Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern [1 ed.] 9783428527540, 9783428127542

Lange Zeit haben die Gesetzgeber der Mitgliedstaaten die volle Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für das nationale Steue

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German Pages 209 Year 2008

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Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern [1 ed.]
 9783428527540, 9783428127542

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Schriften zum Europäischen Recht Band 138

Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern Von Ulf Lange

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

ULF LANGE

Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern

Schriften zum Europäischen Recht Herausgegeben von

Siegfried Magiera · Detlef Merten Matthias Niedobitek · Karl-Peter Sommermann

Band 138

Der Anspruch auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern

Von Ulf Lange

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Die Juristische Fakultät der Universität Passau hat diese Arbeit im Wintersemester 2007/2008 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

D 739 Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0937-6305 ISBN 978-3-428-12754-2 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinem Opa

Vorwort Lange Zeit wurde die volle Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für das nationale Steuerrecht von den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten nicht erkannt. Die fehlende Harmonisierungskompetenz der Gemeinschaft für die direkten Steuern wurde mit fehlender Gemeinschaftsrechtsbindung gleichgesetzt. Die jüngere Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zeigt nunmehr, dass dies eine folgenschwere Fehleinschätzung war. Sukzessive erklärt der Gerichtshof nationale Steuernormen für unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht. Damit einher geht die grundsätzliche Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Erstattung der gemeinschaftsrechtswidrig erhobenen Steuern. Steuerpflichtige, die in der Vergangenheit mit gemeinschaftsrechtswidrigen Steuern belastet wurden, wittern jetzt ihre Chance auf substantielle Steuererstattungen. Die Finanzminister sehen diese Entwicklung mit Sorge und malen die „Pleite der Staatshaushalte“ für den Fall der Verpflichtung zur Erstattung jahrelang zu Unrecht erhobener Steuern an die Wand. Allerdings besteht die Verpflichtung zur Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern nach nationalem Recht nicht grenzenlos. Sie wird vielmehr begrenzt durch das nationale Verfahrensrecht. Damit stellt sich sogleich die Frage, ob diese verfahrensrechtlichen Regelungen ihrerseits mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar sind. Ziel dieser Arbeit ist es, die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an das nationale Verfahrensrecht für Steuererstattungen herauszuarbeiten, die Rechtsprechung des Gerichtshofs kritisch zu würdigen und einen Vorschlag für eine klarere Dogmatik zu unterbreiten. Ich bedanke mich sehr herzlich bei Herrn Prof. Dr. Rainer Wernsmann für die Betreuung dieser Arbeit und bei Herrn Prof. Dr. Michael Schweitzer für die Erstellung des Zweitgutachtens. Zugleich geht mein Dank an Herrn Prof. Dr. Matthias Niedobitek und die anderen Herausgeber der Schriften zum Europäischen Recht für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Danken möchte ich vor allem aber auch meinen Eltern, meinem Großvater und meiner Tante für die Unterstützung während der Zeit, in der diese Arbeit entstand. Mein ganz besonderer Dank geht an Katrin Römer für so manche Inspiration und Ermutigung. Die Arbeit hat im Wintersemester 2007/2008 der Universität Passau als Dissertation vorgelegen und wurde mit dem Wissenschaftspreis der Universität Passau 2008 ausgezeichnet. Ulf Lange

Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einführung I.

Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärebene eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

17

19

II. Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Primärebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Tatbestand eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes auf Primärebene . . . . . . . . . a) Gemeinschaftsrecht als Steuerabwehrrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die unterschiedliche Regelungsdichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kollisionen im Bereich der direkten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Kollisionen im Bereich der indirekten Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtsfolge eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes auf Primärebene . . . . . . . . a) Inhalt des Vorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zeitliche Dimension des Vorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entscheidungen des EuGH als Auslegung des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Beschränkung der zeitlichen Reichweite durch den EuGH . . . . . . . .

20 20 21 22 23 23 24 24 25 27

III. Die Sekundärebene eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes auf Primärebene . . . .

31

27 30

Teil 2

I.

Die Sekundärebene des Gemeinschaftsrechts – Schranken für die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

32

Folgenbeseitigung als Gebot des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Nationales Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Verfassungsrechtliche Verankerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Folgenbeseitigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Erstattung von Steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Einfach-gesetzliche Ausgestaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32 33 33 33 36 38 38

10

Inhaltsverzeichnis bb) Der allgemeine Erstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der Erstattungsanspruch der Abgabenordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Der gemeinschaftsrechtliche Folgenbeseitigungsanspruch . . . . . . . . . . . . b) Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch als subjektives Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch als Anspruchsgrundlage? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. Verhältnis des gemeinschaftsrechtlichen zum nationalen Erstattungsrecht . . . . 1. Die Kompetenzverteilung im Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fehlende Gemeinschaftsregelungen zum Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . aa) Erstattungsrecht als Vollzug von Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . bb) Die Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Rechtliche Bedeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Kompetenz zur Regelung des Erstattungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) De lege lata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) De lege ferenda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Keine Immunität des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nationale Grenzen am Beispiel des deutschen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Entscheidung auf Grund Anfechtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Entscheidung auf Grund einer Änderungsnorm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Änderung von Verbrauchsteuerbescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Änderung von sonstigen Steuerbescheiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Änderung auf Antrag oder mit Zustimmung des Steuerpflichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Rückwirkende Ereignisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Nicht endgültige Steuerfestsetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Vorbehalt der Nachprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Vorläufige Steuerfestsetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zahlungsverjährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Auswirkungen in der Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Steuerpflichtige ohne betriebliche Einkünfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39 41 44 44 48 48 50 53 54 59 60 60 61 64 65 66 66 68 70 72 72 76 78 78 79 79 79 81 82 82 82 83 85 85 86 86

Inhaltsverzeichnis bb) Steuerpflichtige mit betrieblichen Einkünften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Verzahnung des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs mit dem nationalen Verfahrensrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Rechtsprechung des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Notwendigkeit einer Beschränkung der Verfahrensautonomie zum Schutz des Erstattungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Auftreten von Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten . . . . . . . . bb) Wirksamkeitsverlust des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot als Grenze der Verfahrensautonomie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Das Effektivitätsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Anwendungsbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Das Äquivalenzgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Herleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Veränderungsverbot als zusätzliche Grenze der Verfahrensautonomie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Fallgruppe „Rückwirkung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Fallgruppe „Urteil“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verhältnis der Fallgruppen zueinander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Vereinbarkeit mit dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot . . . . c) Zielkonflikt zwischen Effektivitäts- und Äquivalenzgebot . . . . . . . . . . . . d) Funktionsgrenzen des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots . . . . . . . . . . . 2. Die (versteckte) Dogmatik des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsrechts a) Bedürfnis für eine Konkretisierung des Maßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Konkretisierung des Maßstabs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Die Theorie des Zusammenwirkens als Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Die Theorie der Geltung des Anwendungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . (1) Modifikation des Anwendungsvorrangs bei indirekten Kollisionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Uneingeschränkter Anwendungsvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Die Grundfreiheiten als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Der Erstattungsanspruch als Maßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

11 87 87 88 88 88 89 91 92 93 95 95 101 101 103 103 105 105 106 108 111 111 113 114 116 116 119 119 120 123 124 125 128

IV. Die Prüfung von Verfahrensregelungen am gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsgebot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 1. Der Schutzbereich/Anwendungsbereich des Erstattungsanspruchs . . . . . . . . 130

12

Inhaltsverzeichnis 2. Beschränkungen des Erstattungsanspruchs – seine gleichheits- und freiheitsrechtliche Dimension . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die gleichheitsrechtliche Dimension – Äquivalenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Diskriminierung nach der Ursache des Erstattungsanspruchs . . . . . (1) Unmittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Mittelbare Diskriminierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Rückwirkende Verschärfung verfahrensrechtlicher Hürden . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die freiheitsrechtliche Dimension – Effektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Definition der Beschränkungen von Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . . bb) Übertragung auf Erstattungskonstellationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Beschränkungen des Erstattungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Zeitliche Grenzen (Fristen) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Verfahrensspezifische Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Sachliche Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (a) Änderungsnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Verzinsung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Abwälzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Rechtfertigung von Beschränkungen des Erstattungsgebots . . . . . . . . . . . . . a) Die Rechtfertigungsfähigkeit von Beschränkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Prüfungsprogramm der Rechtfertigungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten . . . . . . . . . . . . aa) Klassifizierung der Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Unterschiede im Rechtfertigungspotential . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Übertragbarkeit geschriebener Rechtfertigungsgründe . . . . . . . . . . . bb) Zwingende Gründe des Allgemeinwohls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Rechtssicherheit als zwingender Grund des Allgemeinwohls . . (2) Ordnungsgemäßer Verfahrensablauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Öffnung für eine Rechtfertigung durch weitere Rechtsgüter . . . (a) Sicherung der Haushaltsstabilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (aa) Abgrenzung zum Rechtsgut der Rechtssicherheit . . . . . (bb) Anerkennung des Schutzes der Haushaltsstabilität . . . . a) Sozialversicherungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschränkung der Urteilswirkungen auf Primärebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

132 136 136 138 139 141 142 143 144 145 145 147 149 149 149 152 154 154 154 156 158 159 159 160 161 161 163 165 165 166 168 171 173 173 174 175 176 177

Inhaltsverzeichnis

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g) Übertragbarkeit auf das Erstattungsrecht . . . . . . . . . d) Praktische Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (b) Gutgläubigkeit bei der Steuererhebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . (c) Kohärenz des nationalen Steuerrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranken-Schranke . . . . . . . . . . . . . . . a) Geeignetheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erforderlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Angemessenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Gewichtung des Erstattungsanspruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Gewichtung der gegenläufigen Rechtsgüter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Gemeinschaftsrechtliche Kontrolldichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

179 180 181 183 184 184 185 187 187 188 189 191 194

Teil 3 Ergebnis/Zusammenfassung

195

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

198

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

207

Abkürzungsverzeichnis ABl. Abs. AEAO AO Art. AStG BFH BGBl. BGH BT-Drs. BVerfG bzw. d.h. EGKS EGV EMRK EStDV EStG etc. EU EuGH EUV f./ff. FG FGO Fn. GG ggf. i. d. R. i.V. m. KStG lit. m.w. N. RAO Rn. Rs.

Amtsblatt Absatz Anwendungserlass zur Abgabenordnung Abgabenordnung Artikel Außensteuergesetz Bundesfinanzhof Bundesgesetzblatt Bundesgerichtshof Bundestagsdrucksache Bundesverfassungsgericht beziehungsweise das heißt Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft Europäische Menschenrechtskonvention Einkommensteuer-Durchführungsverordnung Einkommensteuergesetz et cetera Europäische Union Europäischer Gerichtshof Vertrag über die Europäische Union folgende Finanzgericht Finanzgerichtsordnung Fußnote Grundgesetz gegebenenfalls in der Regel in Verbindung mit Körperschaftsteuergesetz Buchstabe mit weiteren Nachweisen Reichsabgabenordnung Randnummer Rechtssache

Abkürzungsverzeichnis S. SEStEG

StAnpG UmwStG vgl. VwGO VwVfG

15

Seite Gesetz über steuerliche Begleitmaßnahmen zur Einführung der Europäischen Gesellschaft und zur Änderung weiterer steuerrechtlicher Vorschriften Steueranpassungsgesetz Umwandlungsteuergesetz vergleiche Verwaltungsgerichtsordnung Verwaltungsverfahrensgesetz

Teil 1

Einführung Sowohl in der juristischen Fachliteratur als auch in der Öffentlichkeit wird der wachsende Einfluss des Europarechts auf das Steuerrecht festgestellt und – je nach persönlicher Einstellung zur Europäischen Union und ihrem Rechtssystem – entweder bedauert oder begrüßt. Anlass für diese verstärkte Wahrnehmung sind einige Aufsehen erregende Urteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die es auch außerhalb der Fachliteratur zu einiger Bekanntheit gebracht haben. Aus jüngerer Zeit sind vor allem das Urteil zur Verlustverrechnung in Konzernen in der Rs. Marks & Spencer,1 das Urteil Manninen2 zur Körperschaftsteueranrechnung in Finnland bzw. dessen Folgeurteil in der Rs. Meilicke3 zur Anrechnung in Deutschland oder das Urteil Cadbury Schweppes4 zur Hinzurechnungsbesteuerung zu nennen. Die Entscheidungen sind nicht nur für das Steuerrecht der Zukunft von Bedeutung und bereiten den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten große Schwierigkeiten, ihr jeweiliges nationales Steuerrecht gemeinschaftsrechtskonform auszugestalten.5 Zugleich nähren sie auch Hoffnungen der Steuerpflichtigen auf Rückzahlung erheblicher Steuerbeträge, die in der Vergangenheit auf der Basis der nun als gemeinschaftsrechtswidrig erkannten Steuernormen erhoben worden sind. Häufig wird diese Hoffnung jedoch enttäuscht. Auch wenn die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung feststeht, bedeutet dies nicht zwingend, dass der Steuerpflichtige diese Steuer erstattet bekommt. Häufig wird das Erstattungsbegehren an nationalen Verfahrensvorschriften scheitern.

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EuGH, Urteil vom 13.12.2005, C-446/03, Slg. 2005, I-10837 – Marks & Spencer. EuGH, Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477 – Manninen. 3 EuGH, Urteil vom 6.3.2007, C-292/04, Slg. 2007, I-1835 – Meilicke. 4 EuGH, Urteil vom 12.9.2006, C-196/04, Slg. 2006, I-7995 – Cadbury Schweppes. 5 Williams, S. 3 f., stellt anschaulich die Zwänge für die Gesetzgeber dar: Neben den klassischen Zielen der Sicherung des Steueraufkommens bei gleichzeitiger Akzeptanz des Steuerrechts bei den Steuerpflichtigen sind in letzter Zeit verstärkt auch der internationale Steuerwettbewerb und die Gemeinschaftsrechtskonformität des Steuerrechts sicherzustellen. 2

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Teil 1: Einführung

Die vorliegende Untersuchung verfolgt das Ziel, die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben für die Ausgestaltung des nationalen Verfahrensrechts herauszuarbeiten. Dazu wird zunächst untersucht, ob die Pflicht zur Erstattung und das Recht auf Erstattung eine gemeinschaftsrechtliche Basis haben. Es wird gezeigt werden, dass sich dem Gemeinschaftsrecht eine Erstattungspflicht und ein korrespondierendes Erstattungsrecht entnehmen lässt, ohne dass es eine Anspruchsgrundlage für einen Erstattungsantrag zur Verfügung stellt. Dies liegt auch darin begründet, dass der Gemeinschaft keine Kompetenz für eine umfassende Kodifikation des Erstattungsverfahrens zukommt. Vielmehr steht den Mitgliedstaaten hier eine autonome Regelungsbefugnis zu. Beispielhaft werden dann die verfahrensrechtlichen Grenzen der Erstattung, die sich dem deutschen Steuerrecht entnehmen lassen, dargestellt. Sie zeigen, in welcher Form Deutschland auf diesem Gebiet seine Autonomie wahrgenommen hat. Hier wird deutlich, dass das deusche Verfahrensrecht bei der Rückabwicklung rechtswidriger Steuererhebungen nicht nach der Ursache der Rechtswidrigkeit unterscheidet. Unabhängig davon, ob die Rechtswidrigkeit aus einem Verstoß gegen nationale oder gemeinschaftsrechtliche Normen folgt, gelten enge zeiliche Grenzen, innerhalb derer ein Rechtsverstoß vom Betroffenen gerügt werden muss. Änderungen zu Gunsten des Steuerpflichtigen von Amts wegen sind eine seltene Ausnahme. Ausgehend von dem Befund, dass das Erstattungsverfahren von allen Mitgliedstaaten autonom geregelt wird und nicht harmonisiert ist, wird dann die Frage gestellt, ob und welche Grenzen der Autonomie der Mitgliedstaaten aus dem Gemeinschaftsrecht ableitbar sind. Ausgangspunkt ist die Rechtsprechung des EuGH, der über Jahrzehnte die Grundsätze des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots als Grenzen der Verfahrensautonomie etabliert hat. Demnach geht die Autonomie der Mitgliedstaaten nicht so weit, dass sie diskriminierende Regelungen erlassen dürften oder dass sie das Verfahrensrecht so ausgestalten, dass eine Erstattung übermäßig erschwert würde. Diese Rechtsprechung wird vor allem im Hinblick auf ihre geringe Transparenz und Vorhersagbarkeit einer kritischen Würdigung unterzogen. In einem letzten Schritt wird daher vorgeschlagen, den Spielraum der Mitgliedstaaten nicht einem abstrakten Effektivitäts- und Äquivalenzgebot zu entnehmen, sondern ihn aus der Auslegung des Gemeinschaftsrechts zu gewinnen. Maßstab kann der Erstattungsanspruch selbst sein, der auf Grund seiner Verwurzelung im Gemeinschaftsrecht ausreichenden materiellen Gehalt hat, um eine fundierte Prüfung zu erlauben. Dazu wird ein Prüfungsaufbau vorgeschlagen, der eng an die Grundfreiheitsprüfung angelehnt ist. Dies ermöglicht es, den gleichheits- und freiheitsrechtlichen Gehalt des Erstattungsanspruchs zu betonen. Schließlich wird auf der Ebene der Rechtfertigung eine Öffnung für neue

I. Primär- und Sekundärebene eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes

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Rechtfertigungsgründe gefordert. Beispielsweise ist der Schutz der Funktionsfähigkeit der Staatshaushalte im Gemeinschaftsrecht durchaus anerkannt; als Rechtfertigung für Erstattungsbegrenzungen wird er aber bislang kategorisch zurückgewiesen. Den Schlusspunkt der Prüfung nationalen Verfahrensrechts am Erstattungsanspruch bildet die Verhältnismäßigkeitsprüfung.

I. Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärebene eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes Bemerkenswert ist, dass die Europäische Gemeinschaft im Steuerrecht weniger durch Harmonisierungsmaßnahmen in das öffentliche Bewusstsein eingedrungen ist,6 als vielmehr durch wegweisende Entscheidungen des EuGH. Während etwa im Agrarrecht oder im Verbraucherschutzrecht der Rat (ggf. in Zusammenarbeit mit anderen Gemeinschaftsorganen) durch neue Verordnungen und Richtlinien die entscheidende Rolle spielt, geht der europäische Impetus im Steuerrecht von der Judikative aus. Im Fokus der Beachtung stehen dabei Entscheidungen wie die oben erwähnten, in denen über die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das materielle, nationale Steuerrecht entschieden wird. Zumeist ergehen diese Entscheidungen auf Grund von Vorabentscheidungsersuchen der mitgliedstaatlichen Gerichte (Art. 234 EGV); verhältnismäßig selten geht der Anstoß von der Kommission durch Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens (Art. 226 EGV) aus. Bei einem Vorabentscheidungsverfahren hat das vorlegende Gericht – nachdem das Gemeinschaftsrecht durch den EuGH ausgelegt wurde – auf der Basis dieser Auslegung über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der nationalen Steuererhebung zu entscheiden. Solche Entscheidungen über die Vereinbarkeit nationaler Steuererhebung mit dem Gemeinschaftsrecht ergehen auf der Primärebene des Verhältnisses zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Steuerrecht. Steht auf Grund einer Entscheidung zur Primärebene fest, dass eine bestimmte Art und Weise der mitgliedstaatlichen Steuererhebung nicht mit dem Gemeinschaftsrecht zu vereinbaren ist, werden häufig eine Vielzahl von Folgeverfahren vor den mitgliedstaatlichen Behörden und Gerichten angestrengt, mit denen solche Steuerpflichtige, die nicht an dem Ausgangsverfahren beteiligt waren, versuchen, in der Vergangenheit gezahlte Steuern erstattet zu bekommen. Beispiele hierfür liefern wiederum die oben erwähnten Urteile des EuGH. Die Finanzbehörden sehen sich auf Grund der Rs. Marks & Spencer mit einer 6 Trotz der erheblichen Auswirkungen der 6. Mehrwertsteuerrichtlinie (nunmehr Mehrwertsteuer-Systemrichtlinie), die das System der Umsatzsteuer nachhaltig beeinflusst, ist es weitgehend unbemerkt geblieben, dass Umsatzsteuerrecht im Kern europäisches Recht ist.

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Teil 1: Einführung

Vielzahl von Anträgen auf Berücksichtigung von Verlusten ausländischer Tochtergesellschaften, auf Grund von Cadbury Schweppes mit zahlreichen Anträgen auf Nichthinzurechnung von Einkünften von Zwischengesellschaften und auf Grund der Rs. Meilicke mit einer Vielzahl von Anträgen auf Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuern konfrontiert.7 Alle Anträge zielen auf eine Reduzierung der Einkommen- bzw. Körperschaftsteuerfestsetzung und eine entsprechende Erstattung zu viel gezahlter Steuern ab. Die Grenze für die Erfolgsaussichten solcher Anträge werden nicht durch das materielle Recht – darüber wurde auf Primärebene bereits entschieden –, sondern durch das Verfahrensrecht gezogen. Auseinandersetzungen zwischen den Steuerpflichtigen und den Finanzbehörden über die Erstattung von Steuern, die auf der Grundlage einer gemeinschaftsrechtswidrigen Steuernorm gezahlt wurden, können als Streitigkeiten auf Sekundärebene bezeichnet werden. Denkbar sind schließlich auch Versuche von Steuerpflichtigen, Schadensersatzansprüche aus Staatshaftung geltend zu machen. Mitunter kann die rechtswidrige Erhebung einer Steuer zu einem Schaden des Steuerpflichtigen führen, der über die zu Unrecht gezahlte Steuer hinausgeht. Ein Beispiel dafür wäre der Schaden eines Produzenten, den er durch den Absatzeinbruch eines Produktes erleidet, das mit einer gemeinschaftsrechtswidrigen Steuer belastet ist und deshalb von den Kunden nicht mehr nachgefragt wird. Die Forderung nach Schadensersatz entspringt der Tertiärebene der Steuererhebung.8

II. Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Primärebene Auf der Primärebene – also dem Verhältnis des Gemeinschaftsrechts zum materiellen Steuerrecht – ist zwischen dem Tatbestand und der Rechtsfolge eines Verstoßes zu unterscheiden. 1. Tatbestand eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes auf Primärebene Auf der Tatbestandsseite ist zu untersuchen, ob das Gemeinschaftsrecht und das materielle Steuerrecht kollidieren. Dazu kommt es, wenn Gemeinschafts7

Meilicke/Sedemund, DB 2005, 2040. Nach der Rechtsprechung des EuGH stehen Sekundär- und Tertiärebene nebeneinander. Für beide gelten eigenständige Voraussetzungen. Liegen die Voraussetzungen der einen Ebene vor, schließt das nicht die Einschlägigkeit auch der anderen Ebene aus; vgl. Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 34. de Weerth, DB 2005, S. 1407 (1411 f.), diskutiert etwa die Geltendmachung von Ansprüchen aus Staatshaftung im Zusammenhang mit der Rs. Meilicke (Urteil vom 6.3.2007, C-292/04, Slg. 2007, I-1835), geht aber davon aus, dass es an einem hinreichend qualifizierten Verstoß fehlt. Zur Abgrenzung der unterschiedlichen Anspruchsrichtungen vgl. unten S. 130. 8

II. Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Primärebene

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recht und nationales Recht dieselbe Rechtsfrage regeln und dabei von den Rechtsfolgen her in einem unmittelbaren Widerspruch zueinander stehen.9 Für die Untersuchung, ob das Gemeinschaftsrecht mit nationalem Steuerrecht kollidiert, gilt vom Grundsatz her das gleiche wie für Kollisionen im allgemeinen Recht.10 Dabei weisen steuerrechtliche Auseinandersetzungen allerdings zwei Besonderheiten auf. Zum einen treten Rechtsstreitigkeiten immer als Steuerabwehrstreitigkeiten im Verhältnis Bürger bzw. Steuerpflichtiger gegen den Staat auf, zum anderen kollidiert im Bereich des Rechts der direkten Steuern sehr konkretes materielles Recht mit sehr abstraktem Gemeinschaftsrecht, während im Recht der indirekten Steuern konkretes nationales Recht auf konkretes Gemeinschaftsrecht trifft. a) Gemeinschaftsrecht als Steuerabwehrrecht Steuerrecht ist Eingriffsrecht, durch das der Staat dem Einzelnen einseitig Pflichten auferlegt (vgl. auch § 3 AO). Ziel des Steuerpflichtigen ist es daher regelmäßig, sich gegen die Inpflichtnahme und damit gegen die Belastung zu wehren. Streitigkeiten zwischen Privaten spielen im Steuerrecht hingegen praktisch keine Rolle. Zugleich wirken die Grundfreiheiten – die vor allem bei den direkten Steuern wegen weitgehend fehlender Harmonisierung die dominierende Rolle spielen – als Abwehrrechte gegen den Staat.11 Auf den ersten Blick könnte man somit den Eindruck gewinnen, die Grundfreiheiten stritten immer nur auf der Seite des Steuerpflichtigen. Dies trifft auf Rechtsstreitigkeiten, in denen ein Steuerpflichtiger eine Steuerbelastung abwehren möchte, auch zu. Der EuGH wird im (für den Steuerpflichtigen) ungünstigsten Fall die nationale Norm für mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar erklären mit der Folge, dass die Belastung rechtmäßig und damit vom Steuerpflichtigen hinzunehmen ist. Rechtsstreitigkeiten in diesem Bereich sind somit immer Steuerabwehrstreitigkeiten. Dies hat Stimmen in der Literatur veranlasst, das „so genannte ,Europäische‘ Steuerrecht“ als Steuerabwehrrecht oder „power to prevent taxation“ zu bezeichnen.12 Tatsächlich kann von den Grundfreiheiten kein positiv gestaltender Impuls ausgehen, da ihnen – entsprechend ihrer Eigenschaft als Schutz- und

9 So im Wesentlichen die Voraussetzungen für eine Kollision; vgl. die Nachweise in Fußnote 472. 10 Vgl. Herdegen, § 11, Rn. 1 ff. 11 Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 18 ff.; Herdegen, § 15, Rn. 10. Umfassend Cordewener, Grundfreiheiten. 12 Birk, FR 2005, S. 121 (127) und Williams, S. 2.

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Teil 1: Einführung

Abwehrrechte – nur entnommen werden kann, welche nationalen Regelungen unzulässig sind.13 Nicht übersehen werden darf allerdings, dass der Gesetzgeber nach Maßgabe der Grundfreiheiten gezwungen ist, sein Steuerrecht zu modifizieren, ohne dass die Grundfreiheiten die Richtung dieser Anpassung vorgeben. Das Gebot eines diskriminierungsfreien Steuerrechts kann sowohl durch die Aufhebung der Belastung für alle, aber auch durch die Ausdehnung der Belastung auf alle erfüllt werden. Dass der Gesetzgeber sich dieser Handlungsmöglichkeit in verstärktem Maße bewusst wird, zeigt die Reaktion auf die Entscheidung in der Sache Lankhorst-Hohorst,14 durch die der Anwendungsbereich des belastenden § 8a KStG kurzerhand auch auf Inlandssachverhalte ausgedehnt wurde. Gleiches gilt auch für den seit kurzem angeordneten Untergang von Verlustvorträgen bei Verschmelzungen (§ 12 Abs. 3 UmwStG) oder die geplante Steuerpflicht von Portfoliodividenden bei Körperschaften als Reaktion auf die befürchtete Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Kapitalertragsteuer auf Dividenden.15 Nicht immer folgen aus der Pflicht zur Beachtung der Grundfreiheiten daher dauerhafte Steuererleichterungen. Vielmehr führen viele Entscheidungen zwar kurzfristig zu Vorteilen für Steuerpflichtige, mittelfristig wird der Finanzbedarf des Staates durch Belastungsverlagerungen wieder gedeckt.16 b) Die unterschiedliche Regelungsdichte Eine Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EuGH zum Steuerrecht zeigt, dass Entscheidungen zum Recht der direkten Steuern einen völlig anderen Charakter haben als Entscheidungen zum Recht der indirekten Steuern.

13 Dies könnte man als „negative Integration“ bezeichnen und damit der Harmonisierung als „positiver Integration“ gegenüberstellen. 14 EuGH, Urteil vom 12.12.2002, C-324/00, Slg. 2002, I-11779 – Lankhorst-Hohorst. Die Umqualifizierung von Zins- in Dividendenzahlungen bei Gesellschafterfremdfinanzierungen fand ursprünglich nur bei Zahlungen an ausländische Gesellschafter Anwendung. Der Anwendungsbereich des § 8a KStG wurde in Folge der EuGH-Entscheidung dann auf Inlandskonstellationen ausgedehnt. 15 Auf Grund der Fusionsrichtlinie musste der Gesetzgeber grenzüberschreitende Verschmelzungen innerhalb der EU zulassen. Wegen der Befürchtung, ausländische Verluste könnten in die Bundesrepublik „hineinverschmolzen“ werden, wurde der Übergang von Verlustvorträgen grundsätzlich ausgeschlossen; Änderung des § 12 Abs. 3 UmwStG durch das SEStEG. 16 Williams, S. 2: „Given that states must raise taxes, the consequence of the EC power to prevent taxes is that other taxes must be raised.“ Im Ergebnis gilt hier für das gemeinschaftsrechtliche Diskriminierungsverbot das Gleiche wie für den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG: Beide Gebote sind ergebnisoffen; vgl. im Einzelnen zu den Reaktionsmöglichkeiten des Gesetzgebers bei der Feststellung der Gleichheitswidrigkeit eines Gesetzes Wernsmann, etwa S. 305.

II. Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Primärebene

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aa) Kollisionen im Bereich der direkten Steuern Die Regelungsdichte des Sekundärrechts im Bereich der direkten Steuern ist gering. Nur wenige Harmonisierungsrichtlinien sind hier von Bedeutung.17 Diese wiederum geben eher selten Anlass zu Entscheidungen des EuGH. Das Primärrecht enthält keine spezifischen Regelungen zu den direkten Steuern,18 so dass die Grundfreiheiten hier eine überragende Bedeutung haben. Rechtsstreitigkeiten über die Auswirkungen des Gemeinschaftsrechts auf das nationale materielle Steuerrecht spielen sich daher notwendig auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau ab. Die vorlegenden Gerichte fragen in der Regel nicht wegen Detailvorschriften nach der Auslegung des Gemeinschaftsrechts, sondern stellen häufig inzident das geltende Besteuerungssystem als Ganzes in Frage. Das zeigen auch die oben erwähnten Entscheidungen Manninen/Meilicke, Marks & Spencer oder Cadbury Schweppes und viele andere mehr. Allen Urteilen ist gemein, dass sie als Grundsatzentscheidungen einzuordnen sind, deren Bedeutung weit über den konkret zu entscheidenden Einzelfall hinausweist. So wird auf Grund von Marks & Spencer diskutiert, ob das deutsche Organschaftssystem (§§ 14 ff. KStG) grundlegend umzustellen ist oder es wird in der Folge von Cadbury Schweppes die Aufgabe der Hinzurechnungsbesteuerung (§§ 7 ff. AStG) gefordert. Die Zahl dieser Verfahren ist jedoch verhältnismäßig gering, da Kollisionen des nationalen Steuerrechts mit den sehr abstrakten Grundfreiheiten nicht klar auf der Hand liegen. Der Steuerpflichtige, der eine Belastung mit der Begründung eines Verstoßes gegen Primärrecht anficht, trägt ein erhebliches Prozessund damit auch Kostenrisiko. Gerade, wenn es um für den Einzelnen geringe Streitwerte geht, ist ein gewisser Pioniergeist erforderlich.19 bb) Kollisionen im Bereich der indirekten Steuern Auf Grund des höheren Harmonisierungsgrades des Rechts der indirekten Steuern sind Rechtsstreitigkeiten auf diesem Gebiet ungleich häufiger,20 dafür aber weniger grundlegender Natur. Im Regelfall wird dem EuGH hier die Frage 17 Mutter/Tochter-Richtlinie (90/435/EWG, ABl. L 225 vom 20.08.1990), Zins- und Lizenzgebühren-Richtlinie (2003/49/EG, ABl. L 157 vom 26.06.2003), Fusions-Richtlinie (90/434/EWG, ABl. L 225 vom 20.08.1990). 18 Die „Steuerlichen Vorschriften“ der Art. 90 ff. EGV betreffen nur indirekte Steuern. Angesprochen sind die direkten Steuern allenfalls in Art. 293, 2. Spiegelstrich EGV mit der Verpflichtung der Mitgliedstaaten, auf eine Beseitigung der Doppelbesteuerung hinzuwirken. Vgl. auch Birk, FR 2005, S. 121; Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 60. 19 Auch hier ist die Situation mit verfassungsrechtlichen Streitigkeiten auf nationaler Ebene vergleichbar. Bei einer strengen Kosten/Nutzen-Analyse müsste ein Kläger die Rechtsverfolgung häufig aufgeben und die Belastung hinnehmen.

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vorgelegt, ob Richtlinien korrekt und vollständig umgesetzt wurden. Oftmals betrifft dies nur Detailfragen, die für den einzelnen Steuerpflichtigen zwar von hoher wirtschaftlicher Bedeutung sein können, insgesamt aber eine geringe Breitenwirkung aufweisen. Ein Konflikt zwischen der Formulierung des nationalen Rechts und einem Sekundärrechtsakt lässt sich zumeist relativ schnell erkennen; das Abstraktionsniveau solcher Rechtsstreitigkeiten ist erheblich geringer und die Bereitschaft der Gerichte, solche „klaren“ Widersprüche dem EuGH vorzulegen, wesentlich größer. c) Folgerungen Es lässt sich festhalten, dass das Maß der Harmonisierung den Charakter der Streitigkeiten vor dem EuGH bestimmt. Ein hoher Harmonisierungsgrad mit umfangreichen Sekundärrechtsakten gibt Anlass zu einer Vielzahl von Auslegungsstreitigkeiten, die aber nur eine begrenzte Breitenwirkung aufweisen. Im Steuerrecht trifft dies insbesondere auf das Recht der indirekten Steuern zu. Ein geringes Maß an Harmonisierung führt dazu, dass die Zahl der Kollisionen abnimmt. Maßstab für eine Überprüfung am Gemeinschaftsrecht ist dann nur das Primärrecht, das nur wenige, aber sehr abstrakte Regelungen – insbesondere bei den Grundfreiheiten – enthält. Diese wenigen Kollisionen haben aber wegen ihres grundlegenden Charakters eine hohe Sprengkraft. Vor allem hier schlummert die von Weber-Grellet erkannte „europäische Zeitbombe“.21 2. Rechtsfolge eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes auf Primärebene Liegt eine Kollision zwischen nationalem materiellem Recht und Gemeinschaftsrecht vor, stellt sich die Frage, welche Rechtsfolge dies auslöst. Eine dem Art. 31 GG vergleichbare Regelung enthält das Gemeinschaftsrecht nicht.22 Die Rangfrage ist lediglich in Art. 83 Abs. 2 lit. e EGV angesprochen, der für das Wettbewerbsrecht eine Ermächtigung zur Regelung der Konkurrenzfrage enthält. Trotz fehlender Normierung ist der Vorrang des Gemeinschaftsrechts heute unbestritten.23 Der EuGH hat ihn bereits sehr frühzeitig für sich in Anspruch 20 Das belegt auch eine quantitative Analyse der „Liste der beim Bundesfinanzhof, Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof anhängigen Verfahren in Steuersachen“, die regelmäßig als Beilage zum Bundessteuerblatt veröffentlicht wird. 21 Weber-Grellet, S. 141. 22 Eine entsprechende Anwendung wurde von Grabitz, S. 11 ff. und 113, in seiner Dissertation vorgeschlagen. Der Ansatz hat sich aber nicht durchgesetzt. 23 Vgl. schon EuGH, Urteil vom 9.3.1978, 106/77, Slg. 1978, 629 – Simmenthal, Rn. 17/18. Aus der Literatur Oppermann, § 7, Rn. 1; Di Fabio, NJW 1990, S. 947 (950); Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 220 EGV, Rn. 27.

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genommen. Seit der Entscheidung Costa/ENEL24 leitet er den Vorrang aus dem Charakter des E(W)G-Vertrags als einer „eigenen Rechtsordnung“ ab, der kein nationales Recht vorgehen kann, „wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“25 Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Rechtsprechung im Ergebnis angeschlossen.26 Es hat dem Anspruch auf Vorrang des Gemeinschaftsrechts zum Durchbruch verholfen, indem es in den Zustimmungsgesetzen einen Rechtsanwendungsbefehl bezüglich des Gemeinschaftsrechts für die Bundesrepublik Deutschland gesehen hat. Über diesen Weg hat der deutsche Gesetzgeber die nationale Rechtsordnung für den Einfluss des Gemeinschaftsrechts geöffnet. Damit hat das Bundesverfassungsgericht eine aus der Sicht des deutschen Verfassungsrechts dogmatisch saubere Lösung für die Herleitung des Vorrangs gefunden. Der sehr pragmatischen Lösung des EuGH ist aber zuzugeben, dass sich der Gerichtshof einer sehr heterogenen Verfassungslage in den Mitgliedstaaten gegenübersah und daher gezwungen war, den Vorrang aus dem Gemeinschaftsrecht selbst herzuleiten, wollte er nicht die gemeinschaftsweite Verbindlichkeit des Gemeinschaftsrechts riskieren. Mittlerweile findet sich eine normative Grundlage des Vorrangs in Ziffer 2 des Protokolls über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit von 1997.27 a) Inhalt des Vorrangs Noch immer wird diskutiert, ob der Vorrang im Sinne eines Anwendungsoder eines Geltungsvorrangs zu verstehen ist. Während ersteres die kollidierende nationale Norm in ihrem Bestand unberührt lässt und sie lediglich im Konfliktfall nicht angewendet werden kann, führt der Geltungsvorrang zur Nichtigkeit der nationalen Norm.28 Der EuGH hat sich spätestens 1998 zur Theorie des Anwendungsvorrangs bekannt und ausgeführt, dass die nationale Norm gerade nicht inexistent ist,

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EuGH, Urteil vom 15.7.1964, 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/ENEL, S. 1269. EuGH, Urteil vom 15.7.1964, 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/ENEL, S. 1270. Die Schwäche der Herleitung liegt darin, dass sie sich in einem argumentum ad absurdum erschöpft. Dabei besteht die Gefahr, dass das behauptete „absurde“ Ergebnis nicht von allen als absurd empfunden wird. 26 BVerfG, BVerfGE 73, S. 339 (375) – Solange II. Dazu zustimmend Scheuner, AöR 1975 [100], S. 30 (43 ff.). 27 BGBl. II 1998, 434. 28 Dies wäre die Folge einer entsprechenden Anwendung des Art. 31 GG, wie sie von Grabitz vorgeschlagen worden ist, gewesen. 25

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sondern nur unangewendet bleiben muss.29 Auch die Literatur folgt heute fast ausschließlich der Theorie des Anwendungsvorrangs.30 Herdegen31 führt hierfür drei Argumente an. Erstens sei der Anwendungsvorrang ausreichend, um dem Primat des Gemeinschaftsrechts Genüge zu tun; zweitens könne die Kollision durch Änderung des Gemeinschaftsrechts entfallen, dann bestünden keine Bedenken gegen ein Wiederaufleben des nationalen Rechts und schließlich sei die Wirksamkeit der nationalen Norm gemeinschaftsrechtlich unbedenklich, wenn nur ein Drittstaatensachverhalt oder ein Inlandssachverhalt betroffen sei. Diese drei Argumente lassen sich auf den Gedanken der Verhältnismäßigkeit reduzieren: Die Rechtsfolgen einer Kollision dürfen nicht gravierender sein, als dies erforderlich ist, um die Kollision zu beseitigen. Der Gedanke der Verhältnismäßigkeit, der im Gemeinschaftsrecht selbst verankert ist,32 lässt die nationale Rechtsordnung möglichst weitgehend unberührt, verhilft aber doch dem Gemeinschaftsrecht zur maximalen Wirkung.33 Gerade für das Steuerrecht ist die Diskussion nicht ohne Bedeutung, da eine Vielzahl von Normen neben vielen rein innerstaatlichen Sachverhalten auch grenzüberschreitende Sachverhalte regeln. Sollte die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Norm zu ihrer Unwirksamkeit führen, wären davon auch alle rein innerstaatlichen Sachverhalte betroffen. Die Breitenwirkung einer möglichen Gemeinschaftsrechtswidrigkeit wäre um ein Vielfaches größer.34 29 EuGH, Urteil vom 22.10.1998, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 – IN.CO.GE.’90, Rn. 21. Weniger eindeutig waren noch die Aussagen im Urteil vom 7.2.1991, C-184/89, Slg. 1991, I-297 – Nimz, Rn. 20 f. Dazu Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), S. 154 (161). Zuvor konnte die Aussage im Urteil vom 9.3.1978, 106/77, Slg. 1978, 629 – Simmenthal, Rn. 17/18, wonach gemeinschaftsrechtswidrigen nationalen Normen nicht „irgendeine rechtliche Wirksamkeit zuerkannt“ werden dürfe, noch im Sinne eines Geltungsvorrangs verstanden werden. Mit der Beschränkung auf einen Anwendungsvorrang folgte der EuGH der von Ipsen sehr früh vorgeschlagenen Lösung, vgl. Komendera, S. 84. Siehe auch Zuleeg, S. 136 ff., Hahn, DStZ 2003, S. 489 (492). 30 Beispielsweise Ehlers, DVBl 1991, S. 605 (608); Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 56; Stern, Staatsrecht I, § 15 III 3; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), S. 154 (161); Hahn, DStZ 2003, S. 489 (492). Sehr früh schon Scheuner, AöR 100 [1975], S. 30 (39), mit der Begründung, dass es sich um zwei nebeneinander stehende Rechtsordnungen handle, bei der keine die Ungültigkeit von Bestimmungen der jeweils anderen auslösen könne. 31 Herdegen, § 11, Rn. 3. 32 Anerkannt seit EuGH, Urteil vom 29.11.1956, 8/55, Slg. 1955/1956, 297 – Fédéchar, S. 311. Dort wird er als ein „allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts“ bezeichnet. So auch in jüngerer Zeit, Urteil vom 11.1.2000, C-285/98, Slg. 2000, I-69 – Tanja Kreil, Rn. 23. Vgl. auch Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 88. 33 In diese Richtung auch Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), S. 154 (161 f.). Ruffert, in: Calliess/Ruffert, Art. 249 EGV, Rn. 24 betont demgegenüber unter Berufung auf das Urteil vom 11.10.1983, 273/82, Slg. 1984, 483 – Jongeneel Kaas, Rn. 6, die fehlende Befugnis des EuGH, über die Geltung mitgliedstaatlichen Rechts zu judizieren.

II. Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Primärebene

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Mit der überwiegend vertretenen Literaturauffassung und der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist aber davon auszugehen, dass Gemeinschaftsrecht Anwendungsvorrang vor nationalem Recht genießt, wobei es auf dessen Rang in der innerstaatlichen Normenhierarchie nicht ankommt.35 b) Zeitliche Dimension des Vorrangs aa) Entscheidungen des EuGH als Auslegung des Gemeinschaftsrechts Sobald Gemeinschaftsrecht unmittelbar anwendbar wird, verdrängt es entgegenstehendes nationales Recht.36 Die Geltung des Gemeinschaftsrechts kann auch nicht durch den späteren Erlass nationalen Rechts wieder beseitigt werden,37 da die Regel des lex posterior derogat legi priori in diesem Verhältnis keine Anwendung findet.38 Der nationale Gesetzgeber hat es damit nicht in der Hand, durch den späteren Erlass nationalen Rechts das Gemeinschaftsrecht auszuhöhlen. Daraus folgt zugleich, dass der Anwendungsvorrang keine Einschränkung in zeitlicher Hinsicht enthält. Die Verdrängung findet statt, sobald die Kollisionslage auftritt. Am Beispiel der Grundfreiheiten bedeutet dies, dass sie nationalem Recht vorgehen, seit sie unmittelbar anwendbar geworden sind; im Falle der Niederlassungsfreiheit etwa mit Ablauf der Übergangsfrist am 31.12.1969.39 An der zeitlichen Reichweite einer Kollision ändert sich auch dann nichts, wenn die Kollision zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht erst später durch ein Urteil des EuGH aufgedeckt wird. Die fehlende (Er-)Kenntnis 34 Bei der Theorie des Geltungsvorrangs stellt sich die Folgefrage, ob der Kläger in einem Rechtsstreit, der einen rein innerstaatlichen Sachverhalt betrifft, sich auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Norm in einem abstrakten grenzüberschreitenden Sachverhalt berufen könnte. Die Frage wäre wohl zu bejahen, da die Norm auch ohne konkretes Anwendungsbeispiel unwirksam wäre und eine darauf gestützte Steuererhebung den Steuerpflichtigen in seinen Rechten verletzte. 35 EuGH, Urteil vom 17.12.1970, 11/70, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft, Leitsatz 1; Urteil vom 11.1.2000, C-285/98, Slg. 2000, I-69 – Tanja Kreil, Rn. 32. 36 „Unmittelbare Geltung bedeutet unter diesem Blickwinkel, dass die Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten“; EuGH, Urteil vom 9.3.1978, 106/77, Slg. 1978, 629 – Simmenthal, Rn. 14/16. 37 EuGH, Urteil vom 22.10.1998, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 – IN.CO.GE’90, Rn. 18; Urteil vom 9.3.1978, 106/77, Slg. 1978, 629 – Simmenthal, Leitsatz 3. 38 Grabitz, S. 55. 39 Geiger, Art. 43 EGV, Rn. 3.

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Teil 1: Einführung

der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit steht der Unanwendbarkeit einer Norm nicht entgegen. Der EuGH weist hierauf regelmäßig mit der Formulierung hin, dass „durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts durch den Gerichtshof im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens (. . .) erläutert und gegebenenfalls verdeutlicht [wird], in welchem Sinn und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre.“40 Mitunter wird erst nach Jahrzehnten aufgedeckt, dass eine nationale Norm bislang „unerkannt gemeinschaftsrechtswidrig“ war.41 Ausdrücklich stellt der EuGH fest, dass eine von ihm ausgelegte Bestimmung des Gemeinschaftsrechts von einer Verwaltungsbehörde auch auf Rechtsbeziehungen anzuwenden ist, die vor dem Erlass einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes entstanden sind.42 Den Urteilen des EuGH kommt damit regelmäßig Wirkung auch für die Vergangenheit zu.43 Der EuGH bezeichnet das Prinzip selbst als „Grundsatz der Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen“.44 Verschärft wird dies dadurch, dass durch die Rechtsprechung des EuGH ständig neue Aspekte des Schutzbereichs der Grundfreiheiten entdeckt werden.45 Damit geraten Normen in den Fokus der Betrachtung, deren Europarechtswidrigkeit vor einigen Jahren niemand ernstlich in Betracht gezogen hätte.46 40 EuGH, Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 16; Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 36; Urteil vom 13.1.2004, C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz, Rn. 21; Urteil vom 10.2. 2000, C-50/96, Slg. 2000, I-743 – Deutsche Telekom, Rn. 43; Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 10; Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I-1883 – BP Soupergaz, Rn. 39. 41 Auf diese zeitliche Streckung weist auch Eilmansberger, S. 118 f., Fußnote 394, hin. 42 EuGH, Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 10; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 15; Urteil vom 13.1.2004, C-453/ 00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz, Rn. 22; Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 16; Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I-1883 – BP Soupergaz, Rn. 42; Vaulont, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 25 EGV, Rn. 13; Ehricke, in: Streinz, Art. 234 EGV, Rn. 69; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV, Rn. 39. 43 de Weerth, DB 2005, 1407; Hahn, IStR 2005, S. 145 (146); Ruffert, JZ 2004, S. 620. 44 EuGH, Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 10. Ähnlich Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I-1883 – BP Soupergaz, Rn. 42. Zu Recht kritisch allerdings Kokott/Henze, NJW 2006, S. 177 (178). Weder das Urteil noch die ausgelegte Vorschrift wirken zurück. Die Vorschrift existiert vielmehr mit all ihren Wirkungen bereits seit ihrem In-Kraft-Treten. 45 Frenz, Rn. 480, bezeichnet die Entwicklung des Gemeinschaftsrechts in diesem Zusammenhang als „progressiv-dynamisch“ und ständig im Fluss. Auch die Kommission erkennt die Dynamik der Auslegung des Gemeinschaftsrechts und die damit einhergehende Rechtsunsicherheit an, KOM (2006) 823 endg. vom 19.12.2006 unter 2.2. Sie versucht daher verstärkt, Vorschläge für gemeinschaftsrechtskonforme Normierungen im Bereich der direkten Steuern zu unterbreiten.

II. Gemeinschaftsrechtsverstöße auf Primärebene

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Die Auslegung des Gemeinschaftsrechts ist dabei Rechtserkenntnis, nicht aber Rechtsetzung. Nichts anderes meint Generalanwalt Léger, wenn er feststellt, dass eine Vorabentscheidung rein deklaratorisch und nicht konstitutiv ist.47 Dies hat zur Konsequenz, dass die Grenzen der rückwirkenden Änderung von Gesetzen keine Anwendung finden,48 obwohl eine vergleichbare Interessenlage besteht. Dies soll an einem Beispiel verdeutlicht werden: Wollte der Gemeinschaftsnormgeber den Anwendungsbereich einer Gemeinschaftsnorm erweitern, müsste er hierzu ihren Wortlaut ändern. Wollte er diese Änderung rückwirkend wirksam werden lassen, wäre er durch die Rückwirkungsdogmatik beschränkt, in der insbesondere Gedanken der Rechtssicherheit Berücksichtigung finden. Erweitert auf der anderen Seite der Gerichtshof in seiner Auslegung den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts gegenüber seiner Reichweite nach der früheren Auslegung, so ist diese neue Auslegung vom Grundsatz her ohne weiteres auch für die Vergangenheit verbindlich. Eine Abwägung mit Gedanken der Rechtssicherheit findet klassischerweise nicht statt. Vom Ergebnis her betrachtet, besteht zwischen den beiden Konstellationen für den Betroffenen kaum ein Unterschied. In beiden Fällen hat er sich auf die Fassung des Gemeinschaftsrechts eingestellt, die für ihn erkennbar war. In beiden Fällen erweist sich die Rechtslage dann später als anders. Vom Grundsatz her ist dies ein Problem, das sich bei allen Rechtsprechungsänderungen stellt. Bei Entscheidungen nationaler Fachgerichte entschärft es sich häufig dadurch, dass deren Urteile selten zu grundlegenden Umwälzungen führen, die auf eine Vielzahl von Verwaltungsentscheidungen ausstrahlen. Vergleichbar mit der Situation bei Urteilen des EuGH ist allerdings die Reichweite 46

Vgl. Birk, FR 2005, S. 121 (122 f.); Eilmansberger, S. 118 f. Paradebeispiel dafür ist etwa das von 1977 bis 2001 geltende körperschaftsteuerliche Anrechnungsverfahren, unter dem die Anrechnung ausländischer Körperschaft ausgeschlossen war. Noch 1998 entschied das FG München (Urteil vom 26.1.1998, EFG 1998, 1076) in Übereinstimmung mit der damals herrschenden Auffassung, dass dieses Verfahren nicht gegen Gemeinschaftsrecht verstieße. Erst nach dem Urteil des EuGH in der Rs. Manninen (Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477) wandelte sich diese Auffassung schlagartig. 47 Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 17.6.2003, C-453/00, Slg. 2004, I-839 – Kühne & Heitz, Rn. 38, mit umfangreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung in Fußnote 24. Ebenso Hahn, IStR 2005, 145. 48 Zur grundsätzlichen Unzulässigkeit echter Rückwirkung EuGH, Urteil vom 16.2.1982, 258/80, Slg. 1982, 487 – Metallurgica Rumi, Rn. 11 f. und Urteil vom 16.2.1982, 276/80, Slg. 1982, 517 – Padana, Rn. 16. Ausnahmen gelten nur dann, wenn das angestrebte Ziel die Rückwirkung verlangt und das schutzwürdige Vertrauen der Betroffenen beachtet wird. Zur grundsätzlichen Zulässigkeit unechter Rückwirkung etwa EuGH, Urteil vom 5.7.1973, 1/73, Slg. 1973, 723 – Westzucker, Rn. 5; Urteil vom 15.2.1978, 96/77, Slg. 1978, 383 – Bauche, Rn. 48/51. Zusammenfassend Haibach, NVwZ 1998, S. 456 (460).

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Teil 1: Einführung

von Entscheidungen nationaler Verfassungsgerichte. Aus dem deutschen Raum wären hier etwa die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum Existenzminimum,49 zur Vermögensteuer50 oder jüngst zur Erbschaft- und Schenkungsteuer51 zu nennen. Anders als der EuGH hat das Bundesverfassungsgericht angesichts des Widerstreits von Rechtmäßigkeit und Rechtssicherheit eine spezielle Tenorierungspraxis entwickelt, um die Verwerfung durch „rückwirkende“ Rechtsprechungsänderungen zu begrenzen.52 Die besondere Brisanz im Gemeinschaftsrecht ergibt sich daraus, dass es sich als relativ junges Rechtsgebilde noch in einem Entwicklungsprozess befindet, der mitunter stürmisch verläuft. Als Beispiele können etwa die Entdeckung der freiheitsrechtlichen Dimension der Grundfreiheiten oder die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien bei Nichtumsetzung dienen. Die jeweiligen Entscheidungen haben zwar die Rechtslage nicht umgestaltet, da diese objektiv schon immer so war, wie der EuGH sie nunmehr sieht, wohl aber zu einer neuen Kenntnis der Rechtslage geführt, die für den betroffenen Staat oder Bürger von ähnlicher Bedeutung wie eine Rechtsänderung ist. Den betroffenen Bürger in seiner Rolle als Steuerpflichtiger mag es (zunächst) trösten, dass Entscheidungen des EuGH in der Regel zu Erweiterungen seiner Rechte führen. Für den Staat, der auf die Finanzierungsfunktion der Steuererhebung angewiesen ist, gilt dies nicht. bb) Beschränkung der zeitlichen Reichweite durch den EuGH Auch der EuGH hat diese Konfliktsituation erkannt und in Einzelfällen reagiert, indem er unter Berücksichtigung von Gedanken des Vertrauensschutzes und der Rechtssicherheit die zeitliche Reichweite seiner Entscheidungen einschränkte.53 Unter bestimmten Voraussetzungen – namentlich dann, wenn in der Vergangenheit ein Zustand der Rechtsunsicherheit herrschte und ohne eine Beschränkung der Urteilswirkungen schwerwiegende wirtschaftliche Folgen ausgelöst würden – sah er sich ermächtigt, weiteren Betroffenen die Berufung auf die (neue) Auslegung des Gemeinschaftsrecht zu versagen. Für den Fall, der zu der 49

BVerfG, BVerfGE 87, S. 153. BVerfG, BVerfGE 93, S. 121. 51 BVerfG, Beschluss vom 7.11.2006, NJW 2007, S. 573. 52 Zur Tenorierungspraxis des BVerfG vgl. grundlegend Wernsmann, insbesondere S. 28 ff. Zur Beschränkung der zeitlichen Reichweite von Urteilen des EuGH vgl. unten S. 177. 53 Erstmals EuGH, Urteil vom 8.4.1976, 43/75, Slg. 1976, 455 – Defrenne/Sabena, Tenor Ziffer 5. Die Beschränkung ist eine Ausnahme geblieben. Für den Regelfall bleibt es bei der „Rückwirkung“. Instruktiv zu den Voraussetzungen einer Beschränkung speziell im Steuerrecht Kokott/Henze, NJW 2006, S. 177 ff. 50

III. Die Sekundärebene eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes

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Entscheidung des EuGH auf Primärebene geführt hat (Anlassfall), sei eine Beschränkung nicht möglich, wohl aber für alle weiteren Fälle, denen die neue Auslegung zu Ansprüchen für die Vergangenheit verhilft.54

III. Die Sekundärebene eines Gemeinschaftsrechtsverstoßes auf Primärebene Hat sich auf der Primärebene die Unvereinbarkeit einer nationalen Steuernorm mit dem Gemeinschaftsrecht herausgestellt und hat der EuGH auf Rechtsfolgenseite die Wirkung des Urteils nicht beschränkt, ist grundsätzlich der Weg frei für die Erstattung der gemeinschaftsrechtswidrig gezahlten Steuer. Der Kläger des Anlassfalls und eine Vielzahl von Steuerpflichtigen werden sich auf die für sie günstige Auslegung des Gemeinschaftsrechts berufen und die Erstattung von Steuern beantragen. Hierbei kommen dann verfahrensrechtliche Hindernisse aus dem mitgliedstaatlichen Recht zum Tragen. Die Interdependenz von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht in diesem Bereich ist Gegenstand der folgenden Ausführungen.

54

Zu Details vgl. unten S. 177.

Teil 2

Die Sekundärebene des Gemeinschaftsrechts – Schranken für die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht Während auf der Primärebene entschieden wird, ob eine bestimmte Tätigkeit eine Besteuerung auslösen darf, wird auf der Sekundärebene entschieden, ob eine Steuer auf diese Tätigkeit, soweit sie in der Vergangenheit gezahlt wurde, beim Staat verbleiben darf oder ob sie dem Steuerpflichtigen zu erstatten ist, sobald sich die Unvereinbarkeit der Abgabenerhebung mit dem Gemeinschaftsrecht herausstellt. Ist eine Steuer bereits bestandskräftig festgesetzt, aber noch nicht gezahlt worden, so ist die Frage, ob der bestandskräftige Bescheid noch vollstreckt werden darf, wenn zwischenzeitlich die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Festsetzung festgestellt wurde, ebenfalls der Sekundärebene zuzuordnen.

I. Folgenbeseitigung als Gebot des nationalen Rechts und des Gemeinschaftsrechts Dass der Staat „gesetzmäßig“ handeln muss, ist heute eine Selbstverständlichkeit.55 Rechtswidriges belastendes Handeln des Staates kann der Bürger – notfalls mit gerichtlicher Hilfe – bereits auf der Primärebene abwehren. Wenn allerdings der sich aus der Gesetzesbindung ergebende Abwehranspruch nicht mehr greift, weil der Eingriff bereits definitiv erfolgt ist, dann ist unter bestimmten Voraussetzungen auf der zweiten Stufe ein Anspruch auf Korrektur in Gestalt der Folgenbeseitigung zu gewähren.56 Folgenbeseitigung meint dabei die Beseitigung der rechtswidrigen Folgen einer Amtshandlung der vollziehen-

55 Vor allem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war der Wandel des Verhältnisses zwischen Herrscher und Untertanen von einem Gewaltverhältnis in ein Rechtsverhältnis eine der zentralen Forderungen des Bürgertums (Achterberg, § 2, Rn. 56). Sie findet heute ihren selbstverständlichen Ausdruck in den Teilprinzipien des Vorrangs und des Vorbehalts der Gesetze (Wolff/Bachof/Stober, § 30, Rn. 5 und 15; Pietzcker, JuS 1979, S. 710 [710 f.]). Auch auf der Ebene der Gemeinschaft ist die „Rule of Law“ unbestritten (Kadelbach, S. 119). 56 Maurer, § 30, Rn. 6; Lücke, AöR 104 [1979], S. 225 (230).

I. Gebotenheit der Folgenbeseitigung

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den Gewalt.57 Sie ist auf Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände, also des status quo ante, gerichtet.58 Die Festsetzung einer Steuer verpflichtet den Bürger zur Erbringung einer Geldleistung (§ 3 Abs. 1 AO). Hat der Steuerpflichtige die Leistung erbracht, ohne dass hierfür ein Rechtsgrund besteht, kann der status quo ante ohne weiteres durch die Erstattung des zu Unrecht gezahlten Betrags wieder hergestellt werden. Folgenbeseitigung im Steuerrecht kann daher regelmäßig mit Erstattung gleichgesetzt werden.59 Gesetzmäßigkeit, Folgenbeseitigung und Erstattung haben Niederschlag im nationalen Recht wie auch im Gemeinschaftsrecht gefunden, wie im Folgenden gezeigt wird. 1. Nationales Recht Das Prinzip der Folgenbeseitigung ist im Grundgesetz als Rechtsinstitut verfassungsrechtlich verankert. Seine nähere Ausgestaltung als subjektives Recht ist dem einfachen Recht vorbehalten geblieben. Vor allem die Anspruchsgrundlagen selbst sind im einfachen Recht zu suchen.60 a) Verfassungsrechtliche Verankerung aa) Folgenbeseitigung Die Gesetzesbindung der Verwaltung ist in Deutschland verfassungsrechtlich in Art. 20 Abs. 3 GG verankert. Es liegt nahe, direkt aus der Gesetzesbindung auf der zweiten Stufe eine Verpflichtung zur Folgenbeseitigung zu folgern.61 Eine ausdrückliche Normierung im Grundgesetz hat sie allerdings nicht erfah57

So die Definition des BVerwG, NJW 1985, S. 817 (818). Vgl. auch Grzeszick, in: Erichsen/Ehlers, § 44, Rn. 111. Folgenbeseitigung kann – und wird im Folgenden – als Oberbegriff für Ansprüche im Zusammenhang mit rechtswidrigem Verwaltungshandeln verwendet. Er umfasst damit auch den Erstattungsanspruch, der nach Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts entsteht; so auch Bachof, S. 98 ff. Detailliert zur Abgrenzung des Folgenbeseitigungsanspruchs vom Erstattungsanspruch Söhn, S. 4. 58 BVerwGE 69, S. 366 (371). Ossenbühl S. 302; Maurer, § 30, Rn. 11. 59 Auch das BVerwG, BVerwGE 69, S. 366 (371), sieht eine Restitution in Geld dann als Folgenbeseitigung an, wenn die rechtswidrigen Folgen der Verwaltungshandelns in einem Geldverlust bestehen. 60 Prägnant zur Unterscheidung zwischen Rechtsinstitut und Anspruchsgrundlage Fiedler, NVwZ 1986, S. 969 (971). 61 So ausdrücklich Bachof, S. 128 und Lücke, AöR 104 [1979], S. 225 (230). Letzterer unterstreicht, dass ansonsten die rechtsstaatliche Bindung an Recht und Gesetz leer laufe. Die rechtsstaatliche Bindung müsse sich daher in einem Wiedergutmachungsanspruch fortsetzen.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

ren. Dies ist insofern bemerkenswert, als das an sich nachgelagerte Entschädigungsrecht in Art. 34 GG mit dem Amtshaftungsanspruch zumindest rudimentären Niederschlag gefunden hat.62 Dennoch besteht Einigkeit, dass der Schluss von der Gesetzesbindung der Verwaltung auf den Anspruch auf Folgenbeseitigung im deutschen Recht Verfassungsrang genießt.63 Das Rechtsinstitut der Folgenbeseitigung steht über dem einfachen Recht, weil es seine Grundlage in der Verfassung selbst findet. Nach wie vor umstritten ist jedoch, an welcher Norm des Verfassungsrechts es festgemacht werden kann. Mustergültig wurde dieser Streit noch 1972 vom Bundesverwaltungsgericht dargestellt – und im Ergebnis offengelassen. Das Gericht führte damals aus, dass die Grundlage sowohl in den Freiheitsgrundrechten, dem Vorbehalt des Gesetzes, dem Rechtsstaatsprinzip, den Art. 34 und 19 GG, insbesondere dessen Abs. 4 GG, gesehen werden könnte.64 Das Gericht präferierte zwar eine Ableitung aus den Freiheitsgrundrechten und dem Vorbehalt des Gesetzes, positionierte sich aber nicht abschließend.65 In einer Entscheidung aus dem Jahr 1984 legte sich der 3. Senat des Bundesverwaltungsgerichts dann auf eine Ableitung aus Art. 20 Abs. 3 GG fest.66 Aus der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht lasse sich ihre Verpflichtung ableiten, die rechtswidrigen Folgen ihrer Amtshandlungen wieder zu beseitigen.67 Die neuere Rechtsprechung begnügt sich im Regelfall mit einem Verweis auf die älteren Urteile und lässt den Anknüpfungspunkt der verfassungsrechtlichen Verankerung offen, da er für den Tatbestand der Folgenbeseitigung und seine Rechtsfolgen keine Bedeutung habe.68 In der Literatur wird die Diskussion aber nach wie vor geführt. Zwar wurde schon in dem klassischen Lehrbuch zum Verwaltungsrecht von Jellinek aus dem Jahre 1931 herausgehoben, dass Konsequenz der Rechtsbindung allen staatlichen Handelns ist, dass eine Pflicht zur Beseitigung von Rechtsverstößen des 62 Die Ursache dürfte sein, dass nach historischem Verständnis der hoheitlich handelnde Staat unrechtsunfähig war und damit nur eine persönliche Haftung der Amtsträger denkbar war (Wieland, in: Dreier, Art. 34, Rn. 1). Bei Verabschiedung des Grundgesetzes war zum Schutz der Beamten und zur Sicherung der Ansprüche der Berechtigten vorrangig die Haftungsüberleitung auf den Staat regelungsbedürftig. 63 BVerwGE 69, S. 366 (370) und BVerwG, NJW 1972, S. 269. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 20 (Rechtsstaat), Rn. 206; Lücke, AöR 104 [1979], S. 225 (230); Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, VI, Rn. 44; Grzeszick, in: Erichsen/Ehlers, § 44, Rn. 114. 64 BVerwG, NJW 1972, S. 269. 65 BVerwG, NJW 1972, S. 269 (270). Vgl. auch Fiedler, NVwZ 1986, S. 969. 66 BVerwG, BVerwGE 69, S. 366 (370). Der 3. Senat folgte damit dem Ansatz Bachofs, vgl. Bachof, S. 128. 67 BVerwG, BVerwGE 69, S. 366 (370). 68 Etwa BVerwG, BVerwGE 94, S. 100 (104).

I. Gebotenheit der Folgenbeseitigung

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Staates besteht.69 Die Folgenbeseitigung wurde von Bachof dann folgerichtig Art. 20 Abs. 3 GG zugewiesen.70 Eine einstimmige Festlegung auf eine verfassungsrechtliche Ableitung ist allerdings noch immer nicht zu erkennen. Neben der Gesetzesbindung werden vor allem auch die Freiheitsgrundrechte nach wie vor herangezogen.71 In ihrer Funktion als Abwehrrechte gegen hoheitliche Beeinträchtigungen implizieren sie zunächst einen Unterlassungsanspruch. Der Folgenbeseitigungsanspruch sei dann nichts anderes als ein „umgewandelter, der geschehenen Rechtsverletzung angepasster Unterlassungsanspruch“.72 Ein anderer Argumentationsansatz bemüht die Verfahrensgrundrechte. Art. 19 Abs. 4 GG gewährleiste nicht nur den Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz, sondern auch dessen Effektivität.73 Rechtsschutz könne nur effektiv sein, wenn der Bürger mit Hilfe der Gerichte das (zurück-)erstreiten kann, was ihm zuvor unrechtmäßig genommen wurde. Ein effektiver Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG müsse daher auf die Wiederherstellung des status quo ante gerichtet sein.74 Schließlich wird die Wiederherstellung rechtmäßiger Zustände auch als eine Forderung der Gerechtigkeit angesehen,75 die damit direkt im Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 GG verankert werden könne.76

69 Jellinek, S. 239. Aktuell so auch Maurer, § 29, Rn. 20; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 20 (R) GG, Rn. 206; Fiedler, NVwZ 1986, S. 969 (971). Götz, NVwZ 1984, S. 480 leitet den Erstattungsanspruch als allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts aus dem Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung her. Diese Herleitung trage auch den Erstattungsanspruch des Staates bei der Rückforderung von Subventionen. 70 Bachof, S. 128. 71 Schoch, VerwArchiv 79 [1988], S. 1 (34 ff.); Ossenbühl, S. 295; Weyreuther, Gutachten B zum 47. Deutschen Juristentag, 1968, S. 13 (85); Grzeszick, in: Erichsen/ Ehlers, § 44, Rn. 115; Stern, Staatsrecht III/1, § 66 III 1. 72 Weyreuther, Gutachten B zum 47. Deutschen Juristentag, 1968, S. 13 (85). 73 BVerfG, BVerfGE 84, S. 34 (49) und 35, S. 382 (401 f.). 74 Die Bedeutung effektiven Rechtsschutzes für die Folgenbeseitigung betont vor allem Fiedler, NVwZ 1986, S. 969 (973). Gegen die Ableitung aus Art. 19 Abs. 4 GG spricht vor allem, dass der Schluss von Verfahrensgrundrechten auf materielle Ansprüche bedenklich ist. Die geschützte Rechtsposition ergibt sich nicht aus Art. 19 Abs. 4 GG, sondern wird darin vorausgesetzt; BVerfG, BVerfGE 84, S. 34 (49); 78, S. 214 (226) und 83, S. 182 (194 f.). Die Verfahrensgrundrechte drohen überladen zu werden, wenn der Versuch unternommen wird, aus ihnen zugleich die geltend zu machende Rechtsposition abzuleiten. Letztlich ist dies auch einer der Hauptkritikpunkte am Effektivitätsgebot des EuGH, siehe dazu unten S. 116. 75 So schon Mayer, S. 358 und 362; Ossenbühl, S. 294 und BVerwG, DVBl 1999, S. 537 (543). 76 Auch Lücke, AöR 104 [1979], S. 225 (230) beruft sich für die verfassungsrechtliche Verankerung auf das Rechtsstaatsprinzip, macht dieses jedoch an Art. 19 Abs. 4 GG fest.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Trotz aller Divergenzen im Detail über die verfassungsrechtliche Anknüpfung besteht doch Einigkeit, dass das Prinzip der Folgenbeseitigung nicht vollumfänglich zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht.77 Es bleibt daher festzuhalten, dass der Staat von Verfassungs wegen verpflichtet ist, die rechtswidrigen Folgen von Handlungen der Exekutive zu beseitigen. bb) Erstattung von Steuern Ein Ausschnitt aus dem umfassenden Gebot zur Beseitigung der Folgen rechtswidrigen Staatshandelns in Natur ist der Anspruch auf Erstattung rechtswidrig erhobener Abgaben.78 Im Steuerrecht spielt die nachträgliche Folgenbeseitigung in Form der Erstattung dabei eine besonders große Rolle. Im allgemeinen öffentlichen Recht kann sich der Bürger im Normalfall durch Widerspruch und Klage gegen einen hoheitlichen Leistungsbefehl wehren. Bevor der Bürger die ihm abverlangte Leistung erbringen muss, kann die Rechtmäßigkeit des Leistungsbefehls abschließend geprüft werden. Dies ergibt sich aus der für den Regelfall angeordneten aufschiebenden Wirkung von Widerspruch und Anfechtungsklage (§ 80 Abs. 1 S. 1 VwGO). Anders ist dies jedoch dort, wo der Primärrechtsschutz keinen Suspensiveffekt hat.79 Auch wenn der Bürger mit der Abwehr des Leistungsbefehls letztendlich Erfolg hat, ist die geforderte Leistung in aller Regel schon von ihm erbracht worden. Selbst der Bürger, der unverzüglich um Primärrechtsschutz nachgesucht hat, ist nach erfolgreicher Anfechtung auf eine Rückabwicklung der Leistung angewiesen.80

77 Soweit in der Literatur als Grundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs eine Analogie zum Bereicherungsrecht des BGB benannt wird, stellt das den Verfassungsrang nicht in Frage. Zum einen wird der Verweis auf die §§ 812 ff. BGB häufig nur als ein Beleg für einen allgemeinen Rechtsgedanken angeführt, der dort einen Ausdruck gefunden habe (Achterberg, § 25, Rn. 22). Zum anderen darf der Versuch, den Tatbestand des Folgenbeseitigungsanspruchs aus §§ 812 ff. BGB zu gewinnen, nicht mit der Frage des Rangs des Anspruchs verwechselt werden. 78 Achterberg, § 25, Rn. 19, bezeichnet den Erstattungsanspruch als Unterfall des Folgenbeseitigungsanspruchs. 79 Neben den in § 80 Abs. 2 VwGO aufgezählten Fällen, ergeben sie sich regelmäßig aus Spezialgesetzen. Eine Zusammenstellung findet sich bei Kopp/Schenke, § 80, Rn. 65. 80 Undeutlich insoweit Eilmansberger, S. 118, der davon ausgeht, dass es nur dann zu einer Rückforderung von Steuern kommen kann, wenn es der Steuerpflichtige versäumt hat, sich rechtzeitig gegen eine Abgabenerhebung zur Wehr zu setzen. Auf diesem Verständnis aufbauend, stellt er dann den Ausschluss der Erstattung bei Bestandskraft des Steuerbescheids als Ausdruck des Vorrangs des Primärrechtsschutzes dar (vor allem S. 139).

I. Gebotenheit der Folgenbeseitigung

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Das Steuerrecht ist ein klassisches Beispiel für den Ausschluss der aufschiebenden Wirkung von Primärrechtsbehelfen. Nach § 361 Abs. 1 S. 1 AO und § 69 Abs. 1 FGO hemmen weder Einspruch noch Klage die Vollziehung des angefochtenen Verwaltungsakts. Wird nicht ausnahmsweise die Aussetzung der Vollziehung angeordnet (§ 361 Abs. 2 AO, § 69 Abs. 2 und 3 FGO), so hat der Steuerpflichtige die Abgabe zu leisten. Ist die Anfechtung des Steuerverwaltungsakts letztendlich erfolgreich, ist er auf die Erstattung des zuvor Geleisteten angewiesen. Im Steuerrecht ist daher der Primärrechtsschutz durch Anfechtung nahezu unausweichlich mit der Erstattungsebene verknüpft. Im Regelfall gehen Anfechtung und Erstattung dabei Hand in Hand; nach erfolgreicher Anfechtung des Steuerbescheids wirft die Erstattung in der Praxis regelmäßig keine Probleme auf.81 Bei rechtswidrig erhobenen Steuern ist die Beziehung zwischen Primär- und Sekundärebene damit besonders intensiv. Ohne Erstattung liefe der Primärrechtsschutz in aller Regel leer. Aus der durch das Gesetzmäßigkeitsprinzip und vor allem durch die Grundrechte verbürgten Möglichkeit, rechtswidrige Eingriffe abwehren zu können, folgt das Gebot zur Erstattung noch unmittelbarer als dies sonst im Recht der Folgenbeseitigung der Fall ist. Erstattung ist dabei – wie Folgenbeseitigung allgemein – in der Verfassung begründet. Dass Normen des Steuerrechts auch Abwehrrechte vermitteln, ergibt sich daraus, dass sie als Teil des Eingriffsrechts dem Staat den Zugriff auf die Leistungsfähigkeit seiner Bürger erlauben. In erster Linie wirken sie daher für den Bürger belastend. Zugleich geben sie aber auch die äußerste Grenze dieses Zugriffs vor. Der Staat darf in die Leistungsfähigkeit nicht tiefer eingreifen als das Gesetz dies gestattet. Jede Eingriffsnorm ist damit zugleich Eingriffsbegrenzungsnorm. In zweiter Linie wirken sie daher begünstigend und vermitteln dem Bürger einen Abwehranspruch für ultra vires Maßnahmen des Staates.82 Das Abwehrrecht aus der Gesetzesbindung und den Freiheitsrechten stellt den Rückbezug zum Verfassungsrecht her. Das Erstattungsrecht ist damit nicht nur Teilgebiet des Folgenbeseitigungsrechts, an dessen verfassungsrechtlicher Herleitung es teilnimmt; vielmehr liefert der Eingriffsabwehrgehalt des materiellen Steuerrechts eine besondere verfassungsrechtliche Legitimation. Dabei ist es unerheblich, aus welchem Verstoß die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung folgt. Aus Sicht der Verfassung wird ein Anspruch auf Erstattung bei jeglicher rechtswidrigen Steuererhebung ausgelöst. Die Norm, gegen die

81 Sollte ausnahmsweise nach erfolgreicher Anfechtung der Erstattungsanspruch im Streit sein, gibt § 218 Abs. 2 AO die Möglichkeit, über das Bestehen oder Nichtbestehen des Anspruchs einen Abrechnungsbescheid zu erwirken, der dann selbst Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens sein kann. 82 Allgemein zur Erweiterung des Abwehranspruchs zum Folgenbeseitigungsanspruch Maurer, § 30, Rn. 6.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

verstoßen wurde, kann dem geschriebenen oder ungeschriebenen, dem nationalen oder dem Gemeinschaftsrecht angehören. Das Gemeinschaftsrecht ist nach ständiger Rechtsprechung des EuGH83 und des Bundesverfassungsgerichts84 voll wirksames Recht im Inland. Die deutsche Verfassung gewährt dem Bürger mithin auch einen Anspruch auf Erstattung bei Verstößen gegen materielle Normen des Gemeinschaftsrechts. b) Einfach-gesetzliche Ausgestaltung Die nähere Ausgestaltung der Folgenbeseitigung, also der Sekundärebene staatlichen Handelns, ist dem einfachen Recht überlassen. In diesem ist der Folgenbeseitigungsanspruch nur sehr fragmentarisch kodifiziert. Allein für den steuerlichen Erstattungsanspruch als besonderem Folgenbeseitigungsanspruch existiert eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage (§ 37 Abs. 2 S. 1 AO). aa) Der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch Der allgemeine Folgenbeseitigungsanspruch des öffentlichen Rechts ist ein allgemeiner Grundsatz des Verwaltungsrechts,85 der maßgeblich durch die Rechtsprechung ausgeformt wurde. Auf Grund der verfassungsrechtlichen Vorgaben bestand über das Ob eines solchen Anspruchs nie eine ernsthafte Diskussion. Umstritten ist jedoch bis heute, wie der verfassungsrechtliche Auftrag im Einzelfall erfüllt werden kann, mit anderen Worten: wie ein Tatbestand aus den spärlichen gesetzlichen Vorgaben gewonnen werden kann. Die in der Literatur lebhaft geführte Diskussion, woraus ein Tatbestand für einen allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch gewonnen werden kann, ist von der Debatte darüber, welcher Verfassungsnorm der Verfassungsrang des Folgenbeseitigungsgrundsatzes zu entnehmen ist, zu unterscheiden. Während erstere lediglich mit dem Ziel geführt wird, für die Praxis handhabbare Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch zu entwickeln, geht es bei letzterer um die grundlegendere Frage, welchen Rang das Prinzip der Folgenbeseitigung hat. Dennoch ist nicht zu leugnen, dass beide Bereiche eng zusammenhängen. Ist die sedes materiae in der Verfassung gefunden, sind von dort her dann auch die Tatbestandsvoraussetzungen zu entwickeln. Die wohl überwiegende Ansicht verweist konsequent auf die Eigenständigkeit des öffentlich-rechtlichen Folgenbeseitigungsanspruchs. Die Tatbestandsvoraus83 Grundlegend EuGH Urteil vom 5.2.1963, 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos, S. 24 f.; Urteil vom 27.2.1962, 10/61, Slg. 1962, 1 – Kommission/Italien, S. 22 f.; Urteil vom 15.7.1964, 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/ENEL, Rn. 3. 84 Grundlegend BVerfG, BVerfGE 73, S. 339 (375) – Solange II. 85 Wolff/Bachof/Stober, § 52, Rn. 16a.

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setzungen seien aus seinen verfassungsrechtlichen Wurzeln zu entwickeln. Anknüpfungspunkte sind dann – je nach dem, aus welcher Verfassungsnorm er abgeleitet wird – entweder die Gesetzesbindung der Verwaltung86 und deren richterrechtliche bzw. gewohnheitsrechtliche Konkretisierung87 oder die Freiheitsgrundrechte.88 Die Gegenansicht will für die Tatbestandsgewinnung auf einen allgemeinen Rechtsgedanken der Beseitigung rechtswidriger Störungen, der das Öffentliche Recht und das Zivilrecht durchzieht, zurückgreifen. In letzterem hat er seinen Niederschlag in den §§ 1004, 12 und 862 BGB gefunden. Der Tatbestand sei daher in Analogie zu diesen Vorschriften zu bilden.89 Im Ergebnis kann dieser Streit dahinstehen, da die Existenz des Anspruchs als solcher gesichert ist und sein Umfang nur in Nuancen ernstlich umstritten ist.90 bb) Der allgemeine Erstattungsanspruch Greift man den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch als Teilbereich der Folgenbeseitigung heraus, herrscht Einigkeit darüber, dass er den Ausgleich ungerechtfertigter Vermögensverschiebungen91 zwischen mehreren Rechtssubjekten bezweckt.92 Voraussetzung ist somit eine Vermögensverschiebung, deren Rechtsgrund von Anfang an fehlt oder später wegfällt.93 Entscheidendes Tatbestandsmerkmal ist hierbei die Rechtsgrundlosigkeit der Zah-

86 BVerwG, BVerwGE 28, S. 155 (163); 69, S. 366 (370); offen dann BVerwGE 82, S. 76 (95). Bachof, S. 128; Bonk, in: Sachs, Art. 34 GG, Rn. 45; Huthmacher, S. 51; Achterberg, § 25, Rn. 23, weist jedoch darauf hin, dass aus der Gesetzesbindung der Verwaltung (Art. 20 Abs. 3 GG) nicht zwingend subjektive Rechte abgeleitet werden können. So gibt es insbesondere kein subjektives Recht auf rechtmäßigen Gesetzvollzug. Ein solches Recht würde die Tür zur Popularklage aufstoßen. Ablehnend auch Schoch, VerwArchiv 79 [1988], S. 1 (33), da dem Gebot der Gesetzmäßigkeit nicht zu entnehmen sei, in welcher Form die Folgenbeseitigung zu erfolgen habe. 87 Fiedler, NVwZ 1986, S. 969 (970) meint, jedem einzelnen Grundrecht einen selbständigen Folgenbeseitigungsanspruch entnehmen zu können. Anspruchsgrundlage sei dann direkt das im Einzelfall betroffene Grundrecht; so auch Maurer, § 30, Rn. 5. 88 BVerwG, BVerwGE 94, S. 100 (103); Maurer, § 30, Rn. 5. 89 Achterberg, § 25, Rn. 22. 90 Umstritten ist etwa, ob der Folgenbeseitigungsanspruch zu einem allgemeinen Wiedergutmachungsanspruch ausgebaut werden kann; vgl. dazu die Diskussion bei Maurer, § 30, Rn. 11 und Grzeszick, in: Erichsen/Ehlers, § 44, Rn. 116; Redeker, DÖV 1987, S. 194 (197 f.). 91 Wolff/Bachof/Stober, § 55, Rn. 20; Maurer, § 29, Rn. 20. 92 Vgl. Achterberg, § 25, Rn. 19. 93 Achterberg, § 25, Rn. 26; Huthmacher, S. 51.

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lung, wodurch der öffentlich-rechtliche Erstattungsanspruch damit eine große tatbestandliche Nähe zum zivilrechtlichen Bereicherungsrecht aufweist.94 Eine Besonderheit des deutschen Rechts besteht darin, dass ein Verwaltungsakt, der einen entsprechenden Leistungsbefehl enthält, auch dann Rechtsgrund ist, wenn er rechtswidrig ist.95 Grundsätzlich kommt es im allgemeinen Verwaltungsrecht auf die Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes nicht an.96 Um die in dem Verwaltungsakt angeordneten Rechtsfolgen eintreten zu lassen, genügt seine Wirksamkeit (§ 43 Abs. 2 VwVfG). Der Gesetzgeber hat damit die Fehlerfolge abweichend vom Grundsatz geregelt, dass ein Rechtsakt nur dann wirksam werden soll, wenn er den Anforderungen der Rechtsordnung genügt.97 Dieser Mechanismus, der als formelle Rechtsgrundtheorie bezeichnet wird, schränkt zwar nicht die strikte Gesetzesbindung der Verwaltung ein, er führt aber dazu, dass nicht jedes rechtswidrige Handeln des Staates rückgängig gemacht wird. Gelingt es dem Betroffenen nicht, den Verwaltungsakt aus der Welt zu schaffen, muss er die Belastung dauerhaft hinnehmen, ohne eine Erstattung erreichen zu können.98 Die formelle Rechtsgrundtheorie ist eine konsequente Verlängerung des Prinzips der Bestandskraft in die Sekundärebene hinein. Verwaltungsakte sind zeitlich nur begrenzt anfechtbar, um Rechtsfrieden zu schaffen, indem Verwaltungsentscheidungen nicht unbefristet hinterfragt werden können. Diese befriedende Funktion der Bestandskraft liefe leer, wenn auf der Erstattungsebene ohne Rücksicht auf das Schicksal des Verwaltungsakts der Primärebene die durch ihn angeordnete Rechtsfolge zurückgedreht werden könnte. In der Literatur wurde bislang nicht bezweifelt, dass der Gesetzgeber den verfassungsrechtlich gebotenen Folgenbeseitigungsanspruch trotz Geltung der formellen Rechtsgrundtheorie in verfassungskonformer Art und Weise konkretisiert hat. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich sogar um eine gebotene Gleichbehandlung desjenigen, der zunächst nur eine anfechtbare Leistungsauf94 BVerwG, BVerwGE 4, S. 215 (218). Das BVerwG weist ausdrücklich darauf hin, dass dies nicht zu einem zivilrechtlichen Charakter der Streitigkeit führt. Vgl. auch OVG Münster, DÖV 1967, S. 271 (272); OVG Lüneburg, NJW 1953, S. 839 (839 f.); Tiedau, MDR 1952, S. 330; Wolff/Bachof/Stober, § 55, Rn. 19a. 95 Vgl. etwa Huthmacher, S. 52; Schwarze, S. 1122, hat sich – allerdings vor den letzten Erweiterungsrunden der EU – mit der Rückerstattung rechtswidrig erhobener Abgaben rechtsvergleichend auseinandergesetzt. Nach seiner Darstellung ist (wohl) davon auszugehen, dass in der EU allein Deutschland und die Niederlande die Erstattung von der Beseitigung des Steuerverwaltungsaktes abhängig machen. 96 BVerwG, DVBl 1967, S. 486 (489); DVBl 1983, S. 812. Maurer, § 29, Rn. 24; Gurlit, in: Erichsen/Ehlers, § 34, Rn. 26; Ossenbühl, S. 426. 97 Maurer, § 10, Rn. 20; Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20, VI, Rn. 43. 98 Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 16.3.3006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8562 – i-21, Rn. 73 formulierte, „der Fehler wird endgültig Bestandteil der Rechtsordnung“.

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forderung erhält, mit demjenigen Vorleistungsverpflichteten, dessen Anfechtung keine aufschiebende Wirkung entfaltet. Derjenige, der ein an ihn gerichtetes, mit Suspensiveffekt anfechtbares Leistungsgebot nicht erfolgreich anficht, ist bei Eintritt der Bestandskraft des Verwaltungsakts endgültig verpflichtet, die von ihm geforderte Leistung zu erbringen, auch wenn das Gebot rechtswidrig war; gegebenenfalls ist auch ein rechtswidriger, bestandskräftiger Verwaltungsakt zu vollstrecken.99 In gleicher Weise kann derjenige, der bereits vor Eintritt der Bestandskraft die Leistung erbringen musste, diese nach Eintritt der Bestandskraft nicht mehr zurückfordern, wenn er sich nicht erfolgreich gegen den Verwaltungsakt wehren konnte. Die formelle Rechtsgrundtheorie führt dazu, dass der Zeitpunkt der Leistungserbringung unerheblich ist, wenn schlussendlich nur die Leistungspflicht bestandskräftig feststeht. cc) Der Erstattungsanspruch der Abgabenordnung Obwohl die Abgabenordnung nicht nur zwei Monate älter ist als das Verwaltungsverfahrensgesetz,100 sondern gegenüber dem allgemeineren Verwaltungsverfahrensgesetz auch noch ein Spezialgesetz ist, wurde hier der Erstattungsanspruch kodifiziert, der im Verwaltungsverfahrensgesetz fehlt.101 Inhaltlich ist er mit dem allgemeinen Erstattungsanspruch des Öffentlichen Rechts deckungsgleich. Der Erstattungsanspruch im engeren Sinne, also der Anspruch des Steuerpflichtigen gegen den Leistungsempfänger,102 besteht, wenn eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist (§ 37 Abs. 2 S. 1 AO) oder wenn der rechtliche Grund später wegfällt (§ 37 Abs. 2 S. 2 AO). Kernbestandteil ist damit – ebenso wie beim allgemeinen Erstattungsanspruch – die rechtsgrundlose Vermögensverschiebung.103 Mit dem späteren Wegfall des rechtlichen Grundes nach Satz 2 wird vor allem die Änderung oder Aufhebung eines Steuerbescheids erfasst – sei es von Amts wegen oder angestoßen durch einen Rechts99 Eine Ausnahme gilt nach § 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG: Erklärt das Bundesverfassungsgericht eine Norm für nichtig, ist die Vollstreckung aus einer auf dieser Norm beruhenden Entscheidung unzulässig. 100 Abgabenordnung vom 16.03.1976; Verwaltungsverfahrensgesetz vom 25.05. 1976. Darüber hinaus hatte § 37 Abs. 2 AO bereits Vorläufer in den §§ 151, 152 RAO und den §§ 128, 129 RAO 1919. 101 Nach der Intention des Gesetzgebers sollte § 37 Abs. 2 AO den allgemeinen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch im Bereich der Abgabenordnung kodifizieren; Begründung zu § 199 Abs. 2 EAO 1974, BT-Drs. VI/1992, 168 und Bericht des Finanzausschusses zu § 37 AO, BT-Drs. 7/4292, 19; vgl. Hahn, DStZ 2003, S. 489 (494). 102 Unter § 37 Abs. 2 AO fällt daneben auch der Anspruch des Staates auf Erstattung einer rechtsgrundlosen Steuerrückzahlung. – König, DStR 1991, S. 633; Kruse/ Drüen, in: Tipke/Kruse, § 37, Rn. 10. 103 Vgl. Jakob, Rn. 512; Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37, Rn. 22; König, DStR 1991, S. 633.

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behelf des Steuerpflichtigen. Ob die Änderung aus nationalen oder aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen erfolgte, ist ohne Belang. § 37 Abs. 2 AO ist damit im Regelfall die einschlägige Anspruchsgrundlage, wenn es um die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben geht.104 Ein wesentlicher Unterschied zwischen Steuerrecht und allgemeinem Verwaltungsrecht scheint sich allerdings aus der Judikatur des Bundesfinanzhofs zu ergeben. In mehreren Urteilen wird ausgeführt, der Erstattungsanspruch entstehe bereits mit der Zahlung, wenn der der Zahlung zu Grunde liegende Steuerbescheid nicht rechtmäßig sei.105 Dies deutet auf eine Anwendung der materiellen Rechtsgrundtheorie hin, nach der sich das Vorliegen eines rechtlichen Grundes im Sinne des § 37 Abs. 2 AO ausschließlich nach materiellem Recht bestimmt, ohne dass ein Steuerbescheid einen Rechtsgrund darstellen könnte.106 Rechtlicher Grund für die Erfüllung eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis sei immer nur das Gesetz, nicht aber die Festsetzung der Steuer durch Verwaltungsakt.107 Das wesentliche Argument für diese Ansicht liegt im Verweis auf § 38 AO, wonach Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis mit Tatbestandsverwirklichung entstehen, nicht aber durch Festsetzung (vermeintlicher) Ansprüche in einem Steuerbescheid.108 Ein Erstattungsanspruch bestehe daher unabhängig davon, ob der Steuerbescheid aufgehoben wird oder nicht. Geht man von dieser Annahme aus, würde ein Steuerbescheid damit seine Rechtsgrundfunktion einbüßen und bloß deklaratorischen Wert haben.109 Letztlich würde damit die Unterscheidung zwischen der Rechtswidrigkeit und der Rechtsunwirksamkeit von Verwaltungsakten aufgegeben, da die Rechtswidrigkeit immer auch die Unwirksamkeit – zumindest auf Sekundärebene – zur Folge hätte. Ein solches Verständnis verstieße gegen den klaren Wortlaut der §§ 124 Abs. 2 und 3, 125 AO.110 Auch rechtswidrige Verwaltungsakte sind da104 Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (69); Hahn, IStR 2005, S. 145 (147); ders., IStR 2002, S. 105 (106). 105 BFH, BStBl. II 1968, S. 496 (498) zum ehemaligen § 3 StAnpG, dem Vorläufer des § 38 AO; BStBl. II 1990, S. 523 (524), allerdings ausdrücklich beschränkt auf die Pfändbarkeit des Erstattungsanspruchs; BFH/NV 1994, S. 839; BStBl. II 2000, S. 491 (494). 106 So auch Kruse, in: Festschrift Tipke, 1995, S. 277 (281); Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37, Rn. 28 ff. Die materielle Rechtsgrundtheorie möchte auch Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (75) anwenden. 107 Kruse/Drüen, in: Tipke/Kruse, § 37, Rn. 35. 108 Eine ausführliche Darstellung der Diskussion findet sich bei Söhn, S. 24 ff. Dort noch zur Vorgängerregelung des § 3 StAnpG. Vgl. auch Kruse/Drüen, in: Tipke/ Kruse, § 37, Rn. 33. 109 Stelkens/Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, § 35 VwVfG, Rn. 26 und 30c. 110 § 124 Abs. 2 und 3 AO entsprechen § 43 Abs. 2 und 3 VwVfG; § 125 AO ähnelt § 44 VwVfG.

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nach wirksam, wenn sie nicht ausnahmsweise an einem so schweren Fehler leiden, dass sie nichtig sind.111 Die formelle Rechtsgrundtheorie ist damit in der Abgabenordnung selbst verankert. Dieser gesetzlichen Anordnung entzieht sich auch der Bundesfinanzhof im Ergebnis nicht. Die oben genannten Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ergingen vorrangig zu § 46 Abs. 6 AO, der die Wirksamkeit von Pfändungs- und Überweisungsbeschlüssen regelt. Soll ein Erstattungsanspruch gepfändet werden, ist ein entsprechender Beschluss nur wirksam, wenn der Anspruch zuvor entstanden ist (§ 46 Abs. 6 S. 2 AO). Eine pfändungsfreundliche Ansicht muss daher auf einen möglichst frühen Anspruchsentstehungszeitpunkt abzielen. Vor diesem Hintergrund112 sind die BFH-Entscheidungen zu sehen.113 Sie zielen allein auf eine frühe Entstehung des Erstattungsanspruchs ab. Der Bundesfinanzhof betont stets, dass der Anspruch auf Erstattung durch die Bestandskraft der Festsetzung begrenzt ist. Auch in der Literatur wird nicht die Ansicht vertreten, die auf Grund eines rechtswidrigen und mittlerweile bestandskräftigen Verwaltungsakts gezahlte Steuer könne zurückverlangt werden.114 Hiermit schließen sich Literatur und Rechtsprechung dann doch im Ergebnis der aus dem allgemeinen Verwaltungsrecht bekannten formellen Rechtsgrundtheorie115 an, nach der der Erstattungsanspruch nur entsteht, wenn der Bescheid als rechtlicher Grund weggefallen ist.116 Für die Erstattung hat der Bundesfinanzhof in letzter Zeit dann auch ausdrücklich auf die formelle Bescheidlage abgestellt.117 Ein Versuch, die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs zu erklären, muss zwischen den beiden Fragen, ob ein Erstattungsanspruch entsteht und wann er entsteht, unterscheiden. Für die Frage des „Ob“ bleibt der Bundesfinanzhof bei 111 Birk, Rn. 361 f. Konsequent macht Birk, Rn. 296 die Erstattung ebenfalls von der (Un-)Wirksamkeit des Steuerbescheids abhängig. 112 Zur zusätzlichen konkurs- bzw. insolvenzrechtlichen Motivation ausführlich Söhn, S. 145 ff. 113 Brockmeyer, in: Klein, § 37, Rn. 5, versucht dies durch die Unterscheidung zwischen einem abstrakten Erstattungsanspruch, der bereits mit materiell rechtsgrundloser Zahlung entsteht, und einem mit Wegfall des formellen rechtlichen Grundes rückwirkend entstehenden konkreten Erstattungsanspruchs zu erklären. 114 Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37, Rn. 28 ff.; Kruse, in: Festschrift Tipke, S. 277 (282). In die gleiche Richtung Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (75); Kruse/Drüen, in: Tipke/Kruse, § 37, Rn. 34; Hahn, DStZ 2003, S. 489 (495); Söhn, S. 103. 115 BFH, BStBl. II, 1988, S. 521 (523); 1991, S. 281 (282). Hoffmann, in: Koch/ Scholtz, § 37, Rn. 11; König, DStR 1991, S. 633 (638); Klein, 5. Auflage, § 37, Anm. 3d; Birk, Rn. 296. 116 Das sieht auch Brockmeyer, in: Klein, § 37, Rn. 3, so, obwohl er sonst der materiellen Rechtsgrundtheorie folgen will; weitere Nachweise bei Hahn, IStR 2005, S. 145 (147), Fn. 28. 117 BFH, BFH/NV 2003, S. 96. Brockmeyer, in: Klein, § 37, Rn. 3.

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der formellen Rechtsgrundtheorie. Steht fest, dass der Anspruch entsteht, verlagert der Bundesfinanzhof dessen Entstehungszeitpunkt zumindest für Zwecke des § 46 Abs. 6 AO nach vorn.118 Festzuhalten bleibt daher, dass der Steuerpflichtige, der einen Erstattungsanspruch geltend machen will, trotz der schwankenden Haltung des Bundesfinanzhofs den Steuerbescheid aus der Welt schaffen muss.119 Dies gelingt ihm nur dann, wenn er vor Ablauf der Fristen den rechtswidrigen Bescheid anficht oder er sich nach Eintritt der Bestandskraft auf eine Änderungsnorm der Abgabenordnung stützen kann.120 Wird der Steuerbescheid dann im Verwaltungs- oder Rechtsbehelfsverfahren aufgehoben, besteht der frühere formale Grund für die Leistung nicht mehr und der Steuerpflichtige erwirbt einen Erstattungsanspruch.121 2. Gemeinschaftsrecht Ebenso wie im nationalen Recht zwischen der verfassungsrechtlichen Verankerung der Folgenbeseitigung und ihren einfach-gesetzlichen Ausprägungen als Folgenbeseitigungsanspruch und Erstattungsanspruch unterschieden werden kann, gilt es im Gemeinschaftsrecht das Prinzip der Folgenbeseitigung, dessen eine Facette der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch ist, von den Anspruchsgrundlagen für die Folgenbeseitigung zu trennen. Während die Folgenbeseitigung und mit ihr der Erstattungsgrundsatz immanente Teile des Gemeinschaftsrechts sind, gehören die Anspruchsgrundlagen zum mitgliedstaatlichen Rechtskreis. a) Der gemeinschaftsrechtliche Folgenbeseitigungsanspruch Ganz ähnlich wie das Grundgesetz kennt auch das europäische Primärrecht keinen kodifizierten Anspruch auf Folgenbeseitigung.122 118 Der Unterschied zwischen den Auffassungen lässt sich zusammenfassen in der Aussage, dass nach der materiellen Rechtsgrundtheorie der Erstattungsanspruch entsteht, wenn der Bescheid aufgehoben wird; nach der formellen Rechtsgrundtheorie nur sobald er aufgehoben wird. 119 So auch Hahn, IStR 2005, S. 145 (147). 120 Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37, Rn. 80. 121 Boeker, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 37, Rn. 80; Söhn, S. 105. Der einmal entstandene Steuererstattungsanspruch steht unter dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG, BVerfG, BVerfGE 70, S. 270 (285). 122 In Art. 233 EGV ist die Verpflichtung der Gemeinschaftsorgane normiert, die sich aus einem Urteil des EuGH ergebenden Maßnahmen zu ergreifen. Ein darüber hinausgehender eigenständiger Folgenbeseitigungsanspruch, der sich etwa auch an die Mitgliedstaaten richtet, ist nicht kodifiziert; Ehricke, in: Streinz, Art. 233 EGV, Rn. 12; Gaitanides, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 233 EGV, Rn. 17.

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Dennoch entschied der EuGH schon 1960 in der Rs. Humblet, dass ein Mitgliedstaat, der rechtswidrig handelt, sowohl „verpflichtet (ist), diesen Akt rückgängig zu machen, als auch die möglicherweise durch ihn verursachten rechtswidrigen Folgen zu beheben.“123 Diese Erkenntnis entwickelte sich in der Folgezeit zu einer der beiden Säulen der EuGH-Judikatur im Bereich der Sicherung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts. Die Sicherung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts – gemeinhin auch effet utile genannt – kann als das Hauptanliegen des EuGH bezeichnet werden. Die Gemeinschaft kann nur dann nachhaltige Spuren hinterlassen, wenn ihre Rechtsakte von den Mitgliedstaaten ernst genommen und anerkannt werden. Gegenüber den anfangs zögerlichen Mitgliedstaaten und ihren Gerichten124 bedurfte es klarer Vorgaben, um den Geltungsanspruch des Gemeinschaftsrechts zu untermauern. Die erste Säule zur Untermauerung des Geltungsanspruchs war das Bemühen des EuGH, die Geltung und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts bereits auf Primärebene sicher zu stellen. Diese Säule hat ihren Ursprung in der Feststellung, dass die Gemeinschaft eine „neue Rechtsordnung“ darstellt, zu Gunsten derer die Mitgliedstaaten ihre Souveränität eingeschränkt haben.125 Konsequent wurde daraus der Vorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber nationalem Recht entwickelt.126 Er gewann stetig an Bedeutung durch die gleichzeitige Erweiterung des Kreises der Gemeinschaftsrechtsakte, die unmittelbar wirksam sind und dadurch überhaupt mit nationalem Recht kollidieren können.127 Die zweite – hier interessierende – Säule geht von der Humblet Erkenntnis aus und konkretisiert die Pflichten der Mitgliedstaaten für den Fall, dass es zu einem Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht gekommen ist. Hier entstehen verschuldensunabhängige Erstattungs- und verschuldensabhängige Entschädigungspflichten128 nebeneinander. Beide sind Ausdruck der Verpflichtung, die rechts123 EuGH, Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, 1185 f. Später zur Ableitung des Staatshaftungsanspruchs aus Art. 10 EGV: EuGH, Urteil vom 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich, Rn. 36, unter Verweis auf die Entscheidung Humblet (Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163); Gellermann, in: Streinz, Art. 288 EGV, Rn. 38. 124 Vgl. dazu aus der Literatur Steiner/Woods, S. 69 und aus der Rechtsprechung BVerfG, BVerfGE 37, S. 271 – Solange I, Leitsatz. 125 EuGH, Urteil vom 5.2.1963, 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos, S. 25. 126 EuGH, Urteil vom 15.7.1964, 6/64, Slg. 1964, 1251 – Costa/ENEL, S. 1269. Nach EuGH, Urteil vom 17.12.1970, 11/70, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft, Leitsatz 1 und Urteil vom 11.1.2000, C-285/98, Slg. 2000, I-69 – Tanja Kreil, Rn. 32, gilt das auch gegenüber deutschem Verfassungsrecht. Vgl. auch oben S. 25. 127 EuGH, Urteil vom 5.2.1963, 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos, S. 24 f. für das Primärrecht; Urteil vom 19.1.1982, 8/81, Slg. 1982, 53 – Becker, Rn. 22 ff. dann auch für Richtlinien. 128 Grundlegend EuGH, Urteil vom 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. Für legislatives Unrecht Brasserie du Pêcheur und Factor-

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widrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beseitigen129 und ergeben zusammen den gemeinschaftsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch im weiteren Sinne.130 Als normative Grundlage für den Folgenbeseitigungsanspruch bemüht der EuGH vor allem die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts und die Mitwirkungspflicht bzw. Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 10 EG).131 Bereits in der Rs. Humblet zog der EuGH Art. 86 EGKS-Vertrag, der inhaltlich dem heutigen Art. 10 EG entspricht, heran.132 Danach sind die Mitgliedstaaten verpflichtet, ihr nationales Recht so auszugestalten und anzuwenden, dass das unmittelbar anwendbare Gemeinschaftsrecht möglichst wirksam umgesetzt wird.133 Die Mitwirkungspflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 10 EG reicht indes zur Begründung allein nicht aus. Einer solchen Begründung fehlt ein notwendiger Zwischenschritt. Aus der Mitwirkungspflicht des Art. 10 EG kann sich allenfalls ergeben, welcher Adressat gemeinschaftsrechtliche Vorgaben in welcher Form umsetzen muss.134 Dem vorgelagert ist aber immer die Frage, welche Vorgabe das Gemeinschaftsrecht überhaupt macht. Die Aufforderung an die Mitgliedstaaten „mitzuwirken“ bleibt sinnlos ohne eine Aussage darüber, „woran“ mitgewirkt werden soll. Diese inhaltliche Aussage lässt sich Art. 10 EG indes nicht entnehmen. Die Herleitung eines Folgenbeseitigungsanspruchs kann daher nicht bei dem Verweis auf die Mitwirkungspflicht enden. Der in Deutschland vertretene Ansatz über die Gesetzesbindung allen Staatshandelns lässt sich ohne weiteres auch auf die Gemeinschaftsebene übertragen.135 Auch dem Gemeinschaftsrecht ist das Prinzip der Gesetzmäßigkeit immanent, wie der EuGH mehrfach festgestellt hat.136 tame (Urteil vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1133). Für judikatives Unrecht Köbler (Urteil vom 30.9.2003, C-224/01, Slg. 2003, I-10239). 129 Vgl. die Darstellung in den Schlussanträgen des Generalanwalts Colomer vom 16.3.2006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8562 – i-21, Rn. 92. Aubin, S. 71, fasst beide unter dem Begriff der Staatshaftung zusammen. 130 Die ersten Entscheidungen zur Folgenbeseitigung betrafen die Erstattung als am nächsten liegende Konsequenz der unrechtmäßigen Erhebung von Steuern. Die verschuldensabhängige Staatshaftung für Verstöße gegen Gemeinschaftsrecht kam erst erheblich später hinzu; Gundel, Festschrift Götz, S. 191. Beide führen aber mitunter zu denselben Ergebnissen. 131 Dem EuGH folgend Steiner/Woods, S. 128; Hahn, IStR 2002, S. 105 (106); Aubin, S. 47 und 50. Auch Generalanwalt Colomer in seinen Schlussanträgen vom 16.3.2006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8562 – i-21, Rn. 92. 132 EuGH, Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, S. 1185. 133 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 19; Geiger, Art. 10 EGV, Rn. 4; Streinz, in: Streinz, Art. 10 EGV, Rn. 16. 134 Nach Aubin, S. 52, besagt die unmittelbare Wirkung ausschließlich, dass die Gemeinschaftsvorschrift von den innerstaatlichen Rechtsanwendungsorganen wie ein innerstaatliches Gesetz zu beachten ist.

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Die mitgliedstaatliche Verpflichtung zur Folgenbeseitigung lässt sich daher als dreistufiger Prozess beschreiben. Zunächst enthält das Gemeinschaftsrecht ein Gebot zu gesetzmäßigem Handeln, aus dem sich auf der zweiten Stufe ein Gebot zur Beseitigung der Folgen rechtswidrigen Staatshandelns ergibt. Erst in einem dritten Schritt dient dann die Mitwirkungspflicht der Mitgliedstaaten und ihrer Organe aus Art. 10 EG als Vehikel, um sie zu verpflichten, an der Folgenbeseitigung mitzuwirken und rechtswidrige Maßnahmen zurückzunehmen und die entstandenen Folgen zu beseitigen.137 Der Verweis des EuGH auf Art. 10 EG hat seine Berechtigung auf dieser dritten Stufe. Dort dient er dazu, die auf den ersten beiden Stufen gewonnenen materiellen Ergebnisse zu Verpflichtungen der Mitgliedstaaten erstarken zu lassen. Neben der Gesetzmäßigkeit ließe sich zur Begründung des Folgenbeseitigungsanspruchs auch die Verankerung eines Haftungsanspruchs in Art. 288 Abs. 2 EG heranziehen. Die Verpflichtung der Gemeinschaft zum Schadensersatz bei rechtswidrigem Handeln zeigt, dass sich die Vertragsparteien der Folgewirkungen der Rechtsbindung auf einer zweiten bzw. dritten Ebene bewusst waren. Art. 288 EG ist Ausdruck des allgemeinen Rechtsprinzips, dass rechtswidriges Staatshandeln vom Betroffenen nicht kompensationslos hingenommen werden muss. Darüber hinaus hat auch der EuGH sehr früh den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz betont,138 der heute als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts angesehen wird.139 Als eine seiner wesentlichen Ausprägungen wird im Schrifttum der Folgenbeseitigungsanspruch angesehen.140 Wie auch im deutschen Verfassungsrecht wird daher vertreten, dass umfassende Folgenbeseiti135 So im Ansatz auch Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490), der vom Grundsatz ausgeht, „dass niemand Steuern zu entrichten hat, die er nicht kraft Gesetzes schuldet.“ Der angesprochene Grundsatz betrifft aber zunächst nur die Primärebene. Er liefert nicht zugleich den Ansatz für eine Folgenbeseitigungspflicht auf Sekundärebene. 136 EuGH, Urteil vom 12.7.1957, verb. Rs. 7/56 und 3–7/57, Slg. 1957, 83 – Algera, S. 83 (117); Urteil vom 22.3.1961, verb. Rs. 42 und 49/59, Slg. 1961, 109 – SNUPAT, Rn. 10; Urteil vom 29.3.1979, 113/77, Slg. 1979, 1185 – NTN Toyo Bearing, Rn. 27. Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 (449); Rengeling, VVDStRL 53 (1994), S. 202 (229); Haibach, NVwZ 1998, S. 456 (459); Weber, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 55 (74); Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 65; Kadelbach, S. 119, weist auf die Geltung der Rule of Law hin. 137 Generalanwalt Reischl, Schlussanträge vom 9.1.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana; S. 1232 f. Vgl. Althuber, in: Althuber/Toifl, S. 37 (40); Tatham, E.L.Rev. 1994, 19(2), 146 bei Fn. 10. 138 So schon in Ansätzen EuGH, Urteil vom 5.2.1963, 26/62, Slg. 1963, 1 – van Gend & Loos, S. 26. 139 EuGH, Urteil vom 15.5.1986, 222/84, Slg. 1986, 1651 – Johnston, Rn. 13 ff. Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289 (290); Hirsch, Festgabe BVerwG, S. 3 (12); Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 (460); Rengeling, VVDStRL 53 (1994), S. 202 (215). 140 Drake, E.L. Rev. 2003, 28(3), S. 418 (429); Eilmansberger, S. 150.

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gung ein Postulat der Effektivität des Rechtsschutzes ist. Dennoch lässt sich auch hier der Einwand erheben, dass Verfahrensgewährleistungen nicht zur Begründung materieller Ansprüche taugen.141 Dem Gemeinschaftsrecht ist nach alledem der Anspruch auf Folgenbeseitigung in vergleichbarer Weise immanent wie dem nationalen Verfassungsrecht. b) Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch Werden Steuern rechtswidrig erhoben, ist Folgenbeseitigung gleichbedeutend mit der Rückzahlung des zu Unrecht erhobenen Betrags. Beruht die Rechtswidrigkeit auf der Unvereinbarkeit der Rechtsgrundlage für die Erhebung mit dem Gemeinschaftsrecht, soll der entstehende Rückzahlungsanspruch als gemeinschaftsrechtlicher Erstattungsanspruch bezeichnet werden. aa) Entwicklung Die bereits oben erwähnte Entscheidung des EuGH in der Rs. Humblet erkannte erstmals die Verpflichtung eines Mitgliedstaates zur Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben an.142 Aus der Verpflichtung zur Beseitigung der Folgen rechtswidrigen Staatshandelns folge unmittelbar die Verpflichtung zur Erstattung zu Unrecht erhobener Steuerbeträge.143 Damit war die Grundlage für eine Vielzahl weiterer Entscheidungen zum Erstattungsrecht gelegt. Der zweite Baustein zur Ausgestaltung des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs wurde mit der Entscheidung in der Rs. Rewe hinzugefügt.144 Zwischen der Firma Rewe und der Landwirtschaftskammer des Saarlandes war streitig, ob Gebühren, die durch bestandskräftige Gebührenbescheide festgesetzt worden waren, zu erstatten sind, wenn sich später auf Grund einer Entscheidung des EuGH in einem anderen Verfahren herausstellt, dass die Gebührenerhebung rechtswidrig war, weil die nationale Rechtsgrundlage gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.145 Der EuGH verneinte die Frage. Er gelangte zu dem Ergebnis, in141

Vgl. oben Fußnote 74. EuGH, Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, S. 1185 f. Der Kläger war grundsätzlich in Belgien steuerpflichtig, als EGKS Beamter aber von allen Steuern befreit. Belgien wollte bei der Besteuerung seiner Ehefrau das Einkommen des Klägers auf Grund „Zusammenveranlagung“ im Wege des Progressionsvorbehalts berücksichtigen. Der Gerichtshof sah hierin einen Verstoß gegen die einschlägigen Abkommen. 143 EuGH, Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, S. 1186. 144 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe. 145 Mit Urteil vom 11.10.1973, 39/73, Slg. 1973, 1039 – Rewe/Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe hatte der EuGH entschieden, dass Gebühren für die phytosanitäre 142

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dem er die Aufgabe, die dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht zukommenden Rechte zu schützen, der innerstaatlichen Rechtsordnung zuwies.146 Mit anderen Worten: Ob die rechtswidrig erhobenen Abgaben zu erstatten waren, sollte sich nach deutschem Recht bestimmen. Nach der Rechtsordnung der Bundesrepublik war eine Erstattung wegen der Bestandskraft der Gebührenbescheide ausgeschlossen. Die angesprochenen „Rechte des Einzelnen“ stellen eine Bezugnahme auf den in der Rs. Humblet entwickelten Erstattungsanspruch dar, ohne ihn ausdrücklich zu wiederholen oder näher zu konkretisieren. Obwohl im Zusammenhang mit der Erstattung von Abgaben häufig auf das Urteil in der Rs. Rewe verwiesen wird, sucht man dort vergeblich nach einem Recht auf Erstattung. Es bleibt bei der etwas kryptischen Formulierung, dass die Rechte des Einzelnen durch die innerstaatliche Rechtsordnung zu schützen sind. Die eigentliche Bedeutung der Entscheidung liegt damit nicht in der Anerkennung des Erstattungsanspruchs, sondern in der vom EuGH vorgenommenen Selbstbeschränkung, indem er einen wesentlichen Teil der Durchsetzung von Gemeinschaftsrechten den mitgliedstaatlichen Gerichten zuwies.147 Der Abgabenpflichtige muss sein Erstattungsbegehren vor nationalen Behörden und Gerichten verfolgen und dabei die Regeln beachten und die Voraussetzungen erfüllen, die allgemein für die Erstattung von Abgaben gelten. In der Rs. Humblet wurde somit der Erstattungsanspruch entwickelt, dessen Durchsetzung in der Rs. Rewe der innerstaatlichen Rechtsordnung zugewiesen wurde. Unzutreffend wäre es dabei, die Aufgabenteilung zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht in der Art zu beschreiben, dass das „Ob“ der Erstattung aus dem Gemeinschaftsrecht folgt und das „Wie“ dem nationalen Recht überlassen bleibt. Die mitgliedstaatliche Rechtsordnung kann nämlich – wie in Rewe geschehen – den Erstattungsanspruch durch beschränkende Regeln vollständig ausschließen und damit über das „Ob“ mitbestimmen.148 Zutreffender ist daher die Beschreibung, dass es Aufgabe des Gemeinschaftsrechts ist, den Grundsatz – hier die Erstattung – vorzugeben. Das nationale Recht füllt dann den Grundsatz mit Regelungen zu den Details aus. Die später folgenden, zahlreichen Urteile zur Erstattung von Steuern setzten die beiden Elemente aus Rewe und Humblet zusammen149 und konkretisierten damit Ursprung und Inhalt des Erstattungsanspruchs. Die sprachlich getrennte Untersuchung aus Frankreich eingeführter Äpfel Abgaben zollgleicher Wirkung sind und damit gegen die Art. 5, 9 und 13 Abs. 2 EWGV verstießen. 146 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5. 147 Zur fehlenden Erwähnung des Erstattungsanspruchs vgl. Eilmansberger, S. 123. 148 Das verkennt Hahn, DStZ 2003, S. 489 (493). 149 Erstmals EuGH, Urteil vom 26.6.1979, 177/78, Slg. 1979, 2161 – Pigs and Bacon Commission/McCarren, Rn. 25. Tatham, E.L.Rev. 1994, 19(2), 146 bei Fn. 7.

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Fortführung der beiden Elemente wird besonders deutlich in der Entscheidung Metallgesellschaft.150 In Rn. 84 des Urteils wird unter (stillschweigender) Bezugnahme auf Humblet das Recht auf Erstattung konstatiert. In der folgenden Randnummer wird dann unter Verweis auf Rewe die Bestimmung des Rechtsweges und des Verfahrens der innerstaatlichen Rechtsordnung zugewiesen. Um den Erstattungsanspruch des Gemeinschaftsrechts zu betonen, verwendet der EuGH mittlerweile die klassische und oft wiederholte Formel, dass „nach ständiger Rechtsprechung (. . .) das Recht auf Erstattung von Abgaben, die ein Mitgliedstaat unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben hat, eine Folge und eine Ergänzung der Rechte dar[stellt], die den Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht in seiner Auslegung durch den Gerichtshof erwachsen.“151 Diese in der Rs. San Giorgio erstmals verwendete Formel war zunächst noch auf rechtswidrig erhobene indirekte Steuern bzw. Gebühren und Beiträge beschränkt.152 Inzwischen hat der EuGH jedoch alle Zweifel beseitigt, dass das Recht auf Erstattung bei jeder Erhebung von Abgaben gilt, die gegen Gemeinschaftsrecht verstößt.153 Beleg dafür ist wiederum die Rs. Metallgesellschaft, in der die Grundsätze erstmals auf die Erstattung direkter Steuern angewendet wurden. Bereits die Entscheidung San Giorgio aus dem Jahr 1983 kann aber als endgültige Anerkennung eines eigenständigen Rechtsinstituts der Erstattung im Gemeinschaftsrecht bezeichnet werden.154 bb) Herleitung Die Existenz des Erstattungsanspruchs ist zum festen Bestandteil der Rechtsprechung geworden, der auch in der Literatur nicht mehr angezweifelt wird.155 Weniger eindeutig ist jedoch die rechtliche Grundlage der Erstattung. Die Frage ist nicht ohne jeden Belang, da die einschlägige Rechtsgrundlage möglicher150 Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft. 151 Erstmals im Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 12, allerdings noch beschränkt auf Rechte aus dem Verbot von Abgaben zollgleicher Wirkung. Später auch Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 84; Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 17; Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 23; Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 20; Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I-1883 – BP Soupergaz, Rn. 40; Vaulont, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 25 EGV, Rn. 12. 152 Zur Entwicklung Tatham, E.L.Rev. 19 (94), 146 ff.; Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490). 153 Hahn, IStR 2005, S. 145 (146); ders., DStZ 2003, S. 489 (490). 154 Eilmansberger, S. 138; Tatham, E.L.Rev. 1994, 19(2), 146 bei Fn. 18. 155 Berg, in: Schwarze, Art. 288 EGV, Rn. 71; Vaulont, in: von der Groeben/ Schwarze, Art. 25 EGV, Rn. 12; Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490). Vgl. auch Jarass, NJW 1994, S. 881 (882).

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weise Rückschlüsse auf die Anforderungen an die nähere Ausgestaltung des mitgliedstaatlichen Rechts zulässt. Da das Erstattungsrecht ein Teilbereich des umfassenden Folgenbeseitigungsrechts ist, liegt es nahe, dessen Rechtsgrundlagen heranzuziehen. Die zentrale Argumentationslinie ist dort auf die unmittelbare Wirkung des Gemeinschaftsrechts und die Mitwirkungspflicht der Mitgliedstaaten (Art. 10 EG) ausgerichtet.156 Wie zu erwarten zieht der EuGH diesen Gedanken auch zur Begründung des Erstattungsanspruchs heran.157 Hierzu ist oben bereits die Kritik geäußert worden, der EuGH verweise zur Begründung der Folgenbeseitigungspflicht pauschal auf die Mitwirkungs-/und Loyalitätspflicht der Mitgliedstaaten, ohne zu erläutern, worauf sich die Mitwirkungspflicht beziehe. Im Bereich des Erstattungsrechts bezieht der Gerichtshof zumindest in einigen Urteilen recht eindeutig Stellung. Ganz grundsätzlich stellt er fest, dass die Erstattung „Folge und Ergänzung der dem Einzelnen aus dem Gemeinschaftsrecht zukommenden Rechte“ sei.158 Häufig nehmen die Urteile allerdings nur abstrakt Bezug auf die „Rechte aus dem Gemeinschaftsrecht“, ohne die einschlägigen Rechte im Einzelnen zu bezeichnen. Eine Ausnahme stellt hingegen die Entscheidung in der Rs. Deville dar, in der es heißt, die Erstattungspflicht folge „aus der unmittelbaren Wirkung der Gemeinschaftsbestimmung, die verletzt worden ist“.159 Der konkreten Norm, die die Erhebung einer Abgabe auf Primärebene verbietet, entnimmt der Gerichtshof damit eine zweite Schutzrichtung. Neben dem Verbot der Erhebung enthält die Gemeinschaftsrechtsbestimmung also zugleich ein Gebot der Erstattung. Materielle Gemeinschaftsrechtsnormen erlangen damit über ihre Geltung auf der Primärebene hinaus auch Bedeutung für die Sekundärebene. Damit stimmt der Gerichtshof mit der in Deutschland vertretenen Auffassung völlig überein, dass durch das Prinzip der Gesetzmäßigkeit das materielle Recht in die Folgenbeseitigungsebene hineinwirke, womit das Recht auf Erstattung direkt aus den Freiheitsgrundrechten folge. Der abweichenden Terminologie zum Trotz geht es dem EuGH bei der Betonung der „unmittelbaren Wirkung“ des Gemeinschaftsrechts und dem Bundesverwaltungsgericht mit der Betonung der 156

Vgl. oben S. 46. Etwa EuGH, Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 25. Vgl. auch Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490). 158 EuGH, Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 12; Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 84; Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 17. 159 Urteil vom 29.6.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513 – Deville, Rn. 11. Frankreich erhob in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Sachverhalt eine Sondersteuer für besonders stark motorisierte Fahrzeuge. Fahrzeuge mit dieser Motorleistung wurden nur außerhalb Frankreichs gebaut, so dass die Steuer gegen Art. 95 EWGV (Art. 90 EGV) verstieß. 157

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Gesetzesbindung um dieselbe Sache: Die Auslegung der einschlägigen Primärnormen in ihrem rechtssystematischen Kontext offenbart eine zweite Schutzebene. Neben der Abwehr von Eingriffen vermittelt das materielle Recht zugleich ein Recht auf Wiederherstellung des status quo ante.160 Rechtsmethodisch legen EuGH und Bundesverwaltungsgericht die Primärrechtsnormen nach ihrem Telos aus. Der Sinn der Verbotsnorm, bestimmte Abgaben zu erheben, kann nur erreicht werden, wenn bei einem Verstoß gegen das Verbot der verbotswidrige Zustand wieder beseitigt wird. Die Erstattung darf dabei allerdings nicht als Sanktion gegen den rechtswidrig handelnden Mitgliedstaat missverstanden werden. Wie Generalanwalt Tizzano ausführt, ist es „Ziel und vorrangiges Interesse der Rechtsordnung, (. . .) die Wahrung des Rechts sicherzustellen und soweit wie möglich wiederherzustellen.“ Eine Erstattung, die nicht notwendig ist, um diese Ziele durchzusetzen, wäre „dann nur Ausdruck repressiver Absichten, (. . .) nämlich der Absicht, den ,Täter‘ dafür zu ,bestrafen‘, dass er es gewagt hat, gegen das Gemeinschaftsrecht zu verstoßen. (. . .) Solche Ziele sind aber (. . .) völlig systemfremd.“161 Zu Recht weist der Generalanwalt darauf hin, dass es zumindest bei der Erstattung nicht um eine Sanktionierung von Fehlverhalten geht, sondern um die Wiederherstellung eines früheren Zustands. Eine teleologische Auslegung der verletzten Gemeinschaftsrechtsnormen könnte eine Zuerkennung von punitive damages wohl kaum rechtfertigen. Das Rechtsinstitut der Folgenbeseitigung und vor allem der Erstattungsanspruch als seine wichtigste Ausprägung im Steuerrecht steht dabei nicht im Ermessen der Mitgliedstaaten. Genau so, wie die Mitgliedstaaten verpflichtet sind, Abgaben nicht in einer Weise zu erheben, die gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt, sind sie in der Pflicht, bei einer dennoch erfolgten Abgabenerhebung, diese zu erstatten. Der zwingende Charakter des Erstattungsgrundsatzes ergibt sich daraus, dass jede einzelne Norm des Gemeinschaftsrechts für die Mitgliedstaaten in der Form verbindlich ist, die sie durch die Auslegung des EuGH erfahren hat. Teil der verbindlichen Auslegung ist auch die zweite Ebene als Folgenbeseitigungsebene. Der Anspruch ist dem Grunde nach damit auch dann gegeben, wenn das Recht eines Mitgliedstaates ihn nicht kennen sollte.162 Die sich daraus ergeben160 Anderer Ansicht Aubin, S. 50, der dem materiellen Recht keine Regeln über die Haftung des Staats zu entnehmen vermag. 161 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10.11.2005, C-292/04, Slg. 2007, I1837 – Meilicke, Rn. 42. Anders aber Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490); seiner Ansicht nach hat die Erstattung durchaus Sanktionscharakter. Die Rechtsprechung stützt diesen Befund allerdings nicht. Für Sanktionsnormen typische Elemente wie Verschulden, Zurechnung o. ä. spielen in den Entscheidungen keine Rolle. 162 Ausdrücklich Lindner, NVwZ 1999, S. 1079 (1080); Huthmacher, S. 43; Stockmann, IWB Fach 11a, S. 499 (502).

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den Folgefragen, was gilt, wenn ein Mitgliedstaat das Recht auf Erstattung nicht vorsieht, sind theoretisch geblieben, da alle Mitgliedstaaten einen Erstattungsanspruch in der einen oder anderen Form kennen.163 In Deutschland bestand ebenfalls keine Notwendigkeit zu einem grundlegenden Umbau des Steuerverfahrensrechts. Das nationale Recht stellt mit § 37 Abs. 2 AO eine Anspruchsgrundlage zur Verfügung, über die grundsätzlich jede zu Unrecht erfolgte Steuererhebung rückabgewickelt werden kann. cc) Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch als subjektives Recht Der EuGH hat sich nicht dauerhaft damit begnügt, das Erstattungsrecht nur als objektive Verpflichtung der Mitgliedstaaten auszugestalten, wie dies noch in der Rs. Humblet angelegt war.164 Er stellte in späteren Entscheidungen vielmehr klar, dass mit der objektiven Erstattungspflicht ein subjektives Recht des Steuerpflichtigen Hand in Hand geht. Die Erstattung sei zugleich ein Recht des Steuerpflichtigen und eine Pflicht der Mitgliedstaaten.165 Einer der Gründe für die Subjektivierung des Erstattungsrechts liegt sicherlich darin, dass der Erfolg der Gemeinschaft auf die Akzeptanz ihres Rechts – aber auch auf dessen zwangsweise Durchsetzung – in den einzelnen Mitgliedstaaten angewiesen ist. Will der EuGH die Wahrung des Gemeinschaftsrechts sicherstellen, geht das am einfachsten und effektivsten durch die Zuerkennung

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Ausführlich dazu Huthmacher, S. 42. Eine Ausnahme stellte Großbritannien dar, wo (Steuer-)Zahlungen, die auf einem Rechtsfehler beruhten, im Regelfall nicht erstattet werden konnten (Bilbie v. Lumley [1802] 2 East 469, 102 E.R. 448). Erst unter dem Eindruck der San Giorgio Entscheidung (Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595) sah sich das House of Lords genötigt, von dieser Regel abzuweichen und das grundsätzliche Recht auf Erstattung von rechtswidrig erhobenen Abgaben im innerstaatlichen Recht umfassend anzuerkennen. Lord Goff nahm in der Entscheidung ausdrücklich Bezug auf die Rechtsprechung des EuGH und anerkannte die Verpflichtung, jedenfalls bei Klagen mit Gemeinschaftsrechtsbezug einen solchen Anspruch anzuerkennen (Woolwich Building Society v. Inland Revenue Commissioners [1993] A.C. 70; Steiner/Woods, S. 145). Die Entscheidung, in der dieser Rechtsprechungswandel vollzogen wurde, betraf einen rein innerstaatlichen Fall. Die Frage der Vereinbarkeit des britischen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht war bis zu diesem Zeitpunkt nicht akut geworden. 164 Nach dem einschlägigen Protokoll über die Vorrechte und Immunitäten der EGKS i.V. m. Art. 43 EGKS-Vertrag sah sich der EuGH nicht als befugt an, den belgischen Steuerbescheid für nichtig zu erklären. Er verpflichtete nur das nationale Gericht, die sich aus der Auslegung des Gemeinschaftsrechts ergebenden Schlüsse zu ziehen. 165 Beispielsweise EuGH, Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 20; Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 38; Urteil vom 22.10.1998, verb. Rs. C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 – IN.CO.GE’90, Rn. 24.

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von individualschützenden Rechten an die Bürger. Diese werden damit in die Lage versetzt, ihre Rechte selbständig gegenüber ihrem jeweiligen Mitgliedstaat geltend zu machen.166 Durch das im Vertrag zur Wahrung des Rechts primär vorgesehene Vertragsverletzungsverfahren ist das schon strukturell nicht zu erreichen,167 da dort als „Ankläger“ nur die Kommission und die anderen Mitgliedstaaten in Betracht kommen (Art. 226 f. EG).168 Angesichts dieses kleinen Kreises mit begrenzten Ressourcen ausgestatteter Aktivlegitimierter ist ein Vollzugsdefizit unausweichlich. Das Gemeinschaftsrecht kann effektiv und effizient nur durchgesetzt werden, wenn jeder Einzelne seine Rechte gegen seinen Mitgliedstaat geltend machen und ggfs. mit Hilfe nationaler Gerichte und des EuGH durchsetzen kann. Geleitet von dieser Überlegung baute der Gerichtshof den Individualschutz konsequent aus und ermöglichte so ein Vorgehen des Bürgers gegen rechtswidrig handelnde Mitgliedstaaten. Die Subjektivierung des Rechts auf Erstattung steht dabei in einer Reihe mit Innovationen der Rechtsprechung wie dem gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftungsanspruch oder der unmittelbaren Anwendbarkeit von Richtlinien, die alle auf eine tatsächliche Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch Zuerkennung von Ansprüchen an Einzelne abzielen. dd) Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch als Anspruchsgrundlage? Auch wenn der EuGH sehr klar macht, dass das Recht auf Erstattung ein Recht des Steuerpflichtigen ist, das sich aus dem Gemeinschaftsrecht selbst ergibt, so ist damit noch nicht gesagt, dass auch die Anspruchsgrundlagen im Gemeinschaftsrecht zu finden sind.

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Vgl. Eilmansberger, S. 61 f.; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), S. 154 (191). Darüber hinaus steht die Einleitung eines Verfahrens (Art. 226 EGV) nach herrschender Meinung im Ermessen der Kommission, Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 226 EGV, Rn. 42; Urteil vom 23.5.1990, C-72/90, Slg. 1990, I-2181 – Asia Motor France/Kommission, Rn. 13. Gerade im Steuerrecht gelangt die Kommission angesichts der Vielzahl mutmaßlicher Verstöße an ihre Kapazitätsgrenzen. Von der Quantität her spielen Vertragsverletzungsverfahren gegenüber Vorabentscheidungsersuchen eine untergeordnete Rolle. Zum 11.3.2005 waren acht Vertragsverletzungsverfahren im vorprozessualen Stadium gegen die Bundesrepublik Deutschland anhängig; Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage, BT-Drs. 15/5078. 168 Das Klagerecht der Mitgliedstaaten (Art. 227 EGV) erweist sich zumindest im Steuerrecht als stumpfes Schwert. Bis heute wurde von keinem Mitgliedstaat ein Vertragsverletzungsverfahren im Bereich des Steuerrechts gegen einen anderen Mitgliedstaat anhängig gemacht. Die Zurückhaltung ist sicherlich Ausdruck einer stillschweigenden Übereinkunft, wechselseitig die Gemeinschaftsrechtskonformität des Steuerrechts nicht in Frage zu stellen. 167

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Die Grundlage eines subjektiven Rechts und seine dazu gehörenden Anspruchsgrundlagen können durchaus unterschiedlichen Rechtsquellen, die auch einen unterschiedlichen Rang haben können, entspringen, wie der Vergleich mit dem Folgenbeseitigungsanspruch im deutschen Recht zeigt. Zwar genießt der Anspruch auf Folgenbeseitigung Verfassungsrang, doch ist die Anspruchsgrundlage, also die Norm, aus der sich die Tatbestandsvoraussetzungen ergeben, nicht selbst Teil der Verfassung.169 Ähnlich verhält es sich mit dem Erstattungsanspruch des Gemeinschaftsrechts. Der Anspruch als solcher kann dem Gemeinschaftsrecht entnommen werden;170 weder im Primär- noch im Sekundärrecht findet sich jedoch eine ausdrückliche Anspruchsgrundlage für die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben.171 Allenfalls könnte dem Gemeinschaftsrecht eine Anspruchsgrundlage durch Auslegung zu entnehmen sein. Vereinzelt wird nach wie vor die Auffassung vertreten, Art. 10 EG beinhalte eine Nebenpflicht zur Folgenbeseitigung, die zugleich Anspruchsgrundlage sei.172 Der Rückgriff auf nationale Anspruchsgrundlagen wird nicht nur als entbehrlich, sondern sogar als falsch bezeichnet.173 Dennoch soll nach dieser Ansicht die Geltendmachung des gemeinschaftsrechtlichen Anspruchs nach den mitgliedstaatlichen Verfahrensregeln erfolgen.174 Spätestens mit der Entscheidung in der Rs. Rewe ist dieser Auffassung die Grundlage entzogen worden. Der EuGH betonte dort ausdrücklich, dass sich dem Gemeinschaftsrecht keine eigenständige Anspruchsgrundlage entnehmen lasse.175 Die Regelung der Erstattung zu Unrecht erhobener inländischer Abgaben sei originäre Aufgabe der Mitgliedstaaten und ihrer Organe.176 169

Vgl. oben S. 38. Vgl. Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490). 171 Hahn, DStZ 2003, S. 489 (490 f.) bezeichnet dies als „Doppelnatur“ des Erstattungsanspruchs. Vgl. auch Weber, EuR 1986, S. 1 (15). Aubin, S. 64 ff. 172 Zuerst Bleckmann, DVBl 1976, S. 483 (484 f.); ders., Europarecht, Rn. 684. Huthmacher, S. 42 f., will in Art. 10 EGV zumindest eine subsidiäre Anspruchsgrundlage sehen, die dann eingreift, wenn ein Mitgliedstaat keinen ausreichenden Rechtsschutz gewährleistet. 173 So ausdrücklich Bleckmann, DVBl 1976, S. 483 (485). 174 Bleckmann, DVBl 1976, S. 483 (486). 175 „Mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Bestimmung auf diesem Gebiet“, so Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5. 176 So z. B. EuGH, Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 85; Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5; Urteil vom 16.12.1976, 45/76, Slg. 1976, 2043 – Comet, Rn. 11/ 18; Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 14; Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 12; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 19. Weber, EuR 1986, 1 (15), weist auf die 170

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Jeder Versuch, eine Anspruchsgrundlage durch Auslegung in das Gemeinschaftsrecht hineinzulesen, läuft damit der seit Rewe unveränderten Rechtsprechung des EuGH zuwider.177 Der Befund, dass das Gemeinschaftsrecht zwar die Existenz eines Erstattungsanspruchs gebietet, selbst aber keine Regelungen zu dessen Durchsetzung und Geltendmachung zur Verfügung stellt, wird besonders deutlich in den Rn. 102 und 103 des Urteils in der Rs. Weber’s Wine World.178 Zugleich zeigt dieses Urteil deutlich, dass zwischen Anspruch und Anspruchsgrundlage zu unterscheiden ist. In Rn. 102 urteilte der EuGH, dass die geltenden „gemeinschaftsrechtlichen Regeln über die Erstattung rechtsgrundlos gezahlter Beträge“ der umstrittenen österreichischen Steuerverfahrensnorm entgegenstehen. In der darauf folgenden Randnummer wiederholte der EuGH seine Standardformulierung, wonach „in Ermangelung einer Gemeinschaftsregelung über die Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben“ die Ausgestaltung des Verfahrens Sache der innerstaatlichen Rechtsordnungen sei. Die Formulierung, die gemeinschaftsrechtlichen Regelungen über die Erstattung stünden einer Verfahrensnorm entgegen, während unmittelbar danach auf das Fehlen einer Gemeinschaftsregelung über die Erstattung hingewiesen wird, erscheint zunächst widersprüchlich. Der Widerspruch lässt sich auflösen, wenn man die „gemeinschaftsrechtlichen Regeln“ in Rn. 102 als gemeinschaftsrechtliches Gebot für das Vorhandensein eines Erstattungsrechts – also als Anspruch – versteht, die fehlende „Gemeinschaftsregelung“ in Rn. 103 hingegen als Hinweis auf die fehlende Anspruchsgrundlage im Gemeinschaftsrecht und das Fehlen von diesbezüglichen Verfahrensregeln. Die Unterscheidung zwischen gemeinschaftsrechtlichem Anspruch und nationaler Anspruchsgrundlage entspricht auch der sonstigen Systematik des Rechts der Gemeinschaft. Es zeichnet sich insgesamt durch die Vorgabe von Rahmenbedingungen aus, ohne das rechtliche Instrumentarium zu ihrer Durchsetzung selbst zur Verfügung zu stellen.179 Nur in wenigen Bereichen – vor allem dort, wo das Gemeinschaftsrecht auch durch Gemeinschaftsorgane vollzogen wird – finden sich Regelungen zum Verfahrensrecht. Ansonsten wird auf das vorhanKompetenzverteilung und den daraus folgenden engen Spielraum für eine richterliche Rechtsfortbildung hin. 177 Vgl. dazu nur die Entscheidungen seit Rewe (Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989): Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I1760 – Metallgesellschaft, Rn. 85; außerdem Urteil vom 21.1.1999, C-120/97, Slg. 1999, I-223 – Upjohn Ltd/The Licensing Authority, Rn. 32; Urteil vom 9.2.1999, C343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 25. Tridimas, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 465 (465); Huthmacher, S. 47; Aubin, S. 50. 178 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World. 179 Haibach, NVwZ 1998, S. 456; auch Kadelbach, S. 116 ff.

I. Gebotenheit der Folgenbeseitigung

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dene mitgliedstaatliche Recht zurückgegriffen. Das Fehlen einer Anspruchsgrundlage für einen Erstattungsanspruch ist daher symptomatisch für eine Gemeinschaft, die als Rechtsetzungs- und nicht als Verwaltungsgemeinschaft konzipiert wurde.180 Nun hätte es nahe gelegen, dass der EuGH das Fehlen gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen kompensiert, indem er diese „Lücke“181 durch Richterrecht schließt.182 Dies tat er aber gerade nicht. In seiner ersten Rewe-Entscheidung183 und in der am gleichen Tag ergangenen Entscheidung in der Rs. Comet184 betonte er vielmehr, dass „mangels einer gemeinschaftsrechtlichen Regelung auf diesem Gebiet“ der Rechtsschutz durch die Mitgliedstaaten und ihre Organe zu erfolgen habe. In einer zweiten Rewe-Entscheidung stellte er ausdrücklich klar, dass der EG-Vertrag „keine neuen Klagemöglichkeiten schaffen soll“.185 Die positive Herausarbeitung eines eigenständigen gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs wurde damit ausdrücklich abgelehnt. An dieser Aussage hat der Gerichtshof auch in der Folgezeit festgehalten. Allerdings hat er – wie noch zu zeigen sein wird – die Anforderungen an die nationale Ausgestaltung eines Erstattungsanspruchs zunehmend konkretisiert und den mitgliedstaatlichen Spielraum damit eingeschränkt. Dennoch wurde trotz detaillierterer Kasuistik auch bei materieller Betrachtung kein eigenständiger gemeinschaftsrechtlicher Erstattungsanspruch im Sinne einer gemeinschaftseigenen Anspruchsgrundlage entwickelt. In keiner Entscheidung werden die Tatbestandsmerkmale eines solchen Anspruchs enumerativ aufgezählt. Er beschränkt sich auf eine Negativkontrolle, indem er einzelne Beschränkungen des Erstattungsanspruchs verwirft, die dem Gemeinschaftsrecht widersprechen. Auch im „Ausschlussverfahren“ – etwa im Sinne einer negativen Tatbestandsbildung, nach der nur eine einzige Ausgestaltung des Erstattungsanspruchs gemeinschaftskonform wäre186 – lässt sich kein gemeinschafts180 EuGH, Urteil vom 23.4.1986, 294/83, Slg. 1986, 1339 – Les Verts, Rn. 23. Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107. 181 Nach Larenz, S. 370, ist eine Rechtsordnung nur „lückenhaft“, wenn das Schweigen des Rechts planwidrig ist. Wie unten, S. 66, gezeigt werden wird, beruht das Schweigen des Gemeinschaftsrechts aber auf der Kompetenzabgrenzung zu den Mitgliedstaaten. Es fehlt daher schon an einer durch Richterrecht zu schließenden Lücke. 182 Diese Erwartung äußert Lindner, NVwZ 1999, S. 1079. 183 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5. 184 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 45/76, Slg. 1976, 2043 – Comet, Rn. 11/18. 185 EuGH, Urteil vom 7.7.1981, 158/80, Slg. 1981, 1805 – Rewe/Hauptzollamt Kiel, Rn. 44. Die Entscheidung erging zur Zulässigkeit einer Unterlassungsklage gegen Butterfahrten. Sie wurde jüngst bestätigt im Urteil vom 13.3.2007, C-432/05, Slg. 2007, I-2271 – Unibet. Zur Bedeutung der Rewe Entscheidung für die Verfahrensautonomie auch Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289 (291). 186 Einer Art „Spielraumreduktion auf Null“.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

rechtlicher Tatbestand gewinnen.187 Die Urteile zum Erstattungsrecht betreffen lediglich singuläre Punkte, wenn auch mit einem hohen Grad an Detaillierung. Dennoch verbleibt den Mitgliedstaaten ein substanzieller Spielraum, einen eigenen Tatbestand eines Erstattungsanspruchs auszugestalten. Beispielsweise finden sich einerseits detaillierte Überlegungen zum Ausschluss der Erstattung bei Abwälzung der rechtswidrigen Abgabe auf Dritte,188 andererseits ist eine einheitliche Frist für die Geltendmachung des Anspruchs aber nicht erkennbar.189 Die positive wie negative Tatbestandsbildung ist damit in jedem Fall erheblich weniger weit fortgeschritten als im Staatshaftungsrecht, in dem der EuGH in Folge der Francovich Rechtsprechung190 die Tatbestandsmerkmale eines Staatshaftungsanspruchs detailliert herausgearbeitet hat.191 Selbst dort billigt der EuGH aber, dass die deutsche Rechtsprechung primär die überkommenen nationalen Institute des Haftungsrechts anwendet und damit nationale Anspruchsgrundlagen zum Tragen kommen.192 Nur dann, wenn die nationalen Rechtsinstitute die gemeinschaftsrechtlich gebotene Rechtsfolge nicht hergeben, bringt der BGH die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben unmittelbar zur Anwendung.193

187 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 34, Rn. 35, meint allerdings erste Anzeichen für „positive Ausgestaltungsbedingungen“ zu erkennen. Beispiele führt er allerdings nicht an. Weber, EuR 1986, S. 1 (15), sieht im Case Law immerhin eine nützliche Orientierungshilfe. 188 Vgl. unten S. 156. 189 Auch Röben, S. 252, weist etwa darauf hin, dass eine positive Ausgestaltung der Klagefristen der Rechtsprechung nicht zu entnehmen ist. Ein Ausreißer ist allerdings die Entscheidung Grundig Italiana (Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I8003), in der der EuGH eine dreimonatige Übergangsfrist verwarf und eine sechsmonatige als gemeinschaftsrechtlich geboten festsetzte. Ausführlich zu dieser Entscheidung unten S. 107. 190 EuGH, Urteil vom 19.11.1991, verb. Rs. C-6/90 und C-9/90, Slg. 1991, I-5357 – Francovich. 191 Nachweise bei Streinz, Rn. 417. Vergleichbares gilt auch für die Voraussetzungen, unter denen einstweiliger Rechtsschutz durch nationale Gerichte in Gemeinschaftsrechtsfällen gewährt werden muss; EuGH, Urteil vom 21.2.1991, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415 – Zuckerfabrik Süderdithmarschen, Rn. 23 ff.; Urteil vom 9.11.1995, C-465/93, Slg. 1995, I-3781 – Atlanta, Rn. 32 ff. Zu den Voraussetzungen im Einzelnen Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (527). 192 Nach Ansicht des EuGH folgt der Grundsatz der Staatshaftung unmittelbar aus dem Gemeinschaftsrecht (vgl. Ruffert, in: Calliess/Ruffert, § 288, Rn. 36). Die Ausgestaltung der Staatshaftung ist dabei dem nationalen Recht überlassen (vgl. Herdegen, § 11, Rn. 18). 193 Der BGH steht der Modifikation des nationalen Staatshaftungsrechts durch Gemeinschaftsrecht skeptisch gegenüber. Er lehnt Anpassungen ab und bringt stattdessen einen unmittelbaren Anspruch aus dem Gemeinschaftsrecht zur Anwendung. Vgl. BGH, Urteil vom 24.10.1996, BGHZ 134, S. 30 (33) – Brasserie du pêcheur. Vgl. auch von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 288 EGV, Rn. 170 und Herdegen, § 11, Rn. 15.

II. Gemeinschaftsrecht und nationales Erstattungsrecht

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Es bleibt daher dabei, dass die Grundlage für eine Erstattung im nationalen Recht gesucht werden muss. Der vom EuGH formulierte „Anspruch auf Erstattung“ ist somit kein Anspruch im Sinne einer Anspruchsgrundlage,194 sondern Leitmotiv, an dem sich die Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung zu orientieren haben. Lediglich im Bereich der Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Gemeinschaftsabgaben sieht das Gemeinschaftsrecht eigene Anspruchsgrundlagen für eine Erstattung vor und regelt auch das Verwaltungsverfahren im Einzelnen. Die Erstattung wurde hier bereits 1979 mit den Verordnungen 1430/79 und 1697/79 durch den Gemeinschaftsgesetzgeber selbst geregelt.195 Die Regelungen wurden nunmehr in den Zollkodex überführt.196 Sie finden auf nationale Abgaben, die unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht erhoben wurden, weder direkt noch analog Anwendung.197 Hierfür stellt das Gemeinschaftsrecht nach wie vor keine eigene Anspruchsgrundlage bereit.

II. Verhältnis des gemeinschaftsrechtlichen zum nationalen Erstattungsrecht Soeben wurde gezeigt, dass sowohl das nationale Verfassungsrecht als auch das Gemeinschaftsrecht den Grundsatz der Folgenbeseitigung rechtswidriger Steuererhebungen durch Erstattung der gezahlten Steuer kennen. Zugleich wurde ausgeführt, dass es ein wesentliches Element der Rewe-Entscheidung war, dass die Aufgabe der Rechtsschutzgewährung der innerstaatlichen Rechtsordnung zugewiesen und damit den mitgliedstaatlichen Regelungen unterworfen wurde. Die Mitgliedstaaten sind ihrer Aufgabe, den gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsgrundsatz mit Verfahrensregeln anzureichern, in der Regel dadurch nachgekommen, dass sie ihr ohnehin vorhandenes nationales Verfahrensrecht auch auf gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte anwenden. Ihr Spielraum wird dabei durch gemeinschaftliche Verfahrensregelungen nicht nennenswert eingeschränkt. Dies beruht maßgeblich auf der Kompetenzverteilung im verfahrensrechtlichen Bereich zu Gunsten der Mitgliedstaaten.

194

So auch Hahn, IStR 2005, S. 145 (147). VO 1430/79 vom 2.7.1979 über die Erstattung oder den Erlass von Eingangsund Ausfuhrabgaben, ABl. 1979 L 175/1 bzw. VO 1697/79 vom 24.7.1979 betreffend die Nacherhebung von noch nicht vom Abgabenschuldner abgeforderten Eingangsund Ausfuhrabgaben, ABl. 1979 L 197/1. 196 VO 2913/92 vom 12.10.1992 zur Festlegung des Zollkodex der Gemeinschaften, ABl. 1992 L 302, S. 1. 197 EuGH, Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 20. Vaulont, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 25 EGV, Rn. 12. 195

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

1. Die Kompetenzverteilung im Verfahrensrecht Die Durchschlagskraft des gemeinschaftsrechtlich gebotenen Erstattungsanspruchs hängt in hohem Maße von der Ausgestaltung der Erstattungsregelungen ab. Die Mitgliedstaaten können sie in einer Art und Weise ausgestalten, dass die Erstattung zum Ausnahmefall wird; ihr kann aber auch uneingeschränkter Vorrang gegenüber gegenläufigen Rechtsgütern eingeräumt werden, so dass jede rechtswidrig erhobene Steuer erstattet wird. Zur Ausgestaltung des Erstattungsverfahrens durch die Mitgliedstaaten zählt dabei sowohl der Erlass materieller als auch formeller Normen. In materieller Hinsicht ist vor allem eine Anspruchsgrundlage für die Erstattung zu schaffen, die – wie gesehen – vom Gemeinschaftsrecht nicht zur Verfügung gestellt wird. Formelle Regelungen betreffen vor allem die Frage, auf welchem Rechtsweg der Anspruch vom Berechtigten geltend gemacht werden muss und welche Verfahrensregelungen (Verjährung etc.) dabei Anwendung finden. Obwohl es sich um einen Regelungskomplex handelt, der formelle und materielle Normen umfasst, soll er im Folgenden in Übereinstimmung mit der Terminologie des EuGH als „Verfahrensrecht“ bezeichnet werden.198 Zur Absicherung des Erstattungsgebots läge es nahe, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber eine Vollkodifikation des Erstattungsverfahrensrechts anstrebt, die die tatsächliche Verwirklichung der Erstattung sicherstellt. Dem Gemeinschaftsrecht fehlt aber nicht nur eine Anspruchsgrundlage für den Erstattungsanspruch, es hält auch keine formellen Vorschriften vor. Dieser Zustand wird sich – auch aus kompetenziellen Gründen – in naher Zukunft nicht ändern.199 a) Fehlende Gemeinschaftsregelungen zum Verfahrensrecht Weder im primären noch im sekundären Gemeinschaftsrecht finden sich Normen, die das Erstattungsverfahren regeln. Das gilt nicht nur für das bereits geschilderte Fehlen einer gemeinschaftsunmittelbaren Anspruchsgrundlage, sondern auch für alle sonstigen Verfahrensnormen. Damit fehlt der Gemeinschaft das klassische Instrumentarium, um auf mitgliedstaatliches Handeln Einfluss zu nehmen. Üblicherweise wird durch den Erlass bindender Rechtsvorschriften sichergestellt, dass die Entscheidungen der Gemeinschaft auf mitgliedstaatlicher Ebene umgesetzt werden. Ohne ein gemeinschaftliches Verfahrensrecht begibt sich die Gemeinschaft dieser direkten Einwirkungsmöglichkeit. 198 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5: „Ausgestaltung des Verfahrens“. Auch wenn hier noch Zweifel möglich sind, ob sich dies nicht nur auf das gerichtliche Verfahren beziehen soll, zeigen die Folgeentscheidungen, dass sich die Aussage auf den Gesamtkomplex des Erstattungsverfahrens beziehen soll. Darauf weist auch Aubin, S. 45, hin. 199 Dazu noch unten S. 66.

II. Gemeinschaftsrecht und nationales Erstattungsrecht

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aa) Erstattungsrecht als Vollzug von Gemeinschaftsrecht Dort, wo umfassende Kodifikationen fehlen, die eine direkte Einwirkung erlauben, ist nichtsdestotrotz eine mittelbare Beeinflussung nationalen Rechts durch das Gemeinschaftsrecht anerkannt, wenn auf der Grundlage mitgliedstaatlichen Rechts das Gemeinschaftsrecht vollzogen wird.200 Sollte es sich bei der Erstattung gemeinschaftsrechtswidriger Abgaben um den Vollzug von Gemeinschaftsrecht handeln, könnten die dazu entwickelten Gedanken auch hier Anwendung finden. Beim Vollzug des Gemeinschaftsrechts wird klassischerweise zwischen dem gemeinschaftsunmittelbaren Vollzug, also dem Vollzug durch Organe der Gemeinschaft, und dem mitgliedstaatlichen Vollzug unterschieden. Bei letzterem wird wiederum zwischen dem unmittelbaren (oder direkten) und dem mittelbaren (oder indirekten) Vollzug unterschieden.201

Vollzug von Gemeinschaftsrecht

Gemeinschaftsunmittelbarer Vollzug

Mitgliedstaatlicher Vollzug

unmittelbarer Vollzug (Anwendung von Gemeinschaftsrecht)

mittelbarer Vollzug (Anwendung nationalen Transformationsrechts)

200 Als eine besondere Form der Einwirkung trotz fehlender gemeinschaftsrechtlicher Verfahrensnormen wurde in der Folge der Alcan-Entscheidung (Urteil vom 20.3.1997, C-24/95, Slg. 1997, I-1607) für die Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Beihilfen eine Verordnung erlassen, die allgemeine Grundsätze für eine Rückforderung festlegt. Der Vollzug der Rückabwicklung ist aber weiterhin den Mitgliedstaaten überlassen; Verordnung 659/1999 vom 22.3.1999 (Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 [461]). Die Besonderheit liegt allerdings darin, dass der die Beihilfe gewährende Mitgliedstaat und der Empfänger gleichgerichtete, aber dem Gemeinschaftsrecht zuwiderlaufende Interessen verfolgen. 201 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (9); Ehlers, in: Erichsen/Ehlers, § 4, Rn. 43 ff.; ders., DVBl 1991, S. 605 (610).

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Beim unmittelbaren Vollzug wenden Organe der Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbares materielles Gemeinschaftsrecht an. In Ermangelung eines vergemeinschafteten Verfahrensrechts bestimmt sich das Verwaltungsverfahren im Regelfall wiederum nach mitgliedstaatlichem Recht. Beim mittelbaren Vollzug wird nationales materielles Recht nach nationalem Verfahrensrecht vollzogen, wobei das nationale materielle Recht mitgliedstaatliches Ausführungsrecht für gemeinschaftsrechtliche Vorgaben ist, vor allem also der Umsetzung von Richtlinien dient.202 Das Erstattungsverfahren ist offensichtlich kein Fall von gemeinschaftsunmittelbarem Vollzug, da Gemeinschaftsorgane in das Erstattungsverfahren nicht einbezogen sind.203 Auch ein mittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug liegt nicht vor. Die Erstattungsregelungen des deutschen Rechts, vor allem § 37 Abs. 2 AO, sind historisch nicht als nationales Transformationsrecht für gemeinschaftsrechtliche Vorgaben konzipiert worden. In erster Linie sollte eine Anspruchsgrundlage geschaffen werden, um die gegenseitigen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis bewältigen zu können. An dieser Zweckbestimmung hat sich auch später nichts geändert. Der Gesetzgeber hat die Norm unverändert gelassen und damit keine veränderte Intention dokumentiert. Die Vorschrift diente weder zum Zeitpunkt ihrer Entstehung noch heute unmittelbar der Umsetzung gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben. Die Erstattung kann allenfalls als unmittelbarer mitgliedstaatlicher Vollzug bezeichnet werden. Dafür spricht, dass der Erstattungsanspruch immanenter Bestandteil des Gemeinschaftsrechts ist. Das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht wäre danach das Vollzugsrecht für den gemeinschaftsrechtlichen, materiellen Erstattungsanspruch. In den typischen Fällen des unmittelbaren Vollzugs gehen die materiellen Gemeinschaftsvorgaben allerdings im Detaillierungsgrad deutlich über das hinaus, was als Erstattungsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts bezeichnet werden kann. Im Erstattungsrecht vollzieht sich die Rückzahlung einer Steuer im Regelfall ohne jeglichen Rückgriff auf das Gemeinschaftsrecht. Es reicht aus, die innerstaatlichen Anspruchsgrundlagen und das innerstaatliche Verfahrensrecht anzuwenden. Zwar ist es durchaus kennzeichnend für unmittelbaren mitgliedstaatlichen Vollzug, dass ergänzend nationales Recht zur Anwendung kommt.204 Die Besonderheit liegt jedoch darin, dass allein der Erstattungsgrundsatz dem Gemeinschaftsrecht entstammt, während die tatsächliche 202 Vgl. Streinz, Rn. 546 ff.; z. B. Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107 (108); Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (9). 203 Überhaupt ist der gemeinschaftsunmittelbare Vollzug eine Ausnahme. Die Gemeinschaft verfügt kaum über eigene Vollzugsorgane, vgl. im Einzelnen Hirsch, Festgabe BVerwG, S. 3 (10). 204 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (10).

II. Gemeinschaftsrecht und nationales Erstattungsrecht

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Erstattung (in der Regel) ausschließlich nach nationalem Recht erfolgt. Dem Rechtsanwender wird häufig gar nicht bewusst sein, dass er mit der Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern ein gemeinschaftsrechtliches Gebot erfüllt. Zu Recht wird daher darauf hingewiesen, dass es sich in dieser Konstellation an sich nicht um Vollzug, sondern eher um Beachtung von Gemeinschaftsrecht im Vollzug nationalen Rechts handelt.205 Im Ergebnis kann es aber offen bleiben, ob es sich hierbei nun um eine eigenständige Kategorie der Beachtung von Gemeinschaftsrecht oder um einen atypischen Fall des unmittelbaren mitgliedstaatlichen Vollzugs handelt. Die daraus sich ergebenden Konsequenzen sind nach einhelliger Ansicht identisch.206 Auch der EuGH verwendet im Erstattungsrecht die Terminologie, die er auch sonst beim mitgliedstaatlichen Vollzug anwendet.207 Er versteht die „Beachtensfälle“ damit als Vollzug von Gemeinschaftsrecht.208 Das Verständnis der Erstattung als Anwendungsfall des Vollzugs von Gemeinschaftsrecht (im weiteren Sinne) ermöglicht es vor allem, die dort entwickelten Grundsätze heranzuziehen. Aus mitgliedstaatlicher Sicht liegt eine Besonderheit der Konstellation aber sicherlich darin, dass Erstattung sowohl als rein innerstaatlicher als auch als gemeinschaftsrechtlicher Vorgang auftritt. Beide Konstellationen werden nach einem einheitlichen Verfahrensrecht vollzogen, das unterschiedlichen Anforderungen genügen muss.209 Beruht die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung auf innerstaatlichen Gründen, kann das Erstattungsrecht ohne jegliche gemeinschaftsrechtliche Überformung angewendet werden.210 Wenn die Rechtswidrigkeit hingegen aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen folgt, vollzieht der Mit-

205 Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (263); ders., Die Verwaltung 1990, S. 153 (176 ff., insb. 178); Weber, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 55 (62 f.). 206 Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (263); ders., Die Verwaltung 1990, S. 153 ff., 176 ff.; Weber, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 55 (62 f.). 207 Er verwendet einheitlich den Begriff des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots. 208 So im Ergebnis auch Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (10). 209 Ähnlichkeit besteht insoweit mit der umgekehrten Konstellation der Rückforderung gemeinschaftsrechtswidriger Subventionen, vgl. dazu etwa EuGH, Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor. 210 Die Grenzen für den Ausschluss der Erstattung durch einfaches Recht ergeben sich dann allein aus der Verfassung. Zu einer Sonderkonstellation vgl. aber die Entscheidung in der Rs. Commerzbank (Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038), wo das britische Erstattungsverfahrensrecht gegen die Niederlassungsfreiheit verstieß, obwohl auf Primärebene kein Gemeinschaftsrecht anwendbar war.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

gliedstaat Gemeinschaftsrecht und ist damit vielfältigen Bindungen unterworfen, die das mitgliedstaatliche Erstattungsrecht modifizieren können. bb) Die Verfahrensautonomie Es ist zu konstatieren, dass mangels gemeinschaftsrechtlicher Normen das Erstattungsverfahren durch nationale Behörden und Gerichte nur nach nationalem formellem und materiellem Recht vollzogen werden kann.211 Dass das Gemeinschaftsrecht keine Verfahrensregelungen vorsieht, sondern diese ausschließlich im nationalen Recht zu finden sind, stimmt mit der in den Rs. Rewe und Comet statuierten Aufgabenteilung überein.212 In der Literatur hat sich zur Beschreibung der Aufgabenteilung früh die Bezeichnung als „Grundsatz der institutionellen und verfahrensrechtlichen Autonomie der Mitgliedstaaten“ durchgesetzt.213 Der EuGH hat den Begriff der Verfahrensautonomie im Zusammenhang mit der Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben erstmals 2006 benutzt.214 Es handelt sich damit um eine Begriffsbildung, die aus dem Schrifttum herrührt und nun vom EuGH rezipiert wird.215 Ebenso wie die Bezeichnung als Verfahrensrecht für das Erstattungsrecht nicht gänzlich zutreffend ist,216 ist die Bezeichnung Verfahrensautonomie ebenfalls unscharf. Dem Gemeinschaftsrecht fehlen eben nicht nur formelle Normen zur Erstattung, sondern auch materielle Grundlagen.217 Auch hier versteht der EuGH die Bezeichnung als „Verfahren“ jedoch in einem weiten Sinne. 211 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, S. 1 (10); Ehlers, DVBl 1991, S. 605 (611); Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (193); Schwarze, EuR 1997, S. 419 (420). 212 Eilmansberger, S. 123. 213 Rengeling, Gedächtnisschrift Sasse, S. 198 f., hat den Begriff in die deutsche Literatur eingeführt. Zuvor wurde er aber schon im französischen Schrifttum verwendet. Später wird er unter anderem verwendet von Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289; Eilmansberger, S. 124; Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (634); Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 34, Rn. 28; Kadelbach, S. 110 ff.; Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (509); Hirsch, Festgabe BVerwG, S. 3 (10). 214 EuGH, Urteil vom 19.9.2006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I8559 – i-21, Rn. 57. Zuvor findet er sich erstmals in den Schlussanträgen des Generalanwaltes Léger vom 17.6.2003, C-453/00, Slg. 2004, I-839 – Kühne & Heitz, Rn. 68. 215 Bis 1997 wurde der Begriff nach Kakouris, CMLRev 1997, 1389 (1405), vom EuGH überhaupt nicht genutzt. Seitdem findet er in der aktuellen Rechtsprechung – bis 2006 aber nur außerhalb des steuerlichen Bereichs – vermehrt Verwendung. 216 Vgl. oben S. 60. 217 Undeutlich sind die Schlussanträge des Generalanwalts Léger vom 17.6.2003, C-453/00, Slg. 2004, I-839 – Kühne & Heitz, Rn. 70. Er möchte die Verfahrensautonomie auf die gerichtliche Geltendmachung von Ansprüchen beschränkt wissen und den Mitgliedstaaten bei der Entscheidung über die „Existenz“ des Anspruchs keine Autonomie zubilligen. Die dem zu Grunde liegende Unterscheidung zwischen Existenz und Geltendmachung führt jedoch nicht weiter. Der Ablauf der Anfechtungsfrist – nach Auffassung des Generalanwalts eine Frage der Geltendmachung (Rn. 69) und

II. Gemeinschaftsrecht und nationales Erstattungsrecht

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Deutschland hat seinen Ausgestaltungsauftrag nicht durch die Schaffung eines gesonderten Erstattungsrechts bei Gemeinschaftssachverhalten wahrgenommen. Vielmehr konnte es auf die vorhandenen Rechtsgrundlagen der Abgabenordnung zurückgreifen, die ohne Modifikation auch gemeinschaftsrechtliche Konstellationen erfassen. Das bedeutet zugleich, dass die Grenzen, die das nationale Recht dem Erstattungsanspruch setzt, auch auf Erstattungsverfahren Anwendung finden, die auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Abgabenerhebung basieren. Bedeutung hat dies vor allem für die zeitlichen Grenzen der Rückwirkung. b) Rechtliche Bedeutung Fraglich ist, ob der Bezeichnung als Verfahrensautonomie neben der tatsächlichen Beschreibung der Aufgabenteilung eine rechtliche Bedeutung zukommt. Von den Extrempositionen her gedacht könnte Verfahrensautonomie einerseits eine bloße Beschreibung des vorhandenen Normbestandes sein.218 Solange gemeinschaftsrechtliche Regelungen fehlen, greift subsidiär nationales Recht ein; sobald aber einschlägiges Gemeinschaftsrecht geschaffen wird, kann auf nationales Recht verzichtet werden. Andererseits könnte Verfahrensautonomie aber auch als Rechtsposition der Mitgliedstaaten verstanden werden, die ihnen Immunität gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen verleiht. Weiterhin könnte dann danach unterschieden werden, ob der Gemeinschaft nur die Harmonisierungskompetenz fehlt, was die Anwendung allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Vorgaben ohne spezifischen Geltungsbereich – wie etwa der Grundfreiheiten – nicht ausschließen würde, oder ob die Immunität als Bereichsausnahme zu verstehen ist, in der das nationale Recht keinerlei gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen unterliegt.219

damit von den Mitgliedstaaten autonom zu regeln – führt in Deutschland dazu, dass ein Erstattungsanspruch überhaupt nicht zur Existenz gelangt. Zu Recht hat der EuGH diese Unterscheidung nicht aufgegriffen und in der Rs. i-21 (Urteil vom 19.9.2006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559) in einer vergleichbaren Situation auf die Verfahrensautonomie zurückgegriffen. 218 So etwa Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EGV, Rn. 43; Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (194) bei Fußnote 20; Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107 (110). Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 31, möchte daher auch den Begriff der Verfahrensautonomie durch den „Grundsatz der Anwendung nationaler Verfahrens- und Prozessordnungen“ ersetzen. 219 In diese Richtung von Danwitz, S. 115 f.; ders., DVBl 1998, S. 429.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

aa) Kompetenz zur Regelung des Erstattungsrechts (1) De lege lata Nach zutreffender Ansicht besteht keine Kompetenz der Gemeinschaft zur umfassenden Harmonisierung des Vollzugsrechts.220 Ausgangspunkt ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 Abs. 2 EG), wonach jede Kompetenz der Gemeinschaft eine ausdrückliche Ermächtigung in den Verträgen voraussetzt. Eine solche fehlt für das Vollzugsrecht.221 Die Arrondierungskompetenz des Art. 308 EG liefert hierfür keine Grundlage, da der Vollzug des Erstattungsrechts den Mitgliedstaaten vorbehalten geblieben ist und Art. 308 EG kein Hineinwirken in den den Mitgliedstaaten grundsätzlich vorbehaltenen Bereich rechtfertigt.222 Auch die Rechtsfigur der implied powers verhilft der Gemeinschaft hier zu keiner Zuständigkeit. Die Vorschriften eines völkerrechtlichen Vertrages beinhalten zwar zugleich diejenigen (Verfahrens-)Vorschriften, bei deren Fehlen sie sinnlos wären oder nicht in zweckmäßiger Weise zur Anwendung gelangen könnten.223 Es hat sich jedoch gezeigt, dass eine Aufgabenteilung zwischen Mitgliedstaaten und Gemeinschaft durchaus möglich ist. Da seit den ersten Urteilen zur Erstattung von Abgaben vor mehr als drei Jahrzehnten der Vollzug des Erstattungsrechts nicht unmöglich war, kann sich die Gemeinschaft auf diese eng auszulegende Ausnahme nicht berufen.224 Selbst wenn man bei Anwendung des Art. 308 EG oder der implied powers einen großzügigeren Maßstab anlegt, tragen diese Grundlagen jedenfalls keine umfassende Kodifikation des Verfahrensrechts.225

220 Kahl, NVwZ 1996, S. 865 (869); Schwarze, S. 50 ff.; Rengeling, VVDStRL 53 (1994), S. 240 (262 f.); Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (66); Lindner, NVwZ 1999, S. 1079 (1080); Schwarze, EuR 1997, S. 419 (431). 221 Kadelbach, S. 113 (mit Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH); Kahl, NVwZ 1996, S. 865 (866); Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 (462); ders., DVBl 1996, S. 881 (886 f.); Lindner, NVwZ 1999, S. 1079 (1090). Mit Fokus auf das verwaltungsgerichtliche Verfahren Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (508). 222 Kahl, NVwZ 1996, S. 865 (869); Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 51; Rengeling, VVDStRL 53 (1994), S. 240 (262 f.); Vedder, EuR Beiheft 1/1995, S. 75 (95). Vgl. auch EuGH, Gutachten vom 28.3.1996, 2/94, Slg. 1996, I-1759. 223 Vgl. schon EuGH, Urteil vom 29.11.1956, 8/55, Slg. 1955/1956, 297 – Fédéchar, S. 312. Oppermann, § 6, Rn. 69. 224 Kahl, NVwZ 1996, S. 865 (867) will die Inanspruchnahme der implied powers als „letztes Mittel“ zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinschaft zulassen. Vgl. auch Kopp/Ramsauer, Einleitung, Rn. 56. 225 Rengeling, VVDStRL 53 (1994), S. 202 (231); Kahl, NVwZ 1996, S. 865 (869); Lindner, NVwZ 1999, S. 1079 (1080).

II. Gemeinschaftsrecht und nationales Erstattungsrecht

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Die von Kakouris – einem ehemaligen Richter des EuGH – geäußerte Gegenauffassung stützt sich zur Begründung auf den Wortlaut einiger EuGH-Entscheidungen, wonach die Wendungen „mangels einer Gemeinschaftsregelung“ und „beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts“ eine Kompetenz der Gemeinschaft impliziere. Zwar fehle es derzeit an Regelungen zum Verfahrensrecht, diese könnten jedoch jederzeit erlassen werden.226 Dieser Ansicht ist entgegenzuhalten, dass die Auslegung von Urteilen des EuGH eine Auslegung des Vertrags nicht ersetzen kann.227 Kompetenzen für die Gemeinschaft können nur durch die Vertragsparteien in den Verträgen begründet werden, nicht aber durch den EuGH.228 Aus welcher Vertragsbestimmung sich die von Kakouris behauptete Harmonisierungskompetenz ergeben soll, lässt er offen. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, dass der Gemeinschaft im Grundsatz keine Harmonisierungskompetenz auf dem Gebiet des Verfahrensrechts zukommt. Das bestätigt auch die die Kompetenzausübung konkretisierende Erklärung Nr. 43 zum Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und der Verhältnismäßigkeit zum Vertrag von Amsterdam.229 Danach obliegt die administrative Durchführung des EG-Rechts grundsätzlich den Mitgliedstaaten.230 Dies zeigt auch, dass das Fehlen von umfassenden Harmonisierungskompetenzen keine Unachtsamkeit der Vertragsparteien gewesen ist.231 Der dezentrale Vollzug im Rahmen der jeweiligen nationalen Organisationsstrukturen war von Anfang an Ausdruck des Subsidiaritätsgedankens, der seit dem Vertrag von Maastricht als Strukturprinzip der Gemeinschaft in Art. 5 Abs. 2 EG verankert ist.232 Würden sich die Mitgliedstaaten entscheiden, umfassende Harmonisierungskompetenzen zu kodifizieren, bedeutete dies eine grundlegende Wandlung von einer Rechtsetzungs- zu einer Verwaltungsgemeinschaft.233 Trotzdem ist eine freiwillige Konvergenz nationaler Verfahrensordnungen zu erkennen.234 Die Ursache hierfür liegt zum einen in der vermehrten verglei226

Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389 (1394 f.). Götz, EuR 1986, S. 29 (42), betont darüber hinaus, dass die oben zitierten Wendungen des EuGH nicht einmal appellativen Charakter haben. 228 Eine Kompetenz sieht wohl auch Bleckmann, Europarecht, Rn. 747. 229 BGBl. II 1998, S. 438 (450). 230 Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (508); Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 56. 231 In der Terminologie von Larenz (oben Fußnote 181) fehlt es an der planwidrigen Unvollständigkeit der Kodifikation. 232 Hirsch, Festgabe BVerwG, S. 3 (10); Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289. 233 Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289 (295), erkennt den Grundsatz der „dezentralen Anwendung des Gemeinschaftsrechts“ als Konstitutionsprinzip der Gemeinschaft an. 234 Schmidt-Aßmann, Festgabe BVerwG, S. 487 (488), bezeichnet dies als „endogenes Vereinheitlichungspotential“. Dem schließt sich Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 56 an. Vor allem die britische Rechtsordnung ist mitunter recht anpassungsfreudig. So wurde der Gedanke des Vertrauensschutzes/doctrine of legitimate expectations aus 227

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chenden Auseinandersetzung mit anderen Rechtsordnungen. Die gemeinschaftsweit veröffentlichten Entscheidungen des EuGH machen die Rezeption der Grundzüge anderer Verfahrensordnungen einfacher. Ein Mitgliedstaat, der durch den EuGH gezwungen wird, sein Verfahrensrecht zu modifizieren, kann sich durch das Verfahrensrecht der anderen Mitgliedstaaten inspirieren lassen. Zum anderen besteht aber auch der Zwang, bei gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten die Vorgaben des (statischen) Gemeinschaftsrechts zu beachten. Soll eine dauerhafte Ungleichbehandlung rein nationaler – also gemeinschaftsrechtlich unbeeinflusster – und gemeinschaftsrechtlich überformter, grenzüberschreitender Sachverhalte vermieden werden, muss das Verfahrensrecht auch für innerstaatliche Sachverhalte dem Gemeinschaftsrecht angepasst werden.235 (2) De lege ferenda Von der Frage, ob eine Harmonisierung möglich ist, ist die Frage zu trennen, ob sie wünschenswert wäre. Dies würde eine Vertragsänderung voraussetzen. Mitunter wird die fehlende Regelung auf Gemeinschaftsebene als zu überwindender Zustand angesehen,236 wodurch vor allem die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts sichergestellt werden könnte. Auch der Gerichtshof spricht von der „bedauernswerten Abwesenheit von Gemeinschaftsregelungen zur Harmonisierung des Verfahrens und der Fristen.“237 Auf der anderen Seite spricht der in Art. 5 Abs. 2 EG verankerte Subsidiaritätsgedanke für ein Fortbestehen des Ineinandergreifens von Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht.238 Ein gemeinschaftsweites (Steuer-)Verwaltungsverfahrensrecht hat derzeit kaum Realisierungschancen. Das liegt auch daran, dass sich die nationalen Rechtsordnungen systematisch grundlegend unterschei-

dem kontinentalen Recht übernommen; gleiches gilt – nolens volens – für die Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes im Anschluss an die Rs. Factortame; Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 (454 bzw. 406). 235 Schwarze, EuR 1997, S. 419 (422). Beispielhaft auch die Entscheidung des britischen House of Lords in der Rs. Woolwich (oben Fußnote 163), in der bei einem rein britischen Sachverhalt ein Anspruch gewährt wurde, weil bei einem (hypothetischen) grenzüberschreitenden Sachverhalt das Gemeinschaftsrecht dies geboten hätte. Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 (452); ähnlich Tridimas, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 465 (479). 236 Tatham, E.L.Rev. 1994, 19(2), 146 bei Fn. 105 sieht einen „pressing need to remove the discrepancies between the national systems and to provide remedies according to Community-wide criteria“; Huthmacher, S. 230 f.; vgl. auch Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (288). 237 EuGH, Urteil vom 12.6.1980, 130/79, Slg. 1980, 1887 – Express Dairy Foods; Tatham, E.L.Rev. 19(2), 146 bei Fn. 107; Götz, EuR 1986, S. 29 (42). 238 Vgl. Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (289).

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den.239 Regelmäßig weist der EuGH darauf hin, wie unterschiedlich etwa die Regelungen zum Erstattungsrecht sind.240 Kaum ein Mitgliedstaat wird bereit sein, sein teilweise seit Jahrzehnten bekanntes und bewährtes Verfahrensrecht vollständig aufzugeben, um ein neues, gemeinschaftseinheitliches System zu übernehmen. Die zu erzielenden Effizienzgewinne sind zu gering, um den Umstellungsaufwand zu rechtfertigen. Trotz vielfältiger gemeinschaftsrechtlicher Einflüsse ist die Mehrheit aller Verwaltungsverfahren noch immer rein national. Schließlich darf auch eine gewisse emotionale Verbundenheit zum „eigenen“ Verfahrensrecht nicht unterschätzt werden. Auch eine Vereinheitlichung des Verfahrensrechts, soweit es in gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten zur Anwendung kommt, wäre nicht zielführend. Es hätte zur Folge, dass innerhalb eines Mitgliedstaates zwei Verfahrensrechte Anwendung fänden; eines für gemeinschaftsrechtliche und eines für innerstaatliche Sachverhalte. Das Nebeneinander von unterschiedlichen Zuständigkeiten und Fristen wäre mit zusätzlicher Unsicherheit für den Rechtsanwender verbunden und auch völlig unpraktikabel.241 Es ist daher eher hinzunehmen, dass ein Gemeinschaftsrechtsverstoß in einem Mitgliedstaat anders behandelt wird als in einem anderen, als dass innerhalb eines Mitgliedstaates Unterschiede eingeführt werden. Insofern ist bloße „Kästchengleichheit“242 – also das Nebeneinander diskriminierungsfreier, aber unterschiedlicher Rechtssysteme in den Mitgliedstaaten – einer Aufspaltung des nationalen Rechtssystems vorzuziehen. Das Fehlen einer umfassenden Gemeinschaftskompetenz zur Harmonisierung zeigt damit, dass Verfahrensautonomie nicht lediglich eine Beschreibung des vorläufigen Fehlens von Normen zum Erstattungsverfahren bedeutet. Solange die Kompetenzordnung unverändert bleibt, ist die Gemeinschaft an weiteren Harmonisierungsmaßnahmen gehindert.

239 Huthmacher, S. 271 ff., fordert etwa Deutschland auf, seine Bestandskraftlehre aufzugeben, da es sich um einen Sonderweg handle. In diese Richtung auch Weber, EuR 1986, S. 1 (16). Dies zeigt, welche grundlegenden Umstellungen eine Harmonisierung erforderlich machen würde. 240 Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 17; Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 22 f.; Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 23 f. 241 Schwarze, EuR 1997, S. 419 (430), schlägt daher eine „Kodifikation der für den indirekten Vollzug geltenden Grundsätze“ vor. Eine reine Prinzipienkodifikation dürfte allerdings an den Nahtstellen zum rein nationalen Verfahrensrecht erhebliche Rechtsunsicherheit verursachen. 242 Birk, DStJG 20 (1996), S. 63 (77 und 79); ders., in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO, Rn. 429; ebenso Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (757).

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bb) Keine Immunität des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht Durch die Feststellung, dass der Gemeinschaftsgesetzgeber kompetenziell das Verfahrensrecht nicht umfassend harmonisieren kann, ist noch keine Immunität des mitgliedstaatlichen Verfahrensrechts gegenüber dem Gemeinschaftsrecht präjudiziert. Die Gemeinschaft wirkt nicht nur durch Harmonisierungsmaßnahmen auf das Recht der Mitgliedstaaten ein, sondern auch durch ihr „statisches“ Recht. Als statisches Recht soll das Recht bezeichnet werden, das keinen spezifischen Anwendungsbereich hat, sondern allgemeine Rahmenvorgaben dafür enthält, wie mitgliedstaatliches Recht auszugestalten und zu vollziehen ist. Ein klassisches Beispiel hierfür sind die Grundfreiheiten, die in sehr abstrakter Form Anforderungen an die Behandlung grenzüberschreitender Vorgänge aufstellen. Solche Normen finden Anwendung auf jegliche nationale Staatstätigkeit, ohne Differenzierung danach, ob für einen bestimmten Bereich eine ausdrückliche Gemeinschaftskompetenz begründet ist oder nicht.243 Die Kompetenzabgrenzung zwischen der Gemeinschaft und den Mitgliedstaaten ist daher zu unterscheiden vom Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts. Auch in den Bereichen, in denen die ausschließliche Regelungshoheit bei den Mitgliedstaaten liegt, haben diese bei Ausübung ihrer Kompetenz das Gemeinschaftsrecht zu respektieren.244 Vor allem der Schutzbereich der Grundfreiheiten ist nicht auf Tätigkeiten begrenzt, für die der Gemeinschaft eine Harmonisierungskompetenz zusteht. Ebenso wie das Gemeinschaftsrecht das materielle Steuerrecht durchdringt, ohne dass dies auf einer ausdrücklichen Kompetenz beruht, beeinflusst es auch das Verfahrensrecht. Die so genannte Verfahrensautonomie darf daher nicht als „gemeinschaftsfreie Zone“ missverstanden werden.245 Zwar ist es allgemein anerkannt, dass die Vollzugskompetenz aus der bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Souveränität folgt und nicht etwa von der Gemein-

243

Ehle, DVBl 1974, S. 731 (732). Hirsch, Festgabe BVerwG, S. 3 (8). Zum materiellen Steuerrecht urteilt der EuGH etwa beständig, dass die Mitgliedstaaten ihre Kompetenz auf dem Gebiet der direkten Steuern unter „Wahrung des Gemeinschaftsrechts“ ausüben müssen; EuGH, Urteil vom 4.10.1991, C-246/89, Slg. 1991, I-4585 – Kommission/Vereinigtes Königreich, Rn. 12; Urteil vom 14.2.1995, C-279/93, Slg. 1995, I-294 – Schumacker, Rn. 21. 245 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 34, Rn. 29. – Birk, FR 2005, S. 121 (123 ff., insbesondere 127), bedauert, dass die Rechtsprechung des EuGH zur Bedeutung der Grundfreiheiten auf Primärebene keine Rücksicht auf die Steuersouveränität der Mitgliedstaaten nimmt und damit das nationale Recht deformiert und verkompliziert. Diese Äußerung kann als Wunsch nach einer Immunität des Steuerrechts interpretiert werden. Die Entwicklung sei jedoch hinzunehmen und als Reaktion die Steuerreformdiskussion zu internationalisieren. 244

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schaft an die Mitgliedstaaten (rück-)übertragen worden ist,246 doch strahlt das Gemeinschaftsrecht auch auf diese Residualkompetenzen aus. Das Vertragsrecht enthält keinen Anhaltspunkt für eine Bereichsausnahme für das Verfahrensrecht. Dies stellte der EuGH schon 1957 in der Algera-Entscheidung247 klar. Auch wenn die Verträge keine Verfahrensregelungen enthalten, bezog der EuGH dort dennoch Stellung zum Widerruf von Verwaltungsakten. Mit der Begründung bzw. unter dem Vorwand, sich nicht dem Vorwurf der Rechtsverweigerung aussetzen zu wollen, entwickelte der EuGH „unter Berücksichtigung der in Gesetzgebung, Lehre und Rechtsprechung der Mitgliedstaaten anerkannten Regeln“ eigene Anforderungen an den Widerruf von Verwaltungsakten. Besonders deutlich wird die Ausstrahlung des Gemeinschaftsrechts auf das mitgliedstaatliche Erstattungsrecht in der Rs. Metallgesellschaft,248 in der sich die Kläger erfolgreich auf die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EG beriefen. Die Grundfreiheit stand einer Ausgestaltung des Erstattungsverfahrens entgegen, wonach die Kläger zu einem früheren Zeitpunkt einen Erstattungsantrag hätten stellen müssen. Der EuGH bekräftigte, dass das Erstattungsverfahren als solches nicht harmonisiert ist und dass daher keine spezifischen gemeinschaftsrechtlichen Regelungen anwendbar waren. Dennoch beeinflusste das Gemeinschaftsrecht – hier in Gestalt der Niederlassungsfreiheit – das nationale Recht. Soweit sich dem Gemeinschaftsrecht – und sei es durch Auslegung abstrakter Normen des statischen Rechts – konkrete Anforderungen an das Verfahrensrecht der Mitgliedstaaten entnehmen lassen, beeinflusst dieses das mitgliedstaatliche Recht. Zu Recht wird darauf hingewiesen, dass die Verfahrensautonomie kein Wert an sich ist. Keine Passage des Vertragsrechts billigt den Mitgliedstaaten einen Abwehranspruch gegenüber gemeinschaftlichen Einflüssen auf das Verfahrensrecht zu. Das Gemeinschaftsrecht hat nicht etwa deshalb zurückzutreten, weil andernfalls die Mitgliedstaaten ihr Verfahrensrecht nicht unverändert aufrechterhalten können.249 Die Grenze für die gemeinschaftsrechtliche Einflussnahme auf das Verfahrensrecht ist nicht die (abstrakte) Souveränität der Mitgliedstaaten, sondern der konkrete Bestand des Gemeinschaftsrechts.250 Dort, 246

Anderer Ansicht insoweit Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389 (1405). EuGH, Urteil vom 12.7.1957, verb. Rs. 7/56 und 3–7/57, Slg. 1957, 83 – Algera, S. 118. Dazu Haibach, NVwZ 1998, S. 456. 248 EuGH, Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I1760 – Metallgesellschaft. 249 Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389 (1406), meint, dass kein Erfordernis besteht, „that a proper balance must in each case be struck between two conflicting principles, namely the autonomy of national procedural law on the one hand and the primacy and complete effectiveness of Community law in the other“. 250 Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EGV, Rn. 43. Dies verkennt Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389 (1396), der die Bedeutung des nationalen Rechts nur darin sieht, „to fill a gap in Community law“. Die Lücke kann seiner Ansicht nach durch den Gerichtshof bei nächster Gelegenheit selbst geschlossen werden. 247

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wo es Aussagen zum Vollzugsrecht macht, kann es auf das Recht der Mitgliedstaaten einwirken. Lässt sich dem – unter Wahrung der Kompetenzordnung wirksam zustandegekommenen – Gemeinschaftsrecht hingegen auch durch Auslegung keine Aussage zum Verfahrensrecht entnehmen, bleibt die nationale Verfahrensautonomie uneingeschränkt. cc) Zwischenergebnis Es wurde gezeigt, dass die Gemeinschaft keine Harmonisierungskompetenz hat, durch eine Vollkodifikation die Verfahrensautonomie zu beseitigen. Auf der anderen Seite bedeutet Verfahrensautonomie aber auch nicht, dass dieser Bereich gegenüber gemeinschaftsrechtlichen Einflüssen vollständig abgeschirmt wäre. Letzteres entspräche auch nicht der ursprünglichen Bedeutung des Wortes „Autonomie“. Autonomie – in wörtlicher Übersetzung „Selbstgesetzlichkeit“ – beinhaltet das Recht zu freier Selbstbestimmung, allerdings im Rahmen einer vorgegebenen Ordnung.251 Die Beschreibung der Kompetenzverteilung als Verfahrensautonomie weist damit zugleich auf die Geltung allgemeiner gemeinschaftsrechtlicher Grenzen für die Betätigung der Mitgliedstaaten hin. Die Mitgliedstaaten sind bei der Ausübung ihrer Vollzugskompetenz nicht völlig frei. Da Harmonisierungsmaßnahmen der Gemeinschaft nicht existieren, ergeben sich Grenzen ausschließlich aus dem statischen Gemeinschaftsrecht. Welche gemeinschaftsrechtlichen Einflüsse durch die Rechtsprechung festgestellt wurden, wird im Folgenden (unten III.) untersucht, nachdem zuvor das deutsche Erstattungsrecht – soweit erforderlich – dargestellt wird. 2. Nationale Grenzen am Beispiel des deutschen Rechts Die vorangegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass die Entscheidung des EuGH, eine nationale Steuernorm verstoße gegen das Gemeinschaftsrecht, grundsätzlich nur dann zu einer Steuererstattung führt, wenn das nationale Recht eine solche gewährt. Um aufzuzeigen, welche Grenzen das deutsche Recht hierfür vorsieht, sollen im Folgenden die maßgeblichen Normen des Steuerverfahrensrechts skizziert werden. 251 Staatslexikon, Band 1, Stichwort „Autonomie“. Das BVerfG betonte in einer Entscheidung zur Satzungsautonomie (BVerfGE 33, S. 125 [158]), dass der Gesetzgeber seines Einflusses auf den Inhalt der von den körperschaftlichen Organen zu erlassenden Normen nicht völlig preisgeben darf. Bildlich gesprochen müssen diese immer an der Hand des Gesetzgebers geführt werden, der so die Richtung vorgeben kann und muss. Dieses Bild beschreibt zutreffend das Verhältnis der Gemeinschaft zu den Mitgliedstaaten.

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Im Rahmen der Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern bleibt zu fragen, welches Verfahrensrecht einschlägig ist. Nach § 1 Abs. 1 S. 1 AO gilt die Abgabenordnung für alle Steuern, die durch Bundesrecht oder Recht der Europäischen Gemeinschaft geregelt sind, soweit sie durch Bundes- oder Landesfinanzbehörden verwaltet werden. Gegenüber dem Verwaltungsverfahrensgesetz des Bundes oder der Länder ist es damit das anzuwendende Spezialgesetz. Die Anwendung der speziellen abgabenrechtlichen Vorschriften an Stelle der Vorschriften des allgemeinen Verwaltungsverfahrensrechts stellte die Kommission allerdings in der Rs. IN.CO.GE’90 mit der Begründung in Frage, dass bei der Erstattung keine abgabenrechtliche Streitigkeit vorliege, wenn die materielle Steuernorm wegen Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht unangewendet zu bleiben habe.252 Zu Recht schloss sich der Gerichtshof dieser Argumentation nicht an.253 Dieses Ergebnis lässt sich durch Anwendung des actus contrarius Gedankens gewinnen: Hat ein Mitgliedstaat eine Steuer nach abgabenrechtlichen Normen (und durch Finanzbehörden) erhoben, muss er sie auch nach abgabenrechtlichen Normen (und durch Finanzbehörden) erstatten. Die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Erhebung einer Steuer lässt deren abgabenrechtlichen Charakter nicht entfallen. Daraus folgt, dass für die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern die Vorschriften der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung einschlägig sind.254 Ein Erstattungsanspruch entsteht nach deutschem Recht, wenn eine Steuer ohne rechtlichen Grund gezahlt worden ist oder der rechtliche Grund später wegfällt (§ 37 Abs. 2 AO). Rechtsgrund für die Zahlung und den Verbleib der Steuer beim Staat ist nach der formellen Rechtsgrundtheorie der Steuerbescheid.255 Die Erstattung steht und fällt daher mit der Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids. Dazu kommt es nur, wenn der Steuerpflichtige den Steuerbescheid erfolgreich anficht bzw. seine Änderung beantragt oder die Finanzverwaltung den Steuerbescheid von Amts wegen ändert. Zur Korrektur des Steuerbescheids stehen nach nationalem Recht allein die Korrekturnormen der AO zur Verfügung. Sind deren Voraussetzungen nicht erfüllt, ergibt sich auch aus der deutschen Verfassung kein gesetzesübergreifender Änderungsanspruch.256 252 So der Standpunkt der Kommission, wiedergegeben in Rn. 18 des EuGH-Urteils vom 22.10.1998, C-10/97 bis C-22/97, Slg. 1998, I-6307 – IN.CO.GE’90. Vgl. auch Hahn, DStZ 2003, S. 489 (492 f.). 253 Rn. 28 der Entscheidung. 254 So auch Hahn, DStZ 2003, S. 489 (493). 255 Zu der Frage, ob die Abgabenordnung auf der formellen oder materiellen Rechtsgrundtheorie aufbaut, siehe oben S. 42. 256 Wernsmann, S. 22, weist auf die Rechtsprechung des BVerfG hin, wonach Steuerbescheide auch dann nicht in jedem Fall geändert werden müssen, wenn nach Be-

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Erstattungsverfahren mit gemeinschaftsrechtlichem Hintergrund unterscheiden sich von den rechtlichen Grundlagen her nicht, faktisch jedoch wesentlich von den üblichen Verfahren, in denen Rechtsfehler der Finanzverwaltung geltend gemacht werden. Während üblicherweise im Rechtsbehelfsverfahren einzelne Rechtsanwendungs- oder Tatsachenfehler geltend gemacht werden, wird in Gemeinschaftsrechtsverfahren häufig die Anwendbarkeit der Rechtsgrundlage als solche in Frage gestellt. Diese Verfahren haben damit eine große Ähnlichkeit mit verfassungsgerichtlichen Vorlagebeschlüssen nach Art. 100 GG. Entscheidet der EuGH dann auf der Primärebene zu Gunsten des Steuerpflichtigen, sind davon alle Steuerveranlagungen mitbetroffen, die auf eben dieser Rechtsgrundlage beruhen. Hieraus ergibt sich die Breitenwirkung des Gemeinschaftsrechts.257 Die Sekundärebene, d.h. das Erstattungsverfahren, desjenigen, der die Entscheidung zur Primärebene erstreitet, weist dabei wenige Besonderheiten auf. Die Schwierigkeiten für diesen Steuerpflichtigen liegen eher auf der Primärebene. So wird sich die Finanzverwaltung gemeinschaftsrechtlichen Argumenten gegenüber selten aufgeschlossen zeigen. Zwar ist die Verwaltung verpflichtet, den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zu beachten und gemeinschaftsrechtswidriges nationales Steuerrecht unangewendet zu lassen.258 Nur in seltenen Ausnahmefällen wird jedoch die Verwaltung bereit sein, ohne ein zum deutschen Recht ergangenes Urteil von den Buchstaben des deutschen Gesetzes abzuweichen. Ein „Pionier“ wird häufig keine andere Wahl haben, als im finanzgerichtlichen Verfahren auf eine Vorlage an den EuGH nach Art. 234 Abs. 1 lit. a EG hinzuwirken. Sein Antrag ist daher mit hohem zeitlichen Aufwand und einem gesteigerten Prozessrisiko (und damit einhergehendem Kostenrisiko) verbunden. Entscheidet der EuGH im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG dann aber zu seinen Gunsten, ist das vorlegende Gericht an die Auslegung des Gemeinschaftsrechts gebunden259 und muss die mit dem Gemeinschaftsrecht unvereinbare Steuernorm unangewendet lassen.260 Dem Steuerbescheid fehlt dann die Rechtsgrundlage; er ist wegen seiner Rechtswidrigkeit standskraft die Verfassungswidrigkeit der zugrunde liegenden Norm erkannt wird, BVerfGE 82, S. 60 (97) und 82, S. 198 (208). Bei rückwirkenden Änderungen des materiellen Steuerrechts durch den Gesetzgeber hält es das BVerfG allerdings für „schwerlich sachgerecht“, zwischen noch anhängigen und rechtsförmlich abgeschlossenen Verwaltungsverfahren zu differenzieren, BVerfG, BVerfGE 87, S. 153 (180) – Existenzminimum. Zur Bedeutung dieser Differenzierung vor dem Hintergrund des Art. 3 GG ausführlich Wernsmann, S. 26. 257 Vgl. oben S. 22. 258 EuGH, Urteil vom 22.6.1989, 103/88, Slg. 1989, 1839 – Fratelli Costanzo SpA/ Stadt Mailand, Rn. 30. In die gleiche Richtung EuGH, Urteil vom 11.8.1995, C-431/ 92, Slg. 1995, I-2189 – Kommission/Deutschland, Rn. 37 ff. 259 Vgl. Wernsmann/Behrmann, Jura 2006, S. 181 (186). 260 EuGH, Urteil vom 24.6.1969, 29/68, Slg. 1969, 165 – Milch-, Fett- und Eierkontor, Rn. 3. Cordewener, DStR 2004, S. 6 (11); Ehricke, in: Streinz, Art. 234 EGV,

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aufzuheben bzw. zu ändern. Im Erfolgsfall stellt das Erstattungsverfahren dann kein weiteres Hindernis dar. Der belastende Steuerbescheid wird durch das deutsche Gericht aufgehoben (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO) oder geändert (§ 100 Abs. 2 S. 1 FGO).261 In Höhe der durch das Gericht festgestellten Änderung fehlt der Rechtsgrund einer bereits erfolgten Zahlung und die Steuer wird gemäß § 37 Abs. 2 AO erstattet. Größere verfahrensrechtliche Hürden hat im Regelfall derjenige zu überwinden, der durch den Anlassfall auf die (vermutete) Rechtswidrigkeit einer Steuernorm aufmerksam wird und der deshalb von der Rechtswidrigkeit auch seines Steuerbescheids ausgeht (Folgefall). Das im Anlassfall ergehende Urteil des nationalen Finanzgerichts ist grundsätzlich für dessen Steuerfestsetzung ohne Bedeutung. Gleiches gilt auch für die Entscheidung des EuGH auf das Vorabentscheidungsersuchen. Urteile im Vorabentscheidungsverfahren wirken nur inter partes. Allerdings kommt ihnen eine faktische erga omnes Wirkung zu, die sich aus ihrem Auslegungscharakter ergibt.262 Das Gemeinschaftsrecht ist in der Gestalt, die es durch die Rechtsprechung des EuGH bekommen hat, für alle Mitgliedstaaten verbindlich.263 Sofern der Gerichtshof daher im Anlassfall entscheidet, dass das Gemeinschaftsrecht einer Norm wie der im Anlassfall streitentscheidenden entgegensteht, wird damit für jeden Steuerpflichtigen offensichtlich, dass seine Steuerfestsetzung auf einer gemeinschaftsrechtswidrigen Rechtsgrundlage beruht.264 Die wesentliche Hürde für die Erstattung in Folgefällen ergibt sich in der Regel aus der zeitlichen Abfolge. Da bis zu einer Entscheidung des EuGH einige Jahre vergehen können,265 beziehen sich seine Urteile zumeist auf die Rechtslage in Veranlagungszeiträumen, die etliche Jahre zurückliegen. Soll im Folgefall die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung bereits für den Veranlagungszeitraum geltend gemacht werden, auf den sich die EuGH-Entscheidung bezieht, stellt das nationale Verfahrensrecht durch Bestandskraft- und Verjährungsregeln hohe Hürden auf. Ziel des Steuerpflichtigen muss es sein, eine erneute behördliche Entscheidung über die Steuererhebung herbeizuführen. Bei einer erneuten Entscheidung kann die zwischenzeitlich erfolgte Auslegung des Gemeinschaftsrechts dann Berücksichtigung finden. Hierbei kommt es nicht auf Rn. 65. Die Bindungswirkung ergibt sich aus der Rechtskraft des EuGH-Urteils, vgl. Art. 65 Verfahrensordnung des EuGH. 261 Im Ausnahmefall kann es die Berechnung der Steuerschuld auch dem Finanzamt überlassen, § 100 Abs. 2 S. 2 und 3 FGO. 262 Cordewener, DStR 2004, S. 6 (11 f.); Hahn, DStZ 2003, S. 489 (491). 263 Ehricke, in: Streinz, Art. 234 EGV, Rn. 64. 264 Die Breitenwirkung kann vom EuGH in Ausnahmefällen durch die zeitliche Begrenzung der Urteilswirkungen eingeschränkt werden; vgl. unten S. 177. 265 Cordewener, DStR 2004, S. 6 (11 f.) geht von einer durchschnittlichen Dauer des Vorlageverfahrens von zwei Jahren aus.

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die (umstrittene) Frage an, ob einer erneuten Entscheidung die aktuelle Rechtslage oder die zum Zeitpunkt der ursprünglichen Entscheidung geltende zu Grunde zu legen ist.266 Eine Entscheidung des Gerichtshofes verdeutlicht lediglich, „mit welcher Tragweite und welcher Bedeutung das Gemeinschaftsrecht seit seinem Inkrafttreten zu verstehen gewesen wäre“.267 Eine Rechtsänderung ist durch die zwischenzeitlich ergangene Entscheidung gerade nicht eingetreten. Der EuGH stellt ausdrücklich fest, dass eine so ausgelegte Bestimmung auch auf Rechtsbeziehungen anzuwenden ist, die vor dem Erlass einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes entstanden sind.268 Einer erneuten Entscheidung ist somit in jedem Fall das Gemeinschaftsrecht zu Grunde zu legen, wie es sich nach der Auslegungsentscheidung des EuGH darstellt. Den Urteilen des EuGH kommt damit regelmäßig Wirkung auch für die Vergangenheit zu.269 Der EuGH bezeichnet das Prinzip selbst als „Grundsatz der Rückwirkung von Vorabentscheidungsurteilen“.270 Gelingt es dem Steuerpflichtigen daher, eine neue inhaltliche Entscheidung herbeizuführen, kann er von der günstigen Auslegung profitieren. Eine Entscheidung über die materielle Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids kann durch einen zulässigen Einspruch, durch einen Änderungsantrag, dessen formelle Voraussetzungen vorliegen, und von Amts wegen herbeigeführt werden. a) Entscheidung auf Grund Anfechtung Jeder Steuerbescheid kann durch einen Einspruch angefochten werden. Die zeitliche Grenze der Anfechtbarkeit wird dabei durch den Ablauf der Einspruchsfrist markiert. Nach ihrem Ablauf wird der Steuerbescheid (formell) bestandskräftig271 und ist mit ordentlichen Rechtsbehelfen nicht mehr anfecht266

Vgl. dazu Tipke, in: Tipke/Kruse, § 367, Rn. 12. EuGH, Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 36; Urteil vom 13.1.2004, C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz, Rn. 21; Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 16; Urteil vom 10.2.2000, C-50/96, Slg. 2000, I-743 – Deutsche Telekom, Rn. 43; Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 10; Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I-1883 – BP Soupergaz, Rn. 39. 268 EuGH, Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 10; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 18; Urteil vom 13.1.2004, C453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz, Rn. 22; Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 16; Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I1883 – BP Soupergaz, Rn. 42. Vaulont, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 25 EGV, Rn. 13; Ehricke, in: Streinz, Art. 234 EGV, Rn. 69; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV, Rn. 39; Wernsmann/Behrmann, Jura 2006, S. 181 (186). 269 de Weerth, DB 2005, S. 1407; Hahn, IStR 2005, S. 145 (146); Ruffert, JZ 2004, S. 620. 270 Vgl. die Nachweise oben bei Fn. 42. 271 Loose, in: Tipke/Kruse, vor § 172, Rn. 1; BFH, BStBl. II 1983, S. 164 (165). 267

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bar.272 Ein dennoch eingelegter Einspruch ist bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen erfolglos. Die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 AO beträgt einen Monat und beginnt mit der Bekanntgabe des Steuerbescheids bzw. einen Monat nach Eingang der Steueranmeldung bei der Finanzbehörde zu laufen. Dies gilt vorbehaltlich der Erteilung einer ordnungsgemäßen Rechtsbehelfsbelehrung nach § 356 AO. Legt der Steuerpflichtige Einspruch ein, ist der Steuerbescheid – unabhängig von den konkret erhobenen Rügen – vollumfänglich auf Rechtsfehler zu überprüfen (§ 367 Abs. 2 AO). Trotz eingelegten Einspruchs kann es durch folgende Ereignisse dennoch zur Bestandskraft eines Steuerbescheids kommen: Der Steuerpflichtige kann gemäß § 354 AO auf den Einspruch bzw. gemäß § 50 FGO auf die Klage verzichten. Der Verzicht ist eine Form des Rechtsbehelfsverbrauchs. Die bloße Rücknahme des Einspruchs führt hingegen nicht zur Bestandskraft, da nur der Verlust des eingelegten Rechtsbehelfs eintritt (§ 362 Abs. 2 S. 1 AO).273 Eine erneute Einlegung eines Einspruchs innerhalb der Einspruchsfrist bleibt möglich. Etwas anderes gilt für die Klagerücknahme. Ist die Klageerhebung an eine Frist gebunden, schreibt § 72 Abs. 2 S. 1 FGO als Rechtsfolge der Rücknahme den Verlust der Klage vor. Bei einer fristgebundenen Klage wie der Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid ist die Erhebung einer neuen Klage damit ausgeschlossen,274 auch wenn die Klagefrist noch nicht abgelaufen ist. Der Bescheid wird bestandskräftig. Ferner führt der Ablauf der Klagefrist des § 47 FGO für die Anfechtungsklage zum Eintritt der Bestandskraft. Die Frist läuft einen Monat nach der Bekanntgabe der Entscheidung über den Einspruch ab, sofern die Rechtsbehelfsbelehrung ordnungsgemäß erteilt wurde (§ 366 S. 1 AO i.V. m. § 55 FGO). Schließlich tritt Bestandskraft auch mit der Rechtskraft des finanzgerichtlichen Urteils ein, das den Steuerbescheid aufrecht erhält.

272 Der Begriff der Bestandskraft ist im Steuerrecht umstritten. Unterschieden wird zwischen formeller und materieller Bestandskraft. Erstere wird häufig mit der Unanfechtbarkeit eines Verwaltungsaktes durch Ablauf der Anfechtungsfrist gleichgesetzt (Loose, in: Tipke/Kruse, vor § 172, Rn. 1; Kruse, in: Tipke/Kruse, vor § 130, Rn. 1; BFH, BStBl. II 1983, S. 164). Materielle Bestandskraft tritt hingegen nach herrschender Meinung erst mit Ablauf der Festsetzungsverjährung ein (Loose, in: Tipke/Kruse, vor § 172, Rn. 1). 273 So auch AEAO, § 362, Nr. 1; Tipke, in: Tipke/Kruse, § 362, Rn. 14. 274 BFH, BStBl. II 1974, S. 218 (219); FG Schleswig-Holstein, EFG 2001, S. 662. Birkenfeld, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 72 FGO, Rn. 192; Brandis, in: Tipke/ Kruse, § 72 FGO, Rn. 26; Gräber, in: Koch, § 72 FGO, Rn. 31.

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b) Entscheidung auf Grund einer Änderungsnorm Hat es der Steuerpflichtige versäumt, rechtzeitig Einspruch einzulegen, oder ist der Steuerbescheid trotz Einspruchs formell bestandskräftig geworden, können Steuerbescheide noch geändert werden, wenn die Voraussetzungen einer Korrekturnorm für Steuerbescheide als besondere Steuerverwaltungsakte vorliegen.275 Äußerste Grenze für eine Änderung auf Grundlage einer Korrekturnorm ist dabei der Eintritt materieller Bestandskraft durch Ablauf der Festsetzungsverjährungsfrist (vgl. § 169 Abs. 1 S. 1 AO). Teilweise setzen die Änderungsnormen einen Antrag des Steuerpflichtigen voraus, teilweise sind sie von Amts wegen anzuwenden. Sollen Steuerbescheide zu Gunsten des Steuerpflichtigen276 auf Grund einer Regelung des Gemeinschaftsrechts geändert werden, kommen vor allem die folgenden Korrekturnormen in Betracht. aa) Änderung von Verbrauchsteuerbescheiden Gemäß § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 AO können Steuerbescheide über Verbrauchsteuern voraussetzungslos berichtigt werden. Als Korrelat zur einfachen Änderbarkeit ist die Festsetzungsverjährungsfrist mit einem Jahr (§ 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO) erheblich kürzer als bei den anderen Steuerarten bemessen.277 Begründet wird dies damit, dass Verbrauchsteuerrecht in gesteigertem Maße ein Massenfallrecht278 ist, bei dem eine umfassende Sachaufklärung nur eingeschränkt möglich ist.279 Innerhalb der Jahresfrist können neue Erkenntnisse über die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts daher ohne Weiteres berücksichtigt werden. Nach Ablauf der Frist ist allerdings durch den Eintritt der materiellen Bestandskraft jegliche Änderung ausgeschlossen.

275 Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Änderungsnormen der §§ 172 ff. AO. In den Fällen einer Haftung für Steuern Dritter kommt auch eine Änderung des Haftungsbescheids nach § 130 Abs. 1 AO in Betracht. Da es sich hierbei aber um einen Ausnahmefall handelt, bleibt diese Norm im Weiteren unberücksichtigt. 276 Nur Entscheidungen des EuGH zu Gunsten des Steuerpflichtigen können zur Entstehung eines Erstattungsanspruchs führen. Die Ausführungen beschränken sich daher hierauf. 277 Nach Loose, in: Tipke/Kruse, § 172, Rn. 5 ist der Prinzipienwiderspruch zwischen Vertrauensschutz und Rechtssicherheit einerseits und materieller Rechtsrichtigkeit andererseits durch § 172 AO zu Gunsten der Rechtsrichtigkeit gelöst. Die kürzere Festsetzungsfrist nach § 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO betont demgegenüber dann wieder den Aspekt der Rechtssicherheit. 278 Zum Steuerrecht als Massenfallrecht Birk, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO, Rn. 490 und Wernsmann, S. 20. 279 Loose, in: Tipke/Kruse, § 172, Rn. 5.

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bb) Änderung von sonstigen Steuerbescheiden (1) Änderung auf Antrag oder mit Zustimmung des Steuerpflichtigen § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a AO ermöglicht eine Änderung eines Steuerbescheids zu Gunsten des Steuerpflichtigen, wenn er zustimmt oder auf seinen Antrag hin. Die Norm kann auch im Einspruchs- oder Klageverfahren Anwendung finden, soweit damit einem Einspruch oder einer Klage abgeholfen wird.280 In zeitlicher Hinsicht ist erforderlich, dass der Steuerpflichtige bei einer angestrebten Änderung zu seinen Gunsten durch Antrag oder Zustimmung vor Ablauf der Einspruchsfrist mitgewirkt haben muss.281 Im klassischen Fall der anfangs unerkannten Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Abgabennorm erweitert die Norm den zeitlichen Spielraum nicht über die Einspruchsfristen hinaus. Maßgeblich ist und bleibt die in der Regel einmonatige Einspruchsfrist. § 172 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a AO ermöglicht daher keine umfassendere Geltendmachung von Gemeinschaftsrechtsverstößen als ein Einspruchverfahren. (2) Nachträgliches Bekanntwerden von Tatsachen oder Beweismitteln Werden nachträglich Tatsachen oder Beweismittel bekannt, die zu einer niedrigeren Steuer führen, ist der Steuerbescheid von Amts wegen zu ändern, wenn den Steuerpflichtigen kein grobes Verschulden daran trifft, dass sie erst nachträglich bekannt werden (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 S. 1 AO). Tatsache im Sinne dieser Vorschrift ist jeder Lebensvorgang, der insgesamt oder teilweise den gesetzlichen Steuertatbestand oder ein einzelnes Merkmal dieses Tatbestandes erfüllt.282 Dazu zählen Zustände, Vorgänge, Beziehungen und Eigenschaften materieller oder immaterieller Art.283 Beweismittel sind alle Erkenntnismittel, die geeignet sind, das Vorliegen oder Nichtvorliegen von Tatsachen zu beweisen.284 280 Kritisch zur entsprechenden Ergänzung der Norm durch das StBereinG 1999, Koenig, in: Pahlke/Koenig, § 172, Rn. 40; von Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 172, Rn. 139 f. 281 Koenig, in: Pahlke/Koenig, § 172, Rn. 20 und 39; Loose, in: Tipke/Kruse, § 172, Rn. 36. 282 BFH, BStBl. III 1962, S. 494 (495); BStBl. II 1998, S. 371; BStBl. II 1999, S. 92; BStBl. II 2001, S. 379; Loose, in: Tipke/Kruse, § 173, Rn. 2. 283 BFH/NV 2003, S. 1144; Birk, Rn. 387. 284 BFH, BStBl. II 1989, S. 585 (587); Birk, Rn. 387; Loose, in: Tipke/Kruse, § 173 AO, Rn. 21.

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In Übereinstimmung mit diesen Definitionen ist eine verbesserte Erkenntnis von der Reichweite des Gemeinschaftsrechts – beispielsweise vermittelt durch eine EuGH-Entscheidung – weder eine neue Tatsache285 noch ein neues Beweismittel. Die neue Erkenntnis zeigt lediglich, dass die frühere Rechtsauffassung unzutreffend war. Ein bloßer Rechtsirrtum kann vom Steuerpflichtigen aber nur mit dem Einspruch geltend gemacht werden.286 Ändert die Verwaltung ihre Rechtsauffassung gemäß der neuen Erkenntnis, ist auch dies keine neue Tatsache.287 Auch Urteile des EuGH selbst sind nach Auffassung des Bundesfinanzhofs keine neuen Tatsachen.288 Verschiedentlich wurde dies in der Literatur damit begründet, dass § 165 AO abschließend die Rechtsfolgen eines Verfahrens vor dem EuGH regele.289 Da die Steuer vorläufig festzusetzen sei, könne bei einem nachfolgenden Urteil des EuGH dessen Rechtsauffassung der endgültigen Entscheidung zu Grunde gelegt werden.290 Der Begründungsansatz übersieht jedoch, dass eine Vorläufigkeit nach § 165 AO ein bereits anhängiges Verfahren beim EuGH voraussetzt. In der überwiegenden Zahl der potentiellen Anwendungsfälle des § 173 AO bei gemeinschaftsrechtlich zweifelhaften Steuererhebungen war bei Erlass des Steuerbescheids noch kein Verfahren anhängig. Ansonsten hätte der Steuerpflichtige den Steuerbescheid ohnehin durch einen Einspruch offen gehalten – vorausgesetzt er wusste von dem EuGH Verfahren. Richtigerweise ist die Begründung für die ständige Rechtsprechung in der Definition der Tatsache selbst zu suchen. Urteile des EuGH und anderer Gerichte, die das geltende Recht auslegen, vermitteln (neue) Erkenntnisse über die Rechtslage. Zwar ist ein Urteil des EuGH ein Faktum, dieses ist aber nicht Bestandteil des Steuertatbestandes. Das nachträgliche Bekanntwerden der Rechtslage ist damit gerade der Gegenbegriff zum nachträglichen Bekanntwerden von Tatsachen.

285

So auch Wernsmann, S. 23. Vgl. BFH, BStBl. II 1986, S. 120 (121); BStBl. II 1993, S. 569 (571); AEAO § 173, Nr. 1.1.2; Koenig, in: Pahlke/Koenig, § 173, Rn. 12; Loose, in: Tipke/Kruse, § 173, Rn. 3. 287 Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (638), stellen außerdem fest, dass die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts keine Tatsache ist. Dafür spricht auch, dass die beschränkenden Tatbestandsvoraussetzungen des § 173 AO leer laufen würden, wenn schon die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes selbst eine Tatsache darstellte. Damit wäre im Ergebnis nämlich jeder rechtswidrige Steuerbescheid ohne weitere Voraussetzungen änderbar. 288 BFH, BStBl. II 1981, S. 507 (510); Hessisches FG, EFG 1995, S. 1088; FG München, EFG 1986, S. 156 (157). de Weerth, DB 2005, S. 1407 (1410); Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (78); Klein, § 173, Rn. 24; Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (638); Hahn, DStZ 2003, S. 489 (496). 289 Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (79). 290 Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (79). 286

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Durchaus möglich ist es aber, dass nach einem Urteil des EuGH ein schon vorhandenes Beweismittel neue Bedeutung gewinnt und nun erstmals vom Steuerpflichtigen vorgelegt wird.291 Hier wird es dann häufig darauf ankommen, ob den Steuerpflichtigen an der verspäteten Vorlage ein grobes Verschulden trifft (§ 173 Abs. 1 Nr. 2 AO). (3) Rückwirkende Ereignisse Die Bestandskraft eines Steuerbescheids kann auch dann durchbrochen werden, wenn ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat (§ 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO). Ein solches rückwirkendes Ereignis liegt vor, wenn ein rechtlich erheblicher Vorgang nach Entstehung des Steueranspruchs und nach Erlass des zu ändernden Steuerbescheids eintritt und er – ungeachtet seiner zivilrechtlichen Wirkung – steuerlich in der Weise in die Vergangenheit wirkt, dass nunmehr der veränderte anstelle des zuvor verwirklichten Sachverhaltes der Besteuerung zu Grunde zu legen ist.292 Keine rückwirkenden Ereignisse in diesem Sinne sind die rückwirkende Änderung steuerrechtlicher Normen und der Erlass von Urteilen des Bundesverfassungsgerichts und des EuGH.293 Da die Rechtslage kein Sachverhalt ist, der einem Steuerbescheid zu Grunde liegt, ist auch die Änderung der Rechtslage kein Anwendungsfall des § 175 AO.294 Erst recht gilt dies daher für Urteile des Bundesverfassungsgerichts oder des EuGH. Durch sie wird lediglich die Erkenntnis von der Unwirksamkeit bzw. Unanwendbarkeit einer Norm vermittelt, ohne dass dies einer Rechtsänderung gleichkäme. Wenn schon die Rechtslage selbst kein Sachverhalt ist, der einem Steuerbescheid zu Grunde liegt, dann gilt das erst recht für die Kenntnis der Rechtslage. 291 So vor allem für Bescheinigungen über Körperschaftsteuer im Zuge der „Meilicke-Anträge“ de Weerth, DB 2005, S. 1407 (1411); von Wedelstädt, DB 2004, S. 2500; so auch AEAO § 175 Nr. 2.2 S. 6. 292 Großer Senat des BFH; BStBl. II 1993, S. 897 (901); BFH/NV 2000, S. 306; von Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 175, Rn. 280; Loose, in: Tipke/Kruse, § 175, Rn. 26; Bernhard, IStR 2004, S. 791. 293 Für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts vgl. Wernsmann, S. 23 m.w. N. Ausdrücklich zu Entscheidungen des EuGH: BFH, BStBl. II 1996, S. 399 (401); Klein, § 175, Rn. 83; Szymczak, in: Koch/Scholtz, § 175, Rn. 11/2; Bernhard, IStR 2004, S. 791 (792); Koenig, in: Pahlke/Koenig, § 175, Rn. 56; Hahn/SuhrbierHahn, DStZ 2002, S. 632 (640). Anderer Ansicht allerdings Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (79). Seine Äußerungen müssen so verstanden werden, dass nach seiner Ansicht jedes Urteil des EuGH ein rückwirkendes Ereignis i. S. d. § 175 AO darstellt, wenn der EuGH die zeitliche Reichweite nicht einschränkt. 294 Erforderlich ist eine Änderung des Sachverhalts, d.h. eine Änderung auf tatsächlicher Ebene; BFH, BStBl. II 1998, S. 695; Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (640).

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(4) Zwischenergebnis Die Zusammenstellung potentiell anwendbarer Korrekturnormen zeigt, dass im Regelfall eine Entscheidung des EuGH nicht im Wege einer Korrektur des Steuerbescheids berücksichtigt werden kann. Die Korrekturnormen der Abgabenordnung sind nicht darauf zugeschnitten, der nachträglich verbesserten Kenntnis der Rechtslage Rechnung zu tragen. Die wesentliche Zäsur ist folglich der Eintritt der formellen Bestandskraft durch Ablauf der Einspruchsfrist. Selbst wenn im Ausnahmefall die Voraussetzungen einer Korrekturnorm vorliegen sollten, ist als zusätzliche zeitliche Grenze der Ablauf der Festsetzungsfrist zu beachten. Diese beträgt für direkte Steuern im Regelfall vier Jahre (§ 169 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 AO) und beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer entstanden ist, bzw. bis zu drei Jahre später, wenn eine Steuererklärung abzugeben ist (§ 170 Abs. 2 S. 1 Nr. 1 AO). Nach Ablauf dieser Frist ist durch den Eintritt materieller Bestandskraft jede Änderung des Steuerbescheids ausgeschlossen. c) Nicht endgültige Steuerfestsetzungen Auch ein Steuerbescheid, der eine Steuer noch nicht endgültig festsetzt, weil er unter dem Vorbehalt der Nachprüfung steht (§ 164 AO) oder nur vorläufig ergangen ist (§ 165 AO), ist Rechtsgrund im Sinne des § 37 Abs. 2 AO und verpflichtet den Steuerpflichtigen zur umgehenden Entrichtung der Steuer295; er kann gegebenenfalls auch vollstreckt werden.296 Allerdings können solche Steuerbescheide unter weniger engen Voraussetzungen geändert werden297 und ermöglichen daher eine umfassendere Berücksichtigung neuerer Entwicklungen im Gemeinschaftsrecht. aa) Vorbehalt der Nachprüfung Steuern werden unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt, wenn noch keine abschließende Prüfung in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht möglich war (§ 164 Abs. 1 AO). Der unter Vorbehalt ergangene Bescheid wird

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Vgl. Tipke, in: Tipke/Kruse, § 164, Rn. 28. § 249 Abs. 1 AO unterscheidet nicht zwischen endgültigen und nicht endgültigen Steuerbescheiden, Tipke, in: Tipke/Kruse, § 164, Rn. 28. 297 Nach § 164 Abs. 2 und § 165 Abs. 2 AO ist eine Änderung oder Aufhebung der Steuerfestsetzung während der Dauer des Vorbehalts bzw. während der Vorläufigkeit jederzeit möglich. Das bestätigt auch der Einleitungssatz von § 172 Abs. 1 S. 1 AO, wonach die Voraussetzungen der §§ 172 ff. AO nicht für nicht endgültige Steuerfestsetzungen gelten. 296

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allerdings bestandskräftig.298 Dies hat zur Folge, dass er nur während der Einspruchsfrist angefochten werden kann. Nach ihrem Ablauf ist der Steuerpflichtige auf einen Antrag nach § 164 Abs. 2 S. 2 AO verwiesen. War die ursprüngliche Steuerfestsetzung rechtswidrig ist, der Antrag begründet und darf nicht abgelehnt werden.299 Zugleich hat auch die Finanzverwaltung die Möglichkeit, einen Steuerbescheid von Amts wegen zu Gunsten des Steuerpflichtigen zu ändern, wenn die Steuer rechtswidrig zu hoch festgesetzt wurde. Die Änderungsbefugnis besteht insbesondere auch dann, wenn geänderte rechtliche Erwägungen – etwa über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts – angestellt werden.300 Insgesamt ermöglicht der Vorbehalt der Nachprüfung trotz Eintritts formeller Bestandskraft eine prinzipiell unbeschränkte Korrekturmöglichkeit.301 Ob eine Festsetzung unter Vorbehalt ergeht, ist eine Ermessensentscheidung der Behörde, die faktisch nur schwer zu überprüfen ist. Im Ergebnis handelt es sich eher um eine Willens- als um eine rechtlich determinierte Ermessensentscheidung.302 Letztendlich steht es damit weitgehend im Belieben der Finanzbehörden, ob die Möglichkeit der verlängerten Prüfung der Rechtslage besteht oder nicht.303 Ergeht ein Urteil des EuGH, während der Vorbehalt noch besteht, ist die verbesserte Erkenntnis von der Bedeutung des Gemeinschaftsrechts zwingend zu berücksichtigen. Die Steuerfestsetzung ist von Amts wegen zu berichtigen. Tut die Finanzverwaltung dies nicht, kann der Steuerpflichtige einen entsprechenden Antrag stellen (§ 164 Abs. 2 S. 2 AO). Gegen einen ablehnenden Bescheid ist dann wiederum der Einspruch statthaft.304 bb) Vorläufige Steuerfestsetzung Eine vorläufige Steuerfestsetzung ist zunächst nur zulässig, wenn Unsicherheiten in tatsächlicher Hinsicht bestehen, weil unklar ist, ob der Steuertatbe298 BFH, BStBl. II 1983, S. 164 (165); Pahlke, in: Pahlke/Koenig, § 172, Rn. 8. Danach tritt zwar keine materielle, wohl aber formelle Bestandskraft ein. Anderer Ansicht allerdings wohl von Groll, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 172, Rn. 30. Nach dieser Ansicht tritt auch keine formelle Bestandskraft ein. 299 Tipke, in: Tipke/Kruse, § 164, Rn. 43. 300 Klein/Rüsken, § 164, Rn. 1; Tipke, in: Tipke/Kruse, § 164, Rn. 17; Trzaskalik, StuW 1993, S. 371 (372). 301 BFH, BStBl. II 1993, S. 261 (262); BFH/NV 1995, S. 946 (947); BFH/NV 1999, S. 287 (288); Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (638). 302 Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (639); Heuermann, in: Hübschmann/ Hepp/Spitaler, § 164, Rn. 8; Trzaskalik, StuW 1993, S. 371 (372). 303 Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (639). 304 Tipke, in: Tipke/Kruse, § 164, Rn. 58.

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stand verwirklicht wurde oder nicht (§ 165 Abs. 1 S. 1 AO). Auf Unsicherheiten hinsichtlich der Rechtslage ist die Norm grundsätzlich nicht anwendbar. Die Rechtslage ist von der Behörde von Amts wegen zu erkunden und dem zu erlassenden Steuerbescheid zu Grunde zu legen. Streitigkeiten über die Rechtslage sind dann im Rahmen des finanzgerichtlichen Verfahrens auszutragen. § 165 AO findet daher keine Anwendung, wenn die Verwaltung die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Rechtsgrundlage in Betracht zieht.305 § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO erweitert allerdings die Gründe für eine vorläufige Steuerfestsetzung auf Rechtsunsicherheiten über die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht. Die Festsetzung kann306 mit einem Vorläufigkeitsvermerk versehen werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens bei dem EuGH, dem Bundesverfassungsgericht oder einem obersten Bundesgericht ist. Dabei ist bereits die Frage umstritten, ob die Vorlage eines Finanzgerichts an den EuGH nach Art. 234 EG eine Frage nach der Vereinbarkeit des Steuergesetzes mit höherrangigem Recht darstellt. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens sei nur die Auslegung des Gemeinschaftsrechts, nicht die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit Gemeinschaftsrecht.307 Dies scheint jedoch ein zu formalistischer Ansatz zu sein. Würde man § 165 AO in diesem Sinne auslegen, liefe die Norm – soweit sie den EuGH betrifft – leer, da der EuGH in keiner Verfahrensart direkt über die Vereinbarkeit nationaler Steuergesetze mit dem Gemeinschaftsrecht entscheidet. Dennoch tenoriert der EuGH regelmäßig, dass Gemeinschaftsrecht stehe der streitentscheidenden nationalen Norm entgegen. Bei wohlwollender historischer Auslegung ist somit auch die Vorlage an den EuGH von § 165 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AO erfasst.308 Die vorläufige Steuerfestsetzung ermöglicht es, in einer Vielzahl von Steuerveranlagungen anhängige „Musterverfahren“ abzuwarten und abhängig von deren Ausgang die Steuerfestsetzung entsprechend zu ändern bzw. den Vorläufigkeitsvermerk aufzuheben. Hat ein Steuerpflichtiger daher die vorläufige Steuerfestsetzung erreicht, kann er von Entscheidungen zu seinen Gunsten nur profitieren. 305 Nach Ansicht des BFH ist die Unsicherheit in der steuerlichen Beurteilung eines feststehenden Sachverhalts kein Grund für einen vorläufigen Bescheid, BFH, BStBl. II 1985, S. 648 (649); BStBl. II 1998, S. 702; BFH/NV 2004, S. 1065. Tipke, in: Tipke/ Kruse, § 165, Rn. 8; Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165, Rn. 13. 306 Die Formulierung „ist auch anzuwenden“ deutet zwar auf eine Pflicht zum vorläufigen Erlass hin. Sie bezieht sich aber auf Satz 1; dieser wiederum ist eine Ermessensvorschrift, Tipke, in: Tipke/Kruse, § 165, Rn. 11. 307 So wohl Heuermann, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 165, Rn. 19, der aber auf Grund der faktisch rechtsgestaltenden Wirkung dennoch § 165 AO anwenden möchte. 308 So auch Cöster, in: Pahlke/Koenig, § 165, Rn. 25.

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cc) Zwischenergebnis Nicht endgültige Steuerfestsetzungen ermöglichen eine umfassende Berücksichtigung späterer Urteile zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts. Von der Belastungswirkung her ist eine nicht endgültige Steuerfestsetzung mit einer endgültigen Festsetzung vergleichbar. Beide führen dazu, dass der Steuerpflichtige die festgesetzte Steuer zahlen muss. Hinsichtlich der Möglichkeit zur Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Entwicklungen steht der Steuerpflichtige, dessen Steuer nicht endgültig festgesetzt wird, allerdings erheblich günstiger, da bis zur Endgültigkeit des Steuerbescheids jede Änderung in der Auslegung des Gemeinschaftsrechts berücksichtigt werden kann. Dabei darf selbstverständlich nicht ausgeblendet werden, dass die erleichterte Änderbarkeit in anderen Situationen auch eine Belastung für den Steuerpflichtigen darstellen kann.309 Insgesamt betrachtet steht ein solcher Steuerpflichtige damit nicht besser, sondern anders. d) Zahlungsverjährung Auch wenn ein Erstattungsanspruch gemäß § 37 Abs. 2 AO entstanden ist, kann dieser noch immer durch Eintritt der Zahlungsverjährung untergehen (§ 47 AO). Die Frist beträgt fünf Jahre (§§ 228 ff. AO) und beginnt in der Regel mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Anspruch erstmals fällig geworden ist. Die Zahlungsverjährung erlangt in der Praxis jedoch kaum Bedeutung, da Voraussetzung für die Entstehung des Anspruchs die Aufhebung oder Änderung des Steuerbescheids ist. Hierzu ist regelmäßig ein Antrag oder ein Einspruch des Steuerpflichtigen erforderlich, der nur Erfolg haben kann, wenn nicht schon Festsetzungsverjährung eingetreten ist. Hat der Antrag oder der Einspruch Erfolg, wird die Finanzverwaltung zumeist von Amts wegen die Steuer erstatten bzw. wird der Rückzahlungsberechtigte nur selten die recht lange Zahlungsverjährungsfrist tatenlos verstreichen lassen.

309 Entwicklungen in der Rechtsprechung des EuGH dürfen dabei allerdings in der Regel nicht zu Lasten des Steuerpflichtigen gehen. Nach § 176 Abs. 1 Nr. 1 AO darf die Feststellung der Nichtigkeit eines Gesetzes durch das Bundesverfassungsgericht nicht zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt werden. Diese Regelung soll entsprechend auf Entscheidungen des EuGH Anwendung finden, Koenig, in: Pahlke/ Koenig, § 176, Rn. 14. Der Vertrauensschutz nach § 176 AO ist auch im Rahmen der §§ 164 f. AO zu beachten, Koenig, in: Pahlke/Koenig, § 176, Rn. 12. Die Belastung einer nicht endgültigen Steuerfestsetzung ergibt sich damit weniger aus potentiellen Rechtsprechungsänderungen als vielmehr aus tatsächlichen Unsicherheiten.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

e) Auswirkungen in der Praxis Die kurzen Anfechtungsfristen lassen vermuten, dass nur in engen zeitlichen Grenzen auf neue Erkenntnisse über die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts reagiert werden kann. Die Besonderheiten des Verfahrensrechts führen bei näherer Betrachtung hingegen – je nach Fallgestaltung – zu sehr unterschiedlich langen Berücksichtigungszeiträumen. Dies sollen zwei Extrema verdeutlichen. Bedeutung haben diese aber nur für den Folgefall, also den Steuerpflichtigen, der nicht selbst den Rechtsweg bis zum EuGH beschritten hat, sondern der auf Grund eines „Musterverfahrens“ im Anlassfall auf die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Norm aufmerksam geworden ist. aa) Steuerpflichtige ohne betriebliche Einkünfte Soweit Steuerpflichtige gemäß § 25 Abs. 3 EStG i.V. m. § 56 EStDV gegebenenfalls i.V. m. § 46 Abs. 2 EStG eine Steuererklärung abzugeben haben, muss dies grundsätzlich bis zum 31.5. des auf das Jahr, für das die Erklärung abzugeben ist, folgenden Jahres erfolgen (§ 149 Abs. 2 S. 1 AO). In der Regel wird der Steuerbescheid dann bis zum Herbst des Erklärungsjahres bekannt gegeben. Ohne Anfechtung wird dieser demzufolge zumeist noch vor Ablauf des Jahres bestandskräftig, in dem die Erklärung abgegeben wird. Ein Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO), der zumeist im Hinblick auf eine spätere Außenprüfung vorgenommen wird, fehlt in der Regel, da im privaten Bereich Außenprüfungen seltene Ausnahmen sind.310 Eine Entscheidung des EuGH zum Steuerrecht des Veranlagungsjahres könnte daher nur dann für das Jahr, auf das sich die Steuererklärung bezieht, berücksichtigt werden, wenn sie bis zum frühen Herbst des Erklärungsjahres – dem Zeitpunkt der Bestandskraft – bekannt wird. In der Praxis vergehen jedoch einige Jahre, bis es zu einer Entscheidung des EuGH kommt.311 Die Steuerfestsetzung desjenigen, der seine Erklärung fristgerecht abgegeben hat, ist damit bei Urteilsverkündung immer bestandskräftig geworden. Da die Wirkung von EuGH-Urteilen in der Regel auch das Steuerrecht noch weiter zurückliegender Veranlagungszeiträume erfasst, sind diese Veranlagungen erst recht bestandskräftig geworden. Bedeutung kann das Urteil daher nur haben, wenn die Steuerrechtsnorm, die Gegenstand der Entscheidung war, unverändert beibehalten wurde und auch Steuerfestsetzungen zu Grunde liegt, die zum Zeitpunkt der Urteilsverkündung noch nicht bestandskräftig geworden sind.

310

Vgl. die engen Voraussetzungen nach § 193 Abs. 2 Nr. 2 AO. Die durchschnittliche Verfahrensdauer soll bei zwei Jahren liegen; vgl. oben Fußnote 265. 311

II. Gemeinschaftsrecht und nationales Erstattungsrecht

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bb) Steuerpflichtige mit betrieblichen Einkünften Bei Steuerpflichtigen mit betrieblichen Einkünften erfolgt eine Steuerfestsetzung in der Regel nur unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 AO). Die Festsetzung soll erst dann endgültig sein, wenn eine Außenprüfung für diesen Veranlagungszeitraum abgeschlossen ist. Damit wird erreicht, dass die Ergebnisse einer Außenprüfung noch berücksichtigt werden können. Wird mit der Außenprüfung vor dem Ablauf der Festsetzungsfrist begonnen, führt dies zur Hemmung des Fristablaufs (§ 171 Abs. 4 AO). Vorgaben dafür, wie lange im Rahmen einer Außenprüfung ermittelt werden kann, bestehen nicht. Es ist daher nicht ausgeschlossen, dass die Ablaufhemmung mehrere Jahre fortdauert. Dies gilt vor allem für die aufwändige Prüfung von Großbetrieben. Es kommt daher durchaus vor, dass Steuerbescheide erst mehr als ein Jahrzehnt nach Ablauf des Veranlagungszeitraums dem Angriff des Steuerpflichtigen entzogen sind. Da der Vorbehalt die Änderung der Steuerfestsetzung umfassend ermöglicht (§ 164 Abs. 2 S. 1 AO), können und müssen neue Erkenntnisse über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu den Steuerpflichtigen ohne betriebliche Einkünfte ist die Steuer für den Veranlagungszeitraum, aus dem der Streifall vor dem EuGH herrührt, bei Personen, die betriebliche Einkünfte erzielen, oftmals noch nicht bestandskräftig veranlagt. Häufig kann damit ein Gemeinschaftsrechtsverstoß noch für den Veranlagungszeitraum geltend gemacht werden, auf den sich das Vorlageverfahren bezieht. Darüber hinaus kann mitunter auch die „Rückwirkung“ dieses Urteils genutzt werden, um die Erstattung für noch länger zurückliegende Zeiträume zu beantragen. cc) Zwischenergebnis Nach nationalem Recht hängt die Möglichkeit zur rückwirkenden Änderung von Steuerbescheiden aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen maßgeblich von den individuellen Umständen des Steuerpflichtigen ab, auf die dieser freilich nur einen begrenzten Einfluss hat. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Bundesverfassungsgericht, wenn es feststellt, dass der Eintritt der Bestandskraft „vielfach nicht von Rechtsbehelfen des Steuerpflichtigen, sondern vom Verhalten der Behörden ab[hängt]“.312 Das nationale Recht setzt damit den klassischen Grundsatz Iura scripta sunt vigilantibus nicht durchbrechungsfrei um.313 312 BVerfG, BVerfGE 87, S. 153 (180). Vgl. dazu auch Wernsmann, S. 21 f. Das gilt vor allem für die Entscheidung darüber, ob eine Steuer endgültig oder nur vorläufig festgesetzt wird, vgl. oben S. 82. 313 Zu Einschränkungen dieses Grundsatzes auch durch das Bundesverfassungsgericht vgl. Wernsmann, S. 22.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Zwar kann der „Aufmerksame“ durch Rechtsbehelfe seine Rechtsposition wahren, zugleich können aber auch „Unaufmerksame“ in den Genuss günstiger Entscheidungen kommen, wenn sie auf Grund des Verhaltens der Verwaltung noch keine bestandskräftige Steuerfestsetzung erhalten haben. Inwieweit dies vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes des Art. 3 Abs. 1 GG relevant ist, soll nicht Gegenstand dieser Arbeit sein.314 Vielmehr soll im Folgenden untersucht werden, welche Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht aus dem Gemeinschaftsrecht ableitbar sind.

III. Die Verzahnung des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruchs mit dem nationalen Verfahrensrecht Soeben wurde dargelegt, dass die Ausgestaltung des Erstattungsverfahrens in der Kompetenz der Mitgliedstaaten liegt, die diese Aufgabe verfahrensautonom wahrnehmen. In Deutschland finden auf gemeinschaftsrechtliche Erstattungssachverhalte die allgemeinen Bestimmungen der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung Anwendung. Weiterhin wurde festgestellt, dass auf Grund des nationalen Verfahrensrechts nach Eintritt der formellen Bestandskraft eine Änderung der Steuerfestsetzung auf Grund neuer Erkenntnisse über die Bedeutung und Tragweite des Gemeinschaftsrechts nur sehr eingeschränkt möglich ist, unter Umständen sogar ausgeschlossen ist, da im Regelfall die Voraussetzungen für eine Korrektur des Steuerbescheids nach §§ 172 ff. AO nicht vorliegen werden. Im Folgenden soll nun untersucht werden, welche Anforderungen das Gemeinschaftsrecht – vor allem das statische315 – an das Verfahrensrecht stellt. Besondere Bedeutung kommt dabei der Frage zu, wo die gemeinschaftsrechtlichen Anforderungen an das nationale Verfahrensrecht normativ verankert werden können. Dazu wird zunächst die Rechtsprechung des EuGH dargestellt (1.) und sodann der Versuch einer dogmatischen Neuorientierung unternommen (2.). 1. Die Rechtsprechung des EuGH a) Notwendigkeit einer Beschränkung der Verfahrensautonomie zum Schutz des Erstattungsanspruchs Der EuGH hat früh erkannt, dass Grenzen der Verfahrensautonomie erforderlich sind, um zum einen die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts zu sichern 314 315

Vgl. stattdessen Wernsmann, S. 22 f. Zum Begriff des statischen Gemeinschaftsrechts oben S. 70.

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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und um zum anderen seine gleichmäßige Geltung in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. aa) Auftreten von Disparitäten zwischen den Mitgliedstaaten Alle Mitgliedstaaten kennen das Prinzip der Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern.316 Insoweit stimmen die nationalen Rechtsordnungen mit dem oben dargestellten gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsgebot überein.317 Entscheidend für die Frage, ob eine Steuer tatsächlich erstattet wird, ist aber nicht nur, dass das Rechtsinstitut der Erstattung als solches anerkannt ist, sondern auch, wie es ausgestaltet ist. Eine restriktive Ausgestaltung kann den Grundsatz der Erstattung in sein Gegenteil verkehren. Je nach nationalem Verfahrensrecht ist die Erstattung damit entweder die Ausnahme oder die Regel. Das Erstattungsrecht ist von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich geregelt.318 Es lassen sich eine Vielzahl von Eigenarten im Detail ausmachen. Daneben existiert aber auch ein fundamentaler Unterschied im System der Erstattung. Die mitgliedstaatlichen Erstattungsregeln lassen sich dabei in zwei Gruppen unterteilen. Die eine Gruppe entspricht dem deutschen System und kann als Bestandskraftsystem bezeichnet werden. Das Gegenstück dazu ist die Ausgestaltung über das allgemeine (zivilrechtliche) Rechtsinstitut des Ausgleichs ungerechtfertigter Bereicherungen.319 Das Bestandskraftsystem begrenzt die Erstattung in zeitlicher Hinsicht vor allem durch die Bestandskraft des Steuerbescheids. Dieser ist Rechtsgrund für die Steuerzahlung, so dass nach Eintritt der Bestandskraft eine Erstattung (i. d. R.) ausscheidet. Die Anfechtungsfristen sind relativ kurz; eine Berücksichtigung neuerer Entscheidungen zum Gemeinschaftsrecht ist häufig bereits wenige Monate nach Bekanntgabe des Steuerbescheids ausgeschlossen.320 Das Bestandskraftsystem wenden vor allem die Niederlande und Deutschland an.321 Bei dem konkurrierenden System der Erstattung als Ausgleich ungerechtfertigter Bereicherungen spielt der Erlass des Steuerbescheids und seine Bestandskraft hingegen keine Rolle.322 Eine Erstattung ist allein von der materiellen 316

Huthmacher, S. 42. Vgl. S. 48. 318 So die ständige Aussage des EuGH, etwa in Urteil vom 15.9.1998, C-260/96, Slg. 1998, I-4997 – Spac, Rn. 17. 319 Im Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 33 und Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 22 f., weist auch der EuGH auf den „Erstattungsdualismus“ hin. 320 Zum deutschen Recht vgl. die Ausführungen oben auf S. 72. 321 Weber, EuR 1986, S. 1 (16); Huthmacher, S. 259 ff. 322 Einige Mitgliedstaaten, die eine Erstattung als Ausgleich ungerechtfertigter Bereicherungen ansehen, kennen zwar durchaus das Prinzip der Bestandskraft. Für die 317

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Rechtslage abhängig.323 Damit entsteht der Erstattungsanspruch unmittelbar mit der Zahlung auf die vermeintliche Steuerschuld. In zeitlicher Hinsicht ist die Erstattung daher im Wesentlichen durch die Verjährungsfristen begrenzt. Diese entsprechen oftmals der allgemeinen zivilrechtlichen Verjährung und haben eine Länge von in der Regel mehreren Jahren.324 Teilweise kompensieren die Mitgliedstaaten, die diesem System folgen, die große zeitliche Reichweite potentieller Erstattungen durch eine Begrenzung des Anspruchs der Höhe nach. Häufig scheidet eine Erstattung insoweit aus, wie der Erstattungsberechtigte die Steuer auf Dritte abwälzen konnte, was bei indirekten Steuern und sonstigen Abgaben regelmäßig der Fall ist.325 Es wird deutlich, dass auf Grund der unterschiedlichen Systeme der potentielle Erstattungszeitraum unterschiedlich lang ist, wobei das System der Erstattung über eine ungerechtfertigte Bereicherung tendenziell erstattungsfreundlicher ist. Verjährungsfristen sind regelmäßig deutlich länger als Anfechtungsfristen. Damit ist zugleich der gemeinschaftsrechtlich gewährte Anspruch auf Erstattung unterschiedlich werthaltig. Obwohl die Erhebung bestimmter Abgaben in allen Mitgliedstaaten nach denselben Gemeinschaftsbestimmungen auf der Primärebene unzulässig ist, weicht der Umfang der Erstattung der dennoch erhobenen Abgaben je nach Mitgliedstaat deutlich voneinander ab. Je nach nationaler Ausgestaltung des Rechts der Sekundärebene wird eine gemeinschaftsrechtswidrige Vermögenslage daher mehr oder minder perpetuiert. Es ist folglich nicht von der Hand zu weisen, dass Unterschiede in der Ausgestaltung der Erstattung die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gefährden,326 was dem Gedanken eines europäischen Binnenmarktes widerspräche.327 Für diesen ist die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts ein Konstitutionsprinzip schlechthin.328 Erstattung sind jedoch die Zivilgerichte zuständig, die an die abgabenrechtlichen Anfechtungsfristen nicht gebunden sind; vgl. Schwarze, S. 1123. 323 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 1123. 324 In Griechenland soll sie etwa zwanzig Jahre betragen; Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 1123; Weber, EuR 1986, S. 1 (16); Huthmacher, S. 267. Schon 1990 stellte der EuGH in Denkavit Italiana (Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205, Rn. 24) fest, dass auf die Mitgliedstaaten, die diesem System folgen, „ganz erhebliche Forderungen zukommen können“. 325 Siehe unten im Detail S. 156. 326 Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 1125; Gellermann, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 34, Rn. 33; Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (634). 327 Bspw. EuGH, Urteil vom 6.5.1982, verb. Rs. 146, 192 und 193/81, Slg. 1982, 1503 – BayWa/Balm, Rn. 30; Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 17.6.2003, C453/00, Slg. 2004, I-839 – Kühne & Heitz, Rn. 70; Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107 (108). 328 EuGH, Urteil vom 11.2.1971, 39/70, Slg. 1971, 49 – Fleischkontor, Rn. 4. von Danwitz, S. 350.

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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Dennoch sind die Disparitäten in der Rechtsprechung des EuGH nie ausdrücklich als Argument für eine Nivellierung des Erstattungsrechts angeführt worden, auch wenn dieser Punkt von einigen Generalanwälten durchaus thematisiert wurde.329 Vielmehr stellt der Gerichtshof die bestehenden Unterschiede heraus, verweist dann aber auf die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, da eine Gemeinschaftsregelung fehle.330 In diesem Bereich erkennt er die Zuständigkeit der Legislative an, für eine Rechtsangleichung dort zu sorgen, wo sie politisch als notwendig wahrgenommen wird.331 bb) Wirksamkeitsverlust des Gemeinschaftsrechts Eine zweite – aus Sicht der Gemeinschaft unerwünschte – Folge der Verfahrensautonomie ist der mit ihr verbundene Wirksamkeitsverlust des Gemeinschaftsrechts.332 Dies mag das folgende Beispiel veranschaulichen. Es sei unterstellt, eine Abgabennorm verstoße gegen eine Grundfreiheit. Auf Grund des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts muss sie ab dem Zeitpunkt der Kollision unangewendet bleiben. Wird allerdings auf der Basis dieser Norm eine Steuer festgesetzt und dies vom Steuerpflichtigen nicht angefochten, so erwächst der Steuerbescheid in Bestandskraft und setzt eine Leistungspflicht ohne Änderungsmöglichkeit fest. Wird nun die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zu einem späteren Zeitpunkt erkannt, kann die erneute Festsetzung einer solchen Steuer zwar für die Zukunft abgewehrt werden. Dies beseitigt aber nicht den in der Vergangenheit entstandenen rechtswidrigen Zustand. Diese fortdauernde Rechtsverletzung kann nur durch die Erstattung der gezahlten Steuern beseitigt werden. Gestaltet ein Mitgliedstaat den Erstattungsanspruch besonders restriktiv aus – beispielsweise durch kurze Anfechtungs- oder Verjährungsfristen –, verbleibt 329 Etwa Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 17.6.2003, C-453/00, Slg. 2004, I-839 – Kühne & Heitz, Rn. 70: Eine Ausdehnung der Verfahrensautonomie müsse verhindert werden, um das Gemeinschaftsrecht nicht „vom Stand der nationalen Regelungen der Mitgliedstaaten abhängig zu machen.“ 330 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 17.6.2004, C-30/02, Slg. 2004, I-6051 – Recheio, Rn. 17; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 33; Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 22 und 23; Urteil vom 10.7.1980, 811/ 79, Slg. 1980, 2545 – Ariete, Rn. 10 und 11. Dazu auch Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (193). 331 Solange dies nicht geschieht, will der EuGH die unvermeidbaren Unterschiede hinnehmen, so Urteil vom 15.9.1998, C-260/96, Slg. 1998, I-4997 – Spac, Rn. 18; Urteil vom 17.6.2004, C-30/02, Slg. 2004, I-6051 – Recheio, Rn. 17; Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor, Rn. 21; Urteil vom 12.6.1980, 130/79, Slg. 1980, 1887 – Express Dairy Foods, Rn. 12. Vgl. dazu auch Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 6; Fastenrath, JZ 1987, S. 171; von Danwitz, DVBl 1998, S. 421 (427). 332 Darauf weisen auch hin Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (511); Aubin, S. 63.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

es bei verhältnismäßig vielen Steuerzahlungen, die materiell in Widerspruch zum Gemeinschaftsrecht stehen. Aus der Perspektive der Gemeinschaft betrachtet, büßt das Gemeinschaftsrecht seine Vorrangstellung gegenüber dem nationalen Recht zumindest für einen bestimmten Zeitraum ein. Für den Zeitraum, für den die rechtswidrig erhobene Steuer nicht erstattet wird, bleibt es im wirtschaftlichen Ergebnis bei der Lage, wie sie durch das nationale Recht angeordnet wurde, auch wenn das Gemeinschaftsrecht dem entgegenstand. Damit wird zwar nicht der Vorrang des Gemeinschaftsrechts aufgehoben – die Steuererhebung bleibt rechtswidrig333 –, doch kann die Rechtswidrigkeit des Zustands nicht mehr geltend gemacht werden. Letztendlich tritt damit bei materieller Betrachtung das Gemeinschaftsrecht hinter das nationale Recht zurück.334 Es zeigt sich, dass die Mitgliedstaaten über die Ausgestaltung des Erstattungsrechts auf die Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts Einfluss nehmen können und diesem durch ihr eigenes Recht zu mehr oder weniger Geltung verhelfen können. cc) Zwischenergebnis Das nationale Verfahrensrecht kann den Anspruch des Gemeinschaftsrechts, in der gesamten Gemeinschaft gleichmäßig und vollständig zur Anwendung zu kommen, konterkarieren. Obwohl das Verfahrensrecht der Sekundärebene an sich nur dienende Funktion hat, entscheidet sich an ihm die tatsächliche Reichweite der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen. Will die Gemeinschaft nicht riskieren, dass ihr Recht von Mitgliedstaat zu Mitgliedstaat unterschiedlich vollzogen wird bzw. nur mit geringer Durchschlagskraft umgesetzt wird, muss sie gewisse Vorgaben für den mitgliedstaatlichen Vollzug machen und den Spielraum der Mitgliedstaaten eingrenzen. Dem steht das mit dem Begriff der Verfahrensautonomie umschriebene Interesse der Mitgliedstaaten gegenüber, den Vollzug in eigener Verantwortung auszugestalten.335 Der Gemeinschaftsgesetzgeber hat dieses Spannungsfeld nicht geregelt und es damit der Rechtsprechung überlassen, ohne klare Vorgaben zu machen oder auch nur eindeutige normative Ansatzpunkte hierfür zu liefern. Für eine baldige Beseitigung des Normvakuums finden sich keine Anzeichen. Derzeit fehlt nicht nur die kompetenzielle Grundlage, sondern auch der politische 333 Dies übersieht Ehle, DVBl 1974, S. 731 (732), der davon ausgeht, dass das Bestandskraftsystem mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts unvereinbar sei. 334 Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Folge des Systems der Bestandskraft. In gleicher Weise tritt etwa nationales Verfassungsrecht hinter bestandskräftige, verfassungswidrige Verwaltungsakte zurück. 335 Vgl. Hirsch, Festgabe BVerwG, S. 3 (11).

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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Wille. Die Aufgabe der Schwächung der von den Mitgliedstaaten ausgehenden Zentrifugalkräfte kann allenfalls von der Rechtsprechung im Rahmen ihrer Organkompetenz wahrgenommen werden. Sie wandelt hierbei auf einem schmalen Grat zwischen zulässiger Auslegung des Gemeinschaftsrechts und unzulässiger Rechtsetzung. Dessen ist sich auch der EuGH bewusst und versucht beständig, seine Rechtsprechung zur Begrenzung der Verfahrensautonomie auf eine feste normative Grundlage zu stellen. Hierzu bedient er sich des Konzepts des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots. b) Das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot als Grenze der Verfahrensautonomie Die Grundlage für die Beeinflussung des nationalen Vollzugsrechts legte der EuGH 1976 in der Rewe-Entscheidung.336 Gegenstand des Verfahrens war die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Gebühren für die phytosanitäre Untersuchung von Äpfeln, die von Frankreich nach Deutschland eingeführt worden waren. Obwohl die Gebührenbescheide etwa seit vier Jahren bestandskräftig waren, beantragte die Klägerin die Erstattung der Gebühren. Der EuGH entschied, dass „die Bestimmung der zuständigen Gerichte und die Ausgestaltung des Verfahrens für die Klagen, die den Schutz der dem Bürger aus der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten“ sei. Diese bereits oben337 erwähnte Zuweisung der Aufgabe zur Gewährung des erforderlichen Rechtsschutzes an die Mitgliedstaaten stellte der EuGH zugleich unter den doppelten Vorbehalt, dass einerseits das Verfahren für die Klagen nicht ungünstiger ausgestaltet sein darf als für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen, und andererseits die Verfolgung von Gemeinschaftsrechten nicht praktisch unmöglich werden darf.338 Der erste Vorbehalt wurde später – zunächst in der Literatur, dann auch durch den EuGH selbst – als Äquivalenzgebot, der zweite als Effektivitätsvorbehalt339 bezeichnet. Die Rs. Rewe begründete damit im ersten Schritt die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten, zeigte aber zugleich mit dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot auch ihre Grenzen auf.

336 EUGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe. Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289 (291); Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (634). 337 Vgl. S. 48. 338 Beide Voraussetzungen sind kumulativ zu erfüllen, vgl. Tridimas, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 465 (466). 339 Die in der Literatur mitunter gewählte Bezeichnung als Effizienzgebot (etwa Frenz, DVBl 2004, S. 375 [376]) wird von Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 135, Fn. 253, zu Recht kritisiert. Dem EuGH geht es um Wirksamkeit (Effektivität), nicht um eine günstige Zweck/Mittel-Relation (Effizienz).

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In der Folgezeit wurden die Gedanken des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots in immer neuen Zusammenhängen bemüht. Gewöhnlich wird ihr Anwendungsbereich mit dem mitgliedstaatlichen Vollzug des Gemeinschaftsrechts gleichgesetzt.340 Die folgenden Beispiele belegen allerdings ihre Anwendung über den Bereich des mitgliedstaatlichen Vollzugs im engeren Sinne hinaus. Sie finden nicht nur Anwendung beim steuerrechtlichen Erstattungsanspruch, sondern ebenso im umgekehrten Fall der Rückzahlung gemeinschaftsrechtswidrig gewährter Beihilfen341, auf Einfuhrbestimmungen,342 im Bereich der Staatshaftung343, auf die nationale Umsetzung des Gleichbehandlungsgebots des Art. 141 EG344 und auch im Zivilrecht345. Das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot hat sich quasi zu einer Allzweckwaffe des EuGH entwickelt, die immer dann zur Anwendung gelangt, wenn der gemeinschaftsrechtliche Einfluss auf eine Regelungsmaterie bemüht werden muss, die in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten fällt.346 Die geschilderten Situationen haben gemeinsam, dass aus dem Gemeinschaftsrecht Zielvorgaben347 für die Konsequenzen entwickelt werden, die die Mitgliedstaaten aus gemeinschaftsrechtswidrigen Vorgängen zu ziehen haben: Rechtswidrig erhobene Steuern sind zu erstatten, rechtswidrig gewährte Beihilfen sind zurückzufordern, der Staat hat einen durch gemeinschaftsrechtswidriges Handeln entstandenen Schaden zu ersetzen, wettbewerbswidrige Verträge begründen einen Schadensersatzanspruch einer Partei und die Nichtzahlung gemeinschaftsrechtswidriger Einfuhrabgaben darf kein Zurückbehaltungsrecht der Behörden auslösen. In allen genannten Konstellationen hat die Gemeinschaft keine exekutivische Möglichkeit, die Zielerreichung sicherzustellen, da sie für den Vollzug der jeweiligen Bestimmungen nicht zuständig ist.348 Das Effektivi340

Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 24. EuGH, Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor. Weber, EuR 1986, S. 1 (19); Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107 (109); Voß, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 90 EGV, Rn. 31; Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289 (293). 342 EuGH, Urteil vom 3.2.2000, C-228/98, Slg. 2000, I-577 – Charalampos Dounias, Rn. 58. 343 EuGH, Urteil vom 5.3.1996, verb. Rs. C-46/93 und C-48/93, Slg. 1996, I-1133 – Brasserie du pêcheur und Factortame, Rn. 83; Urteil vom 3.2.2000, C-228/98, Slg. 2000, I-577 – Charalampos Dounias, Rn. 69. Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 124, Fn. 245. 344 EuGH, Urteil vom 24.10.1996, C-435/93, Slg. 1996, I-5223 – Francina Dietz, Rn. 36. 345 EuGH, Urteil vom 20.09.2001, C-453/99, Slg. 2001, I-6297 – Courage/Crehan, Rn. 29. 346 Eine umfassende Auseinandersetzung mit der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das Verwaltungsprozessrecht findet sich bei Ehlers, S. 2 ff., der sämtliche verwaltungsprozessualen Aspekte aus dem Blickwinkel des Gemeinschaftsrechts beleuchtet. 347 Kadelbach, S. 117, bezeichnet dies als Optimierungsgebote. 341

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täts- und Äquivalenzgebot ist in seinem Anwendungsbereich daher untrennbar mit der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten verbunden. Sie treten grundsätzlich als ungleiche Zwillinge auf, um die Wirksamkeit gemeinschaftsrechtlicher Bestimmungen zur Primärebene auch auf Sekundärebene zu effektuieren. Teil dieses weiten Anwendungsbereichs ist das Recht der Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben. Das Verhältnis zwischen Verfahrensautonomie einerseits sowie Effektivitätsund Äquivalenzgebot andererseits, wie es vom EuGH gesehen wird, wurde in der Literatur als „Solange“-Rechtsprechung bezeichnet.349 Solange350 die Mitgliedstaaten ihr Recht so ausgestalten und anwenden, dass es nicht in Konflikt mit dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot gerät, bleibt es bei der umfassenden Verfahrensautonomie, d.h. nationales Recht bleibt von gemeinschaftsrechtlichen Überformungen „verschont“. Erst wenn ein mitgliedstaatlicher Rechtsakt „ausbricht“, wird der Einfluss des Gemeinschaftsrechts aktiviert. Letztlich ist dies nichts anderes als eine Beschreibung dessen, was der Begriff „autonom“ bezeichnet. Den Mitgliedstaaten steht ein Spielraum zu, wobei sich die Gemeinschaft vorbehält, die Grenzen dieses Spielraums zu kontrollieren. aa) Das Effektivitätsgebot (1) Inhalt Der mitgliedstaatliche Vollzug darf die Verfolgung von Rechten nicht „praktisch unmöglich machen“. Diese – dem Wortlaut nach maßvollen – Anforderungen stellte der EuGH 1976 in der Rewe-Entscheidung auf.351 Zunächst wiederholte er die Formel der praktischen Unmöglichkeit mit großer Beständigkeit.352 In späteren Urteilen wandelte er sie dann dahingehend ab, 348 Auf die trotz gleicher Terminologie doch verschiedenen Auswirkungen in den einzelnen Fallgruppen weist Weber, EuR 1986, S. 1 (13), hin. 349 von Danwitz, S. 347; vgl. auch Weber, EuR 1986, S. 1 (13). – Hilf, in: Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, S. 67 (80) verwendete den Begriff „Solange“ ursprünglich, um auf die (noch) fehlende Normierung des Vollzugsrechts hinzuweisen. Für ihn geht es daher nicht um die Grenzen, sondern um die Existenz der Verfahrensautonomie selbst. 350 von Danwitz, S. 347, verweist zwar auf Hilf, in: Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht im Werden, S. 67 (80), stellt aber nicht auf die zeitliche, sondern auf die inhaltliche Dimension des Begriffs „Solange“ ab. In Abgrenzung zu Hilf hätte er daher wohl zutreffender von einer Soweit-Rechtsprechung sprechen müssen. 351 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5. 352 EuGH, Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 27; Urteil vom 16.12.1976, 45/76, Slg. 1976, 2043 – Comet, Rn. 11/18; Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 25; Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis

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dass die Anwendung nationalen Rechts Tragweite und Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht beeinträchtigen dürfe. Mittlerweile verwendet der EuGH eine Kombinationsformel, indem er ein „praktisches Unmöglichmachen“ und eine „übermäßige Erschwerung“ als alternative Grenzen setzt.353 Im Ergebnis liegt die Hürde damit bei der übermäßigen Erschwerung, da die praktische Unmöglichkeit nur eine über das Maß der Übermäßigkeit hinaus gesteigerte Form der Erschwerung darstellt. Auch der EuGH geht ersichtlich von einem Stufenverhältnis zwischen übermäßiger Erschwerung und praktischer Unmöglichkeit aus, wie sich an der Formulierung „der die Erstattung (. . .) unmöglich machen oder zumindest übermäßig erschweren könnte“354 zeigt. Geht man vom Begriff der übermäßigen Erschwerung aus, sind im Bereich der Erstattung in erster Linie Verfahrensregelungen verboten, die die Erstattung besonders aufwändig, kompliziert oder teuer machen. Archetypisch wären dies etwa besondere formelle Voraussetzungen. Zu beachten ist dabei, dass auch der vollständige Ausschluss der Erstattung eine Erschwerung im Sinne dieser Rechtsprechung darstellt.355 Es kommt nicht darauf an, dass ein Anspruchsinhaber jeden einzelnen Anspruch unschwer durchsetzen kann; vielmehr genügt es, dass Ansprüche dieser Art abstrakt betrachtet erfolgreich geltend gemacht werden können. Der Ergänzung der praktischen Unmöglichkeit um die übermäßige Erschwerung ist nur eine auf die Begrifflichkeit begrenzte Bedeutung beizumessen. Mit ihr war keine schlagartige Verschärfung der Anforderungen verbunden.356 Vor allem distanzierte sich der Gerichtshof zu keinem Zeitpunkt ausdrücklich von seiner früheren Rechtsprechung.357 Von einer Revolution kann daher keine Rede sein, vielmehr ist lediglich ein evolutiver Prozess zu erken215/82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor, Rn. 22; Urteil vom 9.11.1983, 199/ 82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 22. Vgl. Kadelbach, S. 116. 353 Erstmals im Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 22. Später dann regelmäßig, etwa im Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 103; Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 85; Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana, Rn. 33; Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 18; Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 12. Vgl. Streinz, in: Streinz, Art. 10 EGV, Rn. 26. 354 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 103. 355 So ausdrücklich Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (634). 356 So auch Hoskins, E.L.Rev. 1996, 21(5), 365 bei Fn. 8 bis 10; Kadelbach, S. 116, spricht sogar nur von einer „Paraphrasierung“. 357 von Danwitz meint, in der 2. Hälfte der 80er-Jahre eine Kehrtwende des Gerichtshofs im dogmatischen Ausgangspunkt ausgemacht zu haben. Er konstatiert eine beständige „Hochzonung“ der Anforderungen durch das Effektivitätsprinzip seit der Milchkontor-Entscheidung. Ob hier wirklich eine Kehrtwende stattgefunden hat, ist fraglich. Seit den 80er-Jahren ist jedenfalls die Zahl der Verfahren erheblich angestiegen und hat damit zu einer Reihe von Entscheidungen geführt, in denen der EuGH die

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nen. Die in den vergangenen Jahren zu beobachtende wachsende Detaillierung der Rechtsprechung ist eher auf die steigende Zahl der Verfahren, bei denen es streitentscheidend auf die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts für das Verfahrensrecht ankam, zurückzuführen. Auch die Ankündigung des EuGH, bei der Prüfung einer Verfahrensnorm die Stellung dieser Norm im gesamten Verfahren, den Verfahrensablauf und die Besonderheiten des Verfahrens vor den verschiedenen nationalen Stellen zu berücksichtigen,358 brachte keine grundlegende Wende, auch wenn dies in der Literatur befürchtet wurde.359 Die Berücksichtigung des normativen Kontextes kann nicht als Abkehr vom judicial self-restraint gewertet werden,360 der zuvor in der Beschränkung auf die Verwerfung übermäßiger Erschwerungen seinen Niederschlag gefunden haben soll.361 Ganz im Gegenteil deutet der Gerichtshof damit an, dass eine Verfahrensnorm, die sich in einem Mitgliedstaat nach der Systematik der dortigen Rechtsordnung als übermäßige Erschwerung darstellt, in einem anderen Mitgliedstaat durchaus gerechtfertigt sein kann. Durch die Berücksichtigung des normativen Umfeldes wird die Entscheidung eines Mitgliedstaates für eine bestimmte Form seiner Rechtsordnung respektiert; es kommt nicht auf den Wortlaut einer Verfahrensnorm an, sondern auf ihre Bedeutung in dem System, dem sie angehört. Trotzdem ist festzustellen, dass sich der Charakter der Urteile des EuGH zum Effektivitätsgebot geändert hat. Dies liegt aber wesentlich darin begründet, dass er sich vermehrt mit Detailproblemen auseinanderzusetzen hat. Nachdem die wesentlichen Weichen mit der Anerkennung der Verfahrensautonomie und ihren Grenzen gestellt worden sind, werden diese Grenzen nun inhaltlich konturiert.362 Dies gilt vor allem für das Steuerrecht und sein spezifisches Verfahrensrecht. Mit der steigenden Zahl von Verfahren ist zwangsläufig eine immer detailliertere Prüfung nationaler Normen unter immer neuen Aspekten verbunden. Dennoch kann nicht geleugnet werden, dass die inhaltlichen Anforderungen nicht nur detaillierter, sondern auch strenger geworden sind. Während 1976 noch die Einmonatsfrist des § 58 VwGO ohne jede Auseinandersetzung mit deren Angemessenheit unbeanstandet blieb,363 wurde 1995 eine Präklusionsnorm Anforderungen näher konkretisiert hat, meines Erachtens aber ohne dass hier ein tatsächlicher Paradigmenwechsel nachzuweisen wäre. 358 EuGH, Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 14. 359 Hoskins, E.L.Rev. 1996, 21 (5), 365 vor Fn. 46. 360 von Danwitz, S. 351. 361 So aber Hoskins, E.L.Rev. 1996, 21(5), 365 vor Fn. 46. 362 Tridimas, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 465 (466), bezeichnet dies als „directed use of judicial power as the legal system matures“. 363 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5.

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als gemeinschaftsrechtswidrig angesehen, derzufolge eine Rüge der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit nach 60 Tagen ausgeschlossen war364 und 2004 wurde dem Bürger ein Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens zugebilligt, wenn Gemeinschaftsrecht im mitgliedstaatlichen gerichtlichen Verfahren unrichtig ausgelegt worden war und das nationale Gericht seine Vorlagepflicht nach Art. 234 EG verletzt hatte.365 Die verschärften Anforderungen des EuGH sind möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der EuGH anfänglich die Bereitschaft zur freiwilligen Harmonisierung des Vollzugsrechts größer eingeschätzt hatte. Schon 1980 bedauerte er, dass gemeinschaftsrechtliche Vorschriften über die Erstattung rechtswidrig erhobener Währungsausgleichsbeträge fehlten.366 Er sah sich aber nicht in der Lage, diese „Lücke“ zu schließen, da es nicht „Aufgabe des Gerichtshofes [sei], allgemeine materiell- und verfahrensrechtliche Bestimmungen aufzustellen, die nur von den zuständigen Instanzen erlassen werden können.“367 Er beließ es bei einem Appell für freiwillige Harmonisierungsbemühungen. Im Laufe der Zeit zeigte sich jedoch, dass die auftretenden Disparitäten und Wirksamkeitsverluste dauerhaft sein würden, da eine Einschränkung der Verfahrensautonomie durch Harmonisierungsmaßnahmen weder absehbar war, noch gegenwärtig absehbar ist. Auch Äußerungen (ehemaliger) EuGH-Richter deuten darauf hin, dass von Seiten des Gerichtshofs ein Harmonisierungsfortschritt erwartet wurde.368 Dessen Ausbleiben dürfte den Gerichtshof zu einer intensiveren Prüfung nationaler Normen veranlasst haben, sei es, um das Ausmaß der Disparitäten und Wirksamkeitsverluste durch Rechtsfortbildung an Stelle von Harmonisierung einzugrenzen, sei es, um Druck hin zu verstärkten Harmonisierungsbemühungen auszulösen.369 364 Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck. Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass die 60-Tagefrist als solche nicht zu beanstanden war. Die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit ergab sich aus dem normativen Kontext, vgl. näher unten S. 149. 365 EuGH, Urteil vom 13.1.2004, C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz, Tenor. 366 „Bedauerlicherweise (fehlen) Gemeinschaftsvorschriften zur Harmonisierung der Verfahren und Fristen“, EuGH, Urteil vom 12.6.1980, 130/79, Slg. 1980, 1887 – Express Dairy Foods, Rn. 12. Götz, EuR 1986, S. 29 (42). 367 EuGH, Urteil vom 12.6.1980, 130/79, Slg. 1980, 1887 – Express Dairy Foods, Rn. 12; bestätigt in Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor, Rn. 24. 368 Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389. 369 Wathelet (in: 2001 Yearbook of European Law, S. 33) – ein ehemaliger Richter des EuGH, der Berichterstatter in einer Reihe von Entscheidungen zum Steuerrecht war – stellte fest, dass durch eine steigende Zahl von Verfahren zum Steuerrecht der Druck auf die Mitgliedstaaten zur Harmonisierung erhöht werde. Es liegt nicht fern anzunehmen, dass der EuGH eine solche Tendenz begrüßt. Harmonisierungsdruck kann nicht nur auf der Ebene des materiellen Steuerrechts ausgeübt werden, sondern auch durch verschärfte Verfahrensanforderungen.

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In neuester Zeit scheint die Tendenz zur Verschärfung der Anforderungen zu einem vorläufigen Ende gekommen zu sein. Der Gerichtshof hatte in der Rs. i-21 erneut Gelegenheit, sich zur kurzen deutschen Anfechtungsfrist des § 58 VwGO zu äußern. Die Monatsfrist blieb grundsätzlich unbeanstandet, allerdings unter ausdrücklichem Hinweis darauf, dass nach nationalem Recht auch nach Ablauf der Frist ein rechtswidriger Verwaltungsakt zurückgenommen werden könne.370 Zugleich betonte das Gericht allerdings, dass die Unangemessenheit in den Ausgangsverfahren nicht gerügt worden sei, womit zumindest zum Ausdruck kommt, dass die Frist unter dem Aspekt der Angemessenheit diskutabel gewesen wäre. Bemerkenswert an dieser Entscheidung ist an sich weniger, dass der EuGH die Einmonatsfrist grundsätzlich akzeptiert hat; er hätte sonst auch von der inzidenten Billigung in der Rs. Rewe abrücken müssen. Betrachtet man die Entscheidung zusammen mit der Rs. Kühne & Heitz, fällt aber auf, dass der Gerichtshof die Forderung nach Durchbrechung der Bestandskraft zumindest nicht beständig verschärft. In Kühne & Heitz hatte sich ein Kläger gerichtlich gegen eine Abgabenerhebung gewehrt, war aber letztinstanzlich unterlegen, ohne dass eine Vorabentscheidung des EuGH eingeholt worden war. Nach einer Entscheidung des EuGH in einem anderen Verfahren wurde deutlich, dass das mitgliedstaatliche Gericht von einer unzutreffenden Auslegung des Gemeinschaftsrechts ausgegangen war. Mit seinem Antrag auf Wiederaufgreifen – welches nach nationalem Recht im Ermessen der Behörde stand – hatte der Kläger Erfolg. Während sich in dieser Sache noch eine nationale Befugnis zur Durchbrechung der Bestandskraft aus gemeinschaftsrechtlichen Gesichtspunkten heraus zu einer Verpflichtung verdichtet hatte, wurde in der Rs. i-21 lediglich thematisiert, ob die bei innerstaatlichen offensichtlichen Rechtsverstößen eröffnete Möglichkeit zur Durchbrechung der Bestandskraft auch in gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten gewährt wurde. Der Gerichtshof verlagerte damit die Fragestellung weg vom Effektivitätsgebot hin zum Äquivalenzgebot. Zusammen mit dem wenige Monate zuvor verkündeten Urteil in der Rs. Kapferer, in dem eine Durchbrechung der Rechtskraft auch dann nicht gefordert wurde, wenn damit ein Gemeinschaftsrechtsverstoß abgestellt werden könnte,371 scheint sich eine behutsamere Herangehensweise des Gerichtshofs abzuzeichnen. Nach Kühne & Heitz hätte erwartet werden können, dass die Länge der Anfechtungsfristen zwar grundsätzlich unbeanstandet bleibt, dass aber ein verstärkter Druck auf Ermessensentscheidungen zur Durchbrechung der Bestandskraft ausgeübt würde, wenn die ursprüngliche Entscheidung auf einer unrichtigen 370 Urteil vom 19.9.2006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559 – i-21, Rn. 61. Der EuGH stellt hier maßgeblich auf die vom BVerwG hervorgehobene Möglichkeit zur Änderung bei schlechthin unerträglichen Ergebnissen ab. 371 EuGH, Urteil vom 16.3.2006, C-234/04, Slg. 2006, I-2585 – Kapferer, Rn. 21.

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Auslegung des Gemeinschaftsrechts beruht.372 Der EuGH weichte die Voraussetzungen von Kühne & Heitz jedoch nicht auf, sondern stellte die Unterschiede zwischen den Sachverhalten in den Rs. i-21 und Kühne & Heitz heraus: Während die Kläger in Kühne & Heitz den ursprünglichen Abgabenbescheid mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Rechtsbehelfen im Ergebnis erfolglos angefochten hatten, wurden die Kläger in der Rs. i-21 erst aktiv, nachdem die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Gebührenerhebung offensichtlich wurde. Der restriktiveren Entscheidung in der Sache i-21 ist damit deutlich die Tendenz anzumerken, den Kläger, der sich als Pionier auf eigenes Risiko von Anfang an wehrt, zu privilegieren. Derjenige, der risikolos auf den fahrenden Zug aufspringen möchte, wird durch das nationale Recht gebremst, ohne dass ihm das Gemeinschaftsrecht hilft.373 Der Vergleich mit der Rs. i-21 zeigt, dass es dem EuGH in den progressiveren Entscheidungen wie Kühne & Heitz weniger um die Sicherstellung der Effektivität des Gemeinschaftsrechts für die Allgemeinheit als um die Herstellung von Einzelfallgerechtigkeit ging. Solche Urteile lassen sich daher nur eingeschränkt heranziehen, um für eine umfassende Breitenwirkung auf das nationale Verfahrensrecht zu argumentieren. Während der Kläger in Kühne & Heitz Pioniergeist zeigte, waren die Kläger in i-21 eher Trittbrettfahrer, die Kapital aus einer günstigen Entscheidung in einem anderen Verfahren schlagen wollten. Damit dürfte auch endgültig klargestellt sein, dass die Rs. Ciola374 eine Einzelfallentscheidung war, die vor dem Hintergrund der Besonderheiten des Falles gesehen werden muss. In dieser Sache hatte ein österreichischer Bootsliegeplatzverleiher per Verwaltungsakt vor dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union die Auflage bekommen, Liegeplätze nur beschränkt an Ausländer zu vergeben. Wegen Verstoßes gegen die Auflage wurde nach dem Beitritt Österreichs ein Bußgeld gegen ihn festgesetzt. Der im Streit um die Rechtmäßigkeit des Bußgelds angerufene EuGH entschied, dass sich das Gemeinschaftsrecht gegenüber sämtlichen mitgliedstaatlichen Rechtsakten unabhängig davon durchsetzen müsse, ob sie generell-abstrakter oder konkret-individueller Natur seien. Der ursprüngliche Verwaltungsakt könne somit nicht als Grundlage für ein Bußgeld herangezogen werden. Es hätte durchaus in der Konsequenz dieser Entscheidung gelegen, wenn gemeinschaftsrechtswidrige Verwaltungsakte immer unbeachtet bleiben müssten und damit auch keinen Rechtsgrund im Sinne des § 37 Abs. 2 AO darstellen könnten.375 Damit wäre das seit der Rs. Rewe anerkannte Bestandskraftsystem faktisch verworfen worden. 372 373 374 375

So Frenz, DVBl 2004, S. 375 (376). So auch Gosch, DStR 2005, S. 413; Potacs, EuR 2004, S. 595 (602). Urteil vom 29.4.1999, C-224/97, Slg. 1999, I-2517 – Ciola. Dafür wohl Epiney, NVwZ 2000, S. 36 (37).

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Die Rs. Kühne & Heitz, vor allem aber die Rs. i-21 zeigen aber, dass das Konzept der Bestandskraft noch immer anerkannt ist. Nur in Ausnahmefällen kann eine Pflicht zur Bestandskraftdurchbrechung bestehen.376 Die Rs. Ciola kann dennoch erklärt werden, wenn man sie als Ausdruck einer Änderungsverpflichtung des Grundverwaltungsakts bei Beitritt Österreichs zur Union versteht.377 Teil der Beitrittspflichten ist nicht nur die Anpassung generell-abstrakter, sondern auch konkret-individueller Normen. Damit resultiert dieses Urteil aus der einzigartigen Beitrittskonstellation. (2) Anwendungsbereich Der Anwendungsbereich des Effektivitätsgebots ist überall dort eröffnet, wo die Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten greift, unter anderem also auch im Erstattungsrecht. Dort bezieht es sich nicht nur auf die verfahrensrechtlichen Aspekte, sondern ebenso auf die materiellen Grundlagen der Erstattung. Die Mitgliedstaaten sind frei darin, wie sie die Anspruchsgrundlagen ausgestalten, ob sie also etwa ein System anwenden, das der formellen oder der materiellen Rechtsgrundtheorie entspricht. Das „Gesamtpaket“ aus materieller Anspruchsgrundlage und zugehörigem Verfahrensrecht muss allerdings den Anforderungen des Effektivitätsgebots genügen; der Grundsatz der Erstattung darf mit anderen Worten nicht übermäßig erschwert werden. (3) Herleitung Der EuGH sieht die Bedeutung des Effektivitätsgebots vor allem in der Sicherung der Einheitlichkeit und der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts.378 Einen klaren, normativen Anknüpfungspunkt hierfür benennt er nicht,379 auch wenn er vor allem in älteren Entscheidungen häufig den Zusammenhang mit der unmittelbaren Wirkung des Gemeinschaftsrechts herstellt.380 Die Figur der unmittelbaren Wirksamkeit allein kann nur erklären, wie das Gemeinschaftsrecht im innerstaatlichen Recht zur Geltung kommt. Wenn zusätzlich dem Gemeinschaftsrecht noch ein Optimierungsgebot in dem Sinn entnommen werden soll, das das gesamte innerstaatliche Verfahrensrecht auf die gemeinschaftsrechtliche Zielerreichung auszurichten vermag, so bedarf dies 376

So auch Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107 (142). So Scheuing, Die Verwaltung 2001, S. 107 (143). 378 Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis 215/82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor, Rn. 17 und 22. 379 So auch von Danwitz, S. 347 mit Fn. 34. 380 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5; Urteil vom 27.3.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, Rn. 25; Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 20. 377

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einer ergänzenden Begründung, die vom Gerichtshof nicht geliefert wird. „Einheitlichkeit und Wirksamkeit“ deuten jedoch auf eine enge Verbindung des Effektivitätsgebots zu den verschiedenen Ausprägungen des Art. 10 EG hin. Diesem Ansatz folgend sehen Teile der Literatur das allgemeine Vereitelungsverbot des Art. 10 Abs. 2 EG als betroffen an,381 andere sehen in ihm eine Ausprägung der Mitwirkungspflicht der Mitgliedstaaten aus Art. 10 Abs. 1 EG.382 Mitunter wird es auch aus einer Gesamtbetrachtung des Art. 10 EG abgeleitet.383 Bei Anwendung des Effektivitätsgebots auf Rechtsschutzverfahren ist darüber hinaus der Zusammenhang mit dem Gebot effektiven Rechtsschutzes betont worden.384 Die Verfahrens- und Prozessvorschriften müssten auf den Grundsatz der Folgenbeseitigung ausgerichtet bleiben. Das Effektivitätsgebot ließe sich so auch als Ausprägung des Grundsatzes effektiven Rechtsschutzes begründen.385 Dagegen hat sich von Danwitz dafür ausgesprochen, die Suche nach einer spezifischen normativen Grundlage aufzugeben und stattdessen den allgemeinen Grundsatz der Funktionssicherung des Gemeinschaftsrechts heranzuziehen.386 Auch wenn dieser Ansatz in seiner Konsequenz dem EuGH eine von den Gemeinschaftsgrundlagen losgelöste Rechtsfindung vorwirft und daher mit Vorbehalten zur Kenntnis genommen werden sollte, zeigt eine Auseinandersetzung mit der Begründung dieser Ansicht sehr deutlich die Schwäche der Ableitung aus Art. 10 EG. Weder das dort verankerte Vereitelungsverbot noch die Mitwirkungspflichten der Mitgliedstaaten liefern genaue Leitlinien für die Ausgestaltung des Vollzugsrechts.387 Die Inhaltsleere dieser Vorschrift steht in starkem Gegensatz zu den mitunter sehr konkreten Ableitungen, die der EuGH dem Effektivitätsgebot vor allem in neuerer Zeit entnommen hat. Das Fehlen einer klaren normativen Grundlage birgt immer die Gefahr, dass die gerichtliche Auslegung in die Beliebigkeit abgleitet. Die enge Bindung des EuGH an Präjudizien388 wirkt einer drohenden Beliebigkeit zwar entgegen und gewährleistet eine gewisse Konstanz der Rechtsprechung. Sie ist wohl mitverantwortlich da381

Streinz, in: Streinz, Art. 10 EGV, Rn. 17. Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 10 EGV, Rn. 6; Weber, EuR 1986, S. 1 (13). 383 Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 133; Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 62. 384 Weber, EuR 1986, S. 1 (13). 385 Dieser Begründungsansatz ist freilich nur tragfähig, soweit ein Steuerpflichtiger alles ihm Zumutbare unternommen hat, um die Belastung durch Rechtsbehelfe abzuwehren. Es erklärt damit unter Umständen auch, warum in „Trittbrettfahrerfällen“ (vgl. oben S. 100) das Effektivitätsgebot nur eingeschränkt zur Anwendung kommt. 386 von Danwitz, S. 348. In diese Richtung auch Schroeder, AöR 129 [2004], S. 3 (18), der aus dem Vorhandensein gemeinschaftsrechtlicher Normen auf einen Wirkungsanspruch schließt, da Normen einem „praktischen Zweck“ dienen müssen. 387 von Danwitz, S. 348. 388 Brown & Jacobs, S. 368 ff. 382

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für, dass die Diktion des EuGH zum Erstattungsrecht über drei Jahrzehnte hinweg ähnlich geblieben ist bzw. sich nur langsam gewandelt hat. Dennoch sollte der Versuch nicht aufgegeben werden, dem Gemeinschaftsrecht selbst die materiellen Wertentscheidungen zu entnehmen, die das Erstattungsverfahren beherrschen. Wertfreie Normen wie Art. 10 EG können dies in jedem Fall nicht leisten. bb) Das Äquivalenzgebot (1) Inhalt Neben dem Effektivitätsgebot formulierte der EuGH in der Rs. Rewe mit dem Äquivalenzgebot – oder negativ gewendet dem Diskriminierungsverbot389 – noch einen weiteren Vorbehalt gegenüber der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie, dessen Bedeutung aber immer im Schatten des Effektivitätsgebots stand.390 Die Bedingungen, unter denen Klagen erhoben werden können, die auf Gemeinschaftsrechtsverstößen fußen, dürfen nicht weniger günstig gestaltet werden, als diejenigen für gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen.391 Dabei ist es nicht erforderlich, einen vergleichbaren nationalen Erstattungsfall zu finden, es genügt die abstrakte, hypothetische Betrachtung, wie das nationale Recht in einem Fall ausgestaltet wäre, der dieselbe Art von Abgaben zum Gegenstand hat.392 Das Äquivalenzgebot läuft darauf hinaus, dass die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Abgabe als solche kein Differenzierungskriterium für die unterschiedliche Gestaltung mitgliedstaatlicher Erstattungsregelungen sein darf.393 Dabei spielt es keine Rolle, ob das Differenzierungskriterium die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Abgabe ist oder ob ein anderes Kriterium gewählt wird, das tatsächlich zu den gleichen Ergebnissen führt.394 Der EuGH 389 So noch von Danwitz, S. 347 ff. und Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 24. 390 von Danwitz, S. 349. 391 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5; ähnlich Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 27. Aus neuerer Zeit Urteil vom 1.12.1998, C-326/96, Slg. 1998, I-7835 – Levez/Jennings, Rn. 37; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 36; Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 20; Rn. 104 – Weber’s Wine World. 392 Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge BP Soupergaz, Rn. 58 (9.3.1995, C-62/ 93, Slg. 1995, I-1883); Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 27; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 36. 393 Lindner, NVwZ 1999, S. 1079 (1080). 394 Der EuGH hat den Begriff der mittelbaren Diskriminierung zunächst im Kontext der Grundfreiheiten verwendet. Mittlerweile wird er durch den EuGH und die Literatur wie selbstverständlich auch auf das Äquivalenzgebot angewendet, vgl. Tridimas, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 465 (469).

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zielt damit insbesondere auf „Sonderrecht“ ab, mit dem gezielt die Verwirklichung von gemeinschaftsrechtlich basierten Ansprüchen verhindert werden soll.395 Ausdrücklich nicht erforderlich ist ein Meistbegünstigungsprinzip in dem Sinne, dass für gemeinschaftsrechtliche Abgabenerstattungsansprüche die günstigsten Erstattungsregelungen in dem Mitgliedstaat gelten müssen;396 es genügt, wenn die allgemeinen Abgabenerstattungsansprüche zur Anwendung kommen. Das Gleichbehandlungsgebot ist weiterhin auf die Rechtslage innerhalb der einzelnen Mitgliedstaaten bezogen.397 Jeder Mitgliedstaat muss sein nationales Verfahrensrecht für gemeinschaftsrechtliche Erstattungsansprüche nur an seinem sonstigen Verfahrensrecht, nicht aber am Recht der anderen Mitgliedstaaten messen lassen.398 Das Äquivalenzprinzip darf daher nicht als Harmonisierungshebel missverstanden werden. Seine Anwendung führt allenfalls zu einer „Kästchengleichheit“, d.h. zur Gleichbehandlung gemeinschaftsrechtlicher Erstattungsansprüche mit nationalen Erstattungsansprüchen, nicht aber notwendigerweise zur gleichen Behandlung wie in anderen Mitgliedstaaten.399 Das Äquivalenzgebot ist damit per definitionem ungeeignet, Disparitäten im Vollzug zwischen den Mitgliedstaaten zu beseitigen.400 Vielmehr sind die Unterschiede nach Ansicht des EuGH bis zu einer Harmonisierung des Erstattungsrechts hinzunehmen.401

395 Eilmansberger, S. 143, hebt darauf ab, dass es sich um eine „neue Regelung handeln (muss), die eigens zur Beschränkung der Erstattung“ erlassen wird. 396 EuGH, Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 27 f.; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 37; Urteil vom 15.9.1998, C-260/96, Slg. 1998, I-4997 – Spac, Rn. 21; Urteil vom 17.11.1998, C228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 20; Urteil vom 10.9.2002, verb. Rs. C-216/99 und C-222/99, Slg. 2002, I-6761 – Riccardo Prisco, Rn. 70; Lindner, NVwZ 1999, 1079 (1080). Vergleichsgruppe sind in keinem Fall Erstattungsansprüche, die zwischen Einzelnen gelten, sondern das Verfahren für die Erstattung von Steuern und sonstigen Abgaben. 397 Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (268). 398 EuGH, Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 24; Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 17. 399 So Birk, vgl. Belege in Fn. 242. 400 Unklar Schroeder, AöR 129 (2004), S. 3 (15 f.), der das Äquivalenzgebot mit der einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts im gesamten Gemeinschaftsgebiet in Zusammenhang bringt. Er blendet dabei aus, dass der Bezugspunkt der Einheitlichkeit ein anderer ist. 401 Vgl. oben S. 91.

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(2) Herleitung Auch den Ursprung des Äquivalenzprinzips hat der EuGH in seiner Rechtsprechung nicht an einer Norm des Primärrechts festgemacht.402 Die ältere Bezeichnung als Diskriminierungsverbot deutet aber schon auf die Nähe zu Art. 12 EG als allgemeinem und zu den Grundfreiheiten als besonderen Diskriminierungsverboten hin.403 von Danwitz schlägt daher eine Gesamtrechtsanalogie zu diesen Normen vor.404 Sofern nationale Normen gezielt gegen den Vollzug von Gemeinschaftsrecht gerichtet sind, liegt auch eine Verbindung zum Vereitelungsverbot des Art. 10 Abs. 2 EG nahe.405 Mitunter wird aber auch aus dem Mitwirkungsgebot des Art. 10 EG ein Diskriminierungsverbot für gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte gegenüber rein innerstaatlichen Sachverhalten abgeleitet. Die Verpflichtung zum effektiven Vollzug des Gemeinschaftsrechts beinhalte auch die Verpflichtung zu dessen diskriminierungsfreiem Vollzug.406 Im Gegensatz zum Effektivitätsgebot ist die Rechtsprechung zum Äquivalenzgebot relativ statisch geblieben. Größere Entwicklungen lassen sich in der Rechtsprechung nicht nachweisen. Entscheidend dürfte hierfür die größere Klarheit der Anforderungen sein. Ob eine Ungleichbehandlung vorliegt, lässt sich einfacher und eindeutiger aufklären als eine übermäßige Erschwerung,407 so dass eine „Nachjustierung“ durch den Gerichtshof kaum erforderlich war. cc) Veränderungsverbot als zusätzliche Grenze der Verfahrensautonomie? Aus der Rechtsprechung lässt sich unter Umständen noch eine weitere Grenze der Verfahrensautonomie der Mitgliedstaaten neben dem Effektivitätsund Äquivalenzgebot entnehmen. In einer Reihe von Entscheidungen war die Zulässigkeit von Verschärfungen des nationalen Erstattungsrechts im Zuge von Gesetzesänderungen umstritten.408 402

von Danwitz, S. 347 mit Fn. 34. Für eine Herleitung aus Art. 12 EGV Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 62. 404 von Danwitz, S. 348. In eine ähnliche Richtung geht der Vorschlag von Kadelbach, S. 118, das Äquivalenzgebot als einen eigenständigen Tatbestand zu sehen, der mit dem allgemeinen Gleichheitssatz verwandt ist. Im Ergebnis so auch Schroeder, AöR 129 [2004], S. 3 (15), der auf einen allgemeinen Gleichheitsgedanken abstellt. 405 Vgl. Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 133 f. 406 So ist wohl Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 10 EGV, Rn. 6, zu verstehen. 407 So auch Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (195). 408 Zumeist ging es um eine Verkürzung der Fristen für die Erstattung; so etwa in Grundig Italiana (Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003), Deville (Urteil vom 29.6.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513), Marks & Spencer (Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325). Österreich schloss Abgaben von der Erstattung aus, die auf Dritte abgewälzt worden waren; Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World. 403

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Eine Verschärfung wird vom EuGH unter zwei Aspekten untersucht. Zum einen wird geklärt, ob die neue Rechtslage für sich betrachtet mit den bekannten Anforderungen des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots in Einklang steht. Zum anderen wird aber auch untersucht, ob das Gemeinschaftsrecht der Verschärfung als solcher entgegensteht. In der Rs. Dilexport kam es etwa streitentscheidend darauf an, ob es mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist, dass die Frist für die Erstattung von zu Unrecht gezahlten Abgaben von fünf auf drei Jahre verkürzt worden war. Unter Bezugnahme auf seine frühere Entscheidung in der Rs. Aprile wiederholte der EuGH zunächst, dass die verkürzte Frist unter dem Gesichtspunkt des Effektivitätsgebots unbedenklich ist,409 um sich dann der Frage nach der Zulässigkeit einer Verkürzung als solcher zu widmen.410 Ausgangspunkt für die Prüfung ist dabei die Annahme, dass eine Gesetzesänderung grundsätzlich gemeinschaftsrechtlich unbeanstandet bleibt.411 Dass die Neuregelung ein Mindestmaß der Erstattung vorsieht, ist bereits durch die Anwendung des Effektivitätsgebots auf den Rechtszustand nach Gesetzesänderung sichergestellt. Verfahrensrechtliche Erleichterungen, die über das Mindestmaß hinausgehen, sind gleichsam eine freiwillige Leistung des Mitgliedstaates, die er jederzeit wieder einstellen kann. Davon macht der EuGH zwei Ausnahmen. (1) Fallgruppe „Rückwirkung“ Die hier als „Rückwirkung“ bezeichnete Fallgruppe verschärfender Änderungen des Erstattungsrechts zeichnet sich dadurch aus, dass der durch Zahlung einer gemeinschaftsrechtswidrigen Steuer entstandene (abstrakte) gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch durch eine spätere mitgliedstaatliche Gesetzesänderung ausgeschlossen wird, etwa indem durch eine Verkürzung der Erstattungsfrist die Verfristung eintritt. Gesetzesänderungen vor der Zahlung einer rechtswidrigen Steuer fallen nicht in diese Kategorie. Hier ist noch kein (abstrakter) Erstattungsanspruch entstanden, dessen Bestand durch die Gesetzesänderung gefährdet wäre. In diesem Fall sind Gesetzesänderungen nach den allgemeinen Regelungen zulässig, solange nur die geänderte Rechtslage dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot genügt. Führt die Verschärfung des Verfahrensrechts hingegen zum Ausschluss eines bereits durch Steuerzahlung entstandenen Erstattungsanspruchs, ist es gemein409 EuGH, Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 42 und Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 19. 410 Der Prüfungszweischritt wird besonders deutlich im Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 42 f. Ähnlich ist das Urteil vom 24.9. 2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana in den Rn. 33 und 35 ff. aufgebaut. 411 EuGH, Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Tenor Nummer 1.

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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schaftsrechtlich erforderlich, dass „die neue Regelung eine Übergangsregelung enthält, die dem Einzelnen eine Frist einräumt, die ausreicht, um nach Erlass der Regelung die Erstattungsansprüche geltend zu machen, die er unter der alten Regelung hätte geltend machen können.“412 Die Übergangsfrist muss dabei so bemessen sein, dass der Erstattungsantrag nicht mit einer Überstürzung vorbereitet werden muss, die außer Verhältnis zu den Fristen steht, auf die der Steuerpflichtige ursprünglich zählen durfte.413 In der Rs. Grundig Italiana414 wurde die Verjährungsfrist für die Erstattung rechtswidrig erhobener Steuern von fünf auf drei Jahre verkürzt. Für Ansprüche, die nur auf Grund des Inkrafttretens der neuen Regelung verjährt gewesen wären, war eine Übergangsfrist von 90 Tagen festgesetzt worden, in der diese Ansprüche noch erhoben werden konnten. Der EuGH befand die Frist für zu kurz bemessen und ersetzte sie durch eine sechsmonatige Frist, da nur dies den Erstattungsberechtigten ausreichende Zeit zur Vorbereitung ihres Antrags gebe. Das Urteil erscheint in vielfacher Hinsicht als verfehlt. Zunächst ist nicht zu erkennen, wie der EuGH aus einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts – nur dazu ist er befugt – zu dem Ergebnis kommt, dass allein eine sechsmonatige Frist angemessen sei. Immerhin ist die ursprünglich gewährte Übergangsfrist von 90 Tagen noch fast drei mal so lang wie die Anfechtungsfrist nach deutschem Recht, deren Gemeinschaftsrechtswidrigkeit zuvor in der Rs. Rewe nicht ernsthaft in Frage gestellt worden war. Darüber hinaus bricht der EuGH mit der Festlegung einer solchen Frist nicht nur in die (Verbands-)Kompetenz der Mitgliedstaaten ein, sondern maßt sich zugleich legislative Befugnisse an.415 Schließlich ist bereits grundsätzlich fraglich, ob ein Steuerpflichtiger bei einer Verkürzung der Erstattungsfrist von fünf auf drei Jahre in dem Maß schutzbedürftig und -würdig ist, wie der EuGH dies unterstellt. Der EuGH scheint davon auszugehen, dass die Fristen in erster Linie dazu dienen, dem Steuerpflichtigen ausreichende Zeit für die Vorbereitung der Antragstellung zu geben. Diese Vorstellung entspricht jedoch nicht der Praxis. Nur selten wird sich der Erstattungsberechtigte bis in das vierte oder fünfte Jahr nach Zahlung der Steuer Zeit lassen, wenn er weiß, dass er erstattungsberechtigt ist. In der Regel ist die Untätigkeit nicht Ausdruck betätigten Vertrauens in die lange Frist, sondern Ausdruck der Unkenntnis über mögliche Ansprüche. Die Bedeutung einer langen Frist liegt daher primär darin, dass ab Kenntnis von der Rechtswidrigkeit 412 EuGH, Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 38; Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana, Rn. 37. 413 EuGH, Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana, Rn. 38. 414 EuGH, Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana. 415 Zu Recht kritisch daher Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 11.12. 2003, C-30/02, Slg. 2004, I-6053 – Recheio, Rn. 29 und 35.

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der Steuererhebung die gesamten während der langen Frist gezahlten Steuern zurückverlangt werden können – und nicht so sehr darin, dass der Steuerpflichtige ausreichende Zeit zur Antragstellung hat. Auch eine 90-tägige Frist dürfte kaum zu einer „überstürzten Antragstellung“ und damit einer übermäßigen Erschwerung der Erstattung führen. Wenn daher auch nach der Gesetzesänderung noch Ansprüche für die letzten drei Jahre erhoben werden können und dies den Anforderungen des Effektivitätsgebots genügt, ist nicht ersichtlich, weshalb ein Steuerpflichtiger auch für noch früher entstandene Ansprüche in gesteigertem Maße schutzbedürftig ist. Die Entscheidung steht damit in merkwürdigem Kontrast zur Entscheidung i-21. Während dort Steuerpflichtige, die nicht innerhalb eines Monats ihren Steuerbescheid angegriffen haben, durch das Gemeinschaftsrecht nicht besonders geschützt werden, profitieren in der Rs. Grundig Italiana auch Steuerpflichtige, die mehr als drei Jahre untätig geblieben sind. Ausnahmsweise standen hier windfall profits unter dem Schutz des EuGH. Selbst wenn einem Steuerpflichtigen in der Rs. Grundig Italiana die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung gewusst gewesen sein sollte – er also auf die lange Frist vertraut haben sollte – und er die 90-Tagesfrist tatsächlich versäumt hat, weil er seinen Antrag nicht schnell genug vorbereiten konnte, hilft ihm die spätere Verlängerung der Frist auf sechs Monate durch den EuGH dennoch nicht weiter, da er nur selten den nach nationalem Recht offensichtlich verfristeten Antrag in den folgenden drei Monaten nachgeholt haben wird.416 Auch wenn das Urteil aus den genannten Gründen angreifbar ist, zeigt es doch sehr deutlich, dass eine Fristverkürzung, bzw. allgemeiner jede Verschärfung des Verfahrensrechts, eine zusätzliche Belastung für den Erstattungsberechtigten bedeutet, die nicht im neuen Rechtszustand, sondern in der Verschärfung selbst zum Ausdruck kommt. Die Zusatzbelastung muss daher ihrerseits vor dem Gemeinschaftsrecht gerechtfertigt werden können. Nach Meinung des EuGH setzt dies eine angemessene Übergangsfrist vom alten zum neuen Rechtszustand voraus. (2) Fallgruppe „Urteil“ Eine weitere Ausnahme von der generellen Zulässigkeit von Gesetzesänderungen stellt die Fallgruppe der Gesetzesänderungen in zeitlichem und sachlichem Zusammenhang mit einem Urteil des EuGH dar.417 Entscheidungen zu entsprechenden Versuchen sind aus Belgien,418 Frankreich,419 Großbritannien,420 416 Nach Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana, Rn. 41 soll eine zu kurze Frist ausdrücklich nicht unbeachtlich sein, sondern durch eine angemessene Frist ersetzt werden.

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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Italien421 und Österreich422 bekannt. Unzulässig ist es danach, in zeitlichem Zusammenhang mit der Verkündung eines Urteils des Gerichtshofs das Verfahrensrecht zu ändern und damit speziell die Möglichkeiten einzuschränken, auf Erstattung der Abgaben zu klagen, die nach dem Urteil gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßen.423 In sachlicher Hinsicht muss die Gesetzesänderung „speziell“424 die Erstattung der Art von Abgaben erschweren, die der EuGH zuvor für gemeinschaftsrechtswidrig erachtet hat. Auf alle Abgabenarten anwendbare Verfahrensverschärfungen stellen den sachlichen Zusammenhang auch dann nicht her, wenn im Ergebnis vor allem gemeinschaftsrechtswidrig erhobene Abgaben betroffen sind.425 Eine Gesetzesänderung, die nicht speziell die von einem Urteil des 417 Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (206), bezeichnet die Fallgruppe im Anschluss an Tanzer, in: Holoubek/Lang, Das EuGH-Verfahren in Steuersachen, als „Vereitelungsverbot von EuGH-Urteilen“. 418 Ausschluss der Erstattung zu Unrecht gezahlter Einschreibegebühren in Kenntnis des Urteils in der Rs. Gravier (Urteil vom 13.2.1985, 293/83, Slg. 1985, 593). Der Ausschluss war Gegenstand der Entscheidung Barra (Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355). 419 Anwendung einer anderen, kürzeren Einspruchsfrist für die Erstattung einer KfzSteuer, die gemeinschaftsrechtswidrig ausgestaltet war (Urteil vom 9.5.1985, 112/84, Slg. 1985, 1367 – Humblot). EuGH, Urteil vom 29.6.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513 – Deville. 420 Verkürzung der Frist für die Erstattung von indirekten Steuern. Unter anderem in Kenntnis der Entscheidung Argos Distributors (Urteil vom 24.10.1996, C-228/94, Slg. 1996, I-5311). Die Verkürzung war Gegenstand der Entscheidung Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer. 421 Verkürzung der Frist für die Erstattung von Abgaben in Kenntnis der Entscheidungen des EuGH zum italienischen Zollrecht, EuGH, Urteil vom 7.5.1987, 184/85, Slg. 1987, 2013 – Kommission/Italien; Urteil vom 30.5.1989, 340/87, Slg. 1989, 1483 – Kommission/Italien; Urteil vom 21.3.1991, C-209/89, Slg. 1991, I-1575 – Kommission/Italien. Die Verkürzung war Gegenstand der Entscheidungen Dilexport (Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579) und Grundig Italiana (Urteil vom 24.9. 2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003). 422 Einführung unter anderem des § 185 Abs. 3 Wiener Abgabenordung in Erwartung des Urteils Evangelischer Krankenhausverein Wien (Urteil vom 9.3.2000, C-437/ 97, Slg. 2000, I-1157). 423 EuGH, Urteil vom 29.6.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513 – Deville, Rn. 13. In dieser Entscheidung wurde die Fallgruppe erstmals angesprochen. Die wenige Monate zuvor ergangene Entscheidung in der Rs. Barra (Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355) hätte auch an Hand dieser Kriterien entschieden werden können. Dort hatte der EuGH aber noch, ohne die Besonderheiten durch die Gesetzesänderung herauszuarbeiten, einen Verstoß gegen das Effektivitätsprinzip angenommen. 424 So EuGH in Urteil vom 29.6.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513 – Deville, Rn. 13; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 24. Im Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 87 und 92 werden die Begriffe „speziell“ und „spezifisch“ synonym verwendet. 425 Angedeutet im Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 91; Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 29.

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EuGH betroffene Abgabenart erfasst, sondern gezielt gegen alle Arten von gemeinschaftsrechtlich begründeten Erstattungsanträgen gerichtet ist, fällt ebenfalls nicht in diese Fallgruppe, sondern ist am allgemeinen Äquivalenzgebot zu messen. Der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt dort nicht auf der Vereitelung der EuGH-Rechtsprechung, sondern auf der Ungleichbehandlung nationaler und gemeinschaftsrechtlicher Erstattungsansprüche. In zeitlicher Hinsicht wurden zunächst nur Änderungen nach Erlass eines Urteils zur Primärebene erfasst.426 Der „spezielle“ Zusammenhang mit der EuGHEntscheidung musste seinen Ausdruck auch in der zeitlichen Abfolge finden. Dieser zeitliche Anwendungsbereich wurde in der Folgezeit zunächst beibehalten.427 Erstmals in der Rs. Weber’s Wine World wurde es dann als ausreichend angesehen, dass den möglichen Auswirkungen eines erwarteten Urteils „vorgebeugt werden sollte“.428 In der konkreten Situation war das Verfahrensrecht geändert worden, nachdem in einem Vorlageverfahren die Schlussanträge des Generalanwalts verlesen worden waren und die Entscheidung des EuGH damit absehbar wurde. Die Fallgruppe „Urteil“ kann nach dieser Entscheidung damit auch schon einschlägig sein, bevor überhaupt ein Urteil ergangen ist, solange dies nur erwartet wird. Die genaue zeitliche Reichweite der Fallgruppe ist nach Weber’s Wine World allerdings unklarer als zuvor. Während die Verkündung des Urteils eine klare Zäsur ermöglichte, ist eine „Vorbeugungsabsicht“ nur noch bei wertender Betrachtung der Umstände des Falls nachzuweisen. In jedem Fall sind Gesetzesänderungen nach Erlass eines einschlägigen EuGH-Urteils erfasst; frühere Änderungen werden ebenfalls erfasst, wenn sich eine Verknüpfung der gesetzgeberischen Intention mit einer erwarteten Entscheidung nachweisen lässt. Ziel der Fallgruppe „Urteil“ ist es, Gesetzesänderungen zu verhindern, die gerade die Auswirkungen eines Urteils des Gerichtshofs begrenzen sollen.429 Solche Normen sind daher unter den genannten Voraussetzungen in jedem Fall unzulässig. Die EuGH-Rechtsprechung lässt nicht erkennen, dass eine Regelung zulässig sein könnte, wenn eine Übergangsfrist vorgesehen ist, in der ein Erstattungsantrag noch nach altem, günstigerem Verfahrensrecht gestellt werden kann. In der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass die Änderung des § 175 Abs. 2 S. 2 AO gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt.430 In der Tat steht die Änderung in sachlichem Zusammenhang mit dem Urteil in der Rs. Manninen 426

EuGH, Urteil vom 29.6.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513 – Deville, Rn. 13. EuGH, Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 23; Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 26; Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 39. 428 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 90 und 92. 429 So ausdrücklich der EuGH im Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 36. 430 Hahn, IStR 2005, S. 145 (149). 427

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bzw. mit dem zum Zeitpunkt der Gesetzesänderung anhängigen Verfahren in der Rs. Meilicke. Auch wenn in der Gesetzesbegründung auf eine bestehende Unsystematik der Rechtslage hingewiesen wird, die beseitigt werden sollte, entfaltet die Änderung ihre volle Bedeutung nur bei Anträgen auf Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer, wie sie seit der Entscheidung in der Rs. Manninen massenhaft gestellt wurden. (3) Verhältnis der Fallgruppen zueinander Die Rechtsfolge der Fallgruppe „Urteil“ ist strenger als die der „Rückwirkungsfälle“. Während bei letzteren die Zulässigkeit der Gesetzesänderung mit einer Übergangsregelung hergestellt werden kann, scheidet dies bei ersterer aus. In zeitlicher Hinsicht unterscheiden sich die Fallgruppen dadurch, dass bei der „Rückwirkung“ die Gesetzesänderung nach Entstehung eines Erstattungsanspruchs erfolgen muss. In der Fallgruppe Urteil erfolgt die Gesetzesänderung nach Entstehung eines Anspruchs und in der Regel sogar erst nach Erlass des Urteils zur Primärebene; erfolgt sie davor, muss sie zumindest im Hinblick auf ein erwartetes Urteil vorgenommen werden. Die strengere Rechtsfolge der Urteilsfälle geht so mit einem engeren zeitlichen Anwendungsbereich einher. Gleiches trifft auch auf den sachlichen Anwendungsbereich zu. Während die Rückwirkungsfallgruppe auch allgemein anwendbare Verfahrensverschärfungen erfasst, ist die Urteilsfallgruppe auf Normen beschränkt, die speziell die Auswirkungen eines Urteils erfassen. Es zeigt sich somit, dass Urteilsfälle immer auch Rückwirkungsfälle sind. Die Fallgruppe „Urteil“ ist damit eine echte Teilmenge der Fallgruppe „Rückwirkung“, deren Regelungen damit lex specialis zur Urteilsgruppe sind.

(4) Vereinbarkeit mit dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot In früheren Entscheidungen bezeichnete der EuGH beide genannten Fallgruppen als Ausprägung des Effektivitätsprinzips.431 Er subsumierte allerdings nicht unter die sonst geläufige Definition der Effektivität als zumindest übermäßige Erschwerung. In der Rs. Weber’s Wine World schließlich fasste der EuGH die Fallgruppe Urteil unter die Überschrift „Zu Art. 10 EG“. Das Effektivitätsprin431 Zur Fallgruppe der „Rückwirkung“: EuGH, Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana, Rn. 35. Eine Regelung, die speziell der Erstattung einer zuvor für gemeinschaftsrechtswidrig erklärten Abgabe entgegenstand, löste der EuGH in der Rs. Barra (Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355) über das Effektivitätsgebot. In Marks & Spencer (Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325) wurden beide Fallgruppen unter der Überschrift „Zum Grundsatz der Effektivität“ dargestellt, Rn. 34 bis 36.

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zip wurde in dieser Entscheidung gesondert in anderem Zusammenhang erörtert.432 Die Sonderstellung dieser Fallgruppen wird auch dadurch unterstrichen, dass weder das Effektivitäts- noch das Äquivalenzgebot in ihren klassischen Bedeutungen die vom EuGH ausgeurteilte Rechtsfolge einer notwendigen Übergangsfrist in den Rückwirkungsfällen tragen. Auch die Tatbestandsvoraussetzungen des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots liegen nicht vor. In beiden Fallgruppen wird die Ausübung der gemeinschaftlichen Rechte nicht übermäßig erschwert. Der Erstattungsanspruch kann von seiner Entstehung an in ausreichender Weise geltend gemacht werden. Wäre dies nicht der Fall, so würde schon die geänderte Rechtslage im ersten Prüfungsschritt am Effektivitätsgebot scheitern. Auch werden gemeinschaftsrechtlich begründete Erstattungsansprüche nicht weniger günstig behandelt als rein innerstaatliche. Von der „Rückwirkungsfallgruppe“ werden auch Gesetzesänderungen erfasst, die unterschiedslos alle Arten von Erstattungen betreffen. Es fehlt somit schon an einem Differenzierungskriterium. In der Fallgruppe „Urteil“ hingegen wird nur eine bestimmte Art von Abgaben erfasst. Die geänderte Norm differenziert also nicht nach dem Grund der Erstattung, wie dies in den klassischen Fällen eines Verstoßes gegen das Äquivalenzgebot der Fall ist, sondern nach der Art der Abgabe. Das Unterscheidungskriterium kommt damit auch nicht einer versteckten Ungleichbehandlung gleich,433 durch die das gleiche Ergebnis erreicht wird, als hätte der Gesetzgeber direkt an die Herkunft des Erstattungsanspruchs angeknüpft, da andere potentiell gemeinschaftsrechtswidrige Abgaben ebenfalls nicht erfasst werden. Die „spezielle“ Abgabe ist lediglich eine Teilmenge aller gemeinschaftsrechtswidrigen Abgaben, so dass die Schlechterbehandlung einer bestimmten Abgabe auch nicht einer Schlechterbehandlung aller gemeinschaftsrechtlich begründeten Abgaben gleichkommt. Die zur Zulässigkeit von Gesetzesänderungen ergangenen Entscheidungen weisen somit eine eigenständige Dogmatik auf, sowohl hinsichtlich des Tatbestandes als auch – bei den Rückwirkungsfällen – hinsichtlich der Rechtsfolge. Dennoch scheint der EuGH durch terminologische Kontinuität die Verbindung vor allem zum Effektivitätsgebot aufrechterhalten zu wollen. Da dieses mittlerweile auch hinsichtlich seines Ursprungs im Gemeinschaftsrecht allgemeine Anerkennung gewonnen zu haben scheint, könnten die Fallgruppen an dieser Anerkennung partizipieren. Auf Grund der Eigenständigkeit der Dogmatik in diesem Bereich wäre aber eine eigenständige Begründung erforderlich, die der EuGH jedoch schuldig bleibt.

432 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, vor Rn. 86 und Rn. 109. 433 Zu mittelbaren Diskriminierungen ausführlich unten S. 139.

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c) Zielkonflikt zwischen Effektivitäts- und Äquivalenzgebot Ein idealer Vollzug aus der Perspektive des Effektivitätsgebots setzt die gemeinschaftsrechtliche Zielvorgabe eins zu eins in nationales Recht um. Eine Erstattung ohne jegliches Verfahrenshindernis wäre offensichtlich am effektivsten. Idealiter müsste jedes nationale Hindernis beiseite geschoben werden;434 vollständig effektiv wäre nur ein nationaler Erstattungsanspruch, der jegliche zu Unrecht erfolgte Steuererhebung rückgängig macht. Vor allem dürften keine zeitlichen Grenzen für die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben gelten. Das Äquivalenzgebot hingegen ist auf unterschiedslosen Vollzug innerhalb eines Mitgliedstaates gerichtet, ohne dass nach dem Ursprung des Rückabwicklungsanspruchs differenziert wird. Ein Erstattungsanspruch wegen gemeinschaftsrechtswidriger Abgabenerhebung soll damit grundsätzlich nur den Beschränkungen unterliegen, denen auch ein auf nationale Normen gestützter unterliegt.435 Wegen der unterschiedlichen Ausgestaltung des nationalen Verwaltungs- bzw. Erstattungsrechts in den einzelnen Mitgliedstaaten führt dies zwangsläufig zu einer uneinheitlichen Erstattungspraxis der Mitgliedstaaten in gemeinschaftsrechtlichen Sachverhalten.436 Aus diesen unterschiedlichen Normzielen ist ein unauflösbarer Widerspruch der beiden Gebote abgeleitet worden. Indem das Äquivalenzgebot eine Gleichbehandlung gemeinschaftsrechtlicher Sachverhalte und rein innerstaatlicher Sachverhalte fordere, verfestige es bestehende Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten. Zugleich sei aus Effektivitätsgründen aber eine unterschiedliche Handhabung des Verwaltungsrechts geboten.437 Tendenziell müssten aus Äquivalenzgründen gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte den allgemeinen nationalen Begrenzungen unterworfen werden, während aus Effektivitätsgesichtspunkten heraus keinerlei (nationale) Beschränkungen zulässig wären. Analysiert man hingegen die Anforderungen genauer, lässt sich der Konflikt – zumindest für den Bereich der Erstattung – auch widerspruchsfrei auflösen. Das Äquivalenzgebot perpetuiert mitnichten die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, es verbietet ihnen nur, für gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte unter das Rechtsschutzniveau zurückzufallen, das sie bei innerstaatlichen 434

Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (512). Vgl. Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (634); Nettesheim, Gedächtnisschrift Grabitz, S. 447 (459). 436 Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (268). 437 So Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (273) und ders., HdbStR VII, § 182, Rn. 25. Ihm folgend von Danwitz, S. 346 ff. Kadelbach, S. 118 f., führt als Beleg für einen Widerspruch die der Erstattung entgegen gesetzte Situation der Sanktionierung gemeinschaftsrechtswidrigen Verhaltens an. Dort ist der Gegensatz von Äquivalenz und Effektivität nachzuvollziehen. 435

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Sachverhalten erreicht haben. Den Mitgliedstaaten ist es unbenommen, für gemeinschaftsrechtliche Konstellationen ein noch höheres Niveau zu gewähren. Die darin liegende Inländerdiskriminierung ist allenfalls von Verfassungs wegen,438 nicht aber von Gemeinschaftsrechts wegen bedenklich.439 Genau so wenig führt das Effektivitätsgebot zwangsläufig zu Unterschieden im Erstattungsrecht innerhalb der Mitgliedstaaten. Idealerweise erschwert das nationale Verfahrensrecht die Ausübung von Rechten weder bei nationalen noch bei Gemeinschaftsrechten übermäßig, so dass das nationale Recht dem Effektivitätsgebot in beiden Fällen genügt; freilich kann das Gemeinschaftsrecht für den Schutz nationaler Rechte keine Vorgaben machen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet erscheint das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot nicht als Schranke für tolerable Divergenzen der Verwaltungsrechtsordnungen,440 sondern als Schranke zur Absicherung eines Mindeststandards der Rechtsschutzgewährung. d) Funktionsgrenzen des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots Auch eine konsequente Anwendung des Effektivitätsgebots kann und darf kein harmonisiertes Gemeinschaftsvollzugsrecht ersetzen. Dem EuGH würde hierzu einerseits die Organkompetenz fehlen, da er als Bestandteil der Judikative nicht legislativ tätig werden darf. Andererseits fehlte es aber auch an der Verbandskompetenz der Gemeinschaft,441 die zugleich Grenze für die Organkompetenz des Gerichtshofs ist.442 Die Einflussnahme auf das mitgliedstaatliche Vollzugsrecht kann daher allein über die Auslegung des Gemeinschaftsrechts erfolgen. Die Schranken des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots kann der EuGH nur errichten, wenn und weil diese bereits integraler Bestandteil des Gemeinschaftsrechts sind. Nur durch die Auslegung des acquis communautaire kann er den Einfluss auf das nationale Recht geltend machen.443 438 Nach Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 81 fehlt es an einer vor Art. 3 Abs. 1 GG zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung, wenn die Behandlung der EUAusländer auf die Erfordernisse des Gemeinschaftsrechts zurückgeht, während sich die Behandlung der Inländer allein nach nationalem Recht richtet, da dann keine Ungleichbehandlung durch denselben Träger öffentlicher Gewalt vorliege. So auch Birk, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 4 AO, Rn. 500 f. Anderer Ansicht aber etwa Osterloh, in: Sachs, Art. 3, Rn. 71. 439 Vgl. nur Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 81; Streinz, in: Streinz, Art. 12 EGV, Rn. 58 ff. 440 So von Danwitz, S. 346. 441 Vgl. oben S. 66. 442 Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (508). 443 von Danwitz, S. 351 f., bemerkt hierzu – aus meiner Sicht zutreffend –, dass das Effektivitäts- und das Äquivalenzgebot vom EuGH nicht als Druckmittel zur stillen

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Die Ausdehnung des Effektivitäts- und Äquivalenzvorbehalts findet ihre Schranken daher nicht erst dort, wo die (Harmonisierungs-)Kompetenz der Gemeinschaft aufhört. Entscheidend kommt es vielmehr darauf an, ob sich die einzelnen Aspekte des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots durch anerkannte Auslegungsmethoden aus dem Rechtsbestand der Gemeinschaft ableiten lassen.444 Solange dies der Fall ist, überschreitet der Gerichtshof weder die Verbandskompetenz der Gemeinschaft noch seine Organkompetenz.445 Entsprechend der Rolle der Judikative als Kontrollinstanz bedeutet dies zugleich, dass aus der Rechtsprechung allenfalls negativ abgeleitet werden kann, wie das nationale Vollzugsrecht nicht ausgestaltet werden darf. Positive, gestaltende Einflüsse können aus ihr nicht gewonnen werden. So mag beispielsweise dem Effektivitätsgebot zu entnehmen sein, dass eine Frist zur Geltendmachung der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Steuererhebung von drei Tagen unzulässig wäre; ob sie aber drei Monate oder 30 Jahre lang sein muss, lässt sich ihm nicht entnehmen. Dadurch, dass den Mitgliedstaaten bewusst der Vollzug des Gemeinschaftsrechts überlassen wurde, haben die Vertragsparteien deutlich gemacht, dass Ungleichheiten, die aus der Anwendung unterschiedlichen Verwaltungsrechts resultieren, hinzunehmen sind. Über diese Entscheidung kann sich auch die Rechtsprechung nicht hinwegsetzen.446 Bei der Anwendung des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots ist daher zu berücksichtigen, dass damit keine intendierten Normierungsdefizite im Gemeinschaftsrecht geschlossen werden dürfen. Dessen ist sich auch der EuGH bewusst, wenn er urteilt, dass wegen des „zwangsläufig technischen und detaillierten Charakters dieser Art von Regelungen ihr Fehlen nur teilweise im Wege der richterlichen Auslegung ausgeglichen werden kann.“447 Nachdem die Urteile Ciola, Kühne & Heitz und Grundig Italiana Anlass zu der Befürchtung gegeben haben, der Gerichtshof würde zu verstärktem judicial Harmonisierung eingesetzt werden dürfen. Vielmehr seien die nationalen Rechtsordnungen grundsätzlich als materiell gleichwertig anzusehen. 444 Dies allerdings scheint angesichts eines unterschiedlichen Verständnisses anerkannter Auslegungsmethoden nicht einfach zu sein. Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389 (1409), setzt sich mit Dänzer-Vanotti, BB 1991, S. 1015, auseinander, der meint, mit der Entscheidung Zuckerfabrik Süderdithmarschen (Urteil vom 21.2.1991, verb. Rs. C-143/88 und C-92/89, Slg. 1991, I-415) habe der EuGH die Grenzen teleologischer Auslegung überschritten. Kakouris setzt dem schlicht entgegen, „the treaty implicitly includes (. . .) the power to order interim measures.“ 445 Schoch, Festgabe BVerwG, S. 507 (521), hingegen betont die Grenzen der Organkompetenz des Gerichtshofes angesichts eines nicht harmonisierten Verfahrensrechts. 446 Generalanwalt Reischl, Schlussanträge vom 9.1.1980, 61/79, Slg. 1980, 1205 – Denkavit Italiana, S. 1234. Dem hat sich der EuGH in Rn. 23 ff. des Urteils angeschlossen. von Danwitz, S. 351. 447 EuGH, Urteil vom 5.3.1980, 265/78, Slg. 1980, 617 – Ferwerda, Rn. 9. von Danwitz, S. 350.

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activism übergehen und dabei die Grenzen der Auslegung des Gemeinschaftsrechts übersteigen, scheint er in jüngster Zeit zu einem gewissen Maß an judicial self-restraint zurückgekehrt zu sein. Vor allem das Urteil in der Rs. i-21 belegt die grundsätzliche Anerkennung der autonomen mitgliedstaatlichen Regelungen. Es scheint nicht länger so, als wolle der Gerichtshof durch Harmonisierungsdruck einen verfahrensrechtlichen Systemwechsel erzwingen. Diese Zurückhaltung ist grundsätzlich zu begrüßen. Die Kritik, dass der Mechanismus der gemeinschaftsrechtlichen Beeinflussung des nationalen Rechts intransparent und unzureichend begründet ist, muss jedoch weiterhin geäußert werden. 2. Die (versteckte) Dogmatik des gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsrechts a) Bedürfnis für eine Konkretisierung des Maßstabs Die vorangegangene Darstellung der Rechtsprechung des EuGH zur gemeinschaftsrechtlichen Beeinflussung des nationalen Erstattungsrechts hat gezeigt, dass das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot der Hebel ist, über den das Gemeinschaftsrecht in das nationale Recht hineinwirkt. Allerdings ist es dem EuGH nicht gelungen, eine überzeugende Antwort auf die Frage zu geben, auf welcher normativen Grundlage seine seit Jahrzehnten praktizierte Rechtsprechung fußt. Im Folgenden soll daher der Versuch unternommen werden, eine belastbare Rechtsgrundlage für die Einwirkung auf das nationale Recht zu finden. Die Suche muss sich dann nicht dem Vorwurf aussetzen, l’art pour l’art zu sein, wenn sie mit einem Erkenntnisgewinn verbunden ist, der auch praktische Auswirkungen hat. Ein solch praktischer Vorteil kann in erster Linie darin bestehen, dass die neue Rechtsgrundlage Konstanz und Vorhersagbarkeit der Rechtsprechungsentwicklung ermöglicht. Dabei kommt es darauf an, dass die Rechtsgrundlage die materiellen Wertungen erkennen lässt, die mit ihrer Hilfe in das nationale Recht getragen werden sollen. Konstanz und Vorhersagbarkeit lassen sich der bisherigen Rechtsprechungslinie nicht attestieren. Selbst diejenigen, die den Grundsätzen des Effektivitätsund Äquivalenzgebots grundsätzlich positiv gegenüberstehen, geben zu, dass dessen Anwendung ein „sehr diffiziles“ Unterfangen ist,448 das regelmäßig die Unterstützung des EuGH erforderlich macht.449

448

Streinz, in: Schweitzer, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 241 (271 ff.). Streinz, in: HdbStR VII, § 182, Rn. 26. Auch Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (634) stellen fest, dass „Bedeutung und Reichweite dieser beiden Prinzipien 449

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Vor allem in der Anwendung des Effektivitätsgebots offenbart sich die Schwäche des EuGH-Ansatzes. Aus ihm wurden so unterschiedliche Rechtsfolgen hergeleitet, wie die Verpflichtung zur Verzinsung von Rückzahlungsansprüchen,450 die Unzulässigkeit eines Erstattungsausschlusses wegen Gutgläubigkeit bei der Steuererhebung,451 die Unzulässigkeit einer Präklusionsnorm, auf Grund derer die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts nicht mehr gerügt werden konnte,452 die Unzulässigkeit der gesetzlichen Vermutung, dass die rechtswidrig erhobene Steuer auf einen Dritten abgewälzt werden konnte,453 die Unzulässigkeit der Anwendung einer Verjährungsnorm, wenn der Anspruchsinhaber über das Bestehen seiner Forderung getäuscht wurde454 oder auch die Unzulässigkeit der Berufung auf ein Antragserfordernis, wenn der Antrag nach nationalem Recht ohne weiteres abzulehnen gewesen wäre.455 Die Bedenken richten sich dabei nicht dagegen, dass aus einem abstrakten Rechtsprinzip eine große Bandbreite sehr konkreter Rechtsfolgen hergeleitet wird. Daran hat sich der Rechtsanwender, der mit der Rechtsprechung von Verfassungsgerichten vertraut ist, längst gewöhnt. Die Kritik entzündet sich eher daran, dass ohne den Verweis auf eine eindeutige, auch materiell belastbare Rechtsgrundlage die Urteile im Ergebnis nur schwer nachzuvollziehen sind. Das gefundene Ergebnis erscheint im Einzelfall oftmals durchaus als „gefühlsmäßig“ richtig, es kann nicht selten aber auch mit guten Gründen hinterfragt werden. Die bisherige Kasuistik ruft den Eindruck hervor, die Prüfung am Maßstab des „Effektivitäts- und Äquivalenzgebots“ werde häufig aus dem Bauch heraus vorgenommen und ziele darauf ab, all zu plumpe Versuche der Mitgliedstaaten, sich ihrer Erstattungspflicht zu entziehen, einzudämmen. Oftmals scheint der Gedanke der Einzelfallgerechtigkeit im Vordergrund zu stehen, was mit der Aufgabe des EuGH, die Richtung der Auslegung des Gemeinschaftsrechts für das gesamte Gemeinschaftsgebiet vorzugeben, nur schwer vereinbar ist. Nicht selten hat der EuGH daher Schwierigkeiten, seine Einzel-

nicht gänzlich geklärt sind.“ Vgl. auch Nettesheim, Gedächtnisschrift Grabitz, S. 447 (459). 450 So EuGH, Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I1760 – Metallgesellschaft, Tenor Nr. 2. Das gilt allerdings nur, wenn die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit gerade in der frühen Fälligkeit der Steuer begründet liegt. Ausführlich dazu unten S. 154. 451 So EuGH, Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 40. 452 So EuGH, Tenor, Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck. 453 So EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 111; Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 15. 454 So EuGH, Urteil vom 1.12.1998, C-326/96, Slg. 1998, I-7835 – Levez/Jennings, Tenor Ziffer 1. 455 So EuGH, Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I1760 – Metallgesellschaft, Rn. 106.

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fallentscheidungen mit einer konsistenten Rechtsprechungslinie in Einklang zu bringen.456 Das Unbehagen wird verstärkt durch die bereits häufig beklagte Begründungsarmut, die den Stil des EuGH kennzeichnet.457 Häufig wird allein apodiktisch festgestellt, das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot gebiete eine bestimmte Entscheidung.458 Spätestens dort, wo der Rechtsanwender mit einer Frage konfrontiert wird, die in dieser Form vom Gerichtshof noch nicht beantwortet wurde, versagt die hergebrachte Dogmatik beim Versuch der Vorhersage der Entscheidung des Gerichtshofs ihren Dienst. Das Schlagwort „Effektivitäts- und Äquivalenzgebot“ reicht allein nicht aus, um die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an das nationale Verfahrensrecht herauszuarbeiten. Nicht selten sieht sich der Rechtsanwender daher – teils zu seiner Freude, teils zu seinem Bedauern – mit Überraschungsentscheidungen konfrontiert. Will man Konstanz und Vorhersagbarkeit der Rechtsprechung erreichen, muss ein klarer normativer Ansatzpunkt gefunden werden. Der vom Gerichtshof regelmäßig bemühte Art. 10 EG kann dies nicht leisten, da er im Hinblick auf materielle Wertungen inhaltsleer ist. Auch Effektivität bedeutet nicht mehr als Wirksamkeit, Durchschlagskraft oder Leistungsfähigkeit.459 Ohne die Angabe eines Ziels, hinsichtlich dessen das eingesetzte Mittel effektiv sein soll, bleibt es eine leere Phrase. Eine dogmatische Neuausrichtung muss daher zunächst eine verlässliche Rechtsgrundlage finden, um so die dahinter stehenden Wertungen herauszuarbeiten. Gelingt dies, kann ein konsistentes System der Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Vollzugsrecht und insbesondere das nationale Erstattungsrecht entwickelt werden. Die folgenden Überlegungen unternehmen den Versuch, das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot durch die Entwicklung eines Maßstabes zu ersetzen, an dem nationale Verfahrensnormen gemessen werden können.

456 Vgl. die Einzelfallentscheidung EuGH, Urteil vom 25.7.1991, C-208/90, Slg. 1991, I-4269 – Emmott und die spätere Distanzierung von dieser Entscheidung in den Urteilen Steenhorst-Neerings (Urteil vom 27.10.1993, C-338/91, Slg. 1993, I-5475) und Johnson (Urteil vom 6.12.1994, C-410/92, Slg. 1994, I-5483). 457 Streinz, Rn. 573; Eilmansberger, S. 150. 458 Ein besonders gutes Beispiel hierfür ist die Festsetzung der sechsmonatigen Übergangsfrist in Rn. 40 der Entscheidung Grundig Italiana (Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003), die sich aus einer „vernünftigen Betrachtung“ ergeben soll. Sehr kritisch auch Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 11.12.2003, C-30/02, Slg. 2004, I-6053 – Recheio, Rn. 24, der die Ausführungen des Gerichtshofes in den Urteilen Edis (Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951) und Spac (Urteil vom 15.9.1998, C-260/96, Slg. 1998, I-4997) als „tautologische Behauptungen ohne jede Begründung“ bezeichnet. 459 Brockhaus, Enzyklopädie in 30 Bänden, 21. Auflage, Stichwort „Effektivität“.

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b) Konkretisierung des Maßstabs Bevor die Frage beantwortet werden kann, welche inhaltlichen Anforderungen das Gemeinschaftsrecht an das nationale Verfahrensrecht stellt, ist zunächst zu klären, über welchen Mechanismus das Gemeinschaftsrecht überhaupt in das nationale Verfahrensrecht hineinwirkt. Das Verhältnis der beiden Rechtsordnungen zueinander wird grundsätzlich vom Prinzip des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts beherrscht.460 Unterschiedlich beantwortet wird allerdings die Frage, ob sich auch beim Vollzug von Gemeinschaftsrecht die beiden Rechtsordnungen in einer Weise gegenüberstehen, die durch das Prinzip des Vorrangs beherrscht wird. Das Fehlen expliziter gemeinschaftsrechtlicher Normen zum Verfahrensrecht und die Autonomie der Mitgliedstaaten in diesem Bereich könnten dem Vorrangprinzip entgegenstehen. aa) Die Theorie des Zusammenwirkens als Ausnahme vom Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts Teile der Schlussanträge des Generalanwalts Warner in der Rs. Rewe scheinen darauf hinzudeuten, dass im Bereich des Verfahrensrechts das Gemeinschaftsrecht und das nationale Recht lediglich zusammenwirken, ohne dass die beiden Rechtsordnungen einander beeinflussen würden. So führte der Generalanwalt aus, dass indem den Mitgliedstaaten das Erstattungsverfahren zur Durchführung zugewiesen wurde, kein Vorrang des nationalen Rechts vor dem Gemeinschaftsrecht konstituiert werden sollte. Vielmehr griffen nationales und Gemeinschaftsrecht ineinander; ersteres komme zum Tragen, wenn letzteres keine Regelung mehr bereithalte.461 Das nationale Recht schließe dann noch vorhandene Lücken im Gemeinschaftsrecht,462 so dass sich das Verfahrensrecht in Gemeinschaftsrechtsfällen aus einer Zusammenschau beider Rechtssysteme ergebe. Lediglich dort, wo innerstaatliches Verfahrensrecht mit einer ausdrücklichen verfahrensrechtlichen Bestimmung aus dem Gemeinschaftsrecht kollidiere – wie dies in der Rs. Rheinmühlen463 hinsichtlich Art. 234 EG der Fall gewesen sei – werde es durch das vorrangige Gemeinschaftsrecht verdrängt.464 Da nach Ansicht des Generalanwalts gemeinschaftsrechtliche Regelungen zum Verfahrensrecht fast vollständig fehlen, spielt nach seinen Ausführungen der Anwendungsvorrang nur eine untergeordnete Rolle. Auch wenn der Gene460

Vgl. oben S. 25. Generalanwalt Warner, Schlussanträge vom 30.11.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, S. 2004. 462 So auch noch Kakouris, CMLRev 1997, S. 1389 (1396). 463 EuGH, Urteil vom 16.1.1974, 166/73, Slg. 1974, 33 – Rheinmühlen. 464 Generalanwalt Warner, Schlussanträge vom 30.11.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, S. 2005. 461

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ralanwalt durch den Verweis auf Rheinmühlen nicht gänzlich ausschließt, dass nationales Verfahrensrecht verdrängt werden kann, so kommt in seinen Ausführungen doch die Vorstellung eines Kooperationsverhältnisses zum Ausdruck, in dem die Rechtsordnungen gleichrangig und grundsätzlich unbeeinflusst zusammenwirken. Dieses Verständnis legt auch Eilmansberger zu Grunde, wenn er davon ausgeht, dass in Rückforderungsfällen keine Kollisionen zwischen nationalem Recht und Gemeinschaftsrecht auftreten können. Die eine Rechtsordnung könne die andere nicht verdrängen, sondern beide könnten immer nur „sich ergänzend anwendbar“ sein.465 In die gleiche Richtung geht auch die Auffassung von Danwitz, wenn er das Aufeinandertreffen der Rechtsordnungen als „Begegnung“ bezeichnet466 und diesen Begriff damit ganz bewusst als Antonym zum Begriff der Kollision einsetzt. Aubin meint schließlich, es gebe eine logische Trennung von materiellem Gemeinschaftsrecht und nationalem Prozess- bzw. Haftungsrecht, was zu einer fehlenden Kollisionsfähigkeit der beiden Rechtsbereiche führe.467 Formelles und materielles Recht beträfen unterschiedliche Regelungsgegenstände, wobei das materielle Recht nicht auf die formelle Seite hinüberwirke. Geht man von dieser Annahme aus, lässt sich tatsächlich die Beeinflussung des nationalen Rechts durch das Gemeinschaftsrecht nicht über das Rechtsinstitut des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts erklären, da es an einer Kollision der Rechtsordnungen fehlt.468 Die Vertreter dieser Auffassung können daher nur zur Kenntnis nehmen, dass der EuGH dennoch an der Einflussnahme auf nationales Verfahrensrecht festhält. Sie sehen hierfür folgerichtig teilweise keine kompetenzielle Grundlage.469 Jede Ausweitung der Einflussnahme wird als eigenmächtiger Schritt des EuGH „zur Verwirklichung selbst gesetzter Integrationsvorstellungen“ angesehen.470 bb) Die Theorie der Geltung des Anwendungsvorrangs Die Tragfähigkeit dieser Ansicht steht und fällt mit der Annahme, im Bereich des Erstattungsverfahrensrechts sei eine Kollision im klassischen Sinne ausge465

Eilmansberger, S. 121. von Danwitz, DVBl 1998, S. 421 (422); ders., S. 114 ff. 467 Aubin, S. 55. Denselben Standpunkt hatte das Verwaltungsgericht Saarlouis im Urteil vom 29.03.1974, DVBl 1974, S. 728 f., erstinstanzlich in der Rs. Rewe eingenommen. 468 von Danwitz, S. 114 f.; ders., DVBl 1998, S. 421 (422 und 427); Streinz, in: HdbStR VII, § 182, Rn. 56; Eilmansberger, S. 120; Aubin, S. 55. 469 von Danwitz, DVBl 1998, S. 421 (428). 470 von Danwitz, DVBl 1998, S. 421 (428). 466

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schlossen. Auf den ersten Blick erscheint das auch plausibel, fehlt der Gemeinschaft doch eine umfassende Kompetenz zur Regelung des Verfahrensrechts, weshalb gemeinschaftsrechtliche Verfahrensregelungen, die mit nationalem Verfahrensrecht kollidieren könnten, eine seltene Ausnahme sind.471 Dabei wird aber übersehen, dass das Gemeinschaftsrecht keine Bereichsausnahme für das Verfahrensrecht kennt und durchaus verfahrensrechtliche Vorgaben enthält. Bereits oben wurde gezeigt, wie Gemeinschaftsrecht ohne spezifischen Anwendungsbereich auch die Ausübung der Kompetenzen beeinflusst, die bei den Mitgliedstaaten verblieben sind. Es wird sich zeigen, dass materielles Gemeinschaftsrecht auch das Verfahrensrecht beeinflusst und daher durchaus in Konkurrenz zu nationalem Recht treten kann. Nach herrschender Ansicht kollidieren zwei Normen bereits dann, wenn beide für sich gesehen gültig sind, sie unterschiedlichen Quellen entspringen, dieselbe Rechtsfrage regeln und von den Rechtsfolgen her in einem unmittelbaren Widerspruch zueinander stehen.472 Daran, dass das Gemeinschaftsrecht und das Verfahrensrecht unterschiedlichen Rechtsquellen entspringen, besteht kein Zweifel. Entscheidend kommt es darauf an, ob sie dieselbe Rechtsfrage regeln. Auf den ersten Blick scheint das nicht so zu sein. So regelt das materielle Gemeinschaftsrecht primär, ob eine Abgabe rechtmäßig erhoben werden kann, während das nationale Erstattungsrecht nur Regelungen für den Fall der Rechtswidrigkeit der Erhebung bereithält. Da das Verfahrensrecht zur materiellen Rechtmäßigkeit der Abgabenerhebung keine Aussage trifft, ist eine Kollision auf materieller – also auf Primärebene – ausgeschlossen. Sie lässt sich auch nicht konstruieren, indem der Ausschluss der Erstattung nach mitgliedstaatlichem Recht als Legalisierung der Abgabenerhebung verstanden wird.473 Ein solches Verständnis widerspräche der Systematik des deutschen Rechts, das der Bestandskraft keinerlei legalisierende Wirkung beimisst, sondern den rechtswidrigen Zustand aus einer Reihe von Gründen – unter denen die Rechtssicherheit eine prominente Stellung einnimmt – fortbestehen lässt. Die Bestandskraft der Steuererhebung negiert nicht das gemeinschaftsrechtliche Rechtswidrigkeitsurteil, sondern knüpft hieran lediglich nicht 471

Vgl. oben S. 66. BVerfG, BVerfGE 26, S. 116 (135 f.); 36, 342 (363). Schroeder, in: Streinz, Art. 249, Rn. 42; ders., AöR 129 [2004], S. 3 (26). 473 Das sah Ehle, DVBl 1974, S. 731 (732), allerdings noch anders. Durch die Bestandskraft des Verwaltungsakts werde eine gemeinschaftsrechtswidrige Lage festgeschrieben, was mit dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts unvereinbar sei. Dieser Ansicht erteilte schon Generalanwalt Warner, Schlussanträge vom 30.11.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, S. 2004, eine eindeutige Absage. Seit diesem Zeitpunkt ist es – mit Ausnahme von Stellungnahmen zur Rs. Ciola (Urteil vom 29.4.1999, C-224/97, Slg. 1999, I-2517) – nicht wieder bezweifelt worden, dass konkret-individuelle Maßnahmen, die vom Gemeinschaftsrecht abweichen, bestandskräftig werden können, ohne den Vorrang des Gemeinschaftsrechts zu verletzen. 472

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die Folge der Erstattung. Die Wirkung der Bestandskraft bleibt mit anderen Worten auf die Sekundärebene beschränkt. Das materielle Gemeinschaftsrecht, soweit es für die Primärebene von Bedeutung ist, und die auf die Sekundärebene beschränkte Wirkung des nationalen Verfahrensrechts regeln somit nicht dieselbe Rechtsfrage, was eine Kollision ausschließt.474 Oben wurde allerdings auch aufgezeigt, dass im Wege der Auslegung den materiellen Gemeinschaftsrechtsnormen auch eine Aussage zur Erstattung rechtswidrig erhobener Steuern – und damit zur Sekundärebene – entnommen werden kann.475 In der Rs. Deville hatte der EuGH gerade die zweite Schutzrichtung des materiellen Gemeinschaftsrechts angedeutet. Es kann daher durchaus vorkommen, dass eine Gemeinschaftsrechtsbestimmung nicht nur die Erhebung einer Abgabe untersagt, sondern auch ihre Erstattung gebietet, während das nationale Verfahrensrecht der Erstattung entgegensteht.476 Zwei Normkomplexe regeln dann ein und dieselbe Rechtsfrage, ordnen aber unterschiedliche Rechtsfolgen an. Dies ist ein klassischer Fall einer Kollision. Deren Besonderheit liegt allenfalls darin, dass Normen mit einem hohen Abstraktionsgrad auf sehr detaillierte Regelungen treffen. Dieses Phänomen ist dem Rechtsanwender aus der verfassungsrechtlichen Judikatur aber wohl vertraut. Mitunter kann zwar zu Recht gefragt werden, ob sich der abstrakten Norm tatsächlich eine so konkrete Rechtsfolge entnehmen lässt, wie der EuGH dies tut;477 dass aber abstrakte und konkrete Normen grundsätzlich kollidieren können, steht außer Frage.478 Nur ergänzend sei darauf hingewiesen, dass auch Generalanwalt Warner in seinen Schlussanträgen letztlich nicht von einer systembedingten Kollisionsfreiheit ausgegangen ist. Obwohl er etwas unscharf von einem „Zusammenwirken“ ausging, deutete er mit dem Verweis auf die Rs. Rheinmühlen eine mögliche Kollision der Rechtsordnungen schon an, wenn es hierauf auch nicht streitentscheidend ankam. Das Effektivitäts- und das Äquivalenzgebot markierten die Grenze, bis zu der die nationalen Regelungen unbedenklich seien; verstießen sie hiergegen, müsse das nationale Recht allerdings wegen des Anwendungsvorrangs beiseite treten.479

474 So im Ergebnis auch Eilmansberger, S. 121; Aubin, S. 56. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass das materielle Gemeinschaftsrecht nur auf Primärebene von Bedeutung ist, dazu sogleich. 475 Vgl. oben S. 50. 476 Dies übersieht Eilmansberger, wenn er davon ausgeht, dass Kollisionen grundsätzlich ausgeschlossen seien. 477 Hier sei an die sechsmonatige Übergangsfrist in dem Urteil Grundig Italiana (Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003) erinnert, vgl. oben S. 106. 478 Hoskins, E.L.Rev. 1996, 21 (5), 365 bei Fn. 18: „. . . is not inconsistent with the principle of supremacy but rather complements it and, indeed, expressly gives effect to it.“

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An dieser Stelle ist noch darauf hinzuweisen, dass es der Gültigkeit des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts zur Erstattung nicht entgegensteht, dass beide Regelungen zum Verfahrensrecht enthalten – ersteres allerdings nur über die Auslegung materieller Normen. Wären die Bestimmungen einer der beiden Rechtsordnungen bereits wegen fehlender Kompetenz unwirksam, läge schon keine Kollision vor. Dann bedürfte es keines Rückgriffs auf den Anwendungsvorrang mehr. Die Kompetenzen der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten konkurrieren in diesem Bereich, wobei wegen der fehlenden Vollkodifikation des Gemeinschaftsrechts das nationale Recht nicht vollständig verdrängt wird. Der Geltungsanspruch der konkurrierenden Rechtsordnungen muss daher über den Anwendungsvorrang gelöst werden. Geht man also von der grundsätzlichen Geltung des Anwendungsvorrangs auch bei einem Aufeinandertreffen nationalen Verfahrensrechts und materiellen Gemeinschaftsrechts aus,480 so bleibt noch zu klären, ob der Vorrang wegen der im Grundsatz bei den Mitgliedstaaten verbliebenen Kompetenz zur Ausgestaltung des Verfahrensrechts einzuschränken ist.481 (1) Modifikation des Anwendungsvorrangs bei indirekten Kollisionen Eine von Komendera482 angedeutete und von Huthmacher 1985 weiterentwikkelte Ansicht sieht das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot als Antwort des EuGH auf das Problem so genannter indirekter Kollisionen an. Nach der dort vertretenen Ansicht liegt eine direkte Kollision vor, wenn eine Norm des nationalen und eine Norm des Gemeinschaftsrechts denselben Tatbestand erfassen, aber unterschiedliche Rechtsfolgen anordnen. Nur in diesem Fall gelte uneingeschränkt die Theorie des Anwendungsvorrangs. Beeinträchtigen hingegen „Modalitäten des nationalen Organisations- und Verfahrensrechts die einheitliche Wirkung des Gemeinschaftsrechts“, liege eine indirekte Kollision vor.483 Auf Grund der unterschiedlichen Regelungsziele der beteiligten Rechtsordnun479 Generalanwalt Warner, Schlussanträge vom 30.11.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, S. 2006. 480 In diese Richtung ist wohl auch Röben, S. 362, zu verstehen, wenn er Rechtssicherheit gegen Individualrechtsschutz zur Rechtfertigung von Verfahrensbestimmungen abwägt. 481 Dabei ist allerdings zu unterstellen, dass sowohl das nationale Verfahrensrecht als auch das Gemeinschaftsrecht innerhalb der jeweiligen Kompetenzen zustande gekommen sind. Dies ist wegen der konkurrierenden Kompetenzen in diesem Bereich häufig der Fall. 482 Komendera, S. 148 ff., insb. S. 150. 483 Zur Differenzierung zwischen direkten und indirekten Kollisionen auch Jarass, DVBl 1995, S. 954 (959); Weber, EuR 1986, S. 1 (3 und 11).

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

gen sei dort ein strikter Anwendungsvorrang unangemessen. Die Theorie des Anwendungsvorrangs bedürfe der Modifikation.484 Im Ergebnis schlägt Huthmacher vor, den Anwendungsvorrang dann einzuschränken, wenn die nationale Norm durch Zielvorstellungen des Gemeinschaftsrechts gedeckt sei. In diesem Fall liege nur ein scheinbarer Widerspruch vor. Solange die Ziele des Gemeinschaftsrechts und des nationalen Rechts übereinstimmen, sei der Anwendungsvorrang nicht zur Anwendung zu bringen.485 Die Überlegungen Huthmachers deuten grundsätzlich in die richtige Richtung. Zunächst zeigen sie auf, dass auch im Verfahrensrecht grundsätzlich der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts greift. Ebenfalls zutreffend ist die Erkenntnis, dass das materielle Gemeinschaftsrecht keinen absoluten Geltungsanspruch hat, sondern Einschränkungen durch nationales Recht zugänglich ist. Ausgangspunkt der Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Kollisionen ist allerdings die Vorstellung, es fehle an einer klassischen Kollision. Die indirekte Kollision wird als künstliche Erstreckung des Anwendungsvorrangs in das Verfahrensrecht hinein angesehen, die allein in der Rechtsprechung des EuGH zum Schutz der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts entwickelt wurde, ohne dass sie eine unmittelbare rechtliche Grundlage habe.486 Die Rechtsfigur der indirekten Kollision ist damit obsolet, wenn gezeigt werden kann, dass auch im Verfahrensrecht klassische Kollisionen möglich sind. (2) Uneingeschränkter Anwendungsvorrang Vorzugswürdig ist daher der Versuch, den Anwendungsvorrang uneingeschränkt zur Geltung zu bringen, jedoch besondere Sorgfalt auf die Frage zu verwenden, wann überhaupt eine Kollision auftritt. Ausgehend von der klassischen Terminologie des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots wird dies von Schroeder besonders prägnant dargestellt: Durch die Prüfung des nationalen Durchführungsrechts am Effektivitäts- und Äquivalenzgebot werde ermittelt, ob eine Kollisionslage bestehe. Ist das der Fall, greife der Vorrang uneingeschränkt.487 Nichts anderes meint Generalanwalt Slynn, wenn er davon spricht, dass das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot der Identifizierung einer Kollision diene. Bei Nichtbeachtung einer der zwei Gebote seien die innerstaatlichen Verfahrensvorschriften unvereinbar mit dem Gemeinschaftsrecht.488 484

Huthmacher, S. 160. Huthmacher, S. 189. 486 Jarass, DVBl 1995, S. 954 (959); Weber, EuR 1986, S. 1 (3). 487 Schroeder, in: Streinz, Art. 249 EGV, Rn. 43. 488 Generalanwalt Slynn, Schlussanträge vom 31.5.1988, 240/87, Slg. 1988, 3513 – Deville, S. 3522. 485

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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Der Ansatz überzeugt, da zuerst auf der Ebene des Gemeinschaftsrechts dessen Normen ausgelegt werden und damit festgelegt wird, welche Anforderungen das Gemeinschaftsrecht aufstellt. Erst wenn auf dieser Ebene die gemeinschaftsrechtlichen Gebote klar sind, erfolgt der Abgleich mit dem nationalen Recht. Stimmen die Ergebnisse überein, so bleibt das nationale Recht unmodifiziert. Gehen sie auseinander, greift der Anwendungsvorrang und die nationale Verfahrensnorm, die den Eintritt der gemeinschaftsrechtlich gebotenen Rechtsfolgen verhindert, bleibt unangewendet. Auf dieser Basis lässt sich zwanglos mit der anerkannten Rechtsfigur des Anwendungsvorrangs erklären, wie das Gemeinschaftsrecht auf das nationale Recht einwirkt. Allerdings geht Schroeder davon aus, dass die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts aus dem Effektivitätsund Äquivalenzgebot resultieren, das damit zum Maßstab für nationales Verfahrensrecht werde. Die bekannte Schwäche dieses Doppelvorbehalts bleibt dabei aber bestehen. Zu suchen ist stattdessen nach einem alternativen Maßstab, der eine klarere normative Verankerung hat und nicht den Nachteil der Inhaltsleere wie Art. 10 EG aufweist. (a) Die Grundfreiheiten als Maßstab Cordewener schlägt vor, die Abwägung auf Gemeinschaftsrechtsebene nicht am Effektivitäts- und Äquivalenzgebot auszurichten, sondern die Zulässigkeit von Verfahrensnormen (nicht nur in Erstattungssituationen) direkt an den Grundfreiheiten zu messen.489 Schon aus der Rechtsprechung des EuGH lasse sich entnehmen, dass der EuGH verfahrensrechtliche Bestimmungen unmittelbar am Maßstab der Grundfreiheiten messe, wenn eine Person sich nur in grundfreiheitlich relevanter Weise betätige.490 In diesen Fällen wende der EuGH direkt die Grundfreiheiten an, freilich ohne dies besonders zu rechtfertigen. Nur äußerlich bleibe er bei der hergebrachten Terminologie des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots. Vor- und nachgelagerte verfahrensrechtliche Hindernisse in den nationalen Rechtsordnungen, die die umfassende Durchsetzung der Grundfreiheiten beschränken, seien auf ihre Vereinbarkeit mit den Grundfreiheiten selbst zu prüfen und müssten gegebenenfalls unangewendet bleiben. Der Ansatz Cordeweners scheint auf den ersten Blick plausibel und auf die Erstattungssituation übertragbar zu sein. Insbesondere dort, wo die Steuererhebung bereits auf Primärebene gegen Grundfreiheiten verstößt, liegt es nahe, als 489 Cordewener, IStR 2006, S. 113 (116). Schnitger, BB 2002, S. 332 (336) hatte bereits zuvor ohne nähere Auseinandersetzung mit der Problematik steuerliche Verfahrensregeln an den Grundfreiheiten gemessen. 490 Cordewener, IStR 2006, S. 113 (116 f.), verweist vor allem auf die Urteile Biehl (8.5.1990, C-175/88, Slg. 1990, I-1779), Commerzbank (Urteil vom 13.7.1993, C-330/ 91, Slg. 1993, I-4038) und Schumacker (Urteil vom 14.2.1995, C-279/93, Slg. 1995, I-294).

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Maßstab für die Zulässigkeit eines Erstattungsausschlusses auf Sekundärebene den gleichen Maßstab zu wählen. Schließlich ist es die Reichweite der auf Primärebene betroffenen Grundfreiheit, die auf Sekundärebene durch die nationale Verfahrensnorm verkürzt wird. Tatsächlich entnahm auch der EuGH in der Rs. Metallgesellschaft den Anspruch auf Verzinsung des Rückzahlungsbetrags direkt der Niederlassungsfreiheit, die auch auf Primärebene einschlägig war,491 obwohl in dem Urteil sonst die bekannte Terminologie des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots verwendet wird. Es ist allerdings zuzugestehen, dass der Sachverhalt für eine Erstattung atypisch war, da der Gemeinschaftsrechtsverstoß auf Primärebene nicht darin begründet lag, dass eine Steuer überhaupt erhoben worden war, sondern dass sie zu einem früheren Zeitpunkt als in einem reinen Inlandsfall fällig geworden war. Der EuGH sah sich veranlasst, den Klägerinnen einen gemeinschaftsrechtlichen Zinsanspruch zuzugestehen, da ansonsten der Gemeinschaftsrechtsverstoß auf Primärebene möglicherweise ohne jede Folge geblieben wäre. Diese Rechtsfolge war dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot nicht widerspruchsfrei zu entnehmen, nach dem „Nebenfragen“ wie Zinsansprüche grundsätzlich Sache der Mitgliedstaaten sind.492 Das gewünschte Ergebnis ließ sich damit nur durch einen Direktzugriff auf die Grundfreiheiten erzielen. Die Ergänzung der Verpflichtungen aus dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot durch den Direktzugriff auf Grundfreiheiten ist ein Einzelfall geblieben. Eine derartige Rechtsprechungstendenz hätte auch jede klare Linie vermissen lassen und in die Beliebigkeit geführt.493 Die Atypik des Sachverhalts und das Fehlen von Folgeentscheidungen zeigen, dass es dem EuGH mehr um eine als gerecht empfundene Einzelfallentscheidung und weniger um eine dogmatische Neuausrichtung ging. Der Versuch, als Maßstab für das Verfahren die auf der Primärebene betroffene Grundfreiheit heranzuziehen, kann sich damit nicht auf eine gefestigte Rechtsprechung stützen. Darüber hinaus führt der Rückgriff auf Grundfreiheiten zu dem paradoxen Ergebnis, dass ein und dieselbe Erstattungsnorm je nach der auf der Primärebene einschlägigen Grundfreiheit an unterschiedlichen Maßstäben zu messen 491 EuGH, Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 89. 492 So zuvor EuGH, Urteil vom 28.11.2000, C-88/99, Slg. 2000, I-10465 – Roquette Frères, Rn. 11; Urteil vom 12.6.1980, 130/79, Slg. 1980, 1887 – Express Dairy Foods, Rn. 17. Vgl. auch Hahn, IStR 2002, S. 105. 493 Richtigerweise gehört die Frage der Verzinsung nicht zum Erstattungsrecht, sondern zum Schadensersatzrecht. Nur dort gibt es einen Ersatz für entgangenen Gewinn, vgl. dazu unten S. 154. In der Rs. Metallgesellschaft (Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760) hatte das vorlegende Gericht offen gelassen, ob es die Frage im Rahmen eines Erstattungsverfahrens oder eines Schadensersatzverfahrens stellt. Der EuGH versuchte allerdings für beide Verfahrensarten eine einheitliche Antwort zu geben.

III. Erstattungsanspruch und nationales Verfahrensrecht

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wäre.494 Eine nationale Klagefrist wäre etwa, je nach der Grundfreiheit, von der der Kläger Gebrauch gemacht hat, einmal an der Arbeitnehmerfreizügigkeit, ein anderes mal an der Kapitalverkehrsfreiheit oder an irgendeiner sonstigen Grundfreiheit zu messen. Da alle Grundfreiheiten unterschiedliche geschriebene Rechtfertigungsgründe aufweisen, ginge damit ein einheitlicher Maßstab für eine Prüfung von Verfahrensnormen verloren. Gänzlich versagt der Ansatz in Erstattungssituationen dann, wenn die Erhebung einer Steuer nicht gegen eine Grundfreiheit verstößt, sondern beispielsweise auf einer Norm beruht, die eine Richtlinie unzutreffend umsetzt. Rechte, die dem Einzelnen durch eine Richtlinie eingeräumt werden, sind keiner Einschränkung zugänglich; sie wirken absolut. Folgerichtig müsste jede Beschränkung der Erstattung unzulässig sein. Dennoch ist es unbestritten, dass auch der Erstattungsanspruch aus einer richtlinienwidrigen Steuererhebung verfristen kann. Dieser Widerspruch ist nicht aufzulösen, wenn man den Versuch unternimmt, die Zulässigkeit erstattungsrechtlicher Schranken aus der primären Schutzrichtung der durch sie beschränkten Gemeinschaftsrechte abzuleiten. Bei genauerer Betrachtung findet sich ein triftiger Grund für die Unübertragbarkeit der Gedanken Cordeweners auf das Erstattungsrecht. Es zeigt sich, dass der unmittelbare Schutzbereich der Grundfreiheiten die Erstattungssituation nicht erfasst. Es geht auf der Rückabwicklungsseite nicht darum, dass der Bürger in der Ausübung seiner Grundfreiheiten behindert wird. Die Grundfreiheiten sollen den Bürger zu den geschützten Aktivitäten ermutigen und ihn während der Ausübung der erfassten Tätigkeiten schützen.495 Die Arbeitnehmerfreizügigkeit etwa bezweckt die Förderung der grenzüberschreitenden Mobilität von Arbeitnehmern. Ein solcher Schutz ist immer zukunftsbezogen, wenigstens aber gegenwartsbezogen. Für denjenigen, der eine geschützte Tätigkeit in der Vergangenheit ausgeübt hat und rechtswidrig darin behindert wurde – etwa indem diese Tätigkeit gemeinschaftsrechtswidrig mit einer Steuer belastet wurde – kommt der primäre Schutz der Grundfreiheit zu spät, wenn er die zu Unrecht 494 So auch Weber, EuR 1985, S. 1 (11). Einen ganz ähnlichen Ansatz wie Cordewener vertritt Fiedler zum deutschen Folgenbeseitigungsrecht. Nach seiner Ansicht sollte der Anspruch auf Folgenbeseitigung direkt aus den betroffenen Freiheitsgrundrechten abgeleitet werden, NVwZ 1986, S. 969 (972 f.). Einfachgesetzliche Ausschlüsse der Folgenbeseitigung wären damit zugleich an den einschlägigen Grundrechten zu messen. Abgesehen davon, dass der Ansatz mit der jüngeren Rechtsprechung des BVerwG unvereinbar ist, wonach zumindest im Baurecht der unmittelbare Rückgriff auf die Verfassung nicht ohne weiteres zulässig ist (vgl. u. a. NVwZ 1991, S. 673 [675]; anerkannt durch BVerfG, NVwZ-RR 1996, S. 483), würde dies auch zu einer Zersplitterung des Folgenbeseitigungsanspruchs führen, den Fiedler zu Gunsten von Einzelansprüchen direkt aus Grundrechten aufgeben will; NVwZ 1986, S. 969 (972). Die Nachteile anerkennend räumt er den Vorteilen seines Ansatzes dennoch den Vorrang gegenüber einem einheitlichen Folgenbeseitigungsrecht ein. 495 Nach Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 56, sind in sachlicher Hinsicht nur bestimmte Verhaltensweisen von Personen geschützt.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

erhobene Abgabe bereits entrichtet hat. Ihm geht es nunmehr nur noch um die Beseitigung dieser Belastung – nämlich durch Erstattung der Steuer. Die Ansprüche auf Sekundärebene gründen sich zwar auf die grundfreiheitlichen und sonstigen gemeinschaftsrechtlichen Verbürgungen,496 wurden aber zu eigenständigen Gemeinschaftsrechten fortentwickelt, die nunmehr speziell auf die Anforderungen der Sekundärebene zugeschnitten sind. Die Grundfreiheiten liefern zwar eine Grundlage für die Existenz des Erstattungsanspruchs, sie versagen aber als Maßstab, wenn es speziell um Beschränkungsmöglichkeiten dieses Erstattungsanspruchs geht. (b) Der Erstattungsanspruch als Maßstab Die Sekundärebene wird dominiert vom Erstattungsanspruch, den der EuGH durch Auslegung des Gemeinschaftsrechts entwickelt hat.497 Nationale Verfahrensnormen, die die Erstattung rechtswidrig erhobener Steuern erschweren, schränken damit den Erstattungsanspruch selbst ein. Einschlägig ist folglich nicht das Gemeinschaftsrecht, aus dem auf Primärebene die Rechtswidrigkeit der Steuererhebung überhaupt erst folgte, sondern der Erstattungsanspruch selbst, der losgelöst von der Primärebene zu betrachten ist. An diesem Maßstab ist die Zulässigkeit der Verfahrensnormen zu messen. Wählt man diesen Ansatz, lassen sich auch die Einwände gegen eine Prüfung direkt an den Grundfreiheiten (bzw. den anderen Gemeinschaftsrechten) ausräumen. Durch die Bezugnahme auf den Erstattungsanspruch wird ein einheitlicher Maßstab für alle Erstattungsfälle gefunden, ohne dass es auf das auf Primärebene jeweils betroffene Recht ankäme. So spielt es keine Rolle, ob die Steuererhebung gegen eine einschränkbare Grundfreiheit verstoßen hat oder ob sie auf einer absolut geltenden Richtlinienbestimmung beruht hat. Ob im Einzelfall die Erstattung ausgeschlossen werden kann, richtet sich nach den Kriterien, die individuell für den Erstattungsanspruch herausgearbeitet worden sind, nicht aber nach den Beschränkungsmöglichkeiten des auf Primärebene betroffenen Rechts. Dieser Ansatz befindet sich insoweit in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des EuGH, die ebenfalls nicht nach der Art des Rechtsverstoßes auf Primärebene unterscheidet. Grundlage für die Prüfung von nationalen Verfahrensregelungen sollte damit der Erstattungsanspruch sein, wie er durch die Rechtsprechung des EuGH herausgearbeitet worden ist. Gegenüber dem klassischen Maßstab des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots, das der EuGH wohl aus einem allgemeinen Gleichbehandlungsgebot und den Vorgaben des Art. 10 EG ableitet, bietet der Erstat496 Der Erstattungsanspruch wurde vom EuGH ja ausdrücklich als „Folge und Ergänzung“ der Rechte aus dem Vertrag bezeichnet, vgl. oben S. 50. 497 Vgl. oben S. 48.

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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tungsanspruch den Vorteil, dass ihm eine materielle Wertentscheidung immanent ist. Als Fortwirkung der Verpflichtung zu rechtmäßigem Handeln ist er von dem Ziel getragen, die rechtswidrigen Folgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht zu beseitigen. Wird dieser Anspruch durch eine nationale Maßnahme beschränkt, richtet sie sich zugleich gegen den Grundsatz der Rechtmäßigkeit. Die Ableitung des Erstattungsanspruchs aus diesem Grundsatz ist somit nicht nur Beleg für seine bloße Existenz, sondern ebenso Indiz für seine Zielrichtung und hohe Wertigkeit.

IV. Die Prüfung von Verfahrensregelungen am gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsgebot Bei individualschützenden Rechtssätzen, die Einschränkungen und Abwägungen zugänglich sind, hat sich ein dreistufiger Prüfungsaufbau bewährt. Dabei ist zunächst zu klären, welcher Lebensbereich von dem Schutz umfasst wird. In einem zweiten Schritt ist dann herauszuarbeiten, ob dieser Schutzbereich durch eine Maßnahme beeinträchtigt wird und schließlich, ob diese Beeinträchtigung gerechtfertigt werden kann. Auch der EuGH wendet diesen Dreischritt in seinen Urteilen regelmäßig an, vor allem bei der Prüfung nationaler Maßnahmen am Maßstab der Grundfreiheiten. Auch für die Prüfung nationaler Verfahrensnormen am Erstattungsanspruch bietet sich ein solcher Aufbau an. Das ermöglicht es, mitgliedstaatliche Normen daraufhin zu untersuchen, ob sie den Schutzbereich des Erstattungsanspruchs beeinträchtigen und ob sie sich gegebenenfalls rechtfertigen lassen. Hierin liegt ein Fortschritt gegenüber der gegenwärtigen Praxis des EuGH, der in Erstattungsfällen lediglich auf das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot Bezug nimmt und unter die gängigen Definitionen subsumiert, ohne – zumindest der äußeren Form nach – die betroffenen Rechtsgüter zu benennen und gegeneinander abzuwägen. Vor allem an einer eigenständigen Rechtfertigungsprüfung, in der das Gemeinschaftsrechtsgut der Erstattung gegen die gegenläufigen Rechtsgüter abgewogen würde, fehlt es oftmals. Seine Ausführungen erscheinen häufig eher als Behauptungen,498 als dass sie das Ergebnis einer Abwägung zwischen konfligierenden Rechtsgütern wären.

498 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 38 und Grundig Italiana (Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003), wo apodiktisch aus Gründen der Effektivität Übergangsfristen für erforderlich gehalten werden.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

1. Der Schutzbereich/Anwendungsbereich des Erstattungsanspruchs Der Schutzbereich einer Grundfreiheit erfasst gewöhnlich bestimmte Tätigkeiten einer Person, die unter besonderem gemeinschaftsrechtlichem Schutz stehen.499 Ist der Schutzbereich einer Grundfreiheit eröffnet, bedeutet dies nichts anderes, als dass ihre persönlichen und sachlichen Tatbestandsvoraussetzungen vorliegen. Auf der Sekundärebene geht es nicht mehr darum, eine Tätigkeit vor staatlichen Beeinträchtigungen zu schützen, sondern um die Wiedergutmachung von Nachteilen, die unzulässigerweise an eine gemeinschaftsrechtlich geschützte Tätigkeit auf Primärebene geknüpft waren. Vor diesem Hintergrund scheint als Bezeichnung für die Voraussetzungen des Erstattungsanspruchs der Begriff des Anwendungsbereichs treffender zu sein. Jede gegen das Gemeinschaftsrecht verstoßende Erhebung von Steuern auf Primärebene löst grundsätzlich einen Anspruch auf deren Erstattung aus.500 Damit ist der sachliche Anwendungsbereich des Erstattungsanspruchs bereits umrissen. Besondere persönliche Voraussetzungen stellt der Erstattungsanspruch nicht auf. Berechtigt ist jeder, der zu einer rechtswidrigen Steuer herangezogen wurde. Welchen Umfang der Erstattungsanspruch hat, gehört systematisch zur Frage der Beeinträchtigung. So ist etwa bei einem mitgliedstaatlichen Ausschluss der Verzinsung des Erstattungsbetrags der sachliche Anwendungsbereich ohne weiteres eröffnet; problematisch ist allein, ob eine Beeinträchtigung vorliegt.501 Zur Definition des Anwendungsbereichs gehört allerdings die Frage nach der Abgrenzung von Erstattung und Schadensersatz. Zum Verhältnis dieser beiden Ausprägungen des Folgenbeseitigungsgrundsatzes zueinander hat der Gerichtshof wiederholt festgestellt, dass grundsätzlich beide Ansprüche nebeneinander geltend gemacht werden können, ohne dass der eine den anderen ausschließt.502 499 Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 56. Streinz, Rn. 785 und Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 81 setzen dem Schutzbereich für die Grundfreiheiten den Begriff des Anwendungsbereichs gegenüber. Inhaltlich bezeichnen beide Begriffe aber dasselbe. 500 EuGH, Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 20; Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 109; Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 17; Urteil vom 6.7.1995, C-62/93, Slg. 1995, I-1883 – BP Soupergaz, Rn. 40; Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 23; Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 84, u. v. a. m. Außerdem Voß, in: Grabitz/Hilf, vor Art. 90 EGV, Rn. 30. 501 Dazu daher unten S. 154. 502 EuGH, Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 34; Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001,

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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Die Tatbestandsvoraussetzungen – und damit der Anwendungsbereich – des Staatshaftungsanspruchs sind durch das Erfordernis eines hinreichend qualifizierten Verstoßes allerdings enger als die des Erstattungsanspruchs, bei dem die einfache Rechtswidrigkeit der Steuererhebung ausreicht. Die engeren Tatbestandsvoraussetzungen des Schadensersatzanspruchs werden durch einen von der Rechtsfolge her umfassenderen Anspruchsumfang kompensiert. Bei der Erstattung sieht der EuGH die Rechtsfolge als auf die Rückgängigmachung finanzieller Einbußen des Steuerpflichtigen beschränkt an, denen ein entsprechender Vorteil beim Mitgliedstaat gegenübersteht.503 Schadensersatzansprüche gehen hingegen darüber hinaus, indem eine Bereicherung des Mitgliedstaats nicht erforderlich ist und damit auch entgangener Gewinn des Abgabepflichtigen ersatzfähig ist. Schadensersatz ist damit ein besonderes Rechtsinstitut, das bei besonders qualifizierten Rechtsverstößen die Folgen sehr umfassend beseitigt.504 Vom Anwendungsbereich der beiden Ansprüche her betrachtet, ist derjenige der Staatshaftung erheblich enger als der des Erstattungsanspruchs. Im Gegenzug schützt er aber auch umfassender vor Beeinträchtigungen als der Erstattungsanspruch. Da der Erstattungsanspruch in sachlicher Hinsicht lediglich eine gemeinschaftsrechtswidrige Steuererhebung voraussetzt, ist sein Anwendungsbereich immer dann eröffnet, wenn die Steuererhebung auf Primärebene gemeinschaftsrechtswidrig war. Die Konnexität zwischen einem Verstoß auf Primärebene und der Eröffnung des Anwendungsbereichs der Sekundärebene ist Folge des Ursprungs des Erstattungsanspruchs im materiellen Recht.505 Die Primärebene bindet den Gesetzesanwender für die Gegenwart und die Zukunft. Bei einer aktuellen oder künftigen Gesetzesanwendung hat er sich entsprechend den Geboten der Primärebene zu verhalten. In der Erstattungssituation wird dagegen eine in der Vergangenheit liegende Gesetzesanwendung in den Blick genommen. War nach der damaligen Rechtslage in der Auslegung, die sie durch die zwischenzeitlich ergangene Rechtsprechung erfahren hat, die Gesetzesanwendung rechtswidrig, so ist eine rechtswidrige Vermögenslage entstanden, die durch Erstattung ausgeglichen werden muss. Letztlich unterscheiden sich Primär- und Sekundärebene damit nur durch ihren zeitlichen Blickwinkel. Die Rechtsverletzung auf Primärebene präjudiziert die Betroffenheit der Sekundärebene.

I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 90, und jüngst Urteil vom 12.12.2006, C-446/04, Slg. 2006, I-11753 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Rn. 201. 503 EuGH, Urteil vom 12.12.2006, C-446/04, Slg. 2006, I-11753 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Rn. 201. 504 Vgl. etwa Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (209 f.). 505 Zur „Folge und Ergänzung“-Rechtsprechung siehe oben S. 50.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Damit ist zugleich das durch den Erstattungsanspruch geschützte Rechtsgut in den Blick genommen. Die materiell richtige Steuererhebung wird auf Sekundärebene durch den Erstattungsanspruch gewährleistet. Ziel der Erstattung ist somit die Sicherstellung der Rechtsrichtigkeit und damit letztlich der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns. Kommt es aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht zur Erstattung, muss die Rechtsrichtigkeit und damit auch die Gesetzmäßigkeit hinter konkurrierende Rechtsgüter zurücktreten.506 Ob das nationale Recht überhaupt zu einer Kollision der Rechtsrichtigkeit mit anderen Rechtsgütern führt, wird bei der Frage nach einer Beschränkung des Erstattungsanspruchs beantwortet; ob die Kollision zu Gunsten des konkurrierenden Rechtsguts ausgehen kann, ist dann Gegenstand der Rechtfertigungsprüfung. 2. Beschränkungen des Erstattungsanspruchs – seine gleichheits- und freiheitsrechtliche Dimension Der Erstattungsanspruch hat keine ausdrückliche Normierung im EG-Vertrag erfahren. Sein Wortlaut kann daher nicht zur Bestimmung seiner Schutzrichtung herangezogen werden. Aufschlussreich ist allerdings die Rechtsprechung des EuGH. Der Gerichtshof hat nicht nur den Anspruch als solchen aus einer Auslegung des Gemeinschaftsrechts hergeleitet,507 sondern ihm zugleich seine Schutzrichtung entnommen. In der Entscheidung Rewe begründete es den Doppelvorbehalt des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots und legte seine weitere Rechtsprechung damit auf eine freiheits- und eine gleichheitsrechtliche Schutzrichtung fest. Mit dem Äquivalenzgebot508 umschreibt der EuGH die Unzulässigkeit nationaler Verfahrensregelungen, die Erstattungsanträge, die auf einer aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen rechtsgrundlosen Vermögensverschiebung beruhen, weniger günstig behandeln als solche, die Vermögensverschiebungen betreffen, die aus innerstaatlichen Gründen rechtsgrundlos erfolgt sind. Damit anerkennt der EuGH eine gleichheitsrechtliche Verbürgung, auch wenn die Formulierung auf Ungleichbehandlungen aus besonderem Grund beschränkt ist. Terminologisch wird der gleichheitsrechtliche Charakter noch deutlicher an der älteren Bezeichnung des Äquivalenzgebots als Diskriminierungsverbot.509 506

Vgl. oben S. 48. Vgl. oben S. 50. 508 So die heute verwendete Bezeichnung etwa im Urteil vom 17.6.2004, C-30/02, Slg. 2004, I-6051 – Recheio, Rn. 17; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 34. 509 Vgl. etwa Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 62; Götz, EuR 1986, S. 29 (47); von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV, Rn. 36; Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV, Rn. 24. 507

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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Daneben erkennt der EuGH mit dem Effektivitätsgrundsatz510 – früher treffender als Beschränkungsverbot bezeichnet – auch eine freiheitsrechtliche Dimension der Erstattung an. Unzulässig sind ungerechtfertigte Beschränkungen, die die Verwirklichung der Erstattung übermäßig erschweren oder unmöglich machen. Im Gegensatz zum Äquivalenzgrundsatz sind auch unterschiedslos wirkende Maßnahmen erfasst. Der Doppelvorbehalt des Effektivitäts- und Äquivalenzgebots schützt damit den Erstattungsanspruch in gleichheits- wie in freiheitsrechtlicher Richtung. Auffallend ist die daraus folgende große Nähe zur Beschränkungsdogmatik der Grundfreiheiten. Obwohl der Wortlaut der Grundfreiheiten des EG-Vertrages jeweils entweder in eine gleichheits- oder in eine freiheitsrechtliche Richtung zu deuten scheint,511 kann es mittlerweile als gefestigte Rechtsprechung bezeichnet werden, dass alle Grundfreiheiten des EG-Vertrags sowohl eine gleichheitsrechtliche als auch eine freiheitsrechtliche Dimension aufweisen.512 Sie schützen vor ungerechtfertigten Diskriminierungen und Beschränkungen der Freiheiten. Grundfreiheiten und Erstattungsanspruch haben mithin ihre doppelte Schutzrichtung gemeinsam. Nicht zufällig hat der Gerichtshof die Schutzrichtung des Erstattungsanspruchs in großer Nähe zu den Grundfreiheiten platziert. Allerdings hat er den finalen Schritt, beide Bereiche auf eine einheitliche dogmatische Grundlage zu stellen, bislang nicht vollzogen. Dennoch sollte er die nahe Verwandtschaft von Grundfreiheiten und Erstattungsrecht zum Anlass nehmen, beide auf eine einheitliche dogmatische Fundierung zurückzuführen. Dabei sollte sich die Rechtsprechung zur Beschränkung der Erstattung hin zu der gefestigten Grundfreiheitsrechtsprechung entwickeln. Hierfür sprechen verschiedene systematische und teleologische Argumente. Eines der wesentlichen Argumente ist die vergleichbare Schutzbedürftigkeit des Rechtsträgers. Die Grundfreiheiten räumen dem Bürger einen Freiheitsbereich ein, der gegen staatliche Maßnahmen zu schützen ist, die entweder diesen Freiheitsbereich übermäßig stark einschränken oder ihn für einzelne Bürger stärker einschränken als für andere, obwohl für die Ungleichbehandlung kein anzuerkennender Grund besteht.

510 So die heute verwendete Bezeichnung etwa im Urteil vom 17.6.2004, C-30/02, Slg. 2004, I-6051 – Recheio, Rn. 17; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 34. 511 Das Diskriminierungsverbot stellen in den Vordergrund die Art. 39 Abs. 2, 50 Abs. 3 EGV; das Verbot ungerechtfertigter Beschränkungen die Art. 28/30 und 49 EGV; vgl. Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (755). 512 Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (755); Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 19 und 24; Frenz, Rn. 442 ff. und 456.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Der Erstattungsanspruch ist insoweit mit den Grundfreiheiten vergleichbar. Er räumt dem Bürger einen Anspruch darauf ein, Steuern erstattet zu bekommen, die der Staat aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen (auf der Primärebene) nicht hätte erheben dürfen. Auch dieses Recht des Bürgers kann als Freiheitsbereich begriffen werden, der durch staatliche Maßnahmen ausgehöhlt zu werden droht, indem diese die Erstattung entweder übermäßig erschweren oder sie bestimmten Bürgern aus gemeinschaftsrechtlich nicht anerkannten Gründen versagen. Der Erstattungsantragsteller ist hierdurch in einer vergleichbaren Situation wie ein Bürger, der von seinen Grundfreiheiten Gebrauch machen will. Seine „Freiheit“, rechtswidrig erhobene Steuern erstattet zu bekommen, wird in gleicher Weise durch nationale Maßnahmen bedroht, wie dies bei Grundfreiheitsberechtigten der Fall ist. Die Schutzbedürftigkeit des Erstattungsberechtigten bezieht sich gleichermaßen auf diskriminierende und unterschiedslos wirkende Verfahrensnormen des innerstaatlichen Rechts. Am Beispiel einer gegen Grundfreiheiten verstoßenden Steuererhebung lässt sich darüber hinaus zeigen, wie eng der personelle und sachliche Zusammenhang zwischen den Grundfreiheiten und dem Erstattungsanspruch ist bzw. sein kann. Verstößt die Steuererhebung auf Primärebene gegen Grundfreiheiten – etwa weil die Steuer in diskriminierender Weise erhoben wurde – ist derselbe Steuerpflichtige auf Sekundärebene in gleicher Weise darauf angewiesen, nicht erneut diskriminiert zu werden. Seine Interessenlage ist auf beiden Ebenen identisch, wenn auch einmal eine Grundfreiheit und das andere Mal der Erstattungsanspruch betroffen sind, so dass beide Maßnahmen an formal unterschiedlichen Maßstäben zu prüfen sind. Eng mit diesem Argument verbunden ist ein zweites. Das vom EuGH stets herangezogene Effektivitäts- und Äquivalenzgebot gewährt nur einen lückenhaften Schutz. Deutlich wird dies insbesondere beim Äquivalenzgebot. Er erscheint unmittelbar einsichtig, dass ein Mitgliedstaat den Ausschluss der Erstattung von Steuern nicht darauf stützen darf, dass der Antragsteller die Staatsangehörigkeit eines anderen Mitgliedstaates besitzt statt der des betreffenden Mitgliedstaats. Dennoch verstieße eine solche Regelung nicht gegen das Äquivalenzgebot, wie es vom EuGH definiert wird.513 Die zu den Grundfreiheiten entwickelte Beschränkungsdogmatik lässt solche Schutzlücken nicht entstehen, sondern schützt in umfassenderer Weise vor Ungleichbehandlungen. Es ist nicht einzusehen, wieso der umfassende Schutz der im grundfreiheitlich geschützten Freiheitsraum gewährt wird, im erstattungsrechtlichen Freiheitsraum nur unvollkommen verwirklicht werden sollte.

513 Das Äquivalenzgebot verbietet nur das Differenzierungskriterium „Ursprung des Erstattungsanspruchs“. Die Inländer- bzw. Ausländereigenschaft des Erstattungsberechtigten spielt in der herkömmlichen Definition keine Rolle, vgl. dazu unten S. 136. Allenfalls käme hier ein Fall einer mittelbaren Diskriminierung in Betracht.

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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Darüber hinaus ist mit einer Übernahme der grundfreiheitlichen Beschränkungsdogmatik eine erfreuliche Akzentverschiebung hin zu einer Fokussierung auf Individualschutz verbunden. Die Grundfreiheiten sind schon von ihrer Natur her in erster Linie Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat. Auch das Erstattungsrecht bezweckt nach Aussage des EuGH „den Schutz der dem Bürger aus dem Gemeinschaftsrecht erwachsenden Rechte“.514 Beide Bereiche sind damit auf das Ziel des Individualschutzes ausgerichtet. Es ist aber zumindest zweifelhaft, ob es dem EuGH bei der Anwendung des Effektivitätsgebots ebenfalls immer um den Schutz des Einzelnen geht, oder ob nicht mitunter ein abstrakter Wirksamkeitsanspruch des Gemeinschaftsrechts im Vordergrund steht.515 Richtigerweise müssen beide Bereiche aber vom Prinzip des Individualschutzes beherrscht sein. Ebenso wie die materiellen Regelungen zur Primärebene den Bürger vor bestimmten Steuerforderungen des Staates schützen, schützt das Erstattungsrecht den Bürger vor dem Fortbestand einer rechtswidrigen Steuererhebung. Schon aus diesem Grund sollte die konsequent individualschützend ausgerichtete Beschränkungsdogmatik der Grundfreiheiten auch auf das Erstattungsrecht Anwendung finden. Schließlich sprechen auch Gründe der Praktikabilität für eine Übertragung der zu den Grundfreiheiten entwickelten Gedanken. Während dort die Dogmatik seit Jahrzehnten fortentwickelt wurde, ist das steuerliche Erstattungsrecht doch immer ein Spezialgebiet geblieben, auch wenn die Zahl der Entscheidungen in letzter Zeit deutlich angestiegen ist. Schon wegen des deutlich umfangreicheren Fallmaterials sind viele Gedanken bei den Grundfreiheiten wesentlich breiter diskutiert worden. Dies zeigt sich vor allem bei den Rechtfertigungsmöglichkeiten von Beschränkungen. Während das Erstattungsrecht bislang keine explizite eigenständige Rechtfertigungsprüfung kennt, hat sich bei den Grundfreiheiten eine fein austarierte Abwägung herausgebildet. Die folgenden Überlegungen zeigen, dass keine praktischen Schwierigkeiten der Übertragung entgegenstehen. Vielmehr führt sie zu einer in weiten Teilen konsistenteren und vorhersagbareren Rechtsprechung.

514 EuGH, Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 14; Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5; Urteil vom 8.2.1996, C212/94, Slg. 1996, I-389 – FMC, Rn. 72 . 515 Vgl. nur Kopp/Ramsauer, Einführung, Rn. 62; Götz, EuR 1986, S. 29 (46); von Bogdandy/Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV, Rn. 36, wonach beim Effektivitätsgebot die „mitgliedstaatliche Gestaltungsautonomie“ gegen das „Gemeinschaftsinteresse an der Wirksamkeit ihrer Bestimmungen“ abzuwägen ist. Der Individualschutz des Betroffenen kommt hier nicht vor.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

a) Die gleichheitsrechtliche Dimension – Äquivalenz Mit dem Stichwort Äquivalenz umschreibt der EuGH das Verbot, Erstattungsansprüche, die auf Gemeinschaftsrechtsverstößen fußen, weniger günstig zu behandeln als gleichartige Klagen, die das innerstaatliche Recht betreffen.516 Es handelt sich hierbei eindeutig um eine gleichheitsrechtliche Verbürgung, die an die auf der Primärebene betroffene Rechtsordnung (Gemeinschaftsrecht oder nationales Recht) anknüpft und diesen Ursprung des Erstattungsanspruchs als Differenzierungskriterium ausschließt. Fraglich ist aber, ob mit dieser Formulierung die gleichheitsrechtliche Gewährleistung des Erstattungsanspruchs abschließend umschrieben ist oder ob sich dem Gemeinschaftsrecht weitere gleichheitsrechtliche Gewährleistungsaspekte entnehmen lassen. aa) Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit Besonders nahe liegt hierbei das Verbot einer Diskriminierung eines Erstattungsantragstellers wegen seiner Staatsangehörigkeit. Auch wenn sich die Unzulässigkeit einer entsprechenden Maßnahme aufdrängt, bedarf ein gemeinschaftsrechtliches Verbot einer Grundlage in den Verträgen. Der EuGH anerkennt im Gemeinschaftsrecht einen allgemeinen Gleichheitsgrundsatz als eines der ungeschriebenen Grundprinzipien des Gemeinschaftsrechts.517 Er erfasst grundsätzlich jeden Anknüpfungspunkt einer Differenzierung und stellt damit ein Diskriminierungsverbot ohne bestimmten Grund dar.518 Dieser Grundsatz hat eine Konkretisierung in verschiedenen Gemeinschaftsrechtsbestimmungen erfahren, die in ihrem jeweiligen Anwendungsbereich die Zulässigkeit bestimmter Anknüpfungspunkte für Ungleichbehandlungen ausschließen.519 In ihrem spezifischen Anwendungsbereich sind diese Diskriminierungsverbote dann vorrangig anzuwenden und verdrängen als speziellere Regelungen den allgemeinen Gleichheitssatz.520 Vorrangig sind in erster Linie die Grundfreiheiten, aber auch der Gleichheitssatz des Art. 12 EG. Er stellt ein Diskriminierungsverbot aus bestimmtem Grund, nämlich auf Grund der Staatsangehörigkeit, dar.521 Dabei 516

Siehe dazu oben S. 103. EuGH, Urteil vom 16.10.1980, 147/79, Slg. 1980, 3005 – Hochstrass, Rn. 7. Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 6; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 1. 518 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 2. 519 Vgl. jetzt auch die Grundrechtscharta, die nach Art. 51 Abs. 1 für alle Organe und Einrichtungen der Union gilt. In den Art. 20 ff. finden sich umfangreiche gleichheitsrechtliche Verbürgungen. Art. 21 Abs. 2 enthält ein Verbot der Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit, das allerdings hinter die speziellen Vorschriften des EUund des EG-Vertrages zurücktritt. 520 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 20. 517

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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ist dem Verbot einer Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit einer Person die Diskriminierung einer Gesellschaft wegen ihres satzungsmäßigen Sitzes gleichgestellt. Der Satzungssitz dient ebenso wie die Staatsangehörigkeit einer natürlichen Person dazu, die Zugehörigkeit zur Rechtsordnung eines Staates zu bestimmen.522 Art. 12 EG ist wegen seiner Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit eine besondere Ausformung des allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatzes,523 wobei er unter den gleichheitsrechtlichen Verbürgungen eine herausgehobene Stellung einnimmt. Das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 12 EG wird als „Leitmotiv“524, „Strukturprinzip“525 oder „Magna Charta“526 des Vertrags bezeichnet. Dem entsprechend ist auch sein Anwendungsbereich sehr weit; er ist mit dem des EG-Vertrages deckungsgleich (Art. 12 Abs. 1 EG).527 Die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Steuern erfolgt im Anwendungsbereich des EG-Vertrags und damit unter Geltung des Art. 12 EG. Dies ergibt sich bereits daraus, dass der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch auf Primärebene die Verletzung von Gemeinschaftsrechten voraussetzt und damit der erforderliche enge Zusammenhang besteht.528 Dem steht auch nicht entgegen, dass der Vollzug des Erstattungsanspruchs den Mitgliedstaaten obliegt und nach ihrem nationalen Recht erfolgt. Ganz im Gegenteil setzen die Mitgliedstaaten hiermit ein gemeinschaftsrechtliches Gebot um. Nach Ansicht des EuGH reicht es für 521

EuGH, Urteil vom 16.10.1980, 147/79, Slg. 1980, 3005 – Hochstrass, Rn. 7. Vgl. Art. 48 EGV. EuGH, Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038 – Commerzbank, Rn. 13; Urteil vom 21.9.1999, C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – St. Gobain, Rn. 35; Urteil vom 16.7.1998, C-264/96, Slg. 1998, I-4695 – ICI, Rn. 20. Generalanwalt Léger, Schlussanträge vom 2.5.2006, C-196/04, Slg. 2006, I-7997 – Cadbury Schweppes, Rn. 63; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 10. 523 EuGH, Urteil vom 16.10.1980, 147/79, Slg. 1980, 3005 – Hochstrass, Rn. 7; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 6; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 2. 524 von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 12 EGV, Rn. 1; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 4. 525 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 1. 526 Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 4. 527 Wegen der Anwendung, die nicht auf spezifische Fälle beschränkt ist, kann Art. 12 EGV im Gegensatz zu den Grundfreiheiten auch als allgemeines Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit bezeichnet werden; Holoubek, in: Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 8. Er darf jedoch nicht mit dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz als übergeordnetem Gleichheitsgedanken verwechselt werden, der Gleichbehandlung auch außerhalb von Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit garantiert. 528 Vgl. dazu auch EuGH, Urteil vom 2.2.1989, 186/87, Slg. 1989, 195 – Cowan/ Trésor public, Rn. 17, wo die Ausübung der Dienstleistungsfreiheit die Einschlägigkeit des Art. 12 EGV auf Schadensersatzebene begründet. Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 17. 522

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die Anwendung des Art. 12 EG aus, dass ein zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Maßnahmen erlassener innerstaatlicher Rechtsakt diskriminiert.529 Dieses erforderliche Mindestmaß der Verknüpfung der innerstaatlichen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht530 liegt bereits in der gemeinschaftsrechtlichen Gebotenheit des Anspruchs auf Erstattung. Darüber hinaus geht auch der EuGH offensichtlich davon aus, dass sich die Erstattung im Anwendungsbereich des Vertrags vollzieht. Andernfalls wäre er kompetenziell schon gar nicht in der Lage, die Erstattung zu fordern, geschweige denn Vorgaben für das mitgliedstaatliche Verfahren zu machen; schließlich ist die Kompetenz des EuGH mit dem Anwendungsbereich des Art. 12 EG identisch – beide sind auf den Anwendungsbereich des EG-Vertrages beschränkt (Art. 220 Abs. 1 EG). Es zeigt sich, dass das Erstattungsverfahren in den Geltungsbereich des Art. 12 EG fällt, so dass auch Diskriminierungen nach der Staatsangehörigkeit auf Grund von Art. 12 EG unzulässig sind. Anhaltspunkte dafür, dass die klassische Äquivalenzdefinition des EuGH für das Vollzugsrecht abschließend sein soll und damit die Anwendung des Art. 12 EG ausschließt, lassen sich der Rechtsprechung nicht entnehmen. Eine Beschränkung der Reichweite des Art. 12 EG verstieße nicht nur gegen den Wortlaut der Norm, sondern wäre auch mit teleologischen Argumenten nicht zu erklären. Warum sollte gerade im Steuerrecht, wo Art. 12 EG und die Grundfreiheiten als besondere Diskriminierungsverbote eine so prominente Rolle auf Primärebene spielen, auf Sekundärebene eine Ungleichbehandlung zulässig sein, die gegen das Leitmotiv des Vertrags verstößt? (1) Unmittelbare Diskriminierung Eine Diskriminierung wird in der Regel daran festgemacht, dass unterschiedliche Vorschriften auf gleichartige Situationen, oder dieselbe Vorschrift auf unterschiedliche Situationen angewandt werden.531 Als unmittelbar (oder direkt) wird die Diskriminierung bezeichnet, wenn die Staatsangehörigkeit selbst Tatbestandsmerkmal ist und damit Anknüpfungspunkt einer Ungleichbehandlung ist.532 Übertragen auf die Situation eines Erstattungsanspruchs bedeutet dies beispielsweise, dass ein Steuerpflichtiger, der einen Erstattungsanspruch in einem 529 Zuleeg, in: Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 11; Epiney, in: Calliess/Ruffert, Art. 12 EGV, Rn. 16. 530 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 1.7.1993, C-20/92, Slg. 1993, I-3777 – Hubbard/ Hamburger, Rn. 11 ff. Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 11. 531 So die ständige Rechtsprechung, vgl. etwa EuGH, Urteil vom 27.6.1996, C-107/ 94, Slg. 1996, I-3089 – Asscher, Rn. 40; Urteil vom 11.8.1995, C-80/94, Slg. 1995, I-2493 – Wielockx, Rn. 17. Frenz, Rn. 106. 532 Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 3 f.

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anderen als seinem eigenen Mitgliedstaat geltend macht, von diesem nicht schlechter behandelt werden darf, als dieser Staat Erstattungsansprüche seiner eigenen Staatsangehörigen behandelt. Ohne weiteres unzulässig sind demnach Verfahrensvorschriften, die für Angehörige anderer Staaten höhere Hürden errichten als für eigene Staatsangehörige.533 Aus dem Zusammenspiel des Art. 12 EG mit dem Erstattungsanspruch lässt sich folglich zwanglos die Unzulässigkeit einer offen diskriminierenden Regelung ableiten. Auch wenn die in der Rechtsprechung für das Äquivalenzgebot ständig gebrauchte Formel diese Situation nicht erfasst, wäre sie in einem entsprechenden Fall als zumindest rechtfertigungsbedürftige Beeinträchtigung des Erstattungsanspruchs einzustufen. Solche offensichtlichen Verstöße sind jedoch die seltene Ausnahme.534 Auch das deutsche Steuerverfahrensrecht ist derzeit frei von unmittelbaren Diskriminierungen. Keine Norm der Abgabenordnung knüpft an die Staatsangehörigkeit eines Steuerpflichtigen bzw. seinen Sitz an. Vor allem § 37 AO als Zentralnorm des Erstattungsrechts unterscheidet nicht nach der Staatsangehörigkeit des Antragstellers. (2) Mittelbare Diskriminierung In den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 1 EG sind nach ständiger Rechtsprechung auch mittelbare oder versteckte Diskriminierungen einbezogen. Darunter sind Diskriminierungen unter Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale als der Staatsangehörigkeit zu verstehen, die aber tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen.535 Der EuGH lässt es dabei ausreichen, dass die große Mehrzahl der von der Norm geregelten Fälle Angehörige anderer Mitgliedstaaten trifft,536 ohne dass dies der gesetzgeberischen Intention entsprechen muss.537 533 Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (71 f.); Hahn/Suhrbier-Hahn, DStZ 2002, S. 632 (640); Hahn, DStZ 2003, S. 489; ders., IStR 2002, S. 105. 534 Zur Pflicht für Ausländer in Deutschland, Prozesskostensicherheit zu stellen: EuGH, Urteil vom 1.7.1993, C-20/92, Slg. 1993, I-3777 – Hubbard/Hamburger und Urteil vom 26.9.1996, C-43/95, Slg. 1996, I-4661 – Data Delecta. Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (75). 535 EuGH, Urteil vom 29.10.1980, 22/80, Slg. 1980, 3427 – Boussac/Gerstenmeier, Rn. 9; Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038 – Commerzbank, Rn. 14; Urteil vom 19.3.2002, C-224/00, Slg. 2002, I-2965 – Kommission/Italien, Rn. 15; Urteil vom 23.1.1997, C-29/95, Slg. 1997, I-285 – Pastoors, Rn. 16; Urteil vom 8.7. 1999, C-254/97, Slg. 1999, I-4890 – Baxter, Rn. 10. Streinz, in: Streinz, Art. 12 EGV, Rn. 49; Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 4. 536 Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038 – Commerzbank, Rn. 14. Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13, Rn. 13. Generalanwalt Léger formuliert in Rn. 63 Schlussanträge Cadbury Schweppes (2.5.2006, C-196/04, Slg. 2006, I-7997), dass „vor allem“ Angehörige anderer Mitgliedstaaten betroffen sein müssen. 537 Statt der Anknüpfung an die tatsächlichen Auswirkungen schlägt Kingreen, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 13, Rn. 16, vor, dass eine

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Bedeutendster Fall einer (potentiellen) mittelbaren Diskriminierung im materiellen Steuerrecht ist die Unterscheidung zwischen Steuerinländern und -ausländern über ihren Wohnsitz bzw. gewöhnlichen Aufenthaltsort.538 Dieses Unterscheidungskriterium spielt im Steuerrecht die dominierende Rolle. Dem EuGH lag die Konstellation einer mittelbaren Diskriminierung im Zusammenhang mit einem Erstattungsanspruch bereits im Jahre 1993 vor. Die Commerzbank AG hatte Steuern in Großbritannien entrichtet, die nach dem einschlägigen Doppelbesteuerungsabkommen nicht hätten erhoben werden dürfen. Die britische Erstattungsnorm sah für Steuerausländer einen generellen Ausschluss von der Verzinsung des Erstattungsbetrags vor, während Erstattungen an Steuerinländer verzinst wurden.539 Zu Recht hielt der EuGH dies für eine mittelbare Diskriminierung, da es zumeist Gesellschaften mit Sitz außerhalb Großbritanniens sind, die in Großbritannien Steuerausländer sind.540 Im Commerzbank-Urteil konkretisierte der EuGH die Anforderungen des Gemeinschaftsrechts an das nationale Erstattungsrecht stellt, wenn eine Steuer aus innerstaatlichen Gründen bzw. auf Grund bilateraler Abkommen nicht hätte erhoben werden dürfen. In diesem Fall spielte das Gemeinschaftsrecht auf Primärebene für die Vereinbarkeit einer nationalen Steuererhebung mit Gemeinschaftsrecht keine Rolle. Zu Recht fand daher auf Sekundärebene der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch keine Anwendung. Diese Differenzierung wird auch im Urteil selbst deutlich, in dem nicht die Terminologie des Erstattungsrechts verwendet wird, sondern ausschließlich auf der Basis der Niederlassungsfreiheit argumentiert wird. Damit bestätigt der EuGH die Richtigkeit der Feststellung, dass nur dann, wenn auf Primärebene Gemeinschaftsrecht betroffen ist, ein eigenständiger Sekundäranspruch gewährt wird. Darüber hinaus wird erneut deutlich, wie notwendig die Konvergenz der grundfreiheitlichen Dogmatik, auf die in der Commerzbank-Entscheidung abgestellt wurde, und der Erstattungsdogmatik ist. Wäre auf Primärebene Gemeinschaftsrecht einschlägig gewesen, wäre das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot hinsichtlich der Erstattungspflicht zur Anwendung gekommen. So aber wurde direkt auf die Grundfreiheiversteckte Diskriminierung dann ausscheidet, wenn der Normgeber, in: der Lage ist, die Anforderungen mit anderen Gründen als mit der Staatsangehörigkeit zu begründen. Nur so ließen sich Zufallsergebnisse verhindern. Nach Kingreen kommt es also entgegen der bisherigen Formulierung des EuGH auf die Intention des Gesetzgebers an. 538 Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038 – Commerzbank, Rn. 14; Generalanwalt Léger in Rn. 63, Schlussanträge Cadbury Schweppes (2.5.2006, C-196/ 04, Slg. 2006, I-7997); Wernsmann, EuR 1999, 754 (758). 539 EuGH, Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038 – Commerzbank, Rn. 20. 540 In Deutschland könnten überhaupt nur Gesellschaften mit Satzungssitz im Ausland Steuerausländer sein, da schon ein Satzungssitz in Deutschland (§ 11 AO) die Inländereigenschaft begründet.

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ten zugegriffen. Die Situation des Unionsbürgers als Steuerpflichtigem ist in beiden Konstellationen jedoch vergleichbar; ihm sollte daher auch ein vergleichbarer Schutz durch das Gemeinschaftsrecht zuteil werden. Auch wenn der Erstattungsanspruch in der Commerzbank-Entscheidung nicht auf der gemeinschaftsrechtlichen Unzulässigkeit der Abgabenerhebung beruhte, sondern auf einem Verstoß gegen ein bilaterales Abkommen, formulierte der EuGH doch eine Anforderung an den (nationalen) Erstattungsanspruch, der sich durchaus auch auf gemeinschaftsrechtliche Erstattungssituationen übertragen lässt. Wenn das Gemeinschaftsrecht eine mittelbare Diskriminierung nach der Staatsangehörigkeit bzw. dem Sitz des Steuerpflichtigen schon dann verbietet, wenn sich der Erstattungsanspruch aus einem nationalen Sachverhalt ergibt, dann gilt dieses Verbot erst recht auch dann, wenn schon auf Primärebene Gemeinschaftsrechtsgüter betroffen sind.541 Art. 12 EG ist nach alledem auf gemeinschaftsrechtliche Erstattungsansprüche direkt anzuwenden. Er verleiht der gleichheitsrechtlichen Dimension des Erstattungsanspruchs vor allem Legitimation für das Verbot der Ungleichbehandlung wegen der Staatsangehörigkeit. Die klassische Äquivalenzdefinition steht dem nicht entgegen. Sie ist lediglich ein Beispiel für ein gemeinschaftsrechtlich verbotenes Differenzierungskriterium. bb) Diskriminierung nach der Ursache des Erstattungsanspruchs Die im Rahmen des Erstattungsanspruchs verwendete Äquivalenzdefinition des EuGH verbietet ausdrücklich die schlechtere Behandlung gemeinschaftsrechtlich begründeter gegenüber national begründeten Erstattungsansprüchen. Auch hier kann zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen unterschieden werden. Eine unmittelbare Diskriminierung nach der Ursache des Erstattungsanspruchs liegt vor, wenn eine nationale Verfahrensnorm allein deshalb einen Erstattungsanspruch strengeren Anforderungen unterwirft, weil er auf einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht auf der Primärebene gestützt wird. Denkbar ist auch eine mittelbare Diskriminierung, indem ein Unterscheidungs-

541 In der Commerzbank-Entscheidung (Urteil vom 13.7.1993, C-330/91, Slg. 1993, I-4038) ging es um eine Verfahrensnorm des nationalen Erstattungsrechts, die mittelbar diskriminierend wirkte, indem sie Gebietsfremden einen Zinsanspruch verwehrte und damit gegen Gemeinschaftsrecht verstieß. In gleicher Weise entschied der EuGH in der Rs. Marks & Spencer (Urteil vom 13.12.2005, C-446/03, Slg. 2005, I-10837), dass der Liquiditäts- und damit Zinsnachteil aus der bei grenzüberschreitenden Tätigkeiten nicht zugelassenen Verrechnung von Auslandsverlusten im Inland die Niederlassungsfreiheit beschränkt (vgl. dazu etwa Wernsmann/Nippert, FR 2006, S. 153 [154]). Beide Urteile erkennen somit an, dass Liquiditäts- oder Zinsnachteile Beschränkungen der Grundfreiheiten darstellen können.

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kriterium gewählt wird, das „zumeist“ nur auf Erstattungsansprüche Anwendung findet, die gemeinschaftsrechtlich begründet sind. (1) Unmittelbare Diskriminierung Im Fokus des Äquivalenzgebots stehen unmittelbare Diskriminierungen. Dies zeigt schon die beständig vom EuGH wiederholte Äquivalenzdefinition, nach der Erstattungsverfahren hinsichtlich gemeinschaftsrechtswidriger Steuern für den Steuerpflichtigen nicht ungünstiger ausgestaltet sein dürfen als solche, die auf entsprechende Situationen Anwendung finden, die nur innerstaatliches Recht betreffen.542 Klassische Fälle unmittelbarer Diskriminierungen sind selten. Einzig in der Rs. Dilexport wies der Gerichtshof dem nationalen Gericht die Aufgabe zu, zu untersuchen, ob eine nur auf gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte anwendbare Gesetzesänderung zu einer Schlechterstellung gegenüber nationalen Sachverhalten führt, ohne dass er das Ergebnis der Untersuchung vorwegnahm.543 Der Grund für das Fehlen unmittelbarer Diskriminierungen dürfte in erster Linie darin zu suchen sein, dass die Erstattungsregelungen in den meisten Mitgliedstaaten keine Differenzierung nach dem Grund der Erstattung vornehmen.544 So wie in Deutschland sämtliche Erstattungsverfahren unabhängig vom Grund für die Erstattung auf die Anspruchsgrundlage des § 37 Abs. 2 AO gestützt werden, sehen auch die meisten anderen Staaten kein eigenständiges Erstattungsverfahren für Gemeinschaftsrechtsfälle vor. Trotz der beständigen Betonung des klassischen Äquivalenzgebots in der Rechtsprechung des EuGH erklärt dies das Fehlen klarer Verstöße gegen dieses Gebot. In jüngster Zeit wies der EuGH noch einmal darauf hin, dass sich das Äquivalenzgebot nicht nur an die Gesetzgeber richtet. Auch die Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts muss diskriminierungsfrei erfolgen. Darauf machte der EuGH das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich seiner Auslegung des § 48 VwVfG aufmerksam. In der Rs. i-21 kam es streitentscheidend darauf an, ob die Bestandskraft einer Gebührenfestsetzung, die auf der TelekommunikationsLizenzgebühren-Verordnung545 beruhte, wegen der Nichtigkeit der Verordnung aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen durchbrochen werden musste. Im Vorla-

542 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 103; Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 85; Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003 – Grundig Italiana, Rn. 33. 543 EuGH, Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 31 bis 32. 544 Vgl. Hahn, DStZ 2003, S. 489 (493). 545 Verordnung vom 28.07.1991, BGBl. I 1997, S. 1936.

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gebeschluss führte das Bundesverwaltungsgericht aus, dass ein nach nationalem Recht zulässiger Grund für die Durchbrechung der Bestandskraft die offensichtliche Rechtswidrigkeit der Gebührenerhebung sei.546 Der EuGH wies das Bundesverwaltungsgericht darauf hin, dass sich die offensichtliche Rechtswidrigkeit des Bescheids nicht nur aus einem Verstoß gegen nationales Recht, sondern auch aus einem Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht ergeben könne; jede andere Auslegung verstieße direkt gegen das Äquivalenzgebot.547 (2) Mittelbare Diskriminierung Vorstellbar sind auch nationale Verfahrensregeln, die gemeinschaftsrechtliche Erstattungsansprüche mittelbar ungünstiger gestalten. Aus der Rechtsprechung sind auch hier nur wenige Fälle bekannt, in denen das nationale Recht gemeinschaftsrechtliche Erstattungsansprüche mittelbar diskriminiert hätte. Eine Norm verstößt nach der Entscheidung in der Rs. Weber’s Wine World 548 dann gegen das Äquivalenzgebot, wenn sie von einer belastenden Regelung nur Kläger ausnehme, in deren Klageverfahren der österreichische Verfassungsgerichtshof auf die Rechtswidrigkeit der Abgabenvorschrift erkannt hat, während Kläger, die dies unter Einschaltung des EuGH erstritten hätten, von der Belastung erfasst würden.549 Ob die österreichische Norm (§ 185 Abs. 4 Wiener Abgabenordnung, WAO) in diesem Sinne auszulegen ist, ließ er allerdings offen. Eine entsprechende Regelung würde danach differenzieren, welches Gericht die Unvereinbarkeit der Abgabennorm ausspricht. Bei einem Verstoß gegen eine Norm des Gemeinschaftsrechts wäre hierzu im Regelfall der EuGH berufen; bei einer nationalen Norm hingegen der Verfassungsgerichtshof. Die Unterscheidung nach dem erkennenden Gericht käme damit einer Unterscheidung gleich, die als Differenzierungskriterium darauf abstellt, ob die Ursache des Erstattungsanspruchs im nationalen oder im Gemeinschaftsrecht liegt. Soweit ersichtlich ist dies der einzige Fall geblieben, in dem sich der Gerichtshof mit einer mittelbaren Diskriminierung nach der Ursache des Erstattungsanspruchs auseinandergesetzt hat.

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BVerwG vom 07.07.2004, MMR 2005, S. 300 (301). EuGH, Urteil vom 19.9.2006, verb. Rs. C-392/04 und C-422/04, Slg. 2006, I-8559 – i-21, Rn. 69. Es ist allerdings fraglich, ob es dieser Betonung bedurft hätte, da der Vorlagebeschluss (vom 7.7.2004, MMR 2005, S. 300) keine Anhaltspunkte für eine beabsichtigte, äquivalenzwidrige Auslegung geliefert hatte. 548 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World. 549 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 108. 547

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

cc) Rückwirkende Verschärfung verfahrensrechtlicher Hürden Ein weiterer Anwendungsfall des Äquivalenzgebots könnten die Fälle sein, in denen Mitgliedstaaten in zeitlichem Zusammenhang mit einem EuGH-Urteil die Voraussetzungen für die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen verschärfen, um dessen finanzielle Auswirkungen auf die Staatshaushalte zu begrenzen.550 Die mittlerweile recht zahlreichen Fälle haben gemeinsam, dass der Wortlaut der Neuregelung in keinem Fall ausdrücklich auf gemeinschaftsrechtlich begründete Erstattungsansprüche begrenzt war. Ihrem Wortlaut nach waren die Verfahrensnormen auf alle Erstattungsansprüche anwendbar; tatsächlich wurden von der Neuregelung jedoch weit überwiegend gemeinschaftsrechtliche Sachverhalte erfasst. Gerade auf diese zielten die nationalen Gesetzgeber mit ihren Änderungen auch ab,551 was der EuGH in den jeweiligen Urteilen mehrfach ausdrücklich feststellte.552 Betrachtet man diese Konstellationen aus der Perspektive des Verbots mittelbarer Diskriminierungen nach der Ursache des Erstattungsanspruchs, scheint es zunächst, als seien dies klare Fälle einer verbotenen Diskriminierung, da die „große Mehrzahl“ der betroffenen Fälle grenzüberschreitenden Charakter haben. Dabei darf man jedoch nicht aus den Augen verlieren, dass eine mittelbare Diskriminierung die Anwendung eines Unterscheidungskriteriums erfordert, das im Ergebnis zu einer Gruppenbildung führt, die einer direkten Verwendung eines verbotenen Kriteriums entspricht. Unerlässlich ist daher, dass überhaupt ein Differenzierungskriterium zur Anwendung kommt. Ein Äquivalenzverstoß setzt immer voraus, dass eine Fallgruppe anders als eine andere behandelt wird. Das aber geschah in den Fällen der Gesetzesänderungen gerade nicht. Die Neuregelung war von der Gesetzestechnik her auf alle Erstattungsfälle anwendbar. Die bloße Intention des Gesetzgebers, durch die Neuregelung gerade eine bestimmte Gruppe von Anspruchstellern zu treffen, kann das Fehlen eines Unterschei-

550

Es geht hierbei um die Fallgruppe „Urteil“. Vgl. dazu oben S. 108. Im Zusammenhang mit Urteilen des EuGH zum Mehrwertsteuersystem stellte der britische Generalzahlmeister zunehmende Risiken für den Staatshaushalt fest; zitiert nach EuGH, Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 8. Die österreichischen Bundesländer befürchteten nach den Schlussanträgen des Generalanwalts in der Rs. Evangelischer Krankenhausverein Wien (Urteil vom 9.3.2000, C437/97, Slg. 2000, I-1157), „erhebliche Beträge zurückzahlen zu müssen“, und führten daher einen Erstattungsausschluss ein, wenn die gemeinschaftsrechtswidrige Steuer auf Dritte abgewälzt werden konnte, vgl. EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 14. 552 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 14 und Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 8. 551

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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dungskriteriums im Gesetzestext auch dann nicht kompensieren, wenn es in innerstaatlichen Sachverhalten häufiger zu einer Erstattung kommt als in gemeinschaftsrechtlichen. Zu Recht hat der EuGH in den einschlägigen Entscheidungen das Äquivalenzgebot daher nicht erwähnt. Betroffen ist nicht die gleichheits-, sondern die freiheitsrechtliche Verbürgung des Erstattungsrechts. dd) Zwischenergebnis Die Bestandsaufnahme zeigt, dass die gleichheitsrechtliche Schutzrichtung des Erstattungsanspruchs sowohl Differenzierungen nach der Staatsangehörigkeit des Antragstellers als auch nach der Ursache des Erstattungsanspruchs erfasst. Das Verbot der Anknüpfung an die Staatsangehörigkeit kann dabei unmittelbar aus Art. 12 Abs. 1 EG gewonnen werden. Die Anknüpfung an die Ursache des Erstattungsanspruchs ist dagegen eine bereichsspezifische Ausformung des Diskriminierungsverbots, die ihren Ursprung in der Äquivalenzrechtsprechung des Gerichtshofs und mittelbar in dem allgemeinen Gleichheitsgebot des Gemeinschaftsrechts hat. Verboten sind jeweils unmittelbare wie mittelbare Diskriminierungen. Dennoch spielt die gleichheitsrechtliche Dimension des Erstattungsanspruchs nur eine untergeordnete Rolle.553 Die meisten Mitgliedstaaten verzichten in ihrem Verfahrensrecht auf Sonderrecht, das gerade gegen gemeinschaftsrechtliche Erstattungen gerichtet ist, indem es zwischen gemeinschaftsrechtlichen und anderen Erstattungsansprüchen unterscheidet. Die durchaus häufigen Bemühungen, die Erstattung rechtswidrig erhobener Abgaben durch Gesetzesänderungen zu erschweren, sind nicht am Diskriminierungsverbot zu messen. b) Die freiheitsrechtliche Dimension – Effektivität Eine beschränkende nationale Verfahrensnorm ist nicht nur auf ihre Diskriminierungsfreiheit, sondern auch darauf zu untersuchen, ob sie die freiheitsrechtliche Dimension des Erstattungsanspruchs beeinträchtigt. Die freiheitsrechtliche Dimension erfasst der EuGH über den Effektivitätsvorbehalt,554 dessen Definition signifikant von der Definition einer Beschränkung der Grundfreiheiten, wie sie im Anschluss an die Entscheidung in der Rs. Dassonville555 entwickelt wurde, abzuweichen scheint. Bei den Grundfreiheiten liegt die Eingriffsschwelle mit einer „unmittelbaren oder mittelbaren, tatsäch553 554 555

So auch Tatham, E.L.Rev. 1994, 19(2), 146 bei Fn. 103. Zu Inhalt und Herleitung aus Sicht des EuGH siehe S. 95. EuGH, Urteil vom 11.7.1974, 8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

lichen oder potentiellen Behinderung“556 recht niedrig, während beim Effektivitätsvorbehalt immerhin eine „übermäßige Erschwerung“ erforderlich ist. Bereits geringfügige Behinderungen können eine Beschränkung der Grundfreiheiten darstellen,557 während eine vergleichbare Maßnahme bei der Erstattung unberücksichtigt bliebe. Die hier befürwortete Konvergenz der Grundfreiheits- und Erstattungsdogmatik scheint damit zunächst nicht im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH zu stehen. Allerdings belegt ein Vergleich der beiden Definitionen nicht zwingend, dass der EuGH bei der Erstattung einen im Ergebnis anderen Maßstab anwendet als bei Grundfreiheitsbeschränkungen. Zu berücksichtigen ist nämlich, dass eine ausdrückliche Rechtfertigungsprüfung, die bei den Grundfreiheiten erst die Ausgewogenheit des Ergebnisses sicherstellt, im Erstattungsrecht nicht erfolgt. In der Rechtsprechung wird beim Effektivitätsgebot nicht in vergleichbarer Weise zwischen Eingriff und Rechtfertigung unterschieden. Wird im Erstattungsrecht unter Einbeziehung der Rechtfertigungsebene die von den Grundfreiheiten her bekannte dreistufige Prüfung angewendet, zeigen sich Ergebnisse, die mit der Prüfung am Maßstab der übermäßigen Erschwerung vergleichbar sind. Bei den Grundfreiheiten wird die niedrige Eingriffsschwelle kompensiert durch eine verhältnismäßig offene Rechtfertigungsfähigkeit von Beschränkungen. Bei einer Gesamtbetrachtung von Beschränkungs- und Rechtfertigungsebene liegen die Ergebnisse der Grundfreiheitsprüfung und der derzeit praktizierten Erstattungsprüfung nicht mehr all zu weit auseinander. Zugleich ist die Aufteilung zwischen Eingriff und Rechtfertigung bei der Erstattung aus inhaltlichen und systematischen Gründen geboten. Zunächst sprechen inhaltliche Gründe für eine Differenzierung zwischen Eingriff und Rechtfertigung. So ist beispielsweise nicht erklärbar, warum eine mäßige (aber nicht übermäßige) Erschwerung der Erstattung zulässig sein sollte, wenn sie durch keinerlei legitime Ziele zu rechtfertigen ist. Eine – wenn auch geringfügige – Beschränkung der Erstattung kann nicht hingenommen werden, wenn dem Gebot der Rechtsrichtigkeit keinerlei gegenläufige Rechtsgüter gegenüberstehen. Die Beschränkung wäre eine willkürliche Verkürzung der Rechte des Bürgers, die ihm durch das Gemeinschaftsrecht eingeräumt werden. Hingegen kann auch eine hohe Hürde – wie etwa die erschwerte Änderbarkeit eines Steuerbescheids ab Bestandskraft – durchaus zulässig sein, wenn mit ihr in angemessener Weise gemeinschaftsrechtlich anerkannte Ziele – wie etwa die Rechtssicherheit – verfolgt werden. Das Maß der Erschwerung als solches kann 556

Vgl. EuGH, Urteil vom 11.7.1974, 8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville, Rn. 5. EuGH, Urteil vom 11.10.1973, 39/73, Slg. 1973, 1039 – Rewe/Landwirtschaftskammer Westfalen-Lippe, Rn. 3; Urteil vom 11.3.2004, C-9/02, Slg. 2004, I-2409 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, Rn. 43. Bröhmer, in: Calliess/Ruffert, Art. 43 EGV, Rn. 29; Hahn, IStR 2002, S. 105. 557

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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nur ein Indiz für die Zulässigkeit einer Beschränkung sein. Eine endgültige Entscheidung über die Zulässigkeit lässt sich erst dann treffen, wenn auch die für die Beschränkung sprechenden Gesichtspunkte auf der Rechtfertigungsebene angemessen berücksichtigt werden. Unausgesprochen liegt die Aufteilung in Beschränkung und Rechtfertigung auch der Rechtsprechung zum Effektivitätsgebot zu Grunde. Deutlich wird dies vor allem in den Entscheidungen zur Zulässigkeit von (Anfechtungs-)Fristen. Hier ist anerkannt, dass die „Festsetzung angemessener Rechtsbehelfsfristen in Form von Ausschlussfristen grundsätzlich dem Erfordernis [der Effektivität entspricht], weil sie ein Anwendungsfall des grundlegenden Prinzips der Rechtssicherheit ist.“558 Derartige Fristen können daher „nicht als so geartet angesehen werden, dass sie die Ausübung der durch die Gemeinschaftsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, selbst wenn ihr Ablauf per definitionem zur vollständigen oder teilweisen Abweisung der Klage führt.“559 Diese Rechtsprechung ist nur zu erklären, wenn man davon ausgeht, dass mit der Betonung der „Übermäßigkeit“ ein Abwägungselement angesprochen wird. In die Abwägung stellt der EuGH das Prinzip der Rechtssicherheit ein und gelangt so zur Zulässigkeit der Fristenregelung. Diese Abwägung ist der klassische Bereich der Rechtfertigungsebene. Wünschenswert ist daher, dass der EuGH diese inhaltliche Ausrichtung auch in seiner Prüfungssystematik zum Ausdruck bringt. Ein Vorbild liefert gerade die grundfreiheitliche Dogmatik, bei der der dreistufige Prüfungsaufbau von jeher anerkannt ist und sich bewährt hat. Auf diese Weise lässt sich dann auch untersuchen, welche Rechtfertigungsgründe, die neben der Rechtssicherheit im Bereich der Grundfreiheiten diskutiert werden, Eingang in eine Rechtfertigung einer Beschränkung des Erstattungsanspruchs finden können. Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist daher die klassische Definition der Beschränkung der Grundfreiheiten, insoweit wie sie einheitlich bei allen Grundfreiheiten zur Anwendung kommt. aa) Definition der Beschränkungen von Grundfreiheiten In ihrer freiheitsrechtlichen Dimension verbieten die Grundfreiheiten nationale Maßnahmen, die die Ausübung der jeweiligen Grundfreiheit unmittelbar 558 EuGH, Urteil vom 28.11.2000, C-88/99, Slg. 2000, I-10465 – Roquette Frères, Rn. 22; Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5; Urteil vom 16.12.1976, 45/76, Slg. 1976, 2043 – Comet, Rn. 11/18; Urteil vom 10.7.1997, C-261/95, Slg. 1997, I-4025 – Palmisani, Rn. 28. 559 EuGH, Urteil vom 28.11.2000, C-88/99, Slg. 2000, I-10465 – Roquette Frères, Rn. 23; Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 48.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

oder mittelbar, tatsächlich oder potentiell behindern.560 Diese zunächst für die Warenverkehrsfreiheit entwickelte Funktion der Grundfreiheiten als Freiheitsrecht wurde durch den EuGH sukzessive auf alle Grundfreiheiten ausgedehnt,561 auch wenn sie sich nicht bei allen Grundfreiheiten dem Wortlaut ohne weiteres entnehmen lässt.562 Nicht immer lässt sich trotz dieser Definition eine Beschränkung mit der notwendigen Sicherheit identifizieren, und auch die Abgrenzung zur gleichheitsrechtlichen Dimension des Diskriminierungsverbots ist nicht unumstritten.563 Dennoch weist schon die ursprüngliche Formulierung des EuGH, dass die Ausübung der Grundfreiheiten nicht behindert oder weniger attraktiv gemacht werden darf,564 auf eine zweifache Schutzrichtung hin. Einerseits darf eine nationale Maßnahme keinen Lenkungseffekt auslösen, der die Attraktivität einer solchen Tätigkeit schmälert und dadurch auf den Grundfreiheitsberechtigten einwirkt und ihn von der Ausübung der grundfreiheitlich geschützten Tätigkeit abhält.565 Andererseits darf die Ausübung einer Grundfreiheit rein tatsächlich nicht als Aufhänger für eine Belastungsentscheidung genommen und damit behindert werden. Dem Beschränkungsverbot lässt sich mithin eine subjektive und eine objektive Komponente entnehmen. Auch wenn sich die beiden Komponenten vielfach überschneiden, so helfen sie doch, die Anforderungen an eine Beschränkung besser zu strukturieren.

560

EuGH, Urteil vom 11.7.1974, 8/74, Slg. 1974, 837 – Dassonville, Rn. 5. Dienstleistungsfreiheit, Urteil vom 3.12.1974, 33/74, Slg. 1974, 1299 – van Binsbergen, Rn. 10 ff.; Arbeitnehmerfreizügigkeit, Urteil vom 15.12.1995, C-415/93, Slg. 1995, I-4921 – Bosman, Rn. 92 ff.; Niederlassungsfreiheit, Urteil vom 30.11. 1995, C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard, Rn. 34 ff.; die Kapitalverkehrsfreiheit wirkt bereits nach ihrem Wortlaut als Beschränkungsverbot (Art. 56 EGV), vgl. exemplarisch Urteil vom 6.6.2000, C-35/98, Slg. 2000, I-4073 – Verkooijen, Rn. 31 ff.; vgl. auch Frenz, Rn. 439; Müller-Graff, EuR Beiheft 1/2002, S. 7 (45). 562 Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 107; Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 24; Herdegen, § 15, Rn. 3; zur Konvergenz der Grundfreiheiten allgemein Epiney, in: Calliess/Ruffert, 2. Auflage, Art. 28 EGV, Rn. 57. Speziell für die zweifache Schutzrichtung im Steuerrecht Terra/Wattel, S. 33. 563 Müller-Graff, EuR Beiheft 1/2002, 7 (45 ff.): Nach seiner Ansicht ist es möglich, das Diskriminierungsverbot auf offene Diskriminierungen zu beschränken und die versteckten Diskriminierungen unter das Beschränkungsverbot zu fassen. So für den Regelfall auch Frenz, Rn. 439. Zugleich ließe sich aber auch vertreten, das Beschränkungsverbot zu Gunsten eines erweiterten Diskriminierungsverbots aufzugeben; auch Streinz, Rn. 798. 564 EuGH, Urteil vom 30.11.1995, C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard, Rn. 37. Vgl. Frenz, Rn. 456. 565 Vgl. EuGH, Urteil vom 11.3.2004, C-9/02, Slg. 2004, I-2409 – Hughes de Lasteyrie du Saillant, Rn. 45: „Da er für Steuerpflichtige, die sich in einem anderen Mitgliedstaat niederlassen wollen, zumindest abschreckende Wirkung hat.“ 561

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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bb) Übertragung auf Erstattungskonstellationen In Erstattungsfällen wird die subjektive Komponente, also die verringerte Attraktivität, in der Regel keine Rolle spielen. Sie verbietet lediglich Regelungen, die auf den Unionsbürger entmutigend wirken, von seinen Grundfreiheiten Gebrauch zu machen. In Rückabwicklungsfällen kann aber regelmäßig auf den Bürger nicht mehr eingewirkt werden; seine Willensbildung für den streitursächlichen Sachverhalt ist bereits abgeschlossen. Die Besonderheit der Erstattungssituation ist die retrospektive Betrachtung einer zunächst abgeschlossenen Steuererhebung. Dem entsprechend verfolgt der Gesetzgeber mit beschränkenden Verfahrensnormen niemals das Ziel der Verhaltenslenkung. Im Vordergrund stehen Überlegungen der Praktikabilität, Rechtssicherheit oder Haushaltssicherung. Erstattungssachverhalte werden daher regelmäßig von der objektiven Komponente, dem Behinderungsverbot, erfasst. In dieser Variante setzt die Formel des EuGH nicht voraus, dass (grund-)freiheitliche Überlegungen einen konkreten Niederschlag in der Willensbildung des Bürgers gefunden haben. Es genügt vielmehr, wenn die Folgen einer rechtswidrigen Steuererhebung nicht ohne weiteres beseitigt werden können und mithin der Steuerpflichtige belastet bleibt. Die Belastung kann dabei entweder ihren Ausdruck darin finden, dass es nicht zur vollständigen „Erstattung der etwa zu Unrecht erhobenen Steuerbeträge“566 kommt, sie kann aber auch darin liegen, dass eine vollständige Erstattung nur unter besonderen Anforderungen erstritten werden kann, wenn – mit anderen Worten – die Durchsetzung des Anspruchs erschwert ist. cc) Beschränkungen des Erstattungsanspruchs Das Spektrum möglicher Beschränkungen der Erstattung zu Unrecht erhobener Steuern ist groß. Im Wesentlichen lassen sie sich in zeitliche, verfahrensspezifische und sachliche Grenzen der Erstattung unterteilen. Erstere verkürzen die Zeitspanne, für die eine Erstattung verlangt werden kann, während die beiden letzteren die Erstattung als solche erschweren. (1) Zeitliche Grenzen (Fristen) Die Anfechtungsfrist für Steuerbescheide ist die in der Praxis bedeutsamste nationale Grenze des Erstattungsanspruchs und stand zugleich in der Rs. Rewe als erste auf dem Prüfstand des EuGH. Wird ein Steuerbescheid nicht angefochten, tritt in der Regel nach einem Monat Bestandskraft ein. Eine Änderung des

566

Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, S. 1185.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Steuerbescheids ist dann nur noch ausnahmsweise möglich.567 Auf der Basis der formellen Rechtsgrundtheorie ist damit zugleich eine Erstattung rechtswidrig erhobener Abgaben ausgeschlossen. Die Bestandskraft perpetuiert die Vermögensverschiebung mit dem Ergebnis, dass jegliche Folgenbeseitigung unterbleibt. Es liegt somit eine definitive Beschränkung des Erstattungsanspruchs vor. Auch Verjährungsfristen entfalten eine beschränkende Wirkung in zeitlicher Hinsicht. Anders als in vielen anderen Mitgliedstaaten spielen in Deutschland die Festsetzungsverjährung (§§ 169 ff. AO) und die Zahlungsverjährung (§§ 228 ff. AO) als Beschränkungen eines Erstattungsanspruchs allerdings nahezu keine Rolle.568 Da die Einspruchsfrist erheblich kürzer ist als die Frist der Festsetzungsverjährung und ein anhängiges Rechtsbehelfsverfahren darüber hinaus den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmt (§ 171 Abs. 3a AO), weist die Festsetzungsverjährung in Erstattungskonstellationen nahezu keine zusätzliche Beschränkungswirkung auf.569 Die Zahlungsverjährung ist nahezu bedeutungslos, da nur ein zunächst entstandener Erstattungsanspruch überhaupt verjähren kann. Da dieser Anspruch wegen § 37 Abs. 2 AO aber erst mit der Änderung oder Aufhebung des aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen rechtswidrigen Steuerbescheids entsteht, ist die vorgelagerte Hürde der Änderung des Steuerbescheids die maßgebliche. Ganz anders stellt sich dies in den Mitgliedstaaten dar, die nicht dem Bestandskraftmodell folgen, sondern Steuerrückzahlungen über das (zivilrechtliche) Rechtsinstitut der ungerechtfertigten Bereicherung abwickeln. Mangels einer vorgelagerten Hürde der Einspruchsfrist ist die Zahlungsverjährung die einzige Schranke in zeitlicher Hinsicht, was zu mitunter erheblichen Erstattungszeiträumen führen kann.570 Anfechtungs- und Verjährungsfristen sind somit nationale Maßnahmen, die die Geltendmachung des Erstattungsanspruchs für bestimmte Zeiträume endgültig ausschließen. Sie wirken insoweit definitiv beschränkend auf die Erstattung ein. Ganz ähnlich wie Anfechtungs- und Verjährungsfristen wirken Präklusionsnormen, wie sie Gegenstand der Entscheidung Peterbroeck waren.571 Auch hier 567

Vgl. oben S. 76. Vgl. oben S. 85. 569 Das gilt jedenfalls für die Änderung auf Antrag oder Einspruch des Steuerpflichtigen. Bei einer Änderung von Amts wegen erlangt sie theoretisch Bedeutung; hier fehlt es im Regelfall aber schon an einer einschlägigen Korrekturnorm, um Steuerfestsetzungen noch zu ändern. 570 Vgl. etwa die 30-jährige Verjährungsfrist nach französischem Recht; dazu Urteil vom 16.7.1992, C-163/90, Slg. 1992, I-4625 – Legros, Rn. 29. 571 Gegenstand der Entscheidung war eine Ausschlussfrist von 60 Tagen für neue Rügen, die ab der Übersendung der Verfahrensakten an das Finanzgericht durch die Verwaltung zu laufen begann. Vgl. Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 6. 568

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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kann eine Belastung nach Ablauf einer bestimmten Zeitspanne nicht mehr beseitigt werden, wenn die Rechtsrügen oder Tatsachenvorträge, die dem Rechtsbehelf zum Erfolg verholfen hätten, nicht mehr berücksichtigt werden können. Das deutsche Steuerverfahrensrecht kennt eine Präklusion im Einspruchsverfahren (§ 364b Abs. 2 S. 1 AO) und im Klageverfahren (§§ 76 Abs. 3 und 79b Abs. 3 S. 1 FGO). Anders als im belgischen Recht, das Gegenstand der Entscheidung Peterbroeck war, ist im deutschen Recht allerdings die Rüge der Rechtswidrigkeit einer Entscheidung nicht präklusionsfähig;572 es gilt der Grundsatz iura novit curia. Präklusionsfähig ist allein der Tatsachenvortrag des Steuerpflichtigen.573 Auch wenn der Steuerpflichtige einen Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht nicht vorträgt, hat die Finanzbehörde bzw. das Gericht von Amts wegen zu untersuchen, ob auf der Basis der zu Grunde zu legenden Tatsachen ein Gemeinschaftsrechtsverstoß in Betracht kommt.574 Die deutschen und belgischen Präklusionsnormen unterscheiden sich somit hinsichtlich ihrer Eingriffstiefe. Durch den Ausschluss von Rechtsrügen ist ein Gericht gezwungen, gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkte, die sich ihm nach dem vorgetragenen Sachverhalt aufdrängen, dennoch außer Acht zu lassen, sofern eine entsprechende Rüge nicht erhoben wurde. Das Gericht lässt damit gegebenenfalls bewusst Gemeinschaftsrecht unangewendet. Wird hingegen nur Tatsachenvortrag präkludiert, kann das Gericht auf der Basis des ihm vorliegenden Sachverhalts objektiv „richtig“ entscheiden und gemeinschaftsrechtliche Aspekte von Amts wegen berücksichtigen. Auf diese Weise wird ein wissentliches Außerachtlassen des Gemeinschaftsrechts verhindert. Dennoch beschränkt auch eine solche Regelung den Erstattungsanspruch, da bei verspätetem Tatsachenvortrag eine gemeinschaftsrechtswidrige Steuererhebung unter Umständen nicht rückabgewickelt wird. Unabhängig von der jeweiligen Ausgestaltung wirken damit Präklusionsfristen grundsätzlich beschränkend. Im Ergebnis beschränken alle genannten Fristen den Erstattungsanspruch, ohne dass es auf die Art oder die Länge der Frist ankäme. Auch eine Frist von 572

Vgl. auch Müller, Anmerkung zu Rs. C-312/93 – Peterbroeck, FR 1996, S. 628

(631). 573

Vgl. Pahlke, in: Pahlke/König, § 364b, Rn. 31. Müller, FR 1996, S. 628 (631) geht meines Erachtens unzutreffend davon aus, dass auf Grund der Rs. Peterbroeck (Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599) ein gemäß § 364b AO, § 76 Abs. 3 FGO verspätetes Vorbringen dennoch zu berücksichtigen sei. Er verkennt dabei, dass der EuGH das belgische Recht nur insoweit für gemeinschaftsrechtswidrig hielt, wie es einem Gericht verbietet, von Amts wegen die Vereinbarkeit eines innerstaatlichen Rechtsaktes mit dem Gemeinschaftsrecht zu prüfen. Der Gerichtshof äußerte sich gerade nicht dazu, ob es geboten ist, verspätet vorgebrachte Tatsachen zu berücksichtigen, aus denen sich erst die Gemeinschaftsrechtsrelevanz des Sachverhaltes ergibt. Die umfassende Prüfung der Rechtmäßigkeit auf der Basis des vorliegenden Sachverhalts ist deutschen Finanzgerichten immer unbenommen. 574

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

mehreren Jahren führt dazu, dass nach ihrem Ablauf der Erstattungsanspruch endgültig zurücktritt. Die Länge der Frist ist lediglich Ausdruck der Beschränkungsintensität. Sie ist daher bei der Frage zu berücksichtigen, ob der Eingriff in seiner konkreten Gewichtigkeit rechtfertigungsfähig ist; rechtfertigungsbedürftig ist eine zeitliche Schranke in jedem Fall. (2) Verfahrensspezifische Grenzen Der EuGH hat sich sowohl auf Primär- als auch auf Sekundärebene mit den aus dem Gemeinschaftsrecht zu gewinnenden Anforderungen an das Beweisrecht auseinandergesetzt. In Entscheidungen zur Primärebene schloss er aus, dass Beweisschwierigkeiten bzw. die Schwierigkeit der Administration grenzüberschreitender Vorgänge eine Beschränkung der Grundfreiheiten rechtfertigen können.575 Auf Sekundärebene ging es häufig darum, wer die Beweislast für das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen des Erstattungsanspruchs zu tragen hat.576 Aber auch die Zulässigkeit von Beweismittelbeschränkungen wurde problematisiert.577 Trennt man die Frage der Beschränkung des Erstattungsanspruchs von der Frage nach dessen möglicher Rechtfertigung, so ist auch hier die Hürde für eine Beschränkung in Übereinstimmung mit dem allgemeinen Beschränkungsbegriff nicht all zu hoch anzusetzen. Jede Regel des Beweisrechts, die es dem Erstattungsberechtigten erschwert, seine Rechte geltend zu machen, beschränkt den Erstattungsanspruch in rechtfertigungsbedürftiger Weise. In der Praxis sind Dokumentationsschwierigkeiten von erheblicher Bedeutung. Sie stellen sich vor allem dann, wenn die einschlägigen Anfechtungs- und Verjährungsfristen die Erstattung prinzipiell für einen langen Zeitraum in die Vergangenheit hinein zulassen. Hier kann schon der Nachweis einer Steuerzahlung schwierig zu führen sein. Plastisch wird dies bei der durch die Rs. Manninen ausgelösten Antragsflut auf Anrechnung von Körperschaftsteuer für aus 575 So etwa EuGH, Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477 – Manninen, Rn. 54; Urteil vom 4.3.2004, C-334/02, Slg. 2004, I-1897 – Kommission/Frankreich, Rn. 29; Urteil vom 14.2.1995, C-279/93, Slg. 1995, I-294 – Schumacker, Rn. 45; Urteil vom 3.10.2002, C-136/00, Slg. 2002, I-8147 – Danner, Rn. 49. 576 EuGH, Urteil vom 25.2.1988, verb. Rs. 331/85, 376/85 und 378/85, Slg. 1988, 1099 – Bianco und Girard, Rn. 17; Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 19 ff. Zur Unzulässigkeit von Vermutungen für eine Abwälzung zu Unrecht gezahlter Abgaben vgl. auch Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 101. Angesprochen wurde die Frage der Beweislast beim Erstattungsausschluss wegen Abwälzung der Steuer auf Dritte von der dänischen Regierung bereits in Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 19. Die Entscheidung selbst enthält hierzu dann aber keine Ausführungen. 577 Etwa im Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 14.

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dem Ausland bezogene Dividenden auf die eigene Einkommensteuer (vgl. § 36 Abs. 2 S. 2 Nr. 3 EStG 1999). Hier ist zunächst der Empfang einer Dividende und dann die auf diese Dividende entfallende Körperschaftsteuer nachzuweisen. Während der Empfang einer Dividende durch Abrechnungsbelege recht einfach zu belegen ist, kann dies bei der auf eine einzelne Aktie entfallenden ausländischen Körperschaftsteuer schon schwieriger sein. Erforderlich ist die Kenntnis der von der Körperschaft insgesamt in dem betreffenden Wirtschaftsjahr im Ausland gezahlten Körperschaftsteuer und der Anzahl der Aktien, auf die sich die Zahlung verteilt. Diese Informationen sind für den einzelnen Aktionär nur schwer zu beschaffen. Je nach dem nationalen Recht, dem die Körperschaft unterliegt, kann es schon an einem entsprechenden Auskunftsanspruch des Aktionärs gegenüber der Körperschaft fehlen. Eine nationale Norm, die die Beweislast für solche Vorgänge dem Erstattungsberechtigten aufbürdet, stellt daher eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs dar. Um die Erhebung einer rechtswidrigen Steuer rückgängig machen zu können, werden von ihm aufwändige Nachforschungen verlangt, die gegebenenfalls ergebnislos bleiben. Trotz materieller Rechtswidrigkeit der Steuererhebung scheitert die Durchsetzung des Erstattungsanspruchs dann an verfahrensrechtlichen Anforderungen. Die Beweislast erschwert mithin die Geltendmachung von Erstattungsansprüchen, mitunter schließt sie sie auch gänzlich aus. Vor diesem Hintergrund stellt auch die besondere Mitwirkungspflicht bei Auslandssachverhalten nach § 90 Abs. 2 AO eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung des Erstattungsanspruchs dar.578 Die praktischen Schwierigkeiten im Zusammenhang mit der Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuern wurden von Generalanwältin Kokott579 angesprochen – allerdings nur prospektiv, nicht retrospektiv. Nach ihrer Ansicht gehen Nachweisschwierigkeiten zu Lasten des Aktionärs, ohne dass sie dabei auf die Besonderheiten der Sekundärebene eingegangen ist. Sollten die Mitgliedstaaten die Beweislast umfassend den Steuerpflichtigen zuweisen, läge darin nach allgemeinen Grundsätzen eine rechtfertigungsbedürftige Beschränkung. Von erheblicher Bedeutung sind darüber hinaus die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben, dass Erstattungsanträge teilweise im Ausland zu stellen sind.580 Ein ausländischer Antragsteller sieht sich mit dem Problem konfrontiert, häufig weder der Landes- (und damit der Verfahrenssprache) mächtig zu sein, noch mit dem Behördenaufbau vertraut zu sein. Bereits die Beachtung einfacher Formalien ist ohne lokale anwaltliche Unterstützung oft nicht möglich. Auf Grund 578

Vgl. Schnitger, BB 2002, S. 332 (333). Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 18.3.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7480 – Manninen, Rn. 77 f. 580 Vor allem bei der Erstattung von diskriminierend erhobenen Quellensteuern. Vgl. Urteil des EFTA-Gerichtshofes in der Rs. Fokus Bank. 579

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einer Kosten/Nutzen-Abwägung unterbleiben daher viele materiell-rechtlich durchaus aussichtsreiche Erstattungsanträge. Die Kumulation an sich selbstverständlicher Anforderungen (etwa Amtssprache, die mit der Landessprache übereinstimmt; die zuständige Behörde; Formerfordernisse) kann faktisch ebenfalls eine Beschränkung des Erstattungsrechts darstellen. (3) Sachliche Grenzen Neben den zeitlichen und verfahrensspezifischen Grenzen für eine Erstattung gibt es eine Reihe von sachlichen Grenzen, die im Ergebnis ebenfalls zu einem teilweisen oder vollständigen Ausschluss einer Erstattung führen. (a) Änderungsnormen Nicht ohne weiteres hierzu zählen die Änderungsnormen der Abgabenordnung. Sie führen – anders als die oben genannten Fristen – nicht zum Ausschluss einer Änderung eines Steuerbescheids zu Gunsten des Steuerpflichtigen. Vielmehr ermöglichen sie ausnahmsweise581 eine solche, obwohl wegen Eintritts der Bestandskraft an sich eine Änderung zu Gunsten des Steuerpflichtigen bereits ausgeschlossen wäre. Systematisch führen diese Normen daher nicht zu einer Beschränkung des Erstattungsanspruchs, sondern sind ein Instrument zur Bereinigung einer ansonsten gemeinschaftsrechtswidrigen Beschränkung. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Ausgestaltung der Änderungsnormen und ihre Auslegung durch Verwaltung und Gerichte vom gemeinschaftsrechtlichen Standpunkt aus bedeutungslos wäre. Das Vorhandensein einer Änderungsmöglichkeit kann durchaus geboten sein, wenn ein genereller Erstattungsausschluss im Einzelfall gemeinschaftsrechtswidrig wäre. In dieser Situation kann ihre extensive, gemeinschaftskonforme Auslegung geboten sein. Die gemeinschaftsrechtlich relevante Beschränkung liegt dann allerdings nicht in der Änderungsnorm, sondern in der Norm, die ursprünglich zum Ausschluss der Erstattung führt, indem sie etwa – wie die Einspruchsfrist des § 355 Abs. 1 S. 1 AO – Bestandskraft eintreten lässt. Diese ist primärer Prüfungsgegenstand für die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit. (b) Verzinsung Ob eine Regelung, die die Höhe des Erstattungsbetrags betrifft, eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs darstellt, ist an Hand eines Vergleichs der 581

Nur selten ist eine deutsche Änderungsnorm einschlägig, vgl. oben S. 81.

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nach Gemeinschaftsrecht zu erstattenden Abgabe und dem nach nationalem Recht erstattungsfähigen Betrag zu entscheiden. Ist dieser Betrag geringer als der Betrag, den der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch schützt, liegt eine Beschränkung vor. Das Gemeinschaftsrecht gebietet grundsätzlich eine vollständige Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer.582 Als Ausgangspunkt für das Verständnis dessen, was unter der vollständigen Erstattung zu verstehen ist, kann die Umschreibung einer Vermögensverschiebung in der Rs. Test Claimants in the FII Group Litigation dienen. Zu erstatten ist danach „eine finanzielle Einbuße (. . .), der ein entsprechender Vorteil des betroffenen Mitgliedstaats gegenübersteht.“583 Das erfasst zunächst ohne weiteres den Nennbetrag der Steuerzahlung. Darüber hinaus ließe sich durchaus vertreten, der Steuerpflichtige erleide durch die fehlende Verfügungsmöglichkeit über diesen Geldbetrag eine weitere Einbuße, die sich in der Verzinsung des Betrags widerspiegelt. Der Mitgliedstaat hingegen hat die Verfügungsmöglichkeit erlangt, so dass ihm ein korrespondierender Vorteil erwächst.584 Auf diese Auslegung hat sich der Gerichtshof jedoch nicht festgelegt. „Nebenfragen“ wie die Zahlung von Zinsen und Regelungen über den Zinssatz und den Zeitpunkt, von dem an Zinsen zu berechnen sind, seien allein Sache des innerstaatlichen Rechts.585

582 Das ergibt sich aus der Formulierung, dass „die zu Unrecht erhobenen Steuern“ zu erstatten sind. So schon EuGH, Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, S. 1185; ferner Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 84; Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 20; Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 23; Urteil vom 21.9.2000, verb. Rs. C-441/98 und 442/ 98, Slg. 2000, I-7145 – Michaïlidis, Rn. 30. 583 EuGH, Urteil vom 12.12.2006, C-446/04, Slg. 2006, I-11753 – Test Claimants in the FII Group Litigation, Rn. 204. 584 So tatsächlich Bachof, S. 105, und Wolff/Bachof/Stober, § 55, Rn. 23a, wonach der allgemeine Erstattungsanspruch des öffentlichen Rechts auch die Herausgabe der gezogenen Nutzungen umfasst. 585 EuGH, Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760 – Metallgesellschaft, Rn. 86; Urteil vom 12.6.1980, 130/79, Slg. 1980, 1887 – Express Dairy Foods, Rn. 17; Urteil vom 15.9.1998, verb. Rs. C-279/96 bis C-281/ 96, Slg. 1998, I-5025 – Ansaldo Energia, Rn. 28; Urteil vom 21.5.1976, 26/74, Slg. 1976, 677 – Roquette Frères/Kommission, Rn. 9/13; Hahn, IStR 2002, S. 105 (106). Dennoch wurde den Klägern in der Rs. Metallgesellschaft (Urteil vom 8.3.2001, verb. Rs. C-397/98 und C-410/98, Slg. 2001, I-1760) ein Anspruch auf Zinsen zugebilligt. Der Gemeinschaftsrechtsverstoß bestand in der gemeinschaftsrechtswidrig frühen Fälligkeit des Steueranspruchs. Gemeinschaftsrechtswidrig war damit nicht die Steuererhebung als solche, sondern allein ihr Zeitpunkt; ausführlich dazu Hahn, IStR 2002, S. 105 (106 ff.). Schon im Urteil vom 16.12.1960, 6/60, Slg. 1960, 1163 – Humblet, S. 1186 wurde die Entscheidung über die Zahlung von Zinsen bei Erstattungsansprüchen der inner-

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Mit dieser Entscheidung hat der Gerichtshof den Ausschluss einer Verzinsung des Erstattungsbetrages zu Recht nicht als Beschränkung angesehen. Zwar erleidet der Steuerpflichtige tatsächlich einen Nachteil, während der Mitgliedstaat einen Vorteil aus der Verfügungsmöglichkeit über den Geldbetrag hat, doch stehen Nachteil und Vorteil nicht in einem Unmittelbarkeitszusammenhang. Beide kommen vielmehr jeweils von außen: Dem Steuerpflichtigen entgeht die Möglichkeit, den Geldbetrag in spezifischer Weise zu nutzen; die nämliche Nutzungsmöglichkeit ist dem Staat aber nicht eröffnet. Der Staat kann das Geld auf beliebige, aber notwendig andere Weise nutzen. Die Zahlung würde daher einen Schaden des Steuerpflichtigen ausgleichen, nicht aber eine Vermögensverschiebung rückgängig machen. Dem entsprechend wurde die Verzinsung auch primär im Bereich der Staatshaftung diskutiert. Dort wurde ein Anspruch auf Zinsen teilweise gewährt,586 teilweise aber auch ausgeschlossen.587 Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch schützt damit nur den Nominalbetrag der zu Unrecht gezahlten Steuer. Die Nichtverzinsung beschränkt den Erstattungsanspruch nicht. Allerdings steht es den Mitgliedstaaten frei, günstigere Erstattungsregelungen vorzusehen. Der gemeinschaftsrechtlich Erstattungsanspruch ist lediglich im Sinne eines Minimalstandards zu verstehen. Die deutsche Regelung zur Verzinsung von Steuererstattungen in § 233a AO ist daher im Regelfall gemeinschaftsrechtlich unproblematisch. (c) Abwälzung In vielen Mitgliedstaaten sind Regelungen etabliert worden, wonach zu Unrecht erhobene Steuern nicht erstattet werden, wenn der Steuerpflichtige die Belastung auf Dritte abwälzen konnte. Dies trifft vor allem auf die Mitgliedstaaten zu, die ihr Erstattungsregime über das Rechtsinstitut der ungerechtfertigten Bereicherung ausgestaltet haben. Vorbild scheint dabei eine Regelung des dänischen Rechts gewesen zu sein, die in der Rs. Just 588 die Billigung des EuGH erfahren hat. In der Folge entdeckten dann weitere Staaten den Ausschluss der Erstattung bei Abwälzung als probates Mittel zur Reduzierung des Rückzahlungsrisikos.589 Insbesondere bei zu Unrecht erhobenen indirekten Steuern, die

staatlichen Gesetzgebung zugewiesen; ebenso im Urteil vom 21.5.1976, 26/74, Slg. 1976, 677 – Roquette Frères/Kommission, Rn. 9/13. 586 EuGH, Urteil vom 2.8.1993, C-271/91, Slg. 1993, I-4367 – Marshall, Rn. 31. Dort wird die Zuerkennung von Zinsen als „unerlässlicher Bestandteil einer Entschädigung (angesehen), die die Wiederherstellung tatsächlicher Gleichbehandlung ermöglicht“. 587 EuGH, Urteil vom 22.4.1997, C-66/95, Slg. 1997, I-2163 – Sutton, Rn. 24. Die Abgrenzung zur vorangegangenen Entscheidung Marshall ist dabei nur schwer nachzuvollziehen. 588 EuGH, Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just.

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per definitionem auf Überwälzung angelegt sind, kann das Volumen potentiell zu erstattender Steuern wesentlich reduziert werden. Der EuGH hat den Ausschlussgrund der Abwälzung in seiner Rechtsprechung als „einzige Ausnahme“ von der Erstattungspflicht bezeichnet.590 Die Formulierung lässt nur den Schluss zu, dass der Gerichtshof den Erstattungsanspruch bei erfolgter Abwälzung als nicht gemeinschaftsrechtlich geschützt ansieht. Insoweit wäre schon der Anwendungsbereich des Erstattungsanspruchs nicht eröffnet. Eine solche Verkürzung ist mit der sonstigen Rechtsprechung aber nicht in Einklang zu bringen. Die Abwälzung ändert nichts daran, dass der Steuerpflichtige zunächst eine Steuer zu zahlen hatte, deren Erhebung auf Primärebene gegen das Gemeinschaftsrecht verstieß. Durch diese Zahlung ist damit ohne weiteres auch der Anwendungsbereich der Sekundärebene eröffnet. Der einmal eröffnete Anwendungsbereich wird durch eine nachträgliche Abwälzung nicht wieder verschlossen; allenfalls kann die Beschränkung des Erstattungsanspruchs entfallen. Das Problem des Ausschlusses bei Abwälzung liegt somit weniger auf der Ebene des Anwendungsbereichs des Erstattungsanspruchs, als vielmehr auf der Ebene seiner Beschränkung. Legt man die Definition zu Grunde, wonach eine Beschränkung vorliegt, wenn eine finanzielle Einbuße des Steuerpflichtigen, die zu einem korrespondierenden Vorteil des Staates geführt hat, nicht vollumfänglich ausgeglichen wird, so liegen diese Voraussetzungen nach erfolgreicher Abwälzung nicht mehr vor. Mit der Abwälzung wird die Einbuße des Steuerpflichtigen ausgeglichen. Es bleibt allein ein Vorteil beim Staat, dem nun ein Nachteil bei den Dritten gegenübersteht, die für die erworbene Leistung einen zu hohen Preis gezahlt haben. Mangels ausgleichsbedürftigen Nachteils scheidet der Steuerpflichtige aus dem Erstattungsverhältnis aus und wird durch den Dritten ersetzt.591 Der EuGH begründet die Zulässigkeit des Erstattungsausschlusses mit der (sekundären) ungerechtfertigten Bereicherung, die eintrete, wenn derjenige die 589 Zu nennen sind insbesondere Frankreich, Italien und Österreich; vgl. etwa EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 94; Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 27 und 28; Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 13. Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (196 f.). 590 EuGH, Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 94; vgl. auch Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 21. 591 Allerdings weist der EuGH im Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, in Rn. 24 zutreffend darauf hin, dass die Erstattungsberechtigung des Steuerpflichtigen wieder auflebt, wenn der Dritte vom Steuerpflichtigen Rückzahlung des zu hohen Preises verlangen kann. Hat der Kunde dagegen nur einen Direktanspruch gegen den Staat, scheidet der Steuerpflichtige endgültig aus dem Erstattungsverhältnis aus.

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Erstattung erhalte, der zwar ursprünglich die Abgabe geleistet habe, dessen Vermögensminderung aber zumindest teilweise wieder kompensiert wurde.592 Dem kann jedoch entgegengehalten werden, dass es in der Praxis in jedem Fall zu einer ungerechtfertigten Bereicherung kommt. Entweder ist der Steuerpflichtige ungerechtfertigt bereichert, weil er Steuern erstattet bekommt, die er auf Dritte abwälzen konnte, oder der Staat ist ungerechtfertigt bereichert, weil Steuern bei ihm verbleiben, die er unrechtmäßig erhoben hat. Nur in Ausnahmefällen werden die Dritten, die letztlich die Belastung getragen haben, Erstattung vom Staat beanspruchen können oder wollen, da ihre Einzelansprüche regelmäßig geringfügig sein werden. Der Verweis auf eine drohende ungerechtfertigte Bereicherung kann daher kein Argument für die Zulässigkeit eines Erstattungsausschlusses sein. Richtigerweise fehlt es nach Abwälzung an einer Einbuße des Steuerpflichtigen, wodurch dieser aus dem Erstattungsverhältnis ausscheidet. Das Ziel, die Steuer vollständig zu erstatten, kann nach Abwälzung nicht mehr erreicht werden, da sich die Belastung durch die Abwälzung auf eine Vielzahl von Betroffenen verflüchtigt hat. Der Ausschluss der Erstattung bei Abwälzung stellt daher keine Beschränkung des Erstattungsanspruchs dar. Davon zu unterscheiden ist die Situation, dass der Steuerpflichtige nicht in der Lage war, die Belastung abzuwälzen, die erfolgreiche Abwälzung aber gesetzlich vermutet wird.593 Unter diesen Umständen verbleibt eine finanzielle Einbuße, die nicht ausgeglichen wird. Es liegt mithin eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs vor. Die Zulässigkeit bzw. Beschränkungswirkung ist in diesen Fällen an den oben genannten Kriterien zu verfahrensspezifischen Regelungen zu messen.594 dd) Zwischenergebnis Es hat sich gezeigt, dass die freiheitsrechtliche Dimension des Erstattungsanspruchs durch zeitliche, verfahrensspezifische und sachliche Grenzen beschränkt werden kann. In der Praxis besonders bedeutsam sind dabei die durch die Anfechtungs- und Verjährungsfristen errichteten zeitlichen Grenzen, die für bestimmte Zeiträume den Erstattungsanspruch definitiv ausschließen. Angesichts dessen, dass nationale Steuernormen häufig lange Zeit unerkannt gemeinschafts592 EuGH, Urteil vom 27.2.1980, 68/79, Slg. 1980, 501 – Just, Rn. 27; Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 13; Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World, Rn. 94. 593 Vgl. EuGH, Urteil vom 14.1.1997, verb. Rs. C-192/95 bis 218/95, Slg. 1997, I-165 – Comateb, Rn. 25, wo der Erfolg vermutet wurde, weil eine gesetzliche Verpflichtung bestand, die steuerliche Belastung an den Dritten weiterzureichen. 594 Vgl. oben S. 152 und Urteil vom 21.9.2000, verb. Rs. C-441/98 und 442/98, Slg. 2000, I-7145 – Michaïlidis, Rn. 38. Gundel, Festschrift Götz, S. 191 (199).

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rechtswidrig sind, führen die zeitlichen Grenzen dazu, dass ein Großteil der rechtswidrig erhobenen Steuern dennoch beim Staat verbleibt. Die Frage, ob die „ungerechtfertigte Bereicherung“ des Staates von Gemeinschaftsrechts wegen tolerabel ist, muss daher vor allem auf der Rechtfertigungsebene beantwortet werden. 3. Rechtfertigung von Beschränkungen des Erstattungsgebotes a) Die Rechtfertigungsfähigkeit von Beschränkungen Eine Norm des Gemeinschaftsrechts – wozu auch der Erstattungsanspruch gehört – kann nur dann durch nationale Normen begrenzt werden, wenn sie eine solche Begrenzung selbst zulässt.595 Eine unilateral von einem Mitgliedstaat angestrebte Beschränkung des Gemeinschaftsrechts verstieße gegen das Primat des Gemeinschaftsrechts.596 Bei vielen Normen des Gemeinschaftsrechts ist ihre Offenheit für mitgliedstaatliche Beschränkungen bereits im Wortlaut angelegt. Vor allem bei den Grundfreiheiten sind Einschränkungsmöglichkeiten ausdrücklich formuliert. So kann etwa die Warenverkehrfreiheit durch mitgliedstaatliche Normen eingeschränkt werden, wenn sie bestimmten näher qualifizierten Zielen dienen (Art. 30 EG). Das Beispiel der Warenverkehrsfreiheit zeigt, dass das Gemeinschaftsrecht vielfach Öffnungsklauseln für mitgliedstaatliche Normierungen enthält. Auch der vom EuGH entwickelte Erstattungsanspruch beinhaltet eine solche Öffnung für mitgliedstaatliche Beschränkungen.597 Ausdrücklich hat der EuGH etwa anerkannt, dass der Erstattungsanspruch durch (Anfechtungs- und Verjährungs-)Fristen begrenzt werden kann.598 Der EuGH hat den gemeinschaftsrechtlichen Erstattungsanspruch somit nicht mit einem absoluten Geltungsanspruch ausgestattet, der jeder nationalen Beschränkungsmaßnahme entgegengestanden hätte. Stattdessen hat er ihn, den 595 Ehlers, in: Ehlers, Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 82, bezeichnet dies als anerkannten Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes. 596 Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts wird besonders herausgehoben in den Entscheidungen Costa/ENEL (Urteil vom 15.7.1964, 6/64, Slg. 1964, 1251) und Simmenthal (Urteil vom 9.3.1978, 106/77, Slg. 1978, 629). 597 Vgl. etwa Röben, S. 362; Eilmansberger, S. 145. Allgemein zum Effektivitätsund Äquivalenzgebot auch Kadelbach, S. 131. 598 So schon Generalanwalt Warner, Schlussanträge vom 30.11.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, S. 2005. Nach seiner Ansicht wäre es absurd, wenn eine Klage auf Erstattung aus keinem irgendwie gearteten prozessualen Grund abgewiesen werden könnte. Vgl. etwa die darauf aufbauenden Entscheidungen Urteil vom 28.11.2000, C-88/99, Slg. 2000, I-10465 – Roquette Frères, Rn. 22 oder Urteil vom 10.7.1997, C-261/95, Slg. 1997, I-4025 – Palmisani, Rn. 28.

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Grundfreiheiten vergleichbar, relativ ausgestaltet. Dass diese Entscheidung des EuGH zu Recht erfolgte, belegen nicht nur die Nähe der Erstattung zu den Grundfreiheiten, die eine Parallelität nahe legt, sondern auch systematische Argumente. So ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip eines der grundlegenden Prinzipien der Gemeinschaft. Keine Maßnahme darf über das hinausgehen, was erforderlich ist, um ein anerkanntes Ziel zu erreichen. So sichert der Erstattungsgrundsatz die Rechtmäßigkeit der Abgabenerhebung; dies darf jedoch nicht so weit gehen, dass gegenläufige Rechtsgüter – wie etwa die Rechtssicherheit – vollständig zurücktreten müssen. Insoweit konkurrieren bereits gemeinschaftsrechtsintern verschiedene Grundsätze,599 die zu einem Ausgleich im Sinne praktischer Konkordanz zu bringen sind. Zwangsläufig muss dabei zumindest teilweise auch der Erstattungsgrundsatz zurücktreten. Ergänzend könnte man auch die mitgliedstaatliche Kompetenz für das Verfahren und das Subsidiaritätsprinzip des Art. 5 EG heranziehen. Ein absoluter Erstattungsgrundsatz ließe von der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie inhaltlich nichts übrig, wenn das Verfahren auf genau ein Ziel festgelegt wäre. Dieses Argument ist jedoch von untergeordneter Bedeutung, da aus verfahrensrechtlichen Kompetenzen nur schwerlich auch eine Autonomie für materielle Entscheidungen abgeleitet werden kann.600 Im Ergebnis lässt sich die richterrechtlich entwickelte und mittlerweile gewohnheitsrechtlich verfestigte Beschränkbarkeit des Erstattungsanspruchs auf die Systematik des Gemeinschaftsrechts stützen. Entscheidend kommt es nun darauf an, herauszuarbeiten, unter welchen Voraussetzungen Beschränkungen gerechtfertigt werden können. b) Das Prüfungsprogramm der Rechtfertigungsebene Da der Erstattungsanspruch eine Fortbildung des Gemeinschaftsrechts durch den EuGH ist, kann dem EG-Vertrag kein klares Prüfungsprogramm für Verletzungen entnommen werden. Geht man – wie hier vorgeschlagen – von einem dreistufigen Prüfungsaufbau aus,601 bedarf es neben Definitionen des Anwendungsbereichs und möglicher Beschränkungen einer handhabbaren Rechtfertigungsprüfung. Diese hat der EuGH bislang allenfalls in Ansätzen entwickelt. Das Effektivitäts- und Äquivalenzgebot wurde von ihm als zweistufiges Prüfungsprogramm konzipiert, in dem zunächst nur nach der Einschlägigkeit des Erstattungsanspruchs gefragt und dieser dann in gleichheits- und freiheitsrecht-

599

Vgl. Röben, S. 358. So auch die Kritiker, die den Begriff der Verfahrensautonomie aus diesem Grund für unzutreffend halten, vgl. oben S. 65. 601 Vgl. oben S. 129. 600

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licher Hinsicht abgesichert wird. Eine explizite Prüfung, ob eine beschränkende Maßnahme zu rechtfertigen ist, unterbleibt regelmäßig.602 Der Rechtsprechung sind allenfalls Ansätze einer Rechtfertigungsprüfung zu entnehmen, etwa wenn in Einzelfällen entschieden wurde, dass Beschränkungen des Erstattungsanspruchs hinzunehmen sein können, wenn mit dem durch den Erstattungsanspruch geschützten Rechtsgut der materiell richtigen Steuererhebung andere Rechtsgüter konkurrieren und diese im zu entscheidenden Fall vorrangig sind. Mehrfach wurde dies für die Zulässigkeit von Verjährungsfristen als Ausdruck der Rechtssicherheit entschieden.603 Die Rechtssicherheit scheint damit als eines der Rechtsgüter anerkannt zu sein, die nach Ansicht des Gerichtshofs zur Rechtfertigung von Beschränkungen der Erstattung in der Lage sind. Der vereinzelte Verweis auf die Rechtssicherheit macht allerdings eine dem zu Grunde liegende kohärente Rechtfertigungsdogmatik nicht entbehrlich. So ist bislang unbeantwortet geblieben, wie die Rechtsgüter der Rechtssicherheit und der Rechtsrichtigkeit zueinander in Beziehung zu setzen sind. Darüber hinaus ist unklar, ob und gegebenenfalls welche Rechtsgüter neben der Rechtssicherheit rechtfertigende Kraft haben. Damit unterscheidet sich dieses Feld von der grundfreiheitlichen Dogmatik, bei der sich – trotz aller Begründungsdefizite im Einzelfall – doch in jahrzehntelanger Rechtsprechungstradition ein verhältnismäßig klarer und vorhersagbarer dreistufiger Prüfungsaufbau entwickelt hat, der ausdrücklich eine eigenständige Rechtfertigungsprüfung aufweist. Ziel der folgenden Ausführungen ist es daher, in Anlehnung an die vorhandene Tradition der Rechtfertigung von Grundfreiheitsbeschränkungen eine Rechtfertigungsdogmatik für den Erstattungsanspruch vorzuschlagen. c) Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten Im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten wird zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen und den immanenten Schranken unterschieden. aa) Klassifizierung der Schranke Die ursprünglich von den Parteien des EG-Vertrags für jede einzelne Grundfreiheit kodifizierten Gründe604 waren wegen der extensiven Auslegung des 602 Ausnahmsweise setzt sich der Gerichtshof im Zusammenhang mit dem Erstattungsrecht mit dem Rechtsgut der Rechtssicherheit auseinander. Dazu ausführlich unten ab S. 168. 603 Dazu unten ausführlich ab S. 168. 604 Für eine kurze Zusammenfassung vgl. Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (760).

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Schutzbereichs der Grundfreiheiten und deren Fortentwicklung zu Beschränkungsverboten605 bald nicht mehr geeignet, den Mitgliedstaaten einen ausreichend großen Gestaltungsspielraum zu belassen.606 Der EuGH entwickelte daher die immanenten Schranken der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls als weitere Rechtfertigungsmöglichkeiten.607 Diese Weiterentwicklung weist eine Offenheit und Flexibilität auf,608 die mit der Ausweitung des Schutzbereichs der Grundfreiheiten Schritt halten konnte. Heute steht das erstmals in der Entscheidung van Binsbergen609 erwähnte und in der Rs. Cassis de Dijon endgültig anerkannte Rechtsinstitut610 in seiner Bedeutung den geschriebenen Rechtfertigungsgründen in nichts nach.611 Was unter den immanenten Schranken zu verstehen ist, wird noch immer maßgeblich durch die Cassis de Dijon-Entscheidung bestimmt. Dort prägte der EuGH den Terminus der „zwingenden Erfordernisse“. Später wurde diese zur Warenverkehrsfreiheit entwickelte Rechtfertigungsmöglichkeit auf alle Grundfreiheiten übertragen und die Formulierung entsprechend modifiziert.612 Gemeinsames Charakteristikum aller anerkannten Gründe ist die Gemeinwohlbezogenheit im Gegensatz zur bloßen Individualbegünstigung.613 Darüber hinaus müssen die betroffenen Interessen gemeinschaftsweit einem normativen Schutz unterliegen.614 Dieser kann sich in einer Anerkennung im Gemein605

Streinz, Rn. 797 ff. Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (760); Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 89. 607 Müller-Graff, EuR Beiheft 1/2002, S. 7 (50 ff.); Frenz, Rn. 481 und 490; Herdegen, § 16, Rn. 14 ff.; Cordewener, DStR 2004, S. 6 (8). 608 Bspw. Frenz, Rn. 498; Becker, in: Schwarze, Art. 30, Rn. 36. Müller-Graff, EuR Beiheft 1/2002, S. 7 (51) macht die Flexibilität daran fest, dass mit den zwingenden Erfordernissen das „gesamte legitime Spektrum erheblicher nicht wirtschaftlicher Sozialgestaltungsinteressen“ zur Prüfung zur Verfügung steht. 609 EuGH, Urteil vom 3.12.1974, 33/74, Slg. 1974, 1299 – van Binsbergen, Rn. 10/ 12. 610 EuGH, Urteil vom 20.2.1979, 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon, Rn. 8. 611 Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7 Rn. 89; Frenz, Rn. 484. Vor allem im Steuerrecht spielen auf Primärebene fast ausschließlich die immanenten Schranken eine Rolle. Zu nennen sind etwa Kohärenz (Urteil vom 28.1.1992, C-204/90, Slg. 1992, I-260 – Bachmann), Gefahr der Steuerumgehung (Rs. Cadbury Schweppes, Urteil vom 12.9.2006, C-196/04, Slg. 2006, I-7995) oder die Aufteilung der Besteuerungsrechte (Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477 – Manninen und Urteil vom 13.12.2005, C-446/03, Slg. 2005, I-10837 – Marks & Spencer). 612 Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 80; Streinz, Rn. 830. 613 EuGH, Urteil vom 26.6.1997, C-368/95, Slg. 1997, I-3689 – Vereinigte Familiapress/Bauer Verlag, Rn. 8; Urteil vom 24.11.1993, verb. Rs. C-267/91 und C-268/91, Slg. 1993, I-6097 – Keck, Rn. 15. Geiger, Art. 28, Rn. 19; Frenz, Rn. 498; Herdegen, § 16, Rn. 5. 614 Frenz, Rn. 498. 606

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schaftsrecht selbst manifestieren oder aber aus der gemeinsamen Rechtstradition der Mitgliedstaaten abgeleitet werden. Das Gemeinschaftsrecht wird damit nicht für die Einschränkung durch rein nationale Belange geöffnet. Voraussetzung bleibt, dass die Interessen ihren Niederschlag im Gemeinschaftsrecht gefunden haben müssen oder zumindest gemeinschaftsweit anerkannt werden. Keine Anerkennung erlangen damit nationale Alleingänge. Schließlich müssen die Gründe zwingend sein, womit die SchrankenSchranke der Verhältnismäßigkeit in Bezug genommen ist.615 Damit verlangt das Gemeinschaftsrecht, dass die Norm geeignet ist und nicht über das hinausgeht, was erforderlich ist, um das mit ihr verfolgte Ziel zu erreichen.616 Die Erfordernisse der zwingenden Gründe des Allgemeinwohls entsprechen damit dem, was im deutschen Verfassungsrecht als qualifizierter Gesetzesvorbehalt bezeichnet würde. Die Besonderheit liegt allerdings in der Offenheit für „neue“ zwingende Gründe.617 Die bislang anerkannten Gemeinwohlgründe bilden keinen numerus clausus. Bei jedem neuen, zur Verteidigung einer nationalen Maßnahme vorgebrachten Argument ist zu prüfen, ob es Ausdruck eines anerkannten oder anzuerkennenden Gemeinwohlgrundes ist. Lässt sich ein solcher Grund ausmachen, bleibt die Schranken-Schranke der Verhältnismäßigkeit zu beachten.618 bb) Unterschiede im Rechtfertigungspotential Unterschiede zwischen den geschriebenen Rechtfertigungsgründen und den ungeschriebenen zwingenden Gründen des Allgemeinwohls bestehen insoweit, als die geschriebenen Gründe unstreitig jede Art von Beschränkungen einer Grundfreiheit rechtfertigen können. Bei den immanenten Schranken ist nur ihre Anwendbarkeit auf unterschiedslose Beschränkungen unumstritten.619 Ob sie darüber hinaus auch auf mittelbare Diskriminierungen anwendbar sind, ist umstritten, wird in der Rechtsprechung des EuGH aber zunehmend anerkannt.620 615 EuGH, Urteil vom 30.11.1995, C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard, Rn. 37. Streinz, Rn. 829; Geiger, Art. 28 EGV, Rn. 19; Frenz, Rn. 501. 616 Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (760). 617 Becker, in: Schwarze, Art. 30 EGV, Rn. 36; Frenz, Rn. 498. 618 Vgl. etwa Streinz, Rn. 833. 619 EuGH, Urteil vom 30.11.1995, C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard, Rn. 37; Urteil vom 4.7.2000, C-424/97, Slg. 2000, I-5123 – Haim, Rn. 57; Urteil vom 21.9.1999, C-124/97, Slg. 1999, I-6067 – Läärä, Rn. 31. Frenz, Rn. 464; vgl. Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (762). 620 Beispielsweise Generalanwalt Maduro, Schlussanträge vom 31.5.2006, C-347/ 04, Slg. 2007, I-2647 – Rewe Zentralfinanz, Rn. 23. EuGH, Urteil vom 28.10.1999, C-55/98, Slg. 1999, I-7641 – Vestergaard, Rn. 21 ff.; Urteil vom 16.1.2003, C-388/ 01, Slg. 2003, I-721 – Kommission/Italien, Rn. 21 ff. Weitere Nachweise dafür bei Frenz, Rn. 488; Nowak, VerwArch 93 [2002], S. 368 (374); Müller-Graff, EuR Bei-

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In jüngster Zeit wird darüber hinaus sogar die Rechtfertigung unmittelbarer Diskriminierungen durch immanente Schranken der Grundfreiheiten in Erwägung gezogen.621 Generalanwalt Léger meint, in der Rechtsprechung des EuGH – zumindest im Steuerrecht – eine Aufgabe der Unterscheidung zwischen unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen ausmachen zu können. Der EuGH unterscheide mittlerweile zwar noch zwischen „unterschiedslos anwendbaren Maßnahmen“ und „unterschiedlichen steuerlichen Behandlungen“.622 Dabei könnten aber auch letztere aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt werden.623 Tatsächlich ist vor allem für das Steuerrecht festzustellen, dass die Abgrenzung danach, ob eine Maßnahme in gleichheits- oder in freiheitsrechtlicher Hinsicht beschränkend wirkt, in jüngerer Zeit weniger deutlich erfolgt.624 Ohne eine klare Klassifizierung auf der Beschränkungsebene entfällt dann der Ansatzpunkt für eine differenzierte Betrachtung auf Rechtfertigungsebene. In der Folge wären dann auch die zwingenden Gründe des Gemeinwohls in der Lage, unmittelbare Diskriminierungen zu rechtfertigen, womit die Unterschiede zwischen den geschriebenen und den immanenten Schranken endgültig beseitigt wären.625 heft 1/2002, S. 7 (53). Ablehnend allerdings EuGH, Urteil vom 29.4.1999, C-224/97, Slg. 1999, I-2517 – Ciola, Rn. 16. 621 So bereits Weiß, EuZW 1999, S. 493 (497 f.); in diese Richtung auch Zuleeg, in: von der Groeben/Schwarze, Art. 12 EGV, Rn. 3, der allgemein auf die Rechtfertigungsfähigkeit von Differenzierungen hinweist, ohne Einschränkungen bei direkten Diskriminierungen anzusprechen. Anderer Ansicht Ehlers, in: Ehlers, Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, § 7, Rn. 72 ff.; ebenso Jarass, EuR 1995, S. 202 (220 ff.); Everling, in: Gedächtnisschrift Knobbe-Keuk, S. 607 (619). 622 Generalanwalt Léger in Rn. 63 f., Schlussanträge Cadbury Schweppes (2.5.2006, C-196/04, Slg. 2006, I-7997). Ohne diese Frage zu erörtern, unterscheidet auch Generalanwalt Maduro, Schlussanträge vom 31.5.2006, C-347/04, Slg. 2007, I-2647 – Rewe Zentralfinanz, Rn. 18 ff. nicht zwischen direkten und mittelbaren Diskriminierungen. 623 Generalanwalt Léger in Rn. 64, Schlussanträge Cadbury Schweppes (2.5.2006, C-196/04, Slg. 2006, I-7997) mit Verweis auf Urteil vom 16.7.1998, C-264/96, Slg. 1998, I-4695 – ICI, Rn. 23 f. und Urteil vom 12.12.2002, C-324/00, Slg. 2002, I-11779 – Lankhorst-Hohorst, Rn. 32 f. 624 Vgl. Cordewener, S. 130 ff. und ders., DStR 2004, S. 6 (8). Ein Beispiel dafür ist das Urteil in der Rs. Hughes de Lasteyrie du Saillant (vom 11.3.2004, C-9/02, Slg. 2004, I-2409). An sich hätte eine gleichheitsrechtliche Prüfung der Wegzugsbesteuerung nahe gelegen, da die streitgegenständliche französische Regelung grenzüberschreitende Wegzüge einer Steuerbelastung unterwarf, während innerfranzösische Umzüge steuerfrei möglich waren. Dennoch stützte sich der Gerichtshof mit der Begründung, dass durch die Regelung die Ausübung der Niederlassungsfreiheit weniger attraktiv werde, vorwiegend auf freiheitsrechtliche Überlegungen; vgl. etwa Rn. 45. Ebenso überraschend war die freiheitsrechtliche statt der gleichheitsrechtlichen Prüfung in der Rs. Futura Participations (Urteil vom 15.5.1997, C- 250/95, Slg. 1997, I-2471). Vgl. dazu von Borries, EuZW 1997, S. 446. 625 So Cordewener, DStR 2004, S. 6 (9).

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Ob der EuGH die Tendenz zur Gleichstellung fortführen wird, bleibt abzuwarten.626 Für die hier interessierende Frage ist dies aber von untergeordneter Bedeutung, da unmittelbare Diskriminierungen im Verfahrensrecht – wie dargestellt – die Ausnahme sind. Die Mehrzahl aller verfahrensrechtlichen Beschränkungen ist auch nach herkömmlicher Auffassung mit immanenten Gründen zu rechtfertigen. d) Rechtfertigungsgründe Versucht man, die Rechtfertigung von Beschränkungen des Erstattungsanspruchs an die Dogmatik der Grundfreiheiten anzulehnen, kommt grundsätzlich sowohl eine analoge Anwendung der geschriebenen Rechtfertigungsgründe als auch der zwingenden Gründe des Gemeinwohls in Betracht. aa) Übertragbarkeit geschriebener Rechtfertigungsgründe Die Erörterung, ob die geschriebenen Rechtfertigungsgründe der klassischen Grundfreiheiten im Wege eines erst-recht-Schlusses auf den Erstattungsanspruch analog anwendbar sind, kann unterbleiben, wenn diese Gründe auf Sekundärebene keinen Anwendungsbereich haben. Die Grundfreiheiten sehen primär Beschränkungsmöglichkeiten aus Gründen der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit vor (vgl. Art. 30 S. 1, 46 Abs. 1 EGV). Diese sind im Rahmen des Erstattungsanspruchs nur von untergeordneter Bedeutung. Von größerer Relevanz könnte Art. 58 Abs. 1 lit. a EGV sein, wonach die Kapitalverkehrsfreiheit das Recht der Mitgliedstaaten unberührt lässt, die Vorschriften des nationalen Steuerrechts anzuwenden, auch wenn diese Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln. Übertragen auf den Erstattungsanspruch könnte dies bedeuten, dass Ungleichbehandlungen nach dem Wohnort des Antragstellers zulässig sein könnten. Die Ermächtigung in Art. 58 Abs. 1 EGV wird allerdings sogleich durch Abs. 3 eingeschränkt. Willkürliche Diskriminierungen und verschleierte Beschränkungen des Kapital- und Zahlungsverkehrs sind auch im Steuerrecht unzulässig.627 Das Zusammenspiel von Abs. 1 und 3 wird vom EuGH dahingehend verstanden,628 dass Ungleich626 Einen im Ansatz ähnlichen Vorstoß unternahm bereits Generalanwalt Jacobs, Schlussanträge vom 26.10.2000, C-379/98, Slg. 2001, I-2103 – PreussenElektra, Rn. 216 ff. Er wollte den Umweltschutz als Rechtfertigungsgrund auch auf offen diskriminierende Maßnahmen erstrecken. So auch die Interpretation der nachfolgenden Entscheidung in der Literatur: Koenig/Kühling, NVwZ 2001, S. 768 (770); Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 83. Andere weisen auf die Besonderheit des Rechtfertigungsgrundes Umweltschutz hin, Nowak, VerwArch 93 [2002], S. 368 (392 f.) und lehnen eine Rechtfertigung von diskriminierenden Regelungen durch die immanenten Schranken ab.

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behandlungen allein aus zwingenden Gründen des Allgemeinwohls zulässig sind.629 Im Ergebnis verläuft die Prüfung damit parallel zu den ungeschriebenen Rechtfertigungsgründen aller anderen Grundfreiheiten,630 wodurch Art. 58 EGV seine eigenständige Bedeutung weitgehend verliert. Für die Rechtfertigung von Beschränkungen des Erstattungsanspruchs lassen sich aus Art. 58 EGV auf Grund seiner restriktiven Auslegung folglich keine neuen Ansatzpunkte gewinnen. Geschriebene Rechtfertigungsgründe, die für den Erstattungsanspruch von größerer Bedeutung sein könnten, sind somit nicht ersichtlich. Die Frage nach einer Übertragbarkeit der geschriebenen Gründe kann letztlich dahinstehen. bb) Zwingende Gründe des Allgemeinwohls In Ermangelung kodifizierter Rechtfertigungsgründe zur Sekundärebene kann nur auf die ungeschriebenen zwingenden Gründe des Allgemeinwohls zurückgegriffen werden. Die grundsätzlich zulässige Beschränkung des Erstattungsanspruchs kann nicht aus Gründen erfolgen, die im Belieben der Mitgliedstaaten stehen. Andernfalls würde ihre primäre Verpflichtung zu gesetzmäßigem Handeln auf Sekundärebene unterlaufen. Einschränkungen sind daher nur zulässig, wenn im Einzelfall gegenüber dem Anspruch auf nachträgliche Herstellung eines Zustandes rechtmäßiger Steuererhebung andere Interessen oder Rechtsgüter vorrangig sind. Hierbei handelt es sich um die von der Grundfreiheitsdogmatik her bekannten zwingenden Gründe des Allgemeinwohls. Ziel der folgenden Darstellung ist es daher, zunächst herauszuarbeiten, welche Rechtsgüter sich überhaupt gegenüber dem Erstattungsanspruch durchsetzen können, und im Folgenden dann aufzuzeigen, unter welchen Voraussetzungen diese „zwingend“ sind und damit die Erstattung beschränken können.631 627 Generalanwältin Kokott formuliert in Rn. 36 ihrer Schlussanträge vom 18.3. 2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7480 – Manninen, dass die Bestimmung „keinen Freibrief für jegliche unterschiedliche Behandlung der Steuerpflichtigen nach dem Kapitalanlageort durch das nationale Steuerrecht einräumt“. 628 So auch Generalanwältin Kokott in Rn. 38 ihrer Schlussanträge vom 18.3.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7480 – Manninen; Generalanwältin Kokott, Schlussanträge vom 12.2.2004, C-242/03, Slg. 2004, 7381 – Weidert und Paulus, Rn. 27. 629 EuGH, Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477 – Manninen, Rn. 28 f.; Urteil vom 6.6.2000, C-35/98, Slg. 2000, I-4073 – Verkooijen, Rn. 44 bis 46; Urteil vom 26.9.2000, C-478/98, Slg. 2000, 7587 – Kommission/Belgien, Rn. 37 ff. 630 Vgl. E&Y, S. 253, Kommentar zur Rs. Verkooijen, und S. 426, Kommentar zur Rs. Weidert und Paulus; Cordewener, DStR 2004, S. 6 (8). 631 Im Folgenden wird das vorrangige Rechtsgut mit dem jeweiligen Rechtfertigungsgrund gleichgesetzt. Genau genommen rechtfertigt allerdings nicht das Rechtsgut eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs, Rechtfertigungsgrund ist vielmehr das

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Ausdrückliche Anerkennung als Rechtsgüter, die Beschränkungen zu rechtfertigen vermögen, haben die Rechtssicherheit,632 der ordnungsgemäße Ablauf des Klage-633 und Verwaltungsverfahrens,634 der Schutz der Verteidigungsrechte635 oder auch – in etwas anderem Zusammenhang – das finanzielle Gleichgewicht der Sozialversicherungssysteme erfahren.636 Die Aufzählung ist nicht als abschließend zu verstehen. Auch der Gerichtshof gibt zu erkennen, dass seine Rechtsprechung offen für neue Rechtfertigungsgründe ist und Aufzählungen nur beispielhaft sind.637 Als Quellen weiterer Rechtfertigungsgründe verweist er auf die nationalen Rechts(schutz)systeme und deren Grundsätze.638 Er verschließt sich damit nicht den Wertungen, die die Gesetzgeber in den Mitgliedstaaten vornehmen, sondern erklärt ostentativ, diese berücksichtigen zu wollen. Freilich behält er sich vor, ihnen im Einzelfall die Anerkennung zu versagen.639 Eine Systematisierung möglicher Rechtfertigungsgründe, aus der sich ein abschließender Kanon entwickeln ließe, muss daher ohne Erfolg bleiben. Dennoch ist eine Rechtfertigung von Beschränkungen des Erstattungsanspruchs keineswegs mit willkürlichen Begründungen möglich. Anhaltspunkte, welche Voraussetzungen ein anzuerkennender Rechtfertigungsgrund erfüllen muss, bieten die

„zwingende Allgemeinwohlinteresse“. Ob dieses Interesse jedoch vorliegt, bestimmt sich maßgeblich nach dem in Frage stehenden Rechtsgut, was die Gleichstellung der Begriffe zulässt. 632 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 26; Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5; Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 48; Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 14; Urteil vom 13.1.2004, C-453/00, Slg. 2004, I-837 – Kühne & Heitz, Rn. 24. 633 EuGH, Urteil vom 14.12.1995, C-430/93 und 431/93, Slg. 1995, I-4705, Rn. 21 – Van Schijndel; Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 14. 634 EuGH, Urteil vom 27.10.1993, C-338/91, Slg. 1993, I-5475 – Steenhorst-Neerings, Rn. 23. 635 EuGH, Urteil vom 14.12.1995, C-430/93 und 431/93, Slg. 1995, I-4705 – Van Schijnde, Rn. 19; Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 14; Urteil vom 10.4.2003, C-276/01, Slg. 2003, I-3735 – Steffensen, Rn. 66. 636 EuGH, Urteil vom 27.10.1993, C-338/91, Slg. 1993, I-5475 – Steenhorst-Neerings, Rn. 23; zur Übertragbarkeit auf den Erstattungsanspruch vgl. weiter unten. 637 Der EuGH will im Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 14, die Grundsätze „berücksichtigen, die dem nationalen Rechtsschutzsystem zu Grunde liegen, wie z. B. der Schutz der Verteidigungsrechte . . .“. 638 EuGH, Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 14. 639 So etwa, wenn ein Mitgliedstaat zur Beschleunigung des Gerichtsverfahrens Beweismittelbeschränkungen anordnet, vgl. EuGH, Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio, Rn. 14; Urteil vom 25.2.1988, verb. Rs. 331/85, 376/85 und 378/85, Slg. 1988, 1099 – Bianco und Girard, Rn. 12.

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zwingenden Gründe des Allgemeinwohls, wie sie aus der Rechtsprechung zu den klassischen Grundfreiheiten bekannt sind.640 Voraussetzung ist damit, dass das durch die Beschränkung des Erstattungsanspruchs geschützte Rechtsgut im Allgemeininteresse liegt und dass es Anerkennung im Gemeinschaftsrecht gefunden hat.641 Ein so gefundener Grund des Allgemeininteresses muss darüber hinaus noch „zwingend“ sein. An dieser Stelle ist dann unter Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips zu fragen, ob er dem Erstattungsanspruch im Einzelfall vorgeht. Ein gutes Beispiel hierfür sind Anfechtungs- und Verjährungsfristen des nationalen Rechts, mit denen das Rechtsgut Rechtssicherheit geschützt wird. An Fristen und der durch sie geschützten Rechtssicherheit soll exemplarisch gezeigt werden, dass die bislang anerkannten Rechtfertigungsgründe der Anforderungstrias genügen. (1) Rechtssicherheit als zwingender Grund des Allgemeinwohls Die Zulässigkeit einer Befristung des Erstattungsanspruchs war bereits Gegenstand der frühen Entscheidung in der Rs. Rewe. Der EuGH sah die Zulässigkeit der Befristung des Erstattungsanspruchs642 als durch das „grundlegende Prinzip der Rechtssicherheit, das zugleich den Abgabepflichtigen und die Behörde schützt“,643 gerechtfertigt an. In dem kurzen Zitat deutet der EuGH eine Subsumtion unter alle Voraussetzungen eines zwingenden Allgemeinwohlgrundes an. Zunächst hebt er die Bedeutung der Rechtssicherheit für die Allgemeinheit hervor. Die Rechtssicherheit schütze nicht nur den Abgabenpflichtigen sondern auch die Behörde. Damit dient Rechtssicherheit nicht Individual-, sondern Kollektivinteressen. Als zweite Voraussetzung eines zwingenden Grundes des Allgemeinwohls bejaht der EuGH zugleich die gemeinschaftsrechtliche Anerkennung des Rechtsgutes Rechtssicherheit. Die Bezeichnung als „grundlegendes Prinzip“ soll unterstreichen, dass Rechtssicherheit in der gemeinsamen Rechtstradition der Mitgliedstaaten wurzelt.644 640 Auf einem anderen dogmatischen Ansatz basierend kommt Huthmacher, S. 189, zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. Eine Verfahrensnorm darf nach seiner Ansicht Gemeinschaftsrecht einschränken, wenn sie „durch bestimmte Zielvorstellungen des Gemeinschaftsrechts gedeckt ist.“ Bei näherer Betrachtung liegen Huthmachers Zielvorstellungen nahe an den zwingenden Gemeinwohlgründen. 641 Vgl. oben S. 162. 642 Auf Grund der Bestandskraft des Gebührenbescheids konnte die zu Unrecht erhobene Abgabe nicht erstattet werden. 643 EuGH, Urteil vom 16.12.1976, 33/76, Slg. 1976, 1989 – Rewe, Rn. 5. Auf die Bedeutung der Rechtssicherheit wies auch schon frühzeitig Rengeling, Gedächtnisschrift Sasse, S. 197 (207) hin.

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Trotz der verkürzten Argumentation ist dem EuGH im Ergebnis zuzustimmen. Fragen ließe sich allenfalls, ob die Anfechtungsfrist tatsächlich auch den Abgabenpflichtigen schützt. Der EuGH kann in der Rs. Rewe nicht im Blick gehabt haben, dass der Abgabenpflichtige nach Fristablauf von Nachforderungen der Behörde verschont bleibt. Bereits ab Bekanntgabe der Entscheidung ist die Abänderbarkeit eingeschränkt – die Fristen der §§ 58 und 70 VwGO begrenzen die Möglichkeiten der Behörde zur Verböserung nicht weiter.645 Zu Recht betrachtet der EuGH jedoch den Gesamtzusammenhang der nationalen Regelung und macht die Gemeinwohlbezogenheit einer Frist nicht von ihrer symmetrischen Geltung für Bürger und Behörde abhängig. Vielmehr stellt er fest, dass Fristen generell, auch dann wenn sie für Bürger und Behörde asymmetrisch ausgestaltet sind, dazu beitragen, Rechtssicherheit eintreten zu lassen, da nach Ablauf der jeweils einschlägigen Frist der Sachverhalt von den Parteien nicht erneut aufgegriffen werden kann. In der Rs. Recheio646 stellte der Gerichtshof ausdrücklich klar, dass die unterschiedliche Länge der Fristen für den Abgabepflichtigen und die Verwaltung daraus resultiere, dass sie anderen Zwecken dienten. Der asymmetrische Fristenlauf stellt aber nicht die Eignung der Fristen für die Förderung der Rechtssicherheit als solche in Frage.647 Der Ablauf der Frist nach §§ 58, 70 VwGO ist zwar ein Rechtsinstitut, das grundsätzlich nur den Bürger belastet. Auch für die Behörde verringern sich im Zeitablauf aber die Möglichkeiten einer Verböserung. Der Zeitablauf ist damit ein Faktor, der beide Seiten (potentiell) begünstigt, aber auch belastet. Richtigerweise hat der EuGH daher nicht die Fristen der §§ 58, 70 VwGO isoliert betrachtet, sondern ist davon ausgegangen, dass es durch Zeitablauf zu einer Verfestigung der durch den Gebührenbescheid konkretisierten Rechtslage kommt. Bei der gebotenen Gesamtbetrachtung werden durch die Verfestigung eines Verwaltungsakts im Zeitablauf dann nicht nur Individualinteressen des Staates, sondern auch Gemeinwohlbelange geschützt. Darüber hinausgehend sei darauf hingewiesen, dass Fristen zugleich auch für die am konkreten Rechtsstreit unbeteiligte Allgemeinheit in zweifacher Hinsicht einen Beitrag zur Rechtssicherheit leisten können. Zum einen entlasten sie von der Obliegenheit, in der Vergangenheit ergangene Bescheide beständig auf ihre 644 Die Bedeutung der Rechtssicherheit wurde schon in frühen Entscheidungen betont, vgl. Generalanwalt Roemer, Schlussanträge vom 2.3.1962, 13/60, Slg. 1962, 243 – Geitling, S. 243; Urteil vom 6.4.1962, 13/61, Slg. 1962, 97 – de Geus/Bosch und van Rijn, S. 113; ausdrücklich etwa auch Urteil vom 21.9.1983, verb. Rs. 205 bis 215/ 82, Slg. 1983, 2658 – Deutsche Milchkontor, Rn. 30: „Rechtssicherheit ist Bestandteil der Rechtsordnung der Gemeinschaft“. 645 Vgl. Kopp/Schenke, § 68, Rn. 10. Nicht auszuschließen ist natürlich, dass der EuGH über die Bedeutung der streitgegenständlichen Fristen nicht voll im Bilde war. 646 EuGH, Urteil vom 17.6.2004, C-30/02, Slg. 2004, I-6051 – Recheio, Rn. 24. 647 Vgl. Rn. 18 und 24 des Urteils sowie Rn. 43 der Schlussanträge des Generalanwalts Colomer.

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„fortbestehende“ Rechtmäßigkeit zu kontrollieren.648 Wer sich darauf verlassen kann, dass eine steuerliche Belastung in der Vergangenheit auch dann Bestand hat, wenn sich die Rechtsprechung zum Gemeinschaftsrecht fortentwickelt, braucht nicht jede neu ergehende Entscheidung hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf seine bestandskräftigen Steuerveranlagungen zu untersuchen. Der Einbuße an Rechtmäßigkeit staatlichen Handeln durch die Nichterstattung gemeinschaftsrechtswidriger Steuern kann bei einer wirtschaftlichen Betrachtung die Entlastung durch einen verringerten administrativen „Monitoring-Aufwand“ bei den einzelnen Steuerpflichtigen gegenübergestellt werden.649 Zum anderen wird die Allgemeinheit der Steuerzahler durch die Verringerung potentieller Erstattungsansprüche geschützt, da die Erstattungen aus dem laufenden Haushalt und damit von den gegenwärtigen Steuerzahlern zu finanzieren sind.650 Auch die gemeinschaftsweite Anerkennung des Prinzips der Rechtssicherheit lässt sich nachweisen. Nicht nur in Deutschland ist die zeitliche Reichweite des Erstattungsanspruchs begrenzt; alle anderen Mitgliedstaaten kennen ebenfalls vergleichbare Fristenregelungen, auch wenn sie im Einzelnen jeweils unterschiedlich ausgestaltet sind und nicht immer mit gleichem Ergebnis zwischen Rechtsrichtigkeit und –sicherheit abwägen. Die Länge der Fristen ist damit immer auch ein Indikator für das Gewicht, das den jeweiligen Rechtsgütern in den nationalen Rechtstraditionen zukommt. Die Existenz von Fristen in allen Mitgliedstaaten ist Beleg für die gemeinschaftsweite Anerkennung der Rechtssicherheit. Schließlich hat das Prinzip der zeitlichen Begrenzung von Rechten durch verfahrensrechtliche Regelungen als Ausdruck der Rechtssicherheit auch in den EG-Vertrag Eingang gefunden. Nach Art. 230 Abs. 5 EGV müssen Nichtigkeitsklagen innerhalb von zwei Monaten erhoben werden. Nach Ablauf der Frist hat der Kläger die Entscheidung der Gemeinschaftsorgane hinzunehmen.651 Im Ergebnis ist das Prinzip der Rechtssicherheit seit langem als Fundamentalprinzip des Gemeinschaftsrechts anerkannt.652 Damit hat der EuGH zu Recht die Zulässigkeit von Fristen mit Gedanken der Rechtssicherheit gerechtfertigt. 648 In diese Richtung auch der EuGH im Urteil vom 27.10.1993, C-338/91, Slg. 1993, I-5475 – Steenhorst-Neerings, Rn. 22: Fristen dienen „dem Ziel zu vermeiden, dass die Rechtmäßigkeit von Verwaltungsentscheidungen auf unbestimmte Zeit in Frage gestellt wird.“ 649 Selbstverständlich bedeutet das nicht, dass Rechtsverletzungen allein deshalb hinzunehmen sind, weil der Staat den Verwaltungsaufwand bei den Steuerpflichtigen als zu groß einschätzt. Bei der Gestaltung der Rechtslage kann der Gesetzgeber aber durchaus in Rechnung stellen, dass an der Rückabwicklung lang zurückliegender Sachverhalte in der Regel ein geringeres Interesse besteht. 650 Vgl. dazu auch S. 174. 651 Die Bedeutung dieser Norm für die Rechtssicherheit wurde hervorgehoben vom EuGH im Urteil vom 12.10.1978, 156/77, Slg. 1978, 1881 – Kommission/Belgien, Rn. 21/24. Ehricke, in: Streinz, Art. 230 EGV, Rn. 28.

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(2) Ordnungsgemäßer Verfahrensablauf Neben der Rechtssicherheit spielte auch die Sicherstellung eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs eine gewisse Rolle bei der Rechtfertigung beschränkender (Verfahrens-)Normen. So darf der Staat etwa in der Vergangenheit liegende Sachverhalte unberücksichtigt lassen, wenn das Vorliegen anspruchsbegründender Tatsachen in der Vergangenheit nicht ausreichend verifiziert werden kann.653 Im Steuerrecht wird die fehlende Verifikationsmöglichkeit für den Staat auf Primärebene unter dem Stichwort der Wirksamkeit der Steueraufsicht diskutiert.654 Zulässig ist es demnach, dem Bürger Belastungen aufzuerlegen, wenn der Staat keine andere Möglichkeit hat, die Erfüllung des Steuertatbestandes nachzuweisen. Die Wirksamkeit der Steueraufsicht erfüllt die Voraussetzungen für einen zwingenden Grund des Allgemeinwohls. Soweit das Verfahrensrecht den Finanzbehörden die erforderlichen Mittel zur Verfügung stellt, um Steuern zutreffend festzusetzen, fördert dies die Gleichmäßigkeit der Steuererhebung und liegt damit im Allgemeininteresse. Darüber hinaus ist die objektiv richtige Steuererhebung Teil des Gesetzmäßigkeitsprinzips und damit gemeinschaftsweit anerkannt. Zwar ergingen die Urteile, in denen die Wirksamkeit der Steueraufsicht anerkannt wurde, bislang nur zur Primärebene, doch lässt sich der Gedanke auch auf die Erstattung als actus contrarius zur Steuererhebung übertragen. Das Verfahrensrecht muss nicht nur den Mitgliedstaaten ausreichende Verifikationsmöglichkeiten bei der Erhebung der Steuern einräumen, es muss dem Staat auch die Gelegenheit geben, das Vorliegen der Voraussetzungen für eine Erstattung zu prüfen. Normen, die wie § 90 Abs. 2 AO den Steuerpflichtigen auch in Erstattungssituationen erhöhte Mitwirkungspflichten auferlegen, können daher grundsätzlich auf die Wirksamkeit der Steueraufsicht als zwingenden Allgemeinwohlgrund gestützt werden. Entscheidend kommt es bei diesem Rechtsgut allerdings auf die Erforderlichkeit im Rahmen der Verhältnismäßigkeit an, da das Gemein652 EuGH, Urteil vom 6.4.1962, 13/61, Slg. 1962, 97 – de Geus/Bosch und van Rijn, Rn. 6; Urteil vom. 25.1.1979, 98/78, Slg. 1979, 69 – Racke, Rn. 5. Vgl. Schwarze, in: O’Keeffe, Liber Amicorum Slynn, S. 447 (449); Röben, S. 362; Haibach, NVwZ 1998, S. 456 (459); Hoskins, E.L.Rev. 1996, 21(5), 365 bei Fn. 11. 653 In der Rs. Steenhorst-Neerings (Urteil vom 27.10.1993, C-338/91, Slg. 1993, I-5475) entschied der EuGH, dass eine in den Jahren vor Antragstellung bestehende Erwerbsunfähigkeit unberücksichtigt bleiben kann, da wegen der Veränderlichkeit des Gesundheitszustandes nicht überprüft werden könne, ob der Betroffene die Voraussetzungen für die Leistung schon damals erfüllte, Rn. 23. 654 Etwa EuGH, Urteil vom 15.5.1997, C-250/95, Slg. 1997, I-2471 – Futura Participations, Rn. 31 und schon Urteil vom 20.2.1979, 120/78, Slg. 1979, 649 – Cassis de Dijon, Rn. 8. Dazu auch Cordewener, DStR 2004, 6 (9). Im Kern handelt es sich um das gleiche Rechtsgut, das sonst als ordnungsgemäßer Verfahrensablauf bezeichnet wird.

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schaftsrecht den Mitgliedstaaten bei grenzüberschreitenden Sachverhalten über die Amtshilferichtlinie655 eigene Erkundungsmöglichkeiten einräumt, die eine Belastung der Steuerpflichtigen mitunter entbehrlich machen.656 Größere Bedeutung kommt eher dem Teilaspekt der Sicherung des ordnungsgemäßen und zügigen Gerichtsverfahrens zu, wie es Gegenstand der Entscheidung Peterbroeck war.657 Der EuGH bezeichnete die Existenz einer Präklusionsnorm, die die Zulässigkeit einzelner Rechtsrügen von ihrer frühzeitigen Erhebung im Gerichtsverfahren abhängig macht, nicht als generell unzulässig.658 Im Ergebnis entschied er zwar, dass das Gemeinschaftsrecht der streitgegenständlichen Norm entgegenstehe; maßgeblich hierfür war jedoch, dass die Regelung die Berücksichtigung gemeinschaftsrechtlicher Gesichtspunkte faktisch ausschloss, da gemeinschaftsrechtliche Argumente schon präkludiert waren, bevor erstmals ein Gericht mit der Sache befasst war. Aus diesem Grund musste in der Abwägung letztlich das Rechtsgut des ordnungsgemäßen und schnellen Gerichtsverfahrens zurücktreten.659 An der Entscheidung lässt sich dennoch zeigen, dass auch das ordnungsgemäße (Gerichts-)Verfahren als zwingender Grund des Allgemeinwohls anerkannt ist. Ein zügiges (Gerichts-)Verfahren, das durch die Erhebung von Rügen nicht beliebig verschleppt werden kann, dient dem Interesse der Allgemeinheit, da die knappe Ressource Rechtspflege so allen Rechtsschutzbedürftigen offen steht.660 Dass die Beschleunigung des Verfahrens strukturell gegenläufig zur materiellen Richtigkeit der Entscheidungen ist, muss im Rahmen der Abwägung mit dem Gebot der Gesetzmäßigkeit berücksichtigt werden.661

655

Richtlinie 77/799/EWG vom 19.12.1977, ABl. Nr. L 336, S. 15. So auch Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 41. 657 EuGH, Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck. 658 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599 – Peterbroeck, Rn. 16, wo primär die Länge der Frist von 60 Tagen nicht beanstandet wird. Inzident steht damit aber auch fest, dass eine Präklusionsnorm grundsätzlich zulässig ist. 659 Dass die Regelung erst in der Abwägung und nicht bereits an fehlenden rechtfertigenden Rechtsgütern scheiterte, zeigt die Formulierung, dass sich die Regelung „nicht in vertretbarer Weise rechtfertigen“ ließ, Rn. 20. Im Urteil vom 14.12.1995, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705 – van Schijndel, Rn. 21 wird die Bedeutung des zügigen Verfahrens hervorgehoben, um zu begründen, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte nicht verpflichtet sind, von Amts wegen die Frage eines Verstoßes gegen Gemeinschaftsvorschriften aufzugreifen. Siehe auch unten S. 187. 660 EuGH, Urteil vom 14.12.1995, verb. Rs. C-430/93 und C-431/93, Slg. 1995, I-4705 – van Schijndel, Rn. 21. Iglesias, EuGRZ 1997, S. 289 (293). 661 Nach Röben, S. 362, musste die Abwägung in der Rs. Peterbroeck (Urteil vom 14.12.1995, C-312/93, Slg. 1995, I-4599) zu Lasten der Beschleunigung ausfallen, da die Rügefrist faktisch diskriminierend ausgestaltet war. Angesichts des hohen Gewichts diskriminierender Eingriffe war das Gewicht einer Beschleunigung im Ergebnis zu gering. 656

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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Die gemeinschaftsweite Anerkennung der Verfahrensbeschleunigung ergibt sich besonders deutlich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK, in dem ausdrücklich das Recht auf ein Verfahren in „angemessener Frist“ statuiert ist. Die EMRK bindet nicht nur die Mitgliedstaaten, die sie unterschrieben haben, sondern zusätzlich die Gemeinschaft selbst, indem sie durch Art. 6 Abs. 2 EUV in Bezug genommen wird. Das Verfahrensgrundrecht des Art. 6 Abs. 1 EMRK ist damit Beleg für die gemeinschaftsweite Anerkennung des ordnungsgemäßen Verfahrens und damit auch für dessen Anerkennung als eines zwingenden Allgemeinwohlgrundes. (3) Öffnung für eine Rechtfertigung durch weitere Rechtsgüter Die bislang zum Erstattungsrecht ergangenen Entscheidungen haben weitere Rechtsgüter nicht explizit als zwingende Gründe des Allgemeinwohls anerkannt. Nichtsdestotrotz klingen immer wieder Überlegungen an, auch Rechtsgüter wie etwa die Sicherung der Haushaltsstabilität als Gemeinwohlgrund anzuerkennen. (a) Sicherung der Haushaltsstabilität Urteile des EuGH zur Vereinbarkeit des materiellen Steuerrechts mit dem Gemeinschaftsrecht führen häufig zu erheblichen Erstattungsansprüchen der Steuerpflichtigen.662 Von Seiten der Mitgliedstaaten wird im Verfahren häufig angeführt, die Entscheidung könne verheerende Auswirkungen auf die Staatsfinanzen haben. Um drohenden Rückzahlungsverpflichtungen vorzubeugen, erschweren viele Mitgliedstaaten die Voraussetzungen für eine Erstattung.663 Dabei geben sie mitunter offen zu erkennen, dass die Änderung des Verfahrensrechts allein der Abwehr von Haushaltsrisiken dient.664 Soweit der EuGH bislang Verfahrensregeln gebilligt hat, obwohl sie von der gesetzgeberischen Intention her Erstattungsrisiken ausschließen sollten, hat er fast ausschließlich auf das Rechtsgut der Rechtssicherheit Bezug genommen. Möglicherweise ist aber auch die Sicherung der Haushaltsstabilität als eigenständiger zwingender Grund des Allgemeinwohls anzuerkennen.

662

Vgl. etwa Kokott/Henze, NJW 2006, S. 177. Aus entsprechenden Maßnahmen resultierten unter anderem die Entscheidungen Weber’s Wine World (Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365), Grundig Italiana (Urteil vom 24.9.2002, C-255/00, Slg. 2002, I-8003), Marks & Spencer (Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325). 664 Vgl. die Ausführungen im Urteil vom 2.10.2003, C-147/01, Slg. 2003, I-11365 – Weber’s Wine World. 663

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

(aa) Abgrenzung zum Rechtsgut der Rechtssicherheit Der Schutz der Rechtssicherheit und der Schutz der Haushaltsstabilität haben gemeinsam, dass beide Ziele erreicht werden, wenn das Verfahrensrecht es nach Ablauf einer gewissen Zeit nicht mehr zulässt, dass Verwaltungsentscheidungen zu Gunsten des Steuerpflichtigen in Frage gestellt werden können. Verfahrensrechtliche Maßnahmen, die zu einer Verfestigung der durch einen Verwaltungsakt konkretisierten Rechtslage führen, fördern daher sowohl die Rechtssicherheit als auch die Haushaltsstabilität. Aus diesem Grund ordnete wohl auch der EuGH den Versuch Großbritanniens, die Verkürzung der Frist für Steuererstattungen mit dem Ziel zu rechtfertigen, „Einnahmen und Ausgaben ohne Störung durch unvorhergesehene größere Verbindlichkeiten zu planen“, als einen Aspekt der Rechtssicherheit ein.665 Trotz der Verwandtschaft hinsichtlich der Art und Weise, wie das Ziel erreicht werden kann, gibt es doch entscheidende Unterschiede. So zielt die Rechtssicherheit darauf ab, dass der Verwaltungsakt von beiden Parteien nach einer bestimmten Zeit nicht mehr in Frage gestellt werden kann.666 Jede Partei kann darauf vertrauen, dass sowohl sie selbst den Verwaltungsakt nicht mehr zu ihren Gunsten beeinflussen kann, als auch die Gegenpartei keine Änderungen mehr zu ihren Lasten anstoßen kann. Aus Sicht der Minimierung von Haushaltsrisiken ist es hingegen nur erforderlich, Erstattungsansprüche der Steuerpflichtigen auszuschließen. Dem Interesse des Staates am Bestand des Verwaltungsakts steht kein unmittelbares Interesse des potentiell erstattungsberechtigten Bürgers gegenüber. In die gleiche Richtung wie das Bestandsinteresse des Staates geht allein das Interesse der Allgemeinheit. Die Erhebung von Steuern dient der Finanzierung der allgemeinen Staatsaufgaben.667 Steuerrückzahlungen an Einzelne für die Vergangenheit können nur durch eine verringerte staatliche Aufgabenerfüllung oder eine erhöhte Steuerlast in der Zukunft kompensiert werden.668 Der Vorteil der Erstattungsberechtigten ist letztendlich in jedem Fall durch die Allgemeinheit zu finanzieren.669 Bei dem Rechtsgut der Haushaltsstabilität steht dem Erstattungsinteresse

665 EuGH, Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer. In Rn. 41 f. wird auf Rn. 35 des Urteils verwiesen, in der das Rechtsgut Rechtssicherheit ausdrücklich hervorgehoben wird. 666 Die Länge der Frist kann für die Parteien aber durchaus asymmetrisch ausgestaltet sein, vgl. oben S. 169. 667 Birk, Rn. 1. Vgl. auch die Definition von Steuern in § 3 Abs. 1 AO: „. . . zur Erzielung von Einnahmen . . .“. Das Fehlen einer spezifischen Zweckbindung grenzt die Steuern gerade von anderen Arten von Abgaben ab. 668 Die Möglichkeit einer erhöhten Staatsverschuldung verschiebt nur die Notwendigkeit für erhöhte staatliche Einnahmen oder verringerte staatliche Ausgaben in die Zukunft.

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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des Berechtigten folglich das Bestandsinteresse des Staates und der Allgemeinheit gegenüber. Aus diesem Grund unterscheidet sich die Interessenlage bei der Sicherung der Haushaltstabilität maßgeblich von der Interessenlage bei der Rechtssicherheit. Das Rechtsgut der Haushaltsstabilität sollte daher nicht als ein Unteraspekt der Rechtssicherheit betrachtet werden, da andernfalls die spezifische gesetzgeberische Intention und Interessenlage keine ausreichende Berücksichtigung findet. (bb) Anerkennung des Schutzes der Haushaltsstabilität Auf den ersten Blick scheinen Versuche der Mitgliedstaaten, beschränkende Regelungen mit dem Verweis auf haushaltspolitische Notwendigkeiten zu rechtfertigen, ohne Erfolg geblieben zu sein. Die generelle Linie des EuGH lautet, dass sich die Mitgliedstaaten ihren Verpflichtungen aus dem EG-Vertrag nicht unter Berufung auf die damit verbundenen wirtschaftlichen Schwierigkeiten entziehen können.670 Als steuerrechtsspezifische Konkretisierung dieses Grundprinzips formuliert der EuGH regelmäßig, dass „Steuermindereinnahmen kein zwingender Grund des Allgemeininteresses sind, der zur Rechtfertigung einer gegen eine Grundfreiheit verstoßenden Maßnahme angeführt werden könnte.“671 In dieser Auffassung stimmt der EuGH mit dem deutschen Bundesverfassungsgericht überein, das schon 1957 entschied, dass der „Finanzbedarf des Staates (. . .) niemals geeignet [ist], eine verfassungswidrige Steuer zu rechtfertigen“.672 Würde man den Finanzbedarf als Rechtfertigungsgrund anerkennen, stünde der Eingriff in nationale Grundrechte im Belieben des Gesetzgebers. 669 Dies unterstreicht auch die Pressemitteilung des Bundesfinanzministeriums Nr. 121/2006 vom 5.10.2006, in der das Bundesfinanzministerium – mit recht populistischen Tönen – eine Begrenzung der zeitlichen Wirkung des Urteils in der Rs. Meilicke (Urteil vom 6.3.2007, C-292/04, Slg. 2007, I-1835) entgegen den Schlussanträgen der Generalanwältin Stix-Hackl fordert. 670 So ausdrücklich EuGH, Urteil vom 10.7.1984, 72/83, Slg. 1984, 2727 – Campus Oil Ltd, Rn. 35 unter Berufung auf EuGH, Urteil vom 9.6.1982, 95/81, Slg. 1982, 2187 – Kommission/Italien, Rn. 27. Cordewener, DStR 2004, S. 6 (9). 671 EuGH, Urteil vom 15.7.2004, C-315/02, Slg. 2004, I-7063 – Lenz, Rn. 40; Urteil vom 6.6.2000, C-35/98, Slg. 2000, I-4073 – Verkooijen, Rn. 59; Urteil vom 3.10.2002, C-136/00, Slg. 2002, I-8147 – Danner, Rn. 56; Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477 – Manninen, Rn. 49; Urteil vom 21.11.2002, C-436/00, Slg. 2002, I-10829 – X und Y, Rn. 50; Urteil vom 21.9.1999, C-307/97, Slg. 1999, I-6161 – St. Gobain, Rn. 51; Urteil vom 16.7.1998, C-264/96, Slg. 1998, I-4695 – ICI, Rn. 28. Wernsmann, EuR 1999, S. 754 (774). Laule, in: Althuber/Toifl, S. 61 (70) stellt fest, dass der Schutz des staatlichen Budgets nicht als Argument für eine Rechtsfolgenbeschränkung auf Primärebene herangezogen werden darf. Ob damit ein entsprechender Rechtfertigungsgrund auf Sekundärebene auch unzulässig ist, lässt er offen. 672 Ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts seit BVerfGE 6, S. 55 (80). Später auch BVerfGE 82, S. 60 und 87, S. 153.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Die Haltung des EuGH kann allerdings nicht damit erklärt werden, dass die Stabilität des Staatshaushalts per se kein zwingender Grund des Allgemeininteresses wäre, wie er durch den EuGH definiert wird. Ein stabiler Haushalt liegt zum einen nicht nur im staatlichen Individualinteresse, sondern ist wegen der Bedeutung für die Erfüllung der Staatsaufgaben von Relevanz für die Allgemeinheit. Zum anderen hat das Ziel funktionsfähiger und ausgeglichener Haushalte Eingang in das Primärrecht gefunden (Art. 104 EGV)673 und ist, wie unten gezeigt wird, auch in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt. Tatsächlich hat der EuGH das klare Bekenntnis zum absoluten Vorrang des Grundfreiheitsschutzes gegenüber haushaltspolitischen Erwägungen auch verschiedentlich eingeschränkt. Der oben zitierte, apodiktisch anmutende Ausschluss haushaltsstabilitätsorientierter Erwägungen ist im Zusammenhang mit den Entscheidungen zu sehen, in denen solche Überlegungen durchaus Niederschlag gefunden haben. a) Sozialversicherungsrecht Eine Relativierung hat der Grundsatz im Sozialversicherungsrecht erfahren, wo der Ausschluss eines Anspruchs auf Leistungen wegen Erwerbsunfähigkeit für die Vergangenheit als zulässig angesehen wurde, um das „finanzielle Gleichgewicht“ des Systems zu erhalten.674 Auch in anderen Zusammenhängen wurde im Sozialrecht das finanzielle Gleichgewicht des Systems der sozialen Sicherheit als zwingender Grund des Allgemeininteresses ausdrücklich anerkannt.675 Aus den Urteilen lässt sich die Aussage abstrahieren, dass das finanzielle Gleichgewicht eines Systems, für das ein bestimmter Personenkreis Beiträge erbringt und das seinerseits Leistungen an diesen Kreis erbringt, ein schützenswertes Gemeinschaftsgut ist. Mit dem Kollabieren dieses Systems wäre zwangsläufig ein Leistungsverlust für alle Beitragszahler verbunden. Dieser Nachteil muss nur dann in Kauf genommen werden, wenn der Vorteil, den der Einzelne aus der Geltendmachung seines Rechtes erzielt, den Nachteil für die Gesamtheit der Beitragszahler übersteigt. Die Anerkennung dieses Gedankens im Sozialversicherungsrecht lässt sich nicht ohne weiteres auf den Staatshaushalt übertragen. Schließlich beruhen So673 Nach Abs. 1 vermeiden die Mitgliedstaaten übermäßige öffentliche Defizite. Die Verpflichtung wird weiter konkretisiert durch die Entschließung des Europäischen Rates über den Stabilitäts- und Wachstumspakt vom 17. Juni 1997, ABl. 1997, C 236/1. 674 In Rn. 23 – Urteil vom 27.10.1993, C-338/91, Slg. 1993, I-5475 – SteenhorstNeerings steht das Argument der Sicherung des finanziellen Gleichgewichts gleichrangig neben dem Ziel, ein ordnungsgemäßes Verfahren sicherzustellen. 675 Ausdrücklich EuGH, Urteil vom 28.4.1998, C-120/95, Slg. 1998, I-1831 – Decker/Caisse de maladie, Rn. 11; ebenso Urteil vom 6.12.1994, C-410/92, Slg. 1994, I-5483 – Johnson, Rn. 30.

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zialversicherungssysteme stärker auf dem Solidarprinzip als Staatshaushalte. Die Konnexität zwischen Beitrag und Leistung ist bei ersteren durch die zweckgebundene Mittelverwendung sicher gestellt. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass durch Beiträge der Bürger bzw. Versicherten Gemeinschaftsaufgaben finanziert werden, die bei einer übermäßigen Belastung des Systems nicht mehr erbracht werden können. Eine Übertragung dieses Gedankens klingt auch in der Entscheidung Marks & Spencer an.676 Bei der Zulässigkeit beschränkender Erstattungsregeln sei abzuwägen „zwischen den Interessen der Einzelnen und denen der Gesamtheit“. Dem liegt das Verständnis zu Grunde, dass das Staatsinteresse mit dem Interesse der Allgemeinheit korreliert. Daher sei es „dem Staat zu ermöglichen, seine Einnahmen und Ausgaben ohne Störung durch unvorhergesehene größere Verbindlichkeiten zu planen.“ Ebenso wie der Zusammenbruch eines Systems der sozialen Sicherheit einen Verlust für die Mitglieder dieses Systems bedeutet, können Belastungen des Staatshaushalts zu Wohlfahrtsverlusten für alle Bürger führen. Dieses Interesse der Allgemeinheit sei daher in jedem Fall zu berücksichtigen. b) Beschränkung der Urteilswirkungen auf Primärebene In jüngerer Zeit mehren sich Verfahren vor dem EuGH, bei denen die Mitgliedstaaten bei einem für den Steuerpflichtigen günstigen Ausgang eine Flut von Erstattungsanträgen erwarten,677 die in der Summe zu erheblichen Belastungen der Haushalte führen können.678 Viele Mitgliedstaaten reagieren darauf mit einem Antrag an den EuGH, die zeitliche Reichweite des Auslegungsurteils zu begrenzen.679 In der Vergangenheit hat der Gerichtshof in Einzelfällen entsprechenden Anträgen auch stattgegeben und damit die finanziellen Auswirkungen seiner Urteile auf die Mitgliedstaaten in Rechnung gestellt.680 676 EuGH, Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 41. 677 Prominentestes Beispiel in Deutschland ist das Verfahren in der Rs. Meilicke (Urteil vom 6.3.2007, C-292/04, Slg. 2007, I-1835). In Österreich sorgte das Verfahren Evangelischer Krankenhausverein Wien (Urteil vom 9.3.2000, C-437/97, Slg. 2000, I-1157) für Aufsehen. Von gemeinschaftsweitem Interesse war ferner das britische Verfahren Marks & Spencer (Urteil vom 13.12.2005, C-446/03, Slg. 2005, I10837) zur grenzüberschreitenden Verlustverrechnung in Konzernen. 678 Vgl. etwa Kokott/Henze, NJW 2006, S. 177. 679 Vgl. etwa die ausführlich geführte Debatte über die Möglichkeit einer Beschränkung der zeitlichen Reichweite in den Verfahren Banca Popolare di Cremona (vor allem in den Schlussanträgen vom 17.3.2005, C-475/03, Slg. 2006, I-9373) und Meilicke (Urteil vom 6.3.2007, C-292/04, Slg. 2007, I-1835). 680 So EuGH im Urteil vom 16.7.1992, C-163/90, Slg. 1992, I-4625 – Legros, Rn. 35; Urteil vom 9.3.2000, C-437/97, Slg. 2000, I-1157 – Evangelischer Krankenhausverein Wien, Tenor Ziffer 3.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

Eine klare Rechtsgrundlage für den Ausspruch der Fortgeltung rechtswidriger Normen und damit für die Möglichkeit, die Urteilswirkungen zeitlich zu beschränken, existiert nur für die Nichtigkeitsklage (Art. 231 Abs. 2 EG). Für Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 234 EG ist vergleichbares hingegen nicht vorgesehen. Auf Grund der vergleichbaren Interessenlage681 entschied der EuGH aber bereits 1976 in der Rs. Defrenne,682 dass auch in Vorabentscheidungsverfahren die Begrenzung der zeitlichen Reichweite möglich sei, so dass sich die Bürger auf die in dem Urteil vorgenommene Auslegung des Gemeinschaftsrechts nur für die Zukunft berufen können. Voraussetzung für eine Begrenzung683 ist nach mittlerweile gefestigter Rechtsprechung, dass zu den schwerwiegenden wirtschaftlichen Folgen, die eine unbegrenzte Wirkung des Urteils hätte, eine in der Vergangenheit bestehende Rechtsunsicherheit hinzutritt.684 Die „finanziellen Konsequenzen, die sich aus der Vorabentscheidung für einen Mitgliedstaat ergeben können, [rechtfertigen] für sich allein nicht die zeitliche Begrenzung der Wirkungen des betreffenden Urteils.“685 Umgekehrt reicht für eine Begrenzung aber auch eine bislang bestehende Rechtsunsicherheit nicht aus. Trotz der sich im Fluss befindlichen Rechtsprechung auf diesem Gebiet kann jedenfalls festgehalten werden, dass die finanziellen Auswirkungen eines Urteils 681 Eine Auslegungsentscheidung im Rahmen eines Vorabentscheidungsverfahrens gestaltet die Rechtslage nicht, sondern „erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre“ (etwa Urteil vom 17.2.2005, C-453/02 und 462/ 02, Slg. 2005, I-1131 – Linneweber). Auf Grund des Anwendungsvorrangs muss die Norm jedoch dauerhaft unangewendet bleiben. Der Unterschied zur Aufhebung wie bei einer Nichtigkeitsklage ist damit eher formaler Natur; vgl. Kokott/Henze, NJW 2006, 177 (178); anderer Ansicht Weiß, EuR 1995, S. 377 (381), der die Konstellation des Vorabentscheidungsverfahrens wegen der fehlenden Aufhebung der Norm durch den EuGH für mit der Nichtigkeitsklage nicht vergleichbar hält. Er kommt allerdings zu ähnlichen Ergebnissen, indem er statt einer Analogie zu Art. 231 Abs. 2 EGV die Rechtsgrundlage direkt aus dem Prinzip der Rechtssicherheit ableitet. – Vgl. auch Wernsmann/Behrmann, Jura 2006, S. 181 (186). 682 EuGH, Urteil vom 8.4.1976, 43/75, Slg. 1976, 455 – Defrenne, Rn. 69 ff. 683 Zusammenfassend zu den Voraussetzungen einer Beschränkung: Kokott/Henze, NJW 2006, S. 177 (178); Forsthoff, DStR 2005, S. 1840 (1841); Lindemann/Hackemann, IStR 2005, S. 786 (788 f.); Weiß, EuR 1995, S. 377 (385); Balmes/Ribbrock, BB 2006, S. 17 (18 f.). 684 Die Unsicherheit kann etwa daraus resultieren, dass in der Vergangenheit gegen Mitgliedstaaten keine Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet worden sind (Urteil vom 8.4.1976, 43/75, Slg. 1976, 455 – Defrenne), dass eine Auslegung einer Gemeinschaftsrechtsnorm durch den EuGH bislang fehlte (Urteil vom 4.5.1999, C-262/96, Slg. 1999, I-2685 – Sürül, Rn. 109 und Urteil vom 9.3.2000, C-437/97, Slg. 2000, I-1157 – Evangelischer Krankenhausverein Wien, Rn. 58) oder dass die bisherige Judikatur missverständlich war (Urteil vom 4.5.1999, C-262/96, Slg. 1999, I-2685 – Sürül, Rn. 110). 685 EuGH, Urteil vom 17.2.2005, C-453/02 und 462/02, Slg. 2005, I-1131 – Linneweber, Rn. 44.

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auf die Staatshaushalte686 notwendige, wenn auch nicht hinreichende Bedingung für eine Beschränkung sind. g) Übertragbarkeit auf das Erstattungsrecht Der Grundsatz, dass eine Beschränkung der Grundfreiheiten nicht durch rein fiskalische Gründe gerechtfertigt werden kann, und die (zumindest teilweise) Anerkennung dieser Belange als zwingende Gründe des Allgemeinwohls in den beiden angeführten Fallgruppen scheinen sich diametral gegenüberzustehen. Bei näherem Hinsehen lässt sich beides aber durchaus vereinbaren. Fiskalische Gründe sind als Rechtfertigung für Beschränkungen regelmäßig ausgeschlossen, wenn es um die Vereinbarkeit materieller Steuerrechtsnormen mit dem Gemeinschaftsrecht geht. Bei Anerkennung einer solchen Rechtfertigung ließen sich Eingriffe nahezu beliebig legalisieren, solange sie nur der Einnahmenerzielung dienen. Der inhaltliche Gestaltungsanspruch der Grundfreiheiten wäre damit aufgegeben; Mitgliedstaaten könnten ihr Steuerrecht protektionistisch ausgestalten und damit das Binnenmarktziel konterkarieren. Dort, wo der EuGH fiskalische Belange als zwingende Allgemeinwohlgründe anerkannt hat, geht es hingegen um die Bewältigung abgeschlossener Sachverhalte aus der Vergangenheit. Gerade bei der Beschränkung der zeitlichen Reichweite eines Urteils durch den EuGH steht es außer Frage, dass bei künftigen Gesetzesanwendungen der Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts vollumfänglich gilt. Der Mitgliedstaat bleibt ebenfalls verpflichtet, sein nationales Recht dem Gemeinschaftsrecht in seiner Auslegung durch den EuGH anzupassen. Die Mitgliedstaaten können und müssen ihr Steuersystem so gestalten, dass sie ihren Finanzbedarf befriedigen können, ohne die Gemeinschaftsrechte ihrer Bürger zu verletzen. Die Mitgliedstaaten sind dabei allerdings nicht mit der Entscheidung konfrontiert, entweder einen funktionsfähigen Haushalt aufzustellen oder das Gemeinschaftsrecht zu wahren. Es steht für die Zukunft immer ein Steuersystem zur Verfügung, das sowohl gemeinschaftsrechtskonform ist als auch eine angemessene Staatsfinanzierung sicherstellt. In dem Wissen, dass beide Ziele parallel erreicht werden können, weigerte sich der EuGH bislang zu Recht immer, sein Plazet zu einer Beschränkung des Gemeinschaftsrechts aus rein wirtschaftlichen Gründen zu erteilen. Auf Sekundärebene stellt sich die Situation jedoch anders dar. Angesichts drohender Steuerrückzahlungen in Milliardenhöhe bei beschränkungsloser Erstattung kann durchaus ein echtes Alternativverhältnis zwischen der Funktionsfähigkeit der Staatshaushalte und der absoluten Geltung des gemeinschaftsrecht-

686 Dem stehen die Sozialversicherungssysteme gleich, vgl. Urteil vom 4.5.1999, C-262/96, Slg. 1999, I-2685 – Sürül.

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lichen Erstattungsanspruchs bestehen. Schließlich kann ein Mitgliedstaat für die Vergangenheit sein Steuersystem nicht in der Weise umgestalten, dass der Fehlbetrag kompensiert werden kann. Die zu erstattenden Steuern können allein aus dem laufenden bzw. künftigen Steueraufkommen geleistet werden.687 Die Gründe, die dagegen sprechen, eine Rechtfertigung von Beschränkungen der Grundfreiheiten durch finanzielle Erwägungen zu rechtfertigen, haben auf Sekundärebene daher keine zwingende Bedeutung. Vielmehr ist kein Grund ersichtlich, warum nur der EuGH auf der Rechtsfolgenseite der Primärebene dieses Rechtsgut anführen können sollte, wenn er die zeitliche Reichweite seiner Urteile begrenzt. Einen behutsamen Umgang mit diesem Rechtsgut vorausgesetzt, könnten die Mitgliedstaaten so das Erstattungsverfahren unter Abwägung der Individual- und Kollektivinteressen ausgestalten. d) Praktische Relevanz Vor allem die Verkürzung von Anfechtungs- oder Verjährungsfristen oder die Einführung verschärfter Erstattungsvoraussetzungen688 sind Anwendungsfälle dieses Rechtsguts. Die bislang bemühte Rechtssicherheit689 ist nur scheinbar einschlägig, da es dem Gesetzgeber bei der Neuregelung nicht darum geht, im Interesse aller Parteien die Rechtslage zu verfestigen. Tatsächlich liegt ihm allein an der Absicherung gegenüber Haushaltsrisiken durch zukünftig zu erwartende Erstattungsverpflichtungen in der Folge von EuGH-Entscheidungen. Bei einer derartigen Interessenlage wird eine Diskussion der Zulässigkeit der Maßnahme unter dem Aspekt der Rechtssicherheit der Ausgangslage nicht gerecht. Bislang erwähnt der EuGH zwar, dass durch die Fristverkürzung Rückzahlungen vermieden werden sollen, doch bezieht er die Auswirkungen auf die Staatshaushalte in seine Überlegungen zur Gemeinschaftsrechtskonformität nicht mit ein.690 Im Interesse einer klaren Interessenabwägung sind die tatsächlich berührten Interessen herauszustellen und gegeneinander abzuwägen.

687 So auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zum Existenzminimum: „Müssten nunmehr Steuerfälle in großer Zahl für viele Kalenderjahre neu aufgerollt und teilweise rückabgewickelt werden, so könnte damit das Haushaltsvolumen früherer Haushaltsjahre nicht rückwirkend neu bemessen, sondern nur die damaligen Steuerschuldner zu Lasten des gegenwärtigien Staatshaushalts und zukünftiger Steuerzahler entlastet werden“; BVerfGE 87, S. 153 (179). Die rückwirkende Entlastung mit einer anderweitigen rückwirkenden Belastung zu verbinden, wird in der Regel am rechtsstaatlich geforderten Vertrauensschutz scheitern, so Wernsmann, S.27. 688 Zu denken ist etwa an die Ergänzung des § 175 Abs. 2 AO zur Begrenzung der Auswirkungen der Entscheidungen Manninen (Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477) und Meilicke (Urteil vom 6.3.2007, C-292/04, Slg. 2007, I-1835). 689 Vgl. etwa EuGH, Urteil vom 11.7.2002, C-62/00, Slg. 2002, I-6325 – Marks & Spencer, Rn. 42 und 35.

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Die Aufgabe, das spezifische Gewicht des gesamtstaatlichen Interesses an der Stabilität der Haushalte gegen das Individualinteresse der Rückzahlung rechtswidrig erhobener Steuern abzuwägen, fällt dann der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu. Zuvor ist jedoch das Rechtsgut Haushaltsstabilität endgültig auch als Rechtfertigungsmöglichkeit für nationale Erstattungsausschlüsse anzuerkennen. Der EuGH würde damit seine Rechtsprechung im Sozialversicherungsrecht und zur Beschränkung der Urteilswirkungen auf Primärebene konsequent fortführen. (b) Gutgläubigkeit bei der Steuererhebung Vor allem bei der Diskussion über die Rechtsfolgen eines Verstoßes gegen das Gemeinschaftsrecht auf Primärebene wird der Gutgläubigkeit der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Vereinbarkeit ihres nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht eine gewisse Bedeutung beigemessen.691 Die bestehende Rechtsunsicherheit ist eine der Voraussetzungen für eine Beschränkung der Urteilswirkungen.692 Es liegt nahe, dass Mitgliedstaaten – hierdurch ermutigt – nationale Erstattungsausschlüsse mit ihrer Gutgläubigkeit bei der Steuererhebung zu rechtfertigen suchen. Eine entsprechende Regelung des dänischen Rechts war Gegenstand der Entscheidung in der Rs. Fantask.693 Danach war ein Erstattungsantrag abzuweisen, wenn die materiellen Vorschriften lange Zeit galten, ohne dass sich die Behörde und der Betroffene der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit der Rechtsgrundlage der Erhebung bewusst waren und sofern dieser Irrtum entschuldbar war. Der EuGH sah hierin einen Verstoß gegen das Effektivitätsgebot. Die Erstattung werde übermäßig erschwert, weil nicht zuletzt Verstöße, die sich über einen langen Zeitraum hinzögen, begünstigt würden.694 Die Entscheidung überzeugt im Ergebnis, da weder die Gutgläubigkeit der Behörden noch ein „Verbotsirrtum“ eigenständige zwingende Gründe des Allgemeinwohls sind und andere Rechtsgüter zur Rechtfertigung nicht angeführt werden können. Die Gutgläubigkeit bei der Steuererhebung ist nicht selbst ein zwingender Allgemeinwohlgrund, sondern nur eine Form, das Ergebnis einer Interessenabwägung zu kodifizieren. Ebenso wie hinter Anfechtungsfristen das Rechtsgut 690 Vgl. nur EuGH, Urteil vom 9.2.1999, C-343/96, Slg. 1999, I-579 – Dilexport, Rn. 34 ff.; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 13 ff.; Urteil vom 2.2.1988, 309/85, Slg. 1988, 355 – Barra, Rn. 16 ff. 691 Insbesondere die Urteile Legros (Urteil vom 16.7.1992, C-163/90, Slg. 1992, I-4625) und Bidar (Urteil vom 15.3.2005, C-209/03, Slg. 2005, I-2119). 692 Vgl. oben S. 178. 693 EuGH, Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Vorlagefrage 6, Rn. 35 ff. 694 EuGH, Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 40.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

der Rechtssicherheit stehen kann, ist ein Erstattungsausschluss wegen gutgläubiger Steuererhebung nicht Rechtsgut an sich, sondern etwa Ausdruck des Interesses an stabilen Staatsfinanzen. Die Regelung kann damit durchaus ein legitimes Ziel verfolgen, wenn auch in ungewohntem Gewande. Die Unüblichkeit der Regelungstechnik allein führt jedoch nicht zu ihrer Gemeinschaftsrechtswidrigkeit. Auf welche Art und Weise die Mitgliedstaaten ihr Erstattungsverfahren ausgestalten, fällt in ihre Verfahrensautonomie, solange die Kodifikation die betroffenen Rechtsgüter nur angemessen gewichtet. Wie später zu zeigen ist, setzt dies allerdings die Geeignetheit des gewählten Mittels für das zu erreichende Ziel voraus. Der Zusammenhang darf dabei nicht auf sachwidrigen Erwägungen beruhen, bzw. es ist – wie Röben formuliert695 – eine Mindestrationalität der nationalen Norm erforderlich. Die Einführung eines subjektiven Elementes wie der Gutgläubigkeit in das Erstattungsverfahren widerspricht eklatant gemeinschaftsweit anerkannten Grundsätzen der Steuererhebung. Ebenso wenig wie die Steuererhebung keine Kenntnis des Steuerpflichtigen von der Verwirklichung des Steuertatbestandes voraussetzt, darf das Erstattungsrecht als actus contrarius die Kenntnis der Rechtswidrigkeit der Steuererhebung verlangen. Abhängig von der tatsächlichen Ausgestaltung des streitgegenständlichen dänischen Verfahrensgrundsatzes war es zur Zielerreichung damit schon ungeeignet.696 Wenig überzeugend ist allerdings das Argument des EuGH, der Grundsatz privilegiere Verstöße gegen das Gemeinschaftsrecht, die sich über lange Zeiträume hinzögen.697 Hand in Hand mit der Dauer der rechtswidrigen Steuererhebung steigen die finanziellen Auswirkungen der Gemeinschaftsrechtswidrigkeit einer Norm für den Staat an. Gerade dies ist aber Anlass für den Gerichtshof, die zeitliche Reichweite seiner Urteile zu begrenzen.698 Richtigerweise ist dies kein Grund, einer nationalen Regelung abzusprechen, dass sie zwingenden Allgemeinwohlgründen dient. Stattdessen handelt es sich um eine Frage der angemessenen Abwägung der betroffenen Rechtsgüter. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Gutgläubigkeit des Staates bei der Steuererhebung kein anerkanntes Rechtsgut ist, das Beschränkungen zu rechtfertigen vermag. Vielmehr ist bei der Prüfung einer entsprechenden Norm auf das Rechtsgut abzustellen, das hinter dieser Norm steht. 695

Röben, S. 362. Das zeigt auch das Urteil selbst. Die von subjektiven Voraussetzungen unabhängige Verjährungsfrist wurde in der Antwort auf die siebte Vorlagefrage aufrechterhalten, während in der subjektiven Gutgläubigkeitsvoraussetzung ein Gemeinschaftsrechtsverstoß gesehen wurde. 697 EuGH, Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 40. 698 Vgl. oben S. 177. 696

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(c) Kohärenz des nationalen Steuerrechts Der Rechtfertigungsgrund der Kohärenz wurde vom EuGH auf Primärebene zu Beginn der 90-er Jahre zwei Mal anerkannt,699 seitdem aber beständig tatbestandlich eingeschränkt und als nicht einschlägig angesehen.700 Nach dem Grundgedanken sollte eine steuerliche Belastung, die die Ausübung von Grundfreiheiten beschränkt, durch einen korrespondierenden Vorteil gerechtfertigt sein können, der mit ihr in unmittelbarem Zusammenhang steht. Prüfe man hingegen Vor- und Nachteil isoliert und lasse sich die Belastung aus gemeinschaftsrechtlichen Gründen nicht rechtfertigen, bliebe allein ein Vorteil bestehen, der die Kohärenz – die Stimmigkeit – des nationalen Steuersystems zerstöre.701 Zumindest der Ansatz dieser Argumentation könnte sich auch auf die Sekundärebene übertragen lassen. Während der Gesetzgeber bei einer gerichtlichen Verwerfung einer Abgabennorm für die Zukunft sein Recht anpassen und gemeinschaftsrechtskonform ausgestalten kann, ohne Steueraufkommen zu verlieren, ist dies bei einer vergangenheitsbezogenen Erstattungspflicht nicht möglich. Eine rückwirkende Anpassung des Steuerrechts scheidet im Regelfall aus. Wenn der Staat also für einen langen Zeitraum Steuern erstatten muss, bleiben möglicherweise die der Steuer zu Grunde liegenden Einkünfte systemwidrig unbesteuert. Eine derartige Konstellation wurde in der Literatur beispielsweise in Deutschland ausgemacht. Soweit die Bundesrepublik in der Folge der Rs. Meilicke zur nachträglichen Anrechnung ausländischer Körperschaftsteuer bei Dividendenbezügen verpflichtet ist, könnte die im vergleichbaren Inlandsfall in § 20 Abs. 1 Nr. 3 EStG 1999 angeordnete Steuerpflicht des Anrechnungsbetrags wegen Bestandskraft der Steuerbescheide leer laufen. Ausländische Dividendenerträge wären damit systemwidrig gegenüber inländischen Erträgen begünstigt.702 Es erscheint nicht ausgeschlossen, eine nationale Verfahrensnorm, die die Erstattung insoweit ausschließt, wie dieser zu einem systemwidrigen Vorteil führen würde, als gerechtfertigt anzusehen.703

699 EuGH, Urteil vom 28.1.1992, C-204/90, Slg. 1992, I-260 – Bachmann und Urteil vom 28.1.1992, Rs. C-300/90, Slg. 1992, I-305 – Kommission/Belgien. 700 Vgl. vor allem EuGH, Urteil vom 18.9.2003, C-168/01, Slg. 2003, I-9409 – Bosal Holding; Urteil vom 15.7.2004, C-242/03, Slg. 2004, 7379 – Weidert und Paulus; Urteil vom 15.7.2004, C-315/02, Slg. 2004, I-7063 – Lenz; Urteil vom 7.9.2004, C-319/02, Slg. 2004, I-7477 – Manninen. 701 Ausführlich Wernsmann, EuR 1999, S. 754 ff. 702 Vgl. Hamacher/Hahne, DB 2004, S. 2386 (2387). 703 Hamacher/Hahne, DB 2004, S. 2386 (2387), gehen von einer „Vorteilsanrechnung“ qua Gemeinschaftsrecht aus.

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e) Zwischenergebnis Die Rechtsprechung des EuGH hat die Rechtssicherheit und die Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrens als zwingende Gründe des Allgemeininteresses anerkannt, die eine Beschränkung des Anspruchs auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben zu rechtfertigen vermögen. Daneben sind aber auch andere Gründe angedeutet worden, die bislang noch keine ausdrückliche Anerkennung in der Rechtsprechung erfahren haben. Es gibt keinen numerus clausus von Rechtsgütern im Rahmen der Rechtfertigungsprüfung. Vielmehr ist die Rechtfertigung offen für weitere Gründe, die zwingende Allgemeinwohlgründe schützen. Einer der Gemeinwohlgründe ist das Ziel der Sicherung eines stabilen Staatshaushalts, das zu Unrecht bislang nur bei der Beschränkung von Urteilswirkungen auf der Primärebene und im Sozialversicherungsrecht eine Rolle spielte. Die Anerkennung weiterer Gemeinwohlgründe höhlt nicht das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Steuererhebung aus. Nur ausnahmsweise ist eine rechtswidrige Steuerbelastung zu dulden – nämlich dann, wenn die zwingenden Gemeinwohlgründe im Einzelfall vorrangig sind. Dies ist im Rahmen der Verhältnismäßigkeit zu untersuchen. 4. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip als Schranken-Schranke Ist ein Gemeinschaftsrechtsgut ausgemacht, das dem Rechtsgut der Herstellung einer rechtmäßigen Steuererhebung – d.h. dem Gesetzmäßigkeitsprinzip – gegenübersteht, so sind diese Rechtsgüter gegeneinander abzuwägen. Die Abwägung kann sich dabei am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz orientieren, der seit 1970 in der Rechtsprechung des EuGH anerkannt ist.704 Seit dieser Zeit zählt die Verhältnismäßigkeit zu den Grundsätzen des Gemeinschaftsrechts, die alle Bereiche des Gemeinschaftsrechts durchziehen und damit einen universellen Anwendungsbereich erlangt haben.705 Art. 5 Abs. 3 EGV statuiert mittlerweile das Gebot der Verhältnismäßigkeit für alle Maßnahmen der Gemeinschaft. Besondere Bedeutung hat es als Schranken-Schranke in der Grundfreiheitsrechtsprechung durch den EuGH gewonnen.706 Danach darf keine Beschrän-

704 EuGH, Urteil vom 17.12.1970, 11/70, Slg. 1970, 1125 – Internationale Handelsgesellschaft, Rn. 3 ff. Schwarze, EuR 1997, S. 419 (425). 705 Moench, NJW 1982, S. 2689 (2692); Haibach, NVwZ 1998, S. 456 (461); Generalanwalt Elmer, Schlussanträge vom 29.2.1996, verb. Rs. C-254/94, C-255/94 und C-269/94, Slg. 1996, I-4235 – Fattoria Autonoma Tabacchi, Rn. 36; Zuleeg, VVDStRL 53 (1994), 154 (171, 173). Calliess, in: Calliess/Ruffert, Art. 5 EGV, Rn. 51. 706 Streinz, Rn. 833.

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kung der Grundfreiheiten über das hinausgehen, was erforderlich707 und angemessen ist, um das legitime Ziel zu erreichen.708 Als allgemeiner Rechtsgrundsatz des Gemeinschaftsrechts ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip von vornherein auch als Schranken-Schranke des Erstattungsanspruchs einschlägig. Dies gilt umso mehr auf Grund der engen Verwandtschaft zwischen den klassischen Grundfreiheiten und dem Erstattungsanspruch. Aber auch systematisch ist das Verhältnismäßigkeitsprinzip geeignet, eine Abwägung zwischen den betroffenen Rechtsgütern nach objektivierten Kriterien zu ermöglichen. Dies klingt schon in der Bezeichnung als zwingende Gründe des Allgemeinwohls an. Rechtfertigende Kraft besitzen diese Rechtsgüter nur, wenn sie zwingend, also im Einzelfall von größerem Gewicht als gegenläufige Rechtsgüter sind. Eine Beschränkung des Anspruchs auf Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben durch nationales Verfahrensrecht setzt voraus, dass die Verfahrensregelung geeignet, erforderlich und (im Regelfall) auch angemessen ist, das gemeinschaftsrechtlich anerkannte Allgemeinwohlinteresse zu erreichen. a) Geeignetheit Es ist eine Selbstverständlichkeit, dass eine Verfahrensregel, die Rechte des Bürgers verkürzt, nur dann durch einen Allgemeinwohlbelang gerechtfertigt sein kann, wenn die Verfahrensregel überhaupt einen Beitrag dazu leistet, dass der Allgemeinwohlbelang gefördert wird. Ein rein empirischer Zusammenhang erfüllt allerdings noch nicht die Voraussetzung der Geeignetheit. Ansonsten würde jede beliebige Erschwerung der Erstattung diese Hürde überwinden, da sie scheinbar ursächlich für die Förderung der Stabilität der Staatshaushalte ist. So könnte etwa auf völlig sachfremde und willkürliche Umstände wie die subjektive Kenntnis des Veranlagungsbeamten von der Rechtswidrigkeit der Veranlagung abgestellt werden, um eine Erstattung auszuschließen.709 Scheinbar lässt sich auch durch einen derartigen Erstat707 EuGH, Urteil vom 30.11.1995, C-55/94, Slg. 1995, I-4165 – Gebhard, Rn. 37; Urteil vom 4.7.2000, C-424/97, Slg. 2000, I-5123 – Haim, Rn. 57. Haibach, NVwZ 1998, S. 459 (461). 708 EuGH, Urteil vom 15.5.1997, C-250/95, Slg. 1997, I-2471 – Futura Participations, Rn. 26; Urteil vom 11.7.1989, 265/87, Slg. 1989, 2237 – Schräder, Rn. 21; Urteil vom 1.2.2001, C-108/96, Slg. 2001, I-837 – Mac Quen, Rn. 31 f.; Wernsmann, in: Schulze/Zuleeg, § 30, Rn. 112. Im Einzelnen zu den Prüfungsschritten Generalanwalt Lenz, Schlussanträge vom 29.6.1995, verb. Rs. C-296/93 und C-307/93, Slg. 1996, I-795 – Frankreich und Irland/Kommission, Rn. 75 ff. Die Angemessenheit spielt dabei häufig eine untergeordnete Rolle; häufig wird sie in der Rechtsprechung nicht gesondert erwähnt. 709 In diese Richtung die dänische Regelung in der Rs. Fantask (Urteil vom 2.12. 1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783). Vgl. auch oben S. 181.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

tungsausschluss eine Verfestigung der Rechtslage und damit eine Förderung der Rechtssicherheit erreichen. Über einen rein empirischen Zusammenhang hinaus ist ein plausibler innerer Zusammenhang zwischen der nationalen Maßnahme und dem mit ihr verfolgten legitimen Ziel erforderlich. In Anwendung dieses Gedankens möchte etwa Röben an dieser Stelle eine Präklusionsvorschrift, wie sie Gegenstand der Entscheidung Peterbroeck war, verwerfen, da es an einer Mindestrationalität der nationalen Norm in Bezug auf das Prinzip der Rechtssicherheit fehle.710 Dem kann insoweit gefolgt werden, als in der Rs. Peterbroeck gemeinschaftsrechtliche Gesichtspunkte der Steuererhebung wegen der Präklusionsnorm nicht mehr zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemacht werden konnten, ohne dass ein zwingender Zusammenhang mit der Beschleunigung des Verfahrens ersichtlich gewesen wäre. Belgien hatte nach den Entscheidungsgründen nicht vorgetragen, dass die Norm zu einer wesentlichen Verfahrensbeschleunigung geführt hätte. Ein solcher Zusammenhang ist auch nicht evident, weil die zusätzliche Prüfung eines feststehenden Sachverhalts auf Gemeinschaftsrechtsverstöße keine erhebliche Zeit in Anspruch nimmt. Möglicherweise wurde eine objektiv falsche Entscheidung in Kauf genommen, ohne dass das Ziel der Beschleunigung erreicht worden wäre. Je nach der konkreten Ausgestaltung der Präklusionsnorm kann daher durchaus vertreten werden, dass es schon an der Geeignetheit der Maßnahme fehlte. Einen weiteren Anwendungsfall fehlender Rationalität einer Verfahrensnorm liefert die Rs. San Giorgio.711 Nach italienischem Recht war die Erstattung ausgeschlossen, wenn die Abgabe auf Dritte abgewälzt worden war. Für eine Abwälzung existierte eine gesetzliche Vermutung, die nur durch Urkundsbeweis widerlegt werden konnte.712 Nach der Auslegung der Vorschrift durch das vorlegende italienische Gericht war eine Widerlegung der Vermutung faktisch ausgeschlossen. Beweismittelbeschränkungen fördern in der Regel ein zügiges und geordnetes gerichtliches Verfahren.713 Verhindern sie aber materiell richtige Entscheidungen, weil der geforderte Beweis ohne dieses Beweismittel nicht zu führen ist, dienen sie nicht länger einem geordneten Verfahren, sondern bezwecken allein die Undurchsetzbarkeit eines Anspruchs.714 Eine Beweismittelbeschränkung

710

Röben, S. 362. EuGH, Urteil vom 9.11.1983, 199/82, Slg. 1983, 3595 – San Giorgio. 712 Die Regelung ist in Rn. 4 des Urteils wiedergegeben. 713 Zu der Anerkennung des Rechtsguts eines ordnungsgemäßen und schnellen Gerichtsverfahrens vgl. oben S. 171. 714 Im Ergebnis zutreffend stellt der EuGH daher einen Gemeinschaftsrechtsverstoß fest, der nach hier vertretener Ansicht auf die Ungeeignetheit der Regelung zur Sicherung eines ordnungsgemäßen Verfahrens zu stützen ist. 711

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darf daher nicht so ausgestaltet sein, dass das Beweismittel, mit dem typischerweise der geforderte Beweis erbracht wird, ausgeschlossen ist. Eine so geartete Verfahrensnorm wird durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt. Dennoch erlangt der Prüfungspunkt der Geeignetheit nur geringe Bedeutung, da die Mitgliedstaaten die ihnen zustehende Einschätzungsprärogative nur selten in sachwidriger Weise nutzen. Mitursächlich dafür ist, dass der Kanon gewöhnlich angewandter Verfahrenshürden überschaubar ist und ein Grundkonsens über ihre Geeignetheit besteht.715 b) Erforderlichkeit Unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit verstoßen nur wenige Verfahrensnormen gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Erforderlich ist eine Norm nur dann, wenn kein milderes Mittel zur Verfügung steht, mit dem sich das grundsätzlich anerkennenswerte Ziel ebenso effektiv erreichen ließe.716 Zwar sind oftmals eine Reihe von Verfahrenshürden vorstellbar, die eine Erstattung von rechtswidrig erhobenen Steuern weniger stark beeinträchtigen, doch führen solche Alternativregelungen regelmäßig zu einer umfassenderen Erstattung. Sofern der Zweck der beschränkenden Verfahrensnorm darin liegt, die Erstattung zu begrenzen, um so die Rechtssicherheit oder die Funktionsfähigkeit der Staatshaushalte zu schützen, ist eine den Erstattungsanspruch weniger beschränkende Maßnahme zwingend zugleich weniger geeignet. Das gilt insbesondere für die zeitlichen Grenzen der Erstattung. Eine längere Frist würde dem Steuerpflichtigen die Möglichkeit geben, seinen Erstattungsanspruch für einen längeren Zeitraum durchzusetzen. Damit verbunden wäre aber zwangsläufig ein höherer Erstattungsbetrag für den betroffenen Staat. Längere Fristen wären somit nicht gleich geeignet, um das Ziel der Haushaltsstabilität zu erreichen. Die angemessene Länge einer Anfechtungs- oder Verjährungsfrist kann allenfalls aus dem Aspekt der Angemessenheit gewonnen werden. c) Angemessenheit Oftmals wird die entscheidende Abwägung der betroffenen Rechtsgüter gegeneinander auf der Stufe der Angemessenheitsprüfung stattfinden. Maßgeblich kommt es dabei auf die Gewichtung dieser Rechtsgüter an. 715 Geläufig sind vor allem Verjährungs- und Anfechtungsfristen, Erstattungsausschlüsse bei Abwälzung. Echte Innovationen wie die Änderung des § 175 Abs. 2 S. 2 AO sind selten. 716 EuGH, Urteil vom 14.7.1988, 298/87, Slg. 1988, 4489 – Smanor, Rn. 15. Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV, Rn. 93.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

aa) Gewichtung des Erstattungsanspruchs Die hohe abstrakte Wertigkeit des Erstattungsanspruchs hängt unmittelbar mit seiner Ableitung aus dem Gesetzmäßigkeitsprinzip zusammen. Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zu rechtmäßigem Handeln ist ein Konstitutionsprinzip der Gemeinschaft.717 Fraglich ist aber, wie das Gewicht der Erstattung im konkreten Einzelfall zu bestimmen ist. Es liegt nahe, der Erstattung ein Gewicht beizumessen, das von der Schwere der Rechtsverletzung auf der Primärebene bestimmt wird. Es erscheint einleuchtend, dass eine Erstattung umso mehr geboten ist, je eklatanter der Verstoß eines Mitgliedstaats gegen das Gemeinschaftsrecht ist. Solche Überlegungen gehen jedoch fehl. Ein derartiger relativer Erstattungsanspruch verursacht nicht nur große praktische Probleme. Konsequenterweise könnte etwa gefordert werden, die Länge von Verjährungsfristen von der Gewichtigkeit des Rechtsverstoßes abhängig zu machen. Bei eher leichten Verstößen könnte auf eine Erstattung gänzlich verzichtet werden.718 Nicht nur praktische Schwierigkeiten sprechen gegen eine von der Schwere des Verstoßes abhängige Erstattung. Entscheidend ist, dass der Erstattungsanspruch ein Geldrückzahlungsanspruch und kein Schadensersatzanspruch ist. In seiner Entstehung ist er daher von Verschuldensgesichtspunkten unabhängig. Ihm fehlt – wie Generalanwalt Tizzano in seinen Schlussanträgen zur Rs. Meilicke719 zu Recht ausführte – jeglicher repressive Charakter. Die Wertigkeit eines Anspruchs auf Wiederherstellung des status quo ante ist damit losgelöst von der Frage der Vorwerfbarkeit der Entstehung des rechtswidrigen Zustands zu beurteilen. Aus der Offenkundigkeit des Rechtsverstoßes kann daher nicht auf die Gewichtung des Erstattungsanspruchs in der Abwägung geschlossen werden. Insoweit unterscheidet sich die Erstattung von der Staatshaftung als der zweiten Form gemeinschaftsrechtlicher Folgenbeseitigung. Bei dieser gehört die Vorwerfbarkeit bzw. das Verschulden zu den Tatbestandsvoraussetzungen – der EuGH spricht insoweit von einem „qualifizierten Rechtsverstoß“. Auch die betragsmäßige Höhe des Erstattungsanspruchs hat keinen Einfluss auf seine Wertigkeit in der Abwägung. Zwar mag sich der „Wert“ für den Steuerpflichtigen vorrangig an der Höhe des Erstattungspotentials orientieren, doch ist dies aus gemeinschaftsrechtlicher Perspektive unbeachtlich. Als Fortsetzung der Gesetzesbindung der Verwaltung ist die Erstattung auch dann zu gewähren, wenn die rechtswidrige Maßnahme zu einer verhältnismäßig geringen Zuviel717

Vgl. oben S. 50. Zu einer entsprechenden Regelung in Österreich (§ 299 BAO) vgl. Althuber, S. 37 (58). Geringfügige Steuerübererhebungen sind danach nicht zu erstatten. 719 Generalanwalt Tizzano, Schlussanträge vom 10.11.2005, C-292/04, Slg. 2007, I-1837 – Meilicke, Rn. 42. 718

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zahlung geführt hat. Die Verwaltung ist immer zu rechtmäßiger Steuererhebung verpflichtet, nicht nur dann, wenn die Forderung eine erhebliche Höhe erreicht. Spiegelbildlich ist sie auch zur Erstattung ohne Rücksicht auf deren Höhe verpflichtet. Der Anspruch auf Erstattung resultiert aus dem Anspruch auf rechtmäßiges staatliches Handeln. Dieser wiederum ist objektiv gewährleistet und gilt nicht in gelockerter Form für staatliches Handeln, das nur Auswirkungen von geringerer wirtschaftlicher Bedeutung hat. Wie gesehen hängt das Gewicht des Erstattungsanspruchs weder von einem Verschulden bei der fehlerhaften Rechtsanwendung noch von der Höhe des Erstattungsvolumens ab. Ebenso wie das Prinzip der Gesetzmäßigkeit ist das Erstattungsprinzip als abstrakte und damit als konstante Größe zu begreifen.

bb) Gewichtung der gegenläufigen Rechtsgüter Dem hohen Wert des Erstattungsanspruchs sind die durch die nationale Norm geschützten gegenläufigen Interessen gegenüberzustellen. Auf Grund der Vielgestaltigkeit nationaler Verfahrensnormen kann die folgende Darstellung notwendig nur exemplarisch sein. Von besonderer Bedeutung sind aber sicherlich die Anfechtungs- und Klagefristen des deutschen Steuerrechts, die deshalb näher untersucht werden sollen. Die Fristen der Abgabenordnung und der Finanzgerichtsordnung dienen in erster Linie dem Schutz der Rechtssicherheit. Betrachtet man das Rechtsgut Rechtssicherheit abstrakt, kommt ihm ein hoher Wert zu, da es Vorbedingung für Rechtsfrieden – eines der wesentlichen Rechtsgüter schlechthin – ist. Durch die Bestandskraft wird eine Steuerveranlagung dauerhaft dem Streit entzogen. Dass dies ein gemeinschaftsrechtlich anerkanntes Ziel ist, wurde bereits dargestellt. Entscheidend für die Abwägung ist, welcher konkrete Stellenwert der Rechtssicherheit beizumessen ist. Zunächst ist festzustellen, dass der Wert der Rechtssicherheit wächst, je länger der streitig gewordene Sachverhalt zurückliegt. Das zeigt sich etwa an der im Zeitablauf zunehmend schwieriger werdenden Sachverhaltsaufklärung. Die Erinnerung verblasst, Dokumente werden unauffindbar und Zeugen unerreichbar. Damit steigt die Gefahr, bei einer erneuten Entscheidung den Sachverhalt nur noch unzutreffend feststellen zu können. Mit unsicherer Tatsachenbasis werden Behörden- und Gerichtsentscheidungen zunehmend anfälliger für Fehler; das Ziel der materiell richtigen Entscheidung kann nur noch unvollkommen erreicht werden. Je länger eine Behördenentscheidung angegriffen werden kann, desto mehr Entscheidungen hat der Steuerpflichtige auch auf ihre fortbestehende Rechtmäßigkeit zu kontrollieren. Je eher hingegen Bestandskraft eintritt, desto früher

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steht die Rechtslage zwischen den Beteiligten fest, die sich hierauf einstellen können. Festzuhalten ist also, dass Rechtssicherheit und damit die Unabänderlichkeit einmal getroffener Entscheidungen wichtiger wird, je länger ein Sachverhalt in der Vergangenheit liegt. Mit dem Rechtsgut der Rechtssicherheit idealkonkurriert das Rechtsgut der Haushaltsstabilität. Je mehr Steuerfestsetzungen noch angegriffen werden können, desto höher kumuliert sich das Rückzahlungsrisiko für den Staat. Die bereits oben zitierte „Europäische Zeitbombe“720 tickt nicht, weil die Mitgliedstaaten gegebenenfalls ihr Steuerrecht an die Rechtsprechungsentwicklung zum Gemeinschaftsrecht anpassen müssen. Das Risiko liegt vielmehr in der Erstattung von Steuern für sehr lange Zeiträume. Im Zusammenhang mit der Rs. Manninen äußerte sich der ehemalige Bundesfinanzminister Hans Eichel dazu sehr plakativ: „In meinen Albträumen erlebe ich, dass wir bis zum Jahre 1977 Ihr System [das Anrechnungsverfahren] rückabwickeln müssen. Dann ist der Staatshaushalt pleite!“721 Die dem Erstattungsanspruch gegenläufigen Rechtsgüter gewinnen somit proportional mit der verstrichenen Zeit an Relevanz. Grafisch lässt sich das etwa wie folgt darstellen:

Wertigkeit der Rechtsgüter Rechtssicherheit/Haushaltsstabilität

Wertigkeit des Erstattungsanspruchs

-t

720 721

Weber-Grellet, vgl. oben S. 24. Plenarprotokoll 15/140, 12881 (A).

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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Während die Wertigkeit des Erstattungsanspruchs zu jedem Zeitpunk in der Vergangenheit gleich ist, kumuliert sich das Risiko für die Rechtssicherheit und die Haushaltsstabilität, so dass die Wertigkeit dieser Rechtsgüter ansteigt, je weiter es in die Vergangenheit zurückgeht. Im Modell scheint es einen eindeutigen Schnittpunkt der beiden Graphen zu geben. Wird eine Erstattung für Zeiträume begehrt, die links von diesem Schnittpunkt – d.h. weiter in der Vergangenheit – liegen, ist das Gewicht der Rechtssicherheit und Haushaltsstabilität größer als das Gewicht des Erstattungsanspruchs. Für Zeiträume rechts vom Schnittpunkt überwiegt die Wertigkeit der Erstattung bzw. das Gesetzmäßigkeitsprinzip. Die Aussagekraft dieser Darstellung steht und fällt mit der Möglichkeit, den Schnittpunkt exakt bestimmen zu können. Das graphische Modell täuscht dabei eine Genauigkeit vor, die in der Realität nicht zu erreichen ist. Wertigkeiten verschiedener Rechtsgüter lassen sich nicht mit mathematisch korrekten Werten belegen und dann miteinander vergleichen. Statt exakter Mathematik handelt es sich bei der Abwägung abstrakter Rechtsgüter gegeneinander um subjektive Wertungsfragen.722 Dabei stellt sich die Frage, inwieweit solche Wertungsfragen überhaupt justiziabel sind bzw. wie hoch die gemeinschaftsrechtliche Kontrolldichte in diesem Bereich ist. cc) Gemeinschaftsrechtliche Kontrolldichte Das „Gewichten und Abwägen entbehrt der rationalen und verbindlichen Maßstäbe. Auch die Berufung auf die Wertordnung (. . .) behauptet lediglich einen Maßstab, kann ihn aber nicht aufweisen. Daher läuft die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne stets Gefahr, bei allem Bemühen um Rationalität die subjektiven Urteile und Vorurteile des Prüfenden zur Geltung zu bringen.“723 Wie richtig diese Aussage ist, zeigt sich dann, wenn man den Versuch unternimmt, durch Abwägung der Rechtsgüter „Gesetzmäßigkeit“ und „Rechtssicherheit“ die „richtige“ Länge der Anfechtungsfrist eines Steuerbescheids zu bestimmen. Aus guten Gründen hielt sich der EuGH mit einer Konkretisierung der in Rewe geforderten „angemessenen“ Frist anfangs zurück. Den wiederholten Konkretisierungsersuchen der mitgliedstaatlichen Gerichte konnte (und wollte) sich der EuGH aber nicht dauerhaft entziehen. Fristen von drei bis fünf Jahren be-

722 Der deutsche Gesetzgeber hat die Rechtsgüter etwa so gewichtet, dass der Schnittpunkt beim Ablauf der Anfechtungsfrist von einem Monat liegt. 723 Pieroth/Schlink, Rn. 293.

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

zeichnete er in der Folge als angemessen, freilich ohne dies näher zu begründen.724 Umstrittener wurden die Entscheidungen bei deutlich kürzeren Fristen. Eine Klagefrist von 90 Tagen wurde als angemessen bezeichnet, da sie es dem Kläger erlaube, in voller Kenntnis der Sachlage die Entscheidung zu treffen, eine Anfechtungsklage zu erheben.725 Zu diesem Ansatz einer Begründung sah sich der Gerichtshof offenbar veranlasst, nachdem der Generalanwalt die vorangegangenen Entscheidungen zur Angemessenheit als „tautologische Behauptungen ohne jede Begründung“ bezeichnet726 und vorgeschlagen hatte, dem mitgliedstaatlichen Gericht die Entscheidung zu überlassen, ob eine 90-Tagesfrist die Geltendmachung der Gemeinschaftsrechte übermäßig erschwert oder nicht.727 Der Generalanwalt meinte, die Subsumtion unter den Obersatz „angemessene Frist“ gehöre nicht mehr zur Auslegung im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens, für die nach Art. 234 EG der Gerichtshof zuständig ist. Eine derartige Entscheidung hätte für das vorlegende Gericht allerdings Steine statt Brot bedeutet, war ihm doch der Terminus „angemessene Frist“ aus der Rechtsprechung hinlänglich bekannt – allein über seine Bedeutung und Tragweite herrschte Unsicherheit. Die Auslegung solcher autonom gemeinschaftsrechtlichen Begriffe ist originäre Aufgabe des EuGH im Vorabentscheidungsverfahren, die der EuGH auch wahrnahm und entschied, dass 90 Tage noch angemessen seien. Dennoch weisen die Schlussanträge des Generalanwalts Colomer in die richtige Richtung. Sie erkennen an, dass es Funktionsgrenzen der gemeinschaftlichen Rechtsprechung gibt.728 Jenseits dieser Grenzen liegt die Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten, die gemeinschaftsrechtlich nicht justiziabel ist.729 Solange die Gesetzgebungskompetenz bei den Mitgliedstaaten liegt, ist es ihre Aufgabe, die Gesetze als Ergebnis der Abwägung konkurrierender Rechts724 EuGH, Urteil vom 2.12.1997, C-188/95, Slg. 1997, I-6783 – Fantask, Rn. 49; Urteil vom 15.9.1998, C-231/96, Slg. 1998, I-4951 – Edis, Rn. 35; Urteil vom 10.9.2002, verb. Rs. C-216/99 und C-222/99, Slg. 2002, I-6761 – Riccardo Prisco, Rn. 67; Urteil vom 17.7.1997, C-90/94, Slg. 1997, I-4085 – Haahr Petroleum, Rn. 49; Urteil vom 17.11.1998, C-228/96, Slg. 1995, I-2919 – Aprile, Rn. 19. 725 EuGH, Urteil vom 17.6.2004, C-30/02, Slg. 2004, I-6051 – Recheio, Rn. 21 f. 726 Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 11.12.2003, C-30/02, Slg. 2004, I-6053 – Recheio, Rn. 24. 727 Rn. 36 der Schlussanträge. 728 Vgl. zu Funktionsgrenzen der Rechtsprechung bei der Überprüfung von Verwaltungsentscheidungen bei der Anwendung unbestimmter Rechtsbegriffe im nationalen Recht: BVerfG, Beschluss vom 17.4.1991, BVerfGE 84, S. 34 (50). 729 Eine ähnliche Überlegung klingt auch in dem Urteil Bessin et Salson (9.11.1989, 386/87, Slg. 1989, 3551, Rn. 17), an, in dem eine 3-Jahresfrist als „gesetzgeberische Entscheidung, die das erwähnte Gebot nicht beeinträchtigt“, bezeichnet wird.

IV. Erstattungsgebot als Maßstab für Verfahrensnormen

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güter zu formulieren. Demjenigen, dem die Aufgabe der Abwägung zukommt, muss bei der Gewichtung der widerstreitenden Interessen eine Einschätzungsprärogative zustehen. Eine umfassende Kontrolle würde die Aufgabe der Abwägung von den Gesetzgebern der Mitgliedstaaten weg und zum EuGH hinverlagern. Der EuGH würde dann eine Verbands- und Organkompetenz wahrnehmen, die nach der Kompetenzverteilung bei den Mitgliedstaaten liegt.730 Generalanwalt Colomer ist daher zuzustimmen, dass die Prüfung auf Angemessenheit durch den EuGH auf die „offenkundigen Fälle“731 beschränkt ist. Für die Bestimmung angemessener Fristen der Erstattung bedeutet dies etwa, dass ein Verstoß gegen Gemeinschaftsrecht erst dann vorliegt, wenn die Frist so bemessen ist, dass sie eine Erstattung rechtswidrig erhobener Steuern zur Ausnahme macht. In diesem Fall wäre das nationale Verfahrensrecht der Bindung der Mitgliedstaaten an das Gemeinschaftsrecht der Primärebene strukturell gegenläufig. Davon kann jedoch so lange nicht ausgegangen werden, wie die Frist so bemessen ist, dass der Steuerpflichtige nach angemessener Prüfung der Behördenentscheidung genug Zeit für die Entscheidung hat, ob er Rechtsmittel gegen sie einlegen will oder nicht. Diese Möglichkeit räumt die in Deutschland geltende Monatsfrist dem Steuerpflichtigen ein. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass der Steuerpflichtige innerhalb der Monatsfrist seinen Standpunkt weder zu begründen braucht noch Beweise für seinen Tatsachenvortrag liefern muss. Zur Fristwahrung genügt die Erklärung, den Steuerbescheid anfechten zu wollen. Die Monatsfrist ist damit eine reine Prüfungs- und Überlegungsfrist. Darüber hinaus kann der Steuerpflichtige den Bescheid auch vorläufig anfechten, wenn er innerhalb eines Monats die Rechtmäßigkeit nicht endgültig beurteilen kann. Sollte er dann seine anfänglichen Bedenken gegen den Steuerbescheid aufgeben, kann der Einspruch in der Regel ohne Kostenfolge zurückgenommen werden. Auch der EuGH hat kürzlich in der Entscheidung i-21 die Monatsfrist der deutschen Verwaltungsgerichtsordnung erstmals ausdrücklich gebilligt. Bis dahin bestehende Bedenken732 dürften damit endgültig ausgeräumt sein. Anzumerken ist aber, dass die Frist es häufig733 nicht erlaubt, für vergangene Veranlagungszeiträume Steuern erstattet zu bekommen, wenn die Steuererhebung lange Zeit unerkannt gemeinschaftsrechtswidrig erfolgte und erst durch ein Urteil des EuGH die Gemeinschaftsrechtswidrigkeit offenbar wird. Grundsätzlich ist auch in solchen Fällen der Erstattungsanspruch des Steuerpflichtigen 730

Vgl. oben S. 66. So Generalanwalt Colomer, Schlussanträge vom 11.12.2003, C-30/02, Slg. 2004, I-6053 – Recheio, Rn. 29. 732 Althuber, in: Althuber/Toifl, S. 37 (51). 733 Ausnahmen gelten in einigen Fällen, in denen Bescheide wegen noch ausstehender Außenprüfungen sehr lange offen sind, vgl. oben S. 87. 731

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Teil 2: Schranken aus dem nationalen (Verfahrens-)Recht

gemeinschaftsrechtlich verbürgt. Auf Grund der weit in die Vergangenheit reichenden Sachverhalte überwiegen dort aber nach der Entscheidung des deutschen Gesetzgebers die Rechtsgüter der Rechtssicherheit und Haushaltsstabilität. Diese Entscheidung fällt in dessen Einschätzungsprärogative und kann gemeinschaftsrechtlich nicht mehr hinterfragt werden. Von diesem Standpunkt aus hat der EuGH die Anfechtungsfristen der Verwaltungsgerichtsordnung zu Recht unbeanstandet gelassen. Diese Entscheidung kann auf das insoweit inhaltsgleiche Steuerrecht übertragen werden. Anhaltspunkte dafür, dass die Anfechtungsfristen der Finanzgerichtsordnung gegen Gemeinschaftsrecht verstoßen und unanwendbar sind, liegen nicht vor. d) Zwischenergebnis Nicht in jedem Fall lässt sich mit mathematischer Genauigkeit bestimmen, ob der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch oder die ihm gegenläufigen Rechtsgüter gewichtiger sind. Verbleibende Zweifel gehen dabei zu Gunsten der mitgliedstaatlichen Verfahrensautonomie. Die Rechtfertigung hierfür ergibt sich aus der Kompetenz der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung des Verfahrensrechts, die zugleich den Mitgliedstaaten eine Einschätzungsprärogative bei der Gewichtung konfligierender Rechtsgüter einräumt. Nur dort, wo die Wertigkeit des Erstattungsanspruchs eindeutig überwiegt, setzt sich das Gemeinschaftsrecht gegenüber dem nationalen Verfahrensrecht durch. Der Vorrang des Gemeinschaftsrechts ist damit nicht gefährdet. Das Ergebnis der Abwägung zeigt schließlich erst, ob die Entscheidung des nationalen Gesetzgebers zur Erstattungsbeschränkung mit dem Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Solange Zweifel daran bleiben, ob die für die Erstattung streitenden Rechtsgüter überwiegen, kann dem nationalen Gesetzgeber nicht vorgeworfen werden, die Bedeutung des Gemeinschaftsrechts verkannt zu haben. Damit ist zugleich sichergestellt, dass die Kompetenz des EuGH zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts gewahrt bleibt. Ihm obliegt die Letztentscheidung darüber, ob das Ergebnis der Abwägung eindeutig ist oder nicht. Allerdings kann die Einschätzungsprärogative als Aufforderung an den Gerichtshof verstanden werden, seine Auslegungsbefugnis behutsam wahrzunehmen und auch die Residualkompetenzen der Mitgliedstaaten zu berücksichtigen. Die Anerkennung einer Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten ändert allerdings nichts daran, dass die Sekundärebene vom Grundsatz der Erstattung zu Unrecht erhobener Abgaben beherrscht wird. Ausgangspunkt jeder Abwägung ist immer die seit der Entscheidung in der Rs. Humblet anerkannte Verpflichtung der Mitgliedstaaten, die rechtswidrige Steuererhebung durch Erstattung wiedergutzumachen. Für einen Erstattungsausschluss müssen daher sehr gewichtige Gründe angeführt werden.

Teil 3

Ergebnis/Zusammenfassung Die Mitgliedstaaten gestalten die Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben grundsätzlich in eigener Verantwortung aus. Dies resultiert aus der Kompetenzverteilung des Gemeinschaftsrechts, wonach die Mitgliedstaaten für das Verwaltungsverfahren weitgehend allein zuständig sind. Dennoch beeinflusst das Gemeinschaftsrecht auch diesen Rechtsbereich nachhaltig (S. 60 ff.). Der EuGH beruft sich im Erstattungsrecht – ebenso wie im allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht – maßgeblich auf das vom ihm entwickelte Effektivitäts- und Äquivalenzgebot, das seit mehr als drei Jahrzehnten die Rechtsprechung des EuGH in diesem Bereich prägt (S. 93 ff.). Leider ist es in dieser Zeit nicht gelungen, überzeugende Antworten auf die Frage nach einer Rechtsgrundlage für diesen Doppelvorbehalt zu finden. Im Wesentlichen stützt sich der EuGH noch immer auf den Gedanken des aus Art. 10 EG abgeleiteten effet utile, der ohne materielle Kontur ist. Die Schwäche dieser normativen Grundlage hat deshalb auch Spuren in der Judikatur des Gerichtshofs hinterlassen. Sie zeigt nicht die gewünschte Klarheit, Konstanz und Vorhersagbarkeit (S. 116 ff.). Die Einwirkung des Gemeinschaftsrechts auf das nationale Verfahrensrecht kann auch erklärt werden, ohne auf das abstrakte Effektivitäts- und Äquivalenzgebot abzustellen. Die Lösung liegt in einer konsequenten Anwendung des Vorrangprinzips auch im Bereich des Verfahrensrechts. Soweit sich dem Gemeinschaftsrecht eindeutige Aussagen dazu entnehmen lassen, wie das nationale Verfahrensrecht ausgestaltet sein muss, bewirkt das Gemeinschaftsrecht ohne weiteres, dass entgegenstehendes nationales Recht unangewendet bleibt und an seiner Stelle das Gemeinschaftsrecht selbst unmittelbar zur Anwendung gelangt (S. 120). Geht man von dieser allgemeinen Erkenntnis aus, lässt sich das Zusammenspiel des Gemeinschaftsrechts mit dem nationalen Recht auch im Spezialbereich der Erstattung gemeinschaftsrechtswidrig erhobener Abgaben auf eine dogmatisch sichere Grundlage stellen. Ausgangspunkt ist dabei, dass jede Steuererhebung, die auf der Primärebene gegen das Gemeinschaftsrecht verstößt, auf der Sekundärebene grundsätzlich durch die Erstattung der zu Unrecht erhobenen Steuer wiedergutzumachen ist. Der gemeinschaftsrechtliche Erstattungsanspruch erweitert den Anspruch des Steuerpflichtigen auf eine gemeinschaftsrechtskonforme Steuererhebung in die Sekundärebene hinein (S. 130 ff.).

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Teil 3: Ergebnis/Zusammenfassung

Wird eine Steuer nicht vollständig erstattet, beschränkt dies den gemeinschaftlichen Erstattungsanspruch. Hierbei kann zwischen gleichheitsrechtlichen und freiheitsrechtlichen Beschränkungen unterschieden werden. Diese zwei Dimensionen des Erstattungsanspruches korrelieren mit dem Effektivitäts- und Äquivalenzgebot des EuGH. Zugleich entsprechen sie in ihrer Struktur der doppelten Schutzrichtung der Grundfreiheiten (S. 132 ff.). Auch wenn nationales Recht den Erstattungsanspruch beschränkt, ist damit noch keine Verletzung des Gemeinschaftsrechts präjudiziert (S. 159 ff.). Vielmehr ist zu fragen, ob sich die nationale Regelung mit zwingenden Gründen des Allgemeinwohls rechtfertigen lässt. Dazu müssen diese Allgemeininteressen dienen und Anerkennung im Gemeinschaftsrecht gefunden haben. Einige Rechtfertigungsgründe wurden in der Rechtsprechung des EuGH wiederholt angesprochen. Die wohl prominenteste Rolle spielt dabei der Gedanke der Rechtssicherheit, der es im Interesse des Rechtsfriedens erlaubt, in der Vergangenheit liegende Sachverhalte dennoch nicht erneut aufzurollen, sobald sich neue Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit der früheren Auffassung ergeben (S. 166 ff.). Als weiterer zwingender Allgemeinwohlgrund wurde der Schutz der Haushaltsstabilität bislang zu Unrecht nicht von der Rechtsprechung anerkannt. Nur im Zusammenhang mit dem Sozialversicherungsrecht und im Hinblick auf die Begrenzung der zeitlichen Reichweite von Auslegungsurteilen durch den EuGH selbst finden die finanziellen Auswirkungen auf die Staatshaushalte Berücksichtigung. Diese Anerkennung sollte auch auf die Sekundärebene ausgedehnt werden, da die Interessenlage vielfach vergleichbar ist. Auch hier geht es um die Folgenbewältigung für Sachverhalte aus der Vergangenheit. Anders als bei prospektiven Sachverhalten zählt bei der Erstattung das Argument nicht, der Staat dürfe auch dann keine rechtswidrige Handlungsalternative wählen, wenn sie wirtschaftliche Vorteile für den Staat mit sich bringt. Nur bei zukunftsgerichteten Sachverhalten darf der Anspruch des Bürgers auf rechtmäßiges Handeln des Staates unter keinen Umständen zur Disposition stehen, da sich immer auch eine rechtmäßige Handlungsalternative anbietet, die eine angemessene Staatsfinanzierung sichert. Bei der Bewältigung abgeschlossener Sachverhalte ist hingegen zu berücksichtigen, dass keine rückwirkende, aufkommenssichernde Umgestaltung des Steuerrechts möglich ist (S. 173 ff.). Das Rechtsgut der Sicherung der Haushaltsstabilität steht stellvertretend für weitere potentielle Rechtsgüter, die eine Beschränkung des Erstattungsanspruchs prinzipiell zu rechtfertigen vermögen. Ob sich ein Mitgliedstaat zur Rechtfertigung auf ein solches Rechtsgut mit Erfolg berufen kann, entscheidet sich letztlich in der Abwägung mit dem Rechtsgut der gesetzmäßigen Steuererhebung. Grundlage der Abwägung ist die Voraussetzung, dass der Allgemeinwohlgrund zwingend sein muss.

Teil 3: Ergebnis/Zusammenfassung

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Bei der Abwägung ist schließlich die Funktionsgrenze der Rechtsprechung des EuGH und die Kompetenzverteilung des EG-Vertrages zu berücksichtigen. Die Auslegung der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen darf nicht derart extensiv erfolgen, dass den Mitgliedstaaten ein spezifisches Erstattungsverfahrensrecht aufoktroyiert wird. Die Kompetenzordnung und die Funktionsgrenzen der Rechtsprechung bedingen eine Einschätzungsprärogative der Mitgliedstaaten bei der Gestaltung ihres nationalen Rechts (S. 187 ff.). Im Ergebnis verbleibt den Mitgliedstaaten nach der hier vertretenen Auffassung ein maßgeblicher Entscheidungsspielraum, um ihr eigenes Erstattungsverfahrensrecht zu gestalten. Die gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben stellen einen Mindeststandard sicher, wodurch der Anspruch des Steuerpflichtigen auf gesetzmäßiges Verhalten der Mitgliedstaaten auch auf der Sekundärebene der Steuererhebung gewährleistet wird. Als Folge dieser Auffassung sind zentrale Rechtsinstitute wie die Bestandskraft im deutschen Recht von Gemeinschaftsrechts wegen anzuerkennen, auch wenn sie dazu führen, dass eine Vielzahl von potentiellen Erstattungsansprüchen im Ergebnis nicht durchgesetzt werden können. Das stellt jedoch keine Verkürzung der Rechte des Steuerpflichtigen dar; vielmehr zeigt sich nur, dass mitgliedstaatliche Verstöße gegen Normen des Gemeinschaftsrechts keine harscheren Folgen haben müssen als Verstöße gegen rein innerstaatliches Recht. Dies mag vielleicht diejenigen enttäuschen, die sich vom Gemeinschaftsrecht erhofft hatten, es würde die Möglichkeit „unbegrenzter Steuererstattungen“ bieten, wenn sich nur ein Gemeinschaftsrechtsverstoß auf Primärebene finden lässt. Dabei würde aber verkannt, dass es neben den schutzwürdigen Interessen der Steuerpflichtigen auch schutzwürdige Interessen des Staates gibt. Letzterer verkörpert dabei zumindest auch das Gemeinwohl – schließlich kann eine Steuer nur dann erstattet werden, wenn diese Erstattung aus dem laufenden Staatshaushalt finanziert wird. Sicherlich spielt der EuGH bei dem Prozess der Gemeinschaftsrechts-Konformisierung der mitgliedstaatlichen Steuersysteme eine maßgebliche Rolle. Von ihm gehen Impulse aus, die auf die zukünftige Gestalt des mitgliedstaatlichen Steuersystems maßgeblichen Einfluss haben. Zu Recht macht sich dieser Einfluss allerdings in erster Linie auf der Primärebene der Steuererhebung bemerkbar. Die Sekundärebene der Erstattung kann bereits strukturell keine wesentlichen Impulse geben. Das Erstattungsrecht ist und bleibt ein Instrument zum Ausgleich ungerechtfertigter Vermögensverschiebungen in dem Rahmen, den es durch das mitgliedstaatliche Verfahrensrecht zugewiesen bekommt.

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Sachwortverzeichnis Abwälzung 156 Angemessenheit 187 Anwendungsvorrang 24, 120, 124 Äquivalenzgebot 93, 103, 133 Bestandskraft 49, 77, 99, 101, 150 Beweisrecht 152 Commerzbank 140 Deville 122 Diskriminierungsverbot 105 effektiver Rechtsschutz 47, 102 Effektivitäts- und Äquivalenzgebot 93 – Funktionsgrenzen 114 – Zielkonflikt 113 Effektivitätsgebot 93, 95, 133 Erforderlichkeit 187 Erstattung 116 – Abgabenordnung 73 – Anspruchsgrundlage 54 – Fallgruppe „Rückwirkung“ 106, 144 – Fallgruppe „Urteil“ 108 – Gemeinschaftsrecht 48 – Kompetenz 66 – nationales Recht 36 – subjektives Recht 53 Erstattungsanspruch 128 – Anwendungsbereich 130 – Äquivalenz 136 – Beschränkungen 132, 149 – Effektivität 145 – Gewichtung 188 – Rechtfertigung von Beschränkungen 159, 160

Folge und Ergänzung 50 Folgenbeseitigung 32 – deutsches Recht 33 – Gemeinschaftsrecht 44 formelle Rechtsgrundtheorie 40 Fristen 149, 159, 169, 180, 187, 191 Geeignetheit 185 Grundfreiheiten 125, 133, 161, 185 – Beschränkung 147 Grundig Italiana 107 Gutgläubigkeit 181 Harmonisierung 21, 24 Haushaltsstabilität 173, 190 i-21 100, 142, 193 implied powers 66 Individualschutz 135 Just 156 Kapferer 99 Kästchengleichheit 69, 104 Kohärenz 183 Kollision 21, 23, 27, 120 – indirekte 123 Kontrolldichte 191 Kühne & Heitz 99 Manninen 152 materielle Rechtsgrundtheorie 42 Meilicke 183 Metallgesellschaft 126 mittelbare Diskriminierung 139, 143 Mitwirkungspflicht 46, 51

208

Sachwortverzeichnis

Peterbroeck 186 Präklusion 151 Primärebene 19, 20, 32, 131, 177

San Giorgio 186 Sekundärebene 19, 20, 31, 32, 122 Solange-Rechtsprechung 95 Steuerabwehrrecht 21

Vereitelungsverbot 102, 105 Verfahrensautonomie 64, 71, 95, 105 – Wirksamkeitsverlust 91 Verfahrensrecht – gemeinschaftsrechtliche Anforderungen 88 – Harmonisierungskompetenz 67 – Kompetenzverteilung 60 Verhältnismäßigkeit 26, 163, 184 Verjährungsfrist siehe Fristen Verzinsung 155 Vollzug von Gemeinschaftsrecht 61 Vorabentscheidungsverfahren 19, 74 Vorrang des Gemeinschaftsrechts siehe Anwendungsvorrang

Tertiärebene 20

Weber’s Wine World 110, 143

unmittelbare Wirkung 101

zwingende Gründe des Allgemeinwohls 166

Rechtsbehelfsfristen 147 Rechtssicherheit 29, 161, 167, 168, 170, 174, 189 Rewe 48, 93, 149 Rückwirkung 28, 76