Warum hier und nicht auch dort? Gegen die Kosovo-Interventionen wurde oft der Vorwurf erhoben, daß eine Rechtsnorm nicht selektiv angewandt werden dürfe. Anders gesagt: Warum wurde in Somalia, in Kambodscha, in Haiti, in Osttimor, im Kosovo-Fall humanitär interveniert, aber nicht in Ruanda, als dort Hunderttausende massakriert wurden; nicht in das Kampuchea des Pol Pot-Regimes, das Millionen von Menschen aus ideologischen Gründen abschlachtete; nicht in das Chile der Pinochet-Diktatur; nicht in die gegenwärtigen Kongo-Kriege, in denen Menschenrechte massenweise verletzt werden; nicht in Palästina, wo verbohrte israelische und palästinensische Falken und Fundamentalisten sich immer wieder gegenseitig aufheizen; nicht in Tschetschenien, nicht in China und ... und ... und ... Der Vorwurf ist absolut berechtigt, nur trägt er nicht als Argument gegen tatsächlich stattgefundene bzw. stattfindende Interventionen. Die selektive Anwendung ist zwei Umständen der weltgesellschaftlichen Evolution geschuldet. Erstens können sich aufgrund der sehr ungleichen Machtverteilung in der Staatenwelt, verbunden mit dem noch stark vom territorialstaatlichen Souveränitätskriterium bestimmten Völkerrecht, einzelstaatliche Interessen gegen globale Gemeinwohlinteressen durchsetzen. Damit zusammenhängend, stehen zweitens noch nicht genug Ressourcen zur Verfugung, um mehr oder weniger gleichzeitig an allen Stellen der Welt einzugreifen, wo Menschenrechte massiv verletzt werden. Humanitäre Interventionen werden bislang und leider wohl noch 16

So hatte der Sicherheitsrat schon in Resolutionen vom 31. März 1998 und 23. September 1998 auf die besorgniserregenden Menschenrechtsverletzungen durch serbische Sicherheitskräfte und die jugoslawische Armee hingewiesen.

„ V Ö L K E R R E C H T S W I D R I G ! " - Ü B E R L E G U N G E N EINES FRIEDENSFORSCHERS

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auf absehbare Zeit hin nur dort vorgenommen, wo die Interessen machtvoller Akteure berührt werden. Rechtssystematisch und rechtspolitisch ist das nicht in Ordnung, aber auch die Entwicklung von Rechtsstaatlichkeit in den demokratischen Gesellschaften vollzog sich historisch nicht auf einer geradlinigen, in sich logisch konsequenten, „gerechten" Bahn.

Keine Deutschen an die Front Zuletzt möchte ich noch einen Vorwurf aufgreifen, der besonders ärgerlich ist: wegen seiner historischen Schuld - Beginnen zweier imperialistischer Weltkriege; die unmenschlichen Taten des NS-Regimes gegen die Juden und andere Minderheiten sowie gegen die Zivilbevölkerung in besetzten Gebieten - sei die Beteiligung deutscher Soldaten an humanitären Interventionen gleichsam verboten. Ein deutscher Alleingang wäre natürlich absolut verheerend, doch ist er ebenso absolut ausgeschlossen. Es mag auch Situationen geben, in denen politische Klugheit anrät, kein deutsches Militär einzusetzen an bestimmten Orten, an denen das Wüten von SS und Wehrmacht ein tiefsitzendes Trauma in der Bevölkerung hinterlassen haben; denn sonst würde dort die Glaubwürdigkeit der humanitären Absichten gefährdet. Darüber hinaus aber kann es nicht angehen, daß die Bundesrepublik sich abseits stellt und die Interventionskräfte anderer Staaten die Kastanien aus dem Feuer holen läßt. Oder man stellt sich auf den unmenschlichen, menschenrechtswidrigen Standpunkt, daß eine humanitäre Intervention unter gar keinen Umständen statthaft sei.

Dem Völkerrecht stehen schwere Zeiten bevor Bloß gesinnungsethischer Pazifismus ist fatal. Ich erinnere die apodiktische Äußerung einer politischen Person am 20. August 2001 in der ARD-Tagesschau. Es ging um die Entscheidung, im Rahmen einer NATO-Aktion Bundeswehrsoldaten nach Mazedonien zu entsenden, um Waffen der UCK, die gegen Mazedonien gekämpft hatte, einzusammeln. Es ging also um eine ausgesprochen polizeiliche Aufgabe. Die Person begründete ihre Ablehnung der Entscheidung so: „Deutsche Außenpolitik muß Friedenspolitik sein. Ein militärischer Einsatz in Mazedonien ist keine Friedenspolitik. " Das zu sagen ist entweder anarchistisch oder dumm. Auch der Pazifismus muß sich der Folgen seines Handelns bewußt sein, sich also verantwortungsethisch einstellen und verhalten, sozusagen als wehrhafter Pazifismus. Das Völkerrecht hat sich von seinem Ursprung als Machterhaltungsrecht immer mehr zu einem Friedensbewahrungsrecht entwickelt, ist aber von umfassender und durchgreifender Wirksamkeit noch weit entfernt, weil sich die Welt schneller ändert als das Völkerrecht. Zugleich formen die völkerrechtlich abgesicherten Menschenrechte eine wachsende Herausforderung an das Völkerrecht. Und der internationalisierte Terrorismus, der am 11. September 2001 seine bisher extreme Ungeheuerlichkeit

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erreicht hat, wird vom Völkerrecht allein nicht zu packen sein, weil die Terroristen keine Staaten sind, wenngleich sie staatlicher Territorien als Operationsbasis und wohl auch der Rückendeckung bestimmter Staaten bedürfen. Jede völkerrechtlich begründete Anklage gegen eine humanitäre Intervention muß sich also vor-sichtig, um-sichtig und voraus-sichtig ihrer Argumente vergewissern in einer Welt, die gerade in unseren Zeiten gewaltige strukturelle Umwälzungen erfährt. Zu den negativen Begleiterscheinungen dieser Umwälzungen gehört die um sich greifende Privatisierung von Gewalt 17 . Sie muß überwunden werden, und sie wird überwunden werden.

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Vgl. dazu Münkler (2001 ).

„VÖLKERRECHTSWIDRIG!" - ÜBERLEGUNGEN EINES FRIEDENSFORSCHERS



Literaturangaben

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Ehrhart, Hans Georg/Karádi, Matthias Z. (1999): Krieg auf dem Balkan. Lage, Interessen, Optionen, Lehren und Perspektiven. In: Hamburger Informationen zur Friedensforschung und Sicherheitspolitik, hrsg. v. Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, Nr. 27, Mai 1999. Elias, Norbert (1980): Über den Prozeß der Zivilisation. 3. Aufl., 2. Band, Frankfurt a. M. : Suhrkamp. Gantzel, Klaus Jürgen, Hrsg. (1975): Herrschaft und Befreiung in der Weltgesellschaft. Frankfurt a. M. / New York: Campus Verlag. Ders. (1996): Trends der globalen Entwicklung. Gefährdungen und Chancen in der Weltgesellschaft. In: Globale Krisen und europäische Verantwortung - Vision für das 21. Jahrhundert, hrsg. v. Martina Haedrich und Werner Ruf. BadenBaden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1996, S. 13-23. Ders. (1997): Kriegsursachen - Tendenzen und Perspektiven. In: Ethik und Sozialwissenschaften, hrsg. v. Frank Benseier u. a., Opladen: Westdeutscher Verlag, 8. Jahrg., Heft 3, S. 257-341. Heinsohn, Gunnar (1998): Lexikon der Völkermorde. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Lutz, Dieter S./Mutz, Reinhard (2001): Zum zweiten Jahrestag des Kosovo-Krieges. Mehr Probleme als Lösungen, mehr Fragen als Antworten. Offener Brief an die Abgeordneten des Deutschen Bundestages, abgedruckt in Frankfurter Rundschau vom 24. März 2001. Münkler, Herfried (2001): Die brutale Logik des Terrors. In: SZ am Wochenende, Beilage der Süddeutschen Zeitung, 29. /30. September 2001, S. I. Siegelberg, Jens (1994): Kapitalismus und Krieg. Eine Theorie des Krieges in der Weltgesellschaft. Münster / Hamburg: Lit-Verlag. Weber, Hermann (2000): Paradigmenwechsel im Völkerrecht? Die Frage der Legalität der NATO-Lufitangriffe auf Jugoslawien unter dem Gewaltverbot der UNCharta. In: Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem Westfälischen Frieden, hrsg. v. Jens Siegelberg / Klaus Schlichte. Opladen: Westdeutscher Verlag, 2000, S. 378-416.

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Diese Literaturangaben umfassen nicht alle Texte und Quellen, die ich konsultiert habe. Besondere Anregungen und auch Bestätigungen meiner Auffassung verdanke ich, ohne ausdrücklich auf deren Quelle hinzuweisen: Gert Krell, Vorhang auf und alle Fragen sind geschlossen? Anmerkungen zur Diskussion über den Kosovo-Krieg, Frankfurter Rundschau vom 17. August 2001, und Egbert Jahn, „Nie wieder Krieg! Nie wieder Völkermord!" Der Kosovo-Konflikt als europäisches Problem. Untersuchungen des FKKS (Forschungsschwerpunkt Konflikt- und Kooperationsstrukturen in Osteuropa an der Universität Mannheim), Nr. 23/1999, ferner verschiedenen Stellungnahmen und Papieren der Bundestagsabgeordneten Gernot Erler und Winfried Nachtwei aus dem Zeitraum März bis Juni 2001.

DIETER SENGHAAS

Der aufhaltsame Sieg der Menschenrechte

Am 10. Dezember 1948, also vor mehr als 50 Jahren, wurde mit der Resolution 217 (III) der Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. 1 Schon die Vorgeschichte dieser Erklärung war durch erhebliche Kontroversen geprägt. Im wesentlichen kollidierte das liberale und das realsozialistische Verständnis von Menschenrechten; einige islamische Staaten hatten vor allem Vorbehalte gegen den Artikel 18 der Erklärung, in dem das Recht jedes Menschen auf Gewissens- und Religionsfreiheit festgehalten wurde, auch die Freiheit, „seine Religion oder seine Überzeugung zu wechseln". Diese Kontroversen setzten sich in den nachfolgenden achtzehn Jahren fort, während derer die Menschenrechtskommission an völkerrechtlich verbindlichen Übereinkommen arbeitete, die dann 1966 in Gestalt von zwei Menschenrechtskonventionen, dem Bürgerrechtspakt (über bürgerliche und politische Rechte) und dem Sozialpakt (über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) verabschiedet wurden. Da die beiden Jahrzehnte nach 1948 in der internationalen Politik durch den Kampf um Dekolonisierung und also das Recht auf Selbstbestimmung der Völker sowie auf eine eigenständige wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung geprägt wurden, fanden entsprechende Forderungen ebenfalls Eingang in die genannten Dokumente. Beide Pakte beginnen wortgleich in Artikel 1 mit der Feststellung: „Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung". Neben vielen anderen Aussagen deutet allein schon dieser erste Satz darauf hin, daß Menschenrechte nicht nur eine individual-, sondern auch eine kollektivrechtliche Dimension haben.

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Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Menschenrechte. Dokumente und Deklarationen, Bonn 1995 2 . In diesem Band finden sich auch die im folgenden zitierten Dokumente.

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I Ausgehend von diesen frühen Kontroversen, die sich auch nach 1966 fortsetzten, läßt sich inzwischen der operative Stellenwert von Menschenrechten in politischen und gesellschaftlichen Prozessen innerhalb von Gesellschaften und auf internationaler Ebene wie folgt festhalten: Der Verweis auf Menschenrechte, insbesondere natürlich auf die bürgerlichen und politischen Rechte, hat zum Ziel, staatliche Willkür abzuwehren. Entsprechende Rechte dienen der Sicherung individueller Autonomie, letztendlich der Unantastbarkeit „menschlicher Würde". In dieser Argumentationsfigur wird eine Rechtsgemeinschaft vorausgesetzt, weil vorgängig die potentielle Willkür von Privaten gegen Private durch die „Herrschaft des Rechts" und damit die Existenz eines Gewaltmonopols des Staates als beseitigt gilt. Die Herrschaft des Rechts und das Gewaltmonopol sind aber nur dann Inbegriff und Ausdruck einer Rechtsgemeinschaft, wenn Recht auf demokratischem Wege zustande kommt und es verfassungsmäßig festgelegte Vorkehrungen gibt, das einmal vorhandene Recht im Lichte neuer Bedürfnisse weiterzuentwickeln. 2 Die immer erneut erforderliche, wenngleich notwendigerweise kontrovers bleibende Verwirklichung von Menschenrechten ist damit auf die Existenz eines gewaltenteiligen demokratischen Verfassungsstaates angewiesen. Folglich ist der Kampf um Menschenrechte immer auch ein Kampf um Institutionalisierung moderner Demokratie, die trotz identischer Prämissen (Gewaltenteilung, Prinzip der Öffentlichkeit, Versammlungsfreiheit, etc.) ganz unterschiedliche Ausprägungen kennt.3 Neben dem Schutz vor staatlicher Willkür und der rechtsstaatlich geordneten Weiterentwicklung von Recht dient der Verweis auf Menschenrechte heute vor allem auch dazu, Diskriminierungen jeglicher Art zu identifizieren und zu überwinden. Der Menschenrechtsdiskurs ist in dieser Hinsicht, übrigens ganz im Sinne der Erklärung von 1948 und der beiden Pakte von 1966, zu einem Antidiskriminierungsdiskurs geworden. Dabei geht es nicht nur um politische Diskriminierung, sondern um die solcher zugrunde liegende soziale, ökonomische und kulturelle Benachteiligung: Ziel ist die Überwindung einer institutionell verfestigten Ordnung, die Ungleichheiten systematisch produziert und damit der Chancengleichheit von Menschen elementar zuwiderläuft. Damit wird in realen Lagen chronischer Benachteiligung der Verweis auf Menschenrechte zu einem Hebel des Protests und

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Über den Zusammenhang von „Rechtsunruhe" und „Rechtsfortbildung" im Kontext einer die Rechtsfortbildung erlaubenden Rechtsordnung siehe die hellsichtigen Überlegungen von Sigmund Freud in seinem Brief vom September 1932 an Albert Einstein, wiederabgedruckt in: Albert Einstein, Über den Frieden, Bern 1975, 208ff. Ich habe einschlägige historische und strukturelle Gesichtspunkte über den angesprochenen Sachverhalt im sogenannten „Zivilisatorischen Hexagon" zusammengefaßt. Vgl. Dieter Senghaas, Wohin driftet die Welt?, Frankfurt/M. 1994, 17ff.

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gegebenenfalls der Befreiung. 4 So legt beispielsweise der Artikel 27 des Bürgerrechtspaktes fest: „In Staaten mit ethnischen, religiösen oder sprachlichen Minderheiten darf Angehörigen solcher Minderheiten nicht das Recht vorenthalten werden, gemeinsam mit anderen Angehörigen ihrer Gruppe ihr eigenes kulturelles Leben zu pflegen, ihre eigene Religion zu bekennen und auszuüben oder sich ihrer eigenen Sprache zu bedienen." An Bestimmungen wie dieser hat man oft die „kollektivistische" Orientierung kritisiert. Aber diese Kritik ist unzutreffend, denn wie die Geschichte lehrt, läßt sich wie im Falle von diskriminierten Minderheiten kollektive Diskriminierung in aller Regel nicht allein durch Individualmaßnahmen beheben. Vielmehr sind gerade dann gruppenrechtliche Vorkehrungen und Kollektivmaßnahmen erforderlich, um dem individualrechtlich orientierten Artikel 2 der Erklärung Genüge zu tun: „Jeder Mensch hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten, ohne irgendeine Unterscheidung, wie etwa nach Rasse, Farbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer und sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, nach Eigentum, Geburt oder sonstigen Umständen."

Der Schutz des Individuums läßt sich rechtlich fixieren, so auch das Verbot von Diskriminierung. Diskriminierung kann überdies durch entsprechende Verfassungsregelungen (wie der Sicherung von Minderheitenrechten), aber auch durch allgemeine Fördermaßnahmen überwunden werden. 5 Jenseits dieser wichtigen und grundlegenden Orientierungspunkte stehen Menschenrechte im allgemeinen für eine gesellschaftliche Ordnung, in der es gezielte Vorkehrungen dafür gibt, daß die Würde des Menschen in politischer, rechtlicher, ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht überhaupt eine Chance hat. Die grundlegenden Menschenrechtsdokumente lassen keinen Zweifel darüber aufkommen, daß ihnen die Vorstellung einer „menschenwürdigen Gesellschaft" zugrunde liegt. Schon in der Erklärung von 1948 ist von vielem, manche würden sagen von zu vielem, die Rede: so von der Freiheit der Eheschließung und dem Schutz der Familie, von sozialer Sicherheit und dem Recht auf Arbeit und gleichen Lohn, sogar vom „Anspruch auf Erholung und Freizeit sowie auf eine vernünftige Begrenzung der Arbeitszeit und auf periodischen, bezahlten Urlaub" (Art. 24). Schließlich finden sich Bestimmungen über die Freiheit des Kulturlebens, wenn es in Art. 27 heißt: „Jeder Mensch hat das Recht, am kulturellen Leben der Gemeinschaft frei teilzunehmen, sich der Künste 4

Vgl. hierzu auch Norberto Bobbio, Das Zeitalter der Menschenrechte. Ist Toleranz durchsetzbar?, Berlin 1998; vgl. auch (grundlegend) Thomas H. Marshall, Bürgerrechte und soziale Klassen, Frankfurt/M. 1992.

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Vgl. hierzu Ulrich Schneckener/Dieter Senghaas, Auf der Suche nach friedlicher Koexistenz. Modelle zur Bearbeitung ethno-nationaler Konflikte in Europa, in: Arbeitspapier, Nr. 8, 1997 des Instituts für Interkulturelle und Internationale Studien, Universität Bremen; Michael Walzer, On Toleration, London 1997.

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zu erfreuen und am wissenschaftlichen Fortschritt und dessen Wohltaten teilzuhaben." Solche allgemeinen Festlegungen bedürfen natürlich der Konkretion. Daß es im Hinblick auf Vorstellungen über eine menschenrechtlich inspirierte „menschenwürdige Gesellschaft" unendlich viele Kontroversen gibt, ist nun nicht von Nachteil, sondern erweist sich für die Idee der Menschenrechte geradewegs als Lebenselixier. Die Erweiterung und Vertiefung der Menschenrechtsidee - von den Rechten zum Schutze des Individuums und gegen die Diskriminierung von Gruppen bis hin zu den positiven Vorstellungen einer Gesellschaft, auch einer internationalen Ordnung auf der Höhe von Menschenrechten - wären niemals zustande gekommen, wenn es jemals eine in sich kohärente Blaupause für Menschenrechte gegeben hätte. Je länger der Menschenrechtsdiskurs anhält und je internationaler er wird, umso mehr konkretisieren sich Menschenrechte über die Kontroversen, die sie provozieren. Diese Entwicklung ist durchaus zu begrüßen. 6

II Nun hat man innerhalb des Westens, aber auch jenseits des Westens, dann allerdings mit antiwestlichem Affekt, Menschenrechte als ein typisches Gewächs europäischer Kultur interpretiert. Diese Selbstwahrnehmung und Interpretation von außen sind in der Tendenz korrekt, denn Menschenrechte, wie sie heute verstanden werden, sind ein Produkt europäischer Entwicklung. Aber was heißt hier „europäische Kultur" oder „europäische Entwicklung"? Läßt man die europäische Kultur mit der griechischen Antike beginnen, so wäre sie in etwa 2500 Jahre alt. Aber nur in den letzten 250 Jahren spielte die Idee der Menschenrechte für die europäische Kulturentwicklung eine entscheidende Rolle. Auch der politische Kampf um die Durchsetzung von Menschenrechten ist auf diesen Zeitraum begrenzt. Und da es dabei um einen wirklichen Kampf ging, ist die These nicht abwegig, derzufolge die Menschenrechte gegen die eigene Tradition, die sich in den Jahrhunderten davor formiert hatte, durchgesetzt werden mußten. Was wir heute mit Menschenrechten inhaltlich verbinden, ist also ganz offensichtlich nicht in die ursprünglichen „Kulturgene" Europas eingepflanzt gewesen. Der größte Teil europäischer Geschichte, auch der Kulturgeschichte, dokumentiert keine besonderen Sympathien für das, wofür Menschenrechte heute stehen. Und es ist auch ziemlich abwegig zu unterstellen, die europäische Geschichte hätte aus innerer Logik zwangsläufig in einen Sieg der Idee der Menschenrechte münden müssen. Allein schon die Geschichte der Menschenrechte selbst dokumentiert, daß dem nicht so ist. So sprechen die Menschenrechtserklärungen des späten 18. Jahrhunderts zwar von dem Menschen. Aber in Wirklichkeit wurde mit diesem Begriff im-

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Vgl. hierzu Johan Galtung, Menschenrechte - anders gesehen, Frankfurt/M. 1994.

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mer nur ein Ausschnitt der Menschheit gemeint: Lange Zeit war nicht gemeint, wer nicht über Bildung und Eigentum verfugte; nicht gemeint waren die Frauen, auch nicht die Kinder, schon gar nicht Farbige oder Sklaven. Ohne Skrupel blieben sie alle einfach ausgegrenzt; manchmal gab es jedoch in Philosophie und politischer Theorie besonders aufwendige Begründungen für solche Ausgrenzung, an die man sich ebenfalls als einen Ausdruck europäischen Kulturgutes erinnern sollte.7 Und was ausgrenzend einsetzte, wurde nicht inklusiv, weil es von Ausgrenzung zur Inklusion eine innere Logik gibt, sondern weil im Laufe der Zeit die Ausgeschlossenen nicht länger bereit waren, ausgeschlossen zu bleiben, und sie vielmehr gleiche Rechte einforderten - bis schließlich die Idee obsiegte, daß bei einem Verweis auf Menschenrechte alle Menschen ungeachtet ihrer konkreten Ausprägungen gemeint sind. Was für uns heute also fur selbstverständlich gilt und was durch Verweis auf die christliche Vorstellung von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen für die europäische Geschichte als immer schon selbstverständlich geltend behauptet wird, war während neunzig Prozent dieser Geschichte überhaupt nicht geschichtsbestimmend: Die alteuropäische öffentliche Ordnung Europas war autokratisch-ständisch geprägt, überdies korporatistisch-kollektivistisch; 8 über viele Jahrhunderte hinweg sucht man in ihr vergebens das „autonome Individuum", wie es in modernen Menschenrechtsdokumenten Eingang gefunden hat.9 Und noch weit in das 19. Jahrhundert hinein waren viele europäische Gesellschaften trotz der Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts durch eine standesmäßige Gliederung mit jeweils nach Ständen unterschiedlich definierten Rechten und Pflichten der Individuen gekennzeichnet. Das abstrakte Individuum des Art. 1 der Erklärung von 1948 („Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren"), also das Individuum ungeachtet von Geschlecht, Alter, Hautfarbe usf., existierte im größten Teil europäischer Geschichte überhaupt nicht. Die Idee eines solchen Individuums qua Rechtsfigur entstand erst in Auseinandersetzung mit unerträglich werdenden gesellschaftlichen Verhältnissen der Ungleichheit, angesichts von krasser Privilegierung und krasser Ausbeutung, von protzigem Reichtum und Armut, aber auch angesichts neuer allermeist bürgerlicher Schichten, die die überkommene ständisch-feudale Ordnung, das ancien régime, als mit den eigenen Aspirationen unvereinbar emp-

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Eine diesbezügliche Fundgrube über die merkwürdigsten Konzeptualisierungen der Rechtsstellung von Frauen in europäischen Gesellschaften, auch der skandalös-langsamen und widerborstigen Zugeständnisse im Hinblick auf die rechtliche Emanzipation von Frauen, ist jetzt: Ute Gerhard (Hg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart, München 1997. Vgl. zusammenfassend den eindrucksvollen Artikel von Thomas Nipperdey, Der Umbruch zur Bürgerlichen Gesellschaft seit der Amerikanischen und Französischen Revolution, in: Klaus W. Hempfer/Alexander Schwan (Hg.), Grundlagen der politischen Kultur des Westens, Berlin 1997, 1 6 9 - 1 8 9 . Vgl. hierzu jetzt auch die Beiträge von Thomas Göller und Matthias Kaufmann in: Thomas Göller (Hg.), Philosophie der Menschenrechte, Göttingen 1999.

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fanden. Aus solcher Konstellation erwuchs jene kulturelle und politische Sprengkraft wider die eigene europäische Tradition, die schließlich und endlich die Menschenrechtsidee als geschichtsmächtig werdende politische Kraft auf den Weg brachte. Natürlich hat jede weitreichende Idee punktuelle geistige Vorläufer. Aber erst in einer relativ späten Phase europäischer Entwicklung gelang es, in Geist und danach in politischer Realität den standesmäßig verorteten Menschen, der nur eine standesmäßig vorgezeichnete ungleich definierte Freiheit und Würde besaß, zum Menschen per se zu befreien. Erst dann, und wie gesagt, in völligem Kontrast zur langen Geschichte Europas wurden alle Menschen als prinzipiell gleich und frei begriffen. 10 Die Menschenrechtsidee bezeichnet damit auch in der europäischen Geschichte eine tiefgreifende Zäsur. Sie ist viel tiefgreifender, als in jenen Argumenten unterstellt wird, die die Menschenrechte - ihre Verankerung in Verfassungsordnungen und in Gesellschaftspolitik - als Ausdruck immerwährender europäischer Kultur, ja geradewegs als finales Ergebnis immer schon uranfänglich angelegter Kulturmerkmale beschreiben. Demgegenüber ist festzuhalten: Die Menschenrechte waren Europa nicht in die Wiege gelegt, so daß nur zu warten war, bis irgendwann einmal Europa das Stadium des Erwachsenseins erreicht haben würde. Sie waren vielmehr in Zeiten eines tiefgreifenden Umbruchs das Ergebnis öffentlicher Erregungen auf Massenbasis\ das Werk von Umstürzlern in Geist und Tat und von Sozialrevolutionären Bewegungen, einst des Bürgertums, dann der Arbeiterbewegung an ihrer Spitze. Frauen und Randgruppen folgten. Das also ist die wirkliche Geschichte der Menschenrechtsidee und ihrer Übersetzung in eine öffentliche Ordnung, die wir heute als „typisch europäisch-westliche" begreifen." Diese Ordnung hat sich im Bereich der OECD-Gesellschaften erst nach 1945 stabilisiert, und sie ist erst danach samt der ihr zugrunde liegenden politischen Kultur zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Davor hat jede der westlichen Gesellschaften aufje eigene Art einen Kampf gegen die eigene Tradition durchfochten.12 Eigentlich müßte es gerade in Deutschland leichtfallen, sich dieses Tatbestandes zu erinnern, da es doch hier bis in die 50er Jahre dieses Jahrhunderts markante Geistesströmungen und politische Bewegungen gab, die sich ausdrücklich gegen die Errungenschaften einer politischen Kultur aussprachen, die wir heute als „westlich" begreifen. So war beispielsweise Thomas Mann kein Exzentriker, sondern ziemlich repräsentativ für eine heute anachronistisch anmutende vorherrschende Geistes10 11 12

Vgl. hierzu neuerdings Hans Maier, W i e universal sind die M e n s c h e n r e c h t e ? , Freiburg 1997. Vgl. hierzu j e t z t a u c h die eindrucksvolle M o n o g r a p h i e von Heiner Bielefeldt, P h i l o s o p h i e der M e n schenrechte. G r u n d l a g e n eines weltweiten Freiheitsethos, D a r m s t a d t 1998. Vgl. Dieter Senghaas, Zivilisierung w i d e r Willen. Der K o n f l i k t der Kulturen mit sich selbst, F r a n k f u r t / M . 1998 2 (engl. A u s g a b e : T h e Clash Within Civilizations. C o m i n g to T e r m s with Cultural C o n f licts, L o n d o n 2 0 0 1 ) .

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Strömung in Deutschland, wenn er 1918 über den Gegensatz Deutschlands zum Westen schrieb, daß Demokratie dem deutschen Wesen „fremd und giftig sei": „Ich bekenne mich tiefüberzeugt, daß das deutsche Volk die politische Demokratie niemals wird lieben können, und daß der vielverschrieene ,Obrigkeitsstaat' die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt." Und weiterhin heißt es bei diesem damals schon weltberühmten Schriftsteller dieses Landes: „Wessen Bestreben es wäre, aus Deutschland einfach eine bürgerliche Demokratie im römisch-westlichen Sinne und Geiste zu machen, der würde ihm sein Bestes und Schwerstes, seine Problematik nehmen wollen, in der seine Nationalität ganz eigentlich besteht. Der würde es langweilig, klar, dumm und undeutsch machen wollen und also ein Anti-Nationalist sein, der darauf bestünde, daß Deutschland eine Nation in fremdem Sinne und Geiste würde". 13 Das war vor 80 Jahren so geschrieben - von einem der angesehensten Vertreter „deutschen Geistes".

III Eine realistische Betrachtung der europäischen Entwicklung, die den europäischen Konflikt um Menschenrechte gegen die eigene Tradition wahrnimmt, ist auch fur ein Verständnis der Menschenrechtsproblematik außerhalb Europas und des Westens von Bedeutung. Dort wiederholen sich nämlich die aus der jüngsten europäischen Geschichte bekannten Auseinandersetzungen. Alle außereuropäischen Gesellschaften befinden sich heute in einem tiefgreifenden Umbruch. Darüber pluralisieren sie sich intern. Die Folge davon ist, daß Traditionen wegbrechen und Neuorientierungen überfallig werden. Es entstehen innere Kulturkonflikte, bei denen es letztlich um die Zukunft der öffentlichen Ordnung geht. Die Menschenrechtsproblematik gewinnt darin eine besondere politische Brisanz. Die Konfliktfronten liegen dabei relativ klar: Manche wollen Europa imitieren, andere die alte Tradition revitalisieren. Wieder andere glauben, moderne Technologien mit alten Werten kombinieren zu können. Auf wenig erstaunliche Weise wiederholen sich auch die Argumentationsfronten, die im späten 18. und während des 19. Jh. in Europa zu beobachten waren: Individuelle Menschenrechte werden als eine Bedrohung überkommener Werte, eigener Kultur und Tradition, vor allem aber auch von gängiger Wohlanständigkeit begriffen. Demgegenüber sind die Verfechter von Menschenrechten nicht mehr bereit, sich autokratischen oder despotischen Regimen, ökonomischer Ausbeutung oder auch sozialer und kultureller Diskriminierung zu beugen. Es sind Mißstände gravierender Art, die die Idee der Menschenrechte jeweils vor Ort auf die Tagesordnung bringen, und darüber geraten auch außerhalb Europas

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Thomas Mann, Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Frankfurt/M. 1956, 29, 46f.

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die althergebrachten Ordnungen und Kulturen mit sich selbst in Konflikt. In Ostasien, Südostasien, Südasien und im weiten Bereich islamischen Einflusses werden Kulturen korporatistisch-kollektivistischer, patriarchaler und paternalistischer Ausrichtung fragwürdig. Hier wiederholt sich eine geschichtliche Erfahrung Europas. 14 Der Vorgang ist nicht geschmeidig und schon gar nicht folgt er einer Linearität. Er läßt widerborstige fundamentalistische Bewegungen entstehen, denen Menschenrechte allermeist zuwider sind.15 Aber gleichzeitig verbreiten sich auch politische Bewegungen, die sich die Verwirklichung von Menschenrechten, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie zum Ziel gesetzt haben. 16 Natürlich sind in Gesellschaften mit relativem Entwicklungserfolg die Aussichten für Menschenrechte und Demokratie größer als in Gesellschaften, die sich in einer chronischen Entwicklungskrise ohne derzeitige Aussicht auf Lösung befinden. Darin liegt der Unterschied, beispielhaft formuliert, zwischen Taiwan und Ägypten.

IV Noch weit in dieses Jahrhundert hinein wurden in Deutschland antiwestliche „deutsche Werte" verfochten. Noch bis vor kurzem wurden im Realsozialismus „sozialistische Werte" gegen bürgerliche ausgespielt. In islamischen Gesellschaften werden heute „islamische Werte" propagiert. Und die Autokraten Asiens, aber auch die fundamentalistischen Autoren im arabisch-islamischen Raum argumentieren heute genauso wie Thomas Mann einst. Bei letzteren gibt es überdies eine erstaunliche Übereinstimmung in der Argumentation mit der sogenannten „theokratischen Konterrevolution" katholischer Provenienz, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jh. heftig gegen das humanistische Geschichts-, Kultur- und Menschenbild der französischen Revolution und natürlich gegen jede Form des Liberalismus aussprach. 17 Die weltweite Kulturkampfszene, zu dessen Kern heute der Menschenrechtsdiskurs gehört, ist also wohlvertraut. Ihr wirklicher Schauplatz sind einzelne Gesellschaften innerhalb der jeweiligen Kulturbereiche. 18 In ihnen wird ein „clash within

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Kulturell betrachtet sind die einschlägigen Problemlagen in den diversen Kulturbereichen durchaus unterschiedlich gelagert. Vgl. hierzu meine Überlegungen in Teil I des in Anmerkung 12 zitierten B u c h e s .

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Vgl. hierzu den vorzüglichen, weltweit beobachtbare Empirie aufarbeitenden Beitrag von Christoph Marx, Fundamentalismus und Nationalstaat, in: Geschichte und Gesellschaft, Bd. 2 7 , 2 0 0 1 , 8 7 - 1 1 7 . Ebenfalls Wolfgang Reinhard (Hg.), Die fundamentalistische Revolution. Partikularistische Bewegungen der Gegenwart und ihr Umgang mit der Geschichte, Freiburg 1995.

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Vgl. Rainer T e t z l a f f (Hg.), Menschenrechte und Entwicklung, Bonn 1 9 9 3 ; Thomas Risse u. a. (Hg.), The Power o f Principles. International Human Rights Norms and Domestic Change, Cambridge 1 9 9 9 . Eine Zusammenfassung dieses Buches findet sich in: Hans Peter Schmitz u. a., Die Macht der Menschenrechte. Zur innenpolitischen Durchsetzung internationaler Normen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Heft 46/47, 1998, 4 3 - 5 3 .

17

Vgl. hierzu Johann Baptist Müller, Religion und Politik, Berlin 1997, Teil IV.

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Vgl. hierzu auch die Einfuhrung in das von Raúl Fornet-Betancourt herausgegebene Buch: Unterwegs zur interkulturellen Philosophie, Frankfurt/M. 1998, 8 - 1 9 .

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civilizations" durchgefochten; der „clash of civilizations", wie ihn Huntington prognostizierte, bleibt demgegenüber eine Chimäre. 19 Dieser Sachverhalt hat einen bemerkenswerten Seiteneffekt: Erleichtert wird der internationale Kulturdialog, weil in ihm nämlich nicht länger in sich stimmige, gewissermaßen monolithhafte oder homogene Kulturen aufeinander treffen, sondern Kulturen, die mit sich selbst in Konflikt geraten sind. Ob schließlich und endlich an vielen Orten der Welt die Idee der Menschenrechte obsiegen und diese Idee sich in erschütterungsfeste menschenrechtsfreundliche politische Ordnungen übersetzen wird, das sind Fragen, deren Antworten offen sind. Aber wie einst in Europa, so werden auch außerhalb Europas die Antworten nicht von uralten kulturellen Vorprägungen abhängen, die einen solchen Übergang vermeintlich erleichtern oder behindern. Entscheidend werden politische Kräftekonstellationen im Kontext von Entwicklungsprozessen sein, die erfolgreich sind oder aber mißlingen - oder, was häufiger zu beobachten sein wird, die sich in der Spannung zwischen Erfolg und Mißerfolg bewegen. Darin, nicht in der kulturellen Erblast ist das unsichere weitere Schicksal der Menschenrechte begründet.

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Vgl. hierzu auch Carl Gershman, The Clash Within Civilizations, in: Journal of Democracy, Bd. 8, Nr. 4, 1997, 1 6 5 - 1 7 0 - eine Kritik an Huntington, die mit meiner eigenen völlig in Übereinstimmung ist (vgl. Anm. 12, Kap. 7). Die diesbezüglichen Inkonsistenzen in den neueren Publikationen von Samuel Huntington arbeitet Jacob Heilbrunn heraus: The Clash o f Samuel Huntingtons, in: The American Prospect, Nr. 39, 1998, 2 2 - 2 8 .

ERHARD EPPLER

Die privatisierte Gewalt und der Krieg.

I. Es hat erstaunlich lange gedauert, bis ein Vorgang in das Bewußtsein der Europäer einzudringen beginnt, der das 21. Jahrhundert prägen könnte: Die Privatisierung der Gewalt. Kriege zwischen Staaten werden, zumal in Europa, immer seltener und immer unwahrscheinlicher, aber die Gewalt nimmt weltweit überhand. Dies gilt nicht nur dort, wo die ohnehin schwächlichen Staaten zerbröseln wie in weiten Teilen Afrikas, es gilt auch da, wo, wie im Nahen Osten, politische Konflikte ausgetragen werden. Ariel Sharon dürfte daran scheitern, daß er glaubt, sich auf die - unbestreitbare - Überlegenheit der israelischen Armee verlassen zu können. Die arabischen Staaten denken aber gar nicht daran, der technisch weit schlagkräftigeren israelischen Armee Anlaß zum Losschlagen zu geben. Sie setzen auf eine Gewalt, die sich unterhalb - oder jenseits - des Krieges austobt. Die Hamas untersteht nicht dem „Präsidenten" Arafat. Ob Selbstmörder sich in israelischen Städten in die Luft sprengen, um ein Dutzend Israelis mit in den Tod zu reißen, entscheidet Hamas. Aber auch die israelischen Siedler haben sich bewaffnet. Jede israelische Regierung, die - um des Friedens willen - Siedlungen aufzugeben die Absicht hätte, stünde rasch vor der Frage, ob sie Feuergefechte zwischen israelischen Soldaten und israelischen Siedlern in Kauf nehmen will. Hier zeigt sich übrigens, was Millionen von Afrikanern schon leidvoll erfahren haben: Wo die privatisierte Gewalt wütet, ist es kaum mehr möglich, Frieden zu schließen, einmal, weil die War-Lords vom „Krieg" leben und also kein Interesse am Frieden haben, zum anderen aber auch, weil niemand mehr die Autorität hat, Frieden durchzusetzen und ein staatliches Gewaltmonopol zu errichten.

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Hier ist nicht der Ort, die privatisierte Gewalt im einzelnen zu schildern. Mary Kaldor hat es präzise und kenntnisreich getan in ihrem Buch über „Neue und Alte Kriege" (Suhrkamp 2 0 0 1 ) , das den - wesentlich exakteren - Untertitel trägt: „Organized Violence in a Global Era". Nur einige Charakteristika der privatisierten Gewalt seien hier erwähnt: Privatisierte Gewalt ist im Endstadium kommerzialisierte Gewalt. Sie muß sich rechnen, für die War-Lords, die Unternehmer, aber auch fur die Söldner. Rohstoffquellen, Diamantenfelder, Rauschgift, Schmuggel, Schwarzhandel,

Schutzgelder

oder einfach Plünderung können die privatisierte Gewalt zum Geschäft machen. Söldner kann man auch verleihen und vermieten. Die Zahl der einschlägigen Firmen wächst. Jedenfalls: Die privatisierte Gewalt braucht und will keinen Staat mehr als Zwischenglied zwischen Wirtschaftsinteressen und Gewehrläufen. Privatisierte Gewalt ist gesetzlose Gewalt. Lernt ein Soldat - und noch mehr ein Offizier -, was er in einer eroberten Stadt tun darf und was nicht, so lernen die meist blutjungen Söldner nur das Töten. Daher richtet sich privatisierte Gewalt mehr gegen Zivilisten als gegen Waffenträger. Wer aus der Gewalt ein Geschäft gemacht hat, ist nicht scharf a u f s Kämpfen. Das überläßt er im Zweifel den Kindersoldaten. Wichtiger ist, was man Zivilisten antun oder abnehmen kann. Bei privatisierter Gewalt läßt sich oft nicht feststellen, wo nationalistischer oder religiöser Fanatismus aufhört und handfeste Kriminalität beginnt. Das ist so bei der Abu Sayyaf auf Jolo, das war so bei den Schwarzen Tigern des „Arkan" und bei den Glaubenskämpfern von Bin Laden. Daher kann man sie als Freiheitskämpfer feiern oder als kriminelle Terroristen verabscheuen, j e nachdem, welchen Teil der Motivation man fur wichtiger hält.

II. Aber hier geht es nicht um die Schilderung, sondern darum, ob es sinnvoll, richtig und verantwortbar ist, diese „Organized Violence" als Krieg zu bezeichnen. Allen, die dies tun, ist offenbar nicht ganz wohl dabei. Das beginnt mit Mary Kaldor. Sie schildert präzise, wie die privatisierte Gewalt - auch sie benützt diesen B e griff - die Unterschiede zwischen öffentlich und privat, zwischen militärisch und zivil, zwischen innen und außen nivelliert und fragt sich dann, ob damit nicht auch „der Unterschied zwischen Krieg und Frieden selbst" fragwürdig werde. Aber Krieg ist eben der Gegenbegriff zum Frieden. W o beide nicht mehr voneinander zu unterscheiden sind, haben beide Begriffe wenig Sinn. Auch Martin Hoch (aus Politik und Zeitgeschehen Β 2 0 / 2 0 0 1 , S. 17 ff), der nicht von „neuen und alten", sondern, noch weniger überzeugend, von „großen" und „kleinen" Kriegen spricht, stellt fest, daß bei den kleinen Kriegen „die Grenzen zwischen Krieg und Frieden fließend" seien. Und Herfried Münkler, der in seinem Aufsatz über „die privatisierten Kriege des 21. Jahrhunderts" (Merkur 3 / 2 0 0 1 ) Parallelen zieht zu der Zeit vor der Durchset-

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zung des staatlichen Gewaltmonopols und zu der Gewalt an den Rändern der Großreiche im 18. und 19. Jahrhundert, kommt zum selben Ergebnis: Daß es nämlich häufig „zu keiner klaren Trennung von Krieg und Frieden" kam. All diese - zutreffenden - Bemerkungen sprechen nicht dafür, dem Phänomen der privatisierten Gewalt die Bezeichnung „Krieg" zukommen zu lassen. Mary Kaldor - und auch das spricht gegen ihre Terminologie - weist überzeugend nach, daß künftig die Aufgaben von Militär und Polizei sich überlappen. Sie fordert sogar, „einen neuen Typ von Soldat und Polizist in einem zu schaffen" (Seite 205). Das ist durchaus schlüssig, wenn bei privatisierter Gewalt fundamentalistischer Fanatismus und ausgekochte Kriminalität sich vermengen. Für Kriminalität ist die Polizei zuständig. Nur ist sie zu schwach, wo die „organized violnce" ganze Städte oder Regionen tyrannisiert. III. Nun ist der Einwand fällig: Schließlich komme es nicht auf das Etikett an, sondern auf den Inhalt. Vielleicht für den Historiker, nicht für den Politiker. Denn wo es um die politischen Schlüsse geht, macht es einen gewaltigen Unterschied, ob wir von „neuem Krieg" oder privatisierter Gewalt sprechen. Was da an neuen Aufgaben unser harrt, wird wohl nur klar, wenn wir nicht eine besondere Form von Krieg, sondern schlicht die privatisierte Gewalt ins Visier nehmen. Man muß nicht auf die Definition des Krieges im neuesten Brockhaus pochen, wo einfach festgestellt wird, Krieg sei „Bewaffnete Auseinandersetzung zwichen Staaten" und Bürgerkrieg „innerhalb eines Staates mit Waffen ausgetragener Machtkampf streitender Parteien". Man mag einwenden, daß im 14. Jahrhundert manches als Krieg galt, was dieser Definition nicht entspricht. Sicher ist der Begriff des Krieges nicht immun gegen Wandlungen seiner Bedeutung. Herfried Münkler beschreibt einige dieser Wandlungen. Aber kann man das Gemetzel in Ruanda als Krieg bezeichnen? Ist es Krieg, wenn junge Palästinenser sich in die Luft sprengen, um Israelis zu töten? Kann man von Krieg reden, wenn, wie im Dreieck zwischen Liberia, Sierra Leone und Guinea nicht mehr klar ist, wer da gegen wen die Kalaschnikow in Anschlag bringt? Wenn man nur weiß, daß die Zivilbevölkerung Schreckliches erleidet? Was mich vor allem Einspruch erheben läßt gegen die Bezeichnung „Krieg", ist die offenkundige Verbindung zwischen der Entstaatlichung der Gewalt und der allgemeinen Welle der Entstaatlichung durch die neoliberale Ideologie. Die „gated communities" in den USA sind auch ein Stück privatisierter Gewalt. Die „communities" haben ein „gate", ein Tor, wie die befestigten Städte des Mittelalters. Dort entscheiden Bewaffnete, wer Einlaß bekommt. Diese Bewaffneten waren im 13. Jahrhundert von der Stadt angestellt. Heute bezahlen die Insassen der befestigten Stadt innerhalb der Stadt, also Privatleute. Für sie ist die Sicherheit vor

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Verbrechen eine Ware wie j e d e andere auch. Sie können sich diese Ware leisten, andere, die Mehrheit, nicht. Hier wird privatisierte Gegengewalt gegen kriminelle Gewalt mobilisiert. Kein Wunder, daß aus manchen der Communities schon die Frage kommt, ob es noch sinnvoll und gerecht sei, Steuern zu bezahlen, da man sich doch selbst schützen könne und müsse. Was da in den Vereinigten Staaten - und nicht nur dort - an Selbstexklusion der Oberschicht geschieht, meist als Antwort auf die Kriminalität in der wesentlich größeren exkludierten Unterschicht, hat offenkundig nichts mit Krieg zu tun, aber eben mit der Privatisierung der Gewalt. Die Rechtsradikalen in Ostdeutschland versuchen, „national befreite Zonen" einzurichten, wo sie, nicht Parlament oder Regierung, bestimmen, wer dort wohnen darf und wer nicht. Sie setzen ihre Gewalt gegen das Gewaltmonopol des Staates. Das ist kein Krieg, wohl aber ein Ansatz zur Privatisierung, zur Entstaatlichung der Gewalt. Übrigens ist auch bei den deutschen Rechtsradikalen nie ganz klar, wo der Fanatismus aufhört und die simple Kriminalität beginnt. Sind sie fanatisch bis zur Kriminalität oder Kriminelle mit ideologischem Mäntelchen? IV. Es trifft die Wirklichkeit nicht, wenn wir j e d e organisierte Gewalt innerhalb eines Staates zum Bürgerkrieg avancieren lassen. Die deutschen Rechtsradikalen oder die „Kriegsveteranen" Mugabes in Zimbabwe führen keinen Bürgerkrieg. Sie versuchen, mit ihrer Gewalt die legitime Gewalt des Staates zu brechen und zu ersetzen. Bürgerkrieg ist, genau wie Krieg, auf einen Staat - oder mehrere - bezogen. Im spanischen Bürgerkrieg ( 1 9 3 6 - 1 9 3 9 ) wurde mit Waffen entschieden, wer in Madrid regieren sollte. Die Tschetschenen behaupten von sich, sie führten einen Bürgerkrieg, denn sie wollen einen eigenen Staat. Die russischen Regierungen haben dies nie anerkannt und auf die kriminellen Methoden der Rebellen verwiesen, auch auf das Fehlen einer einheitlichen und verantwortlichen Führung, die fur alle zu sprechen und also auch Frieden zu schließen vermöchte. Aber in Tschetschenien dominiert doch wohl die politische Motivation. W o die organisierte Gewalt, wie in Afrika, voll privatisiert und kommerzialisiert ist, wird der Staat nur noch als Hindernis und Gefährdung wahrgenommen, allenfalls als Beute. Kommerzialisierte Gewalt zielt auf keinen Staat, denn der könnte j a die Gewalt wieder verstaatlichen. Bürgerkrieg setzt Parteien voraus, die bestimmte Ziele haben, vor allem aber Befehlsstrukturen, in und mit denen über das Ende des Bürgerkriegs gesprochen werden kann. Das ist bei der privatisierten Gewalt unserer Tage nicht der Fall. Herfried Münkler, der das neue Phänomen historisch einordnet, stellt zu Recht fest, jetzt gelte die Leitformel des Hugo Grotius nicht mehr: „Pax finis belli". Aber diese Formel ist nichts anderes als eine Definition von „Pax" und „bellum". Krieg

D I E PRIVATISIERTE G E W A L T U N D DER K R I E G .

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ist etwas, was zuende ist, wenn Friede verbindlich vereinbart ist. Was nicht durch Frieden beendet und abgelöst werden kann, ist nicht Krieg, auch nicht Bürgerkrieg. Der Zustand, den die privatisierte Gewalt hervorbringt, ist weder Krieg noch Frieden. Er sprengt unsere gewohnte Begrifflichkeit. Wo von Kriegen die Rede ist, sei es von neuen und alten, von großen und kleinen oder auch von privatisierten, sind wir überdies versucht, das Thema bei den Militärs abzuladen und zu vergessen, daß es sich bei der Privatisierung der Gewalt um ein Kernthema der modernen Gesellschaft handelt, daß also die Politik gefordert ist, und zwar auf vielen Feldern. Auch Mary Kaldor verweist auf die Verwischung der Grenzen zwischen dem, was kriminelle Banden in südafrikanischen oder nordamerikanischen Großstädten anrichten und dem, was heute im Kongo oder in Sierra Leone als Krieg gilt. Im einen Fall bröckelt das staatliche Gewaltmonopol, im andern hat es aufgehört zu existieren. Ist das eine die Vorstufe zum andern? V. Für Generäle mag es nicht wichtig sein, ob wir von privatisierter Gewalt oder privatisiertem Krieg reden. Sie hassen beides. Für beides sind sie nicht zuständig, gegenüber beidem sind sie ziemlich hilflos. Wo vom „privatisierten Krieg" die Rede ist, können sie allerdings nicht einfach auf die Polizei verweisen. Aber wie auch immer die Bezeichnung lautet, die klügeren Militärs haben längst begriffen, womit sie sich im 21. Jahrhundert herumschlagen müssen. Anders verhält es sich bei den Pazifisten. Pazifismus ist das unbedingte Nein zum Krieg. Was tut der Pazifismus, wenn ihm der Krieg abhanden kommt? W o vom „privatisierten Krieg" die Rede ist, kann man allenfalls darüber nachdenken, ob ein Pazifismus, der zum Anti-Militarismus geschrumpft ist, noch einen Sinn hat. Denn das Militär hat im „privatisierten Krieg" oft die Aufgabe, das Schießen zu beenden oder zu verhindern. Wo „privatisierte Gewalt" zum Thema wird, also etwas, wofür eigentlich die Polizei zuständig wäre, kann man höchstens auf die Konfliktursachen und ihre Bekämpfung verweisen. Aber da rennt man offene Türen ein. Der europäische Pazifismus setzt den funktionierenden Staat und sein Gewaltmonopol voraus, oft sogar den Rechtsstaat, der Kriegsdienstverweigerer schützt. In den „entités chaotiques ingouvernables" Westafrikas wird ein Friedensbote, der einer verwilderten Soldateska Einhalt gebieten wollte, einfach abgeknallt. Die privatisierte Gewalt bedeutet das Ende des klassischen Pazifismus. VI. Schließlich hat die Privatisierung der Gewalt auch ihre Ursachen, banale und weniger banale. Natürlich erleichtert die moderne Waffentechnik die Privatisierung. Schon ein Zehnjähriger kann heute ein Maschinengewehr bedienen. Natürlich bietet

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der globale Waffenmarkt alles, was Gewalttäter brauchen. M i t harter Währung ist da manches zu haben, was lange großen Armeen vorbehalten war. Aber wer den Staatszerfall in Afrika untersucht, wird auch andere Ursachen finden. Eine ist die Armut. Kaum ein afrikanischer Staat besoldet seine Beamten so, daß sie ohne Korruption ihre großen Familien ernähren können. Korruption ist eingeplant, auch bei den Waffenträgern. Daß dies deren Autorität nicht steigert, liegt a u f der Hand. In Ländern wie den U S A oder Brasilien ist es die Kluft zwischen Arm und Reich, die der Privatisierung Vorschub leistet. Die Reichen können ihren Reichtum nur schützen, wenn sie sich auf privatisierte Gewalt verlassen. Exklusion der Armen und Selbstexklusion der ganz Reichen fuhrt notwendig zu einer Kriminalität, mit der die Polizei nicht mehr fertig wird, zumal wenn die herrschende Ideologie privaten Reichtum ebenso rechtfertigt wie öffentliche Armut. E s ist kein Zufall, daß die Gewalt sich in einer Epoche privatisiert, in der Privatisierung zur Mode geworden ist. Natürlich ist es ein Unterschied, ob man die Müllabfuhr, die Straßenreinigung, die Gefängnisse oder die innere Sicherheit privatisiert. A b e r wo einmal der Glaube sich durchgesetzt hat, daß der Markt allemal klüger sei als die Politik, ist es weder einfach noch ungefährlich, irgendwo eine Grenze zu ziehen und deutlich zu machen, was niemals privatisiert werden darf. Die Privatisierung der Gewalt stellt die Frage, wieviel Ungleichheit eine Gesellschaft erträgt, ohne so auseinanderzubrechen, daß privatisierte Gewalt und privatisierte Gegengewalt das staatliche Gewaltmonopol erst herausfordern, dann aushöhlen und schließlich ablösen. Die Privatisierung der Gewalt stellt auch neu die Frage nach dem Staat. Staat versteht sich nicht von selbst. Er hält nicht alles aus. Was er bedeutet, lernen wir da, w o es ihn nicht mehr gibt, wo der privatisierten Gewalt niemand mehr Einhalt gebieten kann. Der Rechtsstaat ist eine der genialsten Erfindungen der Menschheit, und zwar eine, die sich nicht nach ein paar Jahren durch eine neue überbieten läßt. Er ist die Methode, und zwar die einzige, die Gewalt dem Recht zu unterwerfen. Worüber wir jetzt nachzudenken Anlaß hätten, ist die Frage, ob der Rechtsstaat ohne Sozialstaat bestehen kann. A d o l f Arndt hat Wert darauf gelegt, den Staat als Kleid der Gesellschaft zu verstehen. Er wollte ein bequemes, passendes Kleid, das im Winter auch wärmt und so hübsch ist, daß andere nach dem Schneider fragen. Heute könnten wir dieses Bild nutzen, um klarzumachen: Ohne Staat, wenn die Gewalt sich privatisiert, sind wir alle nackt.

III. Die Zukunft der Demokratie

ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ

Das Volk und seine Wahlzeit

„Wir sind das Volk!" Der Satz braucht ein Gegenüber, jemanden, dem man mitteilt, was diesem nicht wirklich bewußt war. Dieses Wort politischer Befreiung hat wie manche anderen Worte, die eine historische Situation geprägt haben (wie etwa: „Unter den Talaren ..."), etwas Innovatives, das über seine Zeit hinaus reicht. Solche Worte können Sonden sein, die mürbe Stellen im Staatsgerüst oder in gesellschaftlichen Verhältnissen aufspüren. Das Grundgesetz weist im europäischen Vergleich dem Bundesverfassungsgericht die üppigsten und dem Volk die beschränktesten Kompetenzen zu, sich in die Politik einzumischen; eben nur den Wahltag ohne die Möglichkeiten der direkten Demokratie, wie Volksinitiative, Volksbegehren, Volksentscheid, die man auch „plebiszitäre" Elemente nennt - in Verkennung des Charakters der Plebiszite des 19. und 20. Jahrhunderts. Also bleibt nur der Wahltag, das Volk wirklich „Volk" zu nennen, wie es Art. 20 GG im 2. Abs. meint: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus". Wahltag, das sind zehn Stunden Wahlzeit von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr. Von ihr ist unter II. die Rede. Zuvor ist aber etwas zum verfassungsrechtlichen Charakter des Bundeswahlgesetzes (BWG) zu sagen (I.). Grundgesetz und Bundeswahlgesetz 1. Wahltag ist nach Art. 39 Abs. 1 GG alle vier Jahre. Für diesen Tag gibt es ein Bundeswahlgesetz und eine Bundeswahlordnung, die der Bundesinnenminister erläßt. Das Wahlgesetz trägt das Gewand eines ganz gewöhnlichen Gesetzes: Es wird eingebracht, beraten und beschlossen. Diese Schlichtheit verhüllt indessen zweierlei Würden. Die eine Würde teilt es mit wenigen anderen Gesetzen, in denen Erlaß und

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wesentlicher Inhalt des Gesetzes vom Grundgesetz vorgegeben sind. So heißt es in Art. 4 Abs. 3 GG: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das nähere regelt ein Bundesgesetz"; oder in Art. 21 Abs. 1 GG: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit ... Sie müssen über die Herkunft und Verwendung ihrer Mittel sowie über ihr Vermögen öffentlich Rechenschaft geben". In Abs. 3 folgt der Gesetzesbefehl zur Regelung des Näheren; so auch für die Bundestagswahl in Art. 38 Abs. 1 : „Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt". Auch in diesem Artikel folgt in Abs. 3 der verfassungsrechtliche Gesetzgebungsauftrag. Das sind Beispiele. Aber in einer anderen Hinsicht überragt das Wahlgesetz auch diese Gesetze, denn es macht überhaupt erst möglich, daß das Volk als Volk auch handeln kann, daß es zum Bewußtsein seiner selbst kommt: Wir sind Ausgangspunkt aller Staatsgewalt. Den Gesetzgeber des Bundeswahlgesetzes muß daher das Bewußtsein leiten, daß er selbst hier in einem buchstäblich einzigartigen Sinne eine unmittelbar dem Volk dienende Funktion hat. Natürlich bindet das BWG mit seinen Bestimmungen über Wahlalltag, Wahlsystem, Wahltag etc. nicht nur den staatlichen Apparat sondern auch das Volk. Aber es schafft damit nur die sachlichen Voraussetzungen dafür, daß es seine im Grundgesetz vorgezeichnete Rolle als Quelle der Staatsgewalt auszufüllen vermag. 2. In der Regelung der Modalitäten der Bundestagswahl ist der Gesetzgeber gebunden, den Willen des Volkes möglichst unverfälscht sich im Bundestag abbilden zu lassen. Dies ist das beherrschende Interpretament der zitierten fünf Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG, insbesondere des Grundsatzes der Gleichheit der Wahl. Anders als nach Art. 10 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) hat er zwar die Freiheit der Entscheidung für das Wahlsystem, die er im Anschluß an die Weimarer Tradition zugunsten der Verhältniswahl getroffen hat. Aber nach dieser Entscheidung treten die Wahlrechtsgrundsätze ihre Herrschaft an: So ist die 5 % Klausel angesichts des Gleichheitssatzes ebenso rechtfertigungsbedürftig wie die Zulassung ausgleichsloser Überhangmandate, die die verhältnismäßige Gleichheit verletzen.1 1

Die 5 % Klausel ist gegenüber der Wähler- und Parteiengleichheit nur zu rechtfertigen, weil eine der Hauptintentionen des Grundgesetzes die Stabilität der Bundesregierung ist (Art. 63, 67 GG), also zwei

DAS VOLK UND SEINE WAHLZEIT

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3. Der Teufel steckt im Detail. Auch das Detail der „Wahlzeit", also der Zeit, innerhalb derer der Gang zur Urne stattfinden muß, ist genauerer Betrachtung wert.

Die Wahlzeit 1. Schon die Wahrung der Wahlrechtsgrundsätze kann bis in die Details gehen (vgl. z.B. im Blick auf die Wahrung des Wahlgeheimnisses) aber auch im übrigen ist der rechtssetzende Aufwand für die Bundestagswahl enorm, vor allem, um jeder möglichen Regelwidrigkeit vorzubeugen. Das Bundeswahlgesetz hat 54 Paragraphen, nicht gerechnet die Anlage mit der genauen Wahlkreiseinteilung; die Bundeswahlordnung des Bundesinnenministers (BWO), zu der § 52 BWG ermächtigt, enthält 91 Paragraphen, nicht gerechnet die Bundeswahlgeräteverordnung. Dazu tritt das Wahlprüfungsgesetz mit noch einmal 20 Paragraphen. Soweit die wahlrechtlichen Regelungen den Wähler selbst betreffen, enthält sie das Bundeswahlgesetz selbst, also die Festlegung des Wahlsystems (§§ 1-7), wer wählen und gewählt werden darf (§§ 12-15), auf welchen Wochentag die Festsetzung des Wahltages fallen muß (§ 16), wie der Wähler wählen kann (Stimmzettel; Stimmabgaben mit Wahlgeräten; Briefwahl; §§ 33-36), und die Öffentlichkeit der Wahlhandlung ( § 3 1 BWG). Nur das „wie lange" regelt der Gesetzgeber nicht; er verweist in § 52 BWG zur „Wahlzeit" (Abs. 1 Nr. 3) auf die BWO. Diese setzte in § 47 Abs. 1 die Wahlzeit von 8.00 Uhr bis 18.00 Uhr fest (Die Ausnahmeermächtigung für den Landeswahlleiter nach Abs. 2 ist hier ohne Interesse). Das hat Tradition: Auch in der Weimarer Zeit regelte die Reichsstimmordnung in § 112 die Wahlzeit; sie war sogar nur neun Stunden lang, sommers gegen winters allerdings und eine Stunde versetzt. 2 Die Frage der Wahlzeit scheint also für den Gesetzgeber kein Gegenstand zu sein, der nach der Wesentlichkeitslehre Beachtung verdient hätte. Damit stimmt überein, daß auch die Literatur die Wahlzeit nicht erörterungsbedürftig findet. 3

hochrangige Verfassungsgüter miteinander zum Ausgleich gebracht werden. Die verfassungsrechtliche Rückendeckung fehlt fur die Überhangmandate nach dem Bundeswahlgesetz (§§ 6 Abs. 5, 7 Abs. 3 Satz 2 BWG), weil es im Gegensatz zu denjenigen Landeswahlgesetzen, die zu Überhangmandaten führen können, für die anderen Parteien keine Zusatzmandate kennt, die das nach dem Zweitstimmenergebnis erzielte Stärkeverhältnis der Parteien wahren. Das BVerfG hat dies gebilligt. Das Urteil erging mit Stimmengleichheit, allerdings in der grundsätzlichen Frage der Zulässigkeit ausgleichsloser Überhangmandate einstimmig (BVerfGE 95. 335 und 367). Kritisch hierzu u. a. E. G. Mahrenholz, FS. Graßhof, 1998, S. 69; ausgleichslose Überhangmandate verstoßen sowohl gegen die Wählergleichheit im Blick auf die Erststimmen, weil einige Tausend der Erststimmen neue Mandate kreieren, w a s der Struktur des gewählten Systems des B W G gerade nicht entspricht (§ 6 Abs. 1 u. 2 B W G ) , als auch gegen den Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien, u. a. weil nur C D U und S P D eine Chance zu Überhangmandaten haben. 2

RGBl 1924 I S . 173

3

Vgl. H. Meyer, Wahlrecht und Verfassungsordnung, 1973; ders. Hdb. StR II § 38; H.-P. Schneider, Hdb.VerfR, 2. Aufl., § 13; W. Schreiber, Hdb. des Wahlrechts, 5. Aufl., 1994; K.-H. Seifert, Bundes-

ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ

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Stichproben durch mündliche Fragen an Kolleginnen und Kollegen ergaben allerdings ein gegenteiliges Bild: Durchweg war man überrascht, daß die Wahlzeit nicht im BWG selbst geregelt wurde. 2. Wo wie in Deutschland sonntags gewählt wird, haben andere europäische Staaten längere Wahlzeiten: Nachforschungen haben diese Wahlzeiten ergeben: Belgien

08.00-20.00 Uhr;

Dänemark

09.00-20.00 Uhr

Finnland

09.00-20.00 Uhr

Italien

06.30-22.00 Uhr

Polen

08.00-22.00 Uhr

Spanien

09.00-20.00 Uhr

Tschechien

08.00-22.00 Uhr

Ungarn

06.00-19.00 Uhr

Dagegen hat Frankreich eine Wahlzeit wie in Deutschland, mit Ausnahme für „certaines grandes villes", wo die Wahlzeit 11 Stunden beträgt und in Paris und umliegenden Departements 12 Stunden; in Österreich setzen die örtlichen Behörden die Wahlzeiten fest, aber nicht über 10 Stunden. Wer mit oder ohne Berufung auf ausländische Vorbilder fragt, warum nicht das Volk eine Wahlzeit von 12 bis 14 Stunden, also bis in den Abend hinein, beanspruchen könne, erhielte vermutlich von Politik und Staatsrechtslehre übereinstimmend eine abwehrende Antwort: Die Zeit ist lang genug für den Gang zur Urne. Zudem sollen die Gemeinden doch die Wahlbezirke nach den örtlichen Verhältnissen so abgrenzen, „daß allen Wahlberechtigten die Teilnahme möglichst erleichtert wird" (§ 12 Abs. 2 Satz 1 Β WO). Schlangen vor den Wahllokalen treten auch nicht auf, und wer wirklich wählen will, findet innerhalb von zehn Stunden auch die Zeit dazu. Schließlich gibt es ja nur alle vier Jahre eine Bundestagswahl. So etwa würden die Antworten lauten. Alle diese Antworten folgten dem Sprachgebrauch fur die Ausschöpfung zeitgebundener Erlaubnisse. Die Einzigartigkeit der Wahlgesetzgebung wird damit verfehlt. Nicht ob das Volk den Vorschriften des Gesetzgebers genügen kann, ist hier

Wahlrecht, 3. Aufl., 1975. Seifert betont lediglich, die Wahlzeit sei „streng und genau" einzuhalten (§ 43 Β WO Anm. 1). Unnachsichtig auch § 60 BWO: Ab 18.00 Uhr dürfen nur noch die Wähler wählen, die sich bereits im Wahlraum befinden. „Der Zutritt zum Wahlraum ist so lange zu sperren, bis die anwesenden Wähler ihre Stimme abgegeben haben". Wer sich um wenige Minuten verspätet, den bestrafen gleichmäßig Behördensprechstunden, Ladenschlußzeiten und Wahlordnungen.

DAS V O L K UND SEINE WAHLZEIT

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die Frage, sondern ob der Gesetzgeber den Individuen, deren verfassungsrechtlicher Inbegriff das Volk ist, in der Frage, wann sie ihr politisches Urrecht ausüben, den denkbar weitesten Spielraum läßt. Die Subjekthaftigkeit des Volkes wird real erst in der subjektiven Vielfalt der Wähler. Weiß man, daß es nicht in nennenswerter Zahl Wähler gibt, denen es gut passen würde, erst nach 18.00 Uhr zu wählen? Welchen Grund gibt es dafür, daß um 18.00 Uhr die Zeit für die Ausübung der Staatsgewalt abgelaufen ist? Es scheint so, als ginge die Bundeswahlordnung mit ihrem Zehnstundentag ausschließlich von politisch engagierten Bürgern aus, die auf jeden Fall zur Wahl gehen werden. Das ist nicht die Realität, und das weiß das Bundesinnenministerium ebenso gut. Es muß deshalb in der Festsetzung der Wahlzeit die größtmögliche Offerte bereit halten, daß die Stimmbürger zur Wahl gehen, weil der Gesetzgeber aus guten Gründen von einer sanktionierten Wahlpflicht nicht ausgehen will. Die Quelle der Staatsgewalt muß also so kräftig wie möglich zum Sprudeln gebracht werden. Das geschieht nicht schon durch die Briefwahl. Denn das Verfahren ist genau besehen notwendigerweise umständlich. Es dient auch nur denen, denen die Ausübung des Wahlrechts wichtig ist und die von vornherein wissen, daß sie während der Wahlzeit nicht zur Wahl gehen können oder wollen und was sie wählen. Es verwundert, daß die Klagen über die Wahlbeteiligung nicht zu der Frage fuhren, ob die Wahlzeit angemessen festgesetzt ist. Auch am Wahltag bleiben die Wähler Individuen, obgleich sie das Staatsrecht zum Wähler uniformiert. Der 18.00-UhrEndtermin zerschneidet den Erlebnisteil des Sonntags. Das gilt ebenso für Singles wie für Familien. Vermutlich gibt es keine Erhebungen darüber, welche soziale Situation auf welche Weise den Zeitpunkt der Wahl des einzelnen oder den Verzicht auf die Wahl bestimmt. Es werden in der Regel die typischen Sonntagsgründe sein, die einen Verzicht auf die Wahl nahe legen. Diese „Sonntagsgleichheit" zwischen Wahlsonntag und Normalsonntag wird erleichtert durch die Ermüdung in der Zuwendung zur politischen Sphäre, oft genug gepaart von der Skepsis, daß sich, gleich wer regiert, doch nichts ändert. Die Politiker würden umdenken, wenn man den Umfang der staatlichen Parteienfinanzierung nach § 18 des Parteiengesetzes (PartG) nicht nur an den Wahlerfolg sowie die Summe der Mitgliedsbeiträge und den Umfang der j e von einer Partei eingeworbenen Spenden bände, sondern die Gesamthöhe dieser Finanzierung nach § 18 Abs. 2 PartG in eine Relation zur Wahlbeteiligung setzte. Allerdings: Wo bleibt der Wahlabend vorm Fernseher mit den frühen Hochrechnungen und den Stehpultrunden politischer Größen, die freilich nicht mehr so recht Spannung erzeugen? Aber liegt in der Intention einer lebendigen Demokratie nicht eher eine möglichst große Wahlbeteiligung als die erste Hochrechnung um 18.30 Uhr und die Talks der Politiker ab 19.30 Uhr?

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ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ

3. Das Thema geht die politische Theorie wie das Verfassungsrecht an unabhängig davon, ob die Verlängerung der Wahlzeit tatsächlich zu einer höheren Wahlbeteiligung führt. Das Wahlrecht ist das politische Urrecht im demokratischen Staat. Ausformbar ist es nur durch die jeweilige Verfassung selbst und durch zwingende organisatorische Bestimmungen. Im Blick auf die Festsetzung der Wahlzeit sind das solche, die die Freiheit der Stimmbürger in der Ausübung des Wahlrechts mit der Notwendigkeit ausgleichen, zu einem Ergebnis zu kommen. Die obrigkeitliche „Ausgleichsfrage" lautet: Wie viel Stunden muß man für die Ausübung des Wahlrechts zugestehen? Die demokratische Version heißt: Wann muß die Zeit für die Ausübung des Wahlrechts zwingend ihr Ende finden? Nimmt man den Maßstab der Verhältnismäßigkeit zu Hilfe, so ist nicht erst die Verkürzung der Wahlzeit um ein, zwei oder drei Stunden unverhältnismäßig, sondern die Festsetzung einer Zeitspanne ohne hinreichende Gründe für eben diese Festsetzung. Man muß im Auge behalten, daß, wie unter I. ausgeführt, Wahlgesetzgebung dem Volke dienende Gesetzgebung ist, das an diesem Tage und nur an ihm die Ausübung jeder Staatsgewalt legitimiert. 4 Wahlgesetzgebung sollte respektvolle Gesetzgebung sein. Daß hier auch eine Verfassungsfrage zu beantworten ist, würde vermutlich Öffentlichkeit und Staatsrechtslehre deutlich, wenn der Bundesinnenminister die Wahlzeit verkürzte. Der dirigierende Verfassungsbegriff ist allerdings nicht der Grundsatz der Freiheit der Wahl sondern die Fundamentalaussage des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 in Verbindung mit Art. 38 Abs. 1 GG.

Widmung Iring Fetscher ist dieser Beitrag gewidmet, weil meine politische Bildung in der in jüngeren Jahren wesentlich durch seine Schriften mitgeprägt wurde. Ihm bin ich später immer wieder auf Veranstaltungen des rechtspolitischen Kolloquiums meiner Frankfurter Juristischen Fakultät und im August 1998 in Herrenchiemsee begegnet, wo uns aus Anlaß des Jubiläumsjahrs eine Fernsehrunde zusammengeführt hat. Iring Fetscher war der Älteste unter uns und hinterließ den Eindruck engagierter Weisheit. Große Staatsrechtler überschreiten das neunzigste Lebensjahr. Als Jurist sollte man nicht so vermessen sein, es nur von ihnen zu erwarten.

4

Die zeitlich größere Beanspruchung der Mitglieder der Wahlvorstände am Wahltag Iäßt sich ausgleichen durch eine Erhöhung des „Erfrischungsgeldes", das ihnen nach § 10 Abs. 2 B W O für den Wahltag zusteht.

NORMAN BIRNBAUM

Einige Probleme mit der Demokratie1

Um gleich zum Kern der Sache vorzudringen, möchte ich ein Memorandum zitieren, das ich im Frühling des Jahres 2001 ftir meine Kollegen von der Redaktion der Zeitschrift „The Nation" schrieb. Das ist die traditionelle Wochenzeitschrift der amerikanischen Linken. Sie fühlt sich jenen Teilen der Demokratischen Partei verbunden, die sich mit der Tradition des N e w Deal identifizieren. Dies soll mein Beitrag sein zu der ursprünglich gestellten Frage sein, eine amerikanische Perspektive auf gegenwärtige Probleme der Demokratie zu geben. Selbstverständlich gibt es keineswegs nur eine einzige mögliche amerikanische Perspektive und aller Konsens in meinem Land ist eher künstlich hergestellt als wirklich vorhanden. Einer offiziösen Propaganda zufolge, die im In- und Ausland gerne von freiwilligen Anbietern geäußert wird, behauptet, daß unsere plebiszitäre Demokratie des Konsums sich soweit der erstrebten Utopie annäherte, die die Menschheit als ganze anstrebt. In ihr würden nicht nur die Zwänge des Marktes und die Autonomie des Individuums friedlich miteinander koexistieren, sondern sie seien sogar in einer vorher unvorstellbaren Weise glücklich vereinigt. Ich selber komme nicht im propagandistischen Auftrag und ich ehre die generöse Unterstützung meiner Reise durch die Botschaft der USA gerade durch die Zurückweisung von solchem Nonsens. Ich spreche für diejenigen, die in einer äußerst zweifelhaften Präsidentenwahl geschlagen wurden. 2 Wir schätzen das Versprechen der Demokratie so hoch ein, daß wir davon überzeugt sind, daß unsere Demokratie sich noch wesentlich steigern kann. Daher macht vielleicht der Nachklang unserer Debatten die folgenden allgemeinen Bemerkungen verständlicher.

1 2

Vortrag auf der Deutsch-Polnischen Tagung zum Thema „Demokratie im 21. Jahrhundert", Posen im März 2001. Vgl. auch die Nachbemerkung des Verfassers. Vgl.: After The Debacle, in: The Political Quarterly, 2001, No. 2; dt. in: Blätter fur Deutsche und Internationale Politik, Heft 2, 2001.

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NORMAN BIRNBAUM

Es ist leider wahr, daß die Medien, die sich im Besitz von Unternehmen befinden, nur das vulgärste Gesellschaftsbild anbieten. Ein organisiertes Netzwerk von Ideologen an den Universitäten und Forschungszentren propagiert die nicht weniger vulgäre Vorstellung, daß die Dinge nicht besser sein könnten als sie sind. In ihren Augen wirkt jedes Plädoyer für eine andere Gesellschaftsordnung nicht nur exzentrisch, sondern es gilt sogar als Beweis intellektueller und moralischer Debilität. Es ist gleicherweise richtig, daß vieles an Kraft und Standhaftigkeit jener Koalition verloren gegangen ist, die den New Deal begründete, die Great Society unterstützte und dem Reaganism soweit Widerstand entgegensetzte, wie es ihr möglich war. Es existieren auch neue, wenngleich auch weniger entschlossene Koalitionen mit anderen Bestandteilen. Die von ihnen aufgebrachten Energien sind beachtlich, aber sie verhehlen kaum, eine Transformation der gesamten Sozialordnung gar nicht erst zu beabsichtigen. Ihre Annahmen gehen davon aus, daß die von ihnen unterstützten segmentierten Projekte notwendige Voraussetzungen fur größere Veränderungen sind. Solche großen Veränderungen mögen später folgen, oder auch nicht, jedenfalls wird unsere Enttäuschung über ihre Langsamkeit gelindert durch die Überzeugung, daß wir wenigstens kleineres Terrain erobern können: Verbraucherschutz, Umweltschutz, Rechte auf dem Gebiet der Familie, des Geschlechterverhältnisses und der Generationen; Beziehungen zwischen den Rassen und Verteidigung der Arbeiterinteressen. Die gelegentlich erbittert geführte Debatte über Multikulturalismus ist Teil dieses Fragekomplexes. Allerdings zerstreuen und verwirren multikulturelle Streitpunkte jene Gruppen, die sonst in einem gemeinsamen Kampf für Bürgerrechte vereint sein könnten. Man kann sich wohl die Eroberung von Autonomie und gesellschaftlichen Raum in Gebieten, wo Unterschiede privilegieren, benachteiligen und unterdrücken, als Elemente einer neuen Konzeption von Staatsbürgerschaft vorstellen. Diese Konzeption ist jedoch ihrerseits mangelhaft. Das hat etwas mit unserer intellektuellen Geschichte zu tun. Die Epoche der „Progressives" (ca. 1900-1920) in der amerikanischen Geschichte war der Anlaß überschäumender, geradezu explodierender intellektueller Anstrengungen. Ihr Ferment verstetigte und versorgte die moralischen Kräfte und das Modell des New Deal. Man sollte auch die Veteranen der 60er Jahre großherzig zu sich selbst sein lassen: auch dies war eine weitere Periode der Kreativität. Seitdem leben wir allerdings von geerbtem intellektuellen Kapital. Es ist kein Trost, daß die Neo-Konservativen in keiner Hinsicht Parvenüs sind. Ihre Ideen reichen sogar historisch weit zurück. Es ist unmöglich, sich eine tiefgründende Wiederbelebung der amerikanischen Fortschrittsbewegung vorstellen zu können, solange und bevor nicht eine neue Woge an Ideen uns befähigt, den Wettkampf mit der intellektuellen Hegemonie des Kapitals im relativ liberalen Medienmarkt, an den Universitäten und Forschungszentren aufzunehmen. Denn selbstverständlich war die Wiederbelebung der Markt-Doktrin seit den 70er Jahren nicht nur organisiert, sondern auch geplant. Wir müssen erkennen, daß wir seit den 70er nur noch dazu imstande

ERNIGE PROBLEME MIT DER DEMOKRATIE

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waren, das Verteidigenswerte zu verteidigen. Zu einer Zeit, als ein Präsident der Demokratischen Partei mit der im 20. Jahrhundert gültigen Tradition seiner Partei brach und erklärte, die „Ära des big government sei vorüber", waren wir davon überzeugt gewesen, daß der Regierung im Felde der Wirtschaftspolitik, der Verteilungspolitik und der Herstellung der Bedingungen für Staatsbürgerschaft weiterhin eine bemerkenswerte Rolle verblieb. Die Zeit ist gekommen zu fragen, ob wir nicht mehr beitragen können zur Entwicklung neuer Ideen, die eine neue Politik erlauben. Ohne Zweifel haben sich die Zusammenhänge zwischen Ideen, Intellektuellen und der Politik in den vergangenen 50 Jahren verändert. Das steht in Zusammenhang mit Fragen der Struktur der kulturellen Industrie, deren Teil die Erziehung selber geworden ist. Hierüber muß nachgedacht werden. Doch wo beginnen? Das akademische Leben ist in Spezialbereiche und Unterspezialbereiche zerbrochen, Kunst und Literatur streiten sich in widerstrebenden Lagern oder in Gruppen, die voneinander keine Notiz nehmen. Das Aufkommen einer Gestalt wie John Dewey scheint sehr unwahrscheinlich und sein selbsternannter Schüler Richard Rorty gibt seine Skepsis zu verstehen, ob wir überhaupt Bedarf nach Ideen an Stelle von Programmen haben. Mein eigenes jüngstes Buch 3 mag aufschlußreich sein sowohl in Hinblick darauf, was es thematisiert, als auch bezüglich dessen, was es nicht leistet. Es beabsichtigt, den verhältnismäßigen Triumph einer Version des Fortschrittsdenkens in Westeuropa und den USA aufzuzeigen, der als Errungenschaft in einem ansonsten schrecklichen Jahrhundert gelten kann. Nach dem es die systematische Ausdünnung (und sogar teilweise Selbstzerstörung) dieser Tradition darstellt, vermag es allerdings nicht zu zeigen, wie Anschlußmöglichkeiten an diese Tradition entwickelt werden könnten. Gibt es Verbindungen zwischen den Koalitionen von 1936, 1969 und von 1999 von den Sitzstreikenden, die die Autofabriken im New Deal eroberten über die Demonstranten der Chicago Convention von 1968 zu der Protestbewegung von Seattle 2000? Im übertragenen Sinne, und gelegentlich sogar als Familientradition, gibt es solche Verbindungen, aber in intellektueller Hinsicht sind sie nur geringfügig. Manchmal sollten allerdings die Lehren der Vergangenheit einfach ignoriert werden: Neue Situationen sind genau das: nämlich neu. Gleichwohl sind auch Perioden raschen Wandels charakterisiert durch die Gleichzeitigkeit verschiedener Abläufe inmitten einer scheinbar abgeschlossenen Epoche. Mit solchen Komplexen und Widersprüchen umzugehen gehört zu den Aufgaben der Intellektuellen und ist zugleich eine Voraussetzung dafür, daß sie mehr zu bieten haben als nur Banalitäten der politischen Sprache. Es ist kein bedeutenderes historisches Projekt aufgegeben, kein Nachfolger für die Idee des Fortschritts in Sicht, welches die Erben der Aufklärung bewegen sollte.

3

After Progress: American Social Reform and European Socialism in the Twentieth-Century, N e w York 2001; dt.: Nach dem Fortschritt: Vorletzte Bemerkungen zum Sozialismus, München 2002.

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Die Auffassung von Geschichte (um einen philiströsen britischen Historiker des letzten Jahrhunderts zu zitieren): „Geschichte? Geschichte ist eine verfluchte Sache nach der anderen", setzt voraus, daß kein neues Projekt möglich ist. Das würde bedeuten, daß eine Politik von mindestem Anstand und Menschlichkeit nur eine Politik des Widerstandes sein kann, keine der Bewegung. Was aber könnten wenigstens mögliche Elemente des letzteren sein? 1) Selbstverständlich verdunkelt der Ausdruck Globalisierung mehr als er erhellt. U m gleich zum Kern zu kommen: Globalisierung ist das Anwachsen der Mobilität des Kapitals, was es ermöglicht, Waren, Ideen und Personen mit geringem Aufwand fortzubewegen. Im schlechten Sinne ermöglicht diese Beweglichkeit zugleich, Ideen und Personen in Waren zu verwandeln. Selbst die Sphären von Kultur und Religion wirken wie die letzten Festungen, von denen einige schon genommen sind. Will man die Beweglichkeit des Kapitals beherrschen, will man das Kapital in ein Instrument universeller Entwicklung und nicht universeller Beherrschung umwandeln (um an die Vier Freiheiten Franklin Roosevelts zu erinnern), sind neue politische und soziale Techniken erforderlich. Sie müssen nicht vollständig neu sein, sondern können an vergangene Experimente zur Beherrschung des Kapitals im nationalen Rahmen anschließen: Zu denken ist an politisch kontrollierte Zentralbanken, an Vertretungen von Öffentlichkeit und Arbeiterschaft in Unternehmensvorständen, an öffentliche Unternehmen mit öffentlicher Zielsetzung, an konsequente Umverteilung. Grundsätzlich wäre hierzu eine Neubesinnung über ökonomische Kategorien notwendig und neue Ideen qualitativer und sozialer Wohlfahrt. 2) Keynes war ein Liberaler, dessen Streben nach Rationalität in ökonomischen Fragen ihn im Ergebnis zu einem Sozialdemokraten machte, der neue Politiken der Umverteilung und Steuerung unterstützte. Moderne Staaten verloren an Kompetenzen und an Macht und zwar durch umfassendere Prozesse und nicht zuletzt aufgrund von Gruppen, die mit gutem Grund befürchten mußten, daß sich diese Macht gegen sie wenden könnte. Was vermag Politik wieder in ihre zentrale Rolle als Schöpfer und nicht Schiedsrichter des öffentlichen Lebens zurückzuführen? Demokratische Politik scheint zu bloßem Spektakel zu verkommen. Bazar und Zirkus haben die Selbstaktivierung und Selbsterziehung der Bürgerschaft ersetzt. Unter diesen Umständen ist jede Anstrengung zur Schaffung einer trans-nationalen Politik ungleich schwieriger geworden. Welche Umwandlung internationaler Institutionen ist erforderlich, um einer stärker repräsentativen Form globaler Regierung näher zu kommen? Souveränität ist bekanntlich kein Wert an sich, sondern kann sogar den Grund fur Verbrechen liefern. In den Nationalstaaten wurde die Substanz der Bürgerschaft ausgehöhlt und wir wissen nicht, wie wir sie wiederherstellen können. Zwar mag die erforderliche Ausweitung auf globaler Ebene zunächst stimulierend wirken, gegenwärtig jedoch fügt sie unserer Aufgabe weitere Bürden hinzu. Die

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Wiederherstellung, von der ich sprach, schließt eine erneute Definitionsanstrengung ein und damit Experimente mit neuen Wegen der Repräsentation, mit verschiedenen Zugängen zur Regierungsgewalt, mit veränderten Regierungsaufgaben, mit einer Neubewertung des Verhältnisses von privater und öffentlicher Sphäre, mit veränderten Versionen öffentlicher Karriere und persönlicher Lebensläufe. Es bleibt jedoch die Frage, was angesichts der Verengung des öffentlichen Raumes unsere lieben Mitbürger davon überzeugen kann, diesen Raum wieder zu vergrößern. 3) Wenn es ein Thema modernen sozialen Denkens gibt, das omnipräsent ist, dann ist es das der kulturellen Einbettung von Politik und Denken. Der Gang der Geschichte lehrte jene, die in ihm gefangen sind, ob sie es wollten oder nicht, daß Wandel und Differenzierung die primären modernen Erfahrungen waren. Viele mochten diese Lehre nicht leiden, und - um mit Burke zu sprechen - trauerten den Gewißheiten nach, die verloren gegangen waren. Faschismus kam und ging vielleicht auch wieder, aber seine Vorfahren, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit, das obsessive Bestehen auf Solidarität, wo keine vorhanden ist, weilen weiterhin unter uns. Die stalinistische Hinrichtung der Revolution war nicht zuletzt eine Flucht vor der Moderne wie vor den pluralistischen Implikationen des Sozialismus. Wir wissen nicht, wie wir sowohl Gemeinschaften wie Nationen davon überzeugen sollen, daß sie in langer Sicht von Wandel und Differenzierung profitieren. Die empirischen Tatsachen sprechen in großen Teilen für die Skeptiker: Sie sehen leichter, was sie verlieren, als was sie gewinnen könnten. Die Diffusion industriell verfertigter Massenkultur auf Weltmaßstab ist kaum ein Argument für Pluralismus und gegen Tribalismus. Der reaktionärste Widerstand gegen die Angleichung aller Dinge besitzt mit anderen Worten eine Überzeugungskraft, gegen die man nur schwierig opponieren oder sie verfeinern kann. Die akademische Empfehlung eines post-kolonialen Ethos klingt seltsam fernliegend. Vielleicht erklärt sie sich am besten so, daß man annimmt, jeder und alles sei mittlerweile kolonisiert. Die Suche nach einem neuen Verhältnis zwischen Partikularität und Universalität muß demnach von neuem beginnen. 4) Man rufe sich die Rechtfertigung des Autoritarismus ins Gedächtnis, die von jenem Tyrannen verübt wurde, der sich selber zum Philosoph ernannte, dem Haupt des Staates Singapur. Unter anderem handelt es sich hier um die Leugnung allgemeiner Menschlichkeit. Einige sind geboren zu befehlen, andere zu gehorchen. Was aber sind die psychologischen Vorbedingungen einer Demokratie? Fünfzig Jahre nach der Veröffentlichung von „The Authoritarian Personality", eines Klassikers der Sozialwissenschaften, scheinen wir nur kaum vorangeschritten zu sein in der Forschung. Tatsächlich wurden wir zu einer früheren Generation zurückgeworfen, zurück zu Freuds „Das Unbehagen in der Kultur". Marcuses großer Versuch, den Weg für eine neue Politik zu eröffnen durch eine Verbindung von Marx und Freud

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in „Eros und Zivilisation", scheint ebenso vergessen wie die Schriften von Wilhelm Reich. Wenn wir es dennoch ernst meinen mit den Menschenrechten, so müssen wir fragen: Gibt es eine gemeinsame Sphäre der Menschlichkeit und woraus besteht sie? Trotz der feministischen Transformation der Psychoanalyse sollte unser Begriff von Freiheit nicht auf ein Recht auf Unterschiedlichkeit begrenzt werden, sondern ein recht auf Gemeinsamkeit beinhalten. „Das Persönliche ist politisch" bleibt eine interessante Formulierung, wenn wir sowohl die Politik wie die Psyche erst einmal neu überdacht haben. 5) Das radikaldemokratische Lager insistiert auf der Verantwortung des Naturwissenschaftlers (und Mediziners) gegenüber dem Demos. Aber was wenn die Wissenschaften unsere Vorstellung vom Dasein verändern, wie sie es augenblicklich tun? Themen wie das Klonen widersetzen sich kaum einer Kategorisierung, aber wir sind alles andere als eine Gesellschaft von Bio-Ethikern, die mit solchen komplexen Fragestellungen umgehen kann. Wie müßte sich die Erziehung wandeln, um Bürger in die Lage zu versetzen, auf solchen Gebieten Urteile fällen zu können? Man erinnere sich, wie fünfzig Jahre zuvor die „friedliche" Nutzung der Atomenergie gefeiert wurde. Man muß zwar nicht in jedem Träger eines weißen Kittels einen Frankenstein erkennen, aber die Mächte der Naturwissenschaften und der Technik wirken nicht aus sich heraus befreiend. Der Nutzen so mancher jüngerer wissenschaftlicher Forschung (etwa die biologische Verhaltens- und Entwicklungsstudien, die Chaos- und Informationstheorie, die Primatenkunde) für die Politik und das soziale Denken scheint von den Interpretationen der zugrunde gelegten wissenschaftlichen Daten abzuhängen. Es gibt aber eine geistige Fatalität, die mehr von politischen und sozialen Ideen beeinflußt wird als von den Ergebnissen der Naturwissenschaften selbst. Die Herausforderung für die Theorie und Praxis der Demokratie und die soziale Organisation der Wissenschaften bleibt größtenteils unbewältigt. So weit zur amerikanischen Situation. Welche Ideen können wir aus alledem entwickeln? 1) Demokratie hat die Teilung der Macht zur Folge, den freien Austausch von Meinungen, den Prozeß der Selbsterziehung autonomer Personen, die in repräsentativen Institutionen organisiert sind. Die Konzentration von Wohlstand und großer Besitztümer gefährdet die Demokratie, insofern Themen der öffentlichen Entscheidung entzogen werden, die fur das Gemeinbefinden der Gesellschaft wesentlich sind. Am Ende seines Lebens kämpfte Trotzki mit der Wahrnehmung, wonach nicht Staatssozialismus, sondern Stalinismus die Ideologie eines deformierten Arbeiterstaates ist, eine Form von Staatskapitalismus, in dem der omnipotente Staat und seine Kader das Äquivalent fur das organisierte Kapital sind. Ferner ermöglicht die Macht des Kapitals eine spezifische Form von Politik als Beherrschung. Parteien und Politiker

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EINIGE P R O B L E M E MIT DER D E M O K R A T I E

können gekauft werden (Berlusconis Partei in Italien, Forza Italia, war zu ihrem Beginn ein Anhängsel seiner Firma). Die Meinungsbildung wird verfälscht: D i e Medien sind selber kapitalistische Unternehmen und sehen natürlich keinen Vorteil darin, ihre eigenen

institutionellen

Voraussetzungen

für der Vorherrschaft

am

Markt zu unterminieren. Die Trennung von Wirtschaft und Politik neigt zur Ausrottung der Politik. D i e Institutionen des amerikanischen wie des westeuropäischen Wohlfahrtsstaates wurden entwickelt unter der Annahme, daß es Werte gibt, die höher sind als der Markt, namentlich die Rechte der Bürger auf ein erhebliches Minimum öffentlicher Gewährleistung von Erziehung, Gesundheitsfürsorge, Transport und allgemeinem sozialen Schutz. Die Tatsache ist bemerkenswert, daß selbst in den U S A eine völlige Demontage des Wohlfahrtsstaates unwahrscheinlich ist. Offen ist die Frage, ob einige der Anliegen, die die Vorgängergeneration erhob, wieder in den Mittelpunkt der Diskussion rücken können. Die Demokratisierung des Arbeitsplatzes, die Notwendigkeit eines großen öffentlichen Sektors, das Erfordernis der Planung. Die sogenannte Neue Ökonomie ist vielleicht gar nicht so neu, von der Technologie einmal

abgesehen.

Insofern

sie

gezackte

und

gebrochene

Verlaufskurven

an

individueller Beschäftigung hervorruft, permanente Fortbildung erfordert und ein erhebliches M a ß an ökonomischer Flüchtigkeit erzeugt, wird die Neue Ökonomie politische Intervention brauchen und mehr Experimente mit neuartigen Institutionen an sozialer Solidarität. Die Beweglichkeit des Kapitals ermöglicht es Unternehmen, ökologischen, gesundheits- und sicherheitsrechtlichen Regulierungen zu entkommen und die Kosten zu vermeiden, die die vernünftige Entlohnung der Arbeiter erzeugen sowie der Steuerpflicht zu entkommen. Die Arbeitskraft in den neu industrialisierten Ländern, hauptsächlich vom Lande rekrutiert, erlebt eine systematische Ausbeutung, die in den Kernländern der industriellen Revolution seit 150 Jahren nicht mehr gesehen wurde. Die Ideologen des „Freihandels" verweisen in einer Weise a u f die letzten Endes zu erwartenden Wohltaten dieses Prozesses, die an die Verteidigung der ursprünglichen Akkumulation im Staatssozialismus erinnert. Währenddessen kooperieren lokale „Compradores" (in China große Teile der Partei und des staatlichen Apparates, in Rußland eine einmalige Mischung aus ökonomischem und politischem Gangstertum) mit ausländischem Kapital, um a u f eine robuste Art den gerechten Wegen der Entwicklung zu entgehen, die in ärmeren Ländern angemessener wären. Der Zuwachs des nationalen Wohlstandes zieht ohne weitere enorme Kämpfe keineswegs eine Ausweitung der Demokratie nach sich. Die meisten dieser Kämpfe sind noch auszufechten, erst wenige bereits gewonnen. Der relative Niedergang nationalstaatlicher Macht wurde nicht durch internationale Institutionen ausgeglichen. E s mag zwar eine öffentliche Weltmeinung rudimentärer Art geben, aber ihre Fähigkeit zu einer politisch relevanten Ausdrucksweise sind begrenzt. Die ökonomischen Institutionen, die vor einem halben Jahrhundert

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entworfen wurden, um die Weltwirtschaft zu regulieren im Rahmen einer Neuen Ordnung (man denke an Roosevelts Rede zu den Vier Freiheiten, einer Stellungnahme zu einer Verfassung einer internationalisierten sozialen Demokratie), sind nun zu bloßen Dienstmägden des internationalen Kapitals verkommen. W o sie von inneren Konflikten beansprucht werden, erweisen sie sich als vollständige Artefakte eines K a m p f e s um die Macht über den Weltmarkt durch die Konzentration des Kapitals. Es ist auffällig, daß die Europäische Union, in welcher die soziale Demokratie sicherlich weit fortgeschritten ist, eher als Freihandelszone funktioniert, in welcher die Europäische Kommission Deregulationen forciert, statt eine Politik zur Anhebung sozialer Standards zu betreiben. 2 ) Vielleicht wird die ökonomische Globalisierung in der Zukunft die Vorbedingung einer globalen Kultur sein. Eine neue universale Sprache könnte die Kulturen der Erde darin einigen, der Ausbeutung Widerstand zu leisten. Die Klänge der „Internationale" wirken mittlerweile hohl. E s ist schwierig, sich für die unabsehbare Zukunft etwas anderes vorzustellen als eine Intensivierung chaotischer Formen des kulturellen Konfliktes, der sich mit ökonomischen und politischen Prozessen so mannigfach kreuzt, daß keiner dieser Formen noch unterscheidbar ist. W . E. DuB o i s erklärte, daß die wichtigsten Konflikte des 20. Jahrhunderts entlang der Rassenfrage auftreten werden. Die armen Nationen sind hauptsächlich farbig, die reicheren überwiegend von weißer Hautfarbe. Gleichwohl finden sich zahlreiche farbige Verbündete der weißen Vormacht und zahlreiche Konflikte zwischen farbigen Nationen. Der Rassenkonflikt ist aber eine soziale Konstruktion. Es geht um die Herstellung eines Differenzierungsschemas zur Organisierung der Verteidigung vorhandener Vorteile oder zur Mobilisierung zum Z w e c k e der Erringung von R e c h ten. Der britische Historiker Christopher Hill bemerkte einmal, daß sich die niederen Stände während eines erheblichen Teils der englischen Geschichte an den Glauben klammerten, ihre Herrscher seien in Wirklichkeit keine Engländer, sondern Abkömmlinge der normannischen Eroberer, des normannischen Jochs. Die weißen amerikanischen Sklavenhalter des Südens bestanden a u f ihre kulturelle wie rassische Andersartigkeit, und zwar weniger gegenüber den Schwarzen, als gegenüber dem Rest der Nation. In der Tat ist das Aufkommen des modernen Staates selber eine kulturelle Errungenschaft. Nicht die Nation schuf den modernen Staat, es war der Staat, der die Nation erschuf, um den Bedürfnissen nach einem funktionalen Minimum an Einheitlichkeit in einer anwachsend komplexen und sich ausdifferenzierenden Wirtschaft und Gesellschaft zu entsprechen. Demokratie war nicht das unvermeidliche Resultat der modernen Ökonomie: der Staat als Agent der sozialen Mobilisierung war sein Produkt. Nazi-Deutschland war so modern wie die U S A zu Zeiten Franklin D. Roosevelts. Die Intellektuellen, die die anti-kolonialistischen und anti-imperialistischen Bewegungen anführten, welche nach 1945 die M a c h t ergriffen, waren sich der inneren Widersprüche der westlichen Staaten sehr bewußt.

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Demokratie war nur eine von verschiedenen Wegen der Mobilisierung. Als sie nicht mehr ausreichend Stabilität und politische Kohärenz erzeugen konnte, wurde sie aufgegeben. Der vielfältige Druck der wirtschaftlichen Globalisierung wird den Nationalismus weiterhin vertiefen, und zwar im Sinne eines Focus des Widerstandes. Die Skinheads in Deutschland, die anti-europäische Partei Englands, die patriotischen Fundamentalisten in den amerikanischen Kleinstädten, die Indianer aus Chiapas, die Kurden in drei Ländern, die Muslime aus Kashmir, die Basken in Spanien, die Lega Nord in Italien oder die vielfältigen extremistischen Gruppierungen Indonesiens repräsentieren ohne Zweifel einen Nationalismus in seiner extremsten Form. Es ist unplausibel anzunehmen, diese Bewegungen würden am Ende nur die Basis und die Reichweite politischer Partizipation ausweiten und insofern eine Erscheinungsweise demokratischer Kultur sein. Das gesamte Experiment mit der Dritten Welt weist in die entgegengesetzte Richtung, und die kürzlichen Wandlungen in den größten lateinamerikanischen Ländern (Argentinien, Brasilien, Chile und Mexiko) könnten sich als nicht dauerhaft erweisen. Kultur als Bereich des Glaubens, der Symbole und Werte, ist unerläßlich für die Ausbildung der Psyche. Nichts hat sich als universaler erwiesen in der menschlichen Kultur denn Religion. In der englischsprachigen Welt war es eine langanhaltende Überzeugung, wonach der Protestantismus mit seiner Zurückweisung einer hierarchischen Kirche eine wesentliche Quelle für die demokratische Kultur war gemäß dem Grundsatz des Priestertums aller Gläubigen. Vielleicht gibt es im Falle der USA eine erheblich weltlichere Erklärung, insofern die Ausbreitung protestantischer Sekten die Privilegierung nur einer von ihnen verhinderte. Der Staat mußte sich von der Kirche trennen, damit nicht die anhaltenden kirchlichen Spannungen den politischen Körper zerreißen. Ein gewisser konfessioneller Pluralismus mag förderlich sein fur die Demokratie, ungeachtet dessen, daß das Milet-System des Ottomanischen Reiches christliche und jüdische Enklaven in einem islamischen Staat zuließ, der kaum repräsentative Regierung kannte. Der Cäsaro-Papismus byzantinischer Art legitimierte einen Autoritarismus der Regierung. Die Katholische Kirche des Westens unterscheidet sich davon kaum. Als sie aber vom Protestantismus, der Französischen Revolution und den sozialen Konvulsionen des industriellen Kapitalismus herausgefordert wurde, veränderte sie ihre politische Philosophie grundsätzlich. Die moderne, christlich geprägte Demokratie ist eine recht junge Erscheinung, eine Antwort auf die Ausbildung großer gegenkirchlicher Institutionen durch die Antiklerikalen wie in Frankreich und Italien - und auf die Diskreditierung der Kirche in Hinblick auf ihre Kollaboration mit dem Faschismus vor 1945. Im katholischen Sozialethos und seiner Forderung nach Gemeinschaft gibt es eine antikapitalistische Komponente, die freilich nicht zwingend demokratische Konsequenzen nach sich ziehen muß. In welchem Ausmaß die übrigen großen Religionen (Konfuzianismus, Buddhismus, Hinduismus, Islam, Judaismus) moralische Imperative der Demokratie bein-

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halten, ist eine Frage, die von den Experten unterschiedlich beantwortet wird. Alle diese Religionen haben egalitäre Elemente, j e d e stattet die Gläubigen mit erheblichen moralischen Ressourcen aus für den K a m p f mit den Autoritäten. Diese latenten Potentiale wurden häufig aktiviert, wenn historische Umstände große Teile der Gläubigen in Widerstand zu Regimen setzte, die aus Vergeßlichkeit oder aus Feindseligkeit deren Forderungen nach kulturellem und sozialem Freiraum zuwiderhandelten. Empirisch gesehen übereinstimmen die großen Religionen dann mit der Demokratie, wenn sie mit den Spannungen des Pluralismus konfrontiert werden. Die französische Katholische Kirche warf immer einen kritischen B l i c k a u f den Kapitalismus. Einige ihrer Gruppen und Vordenker verbündeten sich mit den säkular gesonnenen Republikanern zur Verwirklichung ihrer Minderheitenrechte. E s existiert ein Zusammenhang zwischen dem pluralen und säkularen sozialen Rahmen einerseits und der Lernfähigkeit von Religionen andererseits, in einem politischen Raum existieren zu können (institutionell wie geistig), den sie zwar beeinflussen, den sie aber weder definieren noch beherrschen können. W i e Nation oder Rasse ist auch die Religion eine soziale Kategorie, die das Aufkommen eines für die D e m o kratie wesentlichen bürgerschaftlichen Bewußtseins blockieren und sogar verhindern kann. Das will sagen: ein Gläubiger ist etwas anderes als ein Bürger. Allerdings kann wie in Polen zwischen 1956 und dem Aufkommen der Solidarnosc eine starke Kirche das Bestreben eines Staates, eine monolithische M a c h t zu errichten, bekämpfen und begrenzen helfen. Von glücklichen Zufällen dieser Art abgesehen liegen Gründe zu befürchten vor, das kommende Jahrhundert werde eher selbsternannten Bewegungen von Erwählten gehören als einer ökumenischen B e wegung. Das wäre nämlich das Gespenst, das ein Regime verfolgt, welches für seine langfristige Sichtweise bekannt ist, den chinesischen Kommunisten. 3 ) „Denke global, handle lokal" war lange Zeit der Slogan von Kommunitariern, Umweltaktivisten, Menschenrechtsverteidigern,

Fürsprechern

einer

partizipatori-

schen Demokratie und Verteidigern bedrohter Kulturen. A u f den Posten des Außenministers zweier reicher Länder befördert mußten zwei intelligente europäische Politiker, die mit diesen Überzeugungen ihre politische Laufbahn begannen (Joschka Fischer und Anna Lindh) erkennen, daß sie global handeln müssen oder gar nicht. Ihre wie unsere Schwierigkeit besteht darin, daß die globalen Strukturen, wenn überhaupt davon die Rede sein kann, chaotisch und konfliktgeladen sind. Die Verquickung wie das Ausmaß der globalen Gesellschaft kontrastieren schlagend mit der Abwesenheit, j a dem Fehlen einer dichten und effektiven Kette transnationaler globaler politischer Institutionen. Selbst wenn der Sicherheitsrat der V e r einten Nationen Länder wie Brasilien, Ägypten, Indien, Japan und Nigeria sowie die Europäische Union einschließt, spiegelt er die alte Tradition internationaler Politik. Sie ist von Staaten und Staatenblöcken und nicht von Völkern gemacht. D i e Methoden und Arbeitsweisen des gesamten Spektrums internationaler Organisatio-

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nen bietet auch kaum Hoffnung auf Demokratisierung. Je effektiver sie werden, desto eher werden sie zur Beute des Einflusses starker Staaten und der Lobby und des Drucks des internationalen Kapitals, mag dies unabhängig voneinander erfolgen oder durch deren politische Bedienstete. Da ist es nur ein kümmerlicher Trost, wenn man darin Parallelen erkennt zu der Entwicklung politischer Institutionen in demokratischen Gesellschaften. Je mehr diese repräsentative Funktionen erfüllen, desto mehr werden sie belagert von organisierten Interessen, die sich dem demokratischen Entscheidungsprozeß nicht verpflichtet sehen. Letztlich wirft die globale Regierungsweise das Problem der Reichweite effizienter Institutionen auf, ein Problem, das nun wieder akut wird, und zwar selbst innerhalb der politisch am meisten erfolgreichen Länder. Auf eine erheblich gesteigerte Weise ist es auf der internationalen Ebene sichtbar. Eine der unaufrichtigen Banalitäten unserer Gegenwart ist die Annahme, wonach die Kategorien von „rechts" und „links" gar keine empirische Relevanz mehr hätten. Das trifft innerhalb demokratischer Staaten nicht zu und ist auf globaler Ebene genauso unrichtig. Die Komplexität und Verbreitung von Konflikten bedeutet keineswegs, daß die Bedeutung des Marktes als Organisator von Macht sich verringert hätte. Eher interagieren Marktzwänge mit der kulturellen Dynamik von spezifischen historischen Situationen und erbringen dadurch politische Resultate von anwachsender Undurchsichtigkeit. Diese Undurchsichtigkeit stellt nicht den geringsten Vorteil fur diejenigen dar, die ihre gegenwärtige Herrschaft fortzusetzen trachten. Die Fähigkeit zur Erkenntnis dieser Zusammenhänge zählt demnach zu den Vorbedingungen einer Entwicklung der Fähigkeit zur Bürgerschaft, oder, um präziser zu sein, jener Fähigkeit, die ideologische Erfindungen und nicht selten offene Lügen durchschaut. Jürgen Habermas beschwor einmal die „postnationale Identität" und den „Verfassungspatriotismus", als er von seinem eigenen Land und dessen verspäteter Demokratisierung sprach. Bevor die Völker dieser Erde in den Genuß der verhältnismäßig komfortablen Modelle gedeihender Demokratien kommen, müssen sie ihre nationalen, rassischen und religiösen Vermächtnisse mit einer säkularen Logik verschmelzen, die begründet sein muß mit den Bedürfnissen eines gemeinsamen Lebens in einer überbevölkerten Welt. Die Überzeugungskraft des Modells prosperierender Demokratien ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt begrenzt. Es wäre unklug anzunehmen, diese Länder wären gegenüber einer schrecklichen historischen Regression immun. Vielleicht haben die Kämpfe anderer Völker für die Demokratie und die Menschenrechte eine erzieherische Wirkung auf diejenigen Länder, die sich als Stammländer der Demokratie verstehen. In keinem Fall aber wird die Welt liberalisiert durch einen Moralimperialismus der westlichen Demokratien.

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Nachbemerkung Dieser Vortrag wurde vor dem Angriff vom 11. September auf die USA und dem anschließenden Bioterrorismus geschrieben. Mir ist vollständig unklar, wie man behaupten kann, die gesamte Welt sei in eine „Neue Ära" eingetreten. Es ist genauso plausibel zu schlußfolgern, daß die Bewohner der Vereinigten Staaten im Augenblick dasjenige lernen, was den meisten anderen Völkern seit einiger Zeit bekannt ist: die Unmöglichkeit der Unverwundbarkeit. Die Demokratie der Vereinigten Staaten erlebt gewiß durch die Mobilisierung der Kräfte im Zusammenhang mit der terroristischen Konfrontation einen Prozeß der Überprüfung. Die Konsequenzen sind hier wie in anderen Ländern noch ungewiß. Allerdings wären die Narodniki im zaristischen Rußland weit weniger bösartig gewesen, wäre ihr Staat damals eine parlamentarische Demokratie gewesen und das gleiche wird man über die islamische Bewegung sagen können, die die autoritären Regime im Islam herausfordern. Übersetzung von Marcus Llanque

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HERFRIED MÜNKLER

Neue Oligarchien? Über den jüngsten Wandel der Demokratie unter dem Einfluß von neuen Medien und veränderter Bürgerpartizipation

Irritierende Beobachtungen Es gibt, nimmt man die 50er und 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zum Vergleich, heute keine große Bundestagsdebatten mehr. Selbst dann, wenn die Fraktionsdisziplin aufgehoben ist und jeder Abgeordnete nach seinen persönlichen Interessen und Wertbindungen abstimmen kann, wie etwa bei den Entscheidungen über das Recht auf Schwangerschaftsabbruch, den Hauptstadtumzug oder den Import embryonaler Stammzellen für Forschungszwecke, wird anschließend allenfalls von ernsten, sachbezogenen Aussprachen, so gut wie nie jedoch von brillanten Rededuellen gesprochen. Unverkennbar sind die ersten Reihen der Parlamentsfraktionen kaum noch mit versierten Rhetorikern und schlagfertigen Debattenrednern besetzt. An ihre Stelle sind Machttechniker und Mehrheitenorganisierer getreten, deren rhetorische Fähigkeiten sich auf die leidliche Darbietung von kurzen Statements beschränken, die in den Nachrichtensendungen ausgestrahlt werden können. War es vor ein bis zwei Jahrzehnten für eine Parlamentsfraktion noch unvorstellbar, wenn ihr Vorsitzender unfähig war, komplexere Überlegungen argumentativ kohärent zu entwikkeln oder, wo er kurzfristig in die Enge getrieben war, sich mit schlagfertigem Witz zu befreien, so sehen heutige Parlamentsfraktionen darin offensichtlich kein Problem mehr. Telegenität hat rhetorische Fähigkeiten als Karriereressource der Politik abgelöst, und an die Stelle eines mit Redewendungen und politischen Bildern gespickten Bildungskanons sind Farbberater und Visagisten getreten, die sich um das Erscheinungsbild des Politikers bzw. der Politikerin bemühen. Offenbar handelt es sich bei diesem Wandel um die mit einiger Verspätung eingetretenen Folgen des-

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sen, daß im Verlauf der 60er und 70er Jahre das Fernsehen die Zeitung als gesellschaftliches Leitmedium abgelöst hat.1 Der Aufstieg und Niedergang von Politikern, so läßt sich vermuten, folgt inzwischen ähnlichen Regeln wie das A u f und Ab von Prominenz, bei dem die Häufigkeit des Gesehenwerdens über die Positionierung in der Prominentenskala entscheidet. Häufige Sichtbarkeit in den Medien, insbesondere im Fernsehen, weist einem Künstler, Gesellschaftslöwen und inzwischen auch Politiker eine herausgehobene Bedeutung zu, ohne daß damit irgend etwas über besondere Leistungen, durch die er sich hefvorgetan hätte, ausgesagt wäre. Mediale Präsenz ist keine Prämie für besondere und herausragende Leistungen, sondern oft genug eine Kompensation für deren Fehlen. So ist Prominenz in sozialwissenschaftlicher Hinsicht zu einem Komplementärbegriff von Elite geworden, bei der ein leistungsbezogener Auswahlprozeß eigentlich immer mitgedacht wird. 2 Das ist bei Prominenz nicht der Fall, und wenn es auch bei ihr einen Auswahlprozeß gibt, so erfolgt dieser in der Regel nicht nach leistungsbezogenen Kriterien. Die in jüngster Zeit verschiedentlich vertretene These von einer schleichenden Ablösung der Elite durch die Prominenz auch und gerade im Bereich der Rekrutierung des politischen Spitzenpersonals, 3 ist insofern aufs engste mit dem fortschreitenden Prozeß der nach medienästhetischen Vorgaben erfolgenden Ästhetisierung und Theatralisierung der Politik verbunden. 4 Von früheren Politikästhetisierungen, wie sie etwa von Walter Benjamin mit Blick auf den

1

Vgl. Ronald Hitzler, Die mediale Selbstinszenierung von Politikern. Eine personalisierte Form der ,Staatsrepräsentation', in: Staatsrepräsentation, hg. von Jörg-Dieter Gauger/Justin Stagi, Berlin 1992, 2 0 5 - 2 2 2 ; Bernd Guggenberger, Politik zwischen Talkshow und Teleshopping, in: Elisabeth Anselm u. a. (Hrsg.), Die neue Ordnung des Politischen, Frankfurt/M.-New York 1999, 1 8 7 - 1 9 8 , sowie Herfried Münkler, Ruhe auf den billigen Plätzen! Im großen Polit-Theater sind nur noch Quoten die Währung und die Inszenierung ist alles, in: FAZ, 26. Juli 2001, 48.

2

Vgl. Herfried Münkler, Werte, Status, Leistung. Über die Probleme der Sozialwissenschaften mit der Definition von Eliten, in: Kursbuch 139: Die neuen Eliten, 7 6 - 8 8 .

3

So etwa Thomas Macho, Von der Elite zur Prominenz. Zum Strukturwandel politischer Herrschaft, in: Merkur, 47. Jg. (1993), 7 6 2 - 7 6 9 ; dagegen hat Birgit Peters Elite und Prominenz im Begriff der Öffentlichkeitselite wieder stärker aneinander heranzuführen versucht; vgl. Peters, ,Öffentlichkeitselite' - B e dingungen und Bedeutungen von Prominenz, in: Kölner Zeitschrift fur Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 34, 1994, 1 9 1 - 2 1 3 .

4

Zu nennen ist hier insbesondere: Thomas Meyer, Die Inszenierung des Scheins. Voraussetzungen und Folgen symbolischer Politik, Frankfurt/M. 1992; ders., Die Transformation des Politischen, Frankfurt/M. 1994; ders./Martina Kampmann, Politik als Theater. Die neue Macht der Darstellungskunst, Berlin 1998; ders., Mediokratie. Die Kolonisierung der Politik durch die Medien, Frankfurt/M. 2 0 0 1 ; Hubert Willems/Martin Jurga (Hrsg.), Inszenierungsgesellschaft. Ein einführendes Handbuch, Opladen 1998; Wilhelm Hofmann (Hrsg.), Die Sichtbarkeit der Macht. Theoretische und empirische Untersuchungen zur visuellen Politik, Baden-Baden 1999; Peter Silier/Gerhard Pitz (Hrsg.), Politik als Inszenierung. Zur Ästhetik des Politischen im Medienzeitalter, Baden-Baden 2000; Andreas Dörner, Politainment. Politik in der medialen Erlebnisgesellschaft, Frankfurt/M. 2 0 0 1 , sowie Herfried Münkler, Die Theatralisierung der Politik, in: Ästhetik der Inszenierung, hrsg. von J o s e f Früchtl/Jörg Zimmermann, Frankfurt/M. 2001, 144-163.

N E U E OLIGARCHIEN? Ü B E R DEN JÜNGSTEN W A N D E L DER DEMOKRATIE

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Faschismus beschrieben worden sind,5 unterscheidet sich diese neue Form ästhetisierter Politik dadurch, daß in ihr nicht mehr die Massen inszeniert und ins Bild gesetzt werden, sondern der herausgehobene Einzelne, der dadurch erst prominent gemacht wird. Thomas Macho hat darum von einer „Facialisierung der Politik" gesprochen; in ihr sieht er eine permanente Intimitätssimulation der zuschauenden Masse mit der Prominenz. 6 So nah wie heute, allabendlich vor dem Bildschirm, sind uns die Mächtigen und politisch Einflußreichen noch nie gewesen. Ist die Ablösung der Elite durch die Prominenz, wie sie mit dem Vordringen des Fernsehens als gesellschaftlichem Leitmedium erfolgt, also womöglich doch ein Schritt zur weiteren Demokratisierung? Parallel zur fortschreitenden Theatralisierung der Politik ist in jüngster Zeit eine starke Tendenz zur Verlagerung gesellschaftlichen wie bürgerschaftlichen Engagements von Kirchen, Vereinen, Gewerkschaften und insbesondere auch politischen Parteien als den herkömmlichen Verknüpfungsorganisationen von Interessen und Wertbindungen auf projektbezogene Initiativen oder um ein einziges Thema zentrierte Gruppierung beobachtet worden. In einigen Arbeiten wird diese Verlagerung als ein langfristig demokratiegefährdender und freiheitsbedrohender Vorgang dramatisiert, während sie in anderen nur als die organisationssoziologische Folge eines tiefgreifenden gesellschaftlichen Wandels zu einer stärkeren Individualisierung angesehen wird, ohne daß ihr eine tiefergehende Bedeutung für die politische Ordnung zuerkannt werden muß.7 Unabhängig von der jeweiligen Beurteilung der mittel- und langfristigen Folgen dieses Wandels für die politische Ordnung stimmen jedoch alle Untersuchungen darin überein, daß das bürgerschaftliche Engagement seit längerem nicht mehr jene Robustheit aufweist, die es hatte, solange es in festen sozialmoralischen Milieus verwurzelt und durch ihnen verbundene Institutionen und Organisationen, wie Kirchen, Parteien und Verbände, organisiert war. Bürgerschaftliches und im engeren Sinne politisches Engagement weist inzwischen eine geringere Enttäuschungsresistenz auf, und das heißt, daß es immer stärker einem in

5

6

7

Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Erste Fassung), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.2, Frankfurt/M. 2 1978,431-469. Thomas Macho, Das prominente Gesicht. Notizen zur Politisierung der Sichtbarkeit, in: Politische Inszenierung im 20. Jahrhundert: Zur Sinnlichkeit der Macht, hrsg. von Sabine R. Arnold, Wien u. a. 1998, 171-184. D i e demokratie- und freiheitsbedrohliche Perspektive wird entfaltet von Robert D. Putnam, B o w l i n g Alone: America's Declining Social Capital, in: Journal o f Democracy, Bd. 6, 1995, Heft 1, 6 5 - 7 8 ; gelassener sind die Befunde interpretiert von Helmut Klages, Engagement und Engagementpotential in Deutschland, in: Die Zukunft von Arbeit und Demokratie in Deutschland, hg. von Ulrich Beck, Frankfurt/M. 2000, 1 5 1 - 1 7 0 , s o w i e Rolf G. Heinze/Christoph Strünck, Die Verzinsung des sozialen Kapitals. Freiwilliges Engagement im Strukturwandel, ebd., 1 7 1 - 2 1 6 , vgl. auch die Beiträge in Heft 2, Jg. 14, 2 0 0 0 des Forschungsjournals Neue soziale Bewegungen, die sich mit der Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements beschäftigen, sowie Rolf G. Heinze/Thomas Olk (Hg.), Bürgerengagement in Deutschland. Bestandsaufnahmen und Perspektiven, Opladen 2001.

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Analogie zu langfristigen ökonomischen Zyklen zu beschreibenden Auf und Ab unterliegt. Folgt man den Überlegungen Albert Hirschmans, so sind für diese zyklischen Schwankungen nicht äußere Anlässe, sondern endogene Faktoren, wie die antizyklische Steigerung der Enttäuschung, ausschlaggebend. 8 Langfristig angelegte Formen bürgerschaftlichen Engagements, wie sie durch Kirchen, Parteien und Verbände organisiert werden, werden seltener, und weil das Engagement thematisch singulär und sachbezogen begrenzt ist, ist es auch in geringerem Maße geeignet, die Ausbildung politischer Urteilskraft (Max Weber hat dafür den Begriff Augenmaß verwandt) zu befördern - im Unterschied zu den klassischen Organisationen, wo immer mehrere Themen gleichzeitig bearbeitet wurden und das politische Engagement sich insofern in einem ungleich komplexeren Feld bewegte. Insgesamt zeigen die verfügbaren Daten zum bürgerschaftlichen Engagement an, daß die Parteien als Sammler und Bündler politischen Engagements einer vielleicht nicht dramatischen, aber doch schleichenden Erosion unterliegen. 9 Faßt man die hier knapp skizzierten Tendenzen der Politiktheatralisierung und der sich im Gefolge eines allgemeinen Wertewandels vollziehenden Veränderungen bürgerschaftlichen Engagements zusammen, so ist es schwerlich übertrieben, wenn man die beiden Zentren der parlamentarischen Demokratie, wie sie sich nach 1945 in Deutschland herausgebildet hat, das Parlament und die politischen Parteien, 10 einer schwerwiegenden Bedrohung ausgesetzt sieht. Als Ort der politischen Deliberation sowie der Auswahl des politischen Personals ist das Parlament durch die politischen Talkshows bedroht, die auf dem Markt der Aufmerksamkeiten deutlich besser positioniert sind. Die Durchsetzung einer politischen Agenda in der Öffentlichkeit wie das Bekannt- und Beliebtmachen eines Kandidaten für wichtige politische Ämter ist längst aus dem Bundestag heraus verlagert worden und findet in den allwöchentlichen Gesprächs- und Präsentationsrunden bei Sabine Christiansen und Maybritt Iiiner statt. Um nicht mißverstanden zu werden: Nicht Talkshows an sich sind das Problem, sondern der mit ihrem Bedeutungsgewinn einhergehende Relevanzverlust des Parlaments, aber auch der Parteien, die ihre privilegierte Stellung als Institutionen der Rekrutierung und Auswahl politischen Personals zunehmend abgeben müssen. Was den politischen Parteien von ihren Kritikern immer wieder vorgehalten worden ist, hat in einem nicht unerheblichen Maße deren Attraktivität ausgemacht: Wer Mitglied einer Partei wurde und dafür Geld (Mitgliedsbeiträge)

8 9

10

Vgl. Albert Hirschman, Engagement und Enttäuschung. Über das Schwanken der Bürger zwischen Privatwohl und Gemeinwohl, Frankfurt/M. 1984, insbes. 9 - 1 5 . Vgl. hierzu auch Grabows detaillierte Untersuchung zum Wandel von Parteienorganisation und Mitgliederrolle während der letzten zehn Jahre in den beiden großen deutschen Volksparteien: Karsten Grabow, Abschied von der Massenpartei. Die Entwicklung der Organisationsmuster von SPD und CDU seit der deutschen Vereinigung, Wiesbaden 2000. Dazu ausfuhrlich Carl J. Friedrich, Der Verfassungsstaat der Neuzeit, Berlin u. a. 1953, 40ff. sowie 341 ff.; zur historischen Entwicklung der parlamentarischen Demokratie vgl. Christian Meier, Die parlamentarische Demokratie, München/Wien 1999.

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sowie Zeit (Teilnahme an Mitglieder- bzw. Delegiertenversammlungen) aufwandte, wurde dafür mit gesteigertem politischem Einfluß entschädigt. Das ist unter den Bedingungen der Mediendemokratie, in der die quotenermittelte Telegenität der Kandidaten und die von den Demoskopen festgestellte Attraktivität für die Positionierung einer Partei wichtiger sind als das an womöglich ganz anderen Kriterien orientierte Abstimmungsverhalten der Parteimitglieder nicht mehr der Fall." Insofern wird man davon ausgehen dürfen, daß das schwindende parteipolitische Engagement der Bürger nicht nur eine Folge des gesellschaftlichen Wandels und ihm korrespondierender Veränderungen der Mentalitäten und Einstellungen darstellt, sondern daß darin auch die geschwundene Attraktivität der politischen Parteien als privilegierte Orte politischer Einflußnahme ihren Ausdruck findet. - Aber sind diese Veränderungen als eine tatsächliche und schwerwiegende Bedrohung der Demokratie zu begreifen, wie dies inzwischen verschiedentlich zu hören ist.12

Neue Medien und Engagementverlagerung als Chancen der Demokratie Man sollte sich freilich davor hüten, die hier zusammengetragenen irritierenden Beobachtungen sogleich als weiteren Beleg für einen sich seit geraumer Zeit vollziehenden kulturellen Niedergang zu rubrizieren, der über das Schwinden rhetorischer Kompetenz und die Erosion bürgerschaftlichen Gemeinsinns inzwischen auch unmittelbar auf die Funktionsvoraussetzungen freiheitlich verfaßter politischer Ordnungen übergegriffen habe. 13 Zunächst nämlich ist zu erwägen, ob die im Verlaufe der 60er und 70er Jahre erfolgte Ablösung der Zeitung durch das Fernsehen als Leitmedium der politischen Kommunikation womöglich bloß die generative Politikgrammatik verändert hat, wie dies bei medialen Umbrüchen immer der Fall ist, ohne daß dadurch die Funktionsimperative freiheitlich verfaßter politischer Ordnungen in ihrem Kern berührt worden sind. Das zeitaufwendige und infolge der relativ hohen Bildungsvoraussetzungen kostenintensive Persuasionsverfahren rhetorischer Argumentation mitsamt einer auf Gestik und Mimik gestützten Verknüpfung von Ethos, Pathos und Logos wird danach ersetzt bzw. verdrängt durch im wesentlichen bildgestützte Persuasionstechniken, die eine sehr viel voraussetzungslosere und dementsprechend breitere Perzeption ermöglichen. Das würde heißen, daß die Verlagerung der Politikwahrnehmung von der sprachlichen Information zu bewegten Bildern, also die Ersetzung der linearen und abstrahierenden durch eine simultane und integrale Politikpräsentation die Politikpartizipation erleichtert und damit

11 12 13

Vgl. Thomas Meyer, Inszenierte Politik und politische Rationalität, in: Karl-Rudolf Korte/Werner Weidenfeld (Hrsg.), Deutschland-TrendBuch, Opladen 2001, 554ff. Vgl. als Beispiel für viele Jean-Marie Guéhenno, Das Ende der Demokratie, München 1994. Diese Sicht findet sich vor allem in den Arbeiten von Neal Postman, insbes. in Neal Postman, Die zweite Aufklärung. V o m 18. ins 21. Jahrhundert, Berlin 1999, insbes. 125ff.

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verbreitert hat. Der Übergang vom logozentrischen zum ikonozentrischen Zeitalter, wie der mediale Wandel inzwischen auch genannt wird, wäre danach ein folgenreicherer Beitrag zur Egalisierung der Zugangschancen zu politischen Entscheidungsprozessen als alle vorangegangenen Wahlrechtsausweitungen. 14 Oder pointiert: Es geht den alten Eliten an den Kragen, weil durch den Siegeszug der neuen Medien deren traditionelle Exklusionsmechanismen und Zugangsschleusen vielleicht nicht zerstört, aber doch umgehbar geworden sind. Und die medialen Veränderungen haben in einer solchen von Fortschrittsvertrauen und Zukunftssicherheit geprägten Sichtweise nicht nur den positiven Effekt erleichterter Partizipationsmöglichkeiten, sondern tragen auch zu einer Verbesserung der politischen Information bei. Infolge des Zwangs zu fernsehgerechten Kurzstatements können die Politiker nicht mehr so lange um den heißen Brei herumreden und sind statt dessen gezwungen, zur Sache zu kommen und ihre politischen Vorschläge auf den Punkt zu bringen: Höhere Steuerfreibeträge - ja oder nein; mehr Geld ftir Schulen und Universitäten - ja oder nein; verbesserte Möglichkeiten zur Unterbringung von Kindern während der Arbeitszeit der Eltern - ja oder nein; entschiedene Maßnahmen für die Sauberhaltung der Stadt - ja oder nein! Man wird davon ausgehen dürfen, daß der sogenannte Mann oder die Frau auf der Straße dieser Sicht einer verbesserten Information und Partizipation durch die neuen Medien eher zustimmen als sie zurückweisen werden. Zur Egalisierung bzw. Demokratisierung der Politik im hier umrissenen Sinn gehört dann auch, daß beide, der Mann und die Frau auf der Straße, in den Nachrichtensendungen und Politikmagazinen des Fernsehens qua Straßeninterview inzwischen zu aussagestarken Politikkommentatoren avanciert sind. Ihre Stellungnahmen, die sich zumeist um die Frage derhen, ob eine Entscheidung bzw. Entwicklung gutgeheißen werden kann oder nicht, bilden inzwischen das politikästhetische Pendant zu den Kurzstatements der Politiker. Vermittelst der neuen Medien, so diese Sicht, ist ein Rückkopplungsverhältnis zwischen politischen Entscheidungszentren und Bürgerschaft hergestellt worden, das die Erwartungen, wie sie mit der Entwicklung demokratischer Partizipationschancen im 18. und 19. Jahrhundert verbunden wurden, bei weitem übertrifft. Eine ähnlich optimistische Sichtweise läßt sich auch hinsichtlich des Wandels bürgerschaftlichen Engagements ausmachen, das als eine Stütze der Zivilgesellschaft und als Gegengewicht zu den von den Parteien ausgehenden Oligarchisierungstendenzen angesehen wird. Die Bedrohung der Demokratie durch eine Oligar14

Inzwischen beschränken sich diese Erwartungen nicht mehr nur aufs Fernsehen, sondern sehen im Internet und den dadurch eröffneten Möglichkeiten der Kommunikation, Deliberation und Dezision weitere und weitergehende Chancen für die Demokratisierung des Politikprozesses; vgl. dazu beispielsweise Birger P. Priddat, eGovernment/eDemocracy: Eine neue Dimension der Gemeinwohlermittlung in der Politik, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn II. Rhetoriken und Perspektiven sozial-moralischer Orientierung (Forschungsberichte der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften), Berlin 2002, 289-310, sowie ders., Zivilgesellschaft als EGovernment, in: Universitas, 56. Jg., Dez. 2001, Nr. 666, 1248-1254.

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chie der Parteien, wie sie in der Politikwissenschaft und der politischen Publizistik immer wieder beklagt worden ist,15 wird durch den Bedeutungsverlust der Parteien und die Verlagerung eines Teils ihrer Entscheidungsmacht auf die mit TedUmfragen ausgestatteten Talkshows im Fernsehen zurückgedrängt. Freilich ist mit der Verlagerung des bürgerschaftlichen Engagements auch eine wachsende Bedeutung von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zu beobachten, in der eine neue Form der Oligarchisierungsdrohung gesehen werden kann. Die wichtigste Einflußressource dieser NGOs ist nicht so sehr, wie bei den herkömmlichen Parteien, die Verbindung von Mitgliedschaft und Anwesenheit, sondern die von Sachkompetenz und Medienpräsenz, und beides wird nicht selten durch den Anspruch verstärkt, die jeweilige Nichtregierungsorganisation verfolge nicht partikulare Interessen, sondern das Gemeinwohl. Die Umweltschutzorganisation Greenpeace ist dafür das nach wie vor eindrucksvollste Beispiel. Genau betrachtet, sind auch NGOs Interessenorganisationen, aber die Interessen, die zu vertreten sie beanspruchen, stehen zumeist in einer engen Verbindung zu Wohl und Zukunft der gesamten Menschheit: von der Verteidigung der Menschenrechte über humanitäre Hilfe oder den Schutz bedrohter Tierarten bis zu Fragen des Klimaschutzes und der Sicherung menschlichen Lebens auf dem Planeten. Ist Oligarchisierung seit Aristoteles mit der Vorstellung einer Präferierung von Eigen- bzw. Partialinteressen gegenüber dem Gemeinwohl verbunden, so wird, ebenfalls seit Aristoteles, das gesteigerte Engagement kleiner Gruppen für das Allgemeine Beste als aristokratisch bezeichnet: als das privilegierte Handeln Einiger im Interesse und zum Wohle Aller, auch und gerade dann, wenn diese das aufgrund ihrer Bornierungen nicht zu erkennen vermögen. Es handelt sich hierbei fraglos um eine antiegalitäre Zugangsbeschränkung zu den Politikarenen, doch dürfte sich diese wesentlich auf Sachkompetenz und die Bereitschaft zu gesteigertem Engagement gestützte Zugangsbeschränkung ungleich besser rechtfertigen lassen als frühere Zugangsbeschränkungen, wie etwa Vermögensgröße und Einkommenshöhe (Drei-Klassen-Wahlrecht) oder Parteimitgliedschaft in Verbindung mit einer möglichst ausgedehnten Versammlungspräsenz. In gewisser Hinsicht lassen sich die mit dem Wandel des gesellschaftlichen Leitmediums und den dadurch erzwungenen Veränderungen in der Politikpräsentation verbundene Egalisierung des Zugangs zu politischer Information und die aus der schwindenden Bedeutung von politischen Parteien und dem wachsenden Einfluß von NGOs erwachsende Aristokratisierung von Zutrittsbedingungen und Einßußchancen zu einem Szenario des Fortschritts an Partizipationsermöglichung wie 15

In der Politikwissenschaft ist vor allem Wilhelm Hennis als entschiedener Kritiker der Entwicklung zum Parteienstaat zu nennen; seine die Entwicklung der Bundesrepublik begleitende Kritik zusammenfassend vgl. Wilhelm Hennis, Auf dem W e g in den Parteienstaat. Aufsätze aus vier Jahrzehnten, Stuttgart 1998; zuletzt wurde die Kritik an Einfluß, Rolle und insbesondere Finanzierung der Parteien vor allem v o n Hans Herbert von Arnim vorgetragen; soweit ich dies zu sehen vermag, hat Iring Fetscher diese skeptische Distanz gegenüber den Parteien nie geteilt; vgl. etwa Iring Fetscher, Die Demokratie. Grundfragen und Erscheinungsformen, Stuttgart u. a. 1970, 71 ff.

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Qualitätssicherung politischer Entscheidungen verbinden: Ein verbreiterter und erleichterter Zugang zur Politik ist verknüpft mit normativ anspruchsvolleren Bedingungen bei der Plazierung von politischen Themen und Aufgaben in der öffentlichen Debatte. Die alte Hoffnung, daß Demokratisierung und die Auswahl der Besten für die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, also die Aristokratisierung des politischen Personals, sich nicht ausschlössen, sondern miteinander verbinden ließen, könnte mit den beschriebenen Entwicklungen neuen Auftrieb erhalten. Es hat etwas verführerisches, die gesellschaftliche Tendenz zu einer fortschreitenden Individualisierung und der Auflösung langfristig angelegter Bindungen in Verbindung mit den medialen Revolutionen der letzten Jahrzehnte zum Garanten der Verwirklichung einer politischen Utopie zu machen.

Einige skeptische Einwände Es ist freilich keineswegs zwingend, den wachsenden Einfluß der NGOs auf die politische Agenda als eine Zunahme von Sachkompetenz bei gleichzeitiger Reduzierung der Bedeutung von Eigen- und Partialinteressen zu feiern. Tatsächlich sehen die NGOs sich selbst gerne als aristokratische Elemente innerhalb der interessenpluralistischen Verfaßtheit moderner Demokratien. Was aber nicht heißt, daß sie dies tatsächlich sind. Der dramatische Anstieg des Einflusses von NGOs auf politische Entscheidungsprozesse resultiert nicht sosehr aus deren höherer moralischer Legitimation als vielmehr aus einem in teilweise virtuoser Form betriebener Zusammenspiel mit den Medien, 16 durch das die NGOs erst jene Aufmerksamkeit und Unterstützungsbereitschaft vieler Bürger erlangt haben, in deren Gefolge sie zu einem einflußreichen Akteur auf der politischen Bühne geworden sind. Es ist vor allem die mediale Verstärkung, die dazu geführt hat, daß die Auftritte einiger Aktivisten politisch einflußreicher und aufmerksamkeitsintensiver geworden sind als die meisten Parlamentsdebatten oder Parteitage. Die oftmals ebenso komplexe wie differenzierte Argumentation in Parlamentsdebatten ist wohl in den klassischen Printmedien darstellbar, aber für die visualisierte Informationskultur des neuen Leitmediums Fernsehen ist sie ebenso unattraktiv wie uninteressant, und während es der Regie der Parteitage inzwischen gelungen ist, eine an den Anforderungen des Fernsehens orientierte Eröffnungsinszenierung und entsprechende Auftritte des Spitzenkandidaten durchzusetzen, ist etwas vergleichbares im Parlament unmöglich, wenn es sich nicht gleich in eine Talkshow verwandeln will. So bleiben hier die auf Nachrichtenformat gestutzten Statements der Spitzenpolitiker, an denen lange gefeilt wird, weil in ihnen, verkürzt auf einen oder zwei Sätze und nicht länger als eine Zeitstrecke von 30 bis 45 Sekunden die politische Botschaft enthalten sein muß, auf

16

Am Beispiel von Greenpeace ist dies analysiert bei Ralf Vandamme, Basisdemokratie als zivile Intervention. Der Partizipationsanspruch der Neuen sozialen Bewegungen, Opladen 2000.

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die es der Regierung oder Opposition ankommt. Für eine ausgefeilte Rhetorik ist unter diesen Umständen kein Platz und kein Erfordernis. 17 Inzwischen ist es auf nationaler wie internationaler Ebene den Aktivisten der NGOs gelungen, durch spektakuläre Aktionen, die zumeist eigens für die audiovisuellen Medien inszeniert werden, im politischen Agenda-Setting die Oberhand zu gewinnen und dabei die klassischen Institutionen der parlamentarischen Demokratie, vom Parlament bis zur Regierung, in oft nur noch reagierende Mitspieler zu verwandeln. Nicht zuletzt infolge solcher Aktionen hat sich der Eindruck verbreitet, die klassischen politischen Institutionen seien nicht mehr Herr des Geschehens. Aber dies ist nur ein nichtintendierter Nebeneffekt der von den NGOs spektakulär inszenierten Aktionen, die vor allem auf die Herstellung und Abrufung von Spendenbereitschaft in der Bevölkerung abzielen. In der Regel sind die NGOs nämlich darauf angewiesen, ihren Verwaltungsstab, die Experten, die Logistik sowie die „vor Ort" eingesetzten Gruppen durch Spenden zu finanzieren, und um dies zu können, müssen sie sich auf dem Markt der Aufmerksamkeiten gegen zahllose Konkurrenten durchsetzen. Wie dies erfolgreich zu machen ist, hat vor allem Greenpeace inzwischen über zwei Jahrzehnte vorgeführt. Der Preis der dafür gezahlt werden muß, ist jedoch nicht zu unterschätzen, und er besteht, zumindest in Deutschland, in der Aufspaltung einer zunächst relativ geschlossenen, in der Gesellschaft breit verankerten ökologischen Bewegung mit einer hohen Mobilisierungsfahigkeit in eine kleine Gruppe von Aktivisten, die für die Kameras der Weltpresse spektakuläre Aktionen in Szene setzen, und die große Mehrheit der - zumindest in diesen Fällen - in Zuschauer verwandelten früheren Öko-Demonstranten. Die damit hergestellte Asymmetrie von Sehen und Gesehenwerden hat im Zeitalter der visuellen Medien und der über sie verteilten ProminenzPrämien auch eine ungleiche Verteilung von Macht und Einfluß zur Folge. Nur wer gesehen wird oder zumindest gesehen werden kann, ist wichtig und wer bloß sieht, bildet schließlich bloß das Publikum oder allenfalls die Staffage. 18 Die Anwendung von Begriffen und Bildern des Theaters auf die politischen Verhältnisse ist freilich

17

An diesem Punkt zeigt sich freilich am deutlichsten, daß der Austausch der Rhetorik gegen die Telegenität mehr ist als bloß ein Wechsel in der generativen Grammatik der Politik: Politische Rhetorik sucht zu überzeugen und ist auf Argumentationen begründet; telegen präsentierte Kurzstatements hingegen sind nur eine Form politischer Positionierung, die Zustimmung bzw. Mehrheitsfähigkeit für sich reklamiert. Pointiert: Politische Rhetorik ist ein Bestandteil politischer Deliberationskultur, Kurzstatements im Fernsehen hingegen kokettieren stets mit dem Populismus.

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Vgl. Jürgen Wilke, Die Visualisierung von Politik und politischer Macht durch Nachrichtenbilder, in: Wilhelm Hofmann (Hrsg.), Die Sichtbarkeit der Macht, 163-173. In der Geschichte der Macht ist dies keineswegs immer so gewesen: Wahrscheinlich war die Fähigkeit, sich den Zumutungen der Sichtbarkeit zu entziehen, über die längste Zeit menschlicher Herrschaftsbeziehungen der zuverlässigere Indikator für Macht als das Gegenteil. Die aus dem Vorderen Orient nach Europa gekommene Tradition, wonach es ein Zeichen von Macht ist, daß deren Träger für das Volk nicht permanent und beliebig sichtbar ist, hat sich nicht zuletzt unter dem Einfluß der neuen Medien und dem von ihnen ausgehenden Zwang zur Prominenz ins Gegenteil verkehrt.

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seit jeher kein Zeichen fortschreitender Demokratisierung, sondern eher ein Indikator des Gegenteils gewesen, reflektiert sich darin doch die Spaltung der Angesprochenen in einige Darsteller und die große Masse der Zuschauer. Gerade weil die Begrifflichkeit und die Bilder des Theaters den Gegensatz zwischen der aktiven Politik auf der Bühne des Geschehens und der davon getrennten Zuschauerrolle, bei der Beifall oder Mißfallensäußerungen die äußerste Aktivität darstellen, so stark betonen, sind sie eigentlich seit jeher als Metapher hierarchisch-autoritärer und nicht demokratisch-egalitärer Verhältnisse verwandt worden. Die Politiktheatralisierung des späten 20./frühen 21. Jahrhunderts ist freilich komplexer, als dies durch die klassische Theatermetaphorik erfaßt werden kann: Der Abstand zwischen Bühne und Publikum wird nämlich nicht mehr nach den Vorgaben der Herrschenden hergestellt, um die großen Distanzen zwischen ihnen und den Herrschaftsunterworfenen deutlich zu machen bzw. die kleinen Unterschiede im Hofzeremoniell zu zelebrieren, 19 sondern die Theatralisierungen der Politik sind im Gegenteil darauf bedacht, diesen Abstand nicht in Erscheinung treten und die Unterschiede zwischen Darstellern und Publikum verschwimmen zu lassen. Dabei sind die totalitäre und die spätmoderne Strategie dieser Gegensatzverwischung voneinander zu unterscheiden: Haben der Faschismus wie der Bolschewismus gleichermaßen die Massen auf die Bühne geholt und sie dort ihrer selbst ansichtig werden lassen, nicht um ihnen die tatsächliche Macht zu übertragen, sondern um sie, von den Aufmärschen auf dem Nürnberger Parteitagsgelände bis zu den Paraden in Moskau und Ost-Berlin, als Staffage und Resonanzraum für die Auftritte der großen Führer zu nutzen, so werden in der Spätmoderne keine Massen mehr auf die Bühnen gerufen, sondern die großen Stars der Politik halten allabendlich mit Hilfe des Fernsehens Einzug in die Wohnzimmer der Bevölkerung, wo sie gleichsam face to face mit jedem Einzelnen kommunizieren. Die Intimitätssimulation hat die Machtdemonstration abgelöst. Daß die Partizipationsdichte und -intensität unter diesen Umständen größer geworden ist, wird man freilich kaum annehmen dürfen.

Nicht bloß skeptische Ausblicke Wenn die von den Sozialwissenschaften immer wieder geäußerte Vermutung zutrifft, daß Interessen um so weniger organisationsfähig sind, je mehr Menschen sie betreffen, so daß das Interesse der gesamten Menschheit im Prinzip überhaupt nicht organisierbar und insofern ohne politisches Gewicht ist,20 so können NGOs als ein

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Höhepunkt dieser Form der Politiktheatralisierung ist Ludwig XIV.; vgl. dazu Peter Burke, Ludwig XIV. Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin 1993, s o w i e nach wie vor Norbert Elias, Die höfische Gesellschaft. Untersuchungen zur Soziologie des Königtums und der höfischen Aristokratie, Darmstadt/Neuwied 1969.

20

Mit diesem Problem hat sich Iring Fetscher vor allem in jenen Arbeiten beschäftigt, die sich um Probleme der Ö k o l o g i e drehen; vgl. etwa Iring Fetscher, Ü b e r l e b e n s b e d i n g u n g e n der M e n s c h h e i t . Ist der

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Versuch begriffen werden, dieses Dilemma zu durchbrechen. Dazu aber sind sie unweigerlich auf die kreative Nutzung der Medien angewiesen, die es ihnen überhaupt erst ermöglichen, Aufmerksamkeit zu erzeugen und politische Unterstützung zu mobilisieren. Auf diese Weise gelingt es ihnen mitunter auch, Fragen und Probleme auf die politische Tagesordnung zu setzen, die aufgrund ihrer Komplexität oder Diffusität die politische Öffentlichkeit sonst niemals beschäftigen würden. Durch die Inszenierung von Skandalen ebenso wie durch spektakuläre Aktionen, die vordergründig nur in der Produktion aufmerksamkeitsheischender Bilder bestehen, durchbrechen sie, partiell zumindest, die öffentliche Nichtthematisierung sogenannter Sachfragen und entziehen sie so dem Alleinzuständigkeitsanspruch der Verwaltung. Wenn Demokratien darauf angewiesen sind, auch komplexe und interessenstrukturell kaum organisationsfähige Probleme von Fall zu Fall zu politisieren, sie also politisch verfügbar zu machen - man könnte auch sagen, daß das Volk aufgrund seiner Kompetenzkompetenz die an eine Verwaltung delegierte Problembearbeitung wieder an sich zieht - , um durch kollektiv bindende Entscheidungen die Bearbeitungsrichtung oder -intensität dieser Problemen zu verändern, dann sind NGOs wichtige neue Elemente der Demokratie, selbst wenn sie infolge der Kombination von Sachwissen und Medienkompetenz starke aristokratische Züge und womöglich gar oligarchische Elemente aufweisen. Sie sind eine Antwort auf die wachsende Bedeutung von Fragen, die die Menschheit als Ganzes betreffen, die aber gerade deswegen in einer interessenpluralistisch angelegten Verfassung nicht organisationsfahig sind. Ihr mitunter nur schwer zu ertragender Anspruch auf die Innehabung eines Moralmonopols hängt damit eng zusammen. Er ist sicherlich aber auch eine Form der Bewirtschaftung des schlechten Gewissens, das viele angesichts der Umweltbedrohungen und der ungleichen Verteilung von Lebenschancen im Weltmaßstab haben. NGOs stellen zur Beruhigung dieses Gewissens Spendenbescheinigungen aus, die als Zertifikationen für Schuld- und Schamabkauf gelten dürfen. Damit sie wirken können, müssen NGOs freilich für sich das Moralmonopol im Bereich politisch-gesellschaftlichen Handelns beanspruchen können. Unsere gesteigerte Aufmerksamkeit hat den Möglichkeiten einer demokratischen Kontrolle dieser neuen Formen der Oligarchiebildung zu gelten: Sie erfolgt einstweilen und wahrscheinlich auch in Zukunft nicht über die klassischen Mechanismen der Wahl, sondern über die Bereitschaft bzw. Nichtbereitschaft der Bevölkerung, diese Gruppen durch ein entsprechendes Spendenaufkommen zu alimentieren. Damit wird die für die parlamentarische Demokratie zentrale Form der Politikpartizipation qua Stimmabgabe dauerhaft und folgenreich durch die neue Partizipationsform der Banküberweisung ergänzt und verschiedentlich wohl auch überlagert.2'

21

Fortschritt noch zu retten?, München 2 1985, insbes. 179ff.; ebenso ders., Vom Wohlfahrtsstaat zur neuen Lebensqualität. Die Herausforderungen des demokratischen Sozialismus, Köln 1982, insbes. 50ff. Dagegen läßt sich natürlich einwenden, daß der Mitgliedsbeitrag bereits ein unverzichtbarer Bestandteil der Parteienlandschaft war, wie sie sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts herausgebildet hat.

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Freilich steht außer Frage, daß der Mittelschicht bzw. der „neuen Mitte" infolge dieser neuen politischen Partizipationsformen ein relativ größerer Einfluß zuwächst, als dies im klassischen Wahlverfahren vorgesehen und der Fall ist. Dabei spielen zunächst das in den mittleren gesellschaftlichen Schichten notorisch größere politische Engagement und insbesondere die bessere Bildung eine entscheidende Rolle, selbstverständlich aber auch aufgrund höherer Einkommen eine größere Verfügbarkeit von gegen steuermindernde Spendenquittung abzuführenden Geldmittel. War die Politikpartizipation durch Stimmabgabe seit der Einführung des allgemeinen, freien und gleichen Wahlrechts nach dem Grundsatz radikaler Egalität organisiert (one man - one vote), so werden die ,Stimmen' im Falle der Partizipation durch Engagement und Spende eher gewogen als gezählt?2 Marsilius' von Padua Vorstellung, daß bei der Selbstregierung eines Gemeinwesens dem maior et valentior pars der Bevölkerung ein Übergewicht zu verschaffen sei, scheint in der postmodernen Demokratie neue Relevanz zu bekommen.

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Aber gerade der Vergleich zwischen Mitgliedsbeiträgen und Spendeneinkommen zeigt das Neue an den NGOs als Akteuren der demokratischen Ordnung: Die Entscheidung zu Mitgliedschaft und damit auch zur Entrichtung der mit ihr verbundenen Beiträge erfolgte für eine längere Zeit und orientierte sich an der Kongruenz zwischen den Interessen und Wertbindungen des Mitglieds und denen der Organisation. Die Bindung war auf Dauer angelegt und wurde in der Regel erst bei dauerhaft schwerwiegenden Inkongruenzen aufgelöst. Das ist bei den NGOs anders, auch wenn sie eine Reihe von Mitgliedern haben und von ihnen regelmäßige Beiträge beziehen: Sie sind auf die immer wieder neu herzustellende Mobilisierung von Aufmerksamkeit und die Gewinnung von Zustimmung und Unterstützungsbereitschaft größerer Kreise der Bevölkerung angewiesen, wenn sie nicht untergehen und verschwinden wollen. Das Spendenaufkommen ist bei ihnen also ein Funktionsäquivalent zur Mobilisierung von Wählerstimmen. Zum Modus der Stimmabgabe und den politischen Folgen seiner jeweiligen Organisation vgl. Hubertus Buchstein, Öffentliche und geheime Stimmabgabe. Eine wahlrechtshistorische und ideengeschichtliche Studie, Baden-Baden 2000. Im Anschluß an Buchsteins Überlegungen zur Öffentlichkeit der Stimmabgabe wäre zu erwägen, ob und inwieweit in der Veröffentlichung der Spendeneinnahmen der jeweiligen NGOs eine Balancierung des gestiegenen Einflusses der Vermögenden liegen könnte. Von Bedeutung ist dabei aber nicht nur die Öffentlichkeit von Einflußnahme qua Spende im Sinne einer Kontrolle, sondern auch als Ausweis und Verteilungsmodus von Bürgerehre. Bürgerehre wird durch Engagement für öffentliche Aufgaben zuteil und sie kann als ein demokratisch kontrolliertes Zertifizierungsmodul des Aristokratischen angesehen werden. Bezüge zum athenischen System der Liturgie sind denkbar. Im übrigen hat Iring Fetscher in seinen ideengeschichtlichen Überblicksvorlesungen die Liturgie als eine Finanzierungsform öffentlicher Aufgaben immer mit großer Sympathie dargestellt. Zur Relevanz von Bürgerehre für mocferne Gesellschaften vgl. Herfried Münkler, Bürgersinn und Bürgerehre. Warum die Zivilgesellschaft engagierte Bürger braucht, in: Universitas, 56. Jg., Dez. 2001, Nr. 666, 1220-1233.

WALTER EUCHNER

Die Deutschen und ihre Revolutionen

Revolutionen, sagte Marx, seien die Lokomotiven der Geschichte. Walter Benjamin setzte hinzu, vielleicht glichen sie eher einer Notbremse. 1 Beide Sichtweisen, die Betonung des Beschleunigungs- oder des Bremseffekts, können zutreffen. Die Große Französische Revolution setzte den Kampf um die Republik auf die Tagesordnung der Geschichte, und die unblutige Revolution der Deutschen des Jahres 1989 hatte ihren Hauptgrund darin, daß die Menschen in der DDR ihre sogenannte Republik satt hatten, ihr scharenweise davon liefen, und die beherzt Dagebliebenen riefen den Machthabern zu „Wir sind das Volk" und zogen auf diese Weise tatsächlich die Notbremse. Doch wie dem auch sei - Revolutionen müßten im politischen Seelenhaushalt der Nationen eigentlich eine bedeutende Rolle spielen. Bei unseren Nachbarn ist dies in der Tat der Fall. Die Franzosen sehen in der Revolution von 1789 das entscheidende Ereignis, das sie zur republikanischen Nation einte. Deswegen legten sie ihren nationalen Feiertag auf den 14. Juli, den Jahrestag der revolutionären Tat, die zum Symbol des Zusammenbruchs der alten Herrschaft wurde, nämlich der Erstürmung der Bastille. Die Deutschen müssen sich dagegen heutzutage erst besinnen, an welches Ereignis ihr nationaler Gedenktag erinnern soll, und an welchem Datum er stattfindet. Richtig, am 3. Oktober, und er hat tatsächlich etwas mit einer Revolution zu tun. Dieses Datum beruht nämlich auf dem Einigungsvertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik vom 31. August 1990, der die Resultate der friedlichen Revolution des Jahres 1989, die der DDR den Garaus machte, völkerrechtlich besiegelt. Dort heißt es in Art. 1 :

1

Vgl. dazu Walter Euchner, „Die Revolutionen sind die Lokomotiven der Geschichte". Zum Metaphernund Symbolumfeld eines Marxschen Diktums, in: ders. u. a. (Hrsg.), Die Macht der Vorstellungen. Die politische Metapher in historischer Perspektive, Bologna/Berlin 1993, 277-307 (277, 299).

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WALTER EUCHNER

„Mit dem Wirksamwerden des Beitritts der Deutschen Demokratischen Republik zur Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 GG am 3. Oktober 1990 werden die Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen Länder der Bundesrepublik Deutschland." Und Art. 2. Abs. 2 lautet: „Der 3. Oktober ist als Tag der Deutschen Einheit gesetzlicher Feiertag." 2 Beide Gedenktage, der 14. Juli und der 3. Oktober, erinnen an die politischen Resultate einer erfolgreichen Revolution. Doch welchem Ereignis wird Bedeutung zugemessen? In Frankreich dem revolutionären Durchbruch, in Deutschland dem fein säuberlich politisch-bürokratisch abgewickelten Staatsakt. Wer einmal am 14. Juli in Frankreich gewesen ist, weiß auch, daß dieser Tag dort anders begangen wird als der 3. Oktober: Dort, nach den unvermeidlichen Militärparaden, als Volksfest, hier mit Verwandtenbesuchen oder mit einer Fahrt ins Grüne. Der Staatsakt wird kaum beachtet, lokale Gedenkfeiern sind eher selten. Daher empfinde ich am 3. Oktober 2001 keine republikanischen Gewissensbisse, daß ich im stillen Kämmerlein bleibe, um diesen Text zu schreiben.

Wie kam es zu der 48er Revolution in Deutschland? In Deutschland, so sagte Marx im Jahr 1840 voraus, werde die Revolution „durch das Schmettern des gallischen Hahns" verkündet werden. 3 So ist es in der Tat gekommen - allerdings nicht nur in Deutschland, sondern in allen wichtigen europäischen Ländern, in Österreich und Ungarn, in den italienischen Staaten, in der Schweiz, in Polen, in Spanien und Belgien. 1848 war das Jahr der europäischen Revolutionen, die von der französischen Februarrevolution ihren Ausgang nahmen. Dennoch müssen wir nach den speziellen Auslösefaktoren in Deutschland fragen. Sie waren vielfältig: ideell, politisch und sozial. Zu den ideellen gehörte die Unzufriedenheit im liberal gesonnenen Bürgertum, weil der König von Preußen sein Verfassungsversprechen nach den napoleonischen Kriegen schmählich brach und die übrigen deutschen Fürsten sich in Fragen der Liberalität nicht rührten. Statt dem Bürgertum mit einigermaßen liberalen Verfassungen entgegenzukommen wenigstens nach dem Vorbild der französischen Charte nach dem Sturz Napoleons, die ein begrenztes, auf Wahlen beruhendes Repräsentationsrecht vorsah - unterdrückten sie die freiheitlichen Regungen durch „Demagogenverfolgung" und Pressezensur. Dies provozierte konspirative Treffen oppositioneller Liberaler, vor allem in Süddeutschland, die darüber nachdachten, wie man in Deutschland zu einem Nationalparlament gelangen könnte. Ein wichtiger ideeller Faktor waren die Einflüsse der französischen Politik, deren Kenntnis weit verbreitet war. Es gab in allen Städten Lesegesellschaften, die die führende französische Presse, ζ. B. die quasi sozial2 3

Vgl. Ingo von Münch (Hrsg.), Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, Stuttgart 1991, 327f. Karl Marx, Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, in: Marx, Engels, Werke, Band 1, Berlin 1972, 391.

D I E DEUTSCHEN UND IHRE REVOLUTIONEN

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demokratische „Réforme" und den bürgerlich-republikanischen „National", zugänglich machten - nicht zu vergessen den Ideenimport der Handwerksgesellen, die in großer Zahl in Paris Arbeit fanden. Sie kamen dort mit den umstürzlerischen frühsozialistischen Ideen in Berührung, möglicherweise auch mit dem von Weitling, Marx und Engels inspirierten „Bund der Kommunisten" - Kontakte, die auch in Deutschland wirksam wurden. Schließlich gab es in den deutschen Ländern ein Netz von demokratisch, republikanisch, teilweise auch sozialistisch eingestellten Intellektuellen, mit vielfältigen Beziehungen zum Ausland, in die Schweiz und vor allem nach Paris, dem „Wartesaal der Revolution": Dort gab es ζ. B. Querverbindungen zwischen Georg Herwegh, dem Verfasser der viel gelesenen aufrührerischen „Gedichte eines Lebendigen", seiner Frau Emma, der Tochter des reichen Berliner Hoflieferanten Johann Gottfried Siegmund, Marx, Heinrich Heine, Bakunin und George Sand, der Pionierin der Frauenemanzipation. 4 Natürlich war es nicht dieser intellektuelle „Überbau" des Vormärz, der die revolutionäre Zuspitzung bewirkte, sondern soziale Gründe. Im Bürgertum rumorte es, die Fürsten und der Adel waren bei den einfachen Leuten, den Bauern und den Handwerkern, zumeist verhaßt. Hinzu kommt, daß 1847 ein Jahr der Mißernten und Hungersnöte war. In Süddeutschland kam es zu gewaltsamen Bauernaufständen. Amtshäuser und Adelsschlösser wurden gestürmt und verwüstet, die Akten zum Fenster hinausgeworfen oder angezündet. Im Vormärz lag in Deutschland also genügend Zunder, und es bedurfte nur noch des berühmten Funkens, um revolutionäre Brände auszulösen. Der Funke flog: Die Februarrevolution in Frankreich. Eine zeitgenössische Quelle schildert ihre Auswirkungen in Deutschland. Es handelt sich um eine Darstellung aus dem Revolutionsjahr 1848, verfaßt von dem Paulskirchenabgeordneten Wilhelm Zimmermann, einem schwäbischen Volksmann, dem wir eine heute noch lesenswerte Darstellung des Deutschen Bauernkriegs verdanken: „Am stärksten natürlich war die Aufregung in den Landschaften, welche an Frankreich gränzten oder ihm näher lagen. In den Rheinlanden ließ sich in den ersten Tagen eine leise Überströmung nach Westen nicht verkennen, in der rheinischen Hauptstadt, in Köln, war Jubel und Bestürzung gleich groß. War doch Köln einst eine französische Stadt, noch herrschte da das französische Gesetz, und französi4

Vgl. dazu: Nicht Magd mit den Knechten. Emma Herwegh, eine biographische Skizze, bearbeitet von Michail Krausnick. Marbacher Magazin 83/1998. Wie eng das Netz liberal und demokratisch, ζ. T. auch sozialistisch denkender Intellektueller in Württemberg im Vormärz und zur Revolutionszeit war, zeigen weitere Veröffentlichungen des „Marbach Magazin 1848/49". Vgl. etwa die Veröffentlichungen über den Schriftsteller, Freidenker und sozialdemokratischen Agitator Albert Dulk, den Schriftsteller, Zeitungsherausgeber und Kunsttheoretiker Ludwig Pfau, der einige Werke Proudhons (der ihn beeinflußte) s o w i e Claude Tilliers Volksroman „Mon oncle Benjamin" übersetzte, sowie über den über die Landesgrenzen hinaus angesehenen Paulskirchenabgeordneten und Professor für Aesthetik Friedrich Theodor Fischer, der sich allerdings später zum Bismarckianer mauserte.

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sehe Sympathien waren zwar nicht überwiegend, aber doch nicht ganz erloschen. Die Republik in Frankreich! Ein Blousenmann unter den Häuptern der Regierung! Gleichheit und Brüderlichkeit! Das war für das Kölner Volk zum Entzücken, und die Marseillaise spielte in allen Caffeehäusern mit Gesangsbegleitung. Umsonst zischten andere darein und ließen zur Sühne das „Heil dir im Siegerkranz" spielen, aber die Musik wurde ausgepfiffen, sie mußte verstummen. Betroffen, Lots Salzsäule gleich, standen die sonst sichersten und erhabensten Leute, die Kaufleute und Banquiers, die Besitzenden, die Personen von feiner Bildung." 5 Ähnliche Vorgänge gab es in anderen frankreichnahen Gebieten: in Baden, im Rheingau, in der Rheinpfalz, in Württemberg - aber eben nicht nur da, sondern auch in den Städten, in denen es die Gruppen von linksliberal oder gar frühsozialistisch eingestellten Intellektuellen oder eine breite Schicht proletarischer Existenzen gab, bei denen revolutionäre Parolen auf fruchtbaren Boden fielen, vor allem in Berlin, Leipzig und Dresden. Die revolutionären Bestrebungen erreichten im Verlauf des März so gut wie jedes deutsche Land. Allerdings: Die Virulenz der revolutionären Ideen war bei weitem nicht so hoch, wie sie die überlieferte Rhetorik der entschiedenen deutschen Demokraten und Republikaner glauben macht. Vielmehr überwog die von Heinrich Heine und Adolf Glaßbrenner verspottete Bereitschaft der wohlgesonnenen Bürger und Potentaten, sich gegenseitig nicht allzu wehe zu tun. Diese Haltung ist aus einem zeitgenössischen Bericht über die revolutionären Vorgänge in Braunschweig gut zu entnehmen. Die braunschweiger Bürger baten in einer Denkschrift „Ew. Hoheit", den Herzog, „unterthänigst", die Zensur aufzuheben, bei den Sitzungen der Ständeversammlung, den Magistratssitzungen und den Gerichten Öffentlichkeit zuzulassen und „sich mit den übrigen deutschen Fürsten [zu] verbinden, um eine Volksvertretung beim deutschen Bunde anzubahnen. „Der Herzog", so wird berichtet, empfing eine Bürgerdeputation „sehr leutselig und ließ sich mit ihnen in eine Besprechung über die in den Adressen enthaltenen Wünschen ein". Er hielt ihren Bitten entgegen, daß er gegenwärtig keine Entscheidungen treffen könne, weil er die Beschlüsse des Deutschen Bundes und der größeren Staaten, namentlich Preußens, abwarten wolle. Im übrigen erklärten Magistrat und Stadtverordnete, darauf achten zu wollen, daß „Frauenzimmer, Unerwachsene, Dienstboten und insbesondere solche Personen, welche nicht fur die Förderung des öffentlichen Wohls, sondern für die Störung der öffentlichen Ruhe Interesse zeigen", von den Volksversammlungen fernbleiben. 6

5 6

Wilhelm Zimmermann, Die Deutsche Revolution, Karlsruhe 1848, 20. Die deutsche Revolution im März 1848. Eine übersichtliche und getreue Darstellung der Bewegung in allen Staaten Deutschlands von der Proclamierung der französischen Republik bis zur Wiener und Berliner Revolution, Berlin 1848, 130-133.

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Aufschwung und Niedergang der Revolution Das zögernde Verhalten der deutschen Fürsten unter dem Eindruck der ersten revolutionären Woge machte den liberalen Kräften Mut, auf Länder- und gesamtdeutscher Ebene die Ausarbeitung von Verfassungen voranzutreiben. Ihr Ziel war nicht die Abschaffung des monarchischen Prinzips, sondern eine konstitutionelle Monarchie, die auf dem allgemeinen (Männer-)Wahlrecht beruhen sollte. Die linksbürgerlich-republikanischen Kräfte konnten sich nicht durchsetzen. Doch Voraussetzung dafür, daß es überhaupt zu einer Konstituierenden Nationalversammlung in der Paulskirche kam, war der dramatischste revolutionäre Aufstand in Deutschland seit den Bauernkriegen, nämlich die Barrikadenkämpfe in Berlin am 18. und 19. März 1848. Dieses Exempel, die Verneigung von Friedrich Wilhelm IV. vor den im Schloßhof aufgebahrten Gefallenen, sein Umritt in Berlin mit einem schwarz-rotgoldenen Band am Ärmel, gab den anderen deutschen Fürsten zu denken. Sie ließen es also geschehen, daß in Frankfurt am Main, der Stadt der Kaiserkrönungen, ein Vorparlament zusammentrat. Verfassungstheoretisch interessant ist, daß der dieses einberufende „SiebenerAusschuss" „alle früheren oder gegenwärtigen Ständemitglieder oder Theilnehmer an gesetzgebenden Versammlungen in allen deutschen Landen" sowie andere „durch das Vertrauen des Volkes ausgezeichnete" Männer nach Frankfurt einlud. 7 Er berief sich damit auf zwei Legitimationsquellen: Erstens auf das revolutionäre Prinzip, denn allein dadurch war der Ausschuß selbst legitimiert, sodann aber auch auf die Legitimität der bestehenden deutschen Länder, denn deren quasiparlamentarischen Repräsentanten wurden ja auch nach Frankfurt gebeten. Während die Konstituierende Nationalversammlung, das eigentliche Paulskirchenparlament, sowie die konstituierenden Versammlungen in Berlin und anderswo an ihren Verfassungsentwürfen arbeiteten, trat in Wien das entscheidende Ereignis ein, das den weiteren Verlauf der revolutionären Entwicklung in Deutschland bestimmte. Am 31. Oktober siegte in Wien die Konterrevolution, d. h. der Fürst Windischgrätz eroberte Wien, wo sich die Revolution zunächst noch machtvoller hatte durchsetzen können als in Berlin. Seit diesem Zeitpunkt hatten die deutschen Revolutionäre keine Chance mehr, sich durchzusetzen oder wenigstens ihren Einfluß im Wege des Kompromisses mit den deutschen Fürsten geltend zu machen. Von nun an arbeitete die preußische Konterrevolution Schlag auf Schlag. Bereits am 9. November verlegte die Regierung den Sitz der Nationalversammlung nach Brandenburg, weil in Berlin „anarchische Zustände" herrschten. Die Nationalversammlung weigerte sich. Darauf rückten die Truppen des Generals Wrangel in Berlin ein und verwandelten es, wie Zeitzeugen sagten, in ein „militärisches Lager";

7

Vgl. Wilhelm Bios, Die Deutsche Revolution. Geschichte der Deutschen Bewegung von 1848 und 1849, Stuttgart 1893, 168.

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wenig später folgte der Belagerungszustand.8 Am 5. November liquidierte die Regierung die bisherige Arbeit der verfassungsgebenden Versammlung und oktroyierte eine eigene Verfassung, worauf die Abgeordneten „passiven Widerstand" beschlossen und die Bürger zur Steuerverweigerung aufriefen - doch dies war, wie damals gesagt wurde, ein „Schwert ohne Klinge". Der Widerstand flackerte noch einmal auf, als das gemäß der okroyierten Verfassung gewählte Abgeordnetenhaus die vom Paulskirchenparlament beschlossene Reichsverfassung billigte. Danach verfugte Friedrich Wilhelm IV. kurzerhand die Auflösung des Abgeordnetenhauses. Dies war nichts anderes als ein Verfassungsbruch und Staatsstreich, wie Lassalle in seinen Agitationsschriften zu Recht hervorhob, doch das Parlament war hilflos. In Preußen war die Revolution niedergekämpft. Die Regierung führte am 30. Mai 1849 das diskriminierende Dreiklassenwahlrecht ein, das bis 1918 fortbestand und in aller Welt die deutsche Rückständigkeit in politischen Dingen dokumentierte. Die Paulskirchenversammlung arbeitete unbeirrt an ihrem Verfassungsentwurf, als sei in Preußen nichts geschehen. Dieser Entwurf gehört zu den bedeutendsten Dokumenten der deutschen Verfassungsgeschichte. Doch daß er ein Erbkaisertum vorsah, zeigt, wie romantisch rückwärtsgewandt die tief monarchisch gesonnene liberale Mehrheit unter den Abgeordneten war. „Die Revolution und ein Erbkaiser", so merkte der Dichter und Paulskirchenabgeordnete Ludwig Uhland an, „das ist ein Jüngling mit grauen Haaren". Als noch grotesker erscheint heute, daß die Paulskirche am 28. Mai die Kaiserwürde dem König von Preußen antrug, d. h. just dem Monarchen, der Tags zuvor staatsstreichartig das preußische Abgeordnetenhaus aufgelöst hatte. Friedrich Wilhelm lehnte ausweichend ab. Er benötige hierzu das freie Einverständnis der „gekrönten Häupter". Man weiß, was er von dieser Kaiserkrone in Wirklichkeit hielt: Sie sei ein „vom Ludergeruch der Revolution verunehrter (...) imaginärer Reif, aus Dreck und Letten gebacken".9 Nach dieser Ablehnung war die Paulskirchenbewegung ihrer raison d'être beraubt. Sie begann, an Auszehrung zu leiden. Die Preußische Regierung zog, ohne dazu berechtigt zu sein, die preußischen Abgeordneten zurück. Andere fürstentreue Abgeordnete machten von ihrem Mandat nicht länger Gebrauch, so daß die Paulskirchenversammlung zu einem „Rumpfparlament" zusammenschrumpfte. Im vermeintlich liberalen Stuttgart, wohin sie sich schließlich geflüchtet hatte, wurde ihr am 18. Juni 1949 von württembergischen Truppen der Zutritt zum Tagungslokal verweigert. Das war das Ende der stolzen Paulskirchenbewegung. Die liberale und demokratische Volksbewegung beugte sich der Restauration nicht kampflos. Bereits am Tage der Auflösung des preußischen Abgeordnetenhauses kam es in Berlin zu einem blutigen Aufruhr. Im Mai, als sich der Sieg der Konterrevolution abzeichnete, schwoll der Widerstand an. In Sachsens Hauptstadt 8 9

Vgl. zu den folgenden Ausführungen Rüdiger Hachtmann, Berlin 1848. Eine Politik- und Gesellschaftsgeschichte der Revolution, Berlin 1997, 752ff. Bios, a. a. O., 522ff.

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Dresden brach ein Volksaufstand aus, an dem sich Stephan Born, der Pionier der deutschen Arbeiterbewegung, der Anarchist Michail Bakunin und der damals Sozialrevolutionär denkende Richard Wagner beteiligten. Einige Tage wurde auf den Barrikaden gefochten, doch gegen die preußischen Interventionstruppen hatten die Revolutionäre keine Chancen. „Im Norden", sagt ein früher Beobachter, „blieb alles ruhig". Nicht dagegen im oppositionellen Rheinland. Zu Barrikadenkämpfen kam es in Düsseldorf, Solingen und Elberfeld. In Solingen, so der erwähnte Berichterstatter, „zog sogar eine Abteilung bewaffneter Mädchen aus". 10 In Elberfeld griff Friedrich Engels in den Barrikadenkampf ein und ersetzte die dort wehenden schwarz-rot goldenen Fahnen durch rote (es handelte sich um die roten Gardinen aus dem Haus des Oberbürgermeisters)." Zu richtigen Kriegshandlungen kam es im deutschen Südwesten, genauer in der Rheinpfalz und in Baden. Dort gelang es den Revolutionären, den Großherzog in die Flucht zu jagen und kurzzeitig die Karlsruher Regierung zu bilden. Sie stellten militärische Verbände auf, die gegen eine Reichsarmee, überwiegend aus preußischen und bayrischen Armeeteilen, zu kämpfen hatten. Es gelang den revolutionären Truppen, die Reichsfestung Rastatt zu erobern, doch gegen die Übermacht der Reichsarmee hatten sie letztlich nichts zu bestellen. Die Feste fiel am 23. Juli 1849. Diese Kapitulation zog den Schlußstrich unter die deutsche 48er Revolution. Die Revolutionäre wurden in die Rastatter Kasematten geworfen, ihre Führer hingerichtet oder zu hohen Zuchthausstrafen verurteilt. Wer entkam, emigrierte: in die Schweiz, nach England, und vor allem in die Vereinigten Staaten von Amerika. Es war ein gewaltiger Exodus bedeutender, geistig regsamer Kräfte. Das bekannteste Beispiel ist Carl Schurz, der es im amerikanischen Sezessionskrieg zum General der Nordstaaten, Senator und Minister brachte; emigriert sind auch der Dichter Ferdinand Freiligrath, der Publizist Gottfried Kinkel, der badische Volksheld Friedrich Hecker und unzählige andere.

Das Erbe der 48er Revolution Die deutsche Revolution der Jahre 1848 und 1849 ist gescheitert - dieses Urteil scheint festzustehen. Auch die Zeitgenossen dachten so: Erfreut die Gegner, zornig die Linke, die Demokraten, Sozialisten und rebellischen Literaten wie Heine, Börne und Freiligrath. Mit den deutschen Philistern ist eben keine Revolution zu machen, so schon Heinrich Heine: „Wir sind Germanen, gemütlich und brav, wir schlafen gesunden Pflanzenschlaf, und wenn wir erwachen, pflegt uns zu dürsten,

10

Bios, a. a. 0 . , 545f.

11

Vgl. Klaus Goebel/Manfred Wichelhaus (Hrsg.), Aufstand der Bürger. Revolution im westdeutschen Industriezentrum, Wuppertal 1974, 194ff.

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doch nicht nach dem Blute unserer Fürsten." 12 In den neuesten Publikationen zur 48er Revolution findet man nuanciertere Töne. 13 Wir müssen uns fragen: Was bedeutet die Aussage, eine Revolution sei gescheitert? Bei näherer Betrachtung muß man zwischen der politischen Durchsetzung einer Revolution und den revolutionären Ideen, die die Revolutionäre verwirklichen wollten, unterscheiden. Was das erste betrifft, so ist die 48er Revolution zweifellos gescheitert. Sie hatte angesichts der reaktionären Achse Rußland, Österreich und Preußen keine Chance, sich durchzusetzen. Aber sind auch ihre Ideen gescheitert, die Einforderung des freien und gleichen (Männer-)Wahlrechts, der Grundrechte und der Ministerverantwortlichkeit gegenüber dem Parlament, der Gedanke einer sozialen Demokratie, der zu jener Zeit entstand, und schließlich - zwar nicht im Sinne des Verfassungsrechts, aber doch in der politischen Praxis sich andeutend das Aufkommen eines Parteiensystems? Diese Ideen und Tendenzen waren nicht zu unterdrücken. Sie lebten nach dem Ende der Restauration in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts im Denken der Sozialdemokratie und, wenngleich geschwächt, bei den Liberalen und Demokraten, wieder auf. Nach der Revolution von 1918/19 sind sie in die Verfassung von Weimar eingegangen, teils in wörtlich dem Paulskirchenentwurf entnommenen Formulierungen. Heute sind sie unbestritten geltendes Verfassungsrecht. Was wäre die Konsequenz, so müssen wir uns weiter fragen, wenn man das Scheitern oder Weiterwirken einer Revolution nur danach beurteilen wollte, ob sie sich politisch durchgesetzt hat? Wäre dies das entscheidende Kriterium, dann hätte die bolschewistische Oktoberrevolution gesiegt, der liberale und demokratische Anlauf des Jahres 1848 wäre dagegen gescheitert. Kann man das, nach unseren heutigen Erfahrungen, im Ernste behaupten? Wenn ein politisches Konzept gänzlich zerstört am Boden liegt, dann dieses, daß der Sozialismus von einer totalitären Einparteienherrschaft verwirklicht werden könne. Entscheidend für die Wirksamkeit einer Revolution, ob sie nun im ersten Anlauf siegte oder scheiterte, ist offenbar die Durchsetzungs- und Lebensfähigkeit ihrer Ideen. Auf einem anderen Blatt steht freilich, welche Rolle die 48er Revolution für die Formung des politischen Selbstbewußtseins der Deutschen spielte. Was ihre politischen Ziele angeht, so war sie zukunftsweisend. Und was den Kampf um ihre Verwirklichung betrifft, so gab es nicht nur das feige Kneifen der Philister, sondern auch Heroismus, der mit dem Tode bezahlt werden mußte. Die Geschichte berichtet auch von Frauen, die ihre Frau standen, an erster Stelle von Emma Herwegh, die bewaffnet mit der „Legion Herwegh" in ein aussichtsloses Gefecht zog, aber auch von der einfachen Pfälzerin Mathilde Hitzfeldt, einem ,,schöne[n] junge[n] Mäd-

12 13

Heinrich Heine, Werke und Briefe. Band 1, Berlin 1961, 336. Zum Beispiel in dem Sammelband: Patrick Bahners/Gerd Roellecke (Hrsg), 1848 - die Erfahrung der Freiheit, Heidelberg 1998.

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chen ( . . . ) aus Kirchheimbolanden", die, als die Preußen eine Barrikade angriffen, „mit einer schwarz-roth-goldenen Fahne in der Hand muthig stand hielt". 14 Auch die Dichter der Revolution haben sich im politischen und literarischen Gedächtnis der Deutschen kaum halten können. An der literarischen Qualität kann es nicht liegen. Ferdinand Freiligrath, um nur ihn zu nennen, war ein gewaltiger moderner Poet, der mit den romantischen Tönen à la Eichendorff nichts im Sinn hatte. Es gibt von ihm ein mit „ça ira" überschriebenes Gedicht, das Bert Brechts literarische Techniken wie Wiederholung von Verszeilen und im Rhythmus veränderter Refrains vorwegnimmt: „Wie in Österreich so in Preußen Heißt das Schiff Revolution! ' Heißt das Schiff Revolution!' (...) Frisch auf denn, springt hinein! Frisch auf, das Deck bemannt! Stoßt ab! Stoßt ab! Kühn durch den Sturm! Sucht Land und findet Land!" 1 5 All dies ist vergessen. Vermutlich können mehr Deutsche das französische Revolutionslied „Ah ça ira, ça ira" intonieren, als daß sie sich des deutschen Revolutionsdichters Freiligrath erinnerten. Die populären zeitgenössischen Satiriker, die der Revolution durchaus wohl gesonnen waren, äußerten sich, was ihre Chancen angeht, durchaus skeptisch. Adolf Glaßbrenner, ein Vorläufer Kurt Tucholskys, der unter dem Pseudonym „Brennglas" die Berliner und preußischen Zustände persiflierte, schrieb in seinem „Komischen Kalender" für 1849 unter dem Datum „Montag, den 26 Februar": „Wiedereinführung des beschränkten Unterthanenverstandes. Der Wille der Polizei wird als höchstes Staatsgesetz anerkannt", und unter „Freitag, den 2. März": „Versammlung von 10 000 Frauen: Der erste Antrag: ,Unsere Männer haben keinen Muth' wird einstimmig angenommen." Allerdings steht dann flir „Sonnabend, den 20. Oktober" zu lesen: „Wiedervereinigung der deutschen Männer mit ihren Frauen." 16 In Glaßbrenners „Neuem Gesang des deutschen Michels" heißt es: „Immer'n Bisken zurück, immer'n Bisken zurück Zu des alte Unterthanenjlück! Ne nu dauert mir zu lange die Revoluzjon, Nu j e h ick über zu de Reaktjon! (...) 14

Bios, a. a. O., 576.

15

Vgl.: ça ira. Deutsche politische Lyrik vom Mittelalter bis zum Vormärz. Ausgewählt und bearbeitet unter dem Aspekt der Herrschaftskritik von Dr. Alwin Binder und Dietrich Scholle. Teil II. Text- und Arbeitsbuch, Frankfurt/M. 1980, 86.

16

Adolf Glaßbrenner, Unterrichtung der Nation. Ausgewählte Werke und Briefe in drei Bänden. Band 2, Frankfurt/M. 1981, 27f„ 43.

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Die Republik wär doch's jrößte Malheur Da hätten wir ja jar keenen Keenig mehr! Ne, man immer zurück, ne, man immer zurück Zu des alte Unterthanenjlück."17 Bleiben wir bei der Literatur. Das 19. Jahrhundert kennt für Deutschland meines Wissens keine großen Romane und auch keine herausragenden, vom Bürgertum als gültig akzeptierten Geschichtswerke, die ein positives Bild der 48er Revolution gezeichnet hätten, also, um einen Vergleich mit Frankreich zu ziehen, keinen Anatole France und keinen Jules Michelet. Ich glaube, Theodor Mommsen und G.G. Gervinus widerlegen diesen Befund nicht. Die von den Deutschen bevorzugten Schriftsteller hießen Gustav Freytag, Heinrich von Treitschke und Paul de Lagarde. Viele ehemalige Demokraten haben sich unter dem Eindruck von Bismarcks außenpolitischen Erfolgen, die ihn schließlich zum Schöpfer des Deutschen Reichs werden ließen, zu glühenden Bismarckianern gemausert, z. B. die schwäbischen demokratischen Volksmänner Friedrich Theodor Fischer und David Friedrich Strauß, oder, um das spektakulärste Beispiel zu nennen, der linksdemokratische Abgeordnete der preußischen verfassungsgebenden Nationalversammlung Ewald Bucher, der nach England emigrierte und nach seiner Rückkehr zu Bismarcks Intimus wurde, dem dieser seine „Gedanken und Erinnerungen" diktierte. Auch Theodor Fontane gehört, wie wir heute wissen, zu den großen Umgefallenen.18 Vielleicht ist dies alles weniger erstaunlich, wenn man bedenkt, daß das politische Ziel vieler bürgerlicher Revolutionäre eher rückwärts gewandt war. Ihr politisches Weltbild war romantisch. Sie betrachteten die Revolution nicht als Wegbereiterin des neuen industriellen Zeitalters, dessen soziale Probleme in modernen parlamentarischen Institutionen abzuarbeiten waren, sozusagen al pari mit dem politischen System Englands und Frankreichs, sondern als Erweckung einer politischen Ordnung, die sie sich als freiheitlich, aber keinen ausländischen Vorbildern folgend, sondern typisch germanisch-christlich-deutsch, dachten. Ludwig Uhland, gewiß ein aufrechter Demokrat, strebte nach dem „guten alten Recht" der vorabsolutistischen Zeit. Ein Vergleich zweier symbolischer Darstellungen der Revolution in der bildenden Kunst mag diese These erläutern: zwischen dem Gemälde von Eugène Delacroix, betitelt „La Liberté guidant le peuple", das eine Barrikade der Revolution des Jahres 1830 zeigt, sowie dem Bild der „Germania" von Philipp Veit, das den Plenarsaal der Paulskirche schmückte. Das Bild von Delacroix zeigt eine dramatische Barrikadenszene: Die revolutionären Bürger aller Schichten, einfache Leute, ein Kleinbürger mit Zylinder, stürmen nach vorn, gefuhrt von einer jungen, lebenskräftigen Frau mit entblößtem Busen, auf dem Haupt eine phrygische Mütze, eine Tri17 18

Glaßbrenner, a. a. O., 84f. Vgl. dazu Ernst Engelberg, Bismarck, 2 Bände, Berlin 1995, 1990.

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kolore in der erhobenen rechten Hand, im Hintergrund sieht man „Notre Dame" im Pulverqualm: Eine Szene, die Zukunftsorientierung und Siegesgewissheit ausdrückt. Ganz anders Veits Germania. Die Frauengestalt, die die Revolution symbolisieren soll, gleicht einer Heiligenfigur. Sie ist aber Germania, blondhaarig und eichenlaubbekränzt, sie steht im mittelalterlichen Gewand mit einem Brustschild, auf dem der Doppeladler zu sehen ist, zugleich ein schwarz-rot-goldenes Banner haltend, vor einer deutschen Landschaft. Offensichtlich verkörpert sie die ideale politische Ordnung der Deutschen, eine demokratisch legitimierte Monarchie, die geschaffen und verteidigt werden soll. Schwert und Ölzweig, in einer Hand gehalten, weisen auf Wehrhaftigkeit und zugleich auf Friedfertigkeit hin. Das Bildprogramm Veits deutet an, daß die neue Freiheit in der Tradition der alten Freiheiten, der des Uhlandschen „guten alten Rechts", stehen soll, aber auch des Christentums, wie die Kreuzesform des Schwertgriffs erkennen läßt. Diese Zustände sind vom Absolutismus der Fürsten zerstört worden. Doch dessen Fesseln sind nunmehr zerbrochen, wie man unten links erkennen kann. Auch hier wieder ein Vergleich mit Delacroix: Während dieser den Freiheitskampf selbst zeigt, deutet Veit die Befreiung nur an, und zwar eher beiläufig, an unprominenter Stelle seines Bilds. Man kann dieser konstrastierenden Deutung zunächst entgegen halten, daß Delacroix' Bild nicht die Revolution von 1848, sondern die des Jahres 1830 zum Gegenstand hat. Doch der Zeitunterschied tangiert die Inhaltsanalyse nicht. Auch könnte darauf hingewiesen werden, daß die bewegte Delacroixsche Verkörperung der „Liberté" als „La France" auch fur französische Verhältnisse eine Ausnahme bilde, weil das Bildprogramm der verbreiteten Darstellungen von „Marianne", „La France", „La République" oder „La Liberté" eher dem, das in der Veitschen Gestaltung der „Germania" verwirklicht wurde, gleiche. Doch das deutsche und das französische Bildprogramm sind nicht identisch. Die Darstellungen der „Marianne", die auf der Berliner Ausstellung „Marianne und Germania" des Jahres 1997 zu sehen waren, zeigen sie in einer lockeren römischen Toga. In klassizistischem Stil nach dem Vorbild Louis Davids gemalt, evozieren sie die römische Republik, das politische Vorbild der französischen Revolution. Veit orientiert sich dagegen am Vorbild der italienischen Heiligenmalerei, die er in seinen großen Gemälden nachahmte. Sein Bildprogramm ist inspiriert von der idealisierten Vorstellung, die die Romantik von einem christlich-germanischen Mittelalter hatte.19 Hannah Arendt hat auf die Bedeutung der Gründungsmythen für das politische Selbstverständnis eines Gemeinwesens aufmerksam gemacht. Sie helfen nach ihrer Auffassung den Bürgern, sich mit diesem und seinen politischen Zuständen zu identifizieren. Als moderne Gründungsmythen bezeichnet sie die freiheitlichen Revolu19

Vgl. dazu die Abbildungen in: Marianne und Germania 1 7 8 9 - 1 8 8 9 . Frankreich und Deutschland. Zwei Welten - eine Revue. Eine Ausstellung der Berliner Festspiele GmbH ( . . . ) vom 15. Sept. 1996 bis 5. Jan. 1997. Hrsg. von Marie-Louise von Plessen, Berlin 1996, 18ff., 31 f. Vgl. ferner Marie-Louise von Plessen, Germania aus dem Fundus, ebd., 3 1 - 3 9 .

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tionen, als deren prominenteste Beispiele die französische und die nordamerikanische Revolution hervorragten. Beide lebten im politischen Bewußtsein der französischen und amerikanischen Bürger weiter, und zwar als Ereignisse, in denen die bürgerlichen Freiheiten, auf die sie sich heute noch berufen, gestiftet worden sind.20 Was Frankreich betrifft, so lassen die jährliche Feier des 14. Juli und die republikanische Rhetorik der französischen Staatspräsidenten, die des Sozialisten François Mitterrand so gut wie die des Gaullisten Jacques Chirac, die Erinnerung an den Gründungsmythos immer wieder aufleben, und die Bürger und Bürgerinnen Frankreichs haben offenbar Sinn dafür. Zwar äußern Historiker Zweifel daran, ob das im Volk weiterlebende Revolutionsverständnis den geschichtlichen Zusammenhängen wirklich entspricht. 21 Doch dies ist kein schlagendes Argument gegen die Prägung des Selbstverständnisses durch tradierte Überzeugungen. Der Gründungsmythos wirkt unabhängig von der historischen Realität, und er geht unter, wenn er nicht mehr geglaubt wird, wie der wirkungsmächtigste politische Mythos des vergangenen Jahrhunderts, der der bolschwistischen Oktoberrevolution. Der 48er Revolution fehlte offenbar die Kraft, sich als identitätsstiftendes Ereignis in das Gedächtnis der Deutschen einzugraben. Wenn daran erinnert wird, dann durch öffentliche Inszenierungen des Gedenkens, an denen die Bevölkerung wenig Anteil nimmt. Mündliche Tradierungen des mißglückten Sprungs in eine freie Bürgergesellschaft gibt es kaum, weder als Erzählung, Lied oder Vers. Das HeckerLied, das gelegentlich zitiert wird, ist ein spöttisches Bänkelsängerlied: „Seht, da steht der große Hecker, Eine Feder auf dem Hut, Seht, da steht der Volkserwecker, Lechzend nach Tyrannenblut!" [usw.]. Der ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann hat an ein anderes Hecker-Lied erinnert, das für diesen Volkstribunen Partei nimmt. Doch es wirkt gleichfalls komisch und ist fast völlig vergessen: „Wenn die Fürsten fragen: Lebt der Hecker noch? Sollt ihr ihnen sagen: Ja, er hänget hoch. Er hängt an keinem Baume, Er hängt an keinem Strick, Sondern an dem Traume, 20

Hannah Arendt, Was ist Politik? Aus dem Nachlaß hrsg. von Ursula Ludz, München 1993; Wolfgang Heuer, Citizen. Persönliche Integrität und politisches Handeln. Eine Rekonstruktion des politischen Humanismus Hannah Arendts, Berlin 1992, 325ff.

21

Vgl. besonders: François Furet, Penser la Révolution française. Nouvelle édition, Paris 1983, 1 4 - 1 7 , 24.

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Der roten Republik." 22 Gelegentlich wird noch heute von Linken in einer sentimentalen Stunde das „Bürgerlied" angestimmt - doch der Gesang ist meistens kläglich, und kaum einer ist textsicher: „Ob wir können präsidieren, oder müssen Akten schmieren, ohne Rast und ohne Ruh; ob wir just Collegia lesen oder aber binden Besen: Das tut, das tut nichts dazu. (...). Drum ihr Bürger, drum ihr Brüder, alle eines Bundes Glieder, was auch jeder von uns tu alle, die dies Lied gesungen, so die Alten wir die Jungen, tun wir, tun wir was dazu!" 23

Die Revolution der Jahre 1918/1919 Die Revolution, die vom Zusammenbruch des Deutschen Reiches am Ende des Ersten Weltkrieges ausgelöst wurde, war zwar erfolgreich, doch die Mehrheit der Deutschen lehnte sie ab. Die bürgerliche Rechte konnte ihr den Sturz der Monarchie nicht verzeihen, und die entschiedene Linke kritisierte, daß sie nicht von einer politischen zu einer sozialen Revolution weitergetrieben wurde. Die Verantwortung hierfür wurde der Führung der Mehrheitssozialdemokratie zugeschrieben - ein Vorwurf, der heute noch nachhallt. 24 Die Kritik macht es sich zumeist leicht. Immerhin stürzte die Revolution den Wilhelminismus mit dem verhaßten preußischen Dreiklassen Wahlrecht und schuf ein freiheitliches parlamentarische System, eine wirkliche Republik. Doch sie stand unter verzweifelt unglücklichen Sternen. Die Sozialdemokraten, die treibenden Kräfte einer Parlamentarisierung des Reiches, gerieten im Verlauf des Weltkriegs in einen kaum zu überbrückenden Zwiespalt. Sie hielten als einzige politische Strömung das Andenken der demokratische Tradition der 48er Revolution hoch (wäh22 23 24

Gustav Radbruch, Die politische Lyrik von 1848 bis 1948, in: Wilhelm Keil (Hrsg.), Deutschland 1848-1948, Stuttgart 1948, 128. Hein und Oss Kröher (Hrsg.), Das sind unsere Lieder, Frankfurt/M. 1977, 168. Einen guten Überblick über die Geschichte der Weimarer Republik gibt: Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik. 2., durchgesehene und ergänzte Ausgabe, München 1988. Für die Kritik an der Politik der Mehrheitssozialdemokratie vgl.: Georg Füllberth/Jürgen Harrer, Die deutsche Sozialdemokratie 1890— 1933, Darmstadt/Neuwied 1974,151 ff.

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rend der liberale Freisinn sich diesbezüglich keine Ruhmesblätter erwarb, von den anderen Parteien ganz zu schweigen). Ferner hatten sie stets die imperialistische Politik der kapitalistischen Großmächte gegeißelt und auf internationalen Kongressen den Resolutionen zugestimmt, die besagten, daß, falls ein Krieg ausbräche, sie alles daran setzten würden, ihn zu einem revolutionären Kampf umzufunktionieren. Diese Situation war nun tatsächlich eingetreten. Doch wie verhielt sich die Mehrheit der Parteiführung? Sie stimmte fur die Kriegskredite und ließ sich von der Reichsleitung für die „Burgfriedenspolitik" vereinnahmen. Sie hatte dafür zwei mehr oder weniger gute Argumente. Zunächst konnte sie daraufhinweisen, daß sich die sozialistischen Bruderparteien, die englische wie die französische, genau so verhalten hätten. Und zweitens ging es um das Überleben der Zivilbevölkerung, aber auch der Soldaten, die zum größeren Teil Klassengenossen waren. Zudem war durch die Burgfriedenspolitik den Herrschenden Einiges zugunsten der Arbeiterschaft abzuhandeln: die Anerkennung der Gewerkschaften als legitime Vertreter der Arbeiterschaft in den Unternehmen, die Mitwirkung von Arbeitervertretern in den Einrichtungen der „Bewirtschaftung", die Berücksichtigung der sozialdemokratisch geprägten Konsumgenossenschaften bei der Organisation der Lebensmittelversorgung usw. 25 Als das Reich vor der militärischen Niederlage stand, waren Reichs- und Heeresleitung nur zu gerne bereit, den Führer der Mehrheitssozialdemokratie, Friedrich Ebert, in die politische Pflicht zu nehmen. Ebert schulterte die Bürde - nicht, weil es ihn danach gedrängt hätte, sondern aus dem Gefühl der Verantwortung für die einfachen Leute und die Frontsoldaten. Über das, was ihm bevorstand, machte er sich keine Illusionen. Er meinte auch, daß unter diesen Bedingungen eher an der Monarchie festgehalten werden sollte, um den Kaiser und seine Heeresleitung nicht aus der Verantwortung zu entlassen. Doch unter dem Druck der revolutionären Arbeiter- und Soldatenräte rief sein Genösse und Rivale Philipp Scheidemann die Republik aus. Dies bedeutete in der Tat die Revolution. Doch unter welchen Bedingungen war diese Revolution zustande gekommen! Die politische Kraft, der die Führung naturgemäß zufallen mußte, war bei ihrem eigenen linken Flügel wegen der Burgfriedenspolitik diskreditiert. Für die nationalbürgerlichen und sonstigen rechtsstehenden Kreise waren die Sozialdemokraten generell verhaßt: Für sie blieben diese nach wie vor die alten Vaterlandsverräter, bis ans Ende der Republik. Ebert, dem sie nach ihrem politischen Bankrott die Macht zugespielt hatten, blieb für sie der „Sattlergeselle", und sie hängten ihm, der im Krieg zwei Söhne verloren hatte, einen absurden Landesverratsprozess an - eine Kampagne, die er physisch nicht durchstehen konnte. Die inneren und äußeren Verhältnisse waren nach der sozialdemokratischen Machtübernahme katastrophal. Die 25

Vgl. dazu ausführlich Walter Euchner, Ideengeschichte des Sozialismus in Deutschland. Teil I, in: Helga Grebing (Hrsg.), Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland. Sozialismus - Katholische Soziallehre - Protestantische Sozialethik. Ein Handbuch, Essen 2000, 190-253.

DIE DEUTSCHEN UND IHRE REVOLUTIONEN

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Versorgung der Bevölkerung mit Nahrung und Brennstoffen war nicht gewährleistet; die Regierung war auf die Hilfe von außen - also von den Kriegsgegnern - angewiesen. Sie sah sich gezwungen, um die Besetzung von Teilen Deutschlands durch die alliierten Truppen zu vermeiden, den Versailler Vertrag zu unterzeichnen, mit den hohen Reparationszahlungen - eine offene Wunde, in der die politische Rechte nach Belieben herumstochern konnte. Die Inflation raubte dem alten Mittelstand, d. h. dem einfachen Handel und Gewerbe, die Ersparnisse und trieb viele seiner Angehörigen in den Ruin. Die Schuld daran wurde dem neuen Regime in die Schuhe geschoben und dafür die „gute alte Zeit", als man sich noch auf die Goldmark verlassen konnte, glorifiziert. So geriet die Republik in den Zangengriff von rechts und links, und der Optimismus und Kampfesmut der bekennenden Demokraten schmolzen dahin. Dabei waren die Leistungen der Weimarer Republik beachtlich. Wir zehren heute noch davon. Die Weimarer Reichsverfassung führte das allgemeine und freie Männer- und Frauen Wahlrecht ein und schaffte das abominable preußische Dreiklassenwahlrecht ab. Daß in der ersten Deklaration des „Rats der Volksbeauftragten" die Gesindeordnung aufgehoben wurde, mag man als nebensächliche Fußnote lesen. Für viele arbeitenden Menschen bedeutete dies jedoch ihre (wenigstens rechtliche) Befreiung aus unwürdigen Arbeitsverhältnissen. Was die Weimarer Verfassung betrifft, so hatte sie zwar Konstruktionsmängel, doch viele Formulierungen, vor allem die rechtsstaatlichen Bestimmungen sowie den Grundrechtsteil, übernahm sie aus dem alten Paulskirchenentwurf. Weimar baute die Sozialversicherung aus, schuf ζ. B. die Arbeitslosenversicherung sowie, nicht zu vergessen, das kollektive Arbeitsrecht, d. h. das Tarifvertragswesen, die Arbeitsgerichtsbarkeit und die Mitbestimmung im Betrieb: Zukunftsweisende Leistungen, die das Fundament bildeten, auf dem die Bundesrepublik weiterbauen konnte. Daran ändert auch die Einsicht nichts, daß einige der überkommenen arbeits- und sozialrechtlichen Regelungen inzwischen in die Krise geraten sind. Freilich - zum Stoff, dem die Gründungsmythen der Nationen erwachsen, eigneten sich diese Errungenschaften nicht. Der Gründungsakt war verpatzt - statt Identifikation erzeugte er unerbittliche Feindschaft zwischen den Lagern, bis zum kläglichen Ende der Republik im Zangengriff von rechts und links. Eine Probe aufs Exempel könnte die Frage sein: Wo ist die positive Erinnerung an die Weimarer Republik, die sich bis heute noch im Gedächtnis der Bevölkerung erhalten hat, welche Dokumente in Literatur und Kunst tradierten sie ? Wo sind die großen Werke, die für sie Zeugnis ablegten? Sicherlich, in der Krise hielten Thomas und Heinrich Mann zu ihr, vielleicht noch das eine oder andere Mitglied der Preußischen Akademie der Künste, Sektion Dichtkunst, ζ. B. die vornehme Ricarda Huch, aber der im Grunde unpolitische Gerhard Hauptmann höchstens lau, und Alfred Döblin eher nicht. Brillante Figuren wie Bert Brecht und Kurt Tucholsky hatten nur Hohn und Spott für sie übrig. Heute ist die Erinnerung an Weimar und die Revolution von

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1918/19 fast verschwunden. Wenn den Menschen etwas zu jener Zeit einfällt, dann zumeist Inflation und Arbeitslosigkeit. So bleibt das positive Gedenken an Weimar eine Intellektuellenangelegenheit, mit abnehmender Tendenz. Die meisten jungen Menschen, die vom Gymnasium an die Universität kommen und Geschichte und Politikwissenschaft studieren wollen, wissen - abgesehen davon, daß man ihnen gelehrt hat, wie Hitler an die Macht gekommen ist - nur wenig von ihr.

Die gewaltlose Revolution des „annus mirabilis" 1989 Die Wende des Jahres 1989 in der DDR, der jüngsten, und, was den Umbruch des politischen Systems betrifft, erfolgreichsten deutschen Revolution, hatte glanzvolle Momente des Aufbruchs: Die mutigen Gründungen von Bürgerbewegungen und der Sozialdemokratie noch unter der SED-Herrschaft, die Friedensgebete in den Kirchen und die Leipziger Montagsdemonstrationen, die im Oktober auf 70 000 Teilnehmer anschwollen und den Machthabern zuriefen „Wir sind das Volk", der Rücktritt Erich Honeckers und seiner alten Garde wie Erich Mielke und Kurt Hager, der gewaltlos erzwungene Mauerfall am 9. November, die Bildung von „Runden Tischen" im Dezember, an denen die einst al lesbestimmende SED zusammen mit neuen Parteien und Bürgerinitiativen in ungewohnter minoritärer Position Platz nehmen mußte. Insbesondere die „Runden Tische" waren aus dem Stoff, aus dem Gründungsmythen gewoben werden. 26 Zumindest werden bis heute immer wieder von Angehörigen der damaligen Bürgerbewegung nostalgische Rückblicke darauf geworfen. Doch die Entwicklung verlief anders. Schon in einer frühen Phase des Vereinigungsprozesses gab es Mutmaßungen über die wahren Motive der rebellischen DDR-Bevölkerung. Es waren ja weniger die Friedensgebete und Montagsdemonstrationen, die die DDR ins Wanken brachten, als vielmehr die Massenflucht in die Tschechoslowakei und nach Ungarn, w o es nach der Öffnung der ungarisch-österreichischen Grenze leicht war, in die Bundesrepublik zu gelangen. Vorkommnisse wie die Fahrt eines mit DDR-Flüchtlingen besetzten Eisenbahnzuges von Prag nach Westdeutschland über Dresden, wo chaotische Verhältnisse auf dem Bahnsteig herrschten, ruinierten die Autorität der Herrschaftsorgane in der DDR. Doch - so wurde gesagt - das wahre Motiv dieser Flüchtlinge ist ja gar nicht die Veränderung des politischen Systems, sondern die Neckermann-Reise nach Mallorca. Otto Schily schwenkte in einer Talkshow eine Banane vor der Kamera, um seine These zu illustrieren, daß es den Flüchtlingen nur um den Konsum auf Westniveau gehe. Schily ist sicher ein begabter Innenpolitiker, doch dieser Auftritt war peinlich und der Bedeutung der Ereignisse nicht angemessen. 26

Vgl. dazu Martin Gutzeit, Der Weg in die Opposition. Über das Selbstverständnis und die Rolle der Opposition' im Herbst 1989 in der ehemaligen DDR, in: Walter Euchner (Hrsg.), Politische Opposition in Deutschland und im internationalen Vergleich, Göttingen 1993, 8 4 - 1 1 4 .

D I E D E U T S C H E N U N D IHRE REVOLUTIONEN

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In einer entscheidenden Frage hatte Schily wohl recht. Die Veränderungen im politischen Überbau, die Einfuhrung von Runden Tischen und die Entwicklung von neuen politischen Kommunikationsformen - alles Dinge, die die Politikwissenschaftler faszinierten - hinterließen im Bewußtsein der Bevölkerung keine nachhaltigen Spuren. Dies ist vermutlich der Grund dafür, daß die ersten Bemühungen der Bürgerinitiativen und der in den Bundtag als Mitglieder der Bündnisgrünen und der Ost-SPD gelangten Abgeordneten scheiterten, Deutschland als Neugründung eines Gemeinwesens zu vereinen. Die Bestimmung des Art. 146 GG - „Dies Grundgesetz verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist" - hätte hierfür die rechtliche Grundlage geboten. Statt dessen vollzog sich die Vereinigung als bürokratischer, von Wolfgang Schäuble und Günther Krause unter Benutzung des Apparats des Bundeskanzleramts ausgehandelter, ministerialbürokratisch vorbereiteter Akt. Damit soll der Einigungsvertrag nicht geschmäht werden. Er ist sicherlich ein Meisterstück eines - obwohl unter Zeitdruck entstandenen - durchdachten und höchst komplizierten Vertragswerkes. Doch er hat die Chance verbaut, ein neues Gründungsdokument, ein revidiertes Grundgesetz, unter Einbezug der politisch aktiven Kräfte auch der DDR, zu schaffen - vielleicht eine Berliner Republik, die mehr gewesen wäre als die heutige von Bonn nach Berlin umgezogene Bonner Republik. Die zweite Gelegenheit zu einem neuen Gründungsdokument hätten die Beratungen der „Gemeinsamen Verfassungskommission" geboten, die im Einigungsvertrag vorgesehen wurde und 1992 eingerichtet worden ist. Doch die entsprechenden Versuche der Abgeordneten aus den Reihen der ehemaligen Bürgerbewegungen in der DDR und der SPD scheiterten am starren Widerstand der von dem CDU-Abgeordneten Professor Rupert Scholz angeführten CDU-CSU-Fraktion. Der bündnisgrüne Abgeordnete Dr. Wolfgang Ullmann, Mitbegründer der Bürgerbewegung „Demokratie jetzt", trat, nachdem er das Vergebliche seiner Bemühungen erkannt hatte, resigniert aus der „Gemeinsamen Verfassungskommission" aus. Bis auf wenige Staatszielbestimmungen ist das Grundgesetz unverändert geblieben. Es trifft zu, daß der Spielraum für eine Verfassungsrevision höchst begrenzt war. Denn das Grundgesetz ist im Kern eine vorzügliche Verfassung. Sie völlig umzuschreiben wäre in der Tat ein unnützer Kraftakt gewesen. Es wäre allein darum gegangen, im Respekt vor den politischen Motiven der mutigen Oppositionellen in der DDR Elemente der plebiszitären Demokratie in die Verfassung aufzunehmen - zugegebenermaßen ein heikles und umstrittenes Unterfangen. Mit Plebisziten kann Mißbrauch getrieben werden. Dieses Risiko kann jedoch durch entsprechend hohe Quoren herabgesetzt werden. Die Weimarer Verfassung kannte in Art. 73 das Institut des Volksbegehrens und des Volksentscheids. Die Initiierung eines Volksbegehrens setzte die Zustimmung von einem Zehntel der Stimmberechtigten voraus. Zudem mußte dem Volksbegehren ein ausgearbeiteter Gesetzesvorschlag zu Grunde

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liegen. Ein Volksentscheid kam dann zustande, wenn die Verkündigung eines Gesetzes von einem Drittel des Reichstags ausgesetzt worden war und wenn ein Zwanzigstel der Stimmberechtigten ihn beantragte. Dies waren hohe Quoren, die den Mißbrauch ausschlossen. Jedenfalls gab es zur Zeit von Weimar - anders, als gelegentlich kolportiert - keine mißbräuchliche Anwendung dieses Rechtsinstituts. In unserem Nachbarland Frankreich gilt das Plebiszit als notwendiges Instrument der Willensbildung in politischen Grundentscheidungen - von der Schweiz erst gar nicht zu reden. Fazit: Es hätte einen Spielraum gegeben. Ihn zu nutzen, fehlte der politische Wille. Ernest Renan, ein französischer Religions- und Kulturphilosoph des 19. Jahrhunderts, der früher auch in Deutschland gut bekannt war, hielt 1882 an der Sorbonne einen Vortrag mit dem Titel „Was ist eine Nation?". 27 Sie gehört bis heute zum Intelligentesten, was zu diesem Problem gesagt worden ist. Renan war der Auffassung, eine Nation sei im Grunde ein geistiges Prinzip. Ihr Kern sei „der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen". Zu ihnen gehörten Rühmliches, auch Anstrengungen und Opfer - im Guten wie im Bösen, wie man hinzusetzen muß. Man ist kein Nationalist, wenn man diese Überlegungen fur bedenkenswert hält. Denn es geht, wie mein Göttinger Kollege Ernst-August Roloff anläßlich der Denkmalpflege gesagt hat, bei diesem Erinnern „um eine politische Botschaft für die Zukunft und die Sicherung des Kollektiven Gedächtnisses',,. 28 Die Erinnerung an die deutschen Revolutionen ist wie wenige andere Ereignisse in der Geschichte dazu geeignet, diese belehrende Funktion zu erfüllen. Die Frage ist allerdings, wie es auf der Adressatenseite aussieht. Hier ist der Befund uneinheitlich. Auf Unwissenheit und Desinteresse im großen Publikum habe ich hingewiesen. Andererseits ist das historische Interesse nicht gänzlich abgestorben, im Gegenteil, viele Geschichtsvereine florieren, überall gibt es Geschichtswerkstätten, die die lokale Vergangenheit erforschen, die Leistungskurse an den Gymnasien leisten Erstaunliches. Das Problem lautet, ob dieses hauptsächlich bildungsbürgerliche Interesse auf eine breitere, populäre Basis gestellt werden kann. Doch hierfür scheint es bisher kein Rezept zu geben. Bleibt zu hoffen, daß die Kulturpolitiker ihrer Verantwortung bewußt sind und aufkeimendes republikanisches Geschichtsbewußtsein fördern, auch bei knappen Kassen. Denn Geschichtsblindheit ist der Nährboden fur Geschichtsklitterung, und darin Meister sind nach wie vor die Barden des schwarzweiß-roten und braunen Ungeists und deren Erben.

27 28

Ernest Renan, Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne. Mit einem Essay von Walter Euchner, Hamburg 1996, 34ff. Ernst-August Roloff, Erinnern - Trauern - Verdrängen? Gedanken über Gedenken und Denkmäler in Braunschweig, Braunschweig 1998, 11.

THOMAS MEYER

Parallelgesellschaft und Demokratie1

Der Begriff der „Parallelgesellschaft" ist in den beiden Jahrzehnten vor dem Ende der sowjetkommunistischen Gesellschaftssysteme in Osteuropa in das Scheinwerferlicht des öffentlichen Interesses getreten, als sich dort im Zuge einer gewissen Liberalisierung allmählich selbstorganisierte Bürgeraktivitäten außerhalb der staatlich kontrollierten Sphäre ausbildeten, oder vielmehr eine solche halböffentliche Sphäre jenseits der dem Anspruch nach umfassenden Staatszuständigkeit überhaupt erst entstehen ließen. In Ländern wie Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und in einem gewissen Maße auch der DDR und der Sowjetunion selbst entstanden in den siebziger und achtziger Jahren freie Gewerkschaften, Samisdat-Verlage mit Buchund Zeitschriftpublikationen, kleine Alternativbibliotheken, Seminare und „Universitäten", Studiengruppen, Bürgerinitiativen und Diskussionsforen. In einem gewissen, äußerst bescheidenem Umfang bildeten oppositionelle Bürgerinnen und Bürger auf selbstorganisierter zivilgesellschaftlicher Grundlage einige der Institutionen des Staates, der auf der Basis der offiziell gültigen marxistischleninistischen Legitimationsideologie einen prinzipiellen und mit staatlichen Strafsanktionen bewährten Monopolanspruch erhob, noch einmal in eigner Initiative und Verantwortung ab. In freilich höchst unterschiedlichem Maße von Land zu Land gelang es ihnen einerseits, oppositionell gesinnte Teile ihrer Gesellschaft in diese neuartigen Institutionen der „Parallelgesellschaft" einzubeziehen und diesen trotz der anhaltenden staatlichen Bedrängung Dauer zu verliehen. Ohne Zweifel haben die alternativen Handlungskonzepte, die Solidarität, das Sozialkapital und die institutionellen Gelegenheitsstrukturen, die sich mit diesen „Parallelgesellschaften" ausbilden konnten, einen entscheidenden Beitrag zur de-

1

Eine kürzere Fassung dieses Aufsatzes ist erschienen in: Meyer, Thomas/Weil, Reinhard: Die Bürgergesellschaft, Perspektiven für Bürgerbeteiligung und Bürgerkommunikation, Bonn 2002.

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mokratischen Transformation der kommunistischen Diktaturen geleistet (Merkel 1999; 297). Diese Rolle war auch eine der zentralen Ursachen dafür, daß mit der demokratischen Revolution in Osteuropa das Thema der Zivilgesellschaft als Bestandteil und Grundlage moderner Demokratie weltweit auf die Tagesordnung des öffentlichen demokratiepolitischen Diskurses und der wissenschaftlichen Debatte über die reflexive Modernisierung der Demokratie geriet. Wie die gesamte osteuropäische Transformation war diese Debatte ein Produkt der aktuellen Phase der Globalisierung und wirkte ihrerseits auf diesen zurück. In einen scharfen Kontrast zu dieser Entwicklung trat dann rasch und gründlich das Aufkommen aggressiver Formen einer neuen Identitätspolitik, die - sei es mit ethnischer, religiöser oder nationalistischer Rechtfertigung - bestehende Gesellschaften sprengten und neue Formen der konfrontativen Segregation und Fragmentierung erzwangen. Sie zerstörte gemeinsame Lebenswelten, Ansätze gemeinsamer Zivilgesellschaften und schließlich auch die Einheit der gemeinsamen Staatsnation. Seither rückt ein anderer Typ von „Parallelgesellschaft" in den Aufmerksamkeitskegel der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte: die ethnisch-kulturell bzw. kulturellreligiös gebundene zivilgesellschaftliche und lebensweltliche Segregation von Minderheiten innerhalb von demokratisch verfaßten Staatsnationen. In der dadurch ausgelösten sozialwissenschaftlichen Debatte lassen sich im gegenwärtigen Anfangsstadium drei alternative Positionen identifizieren, ohne daß der Begriff der Parallelgesellschaft, soweit er überhaupt Verwendung findet, dabei jeweils selbst befriedigend geklärt wäre und einheitlich verwendet würde. Erstens·. Das Zentrum für Türkeistudien (Essen) ist in einer einschlägigen Studien zu der Schußfolgerung gelangt, daß schon die in einer Reihe von deutschen Großstädten heute zu beobachtenden „ethnisch verdichteten Siedlungsgebiete" für die Gesellschaft als Ganze zum Integrationshemmnis und für die betroffenen Migranten als Individuen zur chancenmindernden Integrationsbarriere geworden sein. Die zweite Position wird u. a. von dem Sozialwissenschaftler Dieter Oberndörfer markiert, der das ganze analytische Konzept der „Parallelgesellschaft" selbst mit dem Argument verwirft, parallele Institutionen und Organisationsformen habe es in der modernen Gesellschaft stets gegeben, etwa die der Arbeiterbewegung (Oberndörfer 2001). Sie bilden daher einen ihrer normalen integrativen Bestandteile. Drittens'. Der Konfliktund Integrationsforscher Wilhelm Heitmeyer hat vorgeschlagen, von Parallelgesellschaft nur dann zu sprechen, wenn die institutionelle Verdoppelung der Mehrheitsbzw. Aufnahmegesellschaft komplett ist und zwar einschließlich der sanktionsfähigen Institutionalisierung eines parallelen Rechtskreises (Heitmeyer 2002). Parallelgesellschaften in diesem Sinne stellten dann allerdings ein ernsthaftes Hindernis der gesellschaftlichen Integration und der allgemeinen Geltung rechtsstaatlich demokratischer Ordnung dar. Im vorliegenden Text möchte ich zunächst einen Beitrag zur Präzisierung der Begriffe und in der Hauptsache dann zur empirisch gestützten Beantwortung der

PARALLELGESELLSCHAFT UND DEMOKRATIE

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mit den drei alternativen Positionen aufgeworfenen Fragen leisten. In einem ersten Schritt möchte ich die verwendeten Begriffe klären (Abschnitt 1), dann die Rolle der politischen Kultur für die Integration demokratisch rechtsstaatlich verfaßter Gemeinwesen erörtern ( Abschnitt 2) und anschließend den Beitrag der Zivilgesellschaft zur Schaffung einer demokratischen politischen Kultur zur Diskussion stellen (Abschnitt 3). Im einem vierten Schritt möchte ich dann der Frage nachgehen, ob die ethnisch-kulturelle bzw. kulturell-religiöse Differenzierung der Gesellschaft überhaupt die Ausbildung einer gemeinsamen politischen Kultur zuläßt (Abschnitt 4). Im Anschluß daran geht es um die Frage, in welchem Verhältnis Zivilgesellschaft und Parallelgesellschaften zu den Größen Assimilation, Integration und Identität stehen ( Abschnitt 5). Sodann diskutiere ich die Ergebnisse einiger empirischer Untersuchungen über die Auswirkungen von Parallelgesellschaften auf die Integrationschancen von Migranten (Abschnitt 6). Der Text schließt mit einer Evaluation der zu Beginn skizzierten Alternativpositionen zur demokratiepolitischen Rolle von Parallelgesellschaften im Lichte der Ergebnisse der einzelnen Arbeitsschritte und Anregungen für die weitere Diskussion (Abschnitt 7).

1.

Der Begriff der Parallelgesellschaft

Der Begriff der Parallelgesellschaft ist allein schon durch die historische Abfolge seiner höchste unterschiedlichen Verwendungskontexte in der jüngsten Geschichte in der Sache schillernd und weitgehend unbestimmt geblieben. Er ist darüber hinaus aber auch in seinem Begriffsinhalt bisher nicht in ausreichender Trennschärfe bestimmt worden, so daß in den bisherigen Debatten Mißverständnisse vorherrschen. Idealtypische Trennlinien sind zunächst in fünf grundlegenden Dimensionen zu ziehen: handelt es sich bei den Kollektiven, die gemeinsame „parallelgesellschaftliche" Strukturen teilen (1) um sozial homogene oder heterogene Gruppen, (2) um ethno-kulturell bzw. kulturell-religiös homogene oder heterogene Gruppen, (3) handelt es sich bei den „parallelgesellschaftlichen" Strukturen um lediglich zivilgesellschaftliche oder darüber hinaus auch um lebensweltliche und ökonomische Strukturen, (4) verdoppeln diese Strukturen diejenigen der Mehrheitsgesellschaft komplett oder nur zu einem begrenzten Teil, und (5) ist die parallelgesellschaftliche Segregation erzwungen oder freiwillig gesucht; und (6) handelt es sich um eine siedlungsräumliche Segregation oder erfolgt diese überwiegend auf der Ebene sozialer Interaktionen und der Mediennutzung ohne räumliche Segregation. Obgleich in all diesen Bereichen, wenn auch durchaus in unterschiedlichem Ausmaß, in der Realität so gut wie immer Übergänge zwischen den alternativen Polen zu beobachten sein dürften, markieren diese doch idealtypische Modelle, die bei der Analyse der Realität und bei ihrer demokratiepolitischen Beurteilung eine Hilfestellung bieten können.

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Offensichtlich macht es zunächst einen wesentlichen Unterschied, ob die Segregation formal, sei es rechtlich, sei es (5a) politisch-sozial erzwungen ist oder (5b) freiwillig erfolgt. Für den zuerst genannten Fall hat sich auch im wissenschaftlichen Sprachgebrauch der Begriff des „Ghettos" eingebürgert. Für den Fall der freiwilligen siedlungsräumlichen Segregation (6a) ethno-kultureller Minderheiten (2b) ist der Begriff der „ethnischen Kolonie" gebräuchlich. Sowohl die teilweise wie auch die weitgehende sozio-kulturelle Segregation (3a), sei sie siedlungsräumlich oder lediglich auf der Ebene der sozialen Interaktion vollzogen, ist soziologisch mit dem Begriff der „Subkultur" verbunden. Wenn diese eine bestimmte Verknüpfung sozio-kultureller Orientierungen mit segregierten ökonomischen Strukturen eingehen, sprechen wir von „Alternativökonomie". Im vorliegenden Zusammenhang soll der Begriff der Parallelgesellschaft nur für soziale Kollektive verwendet werden, auf die in ausschlaggebendem Maße die folgenden Merkmale zutreffen: 1. Sozial homogen oder heterogen; 2. Ethno-kulturell bzw. kulturell-religiös homogen (2b); 3. Nahezu vollständige lebensweltliche und zivilgesellschaftlich sowie weitgehende Möglichkeiten der ökonomischen Segregation; 4. Nahezu komplette Verdoppelung der mehrheitsgesellschaftlichen Institutionen; 5. Formal freiwillige Form der Segregation; 6. Siedlungsräumliche oder nur sozial - interaktive Segregation, sofern die anderen Merkmale alle erfüllt sind. Nur „formal" freiwillig kann die siedlungsräumliche Segregation in dem Sinne sein, daß die betreffenden Personen faktisch anderweitige Wohnmöglichkeiten gar nicht finden oder sprachlich ganz auf die Interaktion in den eigen-ethnischen Netzen angewiesen sein mögen. Die wichtigste Streitfrage im Zusammenhang mit dem Begriff der Parallelgesellschaft verbirgt sich erwartungsgemäß in dem Kriterium „komplette" Segregation. Auch nach Auffassung von Wilhelm Heitmeyer schließt es die Ausbildung eines eigenen, „segregierten" Rechtskreises ein, so wie etwa die Muslime Indiens im Gegensatz zu den übrigen religiös-kulturellen Gruppen des Landes auf ein eigenes Familienrecht zurückgreifen können, das ausschließlich für sie gilt 2 . Obgleich ich dieses Kriterium ebenfalls für entscheidend halte, möchte ich anregen, es nicht auf eine formal-rechtliche Deutung zu begrenzen. Von einem eigenständigen Rechtskreis kann faktisch nämlich auch dann gesprochen werden, wenn ein erheblicher sozialer oder sozio-kultureller Druck innerhalb der betreffenden Gemeinschaft besteht, wesentliche staatlich garantierte Grundrechte nicht zu nutzen oder im Streitfall nicht die staatlichen Gerichte, sondern „eigen-ethnische" bzw. „kulturell-religiöse" Schiedsstellen anzurufen und sich deren Urteil zu unterwerfen. Der Druck, sich hergebrachten Normen der eigenen Gruppe unter Verzicht

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Heitmeyer (2002)

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auf wesentliche verbriefte Rechte der Aufnahmegesellschaft zu unterwerfen und sogar im Falle einer entgegengesetzten eigenen Auffassung auf die Anrufung der staatlichen Gerichte zu verzichten, um den sozialen Sanktionen der Parallelgesellschaft zu entgehend, kann in der Praxis ja durchaus überwältigend sein. Auch in solchen Fällen möchte ich vorschlagen, die strengen Kriterien für die Anwendung des Begriffs der Parallelgesellschaft für erfüllt zu halten, obwohl, wie bei allen anderen Kriterien im übrigen ja auch, ihr Vorliegen in der Realität umstritten sein kann. Falls alle anderen, außer diesem Kriterium erfüllt sind, möchte ich aus Gründen, die im Verlaufe der Argumentation deutlicher werden, von „unvollständigen" Parallelgesellschaften sprechen. Insoweit geht es zunächst nur um die exakte Abgrenzung des Begriffs der Parallelgesellschaft. Die Frage seiner gerechtfertigten Anwendung auf empirische Gegebenheiten in Deutschland oder anderswo bleibt dabei zunächst offen. Allerdings bin ich der empirisch zu begründenden Auffassung, daß sich hierzulande in Wohngebieten wie Duisburg-Marxloh, Hamburg-Wilhelmsburg, Berlin-Kreuzberg, KölnEigelstein oder Dortmund-Nordstadt kollektive Lebensformen entwickeln, die die begrifflichen Merkmale der Parallelgesellschaft weitgehend erfüllen. Andererseits sind lediglich sozio-kulturelle Subkulturen oder zivilgesellschaftliche Alternativkulturen wie die der deutschen Arbeiterbewegung zwischen der Reichsgründung und dem Ende der Weimar Republik in diesem Sinne gerade keine Parallelgesellschaften. Das machen auch empirische Untersuchungen deutlich. Dieter Groh hat in diesem Zusammenhang zu Recht von negativer Integration gesprochen, da die Arbeiterbewegung mit all ihren zahlreichen und umfassenden Alternativorganisationen („von der Wiege bis zur Bahre") zum einen kommunikativ immer auf die Institutionen und die Kultur der Mehrheitsgesellschaft aktiv bezogen blieb, und zum anderen durch und durch darauf angelegt war, die bestehenden kulturellen Trennungen und institutionellen Ausschließungen der Staatsnation gerade zu überwinden3. Dazu trug im übrigen erheblich bei, daß die Arbeiterbewegung nicht nur die Sprache der Mehrheitsgesellschaft sprach, sondern sich auch als der wahre Erbe der nationalen Kultur und ihrer klassischen Hervorbringungen verstand. Ihre Mitglieder waren im Übrigen gleichzeitig auch in viele der basalen Institutionen der Mehrheitsgesellschaft integriert und ohne Ausnahme in den öffentlichen Rechtskreis eingeschlossen, auf dessen Veränderung für alle sie ansonsten hinwirkten. Der laxe Hinweis, gerade die deutsche Arbeiterbewegung zeige doch, daß Parallelgesellschaften immer schon zum gesellschaftlichen Leben gehörten und daher auch heute keine besondere Beachtung verdienten, trägt daher zur Klärung der Sache nichts bei4.

3 Groh (1973). 4 Wie z.B. das Argument von D. Oberdörfer (2001)

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2.

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Politische Kultur und demokratische Integration

Die Theorie der Staatsbürgerschaft und die empirische politische Kulturforschung stellen überzeugende Argumente für die Begründung der These bereit, daß eine gemeinsame politische Basis-Kultur auch in kulturell pluralistischen Gesellschaften für eine dauerhafte demokratische Integration sowohl notwendig wie auch möglich ist5 . Separate Teilgesellschaften innerhalb der Demokratie, wenn sie von der die demokratische Staatsnation über alle sonstigen Unterschiede hinweg verbindenden politischen Kultur ausgeschlossen bleiben, bergen darum ein desintegratives Potential. Die inhaltliche Bestimmung einer solchen politischen Basis-Kultur ihrerseits verlangt zweierlei: die empirisch orientierte Begründung ihrer normativen Minimalgehalte und die klare Unterscheidung der alle verbindenden politischen Kultur von den pluralistisch differenzierten Lebenskulturen. Ihre Realisierung als gelebte Sozio-Kultur ist darüber hinaus an eine Reihe anspruchsvoller Voraussetzungen gebunden. Seit dem Beginn der politische Kulturforschung mit der Fünf-Länder Vergleichsstudie von Almond/Verba (1963) ist deren ursprüngliches Ergebnis immer wieder bestätigt worden: Das Fehlen einer in ausreichendem Maße in den realen Handlungsmotivationen der Bürger verankerten demokratischen politischen Kultur muß als eine der Hauptursachen für das Scheitern institutionalisierter Demokratien angesehen werden 6 . Im Falle eines anhaltenden Widerspruchs zwischen den realen Handlungsmotivationen der Bürger und den Anforderungen der demokratischen Institutionen ist nicht nur die integrative Kraft, sondern auch der Bestand dieser Institutionen selbst akut gefährdet. Es ist infolge der Ergebnisse dieser Forschungstradition heute kaum noch umstritten, daß für die Integration demokratischer Gesellschaften weder die institutionellen Arrangements ausreichen, die sie sich geben, noch die Rechte, die sie ihren Mitglieder gewähren, auch wenn beide für die Stabilität von Demokratien eine bedeutende Rolle spielen. Sie sind wichtige Voraussetzungen dauerhafter Integration, entscheidend für die politische Integration aber ist letzten Endes die real gelebte politische Kultur der Kollektive, aus denen die Gesellschaft besteht, denn aus ihr speisen sich die tatsächlichen Motive des Handelns der Bürger, für oder gegen die Institutionen, im Geist der Institutionen oder für deren Gebrauch in subversiver Absicht. Die real eingelebte politische Kultur entscheidet in der politischen Alltagspraxis darüber, welcher Gebrauch von den Institutionen gemacht wird und welche Sicht die unterschiedlichen Bürger von dem Gemeinwesen, in dem sie zusammen leben, und voneinander haben, ob sie seine wichtigen Einrichtung und Zielen kennen und diese emotional und in ihren Wertungen unterstützen, ob sie sich in einem ausreichenden Maße mit ihnen identifizieren und daher auch im Konflikt- und Krisenfalle zu ihnen stehen. 5 6

Vor allem schon Almond/ Verba (1963). Almond/Verba (1963);

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Wenn in größeren oder in besonders mobilisierten Gruppen die Unterstützung der Institutionen, Grundwerte und Ziele des Gemeinwesens, in dem sie leben, schwindet oder in Ablehnung umschlägt, sind, wie die politische Kulturforschung vielfach belegt hat, Apathie, Entfremdung oder auch Aggression die wahrscheinliche Folge. Prozesse der gesellschaftlichen und politischen Desintegration kommen in Gang. In der Regeln erweist sich im Falle eines Widerspruchs zwischen beiden die politische Kultur als stärker denn die Institutionen des Gemeinwesens. Die politische Kultur als real handlungswirksames Orientierungsmuster sozialer Kollektive spielt für den Zusammenhalt oder Zerfall politischer Gemeinwesen, für Kontinuität oder Bruch ihrer Institutionen stets eine Schlüsselrolle. Während die Institutionen fur die politische Systemintegration sorgen, macht erst eine gemeinsam geteilte politische Kultur die politische Sozial integration möglich 7 . Bei der Ausbildung einer politischen Kultur geht es um die kollektive Habitualisierung real wirksamer Handlungsorientierungen 8 . In dieser Hinsicht stellen sich aus politikwissenschaftlicher und demokratiepolitischer Sicht zwei entscheidende Fragen. Die eine ist die nach inhaltlichen Standards, denen eine solche politische Kultur der Demokratie mindestens genügen muß, um ihre integrative und stabilisierende Funktion erfüllen zu können. Die andere ist die nach den fördernden und hemmenden sozialen Bedingungen der Ausbildung einer auf diese Standards bezogenen gemeinsamen demokratischen politischen Kultur in kulturell pluralistischen Gesellschaften. Dabei ist die Frage nach der Begründbarkeit solcher Normen natürlich keineswegs unbedeutend. Ihre plausible Beantwortung in öffentlichen Diskursen ist in aller Regel vielmehr eine der notwendigen Bedingungen für deren kulturelle Habitualisierung. Denn erst aus dem Zusammenspiel von Deutungskultur und Sozio-Kultur, von öffentlich wirksamen Begründungen und kulturellen Alltagserfahrungen ergibt sich die Dynamik der Entwicklung politischer Kulturen als psycho-sozial wirksamer Handlungsorientierungen gesellschaftlicher Kollektive 9 . Jürgen Habermas betont in seinen Analysen der kulturellen Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat ebenfalls die Schlüsselrolle der politischen Kultur als motivationaler Verankerung demokratischer Normen für die politische Integration, läßt aber offen, worin sie über die Unterstützung der bestehenden rechtsstaatlich - demokratischen Institutionen hinaus bestehen soll. Bei ihm bleibt es in der Schwebe, ob es dabei vor allem um den prozeduralen Konsens des demokratisch-rechtsstaatlichen Verfahrens geht oder doch um einen weiter gefaßten Satz von Normen und Werten, die tiefer und umfassender mit der Gesamtkultur der jeweiligen Gesellschaft verflochten sind10. Politische Kultur, daran läßt er keinen Zweifel, muß als das für die politische Integration entscheidende Segment der Sitt1 8 9 10

Lockwood (1964) Habermas (1997): 181 f Rohe (1987) Habermas (1997): 178f

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lichkeit konkreter Gemeinwesen verstanden werden und nicht nur als eine Forderung der politischen Moral. Die Frage nach den für ethno-kulturell bzw. kulturell-religiös pluralistische Gesellschaften notwendigen gemeinsamen Grundnormen bezieht sich daher auf den Zusammenhang und die Wechselbeziehung zwischen den drei einschlägigen Größen: den begründbaren Grundnormen des politischen Zusammenlebens in der Demokratie, den Bedingungen der Ausbildung einer ihnen entsprechenden politischen Kultur sowie dem Verhältnis zwischen dieser und den Differenzen ethno-kultureller oder kulturell-religiöser Identitäten. Politische Kultur ist in der sozialwissenschaftlichen Politikforschung zunächst ein deskriptives Konzept 11 . Es beschreibt die Verteilung der kollektiven Orientierungen einer Gesellschaft gegenüber dem Politischen: dem politischen System, seinen Teilhabemöglichkeiten, seinen Leistungen und der Rolle des Einzelnen in ihm, mithin die soziale Realität der Staatsbürgerrolle in den tatsächlich verhaltenssteuernden Grundorientierungen der Bürger. Im Sinne der realen politischen Kultur geht es daher nicht um Normen als abstrakte Verhaltenserwartungen an den Einzelnen, sondern um die handlungswirksamen Orientierungen, soweit sie tatsächlich schon in den Motivationsstrukturen größerer Kollektive verankert sind. Freilich sind diese als kulturelle Sachverhalte Ergebnisse von Erfahrungs- und Lernprozessen, die zwar kurzfristig als handlungssteuernde Kräfte invariabel sind, sich aber unter dem Einfluß veränderter Erfahrungen längerfristig immer auch ihrerseits im Wandel befinden, also als historische Variable erweisen. Die empirische Forschung hat seit langem gezeigt, daß sich die konkrete politische Kultur auch in ethno-kulturell relativ homogenen Gesellschaften in der Regel erheblich ausdifferenziert, so daß sich ein Reihe von Teilkulturen ausbilden, die zwar durch einige Basisorientierungen miteinander verbunden sein, gleichzeitig aber in der konkreten Ausprägung der einzelnen Orientierungen beträchtliche Differenzierungen aufweisen können 12 . Ein vielzitiertes Beispiel für diesen Sachverhalt war in den ersten Jahrzehnten nach dem zweiten Weltkrieg der Dualismus des kommunistisch-säkularen und des katholischen Milieus in der politischen Kultur Italiens, die über alle höchst beträchtlichen Unterschiede hinweg doch beide integrierter Teil des demokratischen „Verfassungsbogens" der italienischen Republik waren 13 . Für die USA wiederum ist in diesem Zeitraum eine gemeinsame politische Kultur der Demokratie konstatiert worden, die in den wesentlichen staatsbürgerlichen Grundorientierungen die mannigfachen ethno-kulturellen Differenzen wirkungsvoll überbrückte 14 . Theoeretische Ausführungen zu diesem Thema beschränken sich häufig auf die Feststellung, daß die Staatsbürger der rechtsstaatlichen Demokratie in einem gewis11 12 13 14

Almond/Verba (1963) Flaig/Meyer/Ueltzhöffer (1993) Trautmann (1984) Almond/Verba (1963)

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sen Maße in der Lage sein müssen, von ihren privategoistischen und Gruppeninteressen zu abstrahieren, und am öffentliche Diskurs in einer Perspektive der Orientierung am Gemeinwohl teil zu nehmen. Für kulturell pluralistischen Gesellschaften hat Will Kymlicka auf dieser Ebene daraus die überzeugende Schlußfolgerung gezogen, daß die Angehörigen der unterschiedlichen Kollektive in der Lage sein müssen, in ihrer Staatbürgerrolle den Horizont ihrer kulturellen Identitäten zu transzendieren]5.Die eigentlichen Probleme, die damit fur die Praxis aufgeworfen sind, zeigen sich aber erst, sobald diese Abstraktionsebene verlassen wird und nach den genaueren Bestimmungsgründen und der konkreten normativen Ausstattung der Rolle des Staatsbürgers in rechtsstaatlichen Demokratien gefragt wird. Der amerikanische Politikwissenschaftler William Galston hat den Stand der Theorie der Staatsbürgerrolle in der Demokratie für die konkrete Handlungsebene auf anspruchsvolle Weise systematisch zusammengefaßt 16 . Demnach verlangt diese die folgenden Arten von Bürgertugenden: allgemeine Tugenden wie Mut, Gesetzestreue, Loyalität; soziale Tugenden wie Unabhängigkeit und Offenheit; wirtschaftliche Tugenden der Arbeits-Ethik und der Anpassungsfähigkeit an den wirtschaftlichen und technischen Wandel; schließlich politische Tugenden: die Rechte Anderer zu erkennen und zu respektieren, politischen Realismus (Forderungen auf das zu begrenzen, was bezahlt werden kann), Fähigkeit zur Beurteilung der Leistungen von Amtsinhabern und Mandatsträgern und Bereitschaft zum Engagement im öffentlichen Diskurs. Diese weitgehenden Forderungen beschreiben freilich das Ideal einer republikanischen Staatsbürgerrolle, der auch in stabilen Demokratien mit langer Tradition, wie die politische Kulturforschung immer wieder zeigt, nur eine Minderheit der Bürger wirklich nahe kommt. Sie beschreiben eher kontrafaktische Erwartungen an die Staatbürger im Lichte des republikanischen Ideals und geben demokratietheoretisch begründete Orientierungen für den öffentlichen Diskurs und die Lernziele des Bildungssystems als daß sie realistische Erwartungen für eine flächendeckende soziale Kultur zum Ausdruck bringen könnten. Auch in dieser kontrafaktischen Funktion wirken sie jedoch über das Bildungssystem, die öffentliche Kommunikation und das Selbstverständnis zivilgesellschaftlicher Initiativen je nach den realen Erfahrungen der wirklichen Staatsbürger als Einflußfaktoren an der Entwicklung der politischer Sozio-Kultur mit. Die Minima der staatsbürgerlicher Orientierung, derer die Demokratie als sozialer Realität unbedingt bedarf, wenn ihr institutioneller Bestand gesichert und ihre funktionellen und normativen Ansprüche erfüllt werden sollen, zeigen sich eher in den Ergebnissen der politischen Kulturforschung, die nach den real fungierenden Orientierungen in stabilen Demokratien und den empirisch beobachtbaren Defiziten

15 16

Kymlicka (2000):35 Galston (1991): 2 2 I f f

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in labilen Demokratien fragt. Sei den ersten Studien von Gabriel Almond und Sidney Verba weisen die empirischen Forschungsergebnisse immer wieder aus, daß in einer stabilen Demokratie die große Mehrheit aller Bürger zumindest die folgenden Orientierungen in einen ausreichendem Maße habitualisiert haben muß: Vertrauen in die Mitbürger; ausreichende Kenntnisse, sowie emotionale und wertgebunden Zustimmung im Hinblick auf das politische Gesamtsystem, in dem sie leben, dessen Teilhabemöglichkeiten und grundlegenden Leistungen und ihre eigene Verantwortung in ihm; aktive Toleranz·, Fähigkeit zur emotional stabilen Verbindung von Konflikten in Sachfragen mit Übereinstimmung in demokratischen Grundüberzeugungen; Emotionale Fähigkeit der Trennung von politischer Differenz und menschlicher Anerkennung. Dieser Minimalkatalog muß um zwei der Maßstäbe aus der Liste von Galston ergänzt werden, um auf die Bedingungen kulturell vielgestaltiger Gesellschaften bezogen werden zu können: erstens, die Teilhabe am öffentlichen Diskurs des Gemeinwesens muß zumindest passiv ohne substantielle Behinderungen möglich sein; und zweitens Vertrauen, Toleranz und wechselseitige Anerkennung dürfen nicht an ethno-kulturellen bzw. kulturell-religiösen MilieuGrenzen halt machen. Die konsensuellen Minima demokratischer politischer Kultur decken sich mit einem aus der Theorie der Staatsbürgerrolle abgeleiteten Grundbestand elementarer Tugenden demokratischer Staatsbürgerschaft. Wir müssen daher in ihnen diejenigen kulturell-politischen Orientierungen sehen, die in der ganzen Gesellschaft eines demokratischen Gemeinwesens als sozial wirksame Handlungsdispositionen eingelebt sein sollten, wenn diese funktionsfähig sein und Bestand haben soll. Alle besonderen Identitäten, die sich innerhalb einer demokratisch verfaßten Gesellschaft auf kulturell-ästhetischer, ethno-kultureller, ideologischer oder kulturellreligiöser Basis ausbilden, müssen die Minima der politischen Kultur der Demokratie teilen können, da diese in empirischer Sicht die Voraussetzung der nachhaltigen Systemintegration des von ihnen allen geteilten Gemeinwesens ist und in demokratisch normativer Sicht eine der Voraussetzungen für wechselseitigen Anerkennung des Rechts der Selbstbehauptung ihrer besonderen Identität innerhalb des von ihnen allen geteilten Gemeinwesens. Nur für ein republikanisches Gemeinwesen der aktiven demokratischen Selbstregierung unter Beteiligung aller wäre die kulturelle Verankerung der anspruchsvollen Orientierungen erforderlich, die Galstons Katalog aufzählt. Er dürfte als Anspruch an die gesamte Staatsbürgerschaft die tatsächlichen Möglichkeiten nicht nur kulturell vielfältiger Gesellschaften, sondern jeder komplexen Massendemokratie überfordern. Eine gemeinsame politische Kultur, in der zumindest die Orientierungen der minimalen Staatsbürgerrolle in all ihren divergenten Teilkulturen als reale Sozio-Kultur verankert ist, ist aber eine notwendige Bedingung für die dauerhafte politische Integration demokratischer Gemeinwesens auch in kulturell pluralistischen Gesellschaften. Unter welchen Bedingungen ist sie möglich?

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203

An dieser Stelle der Argumentation stellen sich fünf Fragen. Erstens: Bedarf die demokratische Integration kulturell pluralistischer Gesellschaften eines bestimmten Maßes auch an kultureller Integration und wie ist dieses zu bestimmen? Zweitens·. Ist nicht schon die Zumutung der teilweisen Assimilation in einer gemeinsamen politischen Kultur der Demokratie ein Angriff auf die besondere kulturelle Identität bestimmter Kollektive aus der Perspektive anderer? Drittens: Bedeutet die Übereinstimmung in den Grundfragen einer solchen politischen Kultur letzten Endes nicht die Preisgabe des Koexistenz-Konzepts Integration zugunsten von Assimilation? Viertens·. Welche strukturellen, politischen und rechtlichen Bedingungen müssen mindestens erfüllt sein, damit die Ausbildung einer gemeinsamen politischen Kultur in kulturell pluralistischen Gesellschaften wahrscheinlich wird? Fünftens·. Welchen Beitrag leistet die Zivilgesellschaft und welchen leisten Parallelgesellschaften zur demokratischen politischen Integration?

3. Zivilgesellschaft und politische Kultur Die Zivilgesellschaft muß aus einer Reihe empirisch gestützter Gründe als die zentrale Gelegenheitsstruktur für die Ausbildung und Selbsterhaltung der politischen Kultur angesehen werden. Daß eine verbindende politische Kultur eine gemeinsame Sprache oder wenigstens Gelegenheiten der fortwährenden Übersetzung als Minimalbedingung der Möglichkeit öffentlicher Verständigung voraussetzt, ist offenkundig. Darüber hinaus aber muß ein gewisses Maß geteilten kulturellen Hintergrund- und Geschichtswissens gegeben sein, aus dem sich die spezifische kollektive politische Identität der politische Kultur eines Gemeinwesens speist, denn zur politischen Kultur eines Kollektivs gehört ja auch eine Entwurf dessen, wie man nach innen und außen gemeinsam politisch leben und handeln will. Für die Gewährleistung dieser beiden Voraussetzungen politischer Kultur ist vor allem das Bildungssystem, im Falle von Neueinwanderern dessen Teilbereich Weiterbildung zuständig. Selbstverständlich kann das Bildungssystem diesen ohnedies schwierigen Teil der politisch kulturellen Assimilation nur in dem Maße leisten, wie es nicht seinerseits wieder kulturell fragmentiert ist. Wie die Forschung zum Entstehen und zur Erhaltung von sozialem Kapital gezeigt haben, ist für die Schaffung der handlungsbezogenen Orientierungen einer gemeinsamer politischer Kultur, wie Vertrauen, Verständnis- und Kooperationsfähigkeit sowie Solidarität die beständige Chance zur Zusammenarbeit in den Foren, Initiativen, Netzwerken, und Freundeskreisen der Zivilgesellschaft ausschlaggebend, in denen sich die eigenen Interessen der Engagierten und die öffentlichen Interessen des Gemeinwesens überlappen ,7 .Die grundlegenden gemeinsamen Handlungsorientierungen, die den Kern einer alle verbindenden politischen Kultur

17

Putnam (2000)

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ausmachen, können verläßlich und umfassend nur aus einer gemeinsame Praxis des sozialen, zivilgesellschaftlichen und politischen Handelns hervorgehen und sich in ]8 ihr fortlaufend erneuern . Die niederländischen politischen Kulturforscher Meindert Fennema und Jean Tillie haben ihre empirischen Untersuchungen zur Ausbildung politischer Kultur in kulturell pluralistischen Gesellschaften ganz auf diesen Zusammenhang von zivilgesellschaftlicher Kooperation und Ausbildung von Vertrauen als Grundorientierung demokratischer Integration gestützt19. Sie gehen davon aus, daß die Zusammenarbeit innerhalb der einzelnen Organisationen der Zivilgesellschaft zunächst in diesen selbst zur Ausbildung von Vertrauen und Sozialkapital fuhrt, und dann durch ein Vielzahl überlappender Mitgliedschaften und horizontaler Vernetzungen zwischen ihnen zu einer „Zirkulation des Vertrauens" über die ganze Bandbreite des zivilgesellschaftlichen Spektrums hinweg. Demnach sind es vor allem drei unvermittelte soziale Handlungszusammenhänge, die die Zivilgesellschaft zur primären sozialen „Werkstatt" zur Erzeugung von Vertrauen und Sozialkapital als Kernelemente einer integrierten demokratischen Kultur machen: a) das unmittelbare verständigungsgeleitete Zusammenwirken in einer konkreten sozialen Organisation fur spezielle gemeinschaftliche Zwecke mit einem dichten Netzt andauernden persönlicher Interaktionsbeziehungen, b) eine Vielfalt überlappender Mitgliedschaften einer großen Zahl aktiver Bürger und c) die horizontale (nicht-hierarchische) Vernetzung der Organisationen und Initiativen innerhalb der Zivilgesellschaft. Die damit geforderte Schaffung von Lebenswelten und zivilgesellschaftlichen Handlungsfeldern, die prinzipiell von allen Teilen der Gesellschaft geteilt werden, ist eine anspruchsvolle, aber unverzichtbare Bedingung für die demokratische politische Integration. Sie ist eine unverzichtbare Gelegenheitsstruktur, um dasjenige Maß an wechselseitigem Vertrauen und an Solidarität entstehen zu lassen, das der politischen Kultur der Demokratie als Energie, Grundorientierung und Bindekraft zugrunde liegt20. Vertrauen und ein ausreichendes Maß an verbindendem sozialen Kapital sind das Fundament für die politischen Kultur der Demokratie 21 . Im Maße wie sich daher tatsächlich ethno-kulturelle bzw. kulturell-religiöse Parallelgesellschaften innerhalb von demokratisch verfaßten Staatsnationen ausbilden, ist aus den dargelegten Gründen zu erwarten, daß sie als systematische Hindernisse sowohl für die Ausbildung einer verbindenden politischen Kultur wie auch für den Prozesse 18 19 20

21

Putnam (2000) Fennema/Tillie (2001) Die in diesem Zusammenhang aufgrund der niederländischen Erfahrungen Fennema/Tillie (2001), die ethnischen Zivilgesellschaften dürften durchaus sellschaftlich separiert) sein, solange nur die fur sie repräsentativen Eliten in nen des Landes integriert sind , vermag weder in ihren empirischen Belegen, theoretischen Begründung zu überzeugen. Ich werde sie im Kapitel über die mit Parallelgesellschaften (Kap. V) erörtern. Vergi A l m o n d / V e r b a (1963) und Putnam (2000)

vorgebrachte These von versäult (also parallelgedie politischen Institutionoch der herangezogenen empirischen Erfahrungen

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der gesellschaftlichen und politischen Integration wirksam werden. Sie erzeugende vollständiger und geschlossener sie sind in um so stärkeren Maße, eine für die demokratische Integration höchst problematische Form der ausschließenden Gruppensolidarität, die Robert Putnam im Gegensatz zu dem verbindenden bridging social capital mit dem Terminus bonding social capital bezeichnet hat.22 Sie erzeugen eine Art von interner Solidarität, die die ethno-kulturellen oder kulturell -religiösen Gruppen einander entfremdet. Parallelgesellschaften stellen in dieser theoretischen Perspektive Gelegenheitsstrukturen für die dauerhafte Entfremdung der kulturell verschiedenen Kollektive der Gesellschaft dar. Ihre Ausbildung ist nicht in jedem Falle an streng segregierte Wohnbezirke gebunden. Sie können sich ebenso gut durch ein dichtes und ausschließenden Netzwerk „eigen-ethnischer" Gruppenbeziehungen aus verstreuten Wohnlagen heraus oder durch die ausschließliche Nutzung „eigenethnischer" Kommunikationsmedien ausbilden. Integration kann in empirischer Perspektive nur als ein längerfristiger zielgerichteter Prozeß verstanden werden, der die Identitäten aller Beteiligten verändert. Sein Gelingen hat zahlreiche Voraussetzungen. Dazu gehören neben den in der politischen Kultur der Demokratie und ihrer Staatsbürgerrolle begründeten normativen Zielwerten vor allem auch empirische Erfolgsbedingungen. Die erste besteht in der Anerkennung einer bestimmten Wechselseitigkeit, nämlich des Sachverhalts, daß Integration nicht anderes sein kann als ein vieldimensionaler Prozeß, in dem Formen der wechselseitigen Anerkennung und der wechselseitigen Selbstveränderung auf aktive und bewußte Weise in ein Verhältnis zueinander gesetzt werden. Schon die Notwendigkeit der wechselseitigen Anerkennung der Verschiedenen mutet allen Beteiligten ein bestimmtes Maß an Selbstveränderung zu. Im Verlaufe des Prozesses gelingender Integration entsteht ja insgesamt gesehen etwas Neues, die Einstellungen aller werden beeinflußt und zum großen Teil auch verändert, weil es um mehr geht als die bloß duldende Koexistenz der Verschiedenen in ihrer ursprünglichen Verfassung, dem also was Jürgen Habermas in diesem Zusammenhang „Artenschutz" genannt hat23. Die wechselseitige Beeinflussung reicht aber tiefer und betrifft sogar die Inhalte der politischen Kultur selbst. Es war wiederum Habermas, der daraufhingewiesen hat, daß die Aufnahmegesellschaft zwar berechtigt ist, Eintrittsbedingungen für Migranten im Sinne der politischen Kultur des demokratischen Rechtsstaates verbindlich zu machen. In diesem Rahmen ändert sich aber mit dem Eintritt von Menschen unterschiedlicher kultureller Identität die gesellschaftliche „Grundgesamtheit" der betreffenden Staatsnation, die über die kollektiven politische Identität fortan legi-

22 23

Putnam (2000): 23 Habermas (1997)

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timerweise zu befinden hat, und damit voraussichtlich auch der konkrete Inhalt der politischen Kultur 24 . Auch in dieser Hinsicht sind es nicht homogene Identitätsfiktionen, sondern das Konzept der Transkulturalität, das am ehesten in der Lage ist, die komplexen Wechselbeziehungen im Prozeß der Integration zu beschreiben. Zu unterscheiden sind dabei zwei Einflußebenen und zwei Einflußrichtungen. Auf der Ebene der politischen Kultur verlangt Integration mithin ein bestimmtes Maß an Assimilation- und zwar in beiden Richtungen: die erste Richtung weist auf die ursprüngliche Mehrheitskultur hin, weil alle Migranten zumindest die Übernahme der Grundnormen und der rechtsstaatlichen Demokratie mitsamt den zugehörigen Orientierungen zugemutet wird; in der zweiten Richtung mutet der durch die politische Integration entstehende kulturelle Pluralismus nunmehr dem ursprünglichen Kollektiv der Aufnahmegesellschaft zu, fortan die gemeinsame politische Identität der Staatsnation unter gleichberechtigter Teilhabe der zu Staatbürgern gewordenen Migranten zu bestimmen. Das fuhrt -freilich weiterhin in den Grenzen der Normen der rechtsstaatlichen Demokratie - vermutlich immer zu einer neuen kollektiven Identität, in der sich alle Staatsbürger wieder finden können. Habermas spricht von einer ethischen Imprägnierung der politischen Kultur und meint damit den Sachverhalt, daß die Entwürfe kollektiver Identität einer Staatsnation immer in einem bestimmten Maße durch ihre gemeinsame Geschichte und deren symbolische Interpretation sowie gemeinsame Entscheidungen darüber, wie diese Geschichte fortgesetzt werden soll, geprägt sind. Das setzt voraus, daß alle Staatsbürger einen ausreichenden Teil dieser Geschichte und ihrer symbolischen Verarbeitung überhaupt kennen. Insofern muß von allen Migranten, die die Eintrittsbedingung als Staatsbürger erfüllen wollen, dieses Maß an Kenntnis der Kultur des Aufnahmelandes und Identifikation mit ihr erwartet werden. Ein Stück weit greifen also die Voraussetzungen für Integration auf der Ebene der politischen Kultur auf die Ebene der allgemeinen Kultur über und beziehen sie mit ein. Habermas läßt letztlich offen, wie eine ethische Imprägnierung der politischen Kultur möglich sein soll, ohne eine gewisse Assimilation auf der Ebene der ethisch-kulturellen Identität selbst vorauszusetzen. Er bleibt auch unentschieden zwischen dieser Lesart und einer anderen, wonach politische Kultur in der rechtsstaatlichen Demokratie in der Hauptsache nur die gemeinsame Verinnerlichung der demokratischen Prozeduren ist. Hans Esser hat nun zu Recht eine sensible Frage aufgeworden, die im Hinblick auf die Konstitutionsbedingungen einer gemeinsamen politischen Kultur der Demokratie in kulturell pluralistischen Gesellschaften zugespitzt lauten muß: Welches Maß und welche Art kultureller Konvergenz der ethischen Identitäten selbst verlangt die zuverlässige Ausbildung einer solchen politischen Kultur der Demokra-

24

Habermas (1997): 179 ff

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tie 25 ? Offensichtlich ermöglicht erst ein breiterer Horizont geteilten kulturellen Verständnisses und Wissens sowie gelungener kultureller Identifikation die zuverlässige Ausbildung einer gemeinsamen politischen Kultur. Dies Grenzen sind hier ihrer Natur nach fließend und soweit ihre Bestimmung aus praktischen Gründen unumgänglich ist, immer nur auf der Basis gemachter Erfahrungen in Aushandlungsprozessen zu ziehen.

4.Politische Kultur und kultureller Pluralismus Die Normen, die eine institutionelle Demokratie braucht, um auf die Dauer lebensfähig zu sein, sind also Normen der politischen Kultur. Dies ist der empirische Befund. Die rechtsstaatliche Demokratie würde im Übrigen ja auch in dem Maße mit sich selbst in Widerspruch geraten, wie sie über diejenigen Normen hinaus, die die autonomen Entfaltungsspielräume der in ihr Lebenden sichern sollen, auch noch kulturelle Regeln der Lebensweise selbst verbindlich machen wollte. Ein solcher Übergriff wäre der erste Schritt in ein fundamentalistisches Kulturverständnis, das nicht nur die Regeln der Moral und des Rechts fur alle verbindlich machen will, sondern darüber hinaus der spezifischen Ethik eines der miteinander lebenden Kollektive Verbindlichkeit auch für die anderen zusprechen will 2 6 . Auch die normative Theorie der rechtsstaatlichen Demokratie schließt jede Forderung als illegitim aus, die kulturelle Normen über das fur ihre Bestandssicherung erforderliche qualitative und quantitative Maß hinaus verbindlich machen will. Die politische Kultur ist jedoch ein durch und durch mit ihrer allgemeinen Kultur verwobener Teil der Gesellschaft, sie ist, w i e Habermas sagt, ethisch imprägniert 27 . Sie umfaßt zum einen diejenige Teilmenge der Einstellungen, Orientierungen, Emotionen, Werturteile, Kenntnisse und Verhaltensdispositionen der allgemeinen Kultur, die sich speziell auf politische Objekte beziehen 28 . Sie schließt aber auch einen gemeinsamen Entwurf dessen ein, was die Staatsnation als ihre politische Identität und als das gemeinsame Sinnzentrum ihres politischen Handelns betrachtet. Zur Klärung dieser Zusammenhänge sind zunächst einige notwendige Differenzierungen angebracht. Kulturen sind nämlich durch zählebige, aber stets auch im Wandel befindliche Festlegungen, Normen, Überzeugungen, Gewohnheiten auf drei deutlich zu unterscheidenden Ebenen bestimmt, die zwar mit einander in Wechselwirkung stehen, aber dennoch ein erhebliches Maß an Unabhängigkeit, bis hin zur vollständigen Verselbständigung gegen einander entwickeln können 29 :

25 26 27 28 29

Esser (2001): 89 Vergi. Habermas (1997) Habermas (1997): 178 Almond/Verba (1963) Vergi. Meyer (2002)

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1. Die Ebene der metaphysischen Sinngebungen und Heilserwartunge-n {ways of believing). Bei diesen Orientierungen handelte es sich um das, was im Kern aller Weltanschauungen und Religionen steht, nämlich ein Angebot an Wegen für individuelle und kollektive Lebens- und Heilsgewißheiten. 2. Die Ebene der individuellen und kollektiven Lebensführung, also der Lebensweisen und der Alltagskultur (ways of life). Dabei handelt es sich insbesondere um Praktiken, Gewohnheiten, Ethiken der Lebensweise, Rituale, Umgangsformen, Lebensästhetiken, Eßgewohnheiten und vieles andere mehr, überwiegend um Orientierungen der praktischen Lebensführung und deren expressive Symbole, also all das, was in aller Regel zuerst an einer anderen Kultur ins Auge sticht und häufig besonders nachhaltig die Gewohnheit der Menschen prägt, die mit den entsprechenden Praktiken und Routinen aufgewachsen sind. 3. Die Ebene der sozialen und politischen Grundwerte des Zusammenlebens mit anderen (ways of living together). Hierbei handelt es sich vor allem um die Grundwerte für das Zusammenleben verschiedenartiger Menschen in der selben Gesellschaft und dem selben politischen Gemeinwesen, also um die sozialen politischen Grundwerte im engeren Sinne, wie etwa die Bevorzugung von Gleichheit oder Ungleichheit, Individualismus oder Kollektivismus 30 . Es zeigt sich nun in der empirischen Betrachtung aller zeitgenössischen Kulturen, daß Individuen und Kollektive, die die kulturellen Orientierungen der Ebene 1 mit einander teilen, äußerst unterschiedlicher Einstellung auf den Ebenen 2 und 3 sein können, ebenso wie Menschen aus tiefliegender Überzeugung die Normen der Ebene 3 teilen können, ohne auf den anderen beiden Ebenen Gemeinsamkeiten mit einander zu haben. Es liegt auf der Hand und wird vor allem von der neueren Alltagskultur -und Milieuforschung immer aufs neue bestätigt, daß etwa zwei gläubige protestantische Christen (Ebene 1) in unserer eigenen Gesellschaft extrem unterschiedliche alltagskulturelle Lebensweisen wählen können, der eine z. B. eine „kleinbürgerliche", der andere eine „alternative" 31 , in ihren sozialen und politischen Grundwerten dann aber wieder übereinstimmen könnten, z. B. in einer egalitärenliberal Position oder auch entgegengesetzte Positionen vertreten können, der eine z. B. egalitär-liberal, der andere antiegalitär-illiberal. Die bisher vorliegenden empirischen Studien belegen, daß diese Art der Entkoppelung der drei kulturellen Ebenen in allen großen Kulturkreisen der Gegenwart zu beobachten ist, wobei der Islam dabei keineswegs eine Ausnahme bildet32.

30 31 32

Hofstede (1994) Flaig/Meyer/Ueltzhöffer (1993) Meyer (1997): 11 Off.

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In empirische Betrachtung sind Kulturen dynamische Diskursräume, die sich j e nach Erfahrungen, Konflikten, Außeneinflüssen intern hochgradig ausdifferenzieren, so daß unterschiedliche Kollektive, bzw. Milieus dieselben Traditionen jeweils in ganz unterschiedlicher, mitunter sogar entgegengesetzter Weise weiter fuhren 3 3 . Der Prozeß der Differenzierung findet auf allen drei kulturellen Ebenen statt, obgleich die allgemeinste Ebene der Sinn- und Heilserwartungen häufig besonders kontinuierlich ihren, wenn auch mit der Zeit ausgedünnten, Vorrat an Identitätsangeboten zur Verfugung stellt. In diesem dynamischen Prozeß spielen auch in der Gegenwart, wie im Übrigen j a in der Geschichte immer schon, kulturelle Außeneinflüsse und infolgedessen Formen der Synthese zwischen der eigenen Überlieferung einer Kultur und Elementen des „Anderen" eine beträchtliche Rolle. Der kulturelle Differenzierungsprozeß ist unvermeidlich immer auch ein Prozeß der voranschreitenden Hybridisierung. Darum ist Wolfgang Welsch zuzustimmen, wenn er diagnostiziert, daß wir es bei genauer Betrachtung in der Moderne bei allen Formen kultureller Identität im Grunde in diesem Sinne mit Phänomenen der Transkulturalität zu tun haben 3 4 . Der normative Funktionssinn der rechtsstaatlichen Demokratie besteht nun gerade darin, die Festlegungen auf der dritten Ebene ( Institutionen sowie soziale und politische Grundwerte) so zu treffen, daß ein möglichst großer Spielraum der Entscheidungsfreiheit auf den Ebene 1 (Religion) und 2 (Alltagskultur und Lebensführung) entsteht. Diese beiden Ebenen der privatautonom Handlungsfreiheit sind der Entscheidung und Verantwortung der Individuen und gesellschaftlichen Kollektive vorbehalten. Die politische Kultur der Demokratie kann sich demnach legitimerweise explizit nur auf Übereinstimmungen auf der Ebene 3 beziehen, also auf die sozialen und politischen Grundwerte des Zusammenlebens und des Schutzes der Individuen und Minderheiten. Der Funktionssinn der rechtsstaatlichen Demokratie

besteht mithin in der Festlegung desjenigen Minimums auf der Ebene 3, das das Maximum an Differenz auf den Ebenen 1 und 2 gewährleisten und nachhaltig verbürgen kann. Diese Garantien kann die rechtsstaatliche Demokratie allerdings nur geben, weil und solange die Grundwerte der dritten Ebene durch die Art und Weise der kulturellen Identitätsbildung und Praxis auf den anderen beiden Ebenen nicht in Frage gestellt wird. Fundamentalistische oder essentialistische Formen kultureller Identität verträgt die Demokratie daher prinzipiell nicht 35 . Diese können aber auch in der empirischen Realität keiner der kulturell-religiösen Traditionen der Gegenwart den Anspruch erheben, die authentische, geschweige denn allein legitime Form der kulturellen Selbstbehauptung derjenigen Tradition zu sein, in deren Namen sie sprechen. Alle großen kulturell-religiösen Traditionen differenzieren sich seit langem u. a. in einen 33 34 35

Schiffauer spricht von Diskursfeldern (2000): 315ff Welsch (1994) Vergi, ausführlicher Meyer (1997; 2002)

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traditionalistischen und einen modernisierenden Zivilisationsstil der Interpretation der Überlieferung, gegen die der Fundamentalismus als dritte Hauptströmung sich wendet. Kulturelle Identität gibt es aus diesen Gründen auch innerhalb der großen kulturell-religiösen Traditionen empirisch immer nur im Plural. In den rechtsstaatlichen Demokratien der Gegenwart sind es nicht nur die von allen zu achtenden Regeln der Moral, der Gleichheit der Person und ihrer Würde und der wechselseitigen Anerkennung, die den Raum für die Selbstbehauptung divergenter Lebensführung und Glaubensüberzeugung, also fur die Entfaltung der konkurrierenden Zivilisationsstile der Aktualisierung gemeinsam geteilter kultureller Orientierungen erst schaffen. Auch die wesentlich weiter gehenden konkreten Werte und Normen der politischen Kultur der Demokratie in einer gegebene Gesellschaft, also ein wichtiger Teil ihrer gelebten Sittlichkeit, gehören zu den ermöglichenden Bedingungen des kulturellen Pluralismus. Weil sie die Bedingung fur Autonomie und Selbstbehauptung der unterschiedlichen Identitäten sind, können beide nicht ohne Selbstwiderspruch von diesen partikulären Identitäten her selbst wieder in Frage gestellt werden. Eine partikulare Kollektiv-Ethik bzw. Weltanschauung an die Stelle von Moral, Recht und der Sittlichkeit der politischen Kultur des demokratischen Rechtsstaat zu setzen, die für alle gelten, definiert gerade den Kern des modernen Fundamentalismus und schließt ihn darum aus legitimen Teilhaber am kulturellen Pluralismus aus. Sobald nun aber der Anspruch auf eine Leitkultur innerhalb der Demokratie erhoben wird, die Festlegungen auf den Ebenen 1 oder 2 für alle Bürgerinnen treffen will, die über das für die gemeinsame politische Kultur Unerläßliche hinausgehen, werden die Ansprüche der rechtsstaatlichen Demokratie verletzt und damit im Kern schon der fundamentalistischer Übergriff auf die Rechte und anerkennungsfähigen Identitäten anderer von Seiten der Mehrheitskultur selbst vollzogen. Die „Leitkultur", die eine rechtsstaatliche Demokratie von Rechts wegen für alle Bürgerinnen und Bürger als Orientierung verbindlich machen kann und auf deren Verankerung in der Gefühls- und Denkwelt ihrer Bürgerinnen und Bürger sie u. a. im Bildungssystem hinwirken muß, um die Voraussetzungen ihres eigenen institutionellen Bestands zu sichern, dürfen daher den Kernbestand der politischen Kultur, also der Ebene 3 nicht überschreiten. Auch empirisch gesehen werden nicht begründungsfähige Überschreitungen dieser Ebene gerade Distanz und Entfremdung der betroffenen Gruppen gegenüber der Demokratie schaffen und damit deren Stabilität und Existenzbedingungen untergraben. Die rechtsstaatliche Demokratie bedarf keiner Übereinstimmungen auf den Ebenen 1 und auf der Ebene 2 nur der prinzipiellen Verträglichkeit mit der Ebene 3, und sie beschädigt ihre eigenen Legitimationsbedingungen, wenn sie darüber hinaus gehende Forderungen erhebt. Die Menschen- und Bürgerrechte, die den Raum für die Privatautonomie auf den Ebenen 1 und 2 konstituieren und die auf der Ebene 3 begründet und garantiert

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werden, können nur individuelle Rechte sein und keine kollektiven, für deren Vermittlung und Verwaltung kulturelle oder religiöse Kollektive benannt werden, in deren Namen Repräsentanten Inhalte definieren, Grenzen ziehen und Kontrollfunktionen wahrnehmen. Nur die einzelne Person kann die Verbindlichkeiten, Praktiken und Zugehörigkeiten, die auf diesen Ebenen eine Rolle spielen, letztinstanzlich für sich selbst entscheiden. Sie muß jederzeit das Recht und die gesicherte soziale Chance haben, ihre Personenrechte gegebenenfalls gerade auch gegen unerwünschte Zumutungen von Repräsentanten des „eigenen" ethno-kulturellen bzw. kulturell religiösen Kollektivs behaupten können, dem sie zugerechnet werden oder dem sie sich selbst zurechnet. Einen „Artenschutz" für bestimmte Gestaltungen kultureller Lebensweisen, unabhängig von dem, was die unterschiedlichen Individuen in ihrer Lebenspraxis daraus machen möchten, kann es in der rechtsstaatlichen Demokratie darum nicht geben 36 . Dieser Vorrang der individuellen Rechte für das Zusammenleben kulturell Verschiedener in einem gemeinsamen rechtsstaatlichen-demokratischen Staat hat eine normative und eine empirisch-faktische Seite. Das Faktum der zunehmenden Transkulturalität ist der entscheidende Ausgangspunkt für alle politischen Überlegungen zur Arbeit an der politischen Kultur der Demokratie 37 . Da Kultur in der modernen Welt, wie alle empirischen Untersuchungen für alle Kulturen immer aufs neue zeigen, nur noch als offene und dynamische Diskursräume vorkommen, in denen sich die Modelle der Aktualisierung der Überlieferung weit ausdifferenzieren und in ihrem Kräfteverhältnis zueinander abhängig von Erfahrungen und Außeneinflüssen im Fluß befinden, kann das Herdersche Kugelmodell der Kultur nur noch in der Theorie zur Desorientierung und in der Praxis zur Schaffung unlösbarer Probleme fuhren. Keine der Kulturen der Gegenwart, und auch nicht der Islam, ist eine im wesentlichen homogene Einheit, in die die Individuen, die sich zu den religiösen Traditionen bekennen, mental ganz, beständig und unwiderruflich eingeschmolzen werden. Statt dessen sind alle religiösen und kulturellen Überlieferungen in wachsendem Maße der aktualitätsbezogenen Auslegung bedürftig, um überhaupt noch Orientierung stiften zu können. Sie sind infolge dessen dynamisch, weil sie sich auf immer neue Situationen und Herausforderungen einstellen müssen. Das Prinzip Differenzierung, mit zum Teil äußerst weit reichenden Folgen, bringt es mit sich, daß Menschen und Gruppen, die derselben kulturellen Tradition zugerechnet werden oder sich selbst zurechnen, in den entscheidenden Fragen der Lebensführung, des Zusammenlebens und der Gestaltung des öffentlichen Lebensraumes oft wenig miteinander verbindet, häufig aber mehr mit gleich orientierten Milieus anderer kulturellen Tradition. Das Kräfteparallelogramm der Interpretationen, Organisationen,

36 37

Habermas (1997): 171 ff Welsch (1994)

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Praktiken und Einflußversuche innerhalb der kulturellen Traditionen ist in dauernder Bewegung und viele Argumente und Einflüsse, Erfahrungen und Kontakte, Gruppen und Machtzentren wirken auf es ein. In ihm können daher letztlich immer nur die einzelne Personen und kleineren Gemeinschaften die Koordinaten ihrer Identität auf den drei Ebenen kultureller Orientierung selbst bestimmen. Daher würde die rechtsstaatliche Demokratie in Widerspruch zu ihren eigenen moralischrechtlichen Grundlagen geraten, wenn sie den Anschluß an ein bestimmtes ethnokulturelles oder kulturell-religiöses Kollektiv zur Voraussetzung für die Gewährung von Bürgerrechten machen würde. Die wichtigste Schlußfolgerung, die aus dem Faktum der Transkulturalität und der internen kulturellen Differenzierung in politischer Hinsicht gezogen werden muß, ist die Stärkung der Rechte des Individuums, frei von Gruppen und Zwängen und Zurechnungen, sei es von innen oder von außen, selbst bestimmen zu können, wie und wo es sich in der kulturellen Tradition, der es sich verpflichtet fühlt, auf Widerruf positionieren will und welche Rechte und Ansprüche es selber für seine Freiheiten, für seine Mitwirkungsansprüche daraus ableiten will. Dieses Recht müssen ihm Rechtsstaat und Demokratie garantieren. Sie würden es verletzen, wenn sie eine bestimmte Gestalt kultureller Manifestation, wie sie von bestimmten Gruppen oder Strömungen zum Ausdruck gebracht werden, zum Adressaten der kulturellen Minderheitsrechte, zum exklusiven Partner der sozialen und politischen Kooperation machen würden. Wie im Falle der soziokulturellen Milieus der deutschen Gesellschaft, die seit zwei Jahrzehnten gründlich untersucht worden sind, kann und wird sich auf die Dauer in multikulturellen Demokratien eine hochdifferenzierte politische Kultur ergeben. In ihr sind einige der Grundorientierungen, z. B. die Toleranz, die Partizipationsbereitschaft, die Akzeptanz von Mehrheitsregeln und Grundrechten aller und im glücklichen Falle auch Vertrauen, Kooperationsbereitschaft über die Grenzen der eigenen Gruppe und Orientierung hinweg, Züge einer politischen Kultur, die alle in ein und demselben demokratischen Gemeinwesen zusammenlebenden Menschen miteinander teilen. Auf dieser Basis aber wird es auch zwischen den verschiedenen Milieus der unterschiedlichen Kulturen, gerade auch des Islam in der Bundesrepublik, und den Milieus anderer kultureller Traditionen eine Fülle von Verschiedenheiten und eigensinnigen Ausprägungen geben, in denen die Grundwerte der Demokratie in höchst unterschiedlicher Weise zum Ausdruck kommen. Zwischen einer eher basisdemokratischen und einer autoritären Variante von Demokratie, zwischen einer egalitären und einer auf Differenz bedachten Orientierung. Selbst die in anderer Hinsicht für das niederländische Versäulungsmodell der ethnischen Kollektive sehr eingenommene Amsterdamer Fallstudie von Fennema und Tillie läßt kritisch durchblicken, daß die Politik einer großzügigen staatlichen Förderung ethnischer Selbstorganisation bin hin zur Gründung eigenethnischer Schulen auf der Basis der einheitlichen kollektiven Zuordnung, diese Formen von

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relativ homogenen ethnisch geschlossenen „Parallelgesellschaften" überhaupt erst hervorgebracht hat38. Es handelt sich bei dem Ergebnis dieser Politik offenbar im Habermasschen Sinne um eine Art „Artenschutz", der eben nur denen zugute kommt, die sich als Individuum der von den Führungen jeweils definierten Art zurechnen39. Es ist nach allem, was wir empirisch über die zunehmenden internen Differenzierungsprozesse kultureller Identitäten wissen, kaum anzunehmen, daß diese Art institutionell forcierter Identitätsbildung eine nachhaltige Strategie der sozialen und politischen Integration sein kann. Die harten Grenzen der Institutionen der Demokratie und die Minima einer alle verbindenden politischen Kultur, auf die die Demokratie um ihrer eigenen Lebenschancen willen hinwirken muß, sind eindeutig. Wer gegen die Grundwerte der Menschenrechte und Demokratie selbst Stellung bezieht, hat in der Demokratie keinen legitimen Platz, wie immer seine religiösen und kulturellen Rechtfertigungsversuche auch lauten mögen. Darum kann der Dialog der Religionen und Kulturen weder ziel- noch bodenlos sein. Die Orientierung auf eine gemeinsame politische Kultur der Demokratie gibt ihm Sinn und Richtung. Allerdings muß auch die Grenze nach der anderen Seite klar gezogen werden. Wer eine der kulturell bedingten Lebensformen in der Demokratie zur Leitkultur für alle machen will, verletzt selber die Grundnormen der rechtsstaatlichen Demokratie; eines der Hauptergebnisse der politischen Kulturforschung besteht auch darin: politische Kultur lernt man nicht im Unterricht, in Seminaren oder beim Anhören großer Reden, sondern in der Alltagspraxis konkreter Lebenserfahrungen. Wenn Demokratie die Chance zur gleichberechtigten Teilhabe und zum toleranten Zusammenleben nicht bietet, dann schafft sie auch nicht die Kultur, die sie verlagt und zum eigenen Überleben braucht.

5.

Identität und Differenz in der Zivilgesellschaft

Notwendige Normen des Zusammenlebens in kulturell pluralistischem Gesellschaften entfalten ihre integrative Wirkung erst im Maße wie sie als Bestandteile einer gemeinsam geteilten politischen Kultur habitualisiert und damit in die realen Handlungsmotivationen der Menschen eingelassen sind. Eine notwendige, wenn auch bei weitem nicht die hinreichende Bedingung dafür ist die Begründbarkeit dieser Normen gegenüber allen ihren Adressaten und letztlich die aktive Teilhabe aller Adressaten als Mitautoren im Prozeß ihrer Definition selbst. In seiner Auseinandersetzung mit Charles Taylor über die Frage, ob eine individualrechtliche Grundlage allein zur Begründung der Rechte und Pflichten kultureller Minderheiten ausreicht, macht Habermas deutlich, daß schon am Prozeß der Bestimmung dieser Grundnormen selbst, sowie der Rechte und Pflichten des Einzelnen, alle Staatsbürger teil38

Fennema/Tillie (2001)

39

Über die Probleme, die eine solche Schlüsselstellung der ethnischen Eliten mit sich bringt, vergi meine Argumente in Kap. V.

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nehmen können müssen, die von ihnen betroffen sein werden. Nur wenn die Adressaten der Normen zugleich auch ihre Autoren sind, also die Grenzen der privaten Autonomie der Selbstbehauptung kultureller Lebensformen aller Staatsbürger in einem Prozeß der gemeinsam ausgeübten öffentlichen Autonomie gezogen werden, können diese legitime Geltung beanspruchen und als individualrechtliche Normen ohne Widerspruch zu den Legitimationsgrundlagen der rechtsstaatlichen Demokratie Geltung erlangen. Die Normen, die eine kulturell pluralistische Gesellschaft also braucht, damit sie nicht auseinander fällt, können letzten Endes daher verbindlich und mit Aussicht auf kulturelle Habitualisierung von der Gesamtheit ihrer Staatsbürger begründet werden - allerdings nur im Rahmen der rechtsstaatlichen Demokratie. Die breitenwirksame soziale Verankerung derjenigen Staatsbürgerrolle, die den Anforderungen der politischen Kultur der Demokratie entspricht, vollzieht sich in drei Dimensionen: Erstens Status, zweitens Identität, drittens Handlungsorientierung'0. Für die Ausbildung einer gemeinsamen politischen Kultur der Staatsbürger sind demnach alle Erfahrungsdimensionen und deren Wechselbeziehung von Bedeutung, die auf diese Dimensionen Einfluß nehmen können: das Bildungssystem, politische Entscheidungen über die Definition und die Gewährung des Staatsbürgerstatus, die lebensweltlichen und zivilgesellschaftlichen Gelegenheitsstrukturen gemeinsamer kultureller Erfahrungen und die materielle Integration in die gesellschaftlichen Teilsysteme. Von beträchtlicher Bedeutung ist darüber hinaus aber, wie Jürgen Habermas gezeigt hat, die Erlangung des faktischen Staatsbürgerstatus, denn erst die Mitwirkung der Migranten an der Weiterentwicklung der nunmehr gemeinsamen Rechtsordnung und der Definition der rechtlichen Spielräume für die Selbstbehauptung der Integrität ihrer diversen kulturellen Lebensformen kann diese Rechte in einer für sie akzeptablen Form konkretisieren und damit ihre vorbehaltlose Identifikation mit ihr ermöglichen41. Status. Ruud Koopmans und Paul Statham haben gezeigt, daß für das politisch kulturelle Selbstverständnis der Staatsbürgerrolle nicht nur die Erlangung der Staatsangehörigkeit überhaupt von Bedeutung ist, sondern darüber hinaus auch die spezifische kulturelle Begründung für die Staatsangehörigkeit, die ein Staat offiziell benutzt42. Die bis vor kurzem in Deutschland übliche und der Rechtspraxis auch tatsächlich zugrunde gelegte Begründung der Staatsbürgerschaft aus dem ius sanguinis einer ethnisch homogenen Gesellschaft erzeugt eine Gelegenheitsstruktur, die die verschiedenen Migrantenkollektive dazu drängt, sich in erster Linie in national40 41 42

So möchte ich die Begriffe status, identity, acitivty übersetzen, die Kymlicka in diesem Zusammenhang benutzt.Vergl.Kymlicka (2000): 30f Habermas (1997): 153ff Koopmanns/Statham (2001 )

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staatlichen Begriffen als Ausländer zu definieren, deren Hauptidentitätsquelle das Herkunftsland bleibt. Dieses Dilemma ist durch das neue Staatsbürgerrecht aus dem Jahr 2000 und seine Begründung im Ansatz korrigiert. In der rechtlichen und in der kulturellen Dimension ist damit ein Haupthindernis für die Entwicklung eines angemessenen Staatsbürgerverständnisses in der Dimension Status beseitigt. Die Möglichkeit zur Erlangung des Staatsbürgerstatus für die in Deutschland lebenden Migranten ist damit wesentlich erleichtert und durch die veränderte Definition des Staatsbürgerschaft zugleich eine neue Gelegenheitsstruktur geschaffen, die eher zu einer Selbstdefinition der Migranten als ethnisch-kultureller bzw. kulturellreligiöser Minderheiten im Rahmen einer gemeinsamen nationalen Aufnahmegesellschaft einlädt. Spätestens seit sich nun auch die Bundesrepublik Deutschland offiziell als Einwanderungsland versteht, ist die Integration der Migranten zum politischen Programm geworden43. Es bleibt dabei zunächst eine offenen Frage, ob innerhalb der Kollektive der Migranten und innerhalb der Aufnahmegesellschaft unter „Integration" wenigstens annähernd dasselbe verstanden wird. Begrifflich und in der Sache ist nämlich weitgehend ungeklärt, ob sich die beiden Zielsetzungen der Integration und der Wahrung einer von den kulturellen Identitätsmustern in der Aufnahmegesellschaft höchst unterschiedlichen ethno-kulturellen bzw. kulturell-religiösen Identität dem Anspruch nach und in der sozialen Lebenspraxis miteinander vereinbaren lassen. Es scheint in der gegenwärtigen Diskussion sogar fraglich geworden zu sein, ob „Integration" überhaupt als inhaltlich bestimmter Leitbegriff gelten kann. Das Zentrum für Türkeistudien verwendet in einem Gutachten den Begriff als Gattungsbezeichnung für die unterschiedlichen Arten des Verhältnisses von Minderheits- und Mehrheitsgesellschaft und unterscheidet dabei die folgenden Möglichkeiten: 1. Assimilation: Teilhabe bei hohem Grad der Aneignung der Werte der Aufnahmegesellschaft. 2. Inklusion: Teilhabe trotz Beibehaltung der Werte der Herkunftsgesellschaft. 3. Exklusion: mangelnde gesellschaftliche Teilhabe trotz Aufgabe der Werte der Herkunftsgesellschaft. 4. Segregation: mangelnde Teilhabe bei Konservierung der Herkunftskultur und eventuell Etablierung eigen-ethnischer Infrastrukturen44. „Integration" selbst kann demnach nurmehr in einer dieser vier Formen in Erscheinung treten. Der Aussiedlerbeauftragte der Bundesregierung hingegen bekräftigt eine in den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen eingebürgerte Begriffsverwendung,

43 44

Bericht der Unabhängigen Kommission „Zuwanderung" (2001 ) Zentrum für Türkeistudien. Sen/Sauer/Halm (200I):3

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wonach sich Integration in der Hauptsache auf Chancengleichheit der Teilhabemöglichkeiten bezieht: „ Das Ziel der Integration von Einwanderinnen und Einwanderern in unsere Gesellschaft muß die gleichberechtigte Teilhabe am ökonomischen, sozialen, politischen und kulturellen Leben sein. Integration setzt voraus, daß sich die Aufnahmegesellschaft für die kulturellen Wurzeln der Migranten interessiert und im Sinne einer offenen Gesellschaft bereit ist, sich mit diesen kulturellen Wurzeln auseinander zu setzen. So verstanden befruchtet das kulturelle Erbe der Migranten auch die Aufhahmegesellschaft" 45 . Integration ist demnach spezifisches Modell der Beziehungen zwischen Migranten und Aufnahmegesellschaft, nämlich eine interaktiver Prozeß der wechselseitigen Beeinflussung divergenter Kulturen auf der Basis gleicher Teilhabechancen an den gesellschaftlichen Teilsysteme für alle. Der Bundespräsident Johannes Rau unternimmt kraft Amtes beharrliche Versuche, auf die Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik Einfluß zu nehmen mit der gewichtigen Chancen, einen nachhaltigen Focus für die Diskussion des Themas in der Öffentlichkeit und im gesamten Bildungssystem zu setzen: „Integration: Das bedeutet nicht Entwurzelung und gesichtslose Assimilation. Integration ist auch die Alternative zum beziehungslosen Nebeneinander unvereinbarer Kulturen. Integration: Das ist die immer wieder zu erneuernde Bindung aller an gemeinsame Werte. Wer dauerhaft in Deutschland leben will, braucht seine Herkunft nicht zu verleugnen. Er muß aber bereit sein, eine offenen Gesellschaft nach dem Leitbild des Grundgesetzes mitzugestalten". Es geht darum, daß Mehrheit und Minderheit „ein Wir-Gefuhl entwickeln, das beide bindet und verbindet" 46 . Rau deutet an, daß gelungene Integration neben der gleichen Teilhabechance im Bereich der politischer Kultur zwei Maßstäben gerecht werden muß: dem Konsens der politischen Grundwerte von Demokratie und offener Gesellschaft als internalisierter Orientierung und der Bereitschaft zur Übernahme einer aktiven Staatsbürgerrolle im politischen Gemeinwesen der Aufnahmegesellschaft. Er geht davon aus, daß die Wahrung einer an der Herkunftsgesellschaft orientierten kulturellen Identität der Migranten zu diesen anspruchsvollen zielen nicht in Widerspruch steht. Der Sozialwissenschaftler Hartmut Esser versucht hingegen im Rahmen einer sehr genauen soziologischen Begriffsdifferenzierung zu zeigen, daß Integration als Chancengleichheit, also Assimilation (Angleichung) auf der Ebene der Teilhabemöglichkeiten in den gesellschaftlichen Teilsystemen, in einer illusionslosen empirischen Betrachtung auch die weitgehende kulturelle Assimilation voraussetzt. Dafür nennt er zwei Gründe. Erstens: Integration als strukturelle Assimilation in den gesellschaftlichen Teilsystemen setzt die Beherrschung „kultureller Fertigkeiten" voraus, die im Bildungssystem und durch dichte Interaktion in der Aufnahmegesell-

45 46

Welt (2001): 34 Rau (2000)

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schaft erworben werden müssen, aber gerade kulturell nicht neutral sind, sondern durch und durch von der Aufnahmegesellschaft bestimmt. Ohne eine „gewisse Leitkultur", also kulturelle Assimilation, sei daher Integration nicht zu erwarten47. Zweitens sei davon auszugehen, daß eine dauerhafte Mehrfachintegration sowohl in die Kultur der Aufnahme- wie der Herkunftsgesellschaft fast alle Menschen überfordert. In diesem Sinne könne es in der Lebenspraxis unabhängig von allen theoretisch begründbaren Modellen realistischerweise nur um Assimilation gehen: den Erwerb möglichst umfassender TeilhabFähigkeiten durch Übernahme der Kultur der Aufnahmegesellschaft48. Die im Prinzip sinnvolle analytische Unterscheidung des Zentrums für Türkeistudien hat zwei Mängel. Sie erscheint im Hinblick auf die Variable „Werte der Herkunftsgesellschaft" in doppelter Weise zu statisch angelegt und läßt darüber hinaus eine fur die Frage der politischen Integration wichtige Unterscheidung außer Acht. Sie ist zu statisch, da einerseits „die Werte der Herkunftsgesellschaft" ihrerseits in den verschiedenen Minderheitengruppen in höchst unterschiedlicher Weise interpretiert und im Aufnahmeland aktualisiert werden, und zum zweiten ist eher als die bloße Erhaltung der Werte der Herkunftsgesellschaft eine Reihe unterschiedlicher Synthesen zwischen ihnen und den Werten der Aufnahmegesellschaft für die reale Situation charakteristisch. Vor allem aber umgeht diese Typisierung die demokratietheoretisch gerade entscheidende Möglichkeit einer Differenzierung zwischen der Übernahme von Elementen der politischen Kultur der Aufnahmegesellschaft bei Beibehaltung der Lebenskultur des Herkunftslandes. Aus demokratietheoretischer Sicht wird aber, wie auch im Modell des Bundespräsidenten, gerade eine Form der Integration angestrebt, die die Entwicklung einer gemeinsamen politischen Basiskultur der Demokratie zwischen allen in ihr zusammen lebenden Gruppen mit toleranter Freiheit für die Wahl der Lebenskultur der verschiedenen Gruppen produktiv verbindet. Auch Esser betont, daß die theoretische oder normative Betrachtung der Integration sich auf die Frage der strukturellen Assimilation, also der Angleichung der Teilhabechancen beschränken und dabei für die ohnehin hochgradig individualisierten modernen Gesellschaften offen lassen kann, wie sich unter der Bedingung ihrer Gewährleistung die individuellen kulturellen Identitäten darüber hinaus tatsächlich entwickeln49. Um diese Differenzierung überhaupt begrifflich unmißverständlich zum Ausdruck bringen zu können, ist der Grundbegriff „Integration" nicht als Gattungsname für die überhaupt möglichen Varianten, sondern als Bezeichnung fur einen bestimmten Typ des Wechselverhältnisses von Aufnahmegesellschaft und Migranten weiterhin unverzichtbar. Er bezeichnet dann allerdings denjenigen Typ dieses Wechselverhältnisses, bei dem nicht nur die gleichberechtigte Teilhabe aller an al47 48 49

Esser (2001): 89 Esser (2001): 70 Esser (2001): 88

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len gesellschaftliche Teilsystemen ermöglicht, sondern auch eine gemeinsame politische Kultur der rechtsstaatlichen Demokratie ausgebildet worden ist. In diesem Rahmen kann und muß gelungene Integration es dann den beteiligten Individuen und Kollektiven überlassen, wie sie ihre lebenskulturelle und weltanschaulichreligiöse Identität bestimmen wollen. Für alle kulturellen Differenzen, die sich in diesem Rahmen ergeben, verlangt positive Integration in der politischen Kultur des demokratischen Rechtsstaates nicht nur duldende Toleranz, sondern aktive Anerkennung. Benjamin Barber hat zu Recht darauf verweisen, daß das für die politische Kultur der rechtsstaatlichen Demokratie unerläßliche Wechselverhältnis von Assimilation auf der Ebene der politischen Kultur und Differenz auf der Ebene der ethnokulturellen bzw. kulturell-religiösen Lebensweisen ein im engeren Sinne kommunitaristisches Konzept der Zivilgesellschaft ausschließt, sofern dieses kulturellreligiöse Gemeinschaft zur Voraussetzung tragfähiger politischer Kooperation überhaupt machen will (Barber 1998). Allerdings ist es ratsam zwischen der politischen Kooperationseben und der philosophischen Begründungseben des Kommunitarismus sorgfältig zu unterscheiden, da nicht alle politischen Kommunitaristen auch philosophische Kommunitaristen sind oder sein müssen. Entscheidend ist im Gegenteil gerade die systematische Entkoppelung von zivilgesellschaftlicher Kooperation und kultureller Differenz, die nur ein liberales Konzept der Zivilgesellschaft zu leisten vermag.

6.

Zur Realität der Parallelgesellschaft

In der Bundesrepublik Deutschland haben sich im Verlaufe der letzten Jahrzehnte ethnisch -verdichtete Siedlungsgebiete - wie Köln-Eigelstein, Duisburg-Marxloh, Hamburg-Wilhelmsburg oder Berlin-Kreuzberg - und darüber hinaus auch intraethnische Kommunikationsgewohnheiten der türkischen Minderheit ausgebildet, die die Frage ausgeworfen haben, ob es sich bei ihnen bereits um Parallelgesellschaften im definierten Sinne handelt. In den Niederlanden wird die Entwicklung eigenethnischer communities durch die staatliche Politik aktiv gefördert in der Annahme, daß damit die Integration der Minderheiten entscheiden gefördert werden kann. Zu beiden Bereichen liegen aufschlußreiche empirische Untersuchungen vor. Dabei bleibt umstritten, ob bzw. in welchem Maße es sich bei den betreffenden „ethnischen Kolonien" bzw. „ethnisch verdichteten Siedlungsgebieten" im strikten Sinne um Parallelgesellschaften handelt, zumal der Terminus selbst häufig umgangen wird. Untersucht worden sind bislang darüber hinaus auch nur einzelnen Aspekte des Thema. Zunächst ist festzuhalten, daß zu den unbestrittenen Vorzügen des Lebens in „ethischen Kolonien" für ihre Angehörigen vor allem gezählt werden: die Selbststabilisierung der in der Fremde infrage gestellten Persönlichkeit durch das homogene soziale Umfeld sowie die Hilfs- und Orientierungsfunktionen, die es für neu

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Ankommende oder von der Mehrheitsgesellschaft isoliert Gebliebene leistet. Eine empirische Studie des Zentrums für Türkeistudien, Essen weist allerdings darauf hin, daß die hilfreiche Schleusenfunktion, die Parallelgesellschaften für die neu ankommenden Angehörigen der entsprechenden Minderheiten ausüben, in der Regel rasch und gründlich zur Integrations-Falle werden. 50 Das Leben innerhalb der Parallelgesellschaften ist nämlich zahlreichen Prägungen und Konsequenzen unterworfen, die ganz unabhängig von den eigentlichen Absichten der betroffenen Menschen wirksam werden. Das erhebliche, nicht selten vollständige Maß der Isolation von der Sprache, den erfolgversprechenden Verhaltenstechniken und den sozialen Umgangsformen in der Mehrheitsgesellschaft wird für den Einzelnen zur schwer zu vermeidenden Integrationsfalle und für die Gesellschaft im Ganzen zum systematischen Integrationshemmnis. Die erhebliche und gewohnheitsmäßige äußere Distanz (strukturelle Segregation) erzeugt wie nebenher bei vielen Angehörigen der „Parallelgesellschaft" auch eine tief wurzelnde innere Distanz zur Mehrheitsgesellschaft. Diese verschlechtert dann wiederum gewohnheitsmäßig die Möglichkeiten zum Erwerb eben jener personen bezogenen Fähigkeiten, die zur erfolgversprechenden Wahrnehmung der ohnehin sehr ungleich verteilten Integrationschancen in die Mehrheitsgesellschaft vorausgesetzt sind. Parallelgesellschaften tragen daher erfahrungsgemäß in erheblichem Maße dazu bei, daß aus der kulturellen Differenz eine dauerhafte ethno-kulturelle soziale Schichtung zu Lasten der Minderheit wird 51 , ein Faktum, das seinerseits wieder die sozialen Voraussetzungen der politischen Integration nachhaltig beeinträchtigt. Die auf diesem Wege forcierte Verringerung der Sprach-, Bildungs- und Erwerbschancen nährt ihrerseits dann wieder das Motiv einer verstärkten Assimilation innerhalb der Parallelgesellschaft, wodurch die Chancen der Integration in die wichtigen Funktionssysteme und Gesellschaftsbeziehungen der Mehrheitsgesellschaft abermals geschwächt werden. Diese Spirale erzeugt starke Triebkräfte zum Selbsterhalt der Parallelgesellschaften weit über den gerechtfertigen und sozial produktiven Anlaß der ursprünglichen Integrationshilfe für Neuankömmlinge hinaus. Ihre Ambivalenz zwischen persönlicher Stützungsfunktion und gesellschaftlichem Integrationshindernis wächst und wird zum Dauerphänomen. Duyvene de Wit und Ruud Koopmans kommen in ihrer Vergleichsstudie über die Niederlanden und Deutschland zu dem Schluß, daß das niederländische Versäulungsmodell voneinander abgeschütteter homogenisierter ethno-kultureller Kollektive zwar auf der sozio-kulturellen Ebene der Anerkennung unterschiedlicher Identitäten zu Erfolgen geführt habe, die sozio-ökonomische Integration auf diesem Wege aber nicht gelungen sei52. Auch der Wissenschaftliche Rat für die Regierungspolitik der Niederlande hat die Gefahr der zunehmenden sozialen und ökono50 51 52

Zentrum fur Türkeistudien ( 1999) Esser ( 2 0 0 1 ) Duyvene de Wit/Koopmans (2001 )

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mischen Marginalisierung als ein Ergebnis dieser Versäulungspolitik gekennzeichnet und ihre Revision angeregt 53 . Die Autoren dieser Studie stellen auch fest, daß trotz der großzügigen Unterstützung eigenethnischer Selbstorganisation die Teilnahme der betreffenden Personen am politischen Leben der Niederlande geringer ausfällt als in einem die übrigen Bedingungen berücksichtigenden Ländervergleich zu erwarten wäre. Sie kommen zu dem Schluß, daß die Überbetonung der ethnokulturellen Identität in der Form der Ausbildung versäulter Gemeinschaften, die auf der Basis von Homogenitätsunterstellungen über repräsentative Eliten integriert werden, vermutlich ein Irrweg beim Versuch der Integration ist. Erstaunlich und in erheblichem Maße diskussionsbedürftig sind die Ergebnis der Amsterdamer Studien von Fennema und TillieSie kommen trotz ihres analytischen Ausgangskonzepts, wonach eine großflächige horizontale Vernetzung der Organisationen der Zivilgesellschaft die Voraussetzung für die Zirkulation von Vertrauen und sozialem Kapital ist, zu dem Ergebnis, eine weitgehende ethno-kulturelle Versäulung der Zivilgesellschaft widerspräche dann der politischen Integration und der Ausbildung einer verbindenden politischen Kultur nicht, wenn die Repräsentanten der voneinander abgeschütteten Säulen in des politische System der Gesellschaft integriert sind. Demzufolge wäre eine intensive Integration ethnokultureller Kollektive ausschließlich in ihre eigenen Parallelgesellschaften unter zwei Bedingungen gleichbedeutend mit ihrer gelungenen Integration in Demokratie und Staatsnation: wenn sie, erstens, innerhalb ihrer Parallelgesellschaften umfassende Zivilgesellschaften ausbilden, und wenn, zweitens, die Führungsgruppen in den Institutionen des politischen Systems mit den Führungsgruppen der Mehrheitsgesellschaft und der anderen ethnischen Minderheitsgruppen kooperieren können. Die empirischen Daten der Studie belegen diese überraschenden Schlußfolgerungen jedoch in keiner Weise. Es werden nämlich nur Indikatoren herangezogen, die sich wiederum ausschließlich auf die Angehörigen dieser Führungsgruppen beziehen, bei denen es sich ja den eigenen Voraussetzungen der Studie nach um genau diejenigen Personen handelt, die einen ständigen intensiven Umgang mit den Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft und der anderen ethnischen Gruppen haben. Die darüber hinaus gehende spekulative Annahme der Autoren, die übrigen Mitglieder der ethnischen Gruppen würden Vertrauen und Solidarität, die sie untereinander ausgebildet haben, auf den Rest ihrer Staatsnation erstrecken, wenn sie Vertrauen in ihre eigenen Führungen haben, widerspricht darüber hinaus auch den theoretischen Annahmen der Studie, daß Vertrauen sich ausschließlich auf dem Wege häufiger direkter Zusammenarbeit, personeller Überlappungen und horizontaler Vernetzung bildet.

53 54

Vergi.aaO. Fennema/Tillie (2001 )

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Duyvene de Wit und Koopmans interpretieren die niederländischen Erfahrungen im Rahmen ihrer eigenen Studie denn auch umgekehrt gerade als einen Beleg für die mangelnde Repräsentativität der ethno-kulturellen Eliten für die Gesamtheit der ihrem Vertretungsanspruch zugerechneten Minderheiten. Es würde in der Tat allen gut begründeten theoretischen Annahmen und empirischen Forschungsergebnissen der politischen Kulturforschung widersprechen, würden die Mitglieder einer kulturell unterschiedenen Teilgesellschaft in einer stets von Vorurteilen gegen „die Anderen" belasteten kulturellen Atmosphäre, ihr in realen Interaktionsprozessen mit Angehörigen der eigenen Teilgesellschaft erworbenes Vertrauen nun plötzlich auf die Angehörigen der Te il gesell Schäften „der Anderen" übertragen, ohne mit ihnen sozialen Zusammenarbeit praktizieren zu können. Eine solche rein elitevermittelte symbolische Integration birgt vielmehr zusätzliche Risiken fur die Integration. Sie sind in der Studie des Zentrums für Türkeistudien herausgearbeitet wurden. In den „ethnisch verdichteten Siedlungsgebieten" entsteht beträchtlicher Druck gegenüber den eher individualistischen Lebensweisen zuneigenden Angehörigen der jüngeren Generation, die sich ihren eigenen Weg zwischen Treue zur Religion und offener, toleranter Lebensführung suchen. Mitunter kann der Gruppendruck unter der Regie kontrollierender Eliten so weit gehen, daß Einzelne an der tatsächlichen Ausübung ihrer Menschen- und Bürgerrechte gehindert werden und damit der demokratische Rechtsstaat de facto in diesem Bereich unterlaufen wird. Die Studie warnt davor, daß eine solche negative Autonomie der Parallelgesellschaft in der und gegen die Mehrheitsgesellschaft für die Integration der ganzen Gesellschaft umso nachhaltigere Folgen haben muß, je kompletter die AlternativInstitutionen der Abschließung sind, die sie ihren Mitgliedern bietet. Sie sieht das Hauptproblem jedoch in der Weise, wie die sich herausbildenden türkischen Parallelgesellschaften in Deutschland im inneren tatsächlich funktionieren. Die Wahrnehmungen und Kommunikationsweisen, die sie bei ihren Angehörigen erzeugt, sind überwiegend nur nach innen gerichtet. Die fast ausschließliche Nutzung der Massenmedien des Herkunftslandes, Tageszeitungen, Videos und Fernsehen, führt zu einer fast ebenso ausschließlichen Konzentration auf dessen Probleme, Konfliktlinien, Themen und Sichtweisen. Die Entfremdung von den Problemen, Konfliktlinien, Kommunikationsangeboten und Sichtweisen der Mehrheitsgesellschaft ergibt sich angesichts der beschriebenen Lebensgewohnheiten wie von selbst. Das zentrale Problem für die gesellschaftliche Integration folgt aber aus der Schlüsselstellung, in die in diesen Gesellschaften die Eliten nun zunehmend geraten. Sie begünstigt nämlich die Einwirkung zentralisierter kultureller, religiöser und politischer Vereine und Eliten von außen, die in die Parallelgesellschaften hineinwirken und sie zu kontrollieren beginnen. Organisierte Eliten, die die Probleme und Themen definieren, Sprachregelungen und Lösungsansätze einbringen, aber vor al-

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lem die Orientierungsmarken der ethnisch-kulturellen Identität mit kollektiver Verbindlichkeit zu definieren versuchen, gewinnen Auftrieb und Einfluß. Die Hauptressource dieser Eliten ist aber nicht der kulturelle und politische Brückenschlag zur Mehrheitsgesellschaft mit der Zeilesetzung zunehmender Integration, sondern die Verwaltung, wo nicht gar Mehrung des sozialen und politischen Kapitals der abgesonderten ethnisch-kulturellen Identität. Ihr Vermittlungsund Interpretationsmonopol basiert, in den Begriffen Robert Putnams, nicht darauf, daß sie verbindendes (bridging) Sozialkapital mehren, sondern in der Ansammlung und Verwaltung seiner trennenden (bonding) Variante. 55 Nur so gewinnen sie Macht, Einfluß und Privileg als Makler zwischen vermeintlich unversöhnlichen Identitäten. Ihr politisches Kapitals steht in einem direkten Verhältnis zur Breite des Grabens, der ihre Minderheitsgesellschaft von der Mehrheitsgesellschaft trennt. Gelingende Integration, die immer das „Risiko" einer Annäherung der Verschiedenen birgt, jedenfalls ihre wachsende Fähigkeit zur sozialen Interaktion, muß ihnen daher eher als eine Gefahr für die eigene Stellung erscheinen, die sie dann umso eifriger und nachdrücklicher als Gefahr für die Identität ihrer Klientel und flir die Zugehörigkeit des Einzelnen zur Gemeinschaft interpretieren. Die Überbetonung und die Ausweitung des ethnisch-kulturellen Identitätsdenkens, verbunden mit sozialem Konformitätsdruck kann auf diese Wege zur Alltagspraxis innerhalb der Parallelgesellschaften werden. Das engt den Spielraum des Einzelnen ein, flir sich selbst eine sozial-kulturelle Identität zwischen den vielfältigen Deutungen und Angeboten von Mehrheits- und Minderheitsgesellschaft zu finden. Es entsteht beträchtlicher Druck gegenüber den eher individualistischen Lebensweisen zuneigenden Angehörigen der jüngeren Generation, die sich ihren eigenen Weg zwischen Treue zur Religion und offener, toleranter Lebensführung suchen. Mitunter kann der Gruppendruck unter der Regie kontrollierender Eliten so weit gehen, daß Einzelnen an der tatsächlichen Ausübung ihrer Menschen- und Bürgerrechte gehindert werden und damit der demokratische Rechtsstaat de facto in diesem Bereich unterlaufen wird. Dann wird aus der unvollständigen rasch und unbemerkt ein vollständige Parallelgesellschaft

7.

Schlußfolgerungen für Theorie und Praxis

Ausreichend präzise Untersuchungen, die zuverlässige Auskunft darüber geben könnten, ob es sich bei den genannten oder weiteren infragekommenden „ethnischverdichteten Siedlungsgebieten" in empirisch zweifelsfreier Weise um vollständige oder unvollständige Parallelgesellschaften handelt - oder auch um keines von beiden - stehen noch aus. Die empirischen Indizien und die verfügbaren Untersuchungen über die Niederlande und die Bundesrepublik enthalten jedoch deutliche Hin-

55

Putnam (2000): 23.

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weise, daß es sich dabei zumindest um „unvollständige Parallelgesellschaften" handelt. Die Studien des Zentrums für Türkeistudien legt den Schluß nahe, daß in den untersuchten Gemeinden Tendenzen des Übergangs zur „vollständigen Parallelgesellschaft" in dem Maße zu beobachten sind, wie der interne, von oben organisierte Sozialdruck zur Einhaltung einer ethno-kulturell spezifischen Sittlichkeit in Widerspruch zu den Rechtsnormen und Moralregeln der rechtsstaatlichen Demokratie gerät. Wir können daher feststellen, daß es in der sozialen Realität Tendenzen zur Ausbildung von „Parallelgesellschaften" gibt und damit auch, daß dieses Analysekonzept nicht nur theoretisch begründbar, sondern auch empirisch gehaltvoll und demokratietheoretisch relevant ist. Die theoretischen Erklärungsansätze und die verfügbaren empirischen Daten begründen die Vermutung, daß Parallelgesellschaften Hindernisse auf dem Wege der sozialen, ökonomischen und politischen Integration darstellen. In kulturell vielfaltigen Gesellschaften wie der Bundesrepublik hängt der Fortschritt der Integration in hohem Maße auch davon ab, daß die Integration der kulturell Verschiedenen nicht lediglich auf der Ebene diskursiver Deklarationen und auch nicht allein auf der Ebene gleicher Rechtsansprüche stattfindet, sondern in der sozialen Lebenswelt und in der Zivilgesellschaft. Es erscheint in dieser Perspektive infolgedessen eine vorrangige Aufgabe der Zivilgesellschaft selbst, in erster Linie der der Mehrheitsgesellschaft, aber auch der der Minderheitsgesellschaften, ein ausreichendes Maß an gesellschaftsweiter horizontaler Vernetzung anzustreben, um politische Integration möglich zu machen. Auch die Kommune und der Staat sind bei Wahrung der Freiheitsräume aller Beteiligten und des Respekts vor der Integrität und der gleichen Würde der vielfältigen kulturellen Identitäten zu Initiativen und Hilfen in diesem Prozeß der zivilgesellschaftlichen Integration verpflichtet. Nur in einer wenigstens teilweise integrierten Zivilgesellschaft können sich, ohne Idealisierung und ohne die Hoffnung auf Problemverschonung, auf längere Sicht dann doch durch die Erfahrungen überlappender Interessen, erlebter Hilfen und täglich nahegelegter Empathie, die Formen von wechselseitiger Anerkennung und Solidarität ausbilden, die den Einzelnen heimisch werden lassen und die Gesellschaft zusammen halten. Parallelgesellschaften aber „versperren" genau diejenigen „Gelegenheitsstrukturen", die nicht nur für die Einübung kultureller Fertigkeiten, sondern mehr noch den Erwerb von Vertrauen und verbindendem Sozialkapital unabdingbar sind 5 6 .

56

Esser (2001):90

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JÜRGEN KOCKA

Die Vielfalt der Moderne und die Aushandlung von Universalien

Konzepte - wie das der Moderne - pflegen zu wandern, und indem sie wandern, verändern sie sich. Gesellschaftsentwürfe - wie der einer Zivilgesellschaft - entstehen in spezifischen historischen Kulturen und erheben dort Anspruch auf Anerkennung. Weiten sie diesen Anspruch auf andere historische Kulturen aus, so verändern sie sich ebenfalls - oder sollten dies zumindest tun, wenn sie nicht entweder wirkungslos bleiben oder sich gewaltsam aufdrängen wollen. Diesen Thesen dürfte in der gegenwärtigen Zeit mit ihrem enormen Globalisierungsschub besondere Bedeutung zukommen. Verschiebungen und Wandlungen in den Grundbegriffen unserer politisch-sozialen Sprache gehen im allgemeinen mit Veränderungen der nichtsemantischen Dimensionen historischer Realität einher, was sie zu einem besonders lohnenden Untersuchungsgegenstand macht. Wandernde, im Ausdehnungs- und Universalisierungsprozeß befindliche Konzepte bieten aufschlußreiche Hinweise fur die Betrachtung sozialer, politischer und kultureller Wechselwirkungen oder, anders gesagt, für die Betrachtung der Begegnungen verschiedener Räume, verschiedener Teile der Welt: ζ. B. zwischen dem Westen und nicht-westlichen Regionen. 1 Die Begriffe „modern", „Moderne" und „Modernisierung" sind westlich, zunächst europäisch, dann europäisch-nordamerikanisch geprägt. „Modern" bzw. sein lateinisches Pendant ist seit dem 5. Jahrhundert belegt, wurde im Französischen in der „Querelle des anciens et des modernes" des späten 17. Jahrhunderts zentral und fand in den folgenden Jahrhunderten in verschiedenen europäischen Sprachen häufige Verwendung - sei es zur Charakterisierung von Erscheinungen in Kunst und 1

Viel verdankt dieser Beitrag den Teilnehmern des Projekts „AGORA. Arbeit - Wissen - Bindung", das von 1999 bis 2001 vom Wissenschaftskolleg Berlin betrieben wurde. Er wurde in veränderter Form auf der Konferenz „Multiple Modernities" im Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) vorgetragen.

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Poesie, von gesellschaftlichen Beziehungen, Staatstypen, Ideen oder ganzen Epochen - , und zwar jeweils in einer von drei möglichen Bedeutungen: im Sinne von „gegenwärtig" oder „aktuell" im Gegensatz zu „vorherig" oder „vorausgehend"; im Sinne von „neu" gegenüber „alt"; oder in der Bedeutung von „vorübergehend" bzw. „vergänglich" im Gegensatz zu „ewig"; d. h. also in drei zeitbezogenen Verwendungsweisen. Was dabei jeweils als modern galt und wie es bewertet wurde, ob positiv oder negativ, war im Laufe der Zeit großen Schwankungen ausgesetzt. - Das Substantiv „die Moderne" (englisch „modernity") tauchte um die Wende zum 19. Jahrhundert auf und bezeichnete so etwas wie die Summe der neuesten gesellschaftlichen, literarischen und künstlerischen Richtungen, wiederum mit wechselnder Bewertung. 2 „Modernisierung" dagegen wurde inner- wie außerhalb der Sozialwissenschaften erst in den fünfziger und sechziger Jahren und unter starkem amerikanischem Einfluß zu einem zentralen Begriff, der auch dazu beitrug, den Begriff der Moderne neu zu bestimmen, indem er sie als Produkt oder Bezugspunkt der Modernisierung in den Blick nahm. Der Modernisierungsbegriff trat in verschiedenen Schattierungen und Nuancen auf, doch gab es auch durchgängige Merkmale, von denen mir die folgenden als besonders wichtig erscheinen: Erstens handelte es sich bei ihm ebenfalls um einen zeitbezogenen Begriff, der etwas Neues oder Gegenwärtiges im Gegensatz zum Alten, Vergangenen oder Herkömmlichen bezeichnete. Genauer gesagt, bezog sich der Begriff auf Veränderung; er konzeptualisierte den langen Übergang von der Tradition zur Moderne. Zweitens bildete er seinerseits die Fortsetzung einer Tradition sozialwissenschaftlich-historischer Theoriebildung, die in das aufklärerische Denken des 18. Jahrhunderts zurückreicht und die den historischen Wandel - für den sie noch nicht den Begriff der Modernisierung verwandte, sondern Wörter wie „Fortschritt", „Revolution", „Zivilisation", „Rationalisierung", „soziale Differenzierung" oder schlicht „Geschichte" (im Singular) - als gerichteten und unumkehrbaren Prozeß auffaßte. Drittens hatte „Modernisierung" einen systematischen Anspruch, insofern der Begriff ein Ineinandergreifen ökonomischer, politischer, gesellschaftlicher und kultureller Transformationsprozesse geltend machte. Zusammenhänge wie beispielsweise den zwischen der Heraufkunft des Kapitalismus, der Industrialisierung, der Herausbildung liberaldemokratischer Strukturen, der Entstehung des Nationalstaates und einer pluralistischen Gesellschaft, der Strukturierung gesellschaftlicher Beziehungen durch Leistungskriterien, dem Fortschritt der Wissenschaft, bestimmten Persönlichkeitsstrukturen, Glaubenssystemen, Geisteshaltungen usw. stellte der Modernisierungsbegriff als ,normal' heraus. Verschiedene Autoren betonten natürlich in ihren verschiedenen Sprachen unterschiedliche Aspekte, aber fast alle hoben die wechselseitige Bedingtheit der 2

Hans Ulrich Gumbrecht, Modern, Modernität, Moderne, in: O. Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 4, Stuttgart 1978, 9 3 - 1 3 1 .

D I E V I E L F A L T DER M O D E R N E UND DIE AUSHANDLUNG VON UNIVERSALIEN

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von ihnen ausgewählten Aspekte hervor. Viertens wurde häufig die Annahme zugrunde gelegt - die sich am deutlichsten bei Marx ausgesprochen findet - , daß die fortgeschritteneren Länder die Entwicklung der rückständigeren vorwegnähmen, ungeachtet nicht zu leugnender Unterschiede zwischen ihnen. Während der Westen demnach voranging, würde ihm der Rest der Welt nachfolgen und im Prinzip eine ähnliche ,Entwicklung' nehmen. Die Welt würde auf die Dauer homogener werden. Und fünftens wurde eine solche Tendenz insgesamt als positiv und wünschenswert beurteilt (und als durch ,Entwicklungs'politik zu fördern); und dies in viel vorbehaltloserer Weise als etwa bei Max Weber, einem bedeutenden Vordenker dieses Ansatzes, der gleichwohl nur selten von „Modernisierung" sprach und ihre grundlegende Ambivalenz nie aus dem Blick verlor. 3 Bei diesen Begriffen handelte es sich eindeutig um westliche Konzepte. Als Sozialhistoriker könnte man versuchen, jene westeuropäischen und nordamerikanischen Erfahrungen und die ihnen zugrundeliegenden Strukturen zu rekonstruieren, die eine solche Denkweise nahelegten und zumindest für Teile der Eliten plausibel machten. Aber unabhängig von solchen Voraussetzungen hatte diese Denkweise seit ihren Anfängen im 18. Jahrhundert auch globale Dimensionen. Das Subjekt des Modernisierungsgedankens war tendenziell die gesamte Menschheit, die von ihrem europäischen Zentrum ausgehend vereinigt und friedlich in eine bessere Zukunft gefuhrt werden sollte: Der Blick war eurozentrisch, der Anspruch universal. Als diese Vision, besonders in der Französischen Revolution, teilweise in die Praxis umgesetzt wurde, hatte das Auswirkungen welthistorischen Ausmaßes. Und als die europäischen und später nordamerikanischen Eliten diese eurozentrische bzw. westliche Denkweise erfanden und ausarbeiteten, war sie Teil einer entstehenden europäischen bzw. europäisch-nordamerikanischen Identität, die nicht zuletzt durch Begegnungen mit nicht-europäischen (nicht-westlichen) Kulturen geformt wurde, von denen die Europäer (Westler) sich abgrenzten: dem sogenannten Orient im 18. und 19. Jahrhundert und dem Osten und den Entwicklungsländern' im 20. Jahrhundert. Auch die beiden Weltkriege spielten eine Rolle als Schauplätze verhängnisvoller Begegnungen. Im Rückblick zeigt sich mit anderen Worten, daß die am stärksten eurozentrisehen Gedanken teilweise das Produkt transnationaler Verflechtungen waren, die über Europa bzw. den Westen hinausreichten. Seit den sechziger Jahren, als sich ihre Vorherrschaft festigte, sehen sich die Modernisierungstheorien heftigen Angriffen ausgesetzt. 4 Es besteht kein Anlaß,

3

Daniel Lerner u. a., Modernization, in: D. L. Sills (Hg.), International Encyclopedia o f the Social Sciences, Bd. 10, New York 1968, 3 8 6 - 3 9 5 ; Paul Nolte, Modernization and Modernity in History, in: Paul Baltes/Neil Smelser (Hg.), International Encyclopedia o f the Social and Behavioral Sciences, London 2 0 0 1 , Bd. 1 5 , 9 9 5 4 - 6 4 .

4

Eine ausgewogene Darstellung findet sich bei: Hans-Ulrich Wehler, Modernisierungstheorie und Geschichte, Göttingen 1975.

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diese Kritik, die zum guten Teil überzogen ist, hier vollständig wiederzugeben; doch zwei Einwände sind besonders gewichtig. Erstens reflektierten die klassischen Modernisierungstheorien die Katastrophen des 20. Jahrhunderts nur höchst unzureichend, was vermutlich mit der amerikanischen Stärke und der unter amerikanischen Intellektuellen verbreiteten Siegesstimmung nach 1945 zusammenhing. Es brauchte eine ganze Weile, bis europäische Autoren bereitstanden, die die traumatischen Erfahrungen und dunklen Seiten des 20. Jahrhunderts innerhalb der Modernisierungstheorie zur Geltung zu bringen vermochten. Als es so weit war - man denke an Foucault und die Relektiire Max Webers, an Zygmunt Bauman, aber auch an Elias, der für beide Lesarten der Modernisierung offen ist - , bedeutete das eine schwere Erschütterung der optimistischen Weltsicht klassischer Modernisierungstheorien. Es lenkte den Blick auf die Krisen und Kosten der Modernisierung und schwächte ihre teleologischen Implikationen ab. Zu der darauf folgenden Neuorientierung gehörte die Reinterpretation der großen Diktaturen des 20. Jahrhunderts als moderne Phänomene ebenso wie die Entdeckung der Umweltproblematik. 5 Zweitens trug auch die Ausdehnung und Anwendung der Modernisierungstheorien auf außerhalb ihres Entstehungszusammenhangs liegende Weltregionen zu der Kritik an ihnen bei. Die im akademischen Bereich wie auch auf anderen Gebieten immer häufiger stattfindenden, durch die jüngsten Globalisierungsschübe noch um ein Vielfaches vermehrten Begegnungen zwischen westlichen und nicht-westlichen Teilen der Welt haben dazu geführt, die modernisierungstheoretische Annahme zunehmender Homogeneität in Frage zu stellen. Auch eingehende historische Vergleichsstudien haben die Erkenntnis heranreifen lassen, daß zunehmende Verflechtung nicht unbedingt auch zunehmende Angleichung bedeutet. Zudem erwies es sich, daß die dem Modernisierungsgedanken verpflichteten entwicklungspolitischen Ansätze nach und nach scheiterten. Schließlich kam man nicht mehr an der Einsicht vorbei, daß viele Traditionen unter dem Einfluß der Modernisierung nicht einfach verschwinden, sondern in modifizierter Form fortbestehen und den Gang der Modernisierung mitsteuern: Die Tradition bestimmt mit darüber, welche modernen Elemente ausgewählt, umgedeutet und von der aufnehmenden Kultur angeeignet werden. Die Beobachtung des Modernisierungsprozesses in nicht-westlichen Teilen der Welt - und nicht zuletzt in den nicht-westlichen Teilen Europas nach 1990 - hat gezeigt, welche entscheidende Bedeutung der Kultur im Hinblick auf die Chancen, das Scheitern und den Verlauf der wirtschaftlichen und politischen Modernisierung zukam und immer noch zukommt. Schließlich hat der Begriff der „Einbettung" so-

5

Wolfgang Schluchter, Paradoxes of Modernity. Culture and Conduct in the Theory of Max Weber, Stanford 1996; Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Basel 1939, Frankfurt/M. 1976; Michel Foucault, Naissance de la clinique: une archéologie du regard médical, Paris 1963; Zygmunt Bauman, Modernity and the Holocaust, Cambridge 1989; Norbert Frei, Wie modern war der Nationalsozialismus?, in: Geschichte und Gesellschaft, 19 (1993), 367-87.

D I E V I E L F A L T DER M O D E R N E UND DIE A U S H A N D L U N G VON U N I V E R S A L I E N

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wie eine ethnologisch bzw. anthropologisch aufgeklärte Methodik die Einwände gegen die mitunter allzu schematischen klassischen Modernisierungstheorien untermauert. 6 A u f der anderen Seite hat es jedoch auch Momente und Entwicklungen gegeben, die diese Theorien eher erhärteten. Der Niedergang des Kommunismus und der Zerfall der Sowjetunion können als Bestätigung der These verstanden werden, daß moderner technologischer Wandel und industrielles Wachstum sich langfristig mit einer verfassungsmäßigen, nicht-diktatorischen Regierung, einem Rechtsstaat und einer mehr oder weniger offenen Gesellschaft verbinden müssen, wenn sie nicht versanden oder scheitern sollen. Diese wechselseitige Bedingtheit war eben von den Modernisierungstheorien betont worden. Es gibt weitere Beispiele, für die das klassische Modernisierungsparadigma eine schlüssige Deutung zu bieten hat. Einschlägig dürfte der Fall Chinas sein. Der dort stattfindende Wandel, wohin immer er auch fuhren mag, könnte erneut belegen, daß eine sich rasch modernisierende Wirtschaft langfristig auf eine irgendwie geartete gesellschaftliche und politische Modernisierung angewiesen ist. Ungeachtet der jahrzehntelangen scharfen Kritik gibt es also gute Gründe für das Festhalten am klassischen Modernisierungskonzept. 7 Dieses hat sich allerdings verändert und verändert sich auch weiterhin. Es hat seine Siegesgewißheit verloren und ist sowohl inhaltlich als auch methodisch bescheidener geworden. Heute spricht man lieber über die Moderne als über Modernisierung, was durchaus einen Verlust an Präzision und eine Relativierung der historischen Dimension bedeuten kann. Indes reflektiert diese Verschiebung eine stärkere Betonung der Kultur und einen offeneren Erwartungshorizont. Wichtiger noch ist der Schritt vom Singular hin zum Plural und mit ihm der Gedanke von der „Vielfalt der Moderne", der „multiple modernities", der rasch Aufnahme fand. Er geht auf Shmuel Eisenstadt zurück 8 . Der Gedanke ist der, daß zunehmende Globalisierung zwar zunehmende Verflechtung bedeutet, aber nicht notwendigerweise auch zunehmende Homogeneität. Damit wird die Konvergenzerwartung aufgegeben oder jedenfalls zurückgeschraubt, und die Konzepte von Modernisierung und V e r westlichung' werden klar voneinander geschieden. Kein Land, keine einzelne Weltgegend sollte den Maßstab für die Modernität der übrigen abgeben. 6

Open the Social Sciences. Report o f the Gulbenkian Commission on the Restructuring o f the Social Sciences, Stanford 1 9 9 6 , 4 8 - 6 0 ; U l f Hannerz, Cultural Complexity, N e w Y o r k 1 9 9 2 ; Jonathan Friedman, Cultural Identity and Global Process, London 1 9 9 4 ; Shmuel N. Eisenstadt (Hg.), The Origins and Diversity o f Axial A g e Civilizations, Albany 1 9 8 6 .

7

Eine beeindruckende Verteidigung der Modernisierungstheorie nach dem Zusammenbruch des K o m m u nismus in Osteuropa findet sich bei: Wolfgang Zapf, Der Untergang der D D R und die soziologische Theorie der Modernisierung, in: Bernhard Giesen/Claus Leggewie (Hg.), Experiment Vereinigung. Ein sozialer Großversuch, Berlin 1 9 9 1 , 3 8 - 5 1 .

8

Shmuel N. Eisenstadt, Multiple Modernities, in: Multiple Modernities ( = Daedalus, Winter 2 0 0 0 ) , 1 - 2 9 ; vgl. auch das Vorwort und die übrigen Beiträge in dieser Nummer. Siehe auch: Early Modemities ( = Daedalus, Sommer 1 9 9 8 ) , insbes. die Beiträge von Shmuel N. Eisenstadt/Wolfgang Schluchter ( 1 - 1 8 ) und Björn Wittrock ( 1 9 - 4 0 ) .

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Dieser Kategorienwechsel, die Pluralisierung der Moderne im Verlauf ihrer weltweiten Ausbreitung hat jedoch einen Preis, denn der gemeinsame Nenner all dieser Modernen - das Definiens, das unabdingbar ist, um die Verwendung eines einzigen Begriffs, sei es auch im Plural, zu rechtfertigen - wird nicht selten vage oder verschwindend klein. Nach Ansicht der türkischen Wissenschaftlerin Nilüfer Göle beispielsweise liegt das Hauptmerkmal der Moderne schlicht in ihrer Fähigkeit zur ständigen Selbstkorrektur. Für den schwedischen Sozialwissenschaftler Björn Wittrock ist die Moderne weder eine einheitliche Zivilisation noch eine Epoche, sondern ein globaler Zustand, ein Ensemble von Hoffnungen und Erwartungen, die lediglich bestimmten Mindestbedingungen an ihre Angemessenheit genügen müssen; er erwähnt u. a. ein spezifisches Geschichtsbewußtsein, ein neues Verständnis vom denkenden und handelnden Selbst und seinem Ort sowie die selbstreflexive, kritische Natur des modernen Denkens. Eisenstadt wiederum sieht eine Zivilisation dann als modern an, wenn ihre Ordnung nicht mehr als selbstverständlich hingenommen wird, sondern vielmehr Gegenstand ständigen Wettstreits ist, wenn Protestbewegungen eine wichtige Rolle spielen und neue Formen politischer Legitimation entstehen. Auch hier werden weder wirtschaftliche noch politischinstitutionelle Kriterien fur Modernität angegeben. Auf der Grundlage solcher R e i cher' Definitionen lassen sich jedoch kaum verschiedene Grade von Modernität unterscheiden. Zugleich wird die dichotome Begrifflichkeit von „modern" vs. „traditionell" explizit relativiert oder sogar aufgegeben. 9 Infolgedessen kann fast alles als modern durchgehen. Wie wir jedoch wissen, ist die analytische Brauchbarkeit von Begriffen, die vieles ein- und wenig ausschließen, gering - was freilich nicht heißt, daß ihnen nicht ein beträchtlicher diplomatischer Nutzen eignen kann. Doch sind auch Gewinne aus diesem Paradigmenwechsel vom Singular zum Plural zu verzeichnen. Der Gedanke von der Vielfalt der Moderne erlaubt es, die bestehende Vielfalt zu erkennen und anzuerkennen, ohne deshalb gänzlich auf einen einheitlichen Bezugspunkt verzichten zu müssen. Er stellt einen Rahmen bereit, innerhalb dessen Institutionen, Strategien und Werte im Hinblick auf Unterschiede und Ähnlichkeiten global miteinander verglichen werden können, und lädt darüber hinaus dazu ein, wechselseitige Einflüsse, die Auswirkungen von Begegnungen auf alle Beteiligten, Prozesse der wechselseitigen Wahrnehmung, Auswahl und Aneignung und die diesen innewohnenden Verwicklungen zu untersuchen. Die Verflechtung der modernen Welt kommt zur Sprache, und der „hybride" Charakter vieler Phänomene wird erkennbar. Die „Vielfalt der Moderne" schützt die Vertreter westlicher Kulturen vor einer Überschätzung ihrer Traditionen und eröffnet den Intellektuellen in anderen Teilen der Welt neue, produktive Möglichkeiten, ihre Erfahrungen und Traditionen in einen globalen Kontext zu stellen, ohne sich gegen die

9

Vgl. die Beiträge von Eisenstadt, Göre und Wittrock in: Multiple Modernities (wie Anm. 8), 1 - 6 0 , 9 1 118.

D I E V I E L F A L T DER M O D E R N E UND DIE A U S H A N D L U N G VON U N I V E R S A L I E N

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Moderne als solche abgrenzen zu müssen und sich auf diese Weise in einer intellektuell fragmentierten globalen Landschaft zu isolieren. Darum geht es, wenn ich von der „Aushandlung von Universalien", von „negotiated universale" spreche. Der Anspruch auf universale Anerkennung und weltweite Gültigkeit, der die in der Aufklärung wurzelnde Philosophie der Moderne ungeachtet ihrer partikularen und regionalen, nämlich europäischen bzw. westlichen Ursprünge auszeichnet, ist allgemein bekannt. Im Laufe der Jahrhunderte standen nun verschiedene Wege zur Verfugung, um diesen universalen Anspruch zumindest in begrenztem Umfang durchzusetzen. Erstens gab es die Strategien von Zwang und Herrschaft, die Universalisierung durch Druck, Manipulation und Gewalt. In der Geschichte von Kolonialismus und Imperialismus finden sich hierfür viele Beispiele, bis heute. Zweitens spielten und spielen in Vergangenheit wie Gegenwart Anziehungskraft und Nachahmung eine Rolle. Die Kulturen, politischen Systeme, Rechte und Werte, j a sogar die Wirtschaftsstrukturen des Westens erweisen sich in anderen Teilen der Welt in vieler Hinsicht als attraktiv, insbesondere für Teile der Eliten, die sie nicht selten ohne große Veränderungen übernehmen. Zugegebenermaßen lassen sich diese beiden Strategien der Universalisierung - Aufdrängen durch Druck und Imitation von Vorbildern - nicht immer eindeutig auseinanderhalten. Ein dritter Weg, der allen beteiligten Seiten die Möglichkeit eigener Beiträge einräumt, j a sie nachgerade dazu einlädt, ist der des Aushandelns. Das Wort „Aushandeln" wird dabei metaphorisch benutzt. Der Prozeß, den es bezeichnen soll, kann vielerlei Gestalten annehmen und viele Facetten haben; das Entscheidende ist, daß in ihm die Ausdehnung der räumlichen und kulturellen Reichweite eines Konzepts, Gesellschaftsentwurfs oder Programms mit einer Veränderung in der Substanz des jeweiligen Konzepts, Gesellschaftsentwurfs oder Programms verbunden ist. Das europäische bzw. westliche Modernitätsparadigma mag hier selbst zum Beispiel dienen. Einerseits ist es kein bloßer westlicher Partikularismus, sondern beansprucht weiterreichende Anerkennung, strebt nach Universalisierung und hat anderen Teilen der Welt nach wie vor viel zu bieten. Auf jeden Fall schreitet seine Ausbreitung weiter voran. Andererseits ist es wie andere bedeutende Konzepte, Theorien, Gesellschaftsentwürfe und Programme seiner Art tatsächlich bis zu einem gewissen Grad kontextabhängig, kulturspezifisch, mit anderen Worten: „geschichtlich", und kann deshalb nicht einfach exportiert und anderen Kulturen implantiert werden, ohne sie entweder zu verfehlen oder ihnen Gewalt anzutun. Indem Konzepte ausgedehnt, verpflanzt und aufgenommen werden, müssen sie zugleich ausgewählt, umgedeutet, modifiziert, angepaßt und in neue Kontexte eingefügt werden. Die Frage, ob das wandernde Konzept einer solchen Veränderung, Anpassung und Eingliederung fähig ist, stellt dabei ein Qualitätskriterium dieses Exportgutes dar. Fundamentalistische Überzeugungen genügen ihm nicht, aufklärerische Konzepte und Programme hingegen können es im Prinzip erfüllen, weil sie eine eingebaute

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JÜRGEN KOCKA

Lernperspektive haben. Aber natürlich ist dies keine rein intellektuelle Frage, sondern ebensosehr eine von Praxis, Macht und Können. Das Aushandeln ist eine Sache des wechselseitigen Gebens und Nehmens. Es gibt hier mindestens zwei Seiten: Auf der Empfängerseite findet ein Prozeß partieller Zurückweisung, selektiver Akzeptanz, Reinterpretation und modifizierender Einverleibung statt, der meist mit Konflikten, Gewinnern und Verlierern, Zerstörungen und Neuanfängen verbunden ist. Man denke etwa an die nur partielle Rezeption westlicher Modelle in Japan seit der Meiji-Zeit. Rückwirkungen auf die Seite des Absenders bleiben aber ebenfalls nicht aus (oder sollten nicht ausbleiben). So sieht sich das nach Ostasien, Indien oder in die islamische Welt ausgedehnte westliche Modernisierungsparadigma durch Neuentdeckungen und Konkurrenten herausgefordert. Selbstkritik und Selbstrelativierung sind gefragt; das Konzept verändert sich. Dabei kann es auch auf der Absenderseite zu inneren Konflikten kommen. Es gibt Gewinner und Verlierer, manche Positionen und Überzeugungen müssen aufgegeben werden, neue kristallisieren sich heraus. Gerade der Paradigmenwechsel von den klassischen Modernisierungstheorien hin zur „Vielfalt der Moderne" ist ein gutes Beispiel für das hier gemeinte „Aushandeln". Als Folge des modifizierenden Aushandelns eines grundlegenden Konzepts wächst dessen Offenheit gegenüber Vielfalt und seine Fähigkeit zu Erneuerung. Zugleich werden aber postmoderne Fragmentierung, gegenseitige Ignorierung und Abschottung vermieden, während die universalistischen Elemente beibehalten bzw. in die Praxis umgesetzt werden. Auch dieser Prozeß hat nicht ausschließlich intellektuelle Dimensionen, sondern auch praktische. Wenn er gelingt - was nicht immer der Fall i s t - , stehen an seinem Ende „ausgehandelte Universalien". Soviel zur weltweiten Ausdehnung und daraus resultierenden Wandlung eines europäischen Begriffs, einer westlichen Auffassung, einer okzidentalen Praxis. Wie steht es mit dem umgekehrten Weg? Welche ostasiatischen oder islamischen Begriffe, Konzepte, Paradigmata oder Gesellschaftsentwürfe vertraten oder vertreten heutzutage einen ähnlich universalen Anspruch und eignen sich für vergleichbare Aushandlungsprozesse, für Ausdehnung inklusive Veränderung? 1 0 Bis zum 18. Jahrhundert stand Europa eher auf der Empfängerseite, 11 doch in den letzten beiden Jahrhunderten war die Aushandlung von Universalien eine sehr asymmetrische Angelegenheit, die stärker vom Westen ausging als umgekehrt. Warum? Wie könnte ein größeres Gleichgewicht angestrebt werden? Abschließend sei ein Wort zum Vergleich zwischen Wirtschaft und Wissenschaft im Hinblick auf Universalisierung angefugt. Die Logik wissenschaftlicher 10

Vgl. den interessanten Vorschlag im Hinblick auf universale Ansprüche und potentielle Anziehungskraft „asiatischer Werte" bei: Tu Weiming, Implications o f the Rise of „Confucian" East Asia, in: a. a. 0 . , 195-218, bes. 2 0 5 - 8 .

11

Vgl. Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998.

D I E V I E L F A L T DER M O D E R N E UND DIE AUSHANDLUNG VON UNIVERSALIEN

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Argumentation, d. h. das, was über Erfolg und Mißerfolg von Wissenschaftlern entscheidet, und die Logik des Marktes, die über Gewinne und Verluste von Wirtschaftsunternehmen entscheidet, unterscheiden sich in vieler Hinsicht voneinander. Nicht diese Unterschiede, sondern einige gemeinsame Probleme und Tendenzen seien hier angesprochen. In den Wissenschaften wie im Wirtschaftsleben haben sich die Arbeitsgebiete und Tätigkeitsbereiche beständig ausgeweitet. In letzter Instanz wird ihr Radius global sein. Es gibt keine inneren, eingebauten Grenzen oder Schranken, die der grundlegenden Internationalisierung von Wissenschaft und Wirtschaft entgegenstünden. Eines der wichtigsten Ziele sowohl der Wissenschaft als auch der Wirtschaft ist es, Zusammenhänge zu nutzen und auszubauen. Wachsende Verflechtungen oder Zusammenhänge aber erzeugen, wie vorn gesagt, nicht zwangsläufig auch wachsende Homogeneität. Das Globale muß das Lokale nicht unterdrücken. Eine solche Unterdrückung wäre auch kontraproduktiv, sowohl für die Unternehmen (trotz des Siegeszugs des globalen Kapitalismus und der economies of scale) als auch für die Sozialwissenschaften (obwohl sie sich quantifizierender Methoden und systematischer Makro-Ansätze bedienen). In beiden Bereichen geht es darum, das Globale und das Lokale auf verschiedene Weisen zu amalgamieren, ohne die starken Spannungen zu unterschlagen, die so häufig zwischen den beiden bestehen. Verflechtungen und Netzwerke - Zusammenhänge also - bilden das Gegenteil von postmoderner Fragmentierung, sich abschottender Indifferenz oder konventioneller Beschränktheit, weshalb sie für die Wirtschaft und die Wissenschaft gleichermaßen unentbehrlich sind. Im allgemeinen ist es nicht möglich, daß eine Seite der anderen Zusammenhänge und ihre universalistischen Implikationen einfach aufdrängt. In der Wissenschaft wie in der Wirtschaft sind reziproke Prozesse - wie z. B. jener des Aushandelns und die dazugehörigen Fertigkeiten unerläßlich, um den notwendigen „Zusammenhang" herzustellen. Hier enden allerdings die Gemeinsamkeiten. Führt nämlich in der Wissenschaft das Aushandeln von Differenzen nicht zu einer Annäherung, so ist das nicht unbedingt als Mißerfolg zu werten. Kompromisse sind in der Wirtschaft und Politik angemessener und notwendiger als in der Wissenschaft. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist die Zuspitzung der Gegensätze mindestens ebenso wichtig wie die Konsensbildung. Der Kontroverse fällt eine wichtige Aufgabe zu. Kompromisse können die Wahrheit verschleiern; daher kommt ihnen im wissenschaftlichen Diskurs nur begrenzte Bedeutung zu. Wissenschaftliche Konzepte sollten nicht allumfassend, sondern trennscharf sein. Die Bedeutung des Aushandelns ist in der Wissenschaft begrenzt.

AXEL HONNETH

Idiosynkrasie als Erkenntnismittel. Gesellschaftskritik im Zeitalter des normalisierten Intellektuellen.1

In einem Artikel, der den suggestiven Titel „Mut, Mitleid und ein gutes Auge" trägt, hat Michael Walzer die Debatte um die Bedingungen einer Kritik der Gesellschaft energisch auf das Gleis der Tugendethik umgeleitet.2 Das Argument, mit dem er diesen Orientierungswandel begründet, klingt auf den ersten Blick ebenso plausibel wie zeitgemäß: weil eine Theorie der Gesellschaft weder die hinreichende noch die notwendige Bedingung einer gelungenen Gesellschaftskritik ausmacht, kann sich auch deren Qualität nicht primär an der Güte ihres theoretischen Gehalts, sondern vordringlich nur an den Eigenschaften des Kritikers selber bemessen; dieser muß, so heißt es bei Walzer, Mut besitzen können, die Fähigkeit zum Mitleid entwickelt haben und schließlich das rechte Augenmaß zur Anwendung bringen. Was plausibel an einer derartigen Schlussfolgerung klingt, ist der Umstand, daß sich die Durchschlagkraft, die praktische Wirkung einer Gesellschaftskritik ja tatsächlich nur selten aus dem Maß der investierten Theorie, sondern aus der spontanen Verständlichkeit ihres zentralen Anliegens ergibt; und zeitgemäß wirkt diese Hinwendung zu den Tugenden des Kritikers, weil sie der verbreiteten Entwertung soziologischen Wissens Vorschub leistet und den Hang zur Personalisierung intellektueller Zusammenhänge entgegenkommt. Aber gleichwohl überrascht die Selbstverständlichkeit, mit der Walzer auch den Intellektuellen unserer Tage noch als den geborenen Statthalter der Gesellschaftskritik zu betrachten scheint; es ist ja nicht vom kühnen Aufklärer die Rede, wie wir sie in Figuren vom Schlage eines Emile Zolas vor Augen haben mögen, sondern von jenem höchst verbreiteten Typ des Autors, der sich mit generalisierenden Argumenten wie selbstverständlich an den De-

1

Eine gekürzte Fassung dieses Textes ist als Vorabdruck erschienen in: Neue Züricher Zeitung (NZZ), 9./10. März 2002, S. 75f.

2

Michael Walzer, Mut, Mitleid und ein gutes Auge. Tugenden der Sozialkritik und der Nutzen von Gesellschaftstheorie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 48 (2000) 5, 7 0 9 - 7 1 8 .

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Axel

Honneth

batten in der demokratischen Öffentlichkeit beteiligt. Ist dieser normalisierte Intellektuelle, ein geistiger Agent in den Poren der öffentlichen Meinungsbildung, heute noch tatsächlich der natürliche Repräsentant dessen, was einmal „Gesellschaftskritik" geheißen hat ? Hier soll zunächst dem epochalen Gestaltwandel des Intellektuellen nachgegangen werden, bevor dann in weiteren Schritten eine ganz andere Physiognomie des Gesellschaftskritikers umrissen wird, als sie bei Walzer zu finden ist. I. Von den zwei großflächigen Prognosen, die Schumpeters Exkurs zur „Soziologie des Intellektuellen" enthält 3 , hat sich die eine inzwischen weitgehend erfüllt, während die andere in starkem Maße widerlegt worden ist. Schumpeter hatte hellsichtig vorausgesagt, daß sich in Folge von Bildungsexpansion und Ausweitung des Mediensektors die Zahl der Intellektuellen in den kommenden Jahrzehnten drastisch erhöhen wird; diese Trendaussage ist durch die nachfolgende Entwicklung in vollem Umfang bestätigt worden, so daß wir heute auch in der Bundesrepublik trotz der durch den Nationalsozialismus bedingten Verzögerungen von einer Normalisierung der Intellektuellenrolle sprechen können. Die erfolgreiche Etablierung einer politischen Öffentlichkeit, in der über Fragen von allgemeinem Interesse argumentativ gestritten wird, hat zur Vervielfachung eines Typs von Autor geführt, der sich unter Ausnutzung seiner jeweiligen Expertise an der reflexiven Durchdringung und Abwägung von öffentlichen Themen beteiligt; in den Zeitungen und im Radio, im Fernsehen und im Internet nimmt heute eine immer größere Zahl von Intellektuellen an der aufgeklärten Meinungsbildung über eine immer größere Zahl von Sachproblemen teil. Daher ist auch die Rede vom Verschwinden des Intellektuellen, wie sie mit stupider Regelmäßigkeit in den Feuilletons auftaucht, alles andere als gerechtfertigt; noch nie war die Diskussion, die von unterschiedlichster Seite aus mit mehr oder minder großem Sachverstand über öffentlich wahrgenommene Themen gefuhrt wird, reger und lebendiger als in der Gegenwart. Es sind mindestens vier Berufsmilieus, aus denen sich das Personal derjenigen rekrutiert, die mit der selbstverständlichen Attitüde des Generalisten zu solchen Schlüsselproblemen des Tages Stellung beziehen: An vorderster Stelle rangiert die Medienindustrie selber, in der unter dem Druck der öffentlichen Nachfrage mehr und mehr Autoren und Publizisten Anstellung finden, die eine breite Kompetenz für Fragen von moralischpolitischer Relevanz besitzen; die wachsende Etablierung von themenspezifischen Kommissionen und Sachausschüssen, in denen akademisches Fachwissen gefragt ist, hat zudem innerhalb der Professorenschaft zu einem Abbau von traditionellen Vorbehalten gegenüber öffentlichen Medien geführt, so daß heute auch die Hoch3

Joseph A. Schumpeter, Kapitalismus, Sozialismus und Demokratie, 7. Auflage, Tübingen/Basel 1993, 13. Kap., II (Die Soziologie des Intellektuellen), 2 3 5 - 2 5 1 .

IDIOSYNKRASIE ALS ERKENNTNISMITTEL.

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schulen zunehmend ein Rekrutierungsfeld fur medial präsente Intellektuelle darstellen; ein weiteres Milieu, aus dem sich die intellektuellen Beiträge zur öffentlichen Meinungsbildung speisen, bilden ferner die akademischen Apparate der Parteien, Kirchen und Gewerkschaften, die in den letzten Jahrzehnten einen starken Ausbau erfahren haben; und schließlich ist auch jenes Heer von arbeitslosen Akademikern zu berücksichtigen, das mit Hilfe von ungesicherten Arbeitsverträgen regelmäßig Zulieferarbeit für die großen Medienkonzerne und -anstalten liefert und damit ebenfalls an der intellektuellen Produktion von öffentlichen Stellungnahmen teilnimmt. Die vereinzelten Schriftsteller und Künstler hingegen, die gelegentlich durch intellektuelles Engagement auf sich aufmerksam machen, bilden kein einheitliches Milieu, weil ihnen dafür die Voraussetzung einer gruppenspezifischen Berufssozial isation fehlt. Im Zuge der sozialen Ausweitung ist es zu einer Normalisierung der Intellektuellenrolle freilich nicht nur in einem quantitativen, sondern auch in einem qualitativen Sinn gekommen. Die intellektuellen Stellungnahmen, die heute die Seiten der Feuilletons, die Sendezeiten der Kulturprogramme und die Bildschirme des Personal Computers füllen, entstammen der ganzen Breite des politischen Meinungsspektrums; auch die konservativen Denker und Autoren, die einst im Intellektuellen noch die Gefahr einer Politisierung des Geistes oder einer „Zersetzung" von staatsbürgerlicher Loyalität vermuteten, haben sich inzwischen den Spielregeln der demokratischen Öffentlichkeit soweit angepaßt, daß sie ihre Meinungen und Überzeugungen als Argumente in die etablierten Kanäle der Druck- und Bildmedien einspeisen. Daher aber ist die zweite Prognose, die Schumpeter in seiner „Soziologie des Intellektuellen" aufgestellt hat, auf ganzer Linie unerfüllt geblieben; er hatte nämlich nicht nur eine Vergrößerung der Intellektuellenschicht, sondern auch deren soziale Radikalisierung vorausgesagt, weil die unsichere, gefährdete Berufslage Motive einer Kapitalismuskritik kumulativ verstärken würde. 4 Das Gegenteil ist, so läßt sich heute wohl ohne Übertreibung sagen, in den letzten Jahrzehnten eingetreten: Die spezifische Funktion der Öffentlichkeit, die kraft interner Schleusen für eine Aufmerksamkeitsverlagerung auf nur wenige, medial behandelbare Themen sorgt, hat dazu beigetragen, daß die immer größer werdende Zahl von Intellektuellen sich weitgehend nur noch mit Fragen von tagespolitischer Relevanz befaßt. Ein soziales Reservoir für eine Form der Kritik, die hinter die Prämissen der öffentlich akzeptierten Problembeschreibungen zurückfragt und deren Konstruiertheit selber zu durchschauen versucht, ist in der Schicht der Intellektuellen kaum mehr anzutreffen. Allerdings wäre es fahrlässig, in dieser Entwicklung nur etwas Bedauerliches oder gar Beklagenswertes zu sehen; vielmehr scheint es sich um das kulturelle Nebenprodukt jener Errungenschaft zu handeln, die als Prozeß der erfolgreichen Eta-

4

Ebd., 247f.

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Axel Honneth

blierung einer demokratischen Öffentlichkeit zu beschreiben ist. Deren Vitalität wächst mit dem Zustrom sachlich verallgemeinerter Überzeugungen, in denen die Staatsbürger und -biirgerinnen ihre noch unaufgeklärten Meinungen wiedererkennen können, um sie mit Hilfe der zusätzlich gebotenen Informationen und Gesichtspunkte zu dezentrieren und zu abgewogenen Urteilen zu formen; die öffentlich dargebotenen Argumente und Überlegungen, die eine solche Aufklärungsfunktion zu übernehmen haben, müssen daher nicht nur ihrer Struktur nach auf Verallgemeinerungsfahigkeit angelegt sein, sondern müssen zusammengenommen nach Möglichkeit auch das ganze Spektrum privater Meinungen abbilden können. Insofern ist die Normalisierung des Intellektuellen, die wir heute allenthalben beobachten, nichts anderes als die kulturelle Begleiterscheinung einer Intensivierung der demokratischen Öffentlichkeit; an politisch relevanten Themenstellungen, sei es die Frage der Abtreibung, der militärischen Intervention oder der Rentenreform, kristallisieren sich persönliche Überzeugungen, die sich unter dem Einfluß intellektueller Stellungnahmen weiter formen und in den demokratischen Willensbildungsprozeß einfließen können. Aber die enge Verzahnung, die einst zwischen „Intellektualität" und Gesellschaftskritik bestand, ist mit dieser Entwicklung endgültig aufgebrochen; in dem Maße, in dem von Intellektuellen nicht mehr eine Hinterfragung des öffentlich Sagbaren zu erwarten ist, ist auch die Gesellschaftskritik nicht mehr im Feld intellektueller Auseinandersetzungen zu Hause. Der Fehler von Michael Walzer besteht darin, auf jenes erste Geschäft Tugenden zu übertragen, die nur für eine Beschreibung des normalisierten Intellektuellen dienlich sind.

II. Die Persönlichkeitseigenschaften oder Tugenden, mit deren Hilfe Walzer die Bedingungen einer gelungenen Gesellschaftskritik zu umreißen versucht, sind ersichtlich an intellektuellen Schlüsselfiguren der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert gewonnen. 5 Zumeist mußten diese Intellektuellen in einer politischen Öffentlichkeit agieren, deren Verfassung weit von jenen liberalen Verhältnissen entfernt war, die heute in Anbetracht der rechtlichen Garantie von Rede- und Meinungsfreiheit in den demokratischen Gesellschaften des Westens herrschen; mag damals mithin die persönliche Bereitschaft erforderlich gewesen sein, ein Risiko für Leib und Leben einzugehen, so sind derartige Verhaltensanforderungen für den westlichen Intellektuellen unserer Tage gänzlich entfallen. Insofern stellt der „Mut" gegenwärtig keine Eigenschaft mehr dar, wie schon Dahrendorf in einer Replik gesagt hat6, mit der sich intellektuelle Tugenden zumindest in unseren Breiten sinnvoll erfassen lassen; in nichts ist noch die Lage eines Ignazio Silone, der sich als oppositioneller Schrift5 6

Vgl. Michael Walzer, Zweifel und Einmischung. Gesellschaftskritik im 20. Jahrhundert, Frankfurt/M. 1991. Ralf Dahrendorf, Theorie ist wichtiger als Tugend, in: NZZ, 2. 12. 2000, Nr. 282.

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steller im totalitären Italien Mussolinis Gehör verschaffen mußte, der persönlichen Situation desjenigen vergleichbar, der heute etwa in den USA seine Stimme gegen die Todesstrafe erheben würde. Demgegenüber lassen sich die beiden anderen Tugenden, die Walzer in seinem Katalog nennt, durchaus als hilfreiche Hinweise auf Verhaltensdispositionen verstehen, die zwar nicht den Gesellschaftskritiker, aber doch den Intellektuellen der Gegenwart auszeichnen müssen: es bedarf ebenso der Fähigkeit, sich mit dem sozialen Leid unterdrückter Gruppen zu identifizieren, wie eines Gespürs für das politisch Machbare, um öffentlich nicht hinreichend wahrgenommene Interessen und Überzeugungen im demokratischen Willensbildungsprozeß nachhaltig zur Geltung zu bringen. Ja, es dürften sogar genau diese beiden Eigenschaften sein, die heute den allgemein sichtbaren Intellektuellen von der unzähligen Schar derer unterscheidet, die ihrem Auftrag der gekonnten Generalisierung von fachgebundenen Themen und Belangen nur mit eingeübter Routine und ohne rhetorische Phantasie nachgehen. Aber mit den Bedingungen einer erhellenden, gar einer gelungenen Gesellschaftskritik hat das alles recht wenig zu tun, weil erst gar nicht die kulturellen oder sozialen Dispositive in Frage gestellt werden, die die Akzeptanzbedingungen von Stellungnahmen in der öffentlichen Debatte festlegen. Während der Intellektuelle sich heute nicht nur an die prozeduralen Regeln, sondern auch an die konzeptuellen Vorgaben der politischen Öffentlichkeit halten muß, um sich öffentlich Gehör zu verschaffen, steht die Gesellschaftskritik vor einer ganz anderen Aufgabe. Auf sie trifft zu, was Siegfried Kracauer vor siebzig Jahren noch als zentrales Anliegen der intellektuellen Tätigkeit beschrieben hat: daß es darin nämlich um den Versuch „der Zerstörung aller mythischen Mächte um und in uns" 7 zu gehen hat. Mit solchen Mythen, die Kracauer an anderer Stelle auch als „naturale Mächte" bezeichnet, sind alle begrifflichen Voraussetzungen gemeint, die hinter unserem Rücken festlegen, was öffentlich als Sagbar und als Unsagbar gilt; insofern wäre es vielleicht sogar besser, von einem begrifflich verfaßten Bild oder einem Dispositiv zu sprechen, das uns in dem Sinne gefangen hält, daß uns bestimmte Vorgänge aufgrund unserer fixierten Beschreibungen wie ein Stück „Natur" erscheinen, von dem wir uns nicht mehr zu lösen vermögen. Ist der Intellektuelle der Gegenwart nun darauf angewiesen, sich innerhalb eines derartigen konzeptuellen Rahmens zu bewegen, weil er ja für seine Stellungnahme schnell öffentliche Zustimmung erhalten will, so muß die Gesellschaftskritik umgekehrt alles daran setzen, den eingespielten Rahmen geschickt zu durchlöchern und probeweise außer Kraft zu setzen. Das Interesse, von dem sie sich dabei leiten läßt, ist von prinzipiell anderer Art, als es der Tätigkeit des Intellektuellen heute innewohnt: hier geht es um die Korrektur von Sichtweisen öffentlicher Belange innerhalb des in der demokratischen Öffentlichkeit akzeptierten Beschreibungssystems, während es dort um die Hinterfragung jenes Beschreibungssystems selber geht. Die Norma7

Siegfried Kracauer, Minimalforderung an die Intellektuellen, in: ders., Schriften 5.2, Frankfurt/M. 1990, 3 5 2 - 3 5 6 , hier: 353.

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lisierung seiner Rolle hat den Intellektuellen gewissermaßen einen Stellungswechsel vollziehen lassen, der ihn soweit zum geistigen Agenten in den Foren der politischen Willensbildung gemacht hat, daß er die Aufgabe der Gesellschaftskritik zusätzlich gar nicht mehr wahrnehmen kann; denn das würde verlangen, aus dem Horizont an öffentlich geteilten Selbstverständnissen herauszutreten, der doch heute der ultimative Bezugspunkt seiner eigenen Tätigkeit ist. An dem Ergebnis dieser internen Verschiebungen scheitert die Diagnose von Michael Walzer; denn sie ist in keiner Weise geeignet, die Verhaltensdispositionen zu bestimmen, die konstitutiv für die Gesellschaftskritik nach ihrer endgültigen Abtrennung vom Intellektuellen sind.

III. Schon immer war ein Element des Außenseitertums eine geistige Quelle der Gesellschaftskritik. Ob nun durch politische Verfolgung ins Exil oder durch kulturelle Isolation an die Peripherie des eigenen Landes gedrängt, häufig nahmen die bedeutsamsten Kritiker der Gesellschaft eine Position ein, die ihnen eine gewisse Distanz zu den sozial eingespielten Deutungsmustern verschafft hat - Rousseau kehrte angewidert dem Jahrmarkt der Eitelkeiten in Paris den Rücken, Marx fristete das entwurzelte Dasein eines politisch Exilierten, Kracauer wird ein physisch bedingtes Gefühl der Minderwertigkeit nachgesagt, Marcuse gehörte als Jude wie so viele andere einer kulturellen Minorität an. In keinem dieser Fälle läßt sich die jeweilige Randstellung in der einfachen Topographie lokalisieren, innerhalb derer in der gegenwärtigen Diskussion zumeist nur zwischen „Innen" und „Außen" unterschieden wird. Jene Gesellschaftskritiker waren weder ihrer sozialen Herkunftskultur soweit entfremdet, daß sie eine bloß externe Perspektive einnehmen mußten, noch besaßen sie ihr gegenüber genügend Vertrauen und Loyalität, um sich mit einer bloß internen Perspektive der Kritik begnügen zu können. Wenn hier überhaupt ein topographisches Bild hilfreich sein kann, so ist es am ehesten dasjenige eines „inneren Auslands": von der Seite her, aus einer im Inneren nach Außen verlagerten Perspektive, betrachteten sie mit wachsender Distanz das Insgesamt an Praktiken und Überzeugungen, das sich in ihrer eigenen Herkunftskultur wie eine zweite Natur breitgemacht hat. Eine solche Randstellung ist es gewesen, die sie dazu in die Lage versetzte, in der unüberblickbaren Vielzahl von öffentlichen Äußerungen und Vorkommnissen das Muster eines einheitlichen Dipositivs zu erkennen; aber nur der Rest an Bindung an diese Kultur hat es ihnen ermöglicht, in ihre Arbeit die Verve, die Sorgfalt und die Energie zu legen, die für eine gelungene Kritik gesellschaftlicher Selbstverständnisse notwendig sind. Zwei Eigentümlichkeiten der Gesellschaftskritik ergeben sich aus dem Umstand, daß sie aus einer Perspektive der Bindung an eine soziale Lebenswelt verfaßt ist, die einem im Ganzen fremd geworden ist.

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Im Unterschied zur Tätigkeit des zeitgenössischen Intellektuellen, der bei aller Berufung auf verallgemeinerungsfähige Normen doch stets ein spezielles Thema von öffentlicher Relevanz aufwirft, besitzt die Gesellschaftskritik immer einen holistischen Zug: hinterfragt wird nicht die vorherrschende Deutung eines bestimmten Sachproblems, die öffentliche Ignoranz gegenüber abweichenden Meinungen oder die nur selektive Wahrnehmung einer zur Entscheidung anstehenden Materie, sondern vielmehr das soziale wie kulturelle Bedingungsgeflecht, unter der alle diese Willensbildungsprozesse überhaupt zustande gekommen sind. Für das, was hier „Holismus" genannt wird, stellt die Kritik, die Rousseau an der Selbstbezüglichkeit moderner Subjektivität übt, ein ebenso gutes Beispiel dar wie die KulturindustrieThese von Adorno und Horkheimer: nicht einzelne Vorkommnisse, nicht partikulare Fehlentscheidungen oder relative Ungerechtigkeiten, sondern die Struktureigenschaften der Verfassung einer sozialen Sphäre im Ganzen sind es, die in den jeweiligen Schriften kritisiert werden. Was die Gesellschaftskritik antreibt ist der Eindruck, daß die institutionellen Mechanismen und Bedürfnisinterpretationen selber äußerst fragwürdig sind, die der öffentlichen Willensbildung als quasinatürliche Bedingungen zugrundeliegen; daher muß sie alles daran setzen, von diesen selbstverständlich scheinenden Voraussetzungen ein Bild zu erzeugen, das zu deren Problematisierung angetan ist. Aus dem Versuch, ein ganzes Bedingungsgeflecht auf Distanz zu bringen, ergibt sich auch die zweite Eigentümlichkeit der Gesellschaftskritik; im Unterschied zur Intervention des Intellektuellen ist sie nämlich strukturell darauf angewiesen, von einer Theorie Gebrauch zu machen, die in der ein oder anderen Weise explanatorischen Charakter besitzt. Für die Tätigkeit des Intellektuellen mag heute zutreffen, was Michael Walzer fälschlicherweise von der Aufgabe der Gesellschaftskritik im Ganzen behauptet hat. Die Intervention in der politischen Öffentlichkeit mit dem Ziel, vorherrschende Deutungen zu korrigieren oder neue Sichtweisen zu propagieren, ist auf theoretische Erklärungsgehalte nicht nur nicht angewiesen, sondern kann durch sie auch leicht negativ beeinflußt werden; denn je größer hier der Aufwand ist, der an soziologischer oder historischer Explanation betrieben wird, desto stärker ist auch die Gefahr, mit dem Adressaten zugleich das politisch-praktisch Gebotene aus den Augen zu verlieren. Muß der zeitgenössische Intellektuelle daher eine gewisse Abstinenz gegenüber erklärenden Theorien ausüben, so ist die Gesellschaftskritik hingegen nach wie vor elementar auf sie angewiesen: um begründen zu können, warum die eingespielten Praktiken und Überzeugungen insgesamt fragwürdig sein sollen, muß sie nämlich eine theoretische Erklärung anbieten, durch die die Herausbildung jenes Dispositivs als die ungewollte Konsequenz einer Verkettung von jeweils intendierten Umständen oder Handlungen verständlich wird. Wie sehr sich die theoretischen Gehalte voneinander auch unterscheiden mögen, wie vielgestaltig die jeweils mobilisierten Erklärungen methodisch auch sein können, ihre Aufgabe innerhalb der Gesellschaftskritik ist in allen Fällen die gleiche: mit ihrer Hilfe soll

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gezeigt werden, daß wir die institutionelle Totalität oder die Lebensform, die wir tagtäglich praktizieren, deswegen nicht gutheißen können, weil sie das kausale Ergebnis eines in seinen einzelnen Bestandteilen durchaus verstehbaren Entwicklungsprozesses ist. Aus dieser gemeinsamen Funktion erklärt sich auch eine generische Eigenart all der Theorien, die in der Gesellschaftskritik Verwendung finden können: sie müssen bei allen methodischen Unterschieden eine Erklärung für die Mechanismen bereitstellen, durch die es historisch oder sozial möglich gewesen sein soll, daß sich in unseren institutionellen Handlungspraktiken ein Praxismuster, ein Bedürfnisschema oder ein Einstellungssyndrom hat durchsetzen können, das zu unseren tieferliegenden Wünschen und Absichten im Widerspruch steht. Für eine derartige Erklärung liefert, je nach Temperament des Kritikers, j e nach gegebener Wissenskultur, die Zivilisationstheorie Rousseaus ein ebenso geeignetes Instrument wie die Geneologie Nietzsches, die politische Ökonomie von Marx ein ebenso probates Mittel wie das an Weber anschließende Rationalisierungskonzept. Aber auch soziologische Handlungstheorien, wie sie in sehr unterschiedlicher Weise von Bourdieu oder Giddens entwickelt wurden, können im Rahmen einer Gesellschaftskritik die besagte Funktion erfüllen; im Grunde genommen sind hier den explanatorischen Möglichkeiten nur wenig Grenzen gesetzt, solange nur dem Anspruch Rechnung getragen wird, aus einer Kette von jeweils intendierten Umständen die unbeabsichtigte Konsequenz einer im Ganzen fragwürdigen Lebensform zu erklären. Auch die Gesellschaftskritik kann natürlich in ihrer politischen Stoßrichtung, nicht anders als die intellektuelle Intervention, über das ganze Spektrum zeitgenössisch vertretener Positionen streuen. Der Unterschied zwischen den beiden Unternehmen liegt nicht etwa darin, daß im Feld des Intellektuellen heute Pluralismus vorherrscht, während im Bereich der Gesellschaftskritik ein untergründiger Konsens vorliegt. Es ist die Art des Pluralismus, in dem sich die zwei Typen der reflexiven Stellungnahme in der Gegenwart unterscheiden: ist der normalisierte Intellektuelle an den politischen Konsens gebunden, der als Ausdruck all der moralischen Überzeugungen gelten kann, in denen sich die pluralen Weltanschauungen überschneiden 8 , so ist die Gesellschaftskritik von derartigen Begrenzungen frei, weil sie j a die Hintergrundüberzeugungen jenes Konsenses gerade in Frage stellen will. Während sie sich ethische Übertreibungen und Vereinseitigungen leisten kann, ist der Intellektuelle heute zu einer weitestgehenden Neutralisierung seiner weltanschaulichen Bindungen gezwungen, weil er nach Möglichkeit Zustimmung in der politischen Öffentlichkeit finden muß. Die Grenzen, die der Gesellschaftskritik gezogen sind, ergeben sich mithin aus der Verstehensbereitschaft eines weltanschaulich höchst gemischten Publikums, diejenigen aber, auf die der Intellektuelle stößt, sind aus den liberalen Grundsätzen einer demokratisch räsonierenden Öffent8

Zur Idee des „overlapping consent" vgl. John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt/M. Kap. 4.

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lichkeit errichtet. Der Intellektuelle muß unter Wahrung dieser Prinzipien mit geschickten Argumenten für seine Meinung werben, der Gesellschaftskritiker aber kann unter Ausnutzung einer ethisch imprägnierten Theorie versuchen, uns von der Fragwürdigkeit der eingespielten Praxisweise zu überzeugen. In den Differenzen, die damit umrissen sind, ist auch der Unterschied begründet, der zwischen den kognitiven Tugenden der beiden Unternehmungen besteht.

IV. Wahrscheinlich ist die Tugend, die für die Gesellschaftskritik den geringsten Nutzen abwirft, die Fähigkeit des „guten Auges". Auch wenn bei Michael Walzer nicht ganz klar ist, ob damit der Sinn eher für realpolitische Zwänge oder für soziale Kontexte gemeint ist, so dürfte unbestritten sein, daß dieses Vermögen von unmittelbarem Vorteil für den zeitgenössischen Intellektuellen ist: er muß, um seine argumentative Intervention im öffentlichen Diskurs überzeugend gestalten zu können, nicht nur den richtigen Blick für politische Gestaltungsmöglichkeiten besitzen, sondern auch die sozialen Durchsetzungschancen von Argumenten angemessen einschätzen können. Nichts aber wäre der Gesellschaftskritik abträglicher, als ihre Bloßstellung fragwürdiger Sozialpraktiken von der Aussicht auf politische Umsetzbarkeit abhängig zu machen. Worauf sie zielt ist nicht der schnelle Erfolg im demokratischen Meinungsaustausch, sondern die Fernwirkung eines allmählich wachsenden Zweifels, ob die gegebenen Praxismuster oder Bedürfnisschemata tatsächlich die (für uns) angemessenen sind; nicht argumentative Überzeugung im Augenblick, sondern begründete Umorientierung im zukünftigen Prozeß ist die Münze, in der sich die Gesellschaftskritik auszahlt. Die Tugend des rechten Augenmaßes, die Walzer dem Kritiker abverlangt, wird sich bei einer solchen Aufgabe als hinderlich, nicht als förderlich erweisen; wer den Blick auf die Gunst der politischen Umstände und des Zeitgeistes gerichtet hält, wird nämlich kaum den Perspektivenwechsel vollziehen können, der nötig ist, um die eingespielten Lebensformen wie eine Seifenblase zerplatzen zu sehen. Was die Gesellschaftskritik an Disposition erfordert, ist daher der hypertrophe, j a idiosynkratische Blick desjenigen, der im liebgewordenen Alltag der institutionellen Ordnung den Abgrund einer verfehlten Sozialität, im routinisierten Meinungsdisput die Umrisse einer kollektiven Täuschung zu erkennen vermag. Es ist diese leicht ver-rückte, von Innen an den Rand gedrehte Perspektive, die im übrigen auch verständlich macht, warum die Gesellschaftskritik im Unterschied zur intellektuellen Aktivität den Einsatz von Theorie erforderlich macht; denn deren Aufgabe ist es, den Abstand zu erklären, der zwischen der wahrgenommen Realität und dem öffentlichen Selbstverständnis sozialer Praktiken besteht. Auch das Mitleid ist eine Tugend, deren Charakteristika sich in der Praxis des Gesellschaftskritikers durchaus als zweischneidig erweisen können. Natürlich wird

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auch der letzte Affektgrund seiner kritischen Initiative nichts anderes als eine Identifikation mit dem Leiden und dem Schmerz sein, den das f ü r fragwürdig gehaltene Dispositiv sozialen Handelns im Einzelnen bewirkt; wie anders wäre die Energie zu erklären, die er in die Abfassung einer theoretischen Erklärung steckt, deren Aussicht auf politische Umsetzung hochgradig in Zweifel steht ? Aber diese Identifikation gilt nicht einem artikulierten, einem subjektiv bereits w a h r g e n o m m e n e m Leiden, sondern einem Schmerz, der jenseits des sozial Sagbaren nur vermutet, gewissermaßen zugeschrieben wird. Es sind die verallgemeinerungsfähigen Interessen aller Gesellschaftsmitglieder, die der Gesellschaftskritiker für verletzt hält, wenn er von der Fragwürdigkeit einer sozial eingeübten Lebensform spricht. „Mitleid" wäre für die Affektlage, die dabei im Spiel ist, sicherlich nicht das richtige Wort; eher handelt es sich um eine Art von höherstufiger, aber nicht minder intensiven Identifikation mit einem Leiden, das unter den gegebenen Bedingungen noch gar keinen sprachlichen Ausdruck hat finden können. Diese abstrakte, gebrochene Anteilnahme erklärt auch, warum sich in die Sprache der Gesellschaftskritik nicht selten ein Ton der Bitterkeit, j a der Kälte schleicht; nicht pure Überheblichkeit ist es, was hier eine Atmosphäre der Distanz verbreitet, sondern Groll und Verbitterung darüber, daß das hypertroph wahrgenommene Leiden noch keine Resonanz im Artikulationsraum der Öffentlichkeit gefunden hat. Solche Ingredienzen der Gesellschaftskritik können gewiß nicht als Tugenden, als nachahmenswerte Dispositionen der Personen oder als mustergültige Eigenschaften der Texte bezeichnet werden; aber selbst dem Laster wohnt in diesem Fall noch ein Stück von innerer N o t w e n digkeit bei, das sich aus dem Grad an geistiger Isolation ergibt, zu dem im Unterschied zur intellektuellen Stellungnahme die Hinterfragung einer Lebensform zwingt. Die Tugenden, durch die die Gesellschaftskritik erst eigentlich gekennzeichnet ist, sind nicht Eigenschaften ihrer Repräsentanten, sondern Bestandteile der Texte selber. Mögen beim Intellektuellen unserer Tage die persönlichen Fähigkeiten von besonderem Gewicht sein, weil sie der öffentlichen Überzeugungskraft seiner Argumente förderlich sind, so treten sie in diesem zweiten Fall weitgehend hinter die sprachliche Gestalt des präsentierten Deutungsgebots zurück; daher auch scheint es um so vieles leichter zu sein, wertend von der Figur des Intellektuellen zu reden, während in Hinblick auf die Gesellschaftskritik über der Persönlichkeit des Autors nur schwerlich Urteile zu fällen sind. Der Erfolg seiner Tätigkeit bemißt sich nicht, so hatte es geheißen, an der schnellen Überzeugung einer mit sich hadernden, gespaltenen Öffentlichkeit, sondern an der langfristigen Umorientierung eines den herrschenden Auffassungen vertrauendem Publikums; das, was beim Intellektuellen das richtige Augenmaß, das überzeugende Argument und das erkennbare Engagement f ü r eine Minderheit bedeuten mag, muß er annähernd vollständig durch das gestalterische Vermögen ersetzen, seinen Texten eine zersetzende Wirkung auf soziale Mythen zu verleihen. Die Aufgabe, theoretisch spröde Erklärungen rhetorisch

IDIOSYNKRASIE ALS ERKENNTNISMITTEL.

251

mit Suggestionskraft auszustatten, stellt mithin die eigentliche Herausforderung der Gesellschaftskritik dar; und ebenso viele Autoren wie die Zahl derer, die sie meisterlich bewältigt haben, mögen an ihr auf dramatische Weise gescheitert sein. Unter den vielen Mitteln, die der Gesellschaftskritik in dieser Hinsicht zu Gebote stehen, stechen aufgrund ihrer starken Verbreitung zwei rhetorische Figuren besonders hervor. Ein gestalterisches Element, das immer wieder zum Zuge kommt, ist der kunstfertige Einsatz von Übertreibungen, mit deren Hilfe der theoretisch hergeleitete Zustand in einem solchen grellen, bizarren Licht eingetaucht wird, daß dessen Fragwürdigkeit der Leserschaft wie Schuppen von den Augen springen soll - der „Zweite Diskurs" von Rousseau ist ein ebenso gutes Beispiel fur eine derartige Übertreibungskunst wie die „Dialektik der Aufklärung" 9 . Dabei darf freilich das rhetorisch überzeichnete Ergebnis nicht mit dem Prozeß verwechselt werden, dem der Einsatz von theoretischen Erklärungen in diesen Formen der Gesellschaftskritik gilt: nur der fragwürdige Zustand der Gegenwart selber wird mit Stilelementen der Übertreibungskunst ausgestaltet, während seine historische Genese ganz nüchtern im Sinne der nicht-intendierten Konsequenzen intentionaler Vorgänge erklärt werden soll. Das Mittel aber, das fraglos am häufigsten in der Gesellschaftskritik Verwendung findet, ist die Prägung von eingängigen Kurzformeln, in denen eine komplexe Erklärung sozialer Vorgänge komprimiert auf einen einzigen Nenner gebracht wird: wenn Foucault von der „Disziplinargesellschaft" oder der „Biopolitik" redet, wenn Habermas leitmotivisch von der „Kolonialisierung der Lebenswelt" spricht oder Marcuse den Ausdruck von der „repressiven Toleranz" verwendet, so verbergen sich dahinter jeweils anspruchsvolle Theorien, in denen ein fragwürdiger Zustand unserer sozialen Lebensform als das Ergebnis eines bislang undurchschauten Entwicklungsprozesses erklärt wird. Auch hier gilt die rhetorische Zuspitzung wiederum nur dem Ergebnis, nicht aber dem historischen Geschehen, durch das es kausal verursacht sein soll: die Kurzformel hält anschaulich und effektvoll fest, was die besonders kritikwürdigen Merkmale desjenigen Zustandes sein sollen, der sich in Folge einer geschichtlichen Verkettung von intentionalen Vorgängen „hinter unserem Rücken" herausgebildet hat. Im Unterschied zur Intervention des Intellektuellen besitzt aber auch eine Gesellschaftskritik, die derart suggestiv aufgeladen ist, nicht mehr als eine höchst indirekte, empirisch kaum zu messende Fernwirkung; weder in drastischen Umbrüchen der öffentlichen Meinung noch in den symbolischen Verlautbarungen der politischen Funktionsträger schlägt sie sich im allgemeinen nieder. Daß sie jedoch nicht ohne jede Aussicht auf Erfolg ist, daß sie also auf Dauer zu einem Orientierungswandel beitragen kann, macht auf eindrucksvolle Weise eine gesellschaftskritische Kurzformel sichtbar, deren Einprägsamkeit auch unter dem wachsenden Zweifel an ihren theoretischen Erklärungsgehalt nicht zu leiden scheint: als Hork9

Bert van den Brink, Gesellschaftstheorie und Übertreibungskunst. Für eine alternative Lesart der „Dialektik der Aufklärung", in: Neue Rundschau, Heft 1/1997, 3 7 - 5 9 .

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heimer und Adorno den Begriff der „Kulturindustrie" prägten, um verschiedene Prozesse der Kommerzialisierung und Vermarktlichung des kulturellen Sektors zu kritisieren, konnten sie nicht ahnen, daß sie damit einen kulturellen Lernprozeß in G a n g gesetzt hatten, der inzwischen in Deutschland immerhin zu höheren Qualitätsanforderungen an R u n d f u n k und Fernsehen geführt hat als in fast allen anderen Ländern.

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EUCHNER, WALTER, geb. 1933, Prof. em. fiir Politikwissenschaft an der Universität Göttingen GANTZEL, KLAUS-JÜRGEN, geb. 1934, Prof. em. für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg HONNETH, AXEL, geb. 1949, Prof. fiir Philosophie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. HUBER, WOLFGANG, geb. 1942, Bischof der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg KOCKA, JÜRGEN, geb. 1941, Prof. fiir Geschichte, Freie Universität Berlin, Präsident des Wissenschaftszentrums Berlin fiir Sozialforschung KOLAKOWSKI, LESZEK, geb. 1927, Philosoph, Prof. em. fiir Philosophiegeschichte an der Universität Warschau MAHRENHOLZ, ERNST GOTTFRIED, g e b .

1929, Vizepräsident des

Bundesverfassungsge-

richts a. D. MEYER, THOMAS, geb. 1943, Prof. fiir Politikwissenschaft an der Universität Dortmund MÜNKLER, HERFRIED, geb. 1951, Prof. fur Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin NEGT, OSCAR, geb. 1934, Prof. em. für Politikwissenschaft an der Universität Hannover SENGHAAS, DIETER, geb. 1940, Prof. fiir Politikwissenschaft an der Universität Bremen SIMONIS, UDO E., geb. 1937, Prof. am Wissenschaftszentrum Berlin fiir Sozialforschung