Der Alltag der Transformation: Kleinunternehmerinnen in Usbekistan [1. Aufl.] 9783839402191

Nach zehn Jahren der gesellschaftlichen Transformation in der Ex-Sowjetunion bleibt die Vorläufigkeit Normalität. Dies g

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German Pages 212 [211] Year 2015

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INHALT
1 DIE GESCHLECHTSSPEZIFISCHE DIMENSION DER TRANSFORMATION IN USBEKISTAN
1.1 Einleitung
1.2 Zur Forschungsmethode
2 SICHERUNG DES LEBENSUNTERHALTS IN DER TRANSFORMATIONSZEIT: KONTINUITÄT UND WANDEL
2.1 Erwerbstätigkeit im formellen Sektor
2.2 Soziale Dienstleistungen
2.3 Hauswirtschaft
2.4 Reziproke Austauschbeziehungen: Machalla und blat
2.5 Produktion für lokale Märkte
2.6 Ethnizität und Arbeitsmarkt
2.7 Zusammenfassung: Verflechtung von wirtschaftlichen Handlungsfeldern im Transformationsprozess
3 ORGANISATION WIRTSCHAFTLICHER TÄTIGKEIT: ALTERNATIVE AKKUMULATIONSMODI
3.1 Voraussetzungen der wirtschaftlichen Tätigkeit
3.2 Typische Akkumulationsmodi der wirtschaftlichen Tätigkeit
3.3 Zusammenfassung: Akkumulationsmodi als Ausdruck der geschlechtsspezifischen Marktordnung
4 PRODUKTIONSPROZESSE IN IHRER GESELLSCHAFTLICHEN EINBETTUNG
4.1 Gestaltung der Handlungsräume nach ?Innen?: Lebenswelten
4.2 Kunden und Märkte: Bindeglied zwischen ?Innen? und ?Außen?
4.3 Gestaltung der Handlungsräume nach ?Außen?: Legitimation
4.4 Zusammenfassung: Moralökonomische Grundlagen der Frauenökonomie
5 IDENTITÄTSBILDUNG ZWISCHEN FREIHEIT UND MARGINALISIERUNG
5.1 Welchen Sinn macht die Selbstständigkeit?
5.2 Nationenbildung und Diskurse um den Alltag
5.3 Zusammenfassung: ?Menschenwürdiges Berufsleben? ?ein diskursives Tabu?
6 SCHLUSSBEMERKUNG UND AUSBLICK
ANHANG
Abbildungen und Tabellen
Glossar
Abkürzungsverzeichnis
Literaturverzeichnis
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Der Alltag der Transformation: Kleinunternehmerinnen in Usbekistan [1. Aufl.]
 9783839402191

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Irina Yurkova Der Alltag der Transformation

herausgegeben von Markus Kaiser | Band 2

Irina Yurkova (Dr. rer. soc.), geboren in Taschkent, promovierte an der Universität Bielefeld. Zurzeit forscht sie zum gesellschaftlichen Wandel Aserbaidschans.

Irina Yurkova

Der Alltag der Transformation Kleinunternehmerinnen in Usbekistan

Dieser Band wurde mit Unterstützung der Universität Bielefeld und des vom DAAD geförderten Zentrums für Deutschland- und Europastudien (ZDES) gedruckt (Projektverantwortlicher: Dr. Markus Kaiser). Die Publikation basiert auf der Dissertation der Autorin »Selbstständige wirtschaftliche Tätigkeit von Frauen in Taschkent. Die geschlechtsspezifische Dimension der Transformation in Usbekistan« an der Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld (Gutachter: Prof’in Dr. Gudrun Lachenmann, Dr. Markus Kaiser).

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © 2004 transcript Verlag, Bielefeld Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Kai Reinhardt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-219-8

INHALT 1 DIE GESCHLECHTSSPEZIFISCHE DIMENSION DER TRANSFORMATION IN USBEKISTAN 1.1 Einleitung 1.2 Zur Forschungsmethode 2 SICHERUNG DES LEBENSUNTERHALTS IN DER TRANSFORMATIONSZEIT: KONTINUITÄT UND WANDEL 2.1 Erwerbstätigkeit im formellen Sektor 2.2 Soziale Dienstleistungen 2.3 Hauswirtschaft 2.4 Reziproke Austauschbeziehungen: Machalla und blat 2.5 Produktion für lokale Märkte 2.6 Ethnizität und Arbeitsmarkt 2.7 Zusammenfassung: Verflechtung von wirtschaftlichen Handlungsfeldern im Transformationsprozess 3 ORGANISATION WIRTSCHAFTLICHER TÄTIGKEIT: ALTERNATIVE AKKUMULATIONSMODI 3.1 Voraussetzungen der wirtschaftlichen Tätigkeit 3.2 Typische Akkumulationsmodi der wirtschaftlichen Tätigkeit 3.3 Zusammenfassung: Akkumulationsmodi als Ausdruck der geschlechtsspezifischen Marktordnung

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4 PRODUKTIONSPROZESSE IN IHRER GESELLSCHAFTLICHEN EINBETTUNG

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4.1 Gestaltung der Handlungsräume nach ‚Innen‘: Lebenswelten 4.2 Kunden und Märkte: Bindeglied zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ 4.3 Gestaltung der Handlungsräume nach ‚Außen‘: Legitimation 4.4 Zusammenfassung: Moralökonomische Grundlagen der Frauenökonomie

91 109 113 129

5 IDENTITÄTSBILDUNG ZWISCHEN FREIHEIT UND MARGINALISIERUNG 5.1 Welchen Sinn macht die Selbstständigkeit? 5.2 Nationenbildung und Diskurse um den Alltag 5.3 Zusammenfassung: ‚Menschenwürdiges Berufsleben‘ – ein diskursives Tabu?

133 135 145 171

6 SCHLUSSBEMERKUNG UND AUSBLICK

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ANHANG

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Abbildungen und Tabellen Glossar Abkürzungsverzeichnis Literaturverzeichnis

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ABBILDUNGS- UND TABELLENVERZEICHNIS Abbildung 1: Mustaqillik, B. Jalolov Abbildung 2: Entwicklung des Wechselkurses (1996–2002) Abbildung 3: Frauenanteil an den Beschäftigten und Durchschnittslohn

10 181 181

Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:

114 119

Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10:

Organisationstypen wirtschaftlicher Tätigkeit Schematische Übersicht wirtschaftlicher Tätigkeiten Verteilung der städtischen und ländlichen Bevölkerung in Usbekistan nach administrativen Bezirken (Gebieten) Ethnische Struktur der Bevölkerung Ausgewählte Daten der wirtschaftlichen Entwicklung in Usbekistan, der Russischen Förderation und Kasachstan Arbeitslöhne in Usbekistan Frauenanteil an den Beschäftigten nach Wirtschaftszweigen Tätigkeiten und Zuständigkeiten von Haushaltsangehörigen Einkommensquellen von Haushalten im städtischen Bereich Usbekistans Einkommensquellen von Frauen im städtischen Bereich Usbekistans

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DANKSAGUNG Diese Monographie beruht auf einer am Forschungsschwerpunkt Entwicklungssoziologie/Sozialanthropologie der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld verfassten und von der Konrad-Adenauer-Stiftung geförderten Dissertation. Für wertvolle Anregungen und Kritik möchte ich meiner Doktormutter Professor Dr. Gudrun Lachenmann, Herrn Dr. Markus Kaiser, Herrn Dr. Nuritdin Abdurakhmanov und Frau Eya Grigoryan danken. Eine große Hilfe waren auch die Diskussionen mit meinen Kommilitoninnen in Bielefeld, die Auskunftsbereitschaft vieler Institutionen in Taschkent sowie die sprachliche Unterstützung durch meine Mutter und meinen Mann.

Abbildung 1: ‚Mustaqillik‘ (Independence) von B. Jalolov, Öl auf Leinwand, Timuridenmuseum in Taschkent

1 DIE GESCHLECHTSSPEZIFISCHE DIMENSION DER TRANSFORMATION IN USBEKISTAN 1.1 Einleitung Taschkent, die Hauptstadt der nach Auflösung der Sowjetunion unabhängig gewordenen Republik Usbekistan, präsentiert sich Einheimischen wie Besuchern auf unverwechselbare Art und Weise. Neu errichtete Repräsentationsbauten in einem eigenen neo-orientalischen Stil stehen neben typisch sozialistischen Verwaltungs- und Wohnblöcken, vielspurige Straßen wechseln mit dörflichen Gassen nur wenige Meter weiter, am Straßenrand vor den Villen der neuen Reichen weiden Schafe und Kühe neben den neuesten MercedesModellen. Flaggen und Denkmäler der neuen Nationalhelden zieren das Straßenbild, Parolen und Sinnsprüche des Präsidenten finden sich allerorts und selbst die Reklametafeln in- und ausländischer Firmen setzen auf eine betont nationale Symbolik. In ihrer wohl kompaktesten Form wird diese Ikonographie der Nationenbildung in den Collagen zusammengefasst, die im Timuridenmuseum sowie gegenüber dem Präsidentenpalast angebracht sind. Die bloße Aufzählung der Bildinhalte gibt Aufschluss über das Selbstbild der Republik.1 Im Zentrum des Bildes steht Präsident Karimov am Rednerpult der Vereinten Nationen – mit ernstem Blick, darüber und daneben befinden sich die Taschkenter Denkmäler für Amir Timur und den Dichter Navoi, das glas- und stahlglänzende Gebäude der Nationalbank, ein Flugzeug der nationalen Fluglinie Havo Yullari, eine Mutter mit Säugling – beide erleuchtet von den Sonnenstrahlen, die von der Verfassung des Landes ausgehen, der Nationalvogel Semurg, ein Stapel Goldbarren und eine Baumwollerntemaschine, die Berge und Täler des Tien Schan, das große Minarett von Buchara sowie Teile von Gebäuden in Samarkand und Chiva, ein freundlich lächelnder Knabe, die gesamte Produktpalette der heimischen Autoproduktion von UzDaewooAuto, der goldene Globus vom ehemaligen Leninplatz, auf dem als einziges Land das übergroße Usbekistan zu sehen ist, sowie eine Reihe fiktiver Hochhäuser und anderer Bauten. Gekrönt wird das Gemälde von einem prächtigen Feuerwerk am Nachthimmel.

01 Vgl. die Abbildung auf der linken Seite.

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Hält man diesem Bild die Analyse der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) von Anfang 2003 entgegen, so wird deutlich, wie groß die Diskrepanz der Meinungen und Sichtweisen ist: „There are serious concerns regarding development of genuine multi-party democracy and pluralistic society and the situation with the rule of law and respect for human rights remains difficult. The overall political environment in Uzbekistan is not conductive to criticism of Government policies. The executive power is not sufficiently balanced by the legislature or judiciary. The judiciary is weak and it does not contribute to fighting pervasive corruption. Systematic violations of the freedom of religion, expression, association and assembly have been documented by human rights monitors. An area of major concern is arbitrary arrests and torture of detainees in order to obtain confessions or incriminating statements. […] Uzbekistan’s progress in economic reforms has been slow and characterised by setbacks over the past two years […] and living standards have not improved“ (EBRD 2003: 4, 16).

Ein solch krasser Widerspruch ist charakteristisch für die politischen, wirtschaftlichen und publizistischen Diskurse über das heutige Usbekistan. Offizielle und halboffizielle Quellen im Inland pflegen grundsätzlich einen Propagandastil, der Probleme bestenfalls als ‚zeitweilige Abweichungen vom eigentlich guten Weg‘ zugesteht, während internationale Beobachter in den letzten Jahren in der Regel die Reformunwilligkeit der Regierung, die Menschenrechtsverletzungen und die stockende wirtschaftliche Liberalisierung in den Vordergrund stellen.2 So widersprüchlich die Darstellungen und Bewertungen sein mögen, folgen sie doch einem gemeinsamen Denkmuster, in dem die Transformation der Gesellschaft als ein zielgerichteter Prozess aufgefasst wird, dessen Steuerung Aufgabe der zuständigen (politischen) Instanzen ist. Der Einfluss der Transformationstheorien der frühen 1990er Jahre bleibt ausschlaggebend. In den Theorien zur Transformation der ehemals sozialistischen Staaten überwog zumindest bis Mitte der 1990er Jahre eine teleologische und normative Betrachtung.3 Als Ziel- und Endpunkt des Prozesses standen Demokratie und Marktwirtschaft fest. Die Theorien, die in dieser Phase in einem sehr engen Zusammenhang mit Politikempfehlungen standen, stritten zum einen über die konkrete Ausgestaltung des wünschenswerten Endzustands, zum anderen über die richtige Abfolge der Reformen. Gemeinsam war diesen Theorien, dass sie eine Steuerbarkeit des Prozesses durch die Politik annahmen. 02 Vgl. die Analyse in EBRD (2003), die auch auf die Stellungnahmen anderer Organisationen wie der UN-Menschenrechtskommission, der OSZE, des IWF, der Weltbank u.a. Bezug nimmt. 03 Am prominentesten findet sich diese Richtung bei den Theoretikern des ökonomisch-politischen ‚Washington Consensus‘, angeführt von IWF und Weltbank, womit die Standpunkte der ‚westlichen‘ Wissenschaft und Politik zusammengefasst werden. Siehe hierzu die Zusammenfassungen in IBRD (1999) und EBRD Transition Report (1994, 1995). Im Bereich der deutschsprachigen Literatur siehe z.B. Offe (1994) und von Beyme (1994).

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Wenn seitdem auch eine gewisse Ernüchterung eingetreten ist und Zustandsbeschreibungen die Stelle konkreter Prognosen einnehmen, so bleibt die teleologische Betrachtung doch Grundlage der herrschenden Meinung, und folgerichtig wird der jeweilige Zustand eines Landes als Erfolg auf einer Skala des Übergangs zu diesem Ziel hin gemessen. Maßnahmen der Politik (wie Liberalisierung, Privatisierung usw.) sowie wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklungen lassen sich vor diesem Hintergrund als gut oder schlecht, dem Ziel dienlich oder schädlich einordnen. Die Berechtigung für solche Ansätze liegt letztlich darin, dass die Referenzpunkte ‚Marktwirtschaft‘ und ‚Demokratie‘ von den betroffenen Gesellschaften und Staaten selbst zu den Hauptzielen des Transformationsprozesses erklärt werden. Gerade hieran wird jedoch der normative Ansatz deutlich. Macht man sich diesen Blickwinkel zu Eigen, dann findet Transformation in Usbekistan nur von oben statt: es gab keine Demonstrationen und keinen Machtwechsel, die Unabhängigkeit ergab sich mehr aus den Umständen, als dass sie herbeigeführt oder gar erkämpft wurde, die Bevölkerung bleibt von politischen Prozessen weitgehend ausgeschlossen. Im Vergleich zu den meisten anderen Staaten der Region bleiben die wirtschaftlichen Reformen zögerlich. Entsprechend wird Usbekistan meist als eines der Schlusslichter im Transformationsprozess bezeichnet. Dem Alltag der Menschen dagegen widmet die theoriebildende Diskussion nur wenig Aufmerksamkeit.4 Nach Offe wird in Transformationszeiten, d.h. in einer Übergangsphase, auf der Mikroebene der einzelnen Akteure die „Politische Ökonomie der Geduld“ betrieben: „[…] sie müssen, wenn die gleichzeitige Bewältigung der drei Modernisierungsaufgaben [Rechtsstaat, Demokratie, Marktwirtschaft – IY] gelingen soll, bereit sein, ein hohes Maß an Geduld und Zuversicht aufzubringen“ (Offe 1994: 76). Im Mittelpunkt dieser Arbeit stehen die Subjekte dieser „Politischen Ökonomie der Geduld“. Mit anderen Worten: nicht der Abgleich vom Transformationsziel und der in den 10 Jahren seit dem Ende der Sowjetunion zurückgelegten Wegstrecke steht im Vordergrund, sondern der Weg selbst, das Alltagsleben und Handeln der Menschen in dieser sozialen Situation. Die Arbeit ist also der Versuch, bestimmte Aspekte des Transformationsprozesses, der so 04 Mit der vor kurzem erschienenen Aufsatzsammlung Postsozialismus (Hann (Hg.) 2002a) leisten die Autoren den ersten bedeutenden Beitrag zur Erleuchtung der makrosozialen Probleme der Transformationsgesellschaften aus ethnologischer Perspektive. Die bisher bei der Analyse der Transformationsgesellschaften Osteuropas und Asiens herrschende Betonung der Makroebene spiegelt sich in Bezug auf Zentralasien in der Tatsache wider, dass die Region entweder als sozialistische bzw. postsozialistische oder als ‚muslimische‘ wahrgenommen wird, ohne „die Integration dieser beiden Merkmale in einem klar erkenntlichen lebendigen Organismus zu begreifen“ (Kandiyoti 2002: 364). Zur Überwindung dieser ‚Blindheit‘ können die ethnologischen Forschungen, gekennzeichnet durch die ‚Nahaufnahme‘-Technik, entscheidend beitragen (vgl. Hann 2002b: 20).

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DER ALLTAG DER TRANSFORMATION

unterschiedliche Bewertungen erfährt, von innen heraus soziologisch zu erklären. Die Arbeit konzentriert sich dabei auf ein in der Transformationszeit neu entstandenes soziales Phänomen, dessen Trägerinnen im Bereich des städtischen Kleingewerbes selbständig tätige Frauen sind.5 Einkommensgenerierende Aktivitäten von Frauen im städtischen Bereich in Usbekistan sind an vielen öffentlichen Orten zu beobachten. Hierzu gehören Basare, in denen die ‚traditionellen Händlerinnen‘ Handel treiben, ebenso wie die in neuen, postsowjetischen Zeiten entstandenen Kleinhändlermärkte. An Verkehrsknotenpunkten wie U-Bahnhöfen trifft man gleich reihenweise auf Frauen, die selbstgefertigte Waren anbieten – von Salaten über Torten und Süßigkeiten bis zu Strickpullovern aus Hundewolle. Schlägt man die Zeitung auf, so wird man von privaten Kleinanzeigen mit allen möglichen Kauf- und Dienstleistungsangeboten förmlich überschüttet. Doch das, was man auf der Straße zu sehen und in der Zeitung zu lesen bekommt, ist nur ein Teil der gesamten Palette der einkommensgenerierenden Tätigkeiten. Denn ‚jeder macht etwas‘, wie man von den Bewohnern Taschkents hört. Nur findet ein Großteil dieser wirtschaftlichen Aktivität nicht im öffentlichen Bereich statt, sondern im privaten – und damit unsichtbar für die Nichtbeteiligten. Die Gründe für das spezifische Forschungsinteresse an dieser sozialen Gruppe liegen in der besonderen Platzierung ihrer Vertreterinnen: Sie befinden sich an der Schnittstelle von Markt- und Subsistenzproduktion sowie von produktiver und reproduktiver Tätigkeit, ihre Tätigkeit ist Trägerin der Transformation ebenso wie Folge des gesellschaftlichen Wandels. Hierin wird die Gleichzeitigkeit von Struktur und Handeln deutlich; und der gesellschaftliche Wandel der Transformation wird zu einem ergebnisoffenen Prozess. Durch eine Analyse der städtischen, selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten von Frauen lassen sich viele Aspekte der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Transformation aufzeigen. Gerade die höchst unterschiedliche soziale, ethnische und berufliche Herkunft dieser Frauen macht es möglich, einen Beitrag zum Verständnis der Art und Weise zu leisten, in der gesellschaftliche Einbettung6 wirtschaftliches Handeln im Transformationsprozess bedingt. Nicht zuletzt ist eine selbständige privatwirtschaftliche Tätigkeit geradezu symbolisch für einen gesellschaftlichen Wandel, in dessen Kern der Übergang von einer Plan- zu einer Marktwirtschaft und damit die (Wieder-)Einführung des Privateigentums an Produktionsmitteln steht. Anhand der gewählten Zielgruppe können die Transformationsprozesse exemplarisch aufgearbeitet werden. Die Konzentration auf Frauen als Trägerinnen des neuen sozialen Phänomens verfolgt einen doppelten Zweck: Zum einen bestimmen gerade bei Frauen die starken Verflechtungen verschiedener Lebensbereiche von unternehmerischer Tätigkeit bis Familienfür05 Siehe Kap. 1.2. 06 Vgl. Polanyi (1957, 1979) und Granovetter (1985).

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sorge – im Weiteren als Handlungsfelder bezeichnet – die Modi der Akkumulation. Dies ermöglicht eine vieldimensionale Betrachtung des Alltags der Akteure als Handlungsraum; es werden also Strategien und Arrangements zur Sicherung des Lebensunterhalts im weitesten Sinne untersucht. Dies hilft, die einseitige bzw. verkürzte Perspektive einer rein ökonomischen Transformationstheorie zu überwinden, die sich nur an abstrakten Institutionen und Prinzipien orientiert und die Subjekte des Wandels zwangsläufig vernachlässigen muss. Zum anderen zeigt die geschlechtsspezifische Perspektive der Analyse Kontinuität und Wandel der Geschlechterordnung. Dies ist insofern von Bedeutung, als das Geschlecht als eins der wichtigsten Kriterien für die Strukturierung von Ökonomie und Gesellschaft den Verlauf des Transformationsprozesses entscheidend mitbestimmt und gleichzeitig von diesem neu geprägt wird. Eine konkrete Definition der Kategorie ‚selbständig wirtschaftlich tätig‘ ist nicht einfach, da die in der Praxis aufgefundenen Arrangements sehr vielfältig sind und eben in hohem Maße gesellschaftlich eingebettet sind. Daher können entscheidende Kriterien für eine Zugehörigkeit zur Zielgruppe genannt werden: Die Tätigkeit erfolgt im Wesentlichen selbständig und zumindest ein Teil der Tätigkeit ist marktorientiert. Das Augenmerk der Analyse richtet sich dabei auf die nicht dem ‚Mainstream‘ der Ökonomie zugehörigen Bereiche. Wirtschaftlicher Erfolg oder Misserfolg (im Sinne von Umsatz, Gewinn oder Macht) war kein Kriterium für die Auswahl oder Beurteilung der Unternehmerinnen – wohl aber der Beitrag der Tätigkeiten zu ihrem Lebensunterhalt. Im Mittelpunkt steht vielmehr die Analyse der Verflechtungen. Im Folgenden soll ein Überblick über die dieser Arbeit zu Grunde liegenden theoretischen Annahmen und methodologischen Konzepte gegeben werden, die zum Teil in den vorangegangen Abschnitten schon angesprochen wurden. Diese Grundlagen werden in den einzelnen Kapiteln dieser Arbeit vertieft, soweit dies für den Gang der Argumentation sinnvoll ist. Die Arbeit folgt einem handlungstheoretischen Ansatz, der eine Handlungsrationalität7 der Betroffenen annimmt und diese vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Strukturen und Prozesse zu erklären sucht. Hierbei werden verstehende und kausale Erklärungsansätze kombiniert. Dieses Konzept ermöglicht es, auch widersprüchliches Handeln der Akteure in verschiedenen Situationen zu erklären (vgl. Lachenmann 1995a: 13). Die methodologisch wichtige Verbindung von Innenperspektive und externer Analyse wird durch das Konzept der Akteursperspektive (vgl. Long 1992) ermöglicht.8 07 Damit umfasst der hier verwendete Rationalitätsbegriff also mehr als eine strenge Zweckrationalität im Sinne Max Webers (1985) und wird als ein Mittel zur theoretischen Rekonstruktion verwendet. 08 „An actor-oriented perspective entails recognizing the ‚multiple realities‘ and diverse social practices of various actors. […] Central premises are that the concept of actor is a social construction rather than simply a synonym of the individual, and that notions of agency are differently constituted culturally, thus affecting the

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Die Handlungen der Akteure stehen in einem engen Bezug zu ihrem sozialen Umfeld. Dies gilt insbesondere auch für wirtschaftliche Handlungen, deren Handlungsrationalität nur vor dem Hintergrund ihrer gesellschaftlichen Einbettung zu verstehen ist. In dieser Arbeit wird ein weiter gefasstes Konzept von Einbettung verwendet. Danach sind jedes wirtschaftliche Handeln und jedes wirtschaftlich handelnde Individuum gesellschaftlich eingebettet – allein der Grad, in dem nicht ökonomische Motive das Handeln bestimmen, unterscheidet sich von Transaktion zu Transaktion und von System zu System (vgl. Schrader 1995; Lachenmann 1999). Dieses Handeln in verschiedenen Situationen wird mit Hilfe des Konzepts der Handlungsfelder der Akteure untersucht, d.h. auch hier wird die Akteursperspektive beibehalten. Dabei zeigt sich eine enge Verflechtung der verschiedenen Handlungsfelder, deren Gesamtheit als Handlungsraum bezeichnet wird. In diesem Zusammenhang wird u.a. auch auf das Konzept des ‚interface‘ (vgl. Long 1992) zurückgegriffen. An dieser Stelle ergeben sich Berührungspunkte zur Neuen Ökonomischen Soziologie und Neuen Institutionellen Ökonomie (NIE). Betrachtet man eine Institution als eine „Regel für das Entscheiden von Individuen in sich wiederholenden mehrpersonellen Entscheidungssituationen, die soweit allgemeine Anerkennung erlangt hat, dass die Individuen bestimmte wechselseitige Verhaltenserwartungen besitzen“ (Elsner 1987: 5), so werden Berührungspunkte ebenso deutlich wie der unterschiedliche Blickwinkel: In der NIE werden Konzepte zu formellen und informellen Institutionen erarbeitet. North (1990, 1993) bezeichnet die informellen Institutionen als Zwänge (constraints), Übereinkünfte (conventions) und interne Verhaltensregeln (internally enforced codes of conduct), die zusammen mit den formellen Regeln (oder Institutionen) eine „institutionelle Matrix“ bilden. Gesellschafts- und Wirtschaftssysteme werden demnach durch die dynamische Interaktion von formellen und informellen Institutionen gebildet. Die Ähnlichkeiten mit der hier postulierten kulturell-gesellschaftlichen Einbettung wirtschaftlicher Handlungen treten deutlich hervor, wobei die Polanyi’sche Einbettung den der NIE zu Grunde liegenden Konzepten von Nutzenmaximierung bei begrenzter Rationalität („bounded rationality“) entspricht: Der begrenzt rational handelnde homo oeconomicus ist das eingebettete handelnde reale Individuum. Der Begriff der dynamischen Interaktion lässt sich dann mit „Verflechtung“ übersetzen. Der Transformationsprozess lässt sich daher als Veränderung der dynamischen Interaktion von Institutionen ebenso darstellen wie als Veränderung der Verflechtung. Aus dieser Sichtweise zeigt sich Transformation als Wandel der Institutionen, und damit als Veränderung der Einbettung des wirtschaftlichen Handelns. Denn der Transformationsprozess ist auch durch Veränderungen von Normen und Verhaltensweisen geprägt, denen nicht immer veränderte formelmanagement of interpersonal relations and the kinds of control that actors can pursue vis-á-vis each other“ (Long 1992: 5, 9).

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le Regelungen zu Grunde liegen. Gerade in Usbekistan mit seinem langsamen Wandel vieler formeller Institutionen ist dies von Bedeutung. Auf der anderen Seite aber ist es aus einer Akteursperspektive von nachgeordnetem Interesse, wie und warum sich Institutionen verändern, denn sie ändern sich ja gerade in Folge veränderten Handelns und veränderter Handlungserwartungen der Akteure. Hinzu kommt noch, dass die Unterscheidung „formeller“ und „informeller“ Institutionen außerordentlich schwierig, dabei aber aus Akteursperspektive eher belanglos ist. Im Ergebnis erscheint das Konzept der Handlungsfelder eher geeignet, die Handlungsrationalität der Akteure zu verdeutlichen. Nichtsdestotrotz wird im Laufe dieser Arbeit immer wieder auch auf institutionelle Ansätze zurückgegriffen, um die Verankerung der ökonomischen Institutionen in der sozialen Struktur der Gesellschaft aus soziologischer Sicht aufzuzeigen. Geschlecht ist eine der wichtigsten Dimensionen, entlang derer sich Institutionen bilden und in der die Interaktion erfolgt. Die Strukturierung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Lebensbereiche durch geschlechtsspezifische Beziehungen bezeichnet man auch als Geschlechterordnung (vgl. Lachenmann 2001: 31; Elson 1995: 1851). Das Gender-Konzept wird dabei als analytischer Begriff zum Verständnis sozialer Prozesse konstruiert: „Gender is conceptualized as the social meanings given to biological sex differences […], gender is constituted not only in the realm of culture and ideology; it also reproduced and reshaped in the material practices in ‚making a living‘. In turn, it shapes the outcome of those practices“ (Çagatay/Elson/Grown 1995: 1828).

In sozialen und ökonomischen Institutionen wird die Geschlechterordnung einer Gesellschaft konstruiert und gleichzeitig sind diese Institutionen durch die Geschlechterordnung bedingt. Daher handelt es sich also um einen interaktiven Prozess, in dem Veränderungen der Institutionen auch zu Veränderungen der Geschlechterordnung führen, welche umgekehrt auch diese Veränderungen beeinflusst. „Die leitende Annahme ist, dass der geschlechtsspezifische Blickwinkel auf ökonomisches Handeln und Veränderungsprozesse als paradigmatisch für die Betrachtung der Einbettung der Wirtschaft in Kultur und Gesellschaft angesehen werden kann“ (Lachenmann 2001: 15).

Dass das Geschlechterverhältnis sich als ein Prisma für die Analyse der sowjetischen und postsowjetischen Gesellschaft eignet, wurde bereits von vielen Autorinnen erkannt.9 Es schärft den Blick für die Machtverhältnisse und damit 09 Die Diskussion zur Lage der Frauen in der UdSSR wurde vor allem im westlichen Ausland geführt. So erschienen schon seit den späten 1960er Jahren insbesondere in den USA und Großbritannien eine Reihe von Publikationen zu dem Thema, z.B. Brown (1968), Atkinson/Dallin/Lapidus (1977), Lapidus (1978), Holland (1985), Buckley (1989). Seit der Zeit der Perestroika in der Mitte der

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auf die Möglichkeiten und Grenzen des Individuums, sein Leben zu gestalten (vgl. Köbberling 1997: 28). Dies trifft insbesondere für die sowjetische bzw. usbekische Gesellschaft zu, die von starken Machtstrukturen geprägt war und ist. Gerade Gewalt seitens des Staates machte es möglich, dass das Bild der Frau als Arbeiterin oder ‚Mutter von Arbeitern‘ ‚wissenschaftlich belegt‘ und durch staatliche Politik in die Praxis umgesetzt werden konnte, während eine kritische Diskussion im Lande sich (mindestens) bis zur Zeit der Perestroika nicht entfalten konnte. Seit den 1990er Jahren wird die Geschlechterperspektive sowohl von ausländischen als auch von einheimischen Autorinnen für eine Auseinandersetzung mit der sowjetischen Vergangenheit verwendet. Besonders die Ereignisse der ersten Jahrzehnte des Sowjetregimes, als die gesellschaftlichen Veränderungen auch durch die Anwendung physischer Gewalt herbeigeführt wurden, werden in ihrer Bedeutung für die gesellschaftliche Stellung der Frauen dargestellt. Allerdings bleibt die einheimische Literatur zu diesem Themenkreis wenig umfangreich; die meisten Werke einheimischer Autorinnen sind autobiographisch bzw. publizistisch geprägt und bleiben in Bezug auf kritische Distanz und Wissenschaftlichkeit beschränkt.10 Den Autorinnen ist ein Blickwinkel gemeinsam, den Köbberling (1997: 11) wie folgt zum Ausdruck bringt: „Die Menschen befanden sich also im Spannungsfeld zwischen ihren realen Lebensumständen und den von der Propaganda transportierten Bildern der Wirklichkeit“. Ziel dieser Arbeit ist es, diese „realen Lebensumstände“ aufzugreifen. Dafür stellt der Gender-Fokus einen relationalen prozessgerichteten Analyseansatz dar. Hierbei wird nicht über Geschlechterrollen gesprochen, sondern es wird von einer engen Verzahnung zwischen der Geschlechterordnung, ihrer diskursiven Performanz und Handlungsmöglichkeiten ausgegangen (vgl. Lachenmann/Dannecker 2001a: 5). Daraus leitet sich ein explizit geschlechtsspezifischer Ansatz für die gesamte Untersuchung ab. Die geschlechtsspezifische Dimension der Transformation macht deutlich, wie sich die Modi der Akkumulation und Versorgung der Akteure, ihrer Familien und Freunde verändern. Es geht also um Strate1980er Jahre nahm dann auch die Zahl der Publikationen im deutschsprachigen Raum zu, z.B. Krone-Schmalz (1990), Fisher-Ruge (1991), Kerneck (1994), Peetz (1994). Für den Stand der Diskussion zur Geschlechterfrage vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in der westlichen bzw. deutsch- und englischsprachigen Literatur siehe ausführlich bei Köbberling (1997). In Das Klischee der Sowjetfrau. Stereotyp und Selbstverständnis Moskauer Frauen zwischen Stalinära und Perestroika zeichnet Anna Köbberling die Veränderungen der Klischeebilder während der Sowjetzeit nach und zeigt deren Bedeutung für die Entwicklung von Selbstbildern der Frauen. 10 Pionierarbeiten leistete in diesem Sinne Marfua Tokhtakhodjaeva mit ihren Büchern Between the slogans of communism and the laws of Islam (1995) sowie (in Zusammenarbeit mit Elmira Turgumbekova) The Daughters of Amazons. Voices from Central Asia (1996).

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gien zur Sicherung des Lebensunterhalts, wobei dieser Begriff das bloße Überleben ebenso beinhaltet wie die Aufrechterhaltung oder Verbesserung des Lebensstandards. Das Forschungsinteresse richtet sich auf die Wechselwirkungen zwischen Veränderungen der Sozialstruktur und veränderten sozialen Praktiken. Dass diese Wechselwirkungen nicht teleologisch betrachtet werden sollten, kann als eines der richtungweisenden Ergebnisse des ‚Symposium on transition theory‘11 festgehalten werden. In Anlehnung an Stark, der als einer der ersten Transformationsforscher auf diese Gefahr hinwies, wird Transformation als Prozess verstanden, der durch die Interaktion neuer Elemente mit vielfachen Variationen bestehender Organisationsformen gekennzeichnet ist (vgl. Stark 1992: 300). Folgt man dabei der Akteursperspektive, so wird die Kontextualisierung der Handlungen der Akteure zum leitenden Analyseverfahren gemacht (siehe Kap. 1.2). Durch die Darstellung der Handlungen der im städtischen Kleingewerbe tätigen Unternehmerinnen in ihrer Interaktion mit dem breiteren politökonomischen Rahmen kann ein Beitrag zum Verständnis der Etablierung von Marktstrukturen in Usbekistan geleistet werden. Das folgende Kapitel zielt zum einem darauf, einen Einstieg in das heutige Usbekistan zu vermitteln, zum anderen vertieft es die Einführung in Methodologie und Theorieansätze und schafft so die Grundlage für die weiteren Kapitel. Durch die Identifizierung und Betrachtung ökonomischer Handlungsfelder und ihrer (auch geschlechtsspezifischen) Strukturierung und Verflechtung können Modi der Akkumulation und Existenzsicherung erfasst werden. Die Kontinuitäten und Wandlungen der Praktiken werden dabei ins Zentrum der Analyse der Entwicklungen in der Transformationszeit gestellt. Dies ermöglicht es, die Verabsolutierung der Gegenüberstellung von Plan- und Marktwirtschaft zu überwinden: In Usbekistan gab es nie eine reine oder ideale Planwirtschaft, und gerade die aus der sowjetischen Zeit übernommenen Verflechtungen und Ressourcen bestimmen die Handlungsmöglichkeiten in der Transformationszeit. Dies gilt insbesondere für selbständig betriebene einkommensgenerierende Tätigkeiten. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht die Organisation der wirtschaftlichen Tätigkeiten. Durch die Verwendung von Konzepten mittlerer theoretischer Reichweite – „alternative Akkumulationsmodi“ (Geschiere/Konings 1993) und soziale Netzwerke – werden die (empirisch nachweisbaren) Formen der Tätigkeiten als Ausdruck von Aushandlungen der Zugangsrechte bezüglich Produktionsressourcen, Geld, Arbeitskraft und Absatzmärkten in ökonomischen Institutionen gesehen. Die Aushandlungen laufen in Handlungsfeldern ab, deren Machtstrukturierung durch die geschlechtsspezifische Perspektive deutlich wird. 11 Veröffentlicht im American Journal of Sociology (1996), für eine Zusammenfassung siehe darin Szelényi/Kostello (1996).

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Im vierten Kapitel wird der Aufbau der Produktionsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betrachtet. Dabei wird von der Verbindung von Familienpflichten und einkommensgenerierenden Tätigkeiten als strategisches Ziel der Akteurinnen ausgegangen, das die Handlungslogik bestimmt. Hierin wird die Einbettung der ökonomischen Handlungen in den verschiedenen Handlungsfeldern deutlich. Handlungsfelder (und der Handlungsraum insgesamt) sind immer durch eine interaktive Aushandlung der Regeln und Grenzen gekennzeichnet. Dies gilt in der Transformationszeit in besonderem Maße, da sich ein intensiver gesellschaftlicher und ökonomischer Wandel vollzieht. Die Strategien der untersuchten Frauen werden in ihrer Vielfältigkeit dargestellt; dabei werden auch Ansätze zu einer Definition bestimmter Typen von Akkumulationsmodi entworfen. Durch die gesamte Analyse wird die geschlechtsspezifische Strukturierung der Handlungsfelder und -räume deutlich. Das fünfte Kapitel untersucht die Identitätsbildung der selbständigen Unternehmerinnen. Nach einer methodologischen Einführung wird zunächst die Sinnsetzung der Akteure für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten untersucht. Als zentrale Kategorie stellt sich dabei das Streben nach einem menschenwürdigen Leben heraus, wobei dies materielle Aspekte ebenso einschließt wie soziale und persönliche. Anschließend wird untersucht, in welcher Wechselwirkung diese Identitäten und Kategorien zu den aktuellen politischen und öffentlichen Diskursen stehen. Hierbei zeigt sich das Bild eines autoritären Staates, der ein Deutungs- und Diskursmonopol für sich beansprucht, das eine offene Diskussion verhindert. In dieser undemokratischen Diskursführung liegt eine der wesentlichen Kontinuitäten seit sowjetischer Zeit. Als Konsequenz erfolgt die Identitätsbildung häufig in der Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Umgebung, in Diskursen in und um den Alltag. Diese Diskursanalyse ermöglicht eine Kontextualisierung der Ergebnisse der eigenen empirischen Forschung.

1.2 Zur Forschungsmethode Dieses Buch basiert im Wesentlichen auf Daten, die im Rahmen einer zweiteiligen Feldforschung in Usbekistan im Juli/August 1998 und Januar– September 1999 erhoben wurden. Als Zielgruppe der Untersuchung wurden im Bereich des städtischen Kleingewerbes tätige selbständige Unternehmerinnen in Usbekistan definiert. Insgesamt wurden 53 qualitative Interviews mit Vertreterinnen der Zielgruppe geführt, die durch einige ausführliche Fallstudien über die Machalla‚ den Markt Yangibosor und den Handelsplatz im Dorf Toy-Tepa, 30 km südlich von Taschkent, ergänzt wurden. Die Methoden der qualitativen Sozialforschung, vor allem die Instrumente des qualitativen Interviews, der teilnehmenden Beobachtung und des freien Gespräches, ermöglichen die Einnahme verschiedener Perspektiven zum Gegenstand der Forschung und dadurch ein adäquates Verstehen der Vielseitigkeit des Verhaltens und der Einstellungen

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der Akteure. Häufige Voraussetzung für die Bereitschaft zu einem längeren Interview bei den Respondentinnen zu Hause, die von mir bevorzugte Technik, war die Vermittlung durch gemeinsame Bekannte. Öffentliche Plätze – wie Basare, Werkstätten oder Verkehrsknotenpunkte – wurden auch zur Kontaktaufnahme mit den Akteurinnen benutzt. Die soziale Strukturierung solcher Plätze beeinflusste die Bereitschaft und die Art der Kommunikation zwischen Forscherin und Informantinnen. Allerdings erwies es sich als schwierig, die Respondentinnen aus dem Basar zu einem Interview bei ihnen zu Hause zu überreden. Fallrekonstruktionen und Kontextualisierung wurden zu den leitenden Forschungsmethoden. Es wurde ein Methodenmix eingesetzt, der über Aufzeichnungen der Biographien und Karrieren der Produzentinnen, ihrer Handlungsfelder, Schnittstellen und Verflechtungen bis hin zu Diskursanalyse geht. Dies ermöglicht eine „dichte Beschreibung“ (vgl. Geertz 1987) der beobachteten sozialen Phänomene. Durch die Aufzeichnung der Interaktion (Schnittstellenanalyse) werden Verknüpfungen zwischen Struktur und Prozessen untersucht, d.h. es geht darum, die Verbindung der verschiedenen Ebenen von staatlichen Rahmenbedingungen bis zur Realität der Unternehmerinnen analytisch herzustellen. Maßgeblich für den Aufbau der Interviews war dabei das Interesse an der biographischen Perspektive der Akteurinnen. Dies bringt mit sich, dass der Blick der Forscherin auf unterschiedliche Ebenen des sozialen Lebens und auf die individuell geschaffenen Verflechtungen gerichtet wird. Dargestellt im Licht der individuellen Erlebnisse, bezieht der soziale Wandel seine Kraft aus den individuellen Handlungen. Es wurden, soweit dem Forschungsinteresse dienlich, neben den Beobachtungen an den Orten der wirtschaftlichen Tätigkeit und in den Haushalten sowie den Gesprächen mit Haushaltsangehörigen und anderen relevanten Akteuren auch frühere Forschungs- und Arbeitserfahrungen, Sekundärquellen wie wissenschaftliche und publizistische Literatur sowie Experteninterviews bzw. Diskussionen mit Wissenschaftlern und in ähnlichen Bereichen tätigen Mitarbeitern internationaler Organisationen, Nichtregierungsorganisationen (NRO) und anderen herangezogen. Die Entscheidung zu einer qualitativen Sozialforschung schließt die Verwendung von Daten in quantitativer Form nicht aus. Nach Strauss (1998) besteht die wirklich sinnvolle Trennung zwischen qualitativen und quantitativen Verfahren darin, wie das Datenmaterial analytisch behandelt wird. Die Qualität öffentlich zugänglicher statistischer Daten in und zu Usbekistan ist sehr schlecht12, wie in fast jeder einschlägigen Publikation angemerkt wird. Gerade auch in Bezug auf die hier relevante Fragestellung zur Haushaltsführung liegen nur wenig differenzierte Daten für Usbekistan vor, die kaum eine geschlechtsspezifische Perspektive bei ihrer Auswertung ermöglichen. In Zu12 Dies betrifft die Vollständigkeit ebenso wie die Konsistenz und Richtigkeit der Daten. Alle Statistiken, auch die in dieser Arbeit verwendeten, sind daher mit erheblichen Vorbehalten zu betrachten.

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sammenarbeit mit dem Sozialforschungsinstitut Tadquiqot wurde daher von der Autorin eine standardisierte Umfrage entworfen, mit dem Ziel, sich ein geschlechtsspezifisches Bild von den Tätigkeiten zur Sicherung der Lebensgrundlagen, besonders im Haushaltsbereich zu verschaffen. Im Juni 1999 wurden dazu über das Interviewernetz von Tadquiqot Angehörige von 500 Haushalten in den vier größten Städten Usbekistans – Taschkent, Bukhara, Samarkand und Andijan – nach repräsentativen Kriterien in Bezug auf die städtische Gesamtbevölkerung in Usbekistan ausgewählt und befragt. Die Ergebnisse der Studie finden insbesondere im Kapitel 2 Verwendung; sie sind teilweise im Anhang (Tabellen 8, 9, 10) dargestellt. Die Wiedergabe der im Text verwendeten russischen und usbekischen Ausdrücke, Ortsbezeichnungen und Namen folgt der wissenschaftlichen Bibliothekstranskription (mit Ausnahme von auch im Deutschen gebräuchlichen Begriffen wie z.B. ‚Usbekistan‘), in Zitaten und Quellenangaben werden die Namen der Autoren wie im Original wiedergegeben; in den Fußnoten wird z.T. auch das kyrillische Original verwendet. Die Begriffe sind kursiv gesetzt und werden im Glossar erklärt. Zitate aus russischsprachigen Quellen werden im Text übersetzt; das Original wird nur dann wiedergegeben, wenn der besondere Stil der Quelle betont werden soll. Englische Quellen werden im Original zitiert.

2 SICHERUNG DES LEBENSUNTERHALTS IN DER TRANSFORMATIONSZEIT: KONTINUITÄT UND WANDEL Im Mittelpunkt der Arbeit stehen Projekte zur Sicherung des Lebensunterhalts, wobei ‚Lebensunterhalt‘ in einem breiten Sinne zu verstehen ist und auch die Organisation sozialer Praktiken einschließt.1 Diese Projekte setzen sich aus unterschiedlichen Handlungsstrategien zusammen, die in verschiedenen Lebensbereichen, den so genannten Handlungsfeldern2, verfolgt werden.3 Hieran schließt sich der Begriff des ‚Interface‘ an, dem eine zentrale Bedeutung als organisierendes Konzept (Long 1989: 253f.) zukommt: Auf unterschiedlichen Machtebenen und in verschiedenen institutionellen Kontexten handeln die Akteure Lösungen aus, die aus der Koexistenz und Interaktion verschiedener Institutionen und Lebenswelten verstanden werden müssen. Die Projekte und Handlungen der Akteure sind Ausdruck ihrer reflexiven Kapazität und daher vor dem Hintergrund der multiplen Realitäten und unterschiedlichen sozialen Praktiken der Handelnden zu sehen. Die Analyse erfolgt dementsprechend vor allem durch den Blick auf den Alltag. Um diesen Alltag zu verstehen, ist zunächst eine politökonomische und soziokulturelle Kontextualisierung herzustellen, die Inhalt dieses ersten Kapitels ist. Diese Kontextualisierung ermöglicht es auch, die Akteurinnen nicht nur als reale Individuen zu sehen, sondern auch als Vertreterinnen bestimmter typischer Handlungsmuster. Vor dem Einstieg in die Situation in Usbekistan sollen jedoch die theoretische Herangehensweise und das Verständnis von Ökonomie als Modus von Akkumulation und Versorgung erläutert werden. Es ist das Verdienst feministischer Ansätze in der Ökonomie (Çagatay/Elson/Grown 1995), die Gleichwertigkeit unbezahlter, meist häuslicher Arbeit sowie die Eigenschaft von Arbeitskraft als produziertem Faktor herausgearbeitet zu haben. 01 Vgl. die Verwendung des Begriffs livelihood bei Chambers (1987) und Long (2000). 02 Long (1989: 251f.) erklärt den Begriff des Handlungsfeldes, der zur Überwindung von institutionellen Ansätzen bei der Analyse gesellschaftlichen Wandels dient, wie folgt: „[…] individuals manipulate norms, values and develop strategies to create space for their ‚own projects‘. […] [They] do not operate in clearly defined institutional frameworks but rather construct fields of action which often cross-cut formal organisational boundaries and normative systems.“ 03 Zum Begriff des Handlungsfeldes sowie zur Handlungsrationalität siehe auch Kap. 4.1.

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Dieser Ansatz wird z.B. in dem von Unifem (2000) verwendeten makroökonomischen Modell deutlich, das als „Revisioning the economy through women’s eyes“ umschrieben wird. Ökonomische Aktivitäten von Menschen werden dabei grob vier Sektoren zugeordnet, die miteinander verknüpft und voneinander abhängig sind: Vereinfacht gesagt, werden im häuslichen Sektor (domestic sector) mit (unbezahlter) Arbeit die Menschen geboren, aufgezogen und gepflegt, die ihrerseits den input an bezahlter und unbezahlter Arbeit für die drei anderen Sektoren liefern. Zudem erfolgt im häuslichen Sektor Produktion für den Eigenbedarf. Der private Sektor (private sector) produziert mit Hilfe von (bezahlter und unbezahlter) Arbeit, die in formelle und informelle Arbeit unterteilt wird, Güter, Dienstleistungen und Zahlungen, die auf Märkten gehandelt werden und als input für die drei anderen Sektoren dienen. Ähnliches gilt für den öffentlichen Sektor (public sector), der mit Hilfe von bezahlter Arbeit öffentliche Dienstleistungen produziert, die entgeltlich und unentgeltlich (als Transfers) an die anderen Sektoren abgegeben werden. Der vierte, der NRO-Sektor, erhält inputs an Gütern und Dienstleistungen aus dem öffentlichen und dem privaten Sektor sowie bezahlte und unbezahlte Arbeit aus dem häuslichen Sektor und produziert entgeltlich und unentgeltlich an den häuslichen Sektor abgegebene Güter und Dienstleistungen. In diesem Zusammenhang ist anzumerken, dass der NRO-Sektor nicht auf NRO im engeren Sinne beschränkt werden sollte, sondern alle nichtstaatlichen formellen oder informellen gesellschaftlichen Institutionen umfasst, also auch Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Nachbarschaften usw. Wenn auch diese Begriffe bei Unifem (2000) so nicht verwendet werden, lässt sich festhalten, dass die Abgrenzung der Sektoren durch die Art und Weise des wirtschaftlichen Handelns und damit durch die Handlungslogik bestimmt wird. Maßgeblich bleiben dabei die herkömmlichen, auf Polanyi (1957b) zurückgehenden Kriterien zur Klassifikation wirtschaftlichen Handelns, also Reziprozität, Redistribution, Markttausch und Subsistenzproduktion (Haushaltung). Die Logik der Reziprozität entspricht dabei dem NRO-Sektor, die Redistribution dem öffentlichen, der Markttausch dem privaten und die Subsistenzproduktion dem häuslichen Sektor. Durch die im Modell vorgenommene Klassifizierung der jeweiligen inputs und outputs wird diese strikte Trennung jedoch etwas differenziert: So folgt beispielsweise der input „bezahlte Arbeit“ im öffentlichen oder im NRO-Sektor der Handlungslogik des Markttausches, die informelle, unbezahlte Arbeit im Privatsektor dagegen der Logik der Reziprozität. Die in häuslicher Arbeit entstandene Produktion lässt sich außer für den Eigenbedarf auch für den Markttausch verwenden usw. Wie bereits erwähnt, liegt der Verdienst eines solchen Ansatzes in der Hervorhebung der Gleichwertigkeit der vier Sektoren, wobei der häusliche Sektor aber überwiegend auf unbezahlter Arbeit beruht, was als mangelnde gesellschaftliche Anerkennung interpretiert wird. Zudem wird nachgewiesen, dass Männer und Frauen in den verschiedenen Sektoren systematisch in unterschiedlicher Art und Weise bzw. in unterschiedlichem Umfang tätig sind („e-

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conomy as a gendered structure“, Elson 1999: 611). Insbesondere werden die unbezahlten Arbeiten des häuslichen Sektors überwiegend von Frauen geleistet, woraus sich eine gesellschaftliche Benachteiligung ableiten lässt. Aus soziologischer Sicht kann dieses Modell als Ansatzpunkt genommen werden, bedarf jedoch einer kritischen Weiterentwicklung, „um die geschlechtsspezifische Strukturierung [der Ökonomie – IY] auch positiv im Sinne der sozialen Realität zu analysieren“ (Lachenmann 2001: 32). Denn die schematische Trennung der Sektoren spiegelt trotz der genannten Differenzierungen nicht ausreichend die Verflechtungen wider, die zwischen ihnen bestehen: Aus der Perspektive der einzelnen Akteure verwischen sich die Grenzen der Sektoren in dem Maße, wie die individuelle Handlungslogik in einem Sektor unterschiedlichen Prinzipien folgt. In jeder realen Handlung können Elemente mehrerer der genannten Interaktionstypen vertreten sein. Zudem geht es in einem soziologischen Ansatz vor allem um die Aufdeckung und Erklärung von Kooperationsbereichen und -gemeinschaften, also allgemein um die Beschreibung sozialer Realitäten, nicht aber um eine analytische und dualistische Trennung von Funktionsbereichen. Dieser Tatsache trägt das oben eingeführte Konzept der Handlungsfelder Rechnung. Auch wenn eine Abgrenzung der Handlungsfelder aus analytischen und Darstellungsgründen unumgänglich ist, darf natürlich nicht aus dem Auge verloren werden, dass es sich bei den definierten Handlungsfeldern um abstrahierende Konstrukte handelt. Die Aufteilung geschieht unter einem geschlechtsspezifischen Blickwinkel und soll insbesondere die Verschränkung von häufig als getrennt aufgefassten Bereichen, wie dem produktiven und dem reproduktiven Sektor, deutlich machen. Lachenmann (1992a, 1997a, 1998) entwickelt in diesem Zusammenhang das Konzept der Frauenökonomie als Ausdruck der besonderen, geschlechtsspezifischen Verflechtungen zwischen den verschiedenen Bereichen.4 Besondere Aufmerksamkeit gilt dabei der Notwendigkeit von Subsistenzwirtschaft, die das Überleben in der Transformation sichern soll. Die Arbeit folgt dabei der Tradition des so genannten Bielefelder Ansatzes der Entwicklungssoziologie, der die Bedeutung von Produktion für den Eigengebrauch außerhalb marktwirtschaftlicher Beziehungen betont und so den analytischen Rahmen für den Forschungsansatz bietet (vgl. Evers/Claus/Wong 1984; Evers 1987a u.a.). In dieser Hinsicht muss für den Fall der postsozialistischen5 Gesellschaft Usbekistans eine Anpassung der im obigen Modell verwendeten Sektorenabgrenzungen vorgenommen werden. Denn im sozialistischen System fielen die 04 Siehe hierzu ausführlich Kapitel 4. Zur Anwendung des Konzepts vor dem Hintergrund verschiedener (vor allem afrikanischer) Gesellschaften vgl. u.a. Laaser (2001), Nageeb (2001), Schneider (1999) und Wanzala (2001). 05 Der Gebrauch der Kategorie ‚postsozialistisch‘ dient vor allem zur Herstellung von Vergleichen mit anderen Ländern, die ihrerseits die Darstellung der Situation in Usbekistan erleichtern. Zur Berechtigung der Anwendung der Kategorie ‚postsozialistisch‘ siehe Humphrey (2002).

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mit privatem und öffentlichem Sektor umschriebenen Bereiche weitgehend zusammen: Der Staat war hier wie dort Arbeitgeber und Produzent. Die Trennung in ‚public‘ und ‚private‘ entbehrt damit einer wesentlichen institutionellen Grundlage. Darüber hinaus befanden sich auch viele Bereiche, die in westlichen Industrieländern dem häuslichen und NRO-Sektor angehören, unter der Kontrolle des Staates. Diese hervorgehobene Stellung eines Akteurs hatte erhebliche Konsequenzen für die Handlungsfelder. Nicht zuletzt führte sie zu einer starken Vermischung der genannten Interaktionstypen bei Handlungen von Individuen gegenüber dem Staat, sei es in Bereichen, die vordergründig der Logik der Marktproduktion folgen – als Arbeitnehmer oder Kunde staatlicher Produkte – oder in vordergründig redistributiven Bereichen wie der Bildung oder Gesundheitsversorgung. Diese Vielschichtigkeit der Handlungen lässt sich auch als Einbettung bezeichnen. Insofern ist die Argumentation Schraders, dass Lohnarbeitsverhältnisse weniger stark eingebettet seien als andere Produktionsformen (vgl. Schrader 1995: 9), insoweit zu modifizieren, dass im sozialistischen und postsozialistischen System auch Lohnarbeitsverhältnisse stark eingebettet waren. Diese Einbettung – und damit komplexe Handlungslogik – wird von dem sowjetischen Soziologen Lewada (1993: 26) auf das gesamte Verhältnis der Bürger zum Staat bezogen und als Widersprüchlichkeit bezeichnet: „Jeder der Charakterzüge ist antinomisch und enthält gewissermaßen seine eigene Negation: Die ‚unverletzliche Grenze‘ und die Bereitschaft, sie zu übertreten; Hoffnung auf staatliche Fürsorge gepaart mit Misstrauen im Verhältnis zum Staat; gleichzeitige Anerkennung und Ablehnung (‚Egalitarismus‘) der staatlichen Hierarchie; Verstaatlichung der nationalen Identität und Frustration des Nationalbewusstseins im Rahmen der überethnischen (imperialen) Zugehörigkeit“.

Wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, hat diese Hinterlassenschaft auch heute noch eine wesentliche Bedeutung. Dennoch ist einer der wesentlichen Inhalte der Transformation die Neuordnung der Sektoren und insbesondere der Handlungsbereiche des Staates: Der so genannte private Sektor soll nun tatsächlich privat werden, der ‚öffentliche‘ Sektor wird grundlegend neu gestaltet, und der Staat kann die zuvor übernommen Aufgaben in den Bereichen Redistribution und Reproduktion nicht mehr in dem gewohnten Maße wahrnehmen. Dies wird in den folgenden Abschnitten ausführlich erläutert. Der faktische Rückzug des Staates aus vielen Bereichen führt zu einer Zunahme der individuellen Verantwortung – auch Freiheit – und zu einer Diversifizierung der Verflechtungen. Diese wiederum knüpfen häufig, so wird die Analyse zeigen, an die schon im sowjetischen System bestehenden Verflechtungen und Netzwerke an, bleiben jedoch nicht auf diese beschränkt. Die Akteure betreiben daher Transformation durch ihre Einbettung, und gleichzeitig wird ihre Einbettung durch die Transformation verändert. Vor diesem Hintergrund erscheint die Anwendung von Begriffen wie ‚second economy‘, ‚parallel economy‘, ‚Schattenwirtschaft‘, ‚Privilegien‘, ‚Korruption‘ oder ‚Seilschaften‘ in einem anderen Licht. Häufig werden diese Er-

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scheinungen mit einem Systemversagen erklärt und dadurch als informelle Institutionen klassifiziert: Wenn das formale Versorgungssystem einer Gesellschaft die Nachfrage nicht befriedigen könne, hülfen sich Menschen auf informellen Wegen. Wenn die gesellschaftliche Transformation ein gewisses Tempo übersteige, so dass die formal dafür vorgesehenen Steuerungsinstanzen nicht mehr nachkämen, so suchten die Menschen nach schnelleren und flexibleren Auswegen im informellen Bereich. Wenn die Komplexität eines gesellschaftlichen Systems die Steuerungskapazität eines formalen Apparats übersteige, etwa das Management einer Metropole, griffen Akteure häufig auf informelle Netzwerke zurück (vgl. Rottenburg 1995: 26).6 Folgt man jedoch dem Einbettungsansatz, so zeigt sich, dass die Gleichzeitigkeit verschiedener Handlungslogiken im Verhältnis zum Staat, seinen Ressourcen und seinen Vertretern zu engen Verflechtungen führt, in denen ‚formelle‘ und ‚informelle‘ Handlungen aufs Engste miteinander verbunden sind. Im Kontext einer Transformationsökonomie wie Usbekistan ist zu berücksichtigen, dass auch Akteure, die ‚eigentlich‘ dem formellen Sektor angehören, also z.B. registrierte Unternehmen, einen großen Anteil ihrer Transaktionen informell vornehmen, das heißt an der Regulierung vorbei. Aus Sicht der Akteure ist eine dualistische Unterscheidung daher wenig sinnvoll. Zu diesem Ergebnis kommt auch Rottenburg: „Die Unterscheidung zwischen ‚formalen‘ und ‚informellen‘ Wegen zur Erledigung einer Sache mit der Differenz von ‚rational‘ und ‚soziokulturell eingebettet‘ gleichzustellen, erscheint […] unbegründet, wenn man den Standpunkt ökonomischer Systemrationalität verlässt und stattdessen die Sicht der Akteure einnimmt“ (Rottenburg 1995: 20).

Damit stellt sich die Aufgabe, die realen Interaktionsmuster in ihrer Sinnhaftigkeit aufzugreifen, ohne diese in einen normativen Ansatz zu zwängen und sich aus diesem heraus der Frage nach ihrer Legitimation anzunähern. Im Rahmen dieser Arbeit wird daher nur am Rande auf eine Unterscheidung in formell oder informell zurückgegriffen. Nichtsdestotrotz wird eine Abgrenzung an einigen Stellen notwendig, wenn nämlich die Abwägung der unterschiedlichen Folgen handlungsleitend wird, die die Durchführung einer Transaktion als formell oder informell hätte, wenn also z.B. die Entscheidung über eine Registrierung einer wirtschaftlichen Tätigkeit getroffen wird.7 Es 06 Für eine zusammenfassende Darstellung dieser Diskussion mit Beiträgen von russischsprachigen Forschern siehe Shanin (1999). 07 Eine wichtige Rolle spielen hierbei die Sanktionsdrohungen bzw. Möglichkeiten zur ‚Einklage‘ eines Rechtes. Eine formelle Handlung erlaubt zumindest theoretisch die Appellation an staatliche Institutionen, eine informelle Transaktion kann dagegen über informelle Netzwerke und Institutionen durchgesetzt werden. In der Praxis sind jedoch die Grenzen fließend, weil z.B. informelle Beziehungen genutzt werden können, um formelle Regelungen zu umgehen oder auch formelle Beziehungen, um informelle zu sanktionieren oder zu unterdrücken. Gerade

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werden dann diejenigen Institutionen, Beziehungen und Transaktionen als formell bezeichnet, die vom Staat reguliert oder überwacht werden (z.B. in Form von Gesetzen). Informell ist jener Bereich der Ökonomie, der von staatlichem Handeln (einschließlich des Handelns aller staatlichen Körperschaften) nicht oder unterdurchschnittlich schwach erfasst wird (vgl. Elwert/Evers/Willkens 1983: 283). Ein registriertes Unternehmen wäre damit eine formelle Institution, was aber noch nicht bedeutet, dass alle seine Handlungen, Beziehungen oder Transaktionen formell sind. In den folgenden Abschnitten werden die Handlungen der Akteure in den wichtigsten ökonomischen Handlungsfeldern dargestellt, wobei die Analyse jeweils in einen institutionellen und historischen Kontext eingebettet ist. Besonders für die ersten beiden untersuchten Handlungsfelder Erwerbsarbeit und Soziale Dienstleistungen wird gezeigt, dass die Handlungen schon zu sowjetischer Zeit keineswegs eindimensional den Prinzipien von ‚Marktproduktion‘ einerseits und ‚Redistribution‘ andererseits folgten. Vielmehr existierte ein vielschichtiges System von Verflechtungen, in dem ganz unterschiedliche Handlungslogiken zu beobachten waren. Im Zuge der Transformation verstärken sich viele dieser Tendenzen. Diese Einbettung geht teilweise so weit, dass der ‚offizielle‘ Charakter einer Handlung, z.B. eines Lohnarbeitsverhältnisses, nur noch als Anknüpfungspunkt für andere Transaktionstypen dient. Anschließend werden die Handlungsfelder Reziproke Austauschbeziehungen: Machalla und blat, Produktion für lokale Märkte und Hauswirtschaft untersucht.8 In diesen Handlungsfeldern sind die Interaktionstypen ‚Subsistenzproduktion‘, ‚Reziprozität‘ und ‚Marktproduktion‘ sehr eng miteinander verwoben. Zudem wird deutlich, dass die Bedeutung gerade dieser Handlungsfelder und Interaktionstypen mit der zunehmenden Aushöhlung der oben beschriebenen Handlungsfelder Erwerbsarbeit, vor allem was die Lohnarbeit angeht, und Soziale Dienstleistungen zunimmt, und dass es gerade diese erprobten Interaktionsmuster sind, die in der Transformationszeit erweitert und mehr und mehr zur Grundlage der Projekte zur Sicherung des Lebensunterhalts werden.9 wegen dieser Verflechtung kann die Abgrenzung aus Akteursperspektive als wenig relevant bezeichnet werden. 08 Die Herkunft des Begriffes ‚blat‘ ist unklar. Nach einer möglichen Erklärung geht er auf Blatov zurück, einen Minister der Stalinzeit. Seit Anfang der 1930er Jahre wurden die zugrunde liegenden Verhaltensweisen von den im Exil lebenden Kritikern des Sowjetsystems als Ausdruck der Durchsetzung der ‚bürgerlichen Moral‘ (Trotzki) oder der middle-class values (Dunham) kritisiert. In der Sowjetunion selbst reflektierten nur Anekdoten und Redewendungen sowie Satirezeitungen die Existenz von ‚blat‘ (Ledeneva 1998: 75). Der Begriff lässt sich annäherungsweise mit ‚organisieren‘ übersetzen, wie er umgangssprachlich in Bezug auf die DDR oder andere sozialistische Systeme verwendet wurde. 09 Es ist nicht Inhalt dieser Arbeit, quantitative Angaben zur Bedeutung einzelner Einkommensquellen zu machen, zumal keine verlässlichen Daten hierfür vorlie-

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2.1 Erwerbstätigkeit im formellen Sektor Recht und Pflicht zur Arbeit In der Darstellung vieler Autoren wie auch der Propaganda war die sowjetische Gesellschaft durch eine überragende Rolle der Erwerbsarbeit im staatlichen Sektor, durch eine relativ gute soziale Versorgung und durch eine relative Gleichheit der Bürger gekennzeichnet. Fügte man dieser Analyse noch das Macht- und Meinungsmonopol der kommunistischen Partei hinzu, so ließ sich ein ‚Sozialvertrag‘ konstruieren, der das Verhältnis des Staates zu seinen Bürgern grundlegend bestimmte: „Basically, the regime provided broad guarantees of full and secure employment, state-controlled and heavily subsidized prices for essential goods, fully socialized human services, and egalitarian wage policies. In exchange for such comprehensive state provision of economic and social security, Soviet workers consented to the party’s extensive and monopolistic power, accepted state domination of the economy, and complied with authoritarian political norms“ (Cook 1993: 1).

Die These eines ‚Sozialvertrags‘ basiert auf der Annahme, dass Staat10 und Bevölkerung eine gemeinsame Auffassung über Verteilungs- und soziale Gerechtigkeit hatten, deren zentraler Punkt materieller Wohlstand und relative Gleichheit waren. In der Praxis wurde diese Auffassung aber einseitig durch den Staat bestimmt. Dieser totalitäre Anspruch beruhte im Wesentlichen auf drei Säulen: der vollen Verfügungsgewalt über die Distribution der Ressourcen, der (durch entsprechende Ideologie und Propaganda gestärkten) grundsätzlichen Überzeugung der Bevölkerung, dass ‚die Zentrale‘ die Verteilungsziele der Bevölkerung teilt und besser als jeder andere umsetzen kann, und schließlich auf den praktisch uneingeschränkten Sanktionsmöglichkeiten des Staates gegenüber jeder Art von Opposition (vgl. Verdery 1991: 427). In der Tat lassen sich mit der Annahme eines Sozialvertrages wichtige Grundprinzipien für die Organisation des Interface zwischen Staat und Bürgern erklären. Bei einer genaueren Betrachtung der gesellschaftlichen Realität und nicht zuletzt der Heterogenität der verschiedenen sozialen Gruppen wird aber klar, dass ein solcher Vertrag nur als idealtypisches Konstrukt existierte, das nie in seiner idealen Form eingelöst wurde. gen. Einen Eindruck davon, welche Einkommensquellen in städtischen Haushalten vorhanden sind, vermitteln aber Tabelle 8 und Abbildung 3 im Anhang, die der unveröffentlichten Studie Yurkova/Tadquiqot (1999) entnommen sind. 10 Hier und im Folgenden wird ‚der Staat‘ als selbständiger Akteur aufgefasst. Hierbei werden politische Führung, Regierung und Staat weitgehend gleichgesetzt. Diese Vereinfachung ist wegen des Fehlens demokratischer Prozesse und des weitgehenden Diskursmonopols des Staates akzeptabel, schließt jedoch keineswegs aus, dass die Handlungen des Staates Produkt bestimmter Gruppeninteressen und/oder politischer Auseinandersetzung sein können.

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Ein wichtiges Grundprinzip des sowjetischen Systems waren Recht und Pflicht zur Erwerbstätigkeit. Einkünfte aus Erwerbstätigkeit stellten bei weitem den größten Bestandteil des privaten Haushaltsbudgets dar. Über die direkte monetäre Entlohnung hinaus war die Erwerbstätigkeit aber entscheidend für den sozialen Status und das Prestige sowie für den Zugang zu sozialen Dienstleistungen und anderen nicht monetären Einkünften, denn die sozialen Dienstleistungen wurden zum großen Teil von den Betrieben zur Verfügung gestellt. Dies betraf das gesamte Spektrum von medizinischer Versorgung bis Kinderbetreuung. Nach einem Idealbild waren die sozialistischen Betriebe der Ort im Leben der Gesellschaft, an dem sämtliche der offiziell erklärten und sanktionierten Lebensinteressen der ‚Werktätigen‘ zusammentrafen und befriedigt wurden, nämlich Ausbildung, Konsum, soziale Dienste, Gesundheitsdienste, sportliche und kulturelle Aktivitäten, politische Bewusstseinsbildung und sogar militärische Funktionen.11 Die allgemeine Erwerbstätigkeit im staatlichen Sektor schuf die Bedingungen für die im Realsozialismus erbrachten Leistungen: Beschäftigungs- und Arbeitsplatzsicherheit, ein vergleichsweise hohes Maß an Lohngleichheit und die Aussichten auf kontinuierlich wachsende Produktion und eine entsprechende Steigerung des Versorgungsund Konsumniveaus ( vgl. Offe 1994: 111f.). Gerade die Verknüpfung von Arbeitsplatz und Sozialleistungen bildete einen wichtigen Grund für Frauen, um erwerbstätig zu sein. Ein Verzicht auf Erwerbstätigkeit hätte auch den Ausschluss von einem erheblichen Teil des Versorgungssystems bedeutet. So wurden Arbeitsplatz und Arbeitskollektiv zur zentralen Organisationsform des gesellschaftlichen Lebens. Nicht erwerbstätige Personen im erwerbsfähigen Alter wurden als Schmarotzer und Parasiten (tunejadcy, parazity) bezeichnet und missachtet. Und auch dem an sich neutralen Begriff izhdevenec (etwa: Empfänger von Unterstützungsleistungen), der auf Personen angewendet wurde, die aus Alters- oder Gesundheitsgründen nicht erwerbstätig waren, haftete eine negative Konnotation an, die sich auf die ideologische Betonung der Pflicht zu Erwerbstätigkeit zurückführen lässt. Zu dieser Kategorie gehörte auch die nicht erwerbstätige Hausfrau (‚nerabotayushchaya domohozaj’ka‘), die keine Anrechte auf Rente oder Vergünstigungen besaß. Wie die folgenden Abschnitte zeigen werden, hat diese weit über ein Entlohnungsverhältnis hinausgehende Bedeutung von Erwerbstätigkeit auch für die Situation im heutigen Usbekistan einen erheblichen Erklärungswert. Im Zuge der Transformationsprozesse erfolgt eine einschneidende Umstrukturierung des Arbeitsmarktes, die sich insbesondere in einem Rückgang der Beschäftigung im Staatssektor und ihrer Zunahme im Privatsektor ausdrückt. Diese Veränderung kommt zum einen durch die Privatisierung der 11 Umgekehrt war jeder institutionelle Sektor außerhalb der agrarischen und industriellen Produktion, also Militär, Partei, Staatsbürokratie, Schulsystem, Wissenschaftssystem, Wohnungsbau usw., durch den Beitrag legitimiert, den er zur Produktion und ihrer Steigerung leistete (vgl. Offe 1994: 111).

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Staatsunternehmen selbst zustande; die Arbeitnehmer in einem zu privatisierenden Staatsunternehmen wechseln gewissermaßen ohne eigenes Zutun in den Privatsektor. Zum anderen aber entstehen im Zuge der Transformation neue, typischerweise kleine Unternehmen im Privatsektor, während die alten, großen Staatskombinate aufgelöst, abgewickelt oder zumindest stark verkleinert werden. Wie sich in praktisch allen Transformationsländern zeigte, war der entstehende Privatsektor nicht sofort in der Lage, die im Staatssektor freigesetzten Arbeitskräfte aufzunehmen, und es kam zu einer erheblichen Zunahme der Arbeitslosigkeit. Insbesondere im Bereich der ehemaligen Sowjetunion wurde der Arbeitskräfteabbau im staatlichen Sektor durch den weitgehenden Zusammenbruch der (staatlichen) Großindustrie verstärkt. Allerdings ist hierbei anzumerken, dass der Abbau der Beschäftigten in der Regel wesentlich weniger rasant erfolgt als der Rückgang der Produktion. Da Gesellschaft und Politik weder gewillt noch fähig sind, die Schließung bzw. Restrukturierung unrentabler Unternehmen durchzusetzen, kommt es nicht zu den entsprechenden Entlassungen bzw. Bewegungen auf dem Arbeitsmarkt. Da aber die Weiterbeschäftigung auf bisherigem Niveau nicht möglich ist – die Unternehmen produzieren oder verkaufen ja kaum noch etwas – bilden sich Zwischenformen wie Kurzarbeit und Unterbeschäftigung heraus und/oder es kommt zu einem starken Verfall der Reallöhne. Gerade im Falle Usbekistans ist dieses Phänomen des formellen Verbleibs von Arbeitskräften im Staatssektor bei gleichzeitiger Reduzierung der Reallöhne unter das Existenzminimum von erheblicher Bedeutung. Nach den offiziellen Statistiken zeichnete sich Usbekistan gegenüber praktisch allen anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion durch einen vergleichsweise geringen Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) in den ersten Jahren der Transformation aus. Seit etwa 1998 aber ist zu beobachten, dass die wirtschaftliche Entwicklung hinter der in den Nachbarländern zurückbleibt.12 Diese Entwicklung ist im Wesentlichen auf die eher günstige Ausgangslage und die reformfeindliche Wirtschaftspolitik zurückzuführen: Zum einen gab es in Usbekistan eine vergleichsweise geringe Konzentration von indus12 So fiel das BIP bis 1996 nur auf 83,4% des Wertes von 1991, während die Rezession z.B. in der Russischen Föderation (63,1%) und Kasachstan (77,6%) deutlich stärker ausfiel. Zwischen 1998 und 2001 dagegen wuchs das BIP in Usbekistan real um weniger als 20%, verglichen mit 39% in Kasachstan und 22% in der Russischen Föderation (RF). Betrachtet man das BIP pro Kopf auf US-DollarBasis, so zeigt sich von 1998 bis 2002 ein Rückgang von über 40%, während dieser Indikator im gleichen Zeitraum in der RF um ca. 25%, in Kasachstan sogar um ca. 70% stieg. Das langsame Vorgehen bei den Reformen zeigt sich im Anteil der privatisierten Kleinunternehmen, der mit 56,7% deutlich hinter den Werten anderer Länder der Region liegt (RF: 90%, Kasachstan: 100%). Vgl. EBRD (2000a, 2003). Ausführliche Angaben in Tabelle 4 im Anhang.

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triellen Großbetrieben, zum anderen sind die Hauptexportartikel (Baumwolle, Gold) Rohstoffe, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion leicht auf andere Absatzmärkte umgeleitet werden konnten. Die Wirtschaftspolitik verfolgte insbesondere das Ziel, die soziale Stabilität zu erhalten, d.h. staatliche Unternehmen wurden auch dann nicht geschlossen, wenn sie unrentabel oder nur geringfügig ausgelastet waren. Während dies in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit zu einer relativen Stabilität führte, zeigen sich jetzt mehr und mehr die Nachteile solch einer hochgradig interventionistischen Wirtschaftspolitik, die zu erheblichen Ungleichgewichten führt. Dies bremst das Wachstum und verstärkt den Anpassungsdruck sowie die möglichen Anpassungsschocks. Hierbei sind vor allem die Außenwirtschafts- und Währungspolitik13, aber auch allgegenwärtige staatliche Interventionen in die Privatwirtschaft – sei es durch Erlasse und Verordnungen, sei es durch willkürliche Entscheidungen der Administration, durch Kontrollen, Inspektionen oder durch informellen Druck – zu nennen.14 Zudem lassen statistische Ungenauigkeiten bis hin zu Manipulationen das offizielle Bild besser erscheinen, als es der tatsächlichen Lage entspricht.15 So erfasst die offizielle Statistik nur diejenigen Personen als Arbeitslose, die sich bei der Arbeitsbörse als Arbeitsuchende angemeldet haben. Angesichts der sehr geringen Höhe der staatlichen Arbeitslosenunterstützung ist es kaum verwunderlich, dass nur sehr wenige Personen tatsächlich als arbeitslos gemeldet sind, während der Großteil der nicht arbeitenden, arbeitsfähigen Bevölkerung als „nicht erwerbstätig“ klassifiziert wird. Ähnliches gilt für viele Arbeitskräfte, die zwar offiziell (weiter) beschäftigt sind, tatsächlich aber nicht benötigt werden und sich zum Teil im Zwangsurlaub befinden. Allein für die Landwirtschaft wird geschätzt, dass eine Million Arbeitskräfte ohne jeglichen Produktionsrückgang entlassen werden könnten (vgl. UNDP 1998: 46). Weder kann diese Schätzung quantitativ überprüft werden, noch können vergleichbare Zahlen für andere Sektoren genannt werden. Es ist aber klar, dass die meisten Staatsunternehmen gerade im industriellen Bereich weit unterhalb ihrer Kapazitätsgrenze arbeiten, ohne dass dies in vergleichbarem Ausmaß zu Entlassungen geführt hat. Neben anderen Folgeerscheinungen wie Überschuldung, Subventionierung etc. hat dies zu einem dramatischen Rückgang der Reallöhne geführt.

13 Der usbekische Sum ist bis heute nicht frei konvertierbar, und auf dem Schwarzmarkt kostete ein Dollar zwischen 1998 und 2002 1,5 bis 3-mal mehr als offizielle Wert (siehe Tabelle 5 im Anhang). 14 Der jüngste Überblick über die Situation von kleinen und mittleren Unternehmen findet sich in IFC/SECO (2002). Für eine aktuelle und sehr kritische Analyse der gesamten usbekischen Wirtschaftspolitik siehe EBRD (2003). 15 Vgl. zu einigen methodologischen Fehlern der offiziellen Statistik IMF (2000: 7f.).

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Nach unabhängigen Schätzungen liegt die Arbeitslosigkeit bei 5–15 %, in einigen Gebieten und für einige Bevölkerungsgruppen noch wesentlich darüber (vgl. UNDP 1998: 47). Es ist jedoch anzumerken, dass diese Schätzungen schon wegen der fehlenden Definition von Arbeitslosigkeit sehr vage bleiben müssen.16 Ein nur sehr schwer zu quantifizierendes Phänomen der Transformationszeit ist der Rückgang der Reallöhne und der realen Höhe der Renten.17 Neben fehlenden Ausgangsdaten wird die Messung durch die über den gesamten Zeitraum hohen und in der offiziellen Statistik geschönten Inflationsraten sowie durch die multiplen Wechselkurse erschwert.18 Als allgemeiner Trend lässt sich jedoch feststellen, dass die Reallöhne und -renten zu Anfang der 1990er Jahre dramatisch zurückgingen und seitdem einigermaßen stabil geblieben sind. Da aber gleichzeitig die staatliche Subventionierung von Grundnahrungsmitteln und anderen Produkten weitgehend abgeschafft wurde (s.u.), ist der Lebensstandard der meisten Rentner und Lohnempfänger während des letzten Jahrzehnts deutlich zurückgegangen. Dabei spielt auch das Problem von nicht oder zu spät gezahlten Löhnen und Renten eine Rolle, auch wenn dies in Usbekistan weniger stark als in anderen Transformationsländern ausgeprägt ist. Eine Besonderheit Usbekistans ist, dass es auch im privaten Sektor bis heute staatlich regulierte Gehaltsbeschränkungen gibt. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Erwerbstätigkeit – insbesondere im staatlichen Sektor – nach wie vor von großer Bedeutung ist. Im Vergleich zur sowjetischen Zeit ist allerdings die Dominanz dieser Beschäftigungsform zurückgegangen, und gleichzeitig reicht eine Erwerbstätigkeit allein in vielen Fällen nicht (mehr) aus, um den gewohnten Lebensstandard zu halten. Geschlechtsspezifische Strukturierung der Erwerbstätigkeit Für das Verständnis der weiteren Analyse ist neben der generellen Bedeutung der Erwerbstätigkeit auch eine Analyse ihrer geschlechtsspezifischen Strukturierung unerlässlich. Die vom sowjetischen System postulierte und teils gewaltsam hergestellte Gleichstellung von Frau und Mann bedeutete im Wesentlichen die Ausweitung des Verantwortungsbereichs der Frauen über das Familiäre hinaus auch auf die Erwerbstätigkeit. Umgekehrt mischte sich der Staat in erheblichem Maße in die Familiensphäre ein, indem er diktierte, wie die Arbeitsteilung zwischen Familie – und darin vor allem der Frau – und Staat

16 Für Statistiken zur wirtschaftlichen Entwicklung und zum Arbeitsmarkt siehe Tabellen 5, 6, 7 sowie Abbildungen 2 und 3 im Anhang. 17 Vgl. ERBD (2000: 299) und ADB (2001: 26). 18 Vgl. IMF (2000: 77). So findet sich unter fast jeder Statistik der Hinweis, dass eine Verwendung des Schwarzmarktkurses anstelle des offiziellen das Ergebnis um ein Mehrfaches verändern würde.

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auszusehen habe.19 Eine der ersten und gewaltsamsten Episoden in der sozialen Entwicklung der Region stellt der so genannte Chudžum dar, das Ablegen der Schleier. Im Herbst 1926 wurde in Moskau die Entscheidung zur Intensivierung der Emanzipation der Frauen in Zentralasien getroffen. Die ca. 25 000 zentralasiatischen Mitglieder der KP und ca. 55 000 Mitglieder des Komsomol bildeten die ‚shock troops‘ bei der Durchführung der Operation, die im Zentralkomitee geplant worden war. Die bevölkerungstärksten Städte Usbekistans wurden zum Schauplatz des massenhaften Ablegens der Schleier. Die Kampagne wurde unter ihrem usbekischen Namen Chudžum (Attacke) bekannt und erinnerte tatsächlich an eine millitärische Aktion. Am 8. März 1927 – dem internationalen Frauentag – fand die erste dieser Aktionen statt, und ca. 8 500 Frauen nahmen ihre parandzha und chachvan ab und verbrannten sie. Zur Unterstützung des Chudžum wurden verschiedene ‚administrative‘ Maßnahmen eingeführt – Propaganda in Zeitungen und Hausbesuche durch das Frauenkomitee, Verbot der Erwerbstätigkeit in einigen Betrieben für verschleierte Frauen, Strafen für männliche Familienangehörige, die sich gegen das Ablegen der Schleier stellten. Im Ergebnis konnte man seit dem Beginn der 1930er Jahre (also nach dem Ende des Bürgerkriegs) nur noch selten eine verschleierte Frau auf der Straße treffen – selbst in der Altstadt Taschkents oder auf dem Lande (vgl. Akiner 1997; Tokhtakhodjaeva 1995). Die Tendenzen zur Herausbildung der ‚Frauen- und Männersektoren‘ – die ja offensichtlich in einem Widerspruch zu dem erklärten Verständnis von Gleichberechtigung, u.a. im Falle des offiziell freien Zugangs zu Ausbildung für beide Geschlechter, lagen – weisen auf eine strukturelle Einbettung der Wirtschaft hin, was an einem historischen Exkurs deutlicher gezeigt werden kann. Der erste Schritt zur Einbindung der Frauen in die Erwerbstätigkeit wurde in den 1920er Jahren durch die Gründung von Frauenkooperativen – den so genannten artels – gemacht. Die Kooperativen ermöglichten Frauen, die Beschäftigung mit ihren traditionellen Tätigkeiten wie Weben, Nähen oder Zubereitung von Milchprodukten außerhalb ihres Zuhauses in einem Kollektiv zu betreiben und durch den Verkauf ihrer Produkte in speziellen Geschäften ein monetäres Einkommen zu erzielen (Alimova 1987: 35f.). In solchen artels arbeiteten manchmal Frauen aus mehreren benachbarten Wohnorten zusammen. Gegen Ende der Dekade beschleunigte sich (auch aufgrund der artels) die Entwicklung der Leichtindustrie, immer mehr Frauen fanden in der Nahrungsmittel- und Textilindustrie Arbeit. Der Einsatz von Frauen in der später entstehenden Schwerindustrie war wegen der starken physischen Belastungen kaum vorgesehen. Die Landwirtschaft wurde hingegen als der für die Frauen geeignete Bereich angesehen. Im Norden des Landes wurde die Viehzucht entwickelt, im 19 Zur Diskussion über das Geschlecht in der sowjetischen Wissenschaft siehe z.B. Attwood (1990).

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Nordosten und Süden wurden die wichtigsten Plantagen für die Baumwollproduktion und zum Teil für die Seidenraupenzucht angelegt. Seit 1934 waren Frauen in allen Gebieten des Landes in der Baumwollproduktion tätig und trugen so zu der ausgerufenen Baumwoll-Autarkie (chlopkovaja nezavisimost) bei. Die meisten Frauen wurden nur als Saisonarbeiterinnen zur Erntezeit – als Pflückerinnen also – in die Lohnarbeit involviert. Der Staat bemühte sich um seine ‚Heldinnen‘ und zeichnete die besten Pflückerinnen mit Medaillen und Privilegien aus. In den folgenden Jahrzehnten prägte die Beteiligung der Frauen an der Erwerbstätigkeit im öffentlichen Sektor die Geschlechterordnung der Gesellschaft. Die Strukturierung des staatlichen Erwerbstätigkeitsbereiches nach Wirtschaftssektoren und nach der Verteilung der Macht innerhalb der Sektoren weist erhebliche geschlechtliche Unterschiede auf. Der Staatsapparat ist ‚männlich‘, ebenso die Schwerindustrie, die Armee und die Sicherheitskräfte. Sektoren wie Gesundheit und Bildung, Versicherung und Handel, Gastronomie und kulturelle Einrichtungen können dagegen als ‚Frauendomänen‘ bezeichnet werden. Innerhalb des Produktionssektors sind es Bereiche wie die Textil- und Lebensmittelindustrie, in denen Frauen überwiegen. Seit Anfang der 1990er Jahre – d.h. seit Anfang der Liberalisierung – verstärkt sich die Tendenz zum Rückgang des Frauenanteils in Industrie und Landwirtschaft, während ihr Anteil im Bildungs- und Gesundheitswesen etwas gestiegen ist. Auch auf dem Land sind es das Gesundheitswesen, Schulen und Bibliotheken, die den Frauen nach wie vor Beschäftigungsmöglichkeiten bieten. Selbiges gilt für lokale Verwaltungsorgane – hier allerdings kaum in führenden Positionen. Betrachtet man die Durchschnittslöhne in den einzelnen Sektoren, so wird deutlich, dass es eine klare negative Korrelation zwischen Frauenanteil und Durchschnittslohn gibt. Im Durchschnitt liegt die Entlohnung der Frauen um 30 % unter der der Männer, wobei sich diese Tendenzen seit sowjetischer Zeit verfolgen lassen (siehe Tab. 7 und Abb. 3 im Anhang). Insbesondere angesichts der Tatsache, dass auch heute noch die Löhne im gesamten formellen Sektor, auch in privaten Unternehmen, de facto staatlich reguliert sind, kann man hier von einer klaren Benachteiligung der Frauen sprechen. Dies führt in der Praxis dazu, dass die Reallöhne weit unter dem Niveau aus sowjetischen Zeiten liegen. Zu dieser sektoralen Benachteiligung kommt hinzu, dass Frauen innerhalb vieler Sektoren tendenziell die geringer qualifizierten – und bezahlten – Arbeiten ausführen. Beispielsweise im Maschinenbau und der Metallverarbeitung leisten Männer die meisten hochqualifizierten Arbeiten, während Frauen am Fließband, in der Verpackung sowie beim Reinigungspersonal tätig sind. Das gilt auch für die Staatsverwaltung, die Armee und die Sicherheitsorgane, wo Frauen zumeist Hilfs- und Sekretariatsaufgaben erfüllen.20 In der Land20 Sie sind nicht zum Studium an der höheren Polizei- od. Militärschule zugelassen.

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wirtschaft werden die mechanisierten Arbeiten ebenfalls überwiegend von Männern geleistet. Dies hat zur Folge, dass Frauen stärker vom Saisoncharakter der landwirtschaftlichen Arbeit betroffen sind. Die Einkommen aus der Beschäftigung im staatlichen Sektor sind aber nicht unbedingt mit dem Gehalt gleichzusetzen. In vielen Fällen muss das Beschäftigungsverhältnis eher als eine Grundlage für den Aufbau verschiedener Strategien zur Existenzsicherung im städtischen Bereich betrachtet werden. An die Erwerbstätigkeit im staatlichen Sektor sind vielfältige, aus sowjetischer Zeit übernommene Privilegien und Vergünstigungen geknüpft, wie ein um 50 % reduzierter Stromtarif für Angehörige der Lehrberufe21, ein bevorzugtes Anrecht auf den Erwerb einer eigenen Wohnung, Urlaubsberechtigungen für bestimmte Sanatorien usw. Bei all diesen Erscheinungen handelt es sich letztlich um Gehaltsbestandteile, z.T. im Sinne geldwerter Vorteile, die nur bei einem Verbleib im Staatssektor erhalten bleiben. Qualität und Umfang der über den Grundbedarf hinausgehenden Dienstleistungen – wie Urlaubsmöglichkeiten, Konsumgüter usw. – hingen stark vom jeweiligen Betrieb bzw. der zuständigen Abteilung der Ministerien ab. Da der Staat der einzige Arbeitgeber war, wurde ‚von oben‘ eine Hierarchie der Betriebe hergestellt – mit den Verteidigungs- und Regierungseinrichtungen an der Spitze, und mit ganzen ‚geschlossenen Städten‘ (zakrytye goroda) mit ‚Moskauer Versorgung‘ (moskovskoe obespechenie), d.h. mit privilegiertem Zugang zu Dienstleistungen und Konsumgütern.22 Angesichts der politisch gewollten relativ geringen Einkommensunterschiede wurde so die Versorgung mit (knappen) Konsumgütern und Dienstleistungen genutzt, um bestimmte Bereiche und Gruppen zu fördern oder zu privilegieren. Die zentralisierte Verwaltung der Ressourcen – das Zentralprinzip des sowjetischen Systems – führte in der Praxis zu einer übermächtigen Rolle der Bürokratie. Die stetige Zunahme der „allocative power“ (Verdery 1991: 421) der Bürokratie bedeutete aber nicht, dass sich auch die zu verteilenden Ressourcen vermehrten. Die systematischen Engpässe in der zentralisierten Versorgung mit Ressourcen bewirkten in der Bevölkerung die Entwicklung verschiedener Strategien, um sich Einkommen (bzw. Zugang zu Ressourcen) außerhalb des offiziellen staatlichen Produktions- und Verteilungssystems zu verschaffen. Diese Strategien basierten einerseits auf der Ausnutzung der offi21 Diese Vergünstigung wurde 2003 aufgehoben. 22 Es handelt sich dabei um Orte, deren Einwohner überwiegend in einem strategisch wichtigen Betrieb – in der Regel in Bereichen so genannten militärischindustriellen Komplexes – tätig waren, der direkt dem zuständigen Ministerium in Moskau unterstellt war. Ungeachtet der geografischen Lage – sei es Zentralasien oder Sibirien – wurde in solchen Städten nach Moskauer Zeit gearbeitet. Ein- und Ausreise waren streng geregelt, und die Versorgung mit Lebensmitteln und Konsumgütern wurde zentral aus Moskau gesteuert. Sie war also nicht vom Versorgungsnetz der jeweiligen Region abhängig und im Allgemeinen wesentlich besser als dort.

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ziellen Ökonomie durch die Beschäftigten als Quelle für Produkte aller Art, sowie für Rohstoffe, Werkzeuge und Status, wobei das Beschaffte entweder zum Konsum oder als Produktionsmittel für eine ‚Zweitökonomie‘ (second economy) verwendet wurde. Unter dem Begriff der Zweitökonomie werden Tätigkeiten zusammengefasst, die mit dem Ziel des persönlichen Gewinns und im Widerspruch zu den geltenden Gesetzen und Regulierungen, d.h. außerhalb der zentralisierten Planwirtschaft, ausgeführt wurden. Wie eingangs dieses Kapitels postuliert wurde, sind Erscheinungen wie ‚blat‘ oder ‚Zweitökonomie‘ integrale und wesentliche Bestandteile des Systems und sollten nicht vorschnell einer normativen Bewertung unterzogen werden. Sie zeigen vielmehr, dass das private Projekt der Sicherung des Lebensunterhalts in dem Handlungsfeld der Erwerbstätigkeit eben nicht nur durch die Markttauschbeziehung ‚Arbeitskraft gegen staatlichen Lohn‘ verfolgt wird, sondern auch durch eine Vielzahl von anderen Interaktionen, die den Prinzipien von Reziprozität, Subsistenzproduktion und (inoffiziellem) Markttausch folgen. Gerade für die Usbeken und die anderen asiatischen Völker war dieses Verhalten vollkommen normal und wurde als selbstverständlicher Bestandteil der sowjetischen Realität wahrgenommen; die Grenze zwischen usbekischen Traditionen und sowjetischer Moderne war für sie rein symbolisch (vgl. Koroteyeva/Makarova 1998: 588). Unter anderem sind außer den offiziellen Vergünstigungen viele Verdienstmöglichkeiten von einer Stellung im formellen bzw. staatlichen Sektor abhängig. Das Erheben informeller, privater Gebühren für offiziell staatlich erbrachte Dienstleistungen ist so weit verbreitet, dass sich im Alltag niemand mehr darüber wundert. Wie die folgenden Beispiele zeigen, sind dabei die Grenzen zwischen der angemessenen Nutzung der eigenen Möglichkeiten und Fähigkeiten einerseits und korruptem Verhalten andererseits fließend. Hier kann die Lehrerin, die ihren Schülern nachmittags privaten Nachhilfeunterricht erteilt, ebenso genannt werden wie der Busfahrer, der am Wochenende die Ausflügler privat im staatlichen Bus befördert. Die Inspektoren von der Strombehörde nehmen das Ablesen der Stromzähler vor und erhalten dafür ein lächerliches Gehalt. Selbstverständlich kann der Kunde aber seine Stromkosten halbieren, in dem er auf eine Quittung verzichtet und den Inspektor das Gerät entsprechend zurückstellen lässt. Dass Milizionäre oder Steuerinspektoren nicht vom offiziellen Gehalt ihren Lebensunterhalt bestreiten, bedarf kaum der Erwähnung. Da die Möglichkeit zur Generierung solcher zusätzlicher Einnahmen direkt von der Entscheidungskompetenz des jeweiligen staatlichen Vertreters abhängt und ihre Verteilung zudem gut organisiert ist, können Inhaber höherer Positionen trotz ihres fast gleichermaßen geringen offiziellen Gehalts ein deutlich höheres Gesamteinkommen aus ihrer Tätigkeit im Staatssektor beziehen als einfache Mitarbeiter. Hier wird wiederum die Benachteiligung der Frauen deutlich, die eben in der Regel auf den unteren Positionen verbleiben. Für die jüngere Generation sind die Karriereaussichten von Bedeutung: In einem sehr stark vom Staat dominierten System kann es gerade für gut ausge-

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bildete, junge Fachkräfte von erheblicher Bedeutung für den weiteren Karrierepfad sein, in der öffentlichen Verwaltung oder einem Staatsunternehmen zu arbeiten. Hier gibt es starke Berührungspunkte mit den Möglichkeiten des informellen Zusatzverdienstes. In diesem Zusammenhang kann man auch von „corresponding fields of action“ sprechen (vgl. Rottenburg 1994: 81) – wobei die formellen und informellen Identifikationen einander stärken. Als Beispiel: Das Ausnutzen der Position im formalen Sektor für private Geschäfte bringt auch Ansehen bei den Kollegen, denn ‚der Mann hat Beziehungen‘. Die Frauenschutzgesetzgebung Die Arbeitsgesetzgebung der Republik Usbekistan (1995) verbietet ausdrücklich jegliche Art von Diskriminierung aufgrund von Alter, Geschlecht, ethnischer Zugehörigkeit, Religion, Sprache, sozialer Herkunft, Familienstand oder der Anzahl der Kinder. Es sind verschiedene Maßnamen in Bezug auf Transferleistungen der erwerbstätigen Frauen und Kündigungsschutz vorgesehen.23 Hier knüpft die usbekische Gesetzgebung an die sowjetische an, deren ‚schützende‘ Funktion (sowie auch der gesamten Politik bezüglich der Frauen) die spezifische Form der real existierenden geschlechtlichen Gleichberechtigung in der UdSSR darstellte (Mezenceva 1992: 23). Dazu gehören neben der in der Verfassung und im Arbeitsrecht der UdSSR formal festgeschriebenen geschlechtlichen Gleichberechtigung in Ausbildung und Erwerbstätigkeit auch relativ weitreichende Rechte der Frau während der Schwangerschaft und im Mutterschutzurlaub. Dabei ist gegenüber der sowjetischen Zeit zu bedenken, dass die staatlichen Sozialleistungen damals zentral bestimmt wurden und somit auf der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und der demographischen Struktur der gesamten Union beruhten. Als beispielhaft können in diesem Zusammenhang die Entwicklungen in der Frauen- und Familienpolitik seit Ende der 1970er Jahre erwähnt werden. Der wichtigste Grund war ein demographischer – sinkende Geburtenraten in den europäischen Landesteilen. Es stellte sich heraus, dass die nichtslawische Bevölkerung in Zentralasien zahlenmäßig über die Bevölkerung der europäischen Republiken der UdSSR hinaus wuchs. Durch die finanzielle Unterstützung von Familien mit Kindern wurde der Versuch gemacht, den Trend umzukehren. Eine Familie mit drei Kindern sollte als Standard für das ganze Land gelten. Das staatlich garantierte Recht auf (Erwerbs-)Arbeit blieb bestehen, das praktisch jederzeit eine Rückkehr in das Berufsleben ermöglichte. Verbunden mit dem System des Mutterschutzes und den hohen Geburtenraten in Usbekistan (den höchsten in der UdSSR) bedeutete dies, dass viele Frauen nach der Eheschließung für 10–12 Jahre aus dem 23 Siehe dazu den Überblick über die gültige Gesetzgebung der Republik Usbekistan (o.V. 1999).

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Berufsleben ausscheiden konnten, ohne hierdurch Rentenansprüche oder die Möglichkeit zur Rückkehr in die Erwerbstätigkeit zu verlieren. Schließlich ist zu erwähnen, dass der finanzielle Unterschied zwischen Einkommen aus Erwerbstätigkeit und den staatlichen Transferzahlungen relativ gering war, so dass in vielen Fällen der Lebensstandard nicht unter einem (vorübergehenden) Ausstieg der Frau aus dem Erwerbsleben leiden musste. Anders als in den europäischen Republiken, wo die Familien kleiner waren und die Gehälter höher, bildete Kindergeld in zentralasiatischen Familien einen bedeutenden Teil des Familienbudgets. Dessen ungeachtet gibt es in der Gesetzgebung Einschränkungen der Erwerbstätigkeit von Frauen. Frauen werden von bestimmten Tätigkeiten mit „ungünstigen Arbeitsbedingungen“ wie körperlich schwerer Arbeit, Nachtarbeit usw. ausgeschlossen, wobei hier die Grenze zwischen Schutz und Diskriminierung schwer auszumachen ist.24 Insbesondere ist die mangelnde Transparenz der Gesetzgebung in diesem Bereich zu kritisieren, denn die genaue Definition der „ungünstigen Arbeitsbedingungen“ wird nicht im Gesetz vorgenommen, sondern bleibt nachgeordneten Bestimmungen des Arbeitsministeriums, der Gewerkschaften und der Arbeitgebervertreter vorbehalten. Da diese in der Regel nicht leicht öffentlich zugänglich sind, ergibt sich in der Praxis für Arbeitgeber die Möglichkeit, Frauen willkürlich unter Hinweis auf offizielle Bestimmungen von der Einstellung auszuschließen.25 Die Auseinandersetzungen auf diesem Feld werden auch durch die Tatsache beeinflusst, dass nicht selten keine Arbeit und kein Geld für Lohnauszahlungen vorhanden sind. Die Unterbeschäftigung ohne Entlassung im staatlichen Sektor führt im Zusammenspiel mit den Mutterschutzgesetzen26 häufig dazu, dass neue Handlungsspielräume augehandelt werden. In der Regel wird von dem Vorgesetzten gegenüber Frauen, insbesonderen Schwangeren oder jüngeren Müttern, Nachsicht bei Arbeitsunterbrechungen und häufigere Abwesenheiten ohne Lohnabzug usw. ausgeübt. Gerade die Unterbeschäftigung im formellen Sektor schafft die Bedingungen für völlig anders geartete informelle Tätigkeiten. So können z.B. Krankenschwestern oder Lehrerinnen mit flexibler bzw. reduzierter Arbeitszeit nebenbei im Kleinhandel (insbesondere als sog. ‚Realisatoren‘, vgl. Abschnitt 24 So bewirkt das Verbot des Einsatzes von schwangeren Frauen und Frauen mit Kindern unter 3 Jahren für Arbeiten an Wochenenden und für Dienstreisen in der Praxis, dass die Frauen weniger Gehalt bekommen (vgl. Art. 188 Arbeitsgesetzbuch). 25 Die unklare Formulierung von Gesetzen und die Verlagerung entscheidender Punkte in nachgeordnete Verordnungen, Erlasse oder Ausführungsbestimmungen ist in der usbekischen Legislative weit verbreitet und trägt in nicht unerheblichem Maße zu Rechtsunsicherheit und Behördenwillkür bei. 26 Mütter haben z.B. ein gesetzlich garantiertes Recht auf drei bezahlte und 14 unbezahlte Fehltage pro Jahr zur Betreuung minderjähriger Kinder. In der Praxis wird jedoch in der Regel auch häufigere Abwesenheit ohne Lohnabzug toleriert.

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Transnationaler Kleinhandel in Kap. 3.2) oder im marktorientierten Nahrungsmittelanbau im eigenen Garten tätig sein. Bei einem evtl. möglichen Wechsel in eine Vollzeittätigkeit mit einem höheren Lohn würde diese Möglichkeit jedoch entfallen. Insgesamt und etwas verkürzend kann man festhalten, dass die offizielle Gesetzgebung in der Praxis höchstens für staatliche und ehemals staatliche Betriebe gilt und damit die oben beschriebenen Spielräume anbietet. Im Bereich der Privatwirtschaft kommen in noch höherem Maße die finanziellen Interessen der Arbeitgeber zum Tragen. Hier zeigt sich z.B. die paradoxe Wirkung des immer noch umfangreichen Mutterschutzes, der Frauen die häufige Entfernung vom Arbeitsplatz ermöglichen soll, faktisch aber häufig zu einer Nicht-Einstellung bzw. zu offener Diskriminierung hinsichtlich Karierrechancen und Bezahlung führt (Azimova/Nemirovskaya 2000: 30). Die Gesetzgebung schreibt für Frauen den Eintritt ins Rentenalter mit 54 Jahren, für Lehrerinnen gar mit 50 Jahren, fest – also bis zu 10 Jahre früher als für Männer (mit 60 Jahren). Das Rentenalter wurde gegenüber der sowjetischen Zeit, als es für Frauen bei 60, für Männer bei 65 Jahren lag, gesenkt. Dazu kommen noch Unterschiede in der erforderlichen Länge der Erwerbsgeschichte – sind es bei Männer 25 Jahre, so dürfen die Frauen nach 20 Berufsjahren in Rente gehen. Zu berücksichtigen ist hier allerdings, dass Mutterschaftsurlaub bis zu insgesamt 6 Jahren in die Erwerbsgeschichte einbezogen wird. Schließlich wurde eine neue Art von Rente für Frührentner eingeführt, deren Betriebe geschlossen wurden. Angesichts der geringen staatlichen Rente27 ist die Vorteilhaftigkeit dieser Regelungen, die besonders den Frauen eine kürzeren Erwerbstätigkeitsperiode ‚garantieren‘, allerdings fraglich. Neue Möglichkeiten der Erwerbsarbeit Während des Transformationsprozesses ergibt sich für eine kleine Gruppe von Arbeitnehmern die Möglichkeit, durch den Zugang zu gut bezahlten neuen Jobs das Einkommen weitgehend aus Lohn bzw. Gehalt zu sichern. Durch einen freiwilligen Wechsel in neu entstehende Bereiche der Privatwirtschaft können gut ausgebildete Mitarbeiter bestimmter staatlicher und wissenschaftlicher Bereiche ihre Kenntnisse in der neuen Marktordnung schnell, z.T. auch fachfremd, verwerten: z.B. Universitätsprofessoren mit Kenntnissen in westlichen Sprachen, die als Dolmetscher, Mitarbeiter oder Vertreter ausländischer 27 Die Renten bestehen aus einer Basisrente, die 55% des durchschnittlichen Monatslohns aus beliebigen 5 Jahren der Erwerbstätigkeit ausmacht. Außerdem gibt es unter gewissen Bedingungen Zulagen, z.B. wenn man länger als die Mindestzeit von 20 Jahren erwerbstätig war. Die Gesamtrente ist jedoch in den meisten Fällen unbefriedigend niedrig. So betrug 1999 die Rente einer Hochschullehrerin mit 30 Jahren Erwerbstätigkeit (d.h. 10 Jahre über der Mindestdauer der Erwerbstätigkeit) 9 000 Sum (umgerechnet US $ 20).

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Organisationen und Firmen eine neue Erwerbstätigkeit außerhalb des Staatssektors aufnehmen. Eine weitere Möglichkeit, ein genügendes Einkommen durch Lohnarbeit zu sichern, stellt gerade unter hochqualifizierten Fachkräften das Annehmen mehrerer Stellen dar. Buchhalter, Personen mit Fremdsprachkenntnissen, Programmierer usw. sind oft für mehrere Firmen gleichzeitig tätig. Dies wird auch als multiple Stellen-Strategien (multiple job-holding oder russisch vtorichnaya zanyatost’) bezeichnet. In anderen Fällen kommen geringe Löhne und eine faktische Unterauslastung zusammen, d.h. man ist zwar offiziell vollzeitangestellt, hat aber nicht den ganzen Arbeitstag zu tun und kann gleichzeitig von einem Gehalt allein nicht überleben. Da der Arbeitgeber um diesen Umstand weiß, toleriert er, dass die Angestellten auch während der offiziellen Arbeitszeit anderen Tätigkeiten nachgehen.

2.2 Soziale Dienstleistungen Versorgungsversprechen im sowjetischen System Der Bereich der sozialen Dienstleistungen wird als eigenes Handlungsfeld definiert, weil sich seit der Phase des ‚reifen Sozialismus‘, also nach etwa 1960 bis Mitte der 1980er Jahre, ein entwickeltes System der Redistribution herausgebildet hat. Die Verteilung von Rechten und Pflichten im idealtypischen sowjetischen Sozialvertrag war geschlechtsspezifisch organisiert. Für die Frauen war neben der Erwerbstätigkeit auch die Rolle als Ehefrau und Mutter gesellschaftliche Pflicht. Allerdings wurde die Frau in ihrer Verantwortung für die Kinderbetreuung und -erziehung teilweise vom Staat entlastet. Die staatlichen Maßnahmen und Angebote reichten hier von der Subventionierung von Grundnahrungsmitteln, Mieten und öffentlichen Dienstleistungen (wie Strom, Wasser, Heizung oder öffentlicher Nahverkehr) über eine relativ gute Gesundheitsversorgung (inkl. relativ freiem Zugang zu Abtreibungsmöglichkeiten), einen großzügigen gesetzlichen Mutterschutz bis hin zu umfassenden Betreuungsangeboten von Kinderkrippe bis Ganztagsschule. In Usbekistan wurde die Einführung eines solchen Systems durch die Kombination von massiver finanzieller und personeller Unterstützung aus Moskau und gewaltsamem Zwang möglich. Das System der staatlichen sozialen Dienstleistungen erstreckt sich auf Bereiche der Kinderbetreuung, Bildungs- und Gesundheitswesen sowie Altenbetreuung. In der Schule wird nicht nur gelehrt, sondern sie ist auch Mittelpunkt für Sport- und Freizeitaktivitäten für alle.28 Im Bereich der Kinderbetreuung wurden für einen geringen Aufpreis, teilweise aber auch kostenlos, Kindergärten, ein verlängerter Schultag 28 Die allgemeine Schulpflicht wurde in der sowjetischen Zeit eingeführt, zunächst 1930 bis zur Grundschule, später dann auch für die weiterführende Schule.

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mit Mittagessen und Ferienaktivitäten wie Pionierlager angeboten. Dazu kamen die kontinuierlich weiter ausgebaute, kostenlose medizinische Versorgung, ein recht fortschrittlicher Mutterschutz sowie verschiedene Zuschüsse für Familien mit Kindern. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Staat relativ viele Bereiche übernahm, die in anderen Gesellschaften in der Verantwortung der Frauen lagen. Dies gilt sowohl im Vergleich zu nicht sozialistischen Staaten der Region als auch zu Westeuropa. Allerdings ist auch anzumerken, dass die ‚Vergesellschaftung‘ sozialer Dienstleistungen in Usbekistan weniger ausgeprägt war als in den europäischen Teilen der UdSSR. So blieb z.B. die Sorge für die Älteren eindeutig Aufgabe der Familie.29 Aus staatlichen Mitteln werden so genannte Zentren für die Rehabilitation von Behinderten und alleinstehenden älteren Menschen aufgebaut. Außer der medizinischen Versorgung werden dort auch die staatlichen Zuschüsse (posobiya) für diese Bevölkerungsgruppen verteilt (UNDP 1999: 6f.). Privatisierung der Kosten: Aushöhlung der Systeme in der Transformationszeit In der Transformationszeit kommt es zu einer fortschreitenden Aushöhlung der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen, d.h. die Systeme bestehen zwar formal fort, können aber nicht mehr die gewohnten Leistungen erbringen. Verbunden mit einer großen Intransparenz der Beziehungen sowie einem willkürlich gehandhabten System von Verboten und Ausnahmen, führt dies häufig zu sehr harten, rein marktgesteuerten Ergebnissen in Bereichen, die auch in nicht sozialistischen Systemen einer strengen staatlichen Regulierung unterliegen – wie eben Bildung und Gesundheit. In der Realität ist die formal kostenlose staatliche Gesundheitsversorgung für viele nicht mehr bezahlbar. Es ‚gehört sich‘ (prinjato), sich für die erfolgte Behandlung in Geldform beim Arzt zu ‚bedanken‘ (otblagodarit). Das System der informellen Tarife ist hoch differenziert und in der Bevölkerung allgemein bekannt. So ‚wusste man‘ 1999 als Bewohner von Taschkent, dass eine Entbindung in einem guten Krankenhaus in Taschkent 300 US-Dollar kostet. Für diejenigen Personen, die über keinen privilegierten Zugang zu solchen Ressourcen und auch über kein genügendes Einkommen verfügen, bleibt keine Möglichkeit, die Arzneimittel zu erwerben – der Standard der Gesundheitsversorgung sinkt. Neben dem Rückgang der Anzahl der Kindergärten steigen auch die Kosten für die Vorschuleinrichtungen. Ein Platz in Kindergarten kostet pro Monat 29 Es gibt in Usbekistan nur wenige Altersheime, in denen knapp mehr als ein Tausend Menschen wohnen, gut die Hälfte davon sind Frauen.

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bis zu 1 000 Sum.30 Mangelhafte hygienische Zustände sowie fehlende Krankheitsprophylaxe führen dazu, dass viele Kindergärten und Schulen mehrere Wochen im Jahr geschlossen bleiben. Aufgrund der mangelnden Qualität der angebotenen Dienstleistungen in Verbindung mit hohen Kosten verzichten immer mehr Familien darauf. Beispielhaft kann hier die Vorschulausbildung genannt werden. Im Zuge der Schulreform wurden in einigen Grundschulen so genannte ‚Gymnasialklassen‘ (liceiynie klassy) mit besonderem Lehrplan eingeführt. Die Aufnahme in solche Klassen soll nach einem Testverfahren allgemein zugänglich sein. Jedoch wurden gleichzeitig so genannte Sonntagsschulen organisiert, die die 5- und 6-jährigen mit dem Ziel besserer Testergebnisse auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten sollen. Diese Sonntagsschule ist kostenpflichtig, was eine Eintrittsbarriere in das gesetzliche freie Ausbildungssystem schafft. Oft ist die Lehrerin in der Sonntagsschule die künftige Klassenlehrerin in der Grundschule, so dass auf die Auswahl der Schüler nicht nur die Ergebnisse am Testtag Einfluss haben, sondern auch persönliche Bekanntschaften und/ oder informelle Zahlungen. Die sowjetische Geschlechterordnung, von vielen Autorinnen zu Recht als dreifache Belastung der Frauen durch Erwerbstätigkeit, Hausarbeit und Mutterschaft bezeichnet, stützte sich sowohl auf die staatlichen sozialen Dienstleistungen als auch auf die Aktivitäten zur Sicherung des Lebensunterhalt auf anderen wirtschaftlichen Handlungsfeldern als dem der formellen Erwerbstätigkeit im staatlichen Sektor. Das Ende des Sozialismus führt, allgemein gesprochen, zu einem Rückzug des Staates aus dem sozialen Bereich, wobei finanzielle Gründe die Hauptrolle spielen: Die Systeme der sozialen Sicherung, die in der Sowjetunion nicht als Versicherung organisiert, sondern direkt über den Staatshaushalt bezahlt wurden, werden zwar nach und nach an die veränderten Rahmenbedingungen angepasst und die Leistungsansprüche der Bevölkerung bleiben im Prinzip erhalten. Angesichts einer desolaten Haushaltslage, hoher Inflation und sinkender Reallöhne verlieren sie aber so stark an Leistungskraft, dass sie für große Teile der Bevölkerung fast bedeutungslos werden. Dies betrifft die Höhe von Transferleistungen wie Renten und Kindergeld ebenso wie die Funktionsfähigkeit staatlicher Systeme wie dem Gesundheitswesen, in dem es nicht nur an Geld für Ausrüstung oder Medikamente fehlt – beides muss dann eben privat von den Patienten bezahlt werden –, sondern in dem auch die Gehälter der Beschäftigten so niedrig sind, dass diese auf Zusatzzahlungen der Patienten angewiesen sind. Dieser Rückzug des Staates erfolgt vor allem auf Kosten der Frauen, welche die Sicherung des Lebensunterhalts neu organisieren müssen. Die Kommerzialisierung der sozialen Dienstleistungen wird zu einem der Hauptgründe

30 Der Minimallohn betrug zu dieser Zeit (1999) weniger als 1 500 Sum, der Durchschnittsverdienst lag bei knapp 10 000 Sum.

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für eine weitere Erwerbstätigkeit der Frauen als Quelle eines monetären Einkommens. Geschlechtsspezifische Strukturierung der Ausbildung Die Gleichberechtigung von Mann und Frau beim freien Zugang zu Ausbildung ist gesetzlich festgelegt. Die Inanspruchnahme dieses Rechts wird jedoch von verschiedenen anderen Institutionen beeinflusst, was zur Herausbildung paralleler Systeme der Erziehung entsprechend der Traditionen führt. Versteht man unter ‚Tradition‘ die Wissensweitergabe und Wertevermittlung von einer Generation an die nächste (Evers/Schlee 1995: 22), so kann man bezüglich Usbekistans von zwei in diesem Kontext relevanten Traditionen sprechen – einer sowjetischen und einer usbekischen. So problematisch solche Schlagwörter auch sind, kann man diese beiden Richtungen als ‚sozialistischeuropäisch-moderne‘ und ‚muslimisch-asiatisch-traditionelle‘ Traditionen charakterisieren, wobei das Paradoxe der Begriffe ‚moderne Tradition‘ und ‚traditionelle Tradition‘ offensichtlich ist. Staatliches Bildungssystem und Gesetzgebung bildeten die institutionellen Grundlagen für die sowjetische Tradition und behalten diese Orientierung auch nach der Unabhängigkeit grundsätzlich bei, wobei ‚sozialistisch‘ zumindest teilweise durch ‚westlich‘ ersetzt wird.31 Im Rückblick auf die Sowjetzeit schreibt Tochtakhojaeva (UNDP 1999, 2/6), das Sowjetsystem habe zwar eine weibliche Nomenklatura geschaffen, die Emanzipierungsprozesse in Usbekistan aber nicht unumkehrbar machen können. Die usbekische Tradition zeigt sich in der Einbettung der formellen Bildungsinstitutionen in die usbekische Gesellschaft. Sie steht nicht unbedingt im Gegensatz zur sowjetischen Tradition, auch wenn es natürlich Phasen und Bereiche gab, in denen sich die Traditionen diametral gegenüber standen. Seit der Unabhängigkeit gewinnt die usbekische Tradition wieder an Einfluss.32 Das Land bemüht sich stark, das Schul- und Hochschulwesen auf dem relativ hohen Niveau der sowjetischen Zeit zu halten oder sogar auszubauen. 31 Zu Veränderungen dieser Tradition, gerade durch Nationalisierung und Neotraditionalisierung, siehe Kap. 5.2. 32 In diesem Zusammenhang sei noch auf eine sprachliche Schwierigkeit verwiesen: Im Russischen ist es üblich, zwischen ‚usbekisch‘ und ‚usbekistanisch‘ (uzbekskij – uzbekistanskij), ‚russisch‘ und ‚russländisch‘ (russkij – rossijskij) oder ‚deutsch‘ und ‚deutschländisch‘ (nemeckij – germanskij) zu unterscheiden, wobei der erste Begriff jeweils eine ethnische Dimension hat, der zweite eine staatliche. Das Deutsche erlaubt eine solche Differenzierung nicht, sieht man einmal von ‚deutsch‘ – ‚bundesdeutsch‘ ab. In dieser Arbeit wird versucht, die jeweils gemeinte Dimension deutlich zu machen, soweit dies nicht ohnehin aus dem Zusammenhang hervorgeht.

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Die Schulpflicht wurde von 10 auf 12 Jahre verlängert. Ein Grund hierfür ist sicherlich die damit verbundene Entlastung des Arbeitsmarktes. In ein flächendeckendes Netz von Fachhochschulen (jetzt Colleges genannt) wurde in den vergangenen Jahren sehr viel Geld investiert. Dass hierbei nicht immer höchste Qualitätsmaßstäbe erfüllt werden können, liegt auf der Hand. Der Weggang qualifizierter Arbeitnehmer, sei es durch Migration, aber auch durch Abwanderung in lukrativere Zweige, betrifft gerade den Bildungsbereich sehr schwer. Laut UNDP unterrichten im Grundschulbereich schon heute über 7 900 Lehrer, die weder über einen Hochschulabschluss noch über eine Fachausbildung verfügen. Nur noch 71,2 % der Lehrer in Usbekistan haben einen Hochschulabschluss, 1992 waren es noch 78,7 %. Nach Prognosen wird der Anteil bis zum Jahr 2005 weiter auf nur noch 60–65 % sinken, womit dann mehr als 100 000 Lehrerstellen unbesetzt oder von nicht ausreichend qualifizierten Kräften besetzt wären (UNDP 2000: 25). Für den Bereich der Hoch- und Fachhochschulen liegen keine Zahlen vor, das Bild dürfte aber ähnlich sein. Trotz der erklärten Priorität sind die Ausgaben für Bildung, Gesundheit und Wissenschaft in den vergangenen Jahren deutlich zurückgegangen.33 So ist der genannte Ausbau von Bildungseinrichtungen nicht oder kaum von einem Ausbau der Betreuungseinrichtungen begleitet. Gestiegen sind dagegen die direkten Kosten der Ausbildung für die Bevölkerung, darunter durch zurückgegangene Essens- und Fahrtzuschüsse sowie die zunehmende Notwendigkeit, Lehrbücher selbst zu erwerben.34 Wegen des geringen Einkommens vieler Familien führt dies im Ergebnis dazu, dass ein Teil der Bildungsaufgaben in den Bereich der Familie zurückkehrt, wo er von Frauen und Älteren wahrgenommen werden. Trotz der Anstrengungen hat sich die Qualität des Bildungssystems seit der Unabhängigkeit verschlechtert. So ging die Schulbesuchsquote für die 1. Bis 9. Klasse von nahezu 100 % in den 1980er Jahren auf 88,9 % am Ende der 1990er Jahre zurück (vgl. UNICEF 2002). Verantwortlich hierfür ist unter anderem ein gestiegener Druck auf Kinder und Jugendliche aus unteren Einkommensschichten, zum Familieneinkommen beizutragen.35 Ein weiterer wichtiger Aspekt der Veränderungen im Bildungswesen ist die Einführung neuer Lehrbücher. Hierbei kommen die politische Neuorien-

33 Der Anteil der Bildungsausgaben am BSP fiel von 10,2% im Jahre 1992 auf 7,3% im Jahre 1997 (UNDP 1999: 16) und auf 6,8% im Jahre 2000 (vgl. UNICEF 2002). 34 Vgl. UNESCO (2001) und UNICEF (2002). 35 Die zunehmende Kinderarbeit wird nur in Berichten von Menschenrechtsorganisationen sowie von unabhängigen Journalisten thematisiert (z.B. die Berichte von IWPR u.a.), woraus sich schließen lässt, dass das Problem von Seiten des Staates nicht anerkannt wird.

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tierung von sowjetischen auf usbekische Inhalte36 und die Umstellung auf die lateinische Schrift zusammen. Trotz großer Anstrengungen haben diese Veränderungen nach Ansicht unabhängiger Beobachter zu einer Verschlechterung des Lehrniveaus geführt (ADB 2000; UNICEF 2002). Ein neuer Trend seit der Unabhängigkeit ist eine zunehmende Differenzierung in der Qualität der Ausbildung, beginnend schon bei den Vor- und Grundschulen. Gab es auch schon zu sowjetischer Zeit allgemein bekannte Qualitätsunterschiede, so wurden nun auch Lyzeen, Gymnasien, Colleges und Begabtenschulen eingeführt. An diesen Schulen ist die Qualität der Ausbildung deutlich höher, aber der Zugang ist zumeist vom Einkommen der Eltern abhängig: Zwar sind auch diese Schulen offiziell kostenlos, doch ist eine Zulassung in der Regel nur gegen Zusatzzahlungen zu erreichen. Während solche neuen Schultypen zur Bildung neuer Eliten beitragen mögen, führen sie auch zu einer Verringerung der Chancengleichheit, zumal sie außerhalb der großen Städte kaum anzutreffen sind. Damit wird der allgemeine Trend zu einer Verstärkung der Einkommensdifferenzierung und Polarisierung der Gesellschaft bestätigt. Schließlich sei noch auf veränderte Beziehungen zwischen den Schülern hingewiesen, in denen die Einkommensverhältnisse der Eltern mehr als früher zur Bestimmung des sozialen Status herangezogen werden: „Früher war es gut – alle waren gleich in der Schule und keiner merkte, wie der andere aussah. Heute kann ich es nicht zulassen, das meine Töchter schlechter als die anderen gekleidet sind.“ (Gala, 34, Mutter von zwei Kindern)

Vor allem in ländlichen Gebieten hat die verlängerte Schulzeit mit dem Schulabschluss im Alter von 18 Jahren (statt wie früher 17) eine geschlechtsspezifische Implikation: Das Mindestalter für die Eheschließung liegt bei 17 (bzw. mit Zustimmung der Eltern bei 16) Jahren. Im Fall einer solcher Eheschließung können viele jungen Frauen unter Umständen keinen Schulabschluss mehr machen. Sie brauchen eine Zustimmung ihres Ehemannes bzw. seiner Familie. Denn traditionsgemäß soll die Frau sich mit Haushalt und Kindern beschäftigen, d.h. zu Hause bleiben. Die Ehen werden häufig durch die Eltern arrangiert und ökonomische Gründe wie Absicherung des Lebensunterhalts der Töchter haben große Bedeutung. Im Bereich der Hochschulbildung lassen sich einige geschlechtsspezifische Neuentwicklungen nachweisen. Bei einer insgesamt mehr oder weniger konstanten Zahl von Studentinnen37 bilden sich immer stärker ausgeprägte Frauenstudiengänge. Die Gründe für diese Studienplatzwahl sind vielfältig. 36 Siehe hierzu die Abschnitte Öffentliche Diskursführung in Usbekistan und Die Nation und ihre Nachbarn in Kap. 5.2. 37 1991 stellten Frauen 40,2% der Gesamtzahl der Studierenden in Hochschulen und 50,3% in den Fachschulen, 1999 waren es 37,4% in Hochschulen und 51,6% in Fachschulen.

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Gesellschaftliche und traditionelle Normen, die jungen Frauen eher ein Pädagogik- oder Medizinstudium nahe legen als eines des Betriebswirtschaft, können in diesem Zusammenhang genannt werden, wobei jedoch entscheidend ist, auf welche Art und Weise dieser Einfluss ausgeübt wird. In ihrer Studie über die Berufspräferenzen junger Frauen in Usbekistan zeigt Azimova (2001), wie Schule und Familie auf die Studienplatzwahl der Mädchen entscheidenden Einfluss nehmen. Die Lehrerinnen – in den Schulen sind fast ausschließlich Frauen tätig – genießen hohen Respekt bei ihren Schülerinnen und fällen nicht selten praktisch das Urteil über deren weitere Studienchancen. Azimova spricht in diesem Zusammenhang von der ‚freiwilligen‘ Segregation der Frauen, wenn die Lehrerinnen in den Gesprächen mit den Schülerinnen ihre eigene Lebensgeschichte schildern oder darauf hinweisen, dass das Studium an der Hochschule nach der (traditionell frühen) Heirat meistens unterbrochen wird. Hinzu kommen aber gerade in den letzten Jahren verstärkt auch ökonomische Gründe, denn viele prestigeträchtige Studiengänge werden nun nicht mehr kostenlos angeboten (oder aber es sind höhere informelle Gebühren zu entrichten). Da aber viele Familien kein teures Studium für alle Kinder finanzieren können, bleibt dieses eher den Söhnen vorbehalten, und die Töchter müssen mit einem weniger angesehenen Beruf vorlieb nehmen.

2.3 Hauswirtschaft Unter Hauswirtschaft wird das Handlungsfeld verstanden, in dem vor allem die Tätigkeiten ablaufen, die unter dem Begriff ‚Subsistenzproduktion‘38 zusammengefasst werden können. Die Tätigkeiten auf diesem Feld sind in der Familie verankert, d.h. sie werden meistens innerhalb der Familie organisiert und dienen durch ihren Konsum dem Wohl und der sozialen Reproduktion der Familienmitglieder. Von entscheidender Bedeutung für die Analyse ist hierbei die Annahme, dass Handlungen auf diesem Handlungsfeld geschlechtspezifisch mit den Handlungen in anderen Handlungsfeldern verflochten sind. Im Rahmen dieser Arbeit wird der Begriff Haushalt verwendet, um eine Gruppe – die Haushaltsangehörigen – abgrenzen zu können, die über ein gemeinsames Budget bezüglich der Existenzbedürfnisse verfügt, und deren Mitglieder meist durch Verwandtschafts- und Familienbeziehungen verbunden sind. In den Städten besteht ein Haushalt durchschnittlich aus 4,7 Mitgliedern (in Taschkent: 3,6), auf dem Lande sind es 6 (vgl. UNDP 1999: 4/5). Das Kriterium eines gemeinsamen Wohnsitzes (‚unter einem Dach lebend‘), das meistens in die Definiti38 „Die ‚Subsistenzproduktion‘ umfasst alle gebrauchswertorientierten wirtschaftlichen Tätigkeiten für den Selbstgebrauch und Eigenkonsum außerhalb marktwirtschaftlicher Beziehungen“ (Evers 1987b: 353).

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on von Haushalt einbezogen wird, hat für Usbekistan nur eine beschränkte Aussagekraft. Einerseits ist es nicht ungewöhnlich, wenn ein Wohnsitz – formal ausgedrückt: eine Postanschrift – als Wohnung für mehrere Kleinfamilien dient, die Mitglieder einer Großfamilie sind, aber kein gemeinsames Haushaltsbudget haben. Andererseits ist es aber auch üblich, dass Arbeitsmigranten weiterhin ein gemeinsames Budget mit dem Rest ihrer Familie haben, also als Haushaltsmitglieder zu betrachten sind. An dieser Stelle ist auch anzumerken, dass die Zahl der Kinder, die mit einem Elternteil aufwachsen – fast ausschließlich mit der Mutter – in den 1990er Jahren stetig zugenommen hat. Einerseits kommt darin die steigende Zahl der Scheidungen zum Ausdruck, wobei noch zu berücksichtigen ist, dass nicht alle Trennungen offiziell als Scheidung registriert werden, um dem Ruf der Familie nicht zu schaden. Dennoch kehrt die Frau in solchen Fällen in ihr Elternhaus zurück. Andererseits werden auch immer mehr Kinder nicht ehelich geboren. Es wird hier ein Zusammenhang mit der Zunahme von nigohPraktiken vermutet, also der Eheschließung nach religiösen Regeln, die auch die Polygynie zulassen. Diese Ehen werden vom Staat ohne Schließung einer Zivilehe nicht anerkannt; die Polygynie ist gesetzlich untersagt (vgl. Chakimova 1999: 4f). Einen der wichtigsten Bestandteile der Hauswirtschaft bildet die so genannte „care work“ (Unifem 2000: 21ff.). Das Wort care „indicates, that the services provided nurture other people“ (Unifem 2000: 24). Neben der – unter Einbeziehung des staatlichen Dienstleistungsangebots wahrgenommenen – Sorge um die Kinderbetreuung sind auch Haushaltsaufgaben wie Putzen, Waschen und Kochen im Wesentlichen Sache der Frau. Auch die Altenfürsorge wird in Usbekistan durch die Hauswirtschaft organisiert. In vielen Fällen wohnen die erwachsenen Söhne auch nach ihrer Heirat bei ihren Eltern. Für die Beteiligten bedeutet das eine Neudefinition der Verantwortungsbereiche, wobei wiederum die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung zum Ausdruck kommt. Den Frauen werden dabei an erster Stelle die Subsistenztätigkeiten zugeteilt, während Männer als Brotverdiener angesehen werden. Die Tätigkeit des Lebensmitteleinkaufs wird in vielen Familien von allen erwachsenen Familienmitgliedern gemeinsam wahrgenommen39, wobei der Einkauf auf dem Basar allerdings vor allem von erwachsenen männlichen Familienmitgliedern erledigt wird, auch wenn diese nicht über ein eigenes Einkommen verfügen. Zum ganz überwiegenden Teil sind die Frauen für die Kinderbetreuung zuständig. Wenn nun aber die Kinderkrippe und der Kindergarten nicht mehr wirklich kostenlos sind, sondern wie im obigen Beispiel informelle Zusatzzahlungen geleistet werden müssen oder es einen hohen offiziellen Preis gibt, können sich viele Familien keinen Kindergartenplatz mehr leisten. An dieser Stelle wird die Interdependenz mit den anderen Handlungsfeldern deutlich. 39 Tabelle 8 im Anhang gibt einen Überblick für die Zuständigkeiten der Haushaltsmitglieder, wie sie in der Umfrage von Yurkova/Tadquiqot (1999) ermittelt wurden.

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Denn die Privatisierung von Lebenskosten als Entwicklungstendenz im Bereich der sozialen Dienstleistungen bedeutet, dass die Pflegearbeiten – Kinder- und Altenbetreuung, medizinische Versorgung und Pflege u.a. – in den Bereich der Hauswirtschaft zurückkehren und von Frauen wahrgenommen werden. Das frühere Rentenalter der Frauen trägt dazu bei, dass diese weitere Aufgaben im Subsistenzbereich – Enkelbetreuung, Kochen für die Erwerbstätigen usw. – übernehmen. Erwachsene Töchter sind nicht selten für die Essenszubereitung und Betreuung von kleineren Geschwistern zuständig. Die Arbeitsteilung unter den Frauen wird nicht zuletzt durch die Traditionen beeinflusst. In Zentralasien wird die absolute Autorität des Vaters, der auch Kontrolle über das Gehalt der anderen Erwerbstätigen ausübt, durch eine (oft psychisch stärkere) Autorität der Mutter ergänzt. Das Ansehen der Frau innerhalb der Familie steigt mit Anzahl der Kinder, vor allem der Söhne. Die unterste Position nimmt die jüngste Schwiegertochter ein. Sie übernimmt den Hauptanteil an Arbeit im Haushalt, auch nach der Geburt ihrer Kinder (siehe dazu Beispiele im Abschnitt Einbettung in die Machalla im Kap. 3.2). Im Problemfeld zwischen Schwiegermutter und Schwiegertochter bildet sich häufig ein Unterdrückungsverhältnis, das von manchen Autoren dem Bereich ‚Gewalt in der Familie‘ zugeordnet wird. Über diese Probleme wird jedoch öffentlich kaum gesprochen; nur Extremfälle wie Selbstmorde von Schwiegertöchtern erregen von Zeit zu Zeit Aufmerksamkeit. Auch das neue Familienrecht (1998) spricht weder Diskriminierung gegen Frauen auf Grund des Familienstandes noch Gewalt gegen Frauen direkt an. Nicht zuletzt die Altersund Geschlechtshierarchien in der Familie beeinflussen die Entscheidungen der jüngeren Frauen, ‚freiwillig zu Hause zu bleiben‘. Neben der Haushaltsarbeit bildet die Agrarproduktion für den Eigenbedarf einen wichtigen Bestandteil der Subsistenzsicherung. Der Zugang zu eigenem Grund und Boden bietet Möglichkeiten für eine deutliche Verbesserung des Lebensstandards.40 In den ländlichen Bereichen werden diese Tätigkeiten auf den privaten Grundstücken als Hauptbeschäftigung der Frauen bewertet (vgl. ADB 2001: 29). Man geht davon aus, dass derzeit praktisch alle Haushalte auf dem Land über eigenen Grund und Boden verfügen (1 500–2 500 qm), von der städtischen Bevölkerung betreiben ca. 25 % einen Gemüse- oder Schrebergarten (datscha) (vgl. Azimova 2000: 52). Zumindest für die Stadtbewohner lassen sich keine deutlichen geschlechtsspezifischen Unterschiede in Bezug auf Zuständigkeiten und Anrechte feststellen.41 Sowohl auf dem Land als auch in der 40 Zwar gibt es kein Privateigentum an Grund und Boden, doch können usbekische Staatsbürger in begrenztem Umfang (bis 0,04 ha als Bauland, bis 0,06 ha als Ackerland) Land in lebenslange Erbpacht nehmen (vgl. Verordnung des Ministerkabinetts Nr. 202 vom 30.04.1999). 41 In den meisten Familien ist es üblich, dass der Ehemann als formeller Eigentümer oder Pächter solcher Grundstücke eingetragen wird. Hiermit sind jedoch in der Regel keine unterschiedlichen Zugangs- oder Nutzungsrechte verknüpft. In

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Stadt wird das Überleben immer mehr durch die Intensivierung der Arbeit im Subsistenzbereich und gleichzeitig durch eigene Marktproduktion abgesichert. Schätzungsweise wurden 1998 ca. 20 % des Haushaltskonsums an Nahrungsmitteln vom eigenen Grund und Boden gedeckt (vgl. UNDP 1999: 2/4). An der Arbeit in diesem Bereich beteiligen sich in der Regel erwerbstätige und nicht erwerbstätige Familienmitglieder gemeinsam, was darauf hindeutet, dass immer eine Verbindung – was Zeit, Ressourcen und Produkte angeht – stattfindet.42 Die Zahl der Personen, die in diesem Bereich beschäftigt sind, wird auf 1,14 Mio. geschätzt. Im Transition Report (EBRD 2000a) werden sie als „mithelfende Familienangehörige“ (family helpers) bezeichnet, was auf den unbezahlten und nicht formalisierten Charakter deutet. Beispiele für diese Art der Tätigkeit sind Milch- und Fleischproduktion sowie Anbau von Obst, Gemüse, Kräutern und Blumen. Wie gezeigt, können die Tätigkeiten in der Hauswirtschaft nur in ihrer Verbindung mit anderen Handlungsfeldern erfasst werden. So werden einige der Aufgaben aus diesem Bereich in wesentlicher Weise durch reziproke Beziehungen mit der sozialen Umwelt erfüllt.

2.4 Reziproke Austauschbeziehungen: Machalla und blat Reziprozität als Handlungsprinzip Ein wichtiges Handlungsfeld sind reziproke Austauschbeziehungen wie die Nachbarschaftshilfe. Wie im Folgenden deutlich wird, haben in diesem Bereich alle Typen wirtschaftlicher Handlungen ihren Platz – Markttausch findet hier ebenso statt wie Redistribution und Subsistenzproduktion. Prägend aber ist das Prinzip der Reziprozität, verstanden in dem Sinne, den Polanyi diesem Begriff gibt. „Reciprocity demands adequacy of response not mathematical equality“ (Polanyi 1957a: 73). Nicht die Wertgleichheit der ausgetauschten Ressourcen oder eine Gleichheit der Interaktionspartner liegt also diesen Beziehungen zu Grunde, sondern die Prinzipien von Gegenseitigkeit und Angemessenheit. Im usbekischen und (post-)sowjetischen Kontext haben zwei Formen von Reziprozitätsbeziehungen besondere Bedeutung: Die Nachbarschaftshilfe in der Machalla und das als blat bezeichnete Netzwerk von ‚Gefälligkeiten‘ und Hilfestellungen, welches sich rund um den (informellen) Zugang zu staatlichen Ressourcen gebildet hat. Das Gefühl der Gleichheit oder Reziprozität der Beziehungen wird im ersten Falle durch das gemeinsame Wohnen in einem Bezirk verstärkt; im zweiten Falle durch die Wahrnehmung, dass alle BeteiligStreitfällen wird das Grundstück jedoch nach offiziell geltenden Regelungen verwaltet, wobei die Land- und Wasserreformen von 1925–1929 den Frauen ein selbständiges Recht auf Zugang zu diesen Ressourcen gaben. 42 Siehe Tabelle 8 im Anhang.

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ten im Prinzip machtlos dem starken und unpersönlichen Staat gegenüberstehen, auf der Mikroebene aber Zugang zu bestimmten Ressourcen haben, die auch anderen Personen zugänglich gemacht werden können. Beiden Fällen ist gemein, dass die Beziehungen langfristiger und nachhaltiger Natur sind, was es ermöglicht, einseitige Transfers von Gütern oder Leistungen als Teil einer umfassenderen Austauschbeziehung aufzufassen. Vor diesem Hintergrund fallen auch Interaktionstypen wie Klientel-Beziehungen unter die Prinzipien von Reziprozität und Gruppensolidarität, bei denen eine Partei systematisch als Empfänger und eine als Gebender auftritt. Nachbarschaftshilfe in der Machalla Unter Machalla versteht man zum einen ein bestimmtes Stadtviertel oder eine abgrenzbare Nachbarschaft und zum anderen deren Selbstverwaltung in einem Nachbarschaftskomitee. Dieses Komitee stützt sich im Wesentlichen auf die Versammlung der Ältesten und versucht, soziale Probleme und Konflikte innerhalb der Nachbarschaft zu lösen. Die Versammlung der Ältesten, aksakale genannt, wird traditionsgemäß durch respektierte Männer der Gemeinde gebildet. Die Vertretung der Frauen im Machalla-Komitee wird hingegen durch die neue – nach der Unabhängigkeit eingeführte – Gesetzgebung garantiert und geregelt. Die Frauenkomitees des Ältestenrates werden innerhalb der Machalla gewählt und bestehen aus acht bis zehn Mitgliedern, deren Funktionen von der Organisation von Festivitäten bis hin zur Verteilung der staatlichen Zuschüsse reichen (vgl. dazu ausführlicher den Abschnitt Der Staat als Wohltäter: wer ist arm? in Kap. 5.2). Die usbekische (und tadschikische) Kultur kennt die Machallas (arabisch für ‚Ort‘) seit Jahrhunderten. Sie werden nach dem territorialem Prinzip gebildet und schließen somit Vertreter verschiedener ethnischer und sozialer Gruppen zusammen (Levitin 2001: 176). Da die Großfamilien jedoch traditionell räumlich eng beieinander lebten, schlossen die Machallas in der Regel sowohl die Großfamilie als auch Nachbarn ein und waren durch einen hohen Grad an Solidarität gekennzeichnet, die durch eine Vielzahl gemeinsamer Aktivitäten gestärkt wurde. Die Beziehungen innerhalb der Machalla weisen einen moralökonomischen Charakter auf, wie Scott (1976) ihn beschrieben hat. Die Vorbereitung so bedeutungsvoller Feste wie Hochzeiten und Beschneidung wird von der gesamten Machalla übernommen, die so die Belastungen mit der jeweiligen Familie teilt. Neben der gemeinschaftlichen Bereitstellung von Sitzgelegenheiten und Geschirr helfen alle Frauen unabhängig von ihrem Stand bei der Vorbereitung der Speisen. Das Wissen über den ‚richtigen‘ Ablauf von wichtigen, mit Lebenszyklen verbundenen Zeremonien wird von Frauen, atin-ayi genannt (in Samarkand auch: behalfa), gehütet und an ihre Schülerinnen weitergegeben. Auch Heilkunde und Zauberei gehören zu den Zuständigkeiten von atin-ayi. Heute schafft eine gewachsene Popularität traditioneller Praktiken und Heilkunde die Bedingungen für die Kommerzialisie-

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rung der ‚traditionellen Dienstleistungen‘ für – in der Regel ältere – Frauen, die ihre Dienstleistungen nicht nur für die Mitglieder ihrer Machalla anbieten. Gleichzeitig nimmt die Zahl der atin-ayi zu, so dass deren Sonderstellung als einzige in der Machalla nicht mehr gesichert ist.43 Die gemeinsamen Aktivitäten dienen nicht zuletzt auch zum Austausch jeder Art von Informationen, gerade auch über die Reputation einer Familie, sowie zur gemeinsamen Beratschlagung individueller Probleme. Ein usbekisches Sprichwort lautet: ‚Der Schatten des reichen Nachbarn deckt auch mich‘. Damit ist gemeint, dass es eine Pflicht der Wohlhabenden ist, ihren Nachbarn im Notfall zu helfen. Von besonderer Bedeutung ist dabei die durch die enge Gemeinschaft ausgeübte soziale Kontrolle, sei es in der Kindererziehung oder im Verhalten der Erwachsenen. Diese Mechanismen liegen auch der Fürsorge für bedürftige Mitglieder innerhalb der Machalla zu Grunde (zu Weiterentwicklungen dieser Funktion siehe Abschnitt Der Staat als Wohltäter: wer ist arm? in Kap. 5.2). Ein wichtiges Element der sowjetischen Politik war die Förderung der Städte, die zu Zentren der neuen Gesellschaft werden sollten. Es wurden neue Städte gegründet (wie Navoi), wo große Industriekomplexe entstanden. In anderen Städten, wie Bukhara, Samarkand und Andijan, entstanden neben den Altstadtvierteln neue Stadtbezirke, oder die Städte wurden systematisch modernisiert, wie z.B. Taschkent, wo die Altstadt langsam durch Neubauten ersetzt wurde. Hinzu kamen im Fall von Taschkent die kontinuierliche Ausdehnung der Stadt und die Eingemeindung vieler umliegender Dörfer. Die Beziehungen zur Gemeinschaft von Großfamilie und Machalla änderten sich jedoch auch für diejenigen kaum, die zu einer städtischen und sowjetischen Lebensweise übergingen. So entwickelte sich inmitten der Hauptstadt vielerorts ein fast dörflicher Lebensstil mit engen Kontakten zu Nachbarn und Verwandten. Eine Politik der Mischung von Nationalitäten in denselben Wohnvierteln sollte den propagierten Internationalismus in die Praxis umsetzen und den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Wandel beschleunigen. Eine Folge hiervon ist, dass in ethnisch durchmischten Wohnvierteln die Beziehungen zwischen den neuen Nachbarn einen moralökonomischen Charakter annahmen. Wenn z.B. die in der Machalla lebenden Koreaner die neue Zwiebelernte in die Stadt bringen, so werden alle Nachbarn und Freunde benachrichtigt – so kommt die Ware schneller weg. Und die Käufer können sich ihrerseits über ein paar Säcke Zwiebeln freuen, die sie unter dem Marktpreis erwerben konnten. 43 Atinčik – wurde seit dem 19. Jahrhundert als Grundausbildung für Mädchen praktiziert. In Sowjetzeiten wird der Erhalt von islamischen Sitten im Alltag zu der Hauptaufgaben von atin. Über die gesamte Sowjetperiode bleibt die Tätigkeit von atin illegal und wird nur von der Angehörigen einer religiösen Dynastie ausgeübt und weitergegeben. Heute betätigen sich jene Frauen als atin, die in den seit den 1990er Jahren wiedereröffneten religiösen Schulen ihre Ausbildung bekommen haben. Ausführlich zu dem Thema siehe bei Krämer (2002).

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Auch für die Interaktion der Machalla mit dem Staat ist ihr moralökonomischer Charakter ausschlaggebend. Dem Beharrungsvermögen traditioneller Strukturen während der gesamten sowjetischen Periode, dessen Ausdruck Poliakov (1992) in der Verbreitung von Handelstätigkeiten als auch in den Geschlechter- und Altershierarchien der Familien sieht, liegen die KlientelBeziehungen zwischen der Machalla und dem Sowjetstaat zugrunde. Die Aufrechterhaltung der Machalla half der Bevölkerung dabei, die ‚Sowjetisierung‘ ihres Alltags und die Kontrolle durch Staat und Partei zu begrenzen. Der Sowjetstaat, der mit den Räten (Sovety) die lokale Selbstverwaltung einführte, fand in Zentralasien bereits existierende Strukturen der lokalen Selbstverwaltung vor. Unfähig sie zu zerstören, beließ der Staat die lokale Selbstverwaltung der Usbeken weitgehend intakt44 und wies ihr oft nur formell neue ideologische Aufgaben zu, womit er sie zu vereinnahmen suchte. Insbesondere auf dem Lande machte sich der Staat die traditionelle Gemeinschaft in den Dörfern mit ihrer Konzentration auf die Landwirtschaft für den Aufbau der großen Baumwollplantagen zunutze. Das folgende Zitat von Tokhtakhodjaeva (1995: 70) schildert diesen Sachverhalt: „The long established way of life – which included adherence to the authority of elders, mutual support – the ruling elite’s patronage of the socially weak and the practice of placing faith in one’s patrons, women’s subordination, and having several children, was how the nation survived under the primitive [sic!] conditions of an almost subsistence economy“.

Die Aufrechterhaltung der Produktion bei einem sehr niedrigen Lohnniveau stützte sich auf die Garantie des Überlebens durch die Gemeinde, vermittelt durch das vertikale System der Klientel-Beziehungen auf allen Machtebenen vom Kolchosevorsitzenden bis hin zum Zentralkomitee der Partei. Im postsowjetischen Usbekistan bekommen diese Praktiken eine neue Bedeutung und die Machalla rückt in den Mittelpunkt des Interesses. Dies gilt für die staatliche Sozialpolitik (siehe Abschnitt Der Staat als Wohltäter: wer ist arm? in Kap. 5.2) ebenso wie für die Ausweitung reziproker Beziehungen als Einkommensquelle. Die Nutzung der Machalla als Basis für wirtschaftliche Aktivitäten wird ausführlich im Abschnitt Einbettung in die Machalla (Kap. 3.2) beschrieben. blat-Netzwerke Wie bereits oben beschrieben, stellt der informelle Zugang zu staatlichen Ressourcen einen zentralen Bestandteil der Überlebensstrategien der Bevölkerung dar. Um den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen zu sichern, bildeten sich 44 Untersagt wurde allerdings die zuvor übliche wirtschaftliche Tätigkeit der Machalla-Komitees.

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Netzwerke, die im Wesentlichen auf dem Prinzip der gegenseitigen Hilfe beruhten. Die blat-Beziehungen, wie sie umgangsprachlich bezeichnet wurden, stammen aus der Stalin-Ära und bezeichnen die Nutzung privater Kontakte, um in den Genuss von Gütern oder Dienstleistungen zu gelangen, die nicht allgemein zugänglich sind. Angesichts von Knappheit, Mangelwirtschaft und des stark ausdifferenzierten Systems von Privilegien war der Zugang zu solchen Kanälen von entscheidender Bedeutung. Ein wesentliches Merkmal von blat-Beziehungen ist die Verfügung über fremde (d.h. staatliche) Ressourcen, d.h. dem Gebenden entstehen keine unmittelbaren Kosten aus dem erwiesenen Gefallen. Weitere Merkmale sind, dass die Beziehungen auf dem Prinzip ‚Wie Du mir, so ich Dir‘ beruhten, also keine direkte Bezahlung erfolgte, und dass den Handelnden der blat-Charakter häufig nicht bewusst war, da die Transaktionen als ‚Gefallen‘ oder ‚Freundschaftsdienst‘ aufgefasst wurden (vgl. Ledeneva 1997: 90). Die blat-Netzwerke knüpften an die Schnittstellen verschiedener Handlungsfelder an, insbesondere an die Schnittstelle von Erwerbsarbeit und Nachbarschaftshilfe. So war es, wie oben beschrieben, üblich, seine Nachbarn an den Ressourcen zu beteiligen, zu denen man qua seiner beruflichen Stellung Zugang hatte. Während im allgemeinen Männer wie Frauen in blat-Netzwerke eingebunden waren, ergaben sich aus der geschlechtsspezifischen Strukturierung der Wirtschaft und Gesellschaft auch Unterschiede: So führten die Zuständigkeiten der Frauen innerhalb der Familie und ihre starke Präsenz in den Sektoren Gesundheitsversorgung, Bildung, Handel und Kultur auch zu einer verstärkten Beteiligung der Frauen an blat-Netzwerken in diesen Bereichen. Im Gesundheitsbereich bedeutete dies das Finden eines guten Krankenhauses, eines guten Arztes. Im Haushalt waren das Besorgen einer guten Wohnung und Einrichtung sowie der Zugang zu defizitären Lebensmitteln und Kleidung häufig Aufgabe der Frau, im Freizeitbereich war es die Suche nach einer Datscha, Urlaubsscheinen für gute Ferieneinrichtungen, Theaterund Konzertkarten. In der Kindererziehung musste ein Platz in einem guten Kindergarten, einer guten Schule, einem guten Pionierlager und schließlich ein Studienplatz an einer renommierten Hochschule organisiert werden. Die blat-Beziehungen wurden durch Freundschaft und Verwandtschaftsbeziehungen vermittelt und aufrechterhalten und trugen auch zu einer Integration größerer Bevölkerungsschichten bei. „For ordinary people, the Soviet system was no longer confined to aliens who governed somewhere: from Moscow or Tashkent but included familiar people who were part of their own milieu, neighbourhood or even family“ (Koroteyeva/Makarova 1998: 581).

Ähnlich wie die Machalla wurden auch blat-Netzwerke in der Transformationszeit zum Ausgangspunkt für wirtschaftliche Tätigkeiten. Hierbei spielt eine große Rolle, dass die Gegenseitigkeit der Hilfeleistungen nicht mehr gegeben ist, weil viele Stellungen und Positionen, mit deren Hilfe ‚Gefallen‘ vergütet werden konnten, unsicher oder wertlos geworden sind. Hierzu trägt die

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Privatisierung nicht unwesentlich bei, denn für das System des blat war ja gerade der Zugriff auf Ressourcen kennzeichnend, die dem Staat, also ‚niemandem‘ gehörten. Im Ergebnis hört man heute häufig, dass ein Gefallen, der ‚aus guter Bekanntschaft‘ (po znakomstvu) heraus gewährt wird, gleichbedeutend mit ‚zum eigenen Schaden‘ geworden ist.

2.5 Produktion für lokale Märkte Ein in der Transformation stark an Bedeutung gewinnendes Handlungsfeld ist die Produktion für lokale Märkte.45 In sowjetischer Zeit wurde dieses Handlungsfeld vor allem durch landwirtschaftliche Produktion vertreten. Die Basare, eines der wichtigsten Merkmale der Städte, wurden in der sowjetischen Zeit in Kolchoze-Märkte umbenannt. Den Mitarbeitern von Sovchozen und Kolchozen46 war es erlaubt, einen kleinen Teil des Landes selbständig zu bewirtschaften und die nicht selbst konsumierten Erträge zu verkaufen. Obwohl ihnen diese Markttätigkeit nicht gestattet war, waren auch Stadtbewohner, die nicht zu einer Kolchoze oder Sovchoze gehörten, aktiv auf diesen lokalen Märkten vertreten, z.B. um die auf dem eigenen Grundstück erwirtschafteten Nahrungsmittel zu verkaufen. Die Möglichkeiten, eine solche Tätigkeit zu verdecken, waren vielfältig: Den zum Handel berechtigten Bauern konnten zusätzliche Waren zum Verkauf gegeben werden oder man nutzte Beziehungen an der Arbeitsstelle im staatlichen Sektor, um Abwesenheiten zu verdecken. Das Arbeitsbuch schützte dann gegen eine Anklage wegen ‚unmoralischen Verhaltens‘, d.h. Arbeitsscheu. Zudem war es bei entsprechenden Kontakten möglich, die nötige Erlaubnis bei der lokalen Verwaltung sowie bei der Basarverwaltung zu erhalten. Besaß 45 „Following Polanyi (1957) we call an economy market integrated, or capitalist, when labor and capital markets are the dominant allocative mechanisms. If labor and capital are primarily redistributively allocated, commodity markets only what Polanyi called local markets“ (Szelenyi/Kostello 1996: 1087; Hervorhebungen im Original). 46 Die landwirtschaftliche Produktion wurde in der UdSSR in zwei Organisationsformen betrieben: Sovchozen (Sowjetwirtschaft, basierend auf Nationaleigentum) waren Staatsbetriebe, deren Angestellten ein reguläres Gehalt erhielten und klassenmäßig als Arbeiter betrachtet wurden. Im Gegensatz dazu galten Kolchozen (Kollektivwirtschaft) als Form genossenschaftlichen Eigentums. Die Leitung wurde aus der Mitgliederversammlung gewählt. Vom Staat erhielten die Kolchozen Boden zur unbefristeten Nutzung. Die Kolchozen verfügten als juristische Person über Maschinen, Gebäude, Vieh und Geld. Die Bauern wurden in Brigaden organisiert. Die Entlohnung der Bauern erfolgte nach einem Normensystem, das auf einer kommerziellen Rechnungslegung basierte. Außerdem verfügten die Kolchozmitglieder, wie auch die meisten Sovchoz-Arbeiter, über ein privates Hofland (siehe auch Torke 1993: 143, 300).

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man einen Stand (Platz) auf dem Basar, so konnte man allerlei Handel betreiben, und dies nicht immer nur mit den erlaubten Nahrungsmitteln. Man konnte einem Bekannten einen Gefallen tun und für ihn etwas verkaufen, sei es Zigaretten oder Schuhe. Natürlich wurde dies nur verdeckt angeboten, doch wusste jeder in Taschkent, egal ob Einheimischer oder Besucher, dass man auf dem Alajskij-Basar alles findet, wenn man nur gut sucht. Diese privatwirtschaftlichen Tätigkeiten waren in Zentralasien stärker ausgeprägt als in den europäischen Teilen der Sowjetunion. Deutliche Unterschiede kann man im Bereich der Landwirtschaft auf privat genutztem Land feststellen: Die private Produktion von Getreide, Obst und Gemüse, Kräutern, Milch, Fleisch, Eiern und Wolle lag in Usbekistan weit über dem Durchschnitt in der UdSSR.47 Diese Produktion (Melonen, Wassermelonen, Zwiebel, Knoblauch usw.; auch Pfirsiche und Weintrauben) wurde nicht nur auf den lokalen Märkten abgeboten, sondern durch private Händler auch in andere Regionen der UdSSR, überwiegend nach Russland, ausgeführt. Einige dieser ‚Händler‘ übten diese Tätigkeit quasi nebenbei aus: Es wurde für Dienstreisende ‚normal‘, z.B. einen Sack Knoblauch – nicht unbedingt aus eigenem Anbau – nach Moskau mitzunehmen und dort zu verkaufen. Seit der Zeit der Perestroika Mitte der 1980er Jahre, und verstärkt seit der Unabhängigkeit, wurde das Privatunternehmertum offiziell erlaubt und die gesetzliche Grundlage hierfür geschaffen. Dieser tiefgreifende Umbau von Gesellschaft und Ökonomie hält bis heute an. Die Bedeutung privater, insbesondere kleiner und mittlerer Unternehmen für die Gesamtwirtschaft nimmt stetig zu. Dies drückt sich in einer wachsenden Zahl von Unternehmen und Beschäftigten ebenso aus wie in einer Zunahme des durch solche Unternehmen erwirtschafteten Anteils am Bruttosozialprodukt. Der Anteil der Privatwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt stieg von 1991 bis 2000 von 10 % auf 45 % (vgl. EBRD 2000a: 228). Da es kaum private Großunternehmen gibt, korreliert dies stark mit dem Anteil kleiner und mittlerer Unternehmen. Im Jahr 2001 waren in Usbekistan etwa 178 000 Kleinunternehmen und über 180 000 Einzelunternehmer registriert, etwa 20 % davon werden von Frauen geführt. Private Unternehmen sind inzwischen in praktisch allen Sektoren der Wirtschaft zu finden. Hauptbereiche bilden dabei die Landwirtschaft mit 40 % und der Handel mit 30 % (vgl. IFC/SECO 2002: 18f.). Allerdings muss auch betont werden, dass diese Berechnungen auf Daten über registrierte Unternehmen basieren, die nur einen Teil der Tätigkeiten auf diesem Handlungsfeld48 darstellen. Umso mehr ist dies ein Beleg für die These von der steigenden Bedeutung von privater Marktproduktion. Im Vergleich zu vielen anderen Transformationsländern geht dieses Wachstum langsamer und problematischer vonstatten. Als Hauptprobleme 47 Zum Vergleich: Gemüse und Fleisch wurden in Usbekistan zu 49% im Privatsektor produziert, in der UdSSR zu 29% (vgl. Rywkin 1984: 5). 48 Zu Organisationstypen von wirtschaftlicher Tätigkeit siehe Tabelle 1 in Kap. 4.3.

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können hierbei die fehlende Konvertierbarkeit der Währung, ein kompliziertes, intransparentes und häufig willkürlich gehandhabtes Steuer-, Kontrollund Lizenzierungssystem sowie fehlende Rechtssicherheit49 genannt werden. Im internationalen Vergleich sieht sich Usbekistan daher erheblicher Kritik an seiner Wirtschaftspolitik ausgesetzt. Auf konkrete Auswirkungen dieser Politik wird in den weiteren Kapiteln noch eingegangen, soweit dies für die in dieser Arbeit behandelten Akteure von Belang ist. Von entscheidender Bedeutung ist neben der Organisation der Produktion an sich die Frage nach der Einbettung der neuen Akteure in die Märkte.

2.6 Ethnizität und Arbeitsmarkt Ethnizität, Nationalität und Sowjetvolk Von großer Bedeutung für das Verhalten von Akteuren in den verschiedenen wirtschaftlichen Handlungsfeldern ist die Zugehörigkeit zu einer bestimmten ethnischen Gruppe, denn diese hat erhebliche Implikationen für die Handlungsmöglichkeiten. Dies gilt für die sowjetische Periode ebenso wie für das unabhängige Usbekistan. In Anlehnung an Elwert (1989: 449) wird hierbei das Bewusstsein, zu einer Ethnie zu gehören, als Ethnizität verstanden. Dieses Bewusstsein beeinflusst in erheblichem Maße das Selbstbild der Akteure; im Extremfall wird es sogar zum Hauptbezugspunkt für die Bewertung eigener und fremder Handlungen. „In its most common form, ethnicity is the priority of the ethnic consciousness of the individual or society over other means and forms of social and individual consciousness. In this case, ethnicity is the dominant qualitative positioning of the whole social space through ethnic categories and values. Strictly speaking, ethnic consciousness is the consciousness that occurs when all events that occur in the world – when historical, political, socio-economic, cultural processes, rights, and interests; when actions of individuals and society – are considered mainly from the perspective of one’s ethnic affiliation [prinadlezhnost – IY] or that of the ruling elite“ (Masanov 2002: 3).

Auch wenn man der Ethnizität nicht eine solch dominierende Stellung einräumen will wie dies Masanov tut, taugt das Konzept zur Erklärung von Verhaltensweisen und Selbstwahrnehmung. Hierbei ist zu betonen, dass Ethnizität und ihre Konsequenzen nicht nur, häufig nicht einmal vorrangig, durch Selbstwahrnehmung geprägt werden, sondern auch durch Fremdzuschreibung und staatliche Verordnung.

49 Dies schließt plötzliche Gesetzesänderungen – so wurden im Sommer 2002 ohne Vorwarnung Importzölle von 50–90% eingeführt – ebenso ein wie willkürliche Interventionen der Behörden, die immer noch an der Tagesordnung sind.

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In diesem Zusammenhang ist ein Hinweis auf die sowjetische Terminologie unabdingbar. Im Unterschied zum weltweit üblichen Gebrauch des Begriffes ‚Nation‘ zur Bezeichnung der Bürger eines Staates wurde der Begriff in der Sowjetunion für die fünfzehn so genannten Titularnationen der Sowjetrepubliken verwendet. Die ‚usbekische Nation‘ lebte damit in ‚ihrer‘ Usbekischen Sozialistischen Sowjetrepublik. Andere ethnische Gruppen ohne ‚eigene‘ Unionsrepublik wurden dagegen als ‚Völkerschaften‘ (Narodnost) bezeichnet, die aber zum Teil über ‚eigene‘ Autonome Republiken, Autonome Gebiete und Autonome Kreise verfügten. Nach dem Zerfall der Sowjetunion entstanden aus den 15 Unionsrepubliken unabhängige Staaten, während alle anderen Gebietskörperschaften, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ihren Autonomiestatus behielten. In Usbekistan betrifft dies die Karakalpakische Autonome Republik. Der sowjetischen Ideologie zufolge sollten sich im Sozialismus die Grenzen zwischen den verschiedenen Nationen verwischen (stiranie) und ein neues ‚Sowjetvolk‘ entstehen. Entgegen aller Propaganda spielte in der Praxis die ethnische oder – wie gesagt wurde – nationale Zugehörigkeit (nacionalnost), eine entscheidende Rolle in vielen Lebensbereichen. Extreme Beispiele hierfür sind die Deportationen ganzer ethnischer Gruppen in der Stalinzeit (s.u.). Aber auch für die berufliche oder politische Karriere war die ‚Nationalität‘ häufig entscheidend, wie aus dem folgenden Zitat deutlich wird. „In the Soviet Union, ‚ethnization‘ penetrated, in a totalitarian way, every aspect of society and social consciousness, infecting it with the virus of ethnicity. Career advancement, success in life, relations with other people, education, whether or not one had property, the ability to obtain it — practically everything was instilled with the spirit of ethnicity. If the entry for ethnicity on the employment and party application occupied the fifth line, then in everyday life it was the window, the ‚visiting card‘, ‚an individual’s face‘“ (Masanov 2002: 4).

Ein weiterer, bereits erwähnter Begriff ist der des neuen Sowjetvolkes (sovetskij narod). So wie durch den Sozialismus ein neuer Menschentypus geschaffen werden sollte, sollte dieser auch nationale Grenzen überwinden und so ein neues Volk, eine neue sozialistische Nation bilden. In der Praxis wurde das Sowjetvolk zu einem universalen Organisationsfaktor, dessen Träger russische oder russifizierte Eliten in allen Regionen der Sowjetunion waren. Dabei waren die dem Sowjetvolk zugeschriebenen Merkmale in sprachlicher, kultureller und wirtschaftlicher Hinsicht in hohem Maße russisch dominiert. Das Konzept des Sowjetvolkes lässt sich somit auch als Ausdruck russischen Dominanzstrebens interpretieren, das hier unter dem Deckmantel des Sozialismus auftritt. Auf konkrete Auswirkungen dieser Politik wird in den folgenden Unterabschnitten einzugehen sein. Es folgt zunächst ein kurzer historischer Abriss der Bevölkerungs-, Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur unter ethnischen Gesichtspunkten. Anschließend wird auf Auswirkungen der veränderten Nationalitätenpolitik seit der Unabhängigkeit Usbekistans eingegangen.

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Ethnische Strukturierung von Gesellschaft und Wirtschaft Von 1920 bis 1930 wurden durch die territoriale Teilung Zentralasiens – nacional’no-territorial’noe razmeževanie – die Grenzen der zentralasiatischen Republiken geschaffen, die noch heute bestehen. Die Bevölkerung der Republiken ist multiethnisch. Zwar lebten im Schnitt etwa 90 % der Mitglieder einer ethnischen Gruppe in der Republik, deren Titularnation sie waren, doch entstanden nichtsdestotrotz beträchtliche Minderheiten in allen Republiken. So bestand die Bevölkerung der Usbekischen SSR 1926 zu zwei Dritteln aus Usbeken, zu einem Sechstel aus Tadschiken und zu einem Sechstel aus einer Vielzahl anderer Völkerschaften, darunter bereits eine erhebliche slawische, vornehmlich russische Minderheit, deren Vertreter üblicherweise als ‚Europäer‘ bezeichnet werden.50 In sowjetischer Zeit wurde Migrationspolitik aktiv als Mittel zur Erhaltung der Staatssicherheit und der wirtschaftlichen Entwicklung benutzt. Für Zentralasien bedeutete dies in der Praxis vor allem die Zwangsansiedlung von Nomadengruppen, die den Übergang von der asiatischen51 zur sozialistischen Produktionsweise sicherstellen sollte, sowie die Umsiedlung oder Deportation ethnischer Gruppen (deportacija narodov). So wurden im Jahre 1937 Koreaner aus dem fernen Osten Russlands52 nach Zentralasien umgesiedelt und erhielten die Aufgabe, den Reisanbau in der Region zu forcieren. Während des Zweiten Weltkriegs fand die Umsiedlung der Deutschen aus dem Wolgagebiet, der Krimtataren von der Krimhalbinsel, sowie der Tschetschen und Mescheten aus dem Kaukasus nach Zentralasien statt. Alle Deportationen wurden mit dem Interesse der Staatssicherheit begründet, d.h. den Vertretern dieser ethnischen Gruppen wurde Kollaboration mit Deutschland bzw. Japan vorgeworfen. Die äußerst brutal durchgeführten Umsiedlungen wurden z.T. noch jahrzehntelang durch Ansiedlungsverbote außerhalb bestimmter Zonen aufrechterhalten. Dennoch kam es in den folgenden Jahren und Jahrzehnten zu einer fortschreitenden Migration dieser Gruppen in die Städte. Neben diesen 50 Ausführlich zu der ethnischer Zusammensetzung der Bevölkerung in Zentralasien zu Beginn der Sowjetära sowie zu den methodologischen Problemen der Auswertung dieser Daten vgl. Matley (1994: 107). 51 „[…] [P]atrilineal tribal formations among the nomads, somethimes with the tribal aristocracies, sedentary populations subject to the control of the patriarchal family, local despots and the structures of Islam, all overlaid by the ‚Asian immobility‘ assumed by Soviet commentators to be associated with the so-called ‚Asiatic mode of production‘“ (Kandiyoti 2000: 55). 52 Die ersten Koreaner siedelten sich um 1860 in der Fernostprovinz Russlands an. Nach der Okkupation Koreas durch Japan wurde die Zahl der nach Russland kommenden Koreaner immer größer. Die Koreaner suchten nach Möglichkeiten, Landwirtschaft zu betreiben, obwohl Ackerland in dieser Region knapp war. 1920 kamen in der Region die Sowjets an die Macht, und die Koreaner erhielten die sowjetische Staatsbürgerschaft. Für eine ausführlichere Darstellung vgl. Oka (2000).

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Umsiedlungen wurde auch die Ansiedlung von Russen und Vertretern anderer ethnischer Gruppen aus den europäischen Teilen der UdSSR in der Region gefördert. Die alten städtischen Schichten der Kleriker und Händler wurden durch Ermordung, Lager, Deportation oder Emigration beseitigt, oder sie assimilierten sich in der neuen Umwelt der Arbeiter-Intelligenz. Die Ansiedlung der Russen und ihr entscheidender Einfluss auf Industrialisierung und gesellschaftlichen Umbau führten dazu, dass die sich neu entwickelnde nationale Elite in hohem Maße russifiziert war. Durch das Wachstum von Bürokratie und Industrie entstand zudem eine neue usbekische Mittelklasse, die aus Bürokraten, Technokraten, Intellektuellen und Wissenschaftlern bestand und ebenfalls stark russifiziert war. Obwohl in jeder der Sowjetrepubliken die Sprache der Titularnation auf Republikebene formalrechtlich mit dem Russischen gleichgesetzt wurde, dominierte die letztere in beinahe allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens – insbesondere in Verwaltung, Bildung, Wissenschaft.53 In den Städten wurde die Zweisprachigkeit für alle Aufstiegswilligen in Wirtschaft, Verwaltung, Wissenschaft und Kultur zwingend notwendig. In vielen Familien der städtischen Intelligenz wurde Russisch schließlich zur einzigen Verkehrssprache, und die Kenntnisse des Usbekischen beschränkten sich auf ein Minimum. Mit der Übernahme der Sprache ging häufig auch die Übernahme von Lebensgewohnheiten und Interessen einher, wobei Schule und Universität sowie der Arbeitsplatz eine überragende Rolle spielten. Gerade die Entscheidung für eine russische oder usbekische Schule und damit die Prägung im Kindes- und Jugendalter war häufig entscheidend für den weiteren Lebensweg und wurde somit zu einem politisch hoch wichtigen Faktor vor und nach der Unabhängigkeit: „Inextricably linked with the education factor, the language issue remains an extremely controversial topic in Central Asia as Russian and Uzbek were respectively seen as vehicles for the new Soviet identity and the preservation of national identity“ (Tokhtakhodjaeva 1995: 78).

Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass ethnische Zugehörigkeit, wie auch das Geschlecht, durch die sowjetische Politik instrumentalisiert und als Kriterium für den Zugang zu staatlichen Ressourcen verwendet wurde. Das Urteil Levitins (2001: 134), wonach die Russen nur mit der Unterstützung aus Moskau bis zum letzten Tag der UdSSR die Schlüsselpositionen behielten, gilt für Politik und Armee ebenso wie Verwaltung und Wirtschaft, und zwar in der Brei53 So war z.B. die Schul- und Hochschulbildung sowie die Berufsausbildung auf Usbekisch und Russisch (sowie auf Karakalpakisch für Einwohner der Autonomen Republik Karakalpakstan) möglich. Allerdings bestand hinsichtlich der Qualität und Verfügbarkeit der Lehrmaterials, vor allem des Lehrbücher, ein erhebliches Gefälle zu Gunsten der russischen Sprache.

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te wie an der Spitze, denn der Anteil der russischen Führungs- und Fachkräfte war immer deutlich höher als der an der Gesamtbevölkerung. Das taktierende Verhalten des Zentrums Moskau, das sich von der Quoten-Ausbildung54 bzw. Beschäftigung bis hin zum bewussten Wegsehen bezüglich der traditionellen Einflüsse auf das Leben der Sowjetbürger in Zentralasien zeigte, ist nach Rywkin (1984) Bestandteil einer kalkulierten Politik mit dem Ziel, die Loyalität der zentralasiatischen Sowjetrepubliken aufrecht zu erhalten. Die Entwicklung nahm jedoch einen anderen Lauf: „But their nation-building process did not proceed as planned. Instead of becoming ‚national in form and socialist in content‘, the five sister republics of Soviet Central Asia emerged ‚socialist in form and national in content‘, physically part of Moscow’s universe, but spiritually alienated from the latter, and this despite all the undeniable material, social and educational progress accomplished during the six decades of the Soviet regime“ (Rywkin 1984: 14).

Projekte zur Sicherung des Lebensunterhalts stützten sich auf die Einkünfte außerhalb der staatlichen Wohlfahrtsmaßnahmen. Es entfalteten sich Aktivitäten im Subsistenzbereich und zur Tauschwertproduktion neben der formalen Berufstätigkeit. So konnte ein Usbeke die Stelle im Büro mit dem Betreiben eines Marktstands vereinbaren, während es sich für Russen und andere Europäer – ebenso wie für viele akademische Beobachter – um zwei unvereinbare und klar getrennte Systeme handelte. Nach Rywkin (1984) sind es unterschiedliche Wertesysteme, die den Vertretern der zentralasiatischen Ethnien muslimischer Religion, die er unter dem Begriff ‚Muslim‘ zusammenfasst, das Betreiben dieser Tätigkeiten unter dem Sowjetregime ermöglichten. Die Unterschiede in den Strategien verschiedener ethnischer Bevölkerungsgruppen zur Sicherung des Lebensunterhalts, die häufig in Literaturquellen über das sowjetische Zentralasien dargestellt werden, können nicht ohne Kontextualisierung verstanden werden. So kann man ethnisch geprägte Berufsorientierungen in dieser Region als Ausdruck des Interface zwischen Zentralpolitik und Einbettung in die lokale Gesellschaft verstehen. Dadurch, dass die russische Bevölkerung in den städtischen Bereichen Usbekistans eher die höher qualifizierten Arbeitsplätze in Industrie, Verwaltung und Ausbildung einnahmen, erzielten sie ein höheres Lohneinkommen. Zudem wohnten sie vorwiegend in den modernen Hochhäusern und verfügten 54 Allerdings mussten zur Hebung des Anteils der Usbeken in führenden Positionen häufig Maßnahmen angewandt werden, die die fehlende Chancengleichheit gerade deutlich werden ließen: „Educational equalisation of ethnic groups has been achieved to a large extent through special preferences given to Muslim students. They consist of favourable admission quotas, lowering of educational requirements, and easier grading (incl. quotas for failures), the goal being the speedy creation of a native intelligentsia which could be co-opted into the ruling Soviet elite, thus ‚creaming‘ the most capable layer from the non-integrated Muslim mass“ (Rywkin 1984: 7).

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somit über Annehmlichkeiten wie Heizung, Wasser- und Gasanschluss. Andererseits bevorzugten viele Usbeken Jobs im Dienstleistungsbereich und in der Landwirtschaft sowie Einfamilienhäuser sowohl in der Stadt als auch auf dem Lande. 1979 lebte in Usbekistan über die Hälfte der Stadtbewohner in Einfamilienhäusern (zum Vergleich: in der RSFSR waren es 1/5). Diese Arbeitsstellen und Wohnorte ermöglichten die Erzielung von Einkommen aus inoffiziellen Tätigkeiten, von privat genutztem Land und Einfamilienhäusern im Privatbesitz bis hin zu Gebrauchtwarenmärkten. Nationalitätenpolitik und Arbeitsmarkt im unabhängigen Usbekistan Der so genannte ‚usbekische Weg‘ der Transformation ist gekennzeichnet durch eine weitgehende Konstanz der Machteliten bei einer nur graduellen Umorientierung insbesondere der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Als vorrangiges Ziel der Politik kann das Nation-Building genannt werden, das wiederum die innere und äußere Stabilität des Landes sicherstellen soll. Das 1989 (also noch vor der Unabhängigkeit) verabschiedete Gesetz über die Nationalsprache, demzufolge Usbekisch zur Staatssprache erklärt wurde, bedeutete den Wendepunkt. Denn während usbekisch-russische Zweisprachigkeit ein typisches Charakteristikum der usbekischen Stadtbevölkerung war, beherrschten zu diesem Zeitpunkt nur wenige Russen die usbekische Sprache auf einem mehr oder weniger ausreichenden Niveau.55 Wie sich in den Folgejahren zunehmend zeigte, war ein sofortiger Übergang zum Usbekischen angesichts der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung nicht möglich, und es wurden im Laufe der Jahre mehrmals Regelungen für einem langsameren Übergang zur usbekischen Sprache eingeführt. So blieb der russischen Sprache der Status einer Sprache der interethnischen Kommunikation erhalten. Nach wie vor findet die Schul- und Hochschulausbildung in beiden Sprachen statt. Zudem bleibt Russisch in den Städten sowohl im Geschäfts- als auch im Privatleben weit verbreitet. Zusätzlich kompliziert wird die Sprachpolitik durch den allmählichen Übergang zur lateinischen Schrift für das Usbekische, der großen Teilen auch der usbekischen Bevölkerung erhebliche Probleme bereitet. Mit mangelnden Sprachkenntnissen wird die Verdrängung bzw. der Rückzug der Russen aus den Bereichen Gesundheitswesen, Bildung, Kultureinrichtungen, wo sie früher oft führende Positionen innehatten, beiderseits häufig begründet. Abgrenzung und Konflikte erschöpfen sich jedoch nicht in den notwendigen Sprachkenntnissen. Deutlich wird dies vor allem in den Verän55 Obwohl die usbekische Sprache auch in den russischsprachigen Schulen ab der 4. Klasse und an den Hochschulen ein Pflichtfach war, wurde die russischsprachige Bevölkerung nicht wirklich motiviert, die Sprache zu erlernen. Nur 11% der russischsprachigen Einwohner Usbekistans verfügten zum Zeitpunkt der Verabschiedung des Gesetzes über ausreichende Sprachkenntnisse in Usbekisch.

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derungen in den als strategisch wichtig angesehen Bereichen wie Politik und Verwaltung, Banken, Finanzverwaltung, Miliz, Armee, Justiz usw., in denen eine Karriere für Nicht-Usbeken zunehmend erschwert wird. Vergleichsweise stark, zumindest in Taschkent, sind die Nicht-Usbeken in technischen Bereichen vertreten und haben befriedigende Karriereaussichten nach wie vor für mittlere Positionen. Ebenfalls von Bedeutung sind die Migrationsprozesse, die in den letzten zwei Jahrzehnten zu deutlichen Veränderungen in der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung der zentralasiatischen Republiken geführt haben. Zum einen kam es seit Ende der 1980er Jahre zu einer massiven Auswanderung verschiedener nationaler Minderheiten. Diese Welle erreichte ihren Höhepunkt schon 1989–1990 und ist nicht mit der Unabhängigkeit zu erklären, sondern damit, dass zu dieser Zeit die formalen Bedingungen hierfür geschaffen wurden, insbesondere für Juden und Deutsche.56 Ähnlich verhält es sich bei den Krimtataren und den Mescheten, denen jetzt offiziell erlaubt wurde, in ihre alte Heimat zurückzukehren.57 Allgemein gesprochen handelte es sich hierbei also um Bevölkerungsteile, die schon lange auswanderungswillig waren, hieran aber durch Verbote gehindert wurden. Die massivsten Auswanderungsströme aus Usbekistan führen jedoch nach Russland. In erster Linie betrifft dies Russen und andere europäische Nationalitäten, darunter eine Vielzahl gut ausgebildeter Fachkräfte, die durch Emigration auf die Veränderungen reagierten. Allerdings ist offensichtlich, dass bei den meisten Emigranten nicht nur die Chance des beruflichen Aufstiegs eine Rolle für ihre Entscheidung gespielt hat, sondern eben auch die Wahrnehmung, dass der bisherige Karrierepfad an ein Ende gelangt war. Wichtig ist, dass heute die Auswanderung ganzer Familien zu beobachten ist, und nicht wie früher die so genannte Arbeitsmigration. Dies deutet auf die Endgültigkeit hin, mit der die Beziehungen zu der nun ehemaligen ‚neuen Heimat‘ abgebrochen werden (vgl. Maksakova 1999).

2.7 Zusammenfassung: Verflechtung von wirtschaftlichen Handlungsfeldern im Transformationsprozess Durch die obige Betrachtung der ökonomischen Handlungsfelder wird die geschlechtspezifische Strukturierung der Wirtschaft deutlich. Die Strategien zur Sicherung des Lebensunterhalts lassen sich jedoch nur durch einen Verflechtungsansatz erfassen, der nicht dualistisch zwischen Frau und Mann, produktivem und reproduktivem Sektor unterscheidet, sondern interface-, Über56 Seit 1991 verließen 95% der ehemals 600 000 Deutschen und 80% der ehemals 260 000 Juden das Land (vgl. Degtiar 2000). 57 Die meisten Tschetschenen kehrten schon zwischen 1953 und 1957 in den Kaukasus zurück.

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schneidungs- und Kooperationsbereiche untersucht (vgl. Lachenmann 2001: 32). Es stellt sich heraus, dass die Gewichtung der Verflechtungstypen mit den breiteren wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen korreliert – anders gesagt: die Gewichtung verschiebt sich, wenn sich die Rahmenbedingungen auf den relevanten Handlungsfeldern ändern. Insgesamt geht aus der Analyse hervor, dass das auf der Grundlage von zwei Gehältern und umfangreichen vom Staat bereitgestellten sozialen Dienstleistungen basierende ökonomische Modell der Kernfamilie, das die Beteiligung der Frauen am Erwerbsleben gefördert hat, schon zu sowjetischer Zeit eine wesentliche Unterstützung durch andere Handlungsfelder voraussetzte. In der Transformationszeit wird diese Tendenz in doppelter Hinsicht verstärkt: Zum einen ist es in einem solchen Maße zu einer Reduzierung der Reallöhne im Staatssektor gekommen – die offiziellen Gehälter sind in vielen Bereichen der Wirtschaft, insbesondere im Staatssektor, immer noch auf sehr niedrigem Niveau staatlich reguliert –, dass ein Großteil der Bevölkerung zwingend auf zusätzliche oder neue Verdienstmöglichkeiten angewiesen ist: Wenn der Lohn nicht einmal mehr für die Fahrtkosten zur Arbeit ausreicht, dann sucht man andere Einkommensquellen. Zum anderen findet eine Verschlechterung und Kommerzialisierung des staatlichen Dienstleistungsangebots statt, d.h. die Dienstleistungen werden entweder teuer oder so schlecht, dass sie faktisch zur Privatsache werden. Wenn die staatlichen Systeme ihre Leistungsfähigkeit verlieren, gleichzeitig aber neue, privatwirtschaftlich organisierte Systeme noch nicht aufgebaut sind, kommt es zu einer Art anarchischer Privatisierung, d.h. ehemals staatlich oder gesellschaftlich organisierte Aufgaben werden nunmehr spontan durch – meist informelle – Marktbeziehungen geregelt, die naturgemäß unreguliert bleiben und damit auch nicht sozial verträglich gestaltet werden können. Über ein genügendes Einkommen hierfür kann aber nur verfügen, wer Zugang zu zusätzlichen Verdienstquellen hat. Damit werden diejenigen die Leidtragenden des Transformationsprozesses, die nur über Transfer- oder nur über reguläres offizielles Einkommen aus dem Staatssektor verfügen. Diese Veränderungen bringen mit sich, dass sich die Akteure neue Handlungsräume erschließen müssen. An dieser Stelle wird die Wichtigkeit von Verflechtungen verschiedener ökonomischer Handlungsfelder deutlich. So kann der Verbleib im Erwerbsleben trotz sehr geringer Löhne zum Erhalt des sozialen Status und der sozialen Kontakte dienen. Gerade für Frauen ist der Verbleib im Kollektiv ein wichtiges Mittel zu ökonomischer und persönlicher Autonomie oder, allgemeiner gesagt, zur Abfederung der Folgen des Transformationsprozesses. Dies ist insbesondere auch vor dem Hintergrund der von den meisten Arbeitnehmern der mittleren und älteren Generation verinnerlichten sowjetischen Arbeitsethik mit einem Recht, aber auch der Pflicht zu gesellschaftlich nützlicher (Erwerbs-)Arbeit von Bedeutung.

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In diesem Zusammenhang wird aber auch klar, dass „Marktwirtschaft nicht notwendigerweise die Durchsetzung der Lohnarbeit impliziert“ (Schrader 1995: 9). Das Bemühen der Bevölkerung, durch die Kombination verschiedener Einkommensquellen ihr Überleben zu sichern, führt nicht zuletzt zu einer Ausdehnung des Bereichs der Selbstbeschäftigung. Es handelt dabei um einen Bereich, in dem sowohl marktorientierte Produktion in kleinen Einheiten als auch Produktion für den Eigenverbrauch betrieben wird. Nicht nur die Haushalte insgesamt, sondern gerade die Frauen stehen unter dem Druck, durch verschiedene Produktionsformen den Lebensstandard bzw. das Überleben ihrer Familien zu sichern. Frauen intensivieren ihre Arbeit besonders in den Bereichen Hauswirtschaft und marktorientierte Produktion. Die Vereinbarung dieser Aufgaben ist ihr strategisches Ziel, das die Gestaltung von Handlungsräumen für ihre Tätigkeiten wesentlich bestimmt. Damit sind sie wichtige Akteurinnen, was die ökonomischen Handlungsmuster und Strukturen im Transformationsprozess anbelangt. Denn einerseits hängt die Ausübung einer Erwerbstätigkeit in wesentlich höherem Maße als früher von der privat arrangierten Produktion im Subsistenzbereich ab, die unbezahlte Frauenarbeit voraussetzt. Andererseits wird eine einkommensgenerierende Tätigkeit der Frauen unverzichtbar für das Überleben der Familie. Auch diejenigen Frauen suchen nun nach zusätzlichem Geldeinkommen, die in der Vergangenheit eben nicht arbeiten wollten oder es nicht mussten, weil die Kombination von Sozialleistungen und dem Einkommen des Mannes aus Erwerbstätigkeit ausreichten. Noch stärkeren Ausdruck findet diese Entwicklung in der zunehmenden Kinderarbeit. Somit gilt in der Transformation in veränderter und verstärkter Art und Weise: „Surplus wird nicht nur über Lohnarbeit, sondern gerade auch über Subsistenzproduktion, selbständige Kleinproduktion und Hausarbeit, Kleinhandel und bestimmte Dienstleistungen des informellen Sektors appropriiert. Das Risiko und die Übernahme der Reproduktionskosten tragen hierbei die selbständigen Kleinproduzenten und Kleinunternehmer“ (ebd.).

Schließlich bleibt festzuhalten, dass eine dichotomische Trennung zwischen formellem und informellem Sektor aus handlungstheoretischer Sicht nur wenig sinnvoll ist. Dies liegt nicht zuletzt an dem hohen Anteil informeller Transaktionen auch im so genannten formellen Sektor. Bezog sich dies in sowjetischer Zeit auf Erscheinungen, die als Zweitökonomie oder Schattenwirtschaft bezeichnet werden, so steht in der Transformationszeit die Vermeidung von Steuern und staatlicher Kontrolle im Vordergrund. Damit wird aus individueller Sicht die Entscheidung zwischen abhängiger und unabhängiger Arbeit, also zwischen ‚selbständiger‘ oder ‚selbstbeschäftigter‘ Arbeit als Gegensatz zur Lohnarbeit, häufig wichtiger als die zwischen formellem und informellem Bereich. Ist für eine bisher erwerbstätige Frau die Entscheidung für einen Wechsel in die Privatwirtschaft als Unternehmerin einmal gefallen, so ist es zunächst zweitrangig, ob es sich um ein registriertes Unternehmen oder eine informelle unternehmerische Tätigkeit handelt. Um-

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gekehrt ändert der Wechsel von einem Arbeitsplatz im staatlichen Sektor zu einer bezahlten, unselbständigen Tätigkeit für einen im informellen Bereich agierenden Unternehmer vielleicht nur wenig an der persönlichen Situation.

3 ORGANISATION WIRTSCHAFTLICHER TÄTIGKEIT: ALTERNATIVE AKKUMULATIONSMODI In Kapitel 2 wurde gezeigt, dass selbständige marktorientierte wirtschaftliche Tätigkeiten einen wichtigen Beitrag zur Sicherung des Lebensunterhalts im Transformationsprozess leisten. In diesem Kapitel wird nun untersucht, wie Frauen zu der Entscheidung für eine solche Tätigkeit kommen, was die Organisation dieser Tätigkeit bestimmt, und welche typischen Organisationsformen sich herausgebildet haben. Vor dem Hintergrund des beschriebenen Sozialvertrags zu sowjetischen Zeiten ist klar, dass diesem Schritt eine Veränderung der gesamten sozialen Welt der Handelnden zugrunde liegt und die Entscheidung, ‚etwas zu tun‘, nach einer aktiven Auseinandersetzung mit diesen Veränderungen erfolgt. Hierbei ist es wiederum wichtig, das Zusammenspiel von Kontinuität und Wandel zu betrachten: Einerseits verändern sich die (nicht nur ökonomischen) Rahmenbedingungen ganz erheblich. Andererseits dauert es aber länger, bis sich die gesellschaftlichen Normen an die neue Situation anpassen; das Wissen über ‚richtig‘ und ‚falsch‘, das, was ‚man macht‘ oder ‚nicht macht‘, was angesehen ist und was verachtet. Gerade gebildete Frauen im städtischen Bereich fanden sich in einer Situation, wie sie Bruno (1997: 68) beschreibt: „The hierarchy of social groups was subverted, if not at the top, at least in middle and lower layers. […] The kulturny (cultured) people, the technical, academic and professional intelligentsia who had been the most successful actors and beneficiaries of the insider system of distribution through networks, saw their position of privilege crumble about them. They were suddenly outdone by groups of petty streettraders and by groups of mafiosi who made their fortunes through buying and selling on the open market and acquired status and luxury life-styles through financial means“.

Die gesellschaftlichen Normen passen sich langsamer an als die ökonomische Realität. Dabei ist insbesondere zu beachten, dass gerade individuelle wirtschaftliche Tätigkeit vielfach als etwas Negatives, als Spekulantentum wahrgenommen wurde, mit dem sich nur Kriminelle, niedrige soziale Schichten oder auch Angehörige bestimmter Nationalitäten beschäftigen. Diese Wahrnehmung war insofern begründet, als eine solche Tätigkeit im alten System ja tatsächlich eine Normverletzung darstellte. Und bei aller Aushöhlung der sozialistischen Ideologie blieben Begriffe wie ‚Kapitalismus‘, ‚Unternehmer‘ und ‚Profit‘ doch für viele negativ behaftet. Die Kontinuität solcher Wahrnehmungen wurde im Transformationsprozess noch dadurch verstärkt, dass es gerade die genannten, als inferior wahrgenommenen Gruppen waren, die im

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neuen System zu schnellen wirtschaftlichen Erfolgen kamen, wobei eben Mittel und Wege zu diesem Erfolg häufig gegen die Normen verstießen. So hat sich auch die Vorstellung etabliert, dass ein anständiger Mensch nicht reich sein könne. In der Gewohnheit, arm zu sein, die durch eine moralische Abneigung gegen den Markt als ‚Macht des Geldes‘ (vlast’ deneg) unterstützt wurde, sehen Zdravomyslova/Šurygina (1998) eines der Hindernisse für die Marktanpassung, was genau der hier postulierten langsameren Anpassung der Normen entspricht. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass die sichtbaren Träger des neuen Systems – Politiker, neue Unternehmer – häufig eben nicht als gesellschaftliche Vorbilder akzeptiert, sondern als Normverletzer wahrgenommen wurden. Angesichts des weitgehenden Fehlens einer kritischen Öffentlichkeit, z.B. in Form einer unabhängigen Presse, waren es daher häufig die Interaktionen mit Angehörigen des sozialen Umfeldes, die als moralische Autoritäten wahrgenommen wurden, die zu einer Veränderung führten: Wenn eine als gleichwertig oder höher stehend empfundene Person neue Normen akzeptierte, war dies für den Akteur selbst auch möglich. Ein Ausschnitt aus dem Interview mit der Kleinhändlerin Šachida, 42, über den Anfang ihrer Tätigkeit kann als Analysematerial genommen werden, um die Entscheidungsprozesse zur Aufnahme einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit zu erläutern. Nachdem ihr Ehemann sie kurz nach der Geburt ihres Sohnes verlassen hatte, stellte Šachida ihr Studium am Medizinischen Institut ein und war fünf Jahre lang als Krankenschwester in einem Kindergarten tätig. Dieser Job, den sie durch die Vermittlung einer Nachbarin bekommen hatte, die mit der Direktorin des Kindergartens befreundet war, berechtigte Šachida neben ihrem Gehalt nicht nur zu einem Kindergartenplatz für ihren Sohn, sondern ermöglichte ihr auch, mehr Zeit mit diesem zu verbringen, denn als Kinderlähmungspatient brauchte er eine spezielle Versorgung. Als der Sohn in die Schule kam, setzte Šachida ihr Studium fort, jetzt allerdings als Abendstudium. „Einmal habe ich ihn [den Sohn] morgens um neun Uhr zur Schule gebracht und bin selbst zum ZUM [zentrales Kaufhaus] spazieren gegangen, aber das ZUM macht erst um 10 auf, und so bin ich halt die Reihen von kooperativen Geschäften entlanggegangen. Und plötzlich bin ich wie zur Säule erstarrt: hinter der Theke eines Geschäfts stand mein Dozent aus dem medizinischen Institut. ‚Was, Doktor, Sie verurteilen mich?‘, fragte er mich. – ‚Nein, nein, das passt nur einfach nicht zusammen. Sie und dieser Krämerladen.‘ – ‚Ja, bin ich denn etwa kein Mensch? Ich will doch auch meinem Sohn Kaugummi kaufen, aber mit unserem Gehalt kommt man ja nicht weit.‘ Für mich war das ein Wendepunkt. Aber das fiel mir schon schwer – diese Grenze zu überschreiten, obwohl das ja Quatsch ist, eigentlich. Ich musste mir etwas einfallen lassen. Und ich habe mich entschieden. Das Ziel war klar – den Lebensstandard für mich und meinen Sohn zu verbessern. Dabei sah ich für mich nur ein Mittel, den Handel. Das war gerade zur Zeit der Perestroika, 1992, alle haben sich damals nach etwas umgesehen.“

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In den Worten Šachidas am Beginn des Zitats spiegelt sich eine allgemeine Stimmung aus diesen Zeiten wider, als es üblich war, in den meist leeren staatlichen Geschäften in der Hoffnung spazieren zu gehen, etwas billiger zu finden, sei es Zucker, Strümpfe oder etwas anderes. Neben diesen großen Geschäftsgebäuden entstanden seit der zweiten Hälfte der 1980er Jahre kleinere kooperative Läden, die mit den importierten oder selbstgefertigten Waren handelten.1 Die Preise in diesen Läden waren im Vergleich zum staatlichen Handel geradezu räuberisch hoch. Zu dieser Zeit, als sich die meisten Menschen in einer Art Schocklage befanden, wie auch Šachida, die mit ihrem Gehalt als Krankenschwester kaum noch zurecht kam, galten die ‚erfolgreichen Kooperativen-Mitglieder‘ (kooperatory) als Spekulanten, auch wenn sie die Waren verkauften, die sie selbst hergestellt hatten. Die öffentliche Distanzierung erfolgte unter anderem durch ethnische Kriterien. Die neu entstandenen Läden, die nach allgemeiner Meinung überwiegend von Juden, Armeniern, Griechen und Azeris mit ihren Familienbetrieben geleitet wurden, wurden mit dem weit verbreiteten, abfälligen Ausdruck eta kontora, in etwa ‚dieser Krämerladen‘, benannt. Um so schockierender wirkte auf Šachida ein Akademiker, Mediziner und Usbeke als Angestellter in einem solchen Laden. Entscheidend ist jedoch die Argumentation des Arztes – ‚bin ich kein Mensch?‘ –, der seine Tätigkeit mit der Sorge um seine Kinder rechtfertigt, aber dennoch glaubt, eine Erklärung schuldig zu sein. Die veränderten Umstände haben bei ihm zu einer Veränderung von Werten und Normen sowie zu neuen Verhaltensmustern geführt. Ihm ist aber (noch) bewusst, dass sein ‚neues‘ Verhalten gegen die ‚alten‘ Wertmaßstäbe verstößt. Gleichzeitig beeinflusst sein neues Verhalten das Wertsystem Šachidas. Der Schock, den Šachida erlebt, deutet darauf hin, dass sie die neuen, privatwirtschaftlichen Tätigkeiten zwar als eine allgemein bekannte Tatsache wahrgenommen, aber für sich selbst noch nicht akzeptiert hatte, d.h. sie stellten für Šachida bislang keine gesellschaftlich relevante Möglichkeit dar. Der Anblick einer Respektsperson mit unterstelltem gleichen Normsystem, aber offenkundig veränderten Zielen und Handlungsweisen leitet hier den Prozess der Zielveränderung und damit der Marktanpassung ein. Hierin zeigt sich, dass die Anpassung des Normsystems an veränderte Umstände nicht individuell vonstatten geht, sondern in Interaktion mit denjenigen, zu denen enge soziale Kontakte bestehen. Aus dem Beispiel lässt sich aber noch ein weiterer Aspekt erkennen: Als Dozent im medizinischen Institut war diese Respektsperson natürlich Teil der privilegierten ‚intelligentsiya‘ wie oben von Bruno charakterisiert. Er hat sich aber nicht (oder in nicht entscheidendem Maße) an dem System des blat bzw. an der illegalen Aneignung staatlicher Ressourcen beteiligt, und Šachida weiß das auch. Gerade dies macht ihn zu einer Respektsperson. Hierin wird deut01 Die Möglichkeit zur Gründung von Kooperativen im Handel wurde unter Gorbatschow 1987 mit dem Gesetz über die Kooperativen in UdSSR geschaffen, um die wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen.

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lich, dass die These von einem massiven und fließenden Übergang der privilegierten Schichten vom illegalen Verteilen staatlicher Ressourcen zu neuem Unternehmertum nur eingeschränkt gültig ist: Zwar waren blat und das Ausnutzen von Positionen und Netzwerken allgemein bekannt und praktiziert, aber sie waren nicht uneingeschränkt akzeptiert, und viele Angehörige dieser Schichten lehnten sie für sich ab. Damit wird eine differenzierte Analyse der Marktbeziehungen in Transformationsgesellschaften notwendig. Aus der Erkenntnis, dass mit den veränderten Rahmenbedingungen auch veränderte eigene Normen und Handlungen akzeptabel geworden sind, leitet sich unmittelbar die Suche nach Möglichkeiten ab. Hierbei ist den Akteuren bewusst, dass Märkte nicht frei zugänglich sind, sondern dass es Eintrittsbarrieren gibt (Evers/Schrader 1994: 211). Eines der wichtigsten Zugangsmittel ist der Rückgriff auf persönliche Beziehungen. Umgekehrt wird das Fehlen solcher Beziehungen zu einer der wichtigsten Eintrittsbarrieren, wie das folgende Beispiel zeigt: Olga, 28, ausgebildete Akupunktur-Ärztin, wollte eine private Praxis innerhalb einer Poliklinik (Ärztehaus) eröffnen. Sie wandte sich an den Chefarzt der Bezirkspoliklinik, zu der sie ihrem Wohnort nach gehörte. Er gab ihr klar zu verstehen, dass sie hier keine Chance hätte: „Wie mir der Chefarzt unserer Bezirkspoliklinik sagte, als ich zu ihm ging, um mich zu beraten: ‚Wenn Sie nicht so viel Geld haben, dass sie eine eigene Praxis einrichten können, dann gehen sie lieber gleich auf den Basar und verkaufen Zigaretten, Ärzte brauchen wir hier nicht, wir kommen schon selbst klar.‘ […] In der Hinsicht glaube ich, dass in Taschkent für ein erfolgreiches Unternehmen nicht so sehr Wissen und Startkapital wichtig sind, sondern vielmehr Beziehungen. Hier ist insbesondere die Familienzugehörigkeit wichtig, und erst dann Geld, und dann erst Wissen“.

Besonders interessant ist hier das zwischen den Zeilen stehende: Ohne Beziehungen zum Hauptarzt wird sie nicht in den Markt hereingelassen. Marktregulierungen entlang nationaler oder familiärer Linien bestimmen auch die Basare in hohem Maße. Die Plätze auf den Basaren sind knapp und werden unter Verwandten weitergegeben. Das galt schon zu sowjetischen Zeiten für die traditionellen Bauernmärkte (dehkon bosori). Heutzutage herrschen diese Regeln auch auf den Kleinhändlermärkten. Diese entstanden zunächst als unregulierte, spontane Handelsplätze (Tolkučka), an denen jeder seine Waren anbieten konnte. Mit der Etablierung festerer Strukturen kam es aber im Laufe der Jahre zu einer fortschreitenden formellen und informellen Regulierung, die den Marktzugang für neue Teilnehmer beschränkt. Wer nun nicht über die nötigen Kontakte und Mittel verfügt, um diese Barrieren zu überwinden, geht einfach ‚auf die Straße‘ (z.B. im wörtlichen Sinne um den Basar herum) oder sucht unbesetzte Nischen. Jedoch kann die Entscheidung über das ‚Ob‘ und ‚Wie‘ eines Markteintritts nicht auf das Vorhandensein persönlicher Beziehungen reduziert wer-

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den. Die Akteure bringen ihre soziale Kreativität ein, indem sie nicht einem vorbestimmten Plan folgen, sondern ‚sich etwas einfallen lassen‘.2

3.1 Voraussetzungen der wirtschaftlichen Tätigkeit Soziales Kapital als Erfolgsgarant im Transformationsprozess? Nach Granovetter (1985) weist jede Gesellschaft in einem gewissen Maße Netzwerke auf, mithilfe derer persönliche und ökonomische Aktivitäten gestaltet werden. Dass die postkommunistischen Gesellschaften reich an sozialen Netzwerken sind, sehen die Forscher als Folge der kulturellen und historischen Entwicklungen in der kommunistischen und postkommunistischen Vergangenheit. Traditionen des öffentlichen Lebens, die unter dem kommunistischen Regime überlebt haben, sowie die Netzwerke zur Bewältigung von Defiziten in der Planwirtschaft trügen zur Ausdehnung der sozialen Netzwerke bei, deren Bedeutung mit der Transformation zunimmt (vgl. Sik 1994). Oft werden die soziale Netzwerke sogar als die einzige Ressource gesehen, die man zum Einstieg in dem Markt benützen kann. So schreibt Kolankiewicz (1996: 437) von der Marktsituation als „Netzwerksituation“. In der Transformationsforschung ist allgemein anerkannt, dass es im Wesentlichen die Inhaber von Schlüsselpositionen waren, die es verstanden, unter den neuen Bedingungen zu wirtschaftlichem Erfolg zu kommen. Entscheidend war dabei häufig die Möglichkeit, auf illegalem oder halb legalem Weg die Verfügungsgewalt über staatliche Ressourcen – Geld, Rohstoffe, Transportmittel, Unternehmen u.a. – zu erhalten und diese dann unsanktioniert für eigene Zwecke zu benutzen: „Es ist allgemein anerkannt, dass die Hauptquelle für das Kapital auf dem entstehenden Markt in der ehemaligen UdSSR entweder ‚unrechtmäßiges Geld‘ (Kapital, dass auf illegalem Wege angesammelt wurde, kriminelles Kapital, dass anschließend mittels Geldwäsche in die Wirtschaft eingeführt wurde) oder unrechtmäßige Macht waren (Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und ihre Privatisierung, Business im Bereich der Nomenklatura)“ (Ledeneva 1997: 98; aus dem Russischen – IY).

Die Wege, sich in den Besitz solcher Ressourcen zu setzen, waren vielfältig, aber immer vom Zugang zu Informationen und Macht abhängig. Es ist anerkannt, dass die hierbei erfolgreichen Netzwerke häufig schon in sowjetischer Zeit bestanden. So erkannte Eisenstadt schon 1984: „Such clientelistic arrangements seem to be more pervasive and continuous, in the Soviet bloc, among the cliques of powerful personalities than between them and those persons lower in the social hierarchy“ (Eisenstadt 1984: 155).

02 „Надо было что-то придуматъ“ (russ.).

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Für die geschlechtsspezifische Analyse ist die Vorgehensweise von Ron Burt (1992) von Bedeutung. Von der Frage, wer in welcher Position in der Netzwerkstruktur privilegierten Zugang zu Ressourcen hat, wird zu einer tiefer gehenden Frage übergegangen, wie bestimmte strukturelle Arrangements Vorteile und Möglichkeiten generieren. Die erfolgreichen Akteure verfügen über dichte und überlappende Netzwerke, die über längere Distanzen betrieben werden. Diejenigen, die so positioniert sind, sind strukturell autonom, d.h. sie sind fähig, sich die Informationen und Kontrolle über die vorhandenen (oder zukünftigen) strukturellen Nischen (oder Gelegenheiten) anzueignen (vgl. Powell/Smith-Doerr 1994: 392). ‚Normal‘ war zum Beispiel der Fall, dass kurz vor einem Privatisierungsverfahren ein Verwandter eines ‚wichtigen Mannes‘ als Mitarbeiter für vielleicht sechs Monate angestellt wurde und dann anschließend das Geschäft übernahm. Natürlich war es der ‚wichtige Mann‘, der im voraus wusste, dass das Geschäft privatisiert würde und dass die Mitarbeiter hierbei ein Vorkaufsrecht zu günstigen Preisen haben würden. Andere Arrangements reichen vom glatten Diebstahl bis zur Gründung von Firmen (meist durch Verwandte oder Freunde, also Netzwerke), an die dann staatliches Vermögen zu niedrigen Preisen verkauft wurde. Es ist jedoch festzuhalten, dass die in der Vergangenheit herausgebildeten und akkumulierten Werte und Praktiken ihren Besitzern nur in Verbindung mit Schlüsselpositionen für die Verteilung von Ressourcen ökonomische Vorteile bringen können. Handel und Dienstleistungen – also die Bereiche, in denen informelle Aktivitäten am stärksten verbreitet waren – galten und gelten als Frauenbereiche. Betrachtet man ihre innere Strukturierung, so wird klar, dass die Frauen nur selten leitende Positionen innehatten. Ledeneva (1998: 121) zeigt, dass die blat-Netzwerke vertikal in der Regel an Männer gebunden wurden. Dadurch verwalteten die Frauen Ressourcen, ohne wirkliche Verfügungsgewalt über sie zu haben, so dass sie bei deren Privatisierung nur selten ‚mitspielen‘ konnten. So erfolgte die Einbindung von Frauen in die Neuverteilung der Ressourcen häufig nur durch die Unterstützung von Ehemännern oder anderen männlichen Verwandten. Bruno (1997) schreibt über Frauen im Business als ‚Töchter‘ oder ‚Ehefrauen‘. Entscheidend bei diesen Familienbeziehungen ist, dass die alten blat-Beziehungen zwar durch monetäre ersetzt werden, diese aber (noch) nicht den notwendigen Grad an Vertrauen aufweisen. Also greift man auf Verwandtschafts- und Nachbarschaftsbeziehungen zurück, stellt z.B. Frauen ein, weil man sich sicher ist, dass diese das Vertrauensverhältnis nicht zugunsten (kurzfristiger) monetärer Vorteile verletzen werden. Kaiser (1998a: 220) schreibt über die Strategien des Ein- und Ausschlusses bei der Organisation von Netzwerken als Zugang zu Macht: „[…] to organise networks and access to power, strategies of inclusion and exclusion come into play. […] Exclusionary social networks are most easily identifiable if they incorporate ethnic, tribal or peer differences“.

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In Usbekistan war eine Folge von Unabhängigkeit und Transformationsprozess eine Veränderung der Bedeutung von ethnischer Zugehörigkeit für die Gestaltung von Netzwerken. In dieser Hinsicht wurde es z.B. für die russische Minderheit, meist in der technische Intelligenz tätig und ohne großen Verwandtschaftskreis, schwieriger, ihre Netzwerke und ihr soziales Kapital im Lande einzusetzen. Svetlana, 34, war gut mit dem blat-System vertraut, wollte aber nicht (mehr) dabei mitmachen und konzentrierte sich auf den Parallelmarkt. Zuvor war Svetlana in der Vertriebsabteilung einer Fabrik tätig gewesen und hatte dadurch über Jahre hinweg ein gutes informelles Einkommen erwirtschaftet. Nach der Wende fühlte sich wegen ihrer ethnischer Zugehörigkeit (Russin) in ihrer Position bedroht, so dass sie ihren Job kündigte: „Ich war mit diesem System vertraut, so dass ich gleich gesehen habe, dass sie mich loswerden wollten.“ Adaptive Ressourcen Darüber hinaus ist von entscheidender Bedeutung, dass es bei den Veränderungen auch um die Konstruktion von neuen sozialen Identitäten und Differenzen geht. Dabei handeln die Akteure nicht entlang der Muster, die ihnen durch die Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen, z.B. ethnischen, vorgegebenen sind, sondern kreieren an ihrer Schnittstelle neue Handlungsmodi. Soziales und kulturelles Kapital (Kenntnisse, Fertigkeiten usw.) werden eingesetzt, um die Ressourcen zu mobilisieren. So kann ein Dozent für Physik eine neue Erwerbsquelle als Elektriker finden, aber auch die Musiklehrerin als Kräuterhändlerin. Die Grundlage für einkommensgenerierende Tätigkeiten bilden oft Eigenschaften, die man früher nicht aktiv genutzt oder als irrelevant betrachtet hat. Korel (1995) nennt sie ‚adaptive Ressourcen‘: Werte und Normen, soziale (Beruf, Einkommen, materieller Stand, Wohnsituation, Ausbildungsniveau), demographische (Gesundheitszustand, Familienstand, Migrationsbiographie) und ethnische Charakteristika sozialer Netzwerke sowie persönliche Eigenschaften. Nach Kandiyoti (1999) sind Alter, Geschlecht und sozialer Status ausschlaggebend für die Adaptationsmöglichkeiten in der post-sowjetischen informellen Ökonomie. Frauen mit höherem Ausbildungsniveau haben bessere Chancen, sich an die neuen Umstände anzupassen. Ältere Frauen, die frei von Kindersorgen sind, haben die Möglichkeit, sich mit Handel zu beschäftigen. Jedoch sagt auch das Alter allein wenig über die Möglichkeiten aus, einen Zugang zu den Märkten zu finden. Wichtig ist, dass in der Transformationszeit neben den sozialen Netzwerken auch die Bedeutung persönlicher Eigenschaften und Kenntnisse, des Besitzes usw. (also allgemein: der Ressourcen) neu ausgehandelt wird. Das Verfügen über solche Ressourcen und vor allem die Fähigkeit, ihre gewandelte

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Bedeutung zu erkennen und in Handlungen umzusetzen, ermöglicht eine aktive Bewältigung von Veränderung. Die adaptiven Ressourcen bestimmen, in welcher Form der Zugang zu Geld und anderen Produktionsmitteln sichergestellt wird, wie Kenntnisse über Kunden und Märkte gewonnen werden und wie die Anbindung an diese gestaltet wird. Hierbei ist zu beachten, dass alle diese Märkte in der Transformation ihrerseits tiefgreifend verändert bzw. erst neu geschaffen werden. Aus Sicht der Akteure geht es daher nicht nur um eine Anbindung an bestehende Strukturen oder Netzwerke, die durch die Einbettung ermöglicht wird, sondern vor allem auch um die Schaffung eines neuen Angebots und neuer Produktionsweisen. Akkumulationsmodi Selbständige wirtschaftliche Tätigkeit, ob marktorientiert oder im Subsistenzbereich, setzt die Verfügbarkeit von Produktionsressourcen voraus. Hierbei ist ein deutlicher Zusammenhang zwischen Ressourcen und Abhängigkeit zu erkennen. Ein Beispiel hierfür ist die Kujljuk-Börse. Ab 6 Uhr morgens kommen Menschen aller Altersgruppen – Männer und Frauen, manchmal auch Ehepaare – auf einen Platz in der Nähe eines großen Basars. Sie kommen aus den (ländlichen) Gebieten in der Hoffnung, für Tageslohn eine Beschäftigung in der Stadt zu finden. Meistens werden sie von Privatpersonen für schwere körperliche Arbeiten auf einer Baustelle oder Landarbeiten in der Hauswirtschaft eingesetzt. Immer wieder hört man, die Frauen würden bevorzugt eingestellt, weil sie ruhigere und fleißigere Arbeiterinnen sind, die auch selbst für sich kochen würden. Immer wieder werden sie von der Miliz aus der Stadt gewiesen und immer mehr kommen jeden Morgen auf der Kujljuk-Börse zusammen. Es wird auch über ähnliche so genannte weibliche Arbeitsbörsen in anderen Städten des Landes berichtet, z.B. in Fergana auf der Bagdad-Trasse (vgl. Sadykova 2002 (Institute for War and Peace Reporting)). Die in der Literatur oft geschilderte babuška, die in der U-Bahn mit Zigaretten handelt, oder die Prostituierten, hinter denen immer Zuhälter stehen, sind ein möglicher Anpassungsweg. Die Wirklichkeit ist jedoch komplexer. Denn ein bedeutender Teil der informellen marktorientierten Aktivitäten liegt außerhalb des ‚Lohnarbeiterschemas‘. Frauen kreieren eine Vielzahl von alternativen Betätigungsweisen, bei denen sie wenig oder gar nicht von Männern abhängig sind. Eine (im Vergleich zu vielen anderen Ländern) relativ gute Ausstattung der Haushalte mit langlebigen Konsumgütern und die entwickelte Infrastruktur mit Strom-, Wasser- und Telefonanschluss sowie insbesondere der Zugang zu Grund und Boden werden in der Stadt zu den wichtigsten Ressourcen für die Aufnahme einer einkommensgenerierenden Tätigkeit. Sie dienen sowohl als Produktionsmittel als auch indirekt als Startkapital – wenn Autos oder

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Wohnungen verkauft werden, um etwas anderes zu beschaffen. Startkapital wird in der Regel aus dem Familienkapital entnommen. Die Popularität von Kursen, die wie Back- und Schneiderkurse oder auch Psychologiekurse praktische Fertigkeiten vermitteln, mit deren Hilfe dann später Einkommen erzielt wird, zeugen von der Bereitschaft und Möglichkeit, wirtschaftliche Tätigkeit durch Lernen und Ausbildung aufzunehmen. Der Vielzahl adaptiver Ressourcen entspricht eine Vielzahl von Antworten auf die Veränderung und eine Vielzahl von wirtschaftlichen Tätigkeiten, kurz eine Vielzahl alternativer Akkumulationsweisen oder modes of accumulation (vgl. Geschiere/Konings 1993). Bei aller Unterschiedlichkeit und den verfließenden Grenzen soll im Folgenden versucht werden, einige typische Akkumulationsmodi herauszuarbeiten. Diese unterscheiden sich vor allem dadurch, dass jeweils andere Ressourcen bestimmend für die Organisation der Tätigkeit sind. Wie weiter oben argumentiert wurde, ist die herkömmliche Unterscheidung in einen formellen und informellen Sektor in diesem Zusammenhang wenig hilfreich, weil die Akkumulationsmodi meist quer zu diesen Grenzlinien verlaufen (vgl. Lachenmann 1999).

3.2 Typische Akkumulationsmodi der wirtschaftlichen Tätigkeit Zugriff auf Ressourcen von Staatsbetrieben Für den Aufbau der Tätigkeit dieser Gruppe ist der Zugang zu staatlichen Betrieben von entscheidender Bedeutung. Die Ressourcen und Kapazitäten dieser Betriebe werden genutzt, um günstigere Bedingungen für die eigene wirtschaftliche Tätigkeit zu schaffen. Die Formen reichen von der Privatisierung – also Übernahme von Betrieben – bis hin zur regelmäßigen Nutzung bestimmter Ressourcen ohne formelle Registrierung. Die Beteiligung an der Privatisierung der Betriebe setzt voraus, dass man über Startkapital sowie über Schüsselpositionen verfügt. Wie oben dargestellt wurde, sind die Frauen dabei meist auf die Unterstützung von Männern angewiesen, was an der geschlechtlichen Strukturierung der Wirtschaft liegt.3 Das bedeutet im Wesentlichen, dass die Frauen die Funktionen einer stellvertretenden Verwalterin von Ressourcen erfüllen, auch wenn sie formal als Eigentümerinnen genannt werden. Die Beispiele von ‚Töchtern‘ und ‚Frauen‘ als Unternehmerinnen sind zahlreich. Für eine gleichberechtigte Position ist jedoch das Vorhandensein von Kapital von ausschlaggebender Bedeutung. Anna, 32, ist geschieden und wohnt 03 Vgl. Abschnitt Geschlechtsspezifische Strukturierung der Erwerbstätigkeit in Kap. 2.1.

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in Taschkent in einer Wohnung zusammen mit ihrer Tochter (12) und Mutter. In der Nähe der Wohnung befindet sich ein Krankenhaus, in dem Anna wie viele andere Einwohner der naheliegenden Wohnhäuser schon seit Sowjetzeiten diätetische Milchprodukte einkaufte. Im Krankenhaus wurde eine so genannte Milchküche eingerichtet, in dem diätetische Produkte für die Patienten des Krankenhauses zubereitet wurden. Als Anna eines Tages feststellte, dass die Küche geschlossen worden war, wandte sie sich an den Chefarzt, mit dem sie schon seit Jahren bekannt war. Aus dem Gespräch wurde klar, dass die Küche wegen des Mangels an finanziellen Mitteln, die einem staatlichen Krankenhaus zur Verfügung stehen, geschlossen worden war. Da kam Anna auf die Idee, die Küche zu übernehmen. Heute ist Anna die Inhaberin einer Küche zur Herstellung von diätischen Milchprodukten. An dem Geschäft sind noch zwei Personen beteiligt: der Chefarzt des Krankenhauses und ein anderer Bekannter. Alle drei haben sich am Startkapital des Unternehmens zu gleichen Teilen beteiligt. „Wenn man gleich sein will, dann muss das Geld schon Dir gehören.“ (Anna) Anna, die über einen Hochschulabschluss mit dem Schwerpunkt Anglistik verfügt, hat sich vor der Eröffnung der Milchküche einige Jahre mit Kleinhandel beschäftigt. Sie lieferte Waren – von Kleidern bis zu Satellitenschüsseln – aus den Arabischen Emiraten nach Taschkent. So hat sie ihren Anteil am Startkapital der Milchküche finanziert. Zudem verfügt sie durch eine mehrjährige Erfahrung im Bankbereich über gute wirtschaftliche Kenntnisse. In dem Betrieb sind drei Fachleute angestellt – zwei Biochemiker und eine Buchhalterin, die alle aus dem Bekanntenkreis angeworben wurden: „Man muss ja nur ein bisschen herumfragen, da findet man alle Leute. Alle haben mal etwas studiert, dann sitzen die meisten jetzt zu Hause oder haben einen Job, wo man nur weinen kann.“ (Anna)

Innerhalb des Betriebes gibt es eine klare Arbeitsteilung. Anna selbst ist für alle wirtschaftlichen und betrieblichen Belange im engeren Sinne zuständig. Der Chefarzt sorgt dafür, dass es zu keinen Schwierigkeiten seitens der Administration des Krankenhauses oder der Gesundheitsbehörde kommt. Der dritte Partner, ein guter Freund von Anna, dessen Verwandter bei der Steuerbehörde arbeitet, ist für die Regelung aller Angelegenheiten mit der Steuerbehörde verantwortlich. Aus dieser Arbeitsteilung wird deutlich, wie auch innerhalb eines Unternehmens jeder seine eigenen adaptiven Ressourcen einbringt und so zum Geschäftserfolg beiträgt. Betrachtet man den privaten Betrieb der ehemals staatlichen Milchküche in gesellschaftlicher Perspektive, so könnte man von einer Variante des ‚Outsourcing‘ sprechen: Die staatliche Einrichtung, die die Leistung selbst nicht mehr erbringen kann, stellt ihre Ressourcen privaten Akteuren zur Verfügung, die ihre eigenen Ressourcen einbringen und so eine Aufrechterhaltung der Produktion ermöglichen. Der Begriff ‚Outsourcing‘ sollte jedoch nicht in dem Sinne verstanden werden, dass es sich um eine Entscheidung des (staatlichen) Betriebs als solchen handelt, etwa um Kosten zu senken. Es handelt sich viel-

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mehr in der Regel um private Aushandlungen zwischen den leitenden Angestellten staatlicher Einrichtungen und Privatpersonen. Das läuft in der Regel nicht über ‚die Bücher‘ und kommt auch nicht oder nur z.T. der staatlichen Einrichtung zugute. Im Beispiel erhält der Chefarzt einen Teil der Einnahmen, nicht das Krankenhaus. Ähnlich verhält es sich im Produktionsbereich, wo auf dem Gelände stillgelegter Kombinate und Fabriken kleine Werkstätten usw. entstehen.4 Ein häufiges Beispiel ist die Organisationsform, bei der eine Frau selbständig eine Tätigkeit betreibt, hierbei aber auf ‚inputs‘ aus staatlichen Betrieben angewiesen ist. Der Zugang wird meistens durch den Ehepartner gewährleistet. In einigen Fällen werden die Ressouren zu Einstandspreisen des staatlichen Betriebs angeboten oder gar umsonst ‚beschafft‘. Hierdurch wird der Frau nicht nur ein Wettbewerbsvorteil verschafft, sondern der bevorzugte Zugang zu wichtigen Ressourcen ermöglicht überhaupt erst die Ausübung der wirtschaftlichen Tätigkeit. Matljuba (39), Schneiderin von Beruf, verkauft selbstgefertigte Kleider. Ihr Mann, der früher in einem staatlichen Textilkombinat tätig war, hat vor einigen Jahren eine eigene Firma gegründet, die sich mit dem Vertrieb von Textilien beschäftigt. In dieser Position hat er weiterhin Zugriff auf Ressourcen des Kombinats. Durch ihren Mann hat Matljuba kostenfrei vier alte, vom staatlichen Kombinat bereits abgeschriebene Nähmaschinen erhalten und zu Hause ein Schneideratelier eingerichtet, in dem sie vier Lohnarbeiterinnen beschäftigt. Da ihr Mann die Stoffe für sie zu Einstandspreisen des Kombinats liefert, kann sie trotz der Lohnausgaben – 70–80 Sum pro Kleid – auf dem Markt immer noch zu den niedrigsten Preisen anbieten: durchschnittlich 700 Sum (der mittlere Preis für ein ähnliches Kleid auf demselben Markt beträgt ca. 2 000 Sum). Da das Geschäft gut läuft, plant Matljuba, einen Laden auf dem Marktgelände zu errichten, damit sie auch im Winter Handel betreiben kann. Dafür möchte sie einen Bankkredit aufnehmen, wobei sich ihr Mann um die Formalitäten wie Antragstellung, Eröffnung eines Bankkontos und Verhandlungen mit der Marktverwaltung kümmern wird. Matljuba begründet eine solche Aufgabenteilung: „Er kennt sich da aus und muss sowieso für seine Firma ständig etwas in den Behörden erledigen.“ Ein weiteres Beispiel stellt der für die Produzentin in finanzieller Hinsicht ‚kostenlose‘ Nutzen von staatlichen Ressourcen dar. Džamilja, 47, ist seit 22 Jahren als Lehrerin tätig. Nicht wegen des Geldes, sagt sie, geht sie heute noch arbeiten, sondern wegen des Kontakts zu den Kolleginnen. Denn das 04 Zudem ist zu betonen, dass diejenigen staatlichen Einrichtungen, die über Geld verfügen (z.B. Ministerien, Nationalbank usw.) eher die umgekehrte Strategie verfolgen: Sie bauen und betreiben eigene Sportstätten, Restaurants, Ski-Resorts, Beratungsfirmen usw., um zusätzliche Einnahmen zu generieren (die vermutlich teilweise privat angeeignet werden). Es handelt sich also nicht um die Auslagerung von Produktionsaufgaben an Private, sondern umgekehrt um die Integration von eigentlich fremden Aufgaben.

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Geld verdient Džamilja mit dem Zitronenanbau, den sie seit 6 Jahren in ihrem Garten betreibt. Das Geschäft ist sehr kostenintensiv. Die größten Ausgabenpositionen sind dabei die Plastikfolie zum Abdecken und Diesel für die Heizung. Das hätte sich nach Džamiljas Worten kaum gelohnt, wenn ihr Mann nicht bei einer Fabrik angestellt wäre, in der unter anderem auch die Plastikfolie produziert wird, die er von dort mitbringt. Auch Diesel besorgt der Mann, so dass Džamilja nicht weiß, was er tatsächlich kostet. Ihre erste Ernte wollte Džamilja mit ihrem Sohn nach Kasachstan bringen, wo die Saison später beginnt und die Preise höher sind. Jedoch war ihr Mann gegen die Reise, die ihm viel zu riskant erschien – eine Lehrerin werde da nicht zurechtkommen. Also ging sie mit einer Kiste Zitronen zu einem großen Basar und wollte ihre Zitronen verkaufen. Da wurde sie von einer Kasachin angesprochen. Seitdem werden die Zitronen von den Kasachinnen gleich zu Hause abgekauft und nach Kasachstan exportiert. Zusammenfassend für diesen Typ lässt sich festhalten: Die Nutzung von Ressourcen staatlicher Betriebe bildet eine entscheidende Grundlage für die marktorientierte Produktion von Frauen. Der bevorzuge Zugriff auf diese Ressourcen wird häufig durch einen Arbeitsplatz des Ehemannes im formellen Sektor sichergestellt. In anderen Arrangements wird diese Beschaffungsfunktion von Partnern wahrgenommen. Einbettung in die Machalla Die Machalla ist ein Ort der Öffentlichkeit und zugleich ein geschlossener Ort innerhalb bestimmter geographischer oder sozialer Grenzen. Die Machalla kann dabei durch geographische Grenzen, wie etwa durch einen Bach, bauliche Grenzen wie (Haupt-)Straßen oder durch eine Festlegung durch eine hohe administrative Stelle abgegrenzt werden. Als soziale Institution, die die nachbarschaftliche Organisation eines Wohnviertels verkörpert, bietet die Machalla Möglichkeiten für einkommensgenerierende Tätigkeiten. Formell ist die Machalla die der Familie übergeordnete, kleinste administrative soziale Einheit im Staatsgebilde.5 Bedeutender sind die traditionellen Strukturen und Einheiten der usbekischen Machalla, die nur zum Teil formalisiert sind. Neben den Haushalten sind die Orte der Kommunikation wie Teehaus, Machallamoschee, Geschäft oder Basar die wichtigsten strukturellen Einheiten der Machalla. Die Akkumulationsmodi in diesem Bereich basieren auf zwei Arten von Ressourcen – Zugang zu Land und Kontinuität der sozialen Praktiken in der Machalla. Gerade in der Stadt, wo der Platz knapp ist, stellt ein Privatgrundstück, über das jeder Haushalt in der Machalla verfügt, eine potentielle 05 Nach Coudouel/Marnie/Micklewright (1999: 6) bestehen in Usbekistan 12 000 Machallas mit jeweils 150 bis 1500 Haushalten. Hierein eingeschlossen sind jedoch auch ‚neue‘ Machallas in Plattenbauten sowie alle Nationalitäten einschließlich Russen, Koreaner usw.

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physische Grundlage für eine Produktion dar. Anbau von Obst und Gemüse oder Verkauf von Snacks vor den Türen des eigenen Hauses sind nur einige Beispiele dafür. Die Machalla bildete auch in Sowjetzeiten die Grundlage für die Aufrechterhaltung des Kleinhandels, der auf den lokalen Marktplätzen oder direkt vor der Haustür betrieben wurde (siehe dazu Kapitel 2). In der Transformationszeit nahm diese Praxis zu. Die neuen Akteure, die früher z.B. im staatlichen Sektor tätig waren, bedienen sich der schon etablierten Handlungsmuster, um den Einstieg in die Strukturen des lokalen Kleinhandels zu bewältigen. Die Machalla ist nicht zuletzt ein System des Informationsaustauschs. Damit stellt sie einerseits ein zuverlässiges Netz der sozialen Sicherung dar, andererseits beruht sie auf der Kontrolle ihrer Mitglieder. Allerdings gibt es auch hier Veränderungen, wie auch aus der Bemerkung einer MachallaEinwohnerin deutlich wird: „Heutzutage spricht man nicht viel miteinander, nur auf der Straße grüßt man sich. Vielleicht ist es, weil die Zeiten so sind, dass jeder an sich und seine Familie denken muss“ (Sajora, 42). So ist klar festzuhalten, dass die Ausübung und Organisation der marktorientierten Tätigkeit auf einer individuellen Entscheidung beruht, also Privatsache bleibt. Die Machalla nimmt nur im Rahmen ihres allgemeinen normativen Rahmens Einfluss auf diese Tätigkeit. Es ist auch keineswegs ausgeschlossen, dass innerhalb der Machalla Konkurrenzverhältnisse existieren. Dennoch sind die Nachbarn meistens gut über die marktorientierten Tätigkeiten, aber auch über Lebensbereiche der anderen informiert. Diese Informationen werden beim Aufbau der eigenen Tätigkeit berücksichtigt. Darüber hinaus werden Nachbarn als Kreditgeber und Lohnarbeiter in die Tätigkeit involviert. Das allgemeine Wohlstandsniveau der Machalla bildet eines der Kriterien für die Organisation der Vermarktung von Produkten und Dienstleistungen. So sieht Zoja, 36, die sich mit Tortenbacken beschäftigt, in ihren Nachbarn keine Kunden, was am niedrigeren materiellen Wohlstand ihrer Nachbarn liegt: „Ich denke, sie können es sich hier einfach nicht leisten. Denn hier leben alle von ihrem festen Gehalt, da kann man nicht besonders oft Torten essen“. Also vermarktet sie die Torten in der Machalla ihrer Schwester: „Da ist so ein Viertel, da haben die Leute einfach mehr Geld. Und versuchen auch, etwas zu machen, um besser zu leben“. Die Tätigkeiten werden mit dem Ziel aufgebaut, möglichst mehr ‚externe‘ Kunden zu erreichen. Denn die meisten angebotenen Produkte und Dienstleistungen gehören zu dem Subsistenzbereich und werden auch von den Nachbarn produziert. Es lassen sich klare geschlechtsspezifische Handlungsmuster nachweisen. Die von Frauen betriebenen Tätigkeiten werden oft mit minimalen finanziellen Mitteln gestartet. Tašbu, 59, hat vor zwölf Jahren ihren Job als Pförtnerin in einer Schule aufgegeben und mit dem Verkauf von Airan, einem Milchgetränk, angefangen. Auf der Straße neben ihrem Haus stellte sie einen Tisch auf und bot das selbstangefertigte Getränk an. Mit der Zeit erweiterte sich das Sortiment auf warme Speisen, es wurden Sitzplätze eingerichtet. Das Haus wurde ausgebaut, so dass man heute bis zu 100 Gäste gleichzeitig emp-

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fangen kann. Aber es kommen selten so viele, denn ihre Stammkunden sind entweder Einheimische, die genügend Geld haben, um nicht zu Hause zu Mittag zu essen, oder Durchreisende: „Große Feste werden hier nicht gefeiert, denn hier haben alle einen Hof, nicht wie in der Stadt, wo es keinen Platz gibt.“ Sie würde gern auch einen Laden neben dem Haus errichten, sagt sie, kennt sich aber im Handel nicht aus, weiß nicht, womit man anfangen soll. Vordergründig betrachtet, sind es Formalitäten, die man zum Einstieg in den Handel, wie auch in andere Geschäfte, erfüllen muss. Diese können aber von jedem erfüllt werden. Wichtiger sind die informellen Barrieren, die den Einstieg in das Händlermilieu regeln. Am Beispiel eines Basars können diese Barrieren deutlich gemacht werden. Der Yangi-Abad-Basar liegt am Rande der Staat an einer Ausfallstraße. Der Basar wird fast ausschließlich von Frauen besetzt, die frisches Obst und Gemüse, Kräuter, Kleinartikel und fertige Mahlzeiten anbieten. Erst seit einigen Jahren sind auf dem Basar auch einige Stände mit alkoholischen Getränken vorhanden, die von jungen Männern betrieben werden. Alle Frauen wohnen in der Machalla, zu der der Basar gehört. Eine von ihnen, Gulja, 40, war früher als Lehrerin in einer Musikschule tätig. Nach der Heirat ist sie in das Haus der Eltern ihres Mannes eingezogen. Als sie noch keine Kinder hatte, hat sie ihrer Schwiegermutter beim Handel geholfen: „Ja, ich habe alles geschafft. Um vier Uhr morgens bin ich aufgestanden, habe alles im Haus gemacht. Dann bin ich auf den Basar, zu Mittagessen nach Hause – und habe da alles gemacht und dann wieder auf den Basar […].“

In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass die räumliche Nähe zwischen Basar und Wohnort eine unabdingbare Ressource für diese Tätigkeit darstellt. Als die Kinder groß genug für den Kindergarten waren, hat sie ihren Beruf wieder aufgenommen. Nachdem das Gehalt nicht mehr ausreichte und ihre Schwiegermutter gestorben war, hat sie deren Platz als Kräuterhändlerin übernommen. Dass auf dem Markt überwiegend ältere Frauen handeln, weiß Adolat, 67, zu erklären: „Es gibt doch Schwiegertöchter, die zu Hause arbeiten. Und wir sind hier […]. Ich habe das auch selbst durchgemacht“. Sie selbst handelt mit fertigen Gerichten, die von ihren Schwiegertöchtern zu Hause zubereitet und je nach Bedarf angeliefert werden. Zwischen dem Basar und den Wohnhäusern gibt es eine ständige Verbindung, denn immer geht jemand hin und her. Auf solche Weise werden die Informationen ausgetauscht. Der Mann von Adolat ist pensioniert, wie auch sie. Er habe aber keinen Bezug zu ihrer Tätigkeit, denn: „Was soll er hier mit uns Frauen? Männer gehören in die ChoyChona [Teehaus].“ Der kleine Basar wird von den Frauen als ihr Platz gesehen, der für die ernsthaften Händler zu unbedeutend erscheint, weil der Kundenstrom hier nicht stark ist. Die Kundschaft besteht hauptsächlich aus Durchreisenden und Pendlern, so dass der Handel bis spät in die Nacht betrieben wird. Als älteste Frau genießt Adolat besonderen Respekt unter den Händlerinnen und sorgt für

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Ordnung auf dem Basar. Die erfolgreiche Übertragung von Sozialstrukturen der Machalla (oder: traditionellen Sozialstrukturen) auf die wirtschaftliche Tätigkeit befriedigt so den Selbstregulierungsbedarf der Händlerinnen, wie auch Akiner (1997: 278) beobachtet: „The senior woman of the community would act as counsellor and arbitrator“. Wie eingangs angedeutet, ist die Machalla im hier angesprochenen Sinne weitestgehend auf Usbeken beschränkt. Insofern gibt es hier also auch ein ethnisch definiertes Ausschlusskriterium für die Möglichkeit zu dieser Organisationsform, die auf der vorhandenen Einbettung in die Gemeinschaft der Machalla beruht. Andere ethnische Barrieren finden sich in einigen speziellen Sektoren, die traditionell von bestimmten Nationalitäten besetzt sind – so ist z.B. der Zwiebelanbau traditionell koreanisch dominiert. Innerhalb der jeweilige Ethnie sind dann natürlich wieder andere Faktoren für die Markteintrittsmöglichkeiten entscheidend, vor allem die Familienzugehörigkeit. Transnationaler Kleinhandel Der transnationale Kleinhandel (shuttle trade) wird gekennzeichnet durch die räumliche Zirkulation von Personen, Waren und Geld zwischen bestimmten Regionen mit dem Ziel, Konsumgüter zu liefern und zu verkaufen (vgl. Wallace 1997). Die Händler pendeln dabei zwischen ihrem Wohnort und einem bestimmten Ver- bzw Einkaufsort. Zu Beginn der 1990er Jahre begünstigte die rechtliche Situation in bestimmten Pufferstaaten, insbesondere Polen, diese als Treffpunkt für Händler und Zwischenhändler, Lieferanten und Verteiler aus verschiedenen Regionen wie z.B. Russland, Usbekistan und der Türkei. Durch die Lage und die besondere visa- und zollrechtlichen Gegebenheiten z.B. in Polen, aber auch in Ungarn und Tschechien, wurde eine Öffnung des Kleinhandels auch in westliche Länder hinein möglich. Auf diese Weise gelangten westliche Konsumgüter in den Warenumlauf des osteuropäisch-asiatischen Kleinhandels. Heute erstreckt sich der transnationale Kleinhandel über Länder der ehemaligen Sowjetunion, Staaten des ehemaligen Rates für Gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), angrenzende Staaten wie die Türkei, Iran und China bis hin zu entfernteren asiatischen Gebieten wie Malaysia und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Mobilität, also die Fähigkeit und Bereitschaft, sich über größere Entfernungen zu bewegen, ist die erste Voraussetzung für den Einstieg in den Kleinhandel. Das Vorhandensein dieser Möglichkeit ist somit die entscheidende Ressource der in diesem Bereich Tätigen. Erfahrungen mit Mobilität und sozialen Kontakten großer sozialer und geographischer Reichweite stammen, wenn auch häufig zwangsweise erworben, aus den Praktiken in Sowjetzeiten wie z.B. Hochschulstudium und anschließender Arbeitsplatzzuteilung, Armeedienst oder der Arbeit auf der ‚Großen Baustelle des Sozialismus‘ (Baikal-Amur-Magistrale, Neulandgewinnung in der kasachischen Steppe),

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studentischen Sommerlagern usw. Bei allen diesen Gelegenheiten galt der Internationalismus als eines der wichtigsten Prinzipien der Zusammenarbeit. Die Auswanderungsströme in das nähere (ehemalige Sowjetrepubliken, vor allem Russland) und das ‚weitere‘ Ausland (Europa, Israel, USA) führten zu einer Ausdehnung der Kontakte in weiter entfernte Regionen. So können die aus Usbekistan heraus tätigen Händlerinnen Reisen in diese Regionen über Verwandte, Freunde und Bekannte kostengünstig organisieren. Die Verfügbarkeit sozialen Kapitals, das sowohl Verwandtschaft, langfristige Freundschaften als auch kurzzeitige instrumentelle Bekanntschaften und zweckgerichtete Klientel-Beziehungen einschließt (vgl. Kaiser 1997), ermöglicht den Einstieg in den Kleinhandel. Ein genaues Wissen über die Bedürfnisse der Kunden, die aus demselben sozialen Umfeld stammen, ermöglicht es gerade am Anfang, diejenigen Waren einzukaufen, die derzeit gefragt sind. Das selbständige Betreiben des transnationalen Kleinhandels erfordert ein Startkapital von wenigstens einigen Tausend Dollar. Herkunft und Beschaffung dieses Kapitals bestimmen in erheblichem Maße die Ausübung der Handelstätigkeit. Zur Geschäftsgründung wurden in der Regel eigene Ersparnisse verwendet, und/oder die entsprechenden Beträge wurden von Bekannten oder Verwandten geliehen, die dafür ihre privaten Ersparnisse hergaben. Die Frauen berichten, tendenziell weniger die Hilfe von Geldverleihern in Anspruch zu nehmen, die auf privater Ebene gegen Zinsen Kleinhändlern Kapital verschaffen. Ein offizielles Kreditangebot etwa von Banken gab es zur Zeit der Untersuchung kaum (siehe Kap. 4.3). Fehlt das Startkapital, so üben Frauen häufig eine ‚Realisator‘-Tätigkeit aus. Unter einem ‚Realisator‘ wird eine Person verstanden, die im Auftrag eines Händlers Waren auf Kommissionsbasis verkauft. In der Regel vereinbaren der Händler und der ‚Realisator‘ einen Mindestverkaufspreis, wovon dem ‚Realisator‘ ein bestimmter Prozentsatz – zum Beispiel 10 % – zusteht. Für die Organisation der Arbeit, wie z.B. Standmiete, Steuern usw. ist der Händler verantwortlich. Dadurch wird nicht nur der langsame Aufbau eigenen Kapitals für eine selbständige Tätigkeit möglich, sondern auch der Einstieg in das Händlermilieu erleichtert. Wenn die Frau dann genügend Kapital angesammelt hat, um auf eigene Rechnung Handel zu treiben, hat sie schon die nötigen Erfahrungen und Netzwerke aufgebaut. „Mein Startkapital war gleich Null. So habe ich als Realisator angefangen. Mit der Zeit fing ich an, auch für mich Waren zu bestellen, lernte meine Standnachbarn kennen […]“ (Šachida, 42). Bei der Betrachtung der Kleinhändlermärkte stellt sich der Eindruck ein, als werde dieses Geschäft überwiegend von Frauen im Alter von 30–50 Jahren und jüngeren Männern betrieben (vgl. Kaiser 2003). Hierbei ist allerdings zu beachten, dass längst nicht mehr alle Händler selbst auf dem Markt präsent sind und ihre dort selbst Waren verkaufen. Im Gegenteil handelt es sich bei den Verkäufern überwiegend um ‚Realisatoren‘ oder sogar vollkommen abhängig Beschäftigte. Die Präsenz auf den Märkten ist damit für viele nur ein erster Karriereschritt. Es sei allerdings darauf verwiesen, dass der Aufbau eines eigenen Kapitals – und damit der Schritt vom ‚Realisator‘ zum Händler –

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schwierig ist und dass keineswegs alle ‚Realisatoren‘ diese Möglichkeit haben. Der internationale Kleinhandel hat in den vergangenen Jahren eine sehr dynamische Entwicklung genommen. Über die Verfolgung von typischen Karrieren der Kleinhändlerinnen kann die geschlechtspezifische Strukturierung dieses dynamischen Feldes erfasst werden. In den ersten Jahren überwogen noch die autonom agierenden Händlerinnen, die allein und mit beschränktem Kapital reisten. Die eingekauften Waren wurden persönlich mit zurückgebracht – und beschränkten sich demzufolge auf das, was eine Person tragen konnte. Dabei wurde jedoch schnell ersichtlich, dass diese Art des Handels risikoreich ist, und dass Frauen oft auf die Hilfe von Männern angewiesen sind. So berichtet Lena, 43, die sich seit 1992 mit internationalem Handel beschäftigt, dass sie eine Zeit lang zusammen mit ihren Mann gereist ist: „Als er [der Ehemann] meine blaue Flecken gesehen hat, die ich von meiner ersten Reise vom Taschentragen mitgebracht habe, sagte er, es darf nicht so weiter gehen. Und so hat er mich immer, wenn er konnte, nach Alma-Ata begleitet.“

In diesem Zusammenhang ist aber auch zu beachten, dass Frauen in einigen Aspekten des Kleinhandels Vorteile gegenüber den Männern haben. So wird allgemein davon ausgegangen, dass Frauen von Polizei, Zoll, Grenzbeamten usw. weniger hart behandelt werden und es somit leichter haben. In einem nächsten Schritt schließen sich mehrere Händlerinnen zu Gruppen zusammen. Die Gruppenbildung erfolgt meistens aufgrund von Bekanntschaften auf dem (Verkaufs-)Markt. Die Gruppen reisen dann gemeinsam per Bus zu den Einkaufsmärkten. Transport und Bewachung der Waren erfolgen gemeinsam, der Ein- und Verkauf aber weiterhin individuell. In dem Maße, wie Kenntnisse und Kapital wachsen, kommt es zu einer weiteren Arbeitsteilung, bzw. zum Einkauf von Dienstleistungen. So begleiten viele Händlerinnen heute nicht mehr persönlich den Transport der Waren, sondern verschicken sie per Luftfracht oder über (formelle oder informelle) Transportunternehmer. In noch weiter entwickelten Netzwerken ist auch keine persönliche Reise der Händlerin zum Wareneinkauf mehr erforderlich, sondern dieser erfolgt über Geschäftspartner oder Mittelsmänner. Darüber hinaus hat sich eine ganze Infrastruktur um den Kleinhandel herum entwickelt. Von der Regelung von Visaangelegenheiten bis hin zum Warentransport bieten spezialisierte Reisebüros ein ganzes Spektrum von Dienstleistungen an. Die Inanspruchnahme dieser Dienstleistungen wird kalkuliert und hängt mit der Höhe des Kapitals zusammen. Das Gleiche gilt für die Delegation des Verkaufs an ‚Realisatoren‘ oder abhängig beschäftigte Verkäufer. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Kleinhandel in den letzten Jahren stark an Komplexität zugenommen hat. Dies kann man auch als Prozess des ‚Upgrading‘ bezeichnen. Dementsprechend schwieriger wird es, die Kontrolle über alle Bereiche der Tätigkeit auszuüben: Fuhr die Frau vor einigen Jahren noch allein ins Nachbarland, so nimmt sie heute vielleicht die

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Dienste eines Fuhrunternehmers in Anspruch, beschäftigt drei ‚Realisatoren‘ auf zwei Märkten und kommuniziert mit einem Einkäufer in der Türkei. Neben solchen Karrieren, die typisch für das Kleinhändlermilieu sind, werden von Frauen Organisationsformen betrieben, die – geographisch und/oder organisatorisch – weit vom Mainstream des transnationalen Handels entfernt liegen. Für die Organisation dieser Tätigkeit sind wiederum die persönlichen Netzwerke von entscheidender Bedeutung. So bauen viele Frauen ihre Geschäftskontakte auf Verwandtschaftsbasis auf; Kosmetika, Kleidung und Schuhe aus Europa oder Israel werden durch die in diese Länder ausgewanderten Verwandten bestellt. Da die Auswanderer aus Usbekistan überwiegend europäischen Nationalitäten angehören, führt dies auch zu einer ethnischen Segmentierung der Verkaufsmärkte. Ein anderes Beispiel für Arbeitsteilung und die Einbettung des Handels in größere Zusammenhänge ist die Art, in der viele junge usbekische Frauen internationalen Handel betreiben: Sie schließen sich zu Gruppen zusammen und reisen unter der Patronage einer älteren Frau, meistens einer Verwandten eines Gruppenmitglieds, z.B. in die Vereinigten Arabischen Emirate. Sie kommen aus eher wohlhabenden Familien der städtischen Intelligenz und sind meistens Studentinnen mit Fremdsprachenkenntnissen. Diese Art der Organisation der Tätigkeit wird von den Verwandten geduldet, denn die ältere Frau trägt die Verantwortung für die Sicherheit (und das einwandfreie Verhalten) der Reisenden. Allerdings befindet sich die eigentliche ‚geschäftliche‘ Seite der Reise außerhalb des Verantwortungsbereichs der Leiterin, d.h. die Studentinnen handeln auf eigene Rechnung. Parallelmarkt Vor allem in den Bereichen Handel und Dienstleistungen bilden sich so genannte Parallelmärkte. Diese werden charakterisiert durch einen sehr geringen Organisationsgrad, das Fehlen jeglicher staatlicher Regulierung und eine starke Zersplitterung mit entsprechend geringer Transparenz. Die Regeln des Austauschs werden dabei weitestgehend individuell abgestimmt. Solche Parallelmärkte gibt es in vielen Bereichen: So besteht auf dem Bildungsmarkt neben Schulen und anderen öffentlichen Einrichtungen sowie privaten Institutionen, die die verschiedensten Kurse anbieten, ein breites Angebot an privaten Nachhilfestunden, die häufig im Zusammenhang mit den erstgenannten, ‚offiziellen‘ Angeboten stehen. Dieser Zusammenhang gilt sowohl für die Anbieter – Lehrer und Dozenten – als auch für die Lernenden, die im Rahmen des offiziellen Bildungssystems aufeinander treffen und die privaten Unterrichtsstunden verabreden. Hier wird deutlich, welche Bedeutung der Verbleib im formellen Sektor, z.B. als Lehrerin, haben kann: Durch den institutionalisierten Kontakt zu Schülern und Kollegen ist es möglich, Nachhilfeschüler zu akquirieren, die dann zur Haupteinnahmequelle werden. Alternative Wege zur Kundengewinnung sind indirekte Kontakte zum offiziellen

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Markt, z.B. über ehemalige Kolleginnen oder auch Zeitungsannoncen. Insgesamt ist aber deutlich feststellbar, dass ein direkter persönlicher oder über persönliche Beziehungen vermittelter Kontakt bei weitem der bedeutendste ‚Vertriebsweg‘ für diesen Parallelmarkt ist (siehe hierzu auch Kap. 4.2). Ähnlich organisiert ist der Parallelmarkt im Gesundheitssektor: Ärzte, Zahnärzte, Krankenschwestern und andere bieten außerhalb ihrer offiziellen Arbeitszeit und außerhalb der offiziellen Einrichtungen informell zusätzliche, gut bezahlte und qualitativ höherwertige Dienste an. Diese Beispiele lassen sich auch für andere Bereiche wie die Kinderbetreuung finden. Dabei geht der Parallelmarkt weit über privates Babysitten als Konkurrenz oder Ergänzung zum Kindergarten hinaus, wie folgendes Beispiel zeigt: Auf ihrer Datscha, ca. 15 km von Taschkent, hat Taja, 50, ein, wie es alle inzwischen nennen, „Pionierlager“ organisiert. Bis zu 15 Kinder im Grundschulalter verbringen dort ihre Sommerferien. Außer guter Verpflegung wird auch für Sport und Wanderungen gesorgt. Dafür ist der Sohn (29) von Taja zuständig. Auf diese Geschäftsidee wurde die frühpensionierte Mitarbeiterin einer Flugzeugfabrik von ihren (Datscha-)Nachbarn gebracht, die auch für die Vermarktung des Lagers unter den Schulkameraden ihrer Söhne sorgten. Wiederum zeigt sich die Bedeutung des Zugangs zum offiziellen Markt für die Organisation eines Parallelmarktes. Die (stillschweigende) Anerkennung des Versagens des öffentlichen Angebots durch die Akteure wird zur Funktionsbedingung des Parallelmarktes. Etwas anders gelagert sind die Parallelmärkte in Sektoren wie Handel, Gastronomie und Körperpflege. Hier liegt der Hauptunterschied zum offiziellen Markt in einem geringeren Grad der Formalität. Die Motive hierfür reichen von Steuervermeidung über bewusste Marktsegmentierung bis zu geringeren Markteintrittsbarrieren. Svetlana, 34, betreibt seit 4 Jahren Zwischenhandel. Sie verkauft alles, was sie beim Großhändler finden kann – meistens Textilien oder Schuhe. Eine Bekannte von ihr hat eine Boutique, und Svetlana ‚hilft‘ dabei, die Waren schneller abzusetzen, als wenn sie im Geschäft ausliegen würden. Die Preise sind dabei niedriger, aber das Geld kommt schneller ins Geschäft zurück. Das kann man in der Boutique nicht machen, denn da muss man das Preisniveau halten. Die Waren werden dann Nachbarn, Verwandten und Freunden angeboten, die ihrerseits ihre Bekannten über die Angebote informieren: „Ich versuche immer, mit allen Leuten Kontakte aufrechterhalten, sogar wenn wir uns auf der Straße sehen. Ich frage sie immer nach ihrer Familie, wie es ihren Kindern oder ihrem Mann geht. Damit ein Kontakt bleibt, ein freundlicher Kontakt, denn sie sind doch alle meine potentiellen Kunden. Und das ist sehr wichtig. Also sage ich auch den Leuten, die für mich arbeiten: ‚Geht nie an jemandem vorbei! Oder nehmt doch euer Telefonbuch, setzt euch hin, und ruft alle an. Sagt, ‚Hallo, wie geht’s? Weißt Du, ich habe hier bei mir das und das, die Qualität ist gut.‘ Und das ist alles – die Leute werden kommen, sich die Sachen anschauen, kaufen. Einer wird Dich dann den anderen empfehlen, die dann weiter. Und so weiter und weiter – das Netz wird sich ausdehnen.‘ Netzmarketing heißt das übrigens.“ (Svetlana, 34)

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Heutzutage beschäftigt Svetlana 10 bis 30 Personen. Es sind ehemalige Kollegen oder Nachbarn, die nach Svetlanas Worten nichts außer ihrem Pessimismus hatten. Im folgenden Abschnitt wird dargestellt, wie ein neuer ‚Realisator‘ angeworben wird: I.: Wie kommst Du in Kontakt mit Deinen potentiellen Realisatoren? R.: „Wie auch immer. Angenommen, ich werde von jemandem auf der Straße angesprochen und er sagt: Es geht mir schlecht. – Und wer ist denn daran schuld, dass Du kein Geld hast? Herumsitzen und weinen hilft nicht. Geh’ Pfannkuchen backen und verkaufe die, verkaufe Tee auf dem Basar! Ist das etwa ein Problem?! – Ich kann nicht backen! – Kannst Du nicht? Dann komm zu mir, ich gebe Dir Waren zur Realisation. – Und ich habe kein Geld. – Ich gebe es Dir ohne Geld. – Und meine Würde, mein Stolz? – Dann bleibe ohne Geld sitzen! Und sie kommen zu mir, nehmen die Waren und kümmern sich dann schon selbst, wo sie verkaufen können. Das ist dann schon ihr Problem.“ (Svetlana, 34)

Aus Sicht der Ladenbesitzerin bietet der Parallelmarkt also die Möglichkeit, den Umsatz zu erhöhen, ohne das Preisniveau im Laden zu senken. Aus Svetlanas Sicht dagegen bietet der Parallelmarkt die Möglichkeit, ohne fixe Kosten für ein Geschäft oder einen Marktstand Handel zu treiben. Sie ist nicht auf Geschäftszeiten angewiesen und somit zeitlich und örtlich ungebunden. Die Vermeidung von Steuern und Abgaben spielt für beide eine Rolle. Für andere Teilnehmer am Parallelmarkt spielen vor allem die geringen Investitionskosten eine Rolle: Durch die Ausnutzung der konkreten Familiensituation, Fertigkeiten und Geräte ist die Aufnahme einer wirtschaftlichen Tätigkeit praktisch ohne Startkapital möglich. „Ich würde gern fertige Kleider verkaufen, aber dafür braucht man viel mehr Geld. Denn man kann auf dem Markt nicht mit einem Kleid Handel betreiben. Es sollten schon etwa 20 sein. Und was, wenn ich sie nicht schnell verkaufe? Wovon soll ich solange leben?“ (Galija, 35, Schneiderin)

Dabei spielen Vermarktungsstrategien eine entscheidende Rolle, z.B. geht man während der Geschäftszeiten in Büros und bietet seine Dienstleistungen an. So berichtet Vera, 40, die fertige Mahlzeiten anbietet: R.: „Ich gehe ungefähr um 11 Uhr 30 los. Und so von zu Hause bis zur Metro, also die ganze Straße entlang und in alle Einrichtungen gehe ich rein […]. Also erst kommt die Sparkasse und irgend ein komischer Verein daneben, dann die Apotheke und der Optiker. Dann kommen Kommunalverwaltung, dann Lebensmittelgeschäft, Schneiderei, Friseursalon, Schuster, Videoverleih. Dann gehe ich auf die andere Straßenseite zur Kinderpoliklinik und dem Sportwarengeschäft. Weiter zurück zum Sayehat [Hotel] und wieder auf die andere Straßenseite zu den ganzen Geschäften, die bis zur Metro gehen.“ I.: Und die Schule, neben dem Hotel? R.: „Nein, da gehe ich nicht hin und weiter zum Krankenhaus auch nicht. Sie haben da eine eigene Küche, was soll ich da?“

Vera ist zufrieden mit ihrem Einkommen aus dem Verkauf von Pfannkuchen und Teigtaschen, sonst würde sie ins Zentrum fahren, wo es mehr Firmen und Büros gibt. Aber ‚ihre Straße‘ ist ihr vertraut, da kann sie andere Sachen ne-

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benbei erledigen und hat keine Ausgaben für den Transport. Der Schritt in einen offizielleren Markt – z.B. die Eröffnung eines Standes auf einem Basar – wäre nicht nur mit Investitionskosten verbunden, sondern würde auch zu einer Veränderung der gesamten Produktionsweise führen. Ein weiterer Grund für die Konzentration auf den Parallelmarkt sind andere Eintrittsbarrieren wie ein informell regulierter Zugang zu bestimmten Märkten. So berichtet Gala, 34, Tatarin, Konditorin, die Backwaren auf Bestellung anfertigt: „Ein Freund von meinem Vater hat ein Restaurant und ich sagte zu ihm [Vater], er könnte mal fragen, ob ich nicht für das Restaurant Kuchen backen könnte. Und der Freund sagte, ja, es wäre nicht schlecht und er werde an mich denken, falls er mich mal braucht. Aber ich weiß doch, warum es nicht klappte. Die sind ja Armenier, also gibt es bestimmt eine armenische Tante, die schon für ihn backt.“

Aus den Beispielen wird deutlich, dass der Parallelmarkt sowohl ein Ausweg sein kann, wenn der Zugang zu formalisierteren Märkten versperrt ist, als auch ein freiwillig gewähltes Segment. Neben den genannten finanziellen Gründen spielen hierbei auch die größere Flexibilität und Unabhängigkeit eine große Rolle. Insbesondere eine möglichst geringe Verbindung mit irgendwelchen staatlichen Stellen wird als Vorteil wahrgenommen: „Wenn man in seiner Hosentasche das lebendige Geld spürt, das umgesetzt wurde, und damit an einem Tag die Hälfte von seinem Monatslohn verdient hat, dann entscheidet man für sich: ‚Zum Teufel mit diesem Staat! Ich bleibe lieber zu Hause sitzen und verdiene das Geld auf solche Weise.‘ Genau so wie ich es damals begriffen habe.“ (Svetlana, 34, Zwischenhändlerin)

3.3 Zusammenfassung: Akkumulationsmodi als Ausdruck der geschlechtsspezifischen Marktordnung Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich unter den wirtschaftlich tätigen Frauen verschiedene – einander nicht ausschließende – typische Akkumulationsmodi herausgebildet haben, die sich vor allem durch die adaptiven Ressourcen unterscheiden, die bestimmend für die Organisation der Tätigkeit sind. Unterscheidungskriterium ist also weder die rechtliche Organisationsform noch das Produkt oder die Orte der Produktion und des Absatzes. So finden sich z.B. auf den Basaren Vertreterinnen aller vier beschriebenen Typen. Am Beispiel von Textilien wird dies deutlich: wenn zweimal in der Woche die Händler aus den Gebieten kommen, wird auf dem größten Markt des Landes, dem Ippodrom, bis Mitternacht verkauft. Dabei werden nebeneinander Importwaren aus dem transnationalen Handel, Kleider aus Werkstätten in Taschkent und solche von individuellen Schneiderinnen angeboten. Sowohl die Wahl der Sektoren für die Tätigkeit als auch die Möglichkeiten, eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit aufzunehmen, sind geschlechtsspezifisch bestimmt. Wenn der Markt als Zusammenhang von drei

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analytisch getrennten Systemen – trade, traders und trading – verstanden wird (vgl. Alexander 1994: 6), werden in jedem System die geschlechtsspezifischen Unterschiede deutlich, wobei sich die Anwendung des Ansatzes nicht auf den Handel beschränkt. Die Unterschiede im trade, also in Ort und Art der angebotenen Produkte, wurden bereits angesprochen. Frauen orientieren sich auf konkrete Dienstleistungen für konkrete Menschen und wählen den Dienstleistungssektor. Gegenwärtig sind die Frauen in den Städten Usbekistans in folgenden informellen Tätigkeiten am stärksten vertreten: Kleinhandel, traditionelles Gewerbe, Dienstleistungssektor (Schneidern, Putzen, Waschen, Babysitting, Nachhilfeunterricht, Konditorei). Insgesamt werden also die Dienstleistungen in den Bereichen Leicht- und Nahrungsindustrie informell von Frauen betrieben, die schon immer von Frauen und eher informell erbracht wurden. In Bezug auf traders, also die Typen und Karrieren der Akteure sowie ihre sozialen Netzwerke, lässt sich festhalten, dass Frauen ihre Tätigkeit in der Regel mit wenig Startkapital beginnen und dass es sich häufig um einen tatsächlichen Neuanfang handelt.6 Hiermit einher gehen eine größere Flexibilität und eine größere Bereitschaft, die Tätigkeit umzudefinieren oder auch den finanziellen Erfolg hintanzustellen. Dies wird am Beispiel von Matljuba deutlich, die plante, einen Bankkredit über 1 Mio. Sum aufzunehmen, um ein festes Geschäft zu bauen. Als jedoch die Schwiegermutter erkrankte, musste die Frau einige Monate zu Hause verbringen und ihre geschäftlichen Tätigkeiten reduzieren, so dass sie auf den Kredit vorerst verzichten musste. In diesem Zusammenhang wird schon deutlich, dass es bei der wirtschaftlichen Tätigkeit nicht allein um den finanziellen Erfolg, sondern auch um die erfolgreiche Einbettung in die gesamte Lebenswelt der Frauen geht. Die hierbei verfolgten Ziele und Strategien zu analysieren, wird Inhalt des 4. Kapitels sein. Für den Bereich des trading, also die Art der Informationsgewinnung und -weitergabe zur Organisation der Tätigkeit, wurde die große Bedeutung sozialer Netzwerke herausgearbeitet, deren Grundlage häufig nicht ein gemeinsames wirtschaftliches Interesse, sondern eine Form der Loyalität ist, die einer Verwandtschafts- oder Freundschaftsbeziehung oder einer Gemeinsamkeit in Bezug auf Lebenssituation, Beruf, Nationalität oder Wohnort entspringt.

06 Wie gesehen, waren die meisten dieser Neu-Unternehmerinnen zuvor im staatlichen bzw. formellen Sektor tätig. Hierin wird ein wichtiger Aspekt der Transformation deutlich, der schon in Kapitel 2 anklang: Der Zusammenbruch des sowjetischen Systems, hier insbesondere der zentral geplanten Wirtschaft, führt zur Abnahme der Formalisierung und Arbeitsteilung. Die für viele Entwicklungstheorien grundlegende Annahme einer durch die Marktwirtschaft zunehmenden Bedeutung von Erwerbsarbeit und Arbeitsteilung trifft für Usbekistan und die anderen ehemals sozialistischen Länder bislang nicht zu (vgl. Kap. 6).

4 PRODUKTIONSPROZESSE IN IHRER GESELLSCHAFTLICHEN EINBETTUNG In diesem Kapitel wird der Aufbau der Produktionsprozesse in ihrer gesellschaftlichen Einbettung betrachtet, wobei der Ablauf der Aktivitäten in zwei räumlich verschiedenen sozialen Sphären – herkömmlicherweise als öffentliche bzw. private bezeichnet – als Auswirkung des sinnhaften Handelns gesehen wird. Hieraus lässt sich die gesamte Logik der Produktionssysteme herleiten. Aufgrund der Ergebnisse der vorangehenden Kapitel kann die Vereinbarung von Familienpflichten und einkommensgenerierenden Tätigkeiten als strategisches Ziel der Frauen definiert werden. Im Folgenden wird nun die Handlungsrationalität zur Erreichung dieses Ziels dargestellt und untersucht, wie dabei die beiden Teilziele gewichtet werden. Die Rationalität der handelnden Frauen ist dabei eine andere als in einer idealtypisch reinen Subsistenzwirtschaft oder in einer Marktwirtschaft. Die herkömmlichen, dem formellen Sektor entnommenen Abgrenzungen von Lebensbereichen werden häufig nicht der Realität von Frauen gerecht, die im informellen Sektor tätig sind. So ergibt z.B. eine Abgrenzung ‚Unternehmenssphäre/Privatsphäre‘ für eine sowohl in der Subsistenz- als auch in der Marktproduktion tätigen Frau wenig Sinn. Vielmehr ist ihr Leben durch das Handeln im Schnittbereich herkömmlicher institutioneller Bereiche gekennzeichnet. Zu den wichtigen Handlungsparametern gehören hier Sicherheitsüberlegungen, verfügbare Arbeitskraft, Zeitplanung, Arbeitseinsatz pro Fläche bzw. Menge, Produkt oder erzielbarem Marktpreis sowie soziale Arbeitsteilung, soziale Verpflichtungen und Bindungen (vgl. Lachenmann 1990: 120). Bei der Betrachtung des Handlungsraumes darf nicht außer acht gelassen werden, dass für die Akteurinnen die Gestaltung in zwei grundsätzlich verschiedenen Richtungen stattfindet – nach ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Innen sind dabei diejenigen Akteure (Menschen und Institutionen) und – in Interaktion mit diesen – Handlungsfelder, die sich ganz oder weitgehend innerhalb desselben Handlungsraums befinden, für die also ein Großteil des Lebens durch das strategische Handeln der Frau bestimmt wird und umgekehrt. Gleichzeitig steht die Beziehung zu diesen Akteuren für das strategische Handeln nicht zur Disposition; sie stehen damit über dem strategischen Ziel bzw. die Beziehung zu ihnen bestimmt das strategische Ziel. ‚Außen‘ sind demgegenüber die Handlungsfelder und Interaktionspartner, deren Gestaltung nur in funktionaler Beziehung zum ‚Innen‘ von Bedeutung ist, nämlich als Helfer, Beschützer, Quellen von Gefahr usw. Interaktionspart-

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ner können hierbei Personen sowie konkrete und abstrakte Institutionen (wie z.B. ‚die Gesellschaft‘, ‚der Staat‘) sein. Damit dient der Begriff des Handlungsraums auch zur Abgrenzung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Es ist offensichtlich, dass die Grenzen zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ anders verlaufen als bei Unternehmen im formellen Sektor, aber auch anders als bei einem ‚normalen‘ Familienhaushalt. Diese Erscheinung wird bei Lachenmann (1997a: 400) als Frauenökonomie bezeichnet: „[…] im Sinne eines eigenen Regeln folgenden Handlungsbereiches, der nicht unter einen (von einem Mann) geleiteten Betrieb oder Haushalt subsumiert werden kann […], jedoch in vielen Bereichen in den Gesamthaushalt und das Produktions- und Betriebssystem integriert ist“.

Der Begriff Frauenökonomie bedeutet in diesem Zusammenhang zum einen, dass Frauen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, dass hier alle Fäden der verschiedenen beobachteten Handlungsfelder zusammenlaufen. Zum anderen drückt er aus, dass die untrennbare Verflechtung von Gewinnstreben und Familienversorgung wesentlich für jede untersuchte Handlung bzw. soziale Beziehung ist. Der Begriff impliziert dagegen nicht, dass keine Männer beteiligt sind. Für analytische Zwecke wird eine Auswahl und Kategorisierung der relevanten Handlungsfelder erfolgen. Dabei dient die eingeführte Unterscheidung der äußeren und inneren Orientierung der Handlungsfelder als Grundlage. Allerdings wird sich zeigen, dass die Grenzen zwischen Innen und Außen nicht nur anders verlaufen als im formellen Sektor, sondern auch häufig fließend sind und mit den definierten Handlungsfeldern nicht unbedingt zusammenfallen. Dennoch erleichtert die vorgenommene Kategorisierung das Verständnis der subjektiv wahrgenommenen Handlungsräume. Im Bereich der ‚inneren Handlungsfelder‘ wird das strategische Handeln der Frauen in Bezug auf Haushaltsangehörige und Produktion, Haushaltsbudget und Produktionsbudget sowie auf Partner im Produktionsprozess näher untersucht. Den Beziehungen zu den Kunden kommt eine besondere Bedeutung als Bindeglied zwischen Innen und Außen zu. Im Bereich der äußeren Handlungsfelder wird das Verhältnis zu Gesellschaft und Staat besprochen, angefangen von der formalen Verwaltungsstruktur der Machalla bis zu Finanzbehörden etc.

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4.1 Gestaltung der Handlungsräume nach ‚Innen‘: Lebenswelten Haushaltsangehörige und Produktion Wahl des Produktionsstandorts Ein großer Teil der informellen unternehmerischen Tätigkeit findet zu Hause statt. Das physische Zusammenlegen von Produktionsprozess und Familienleben führt unter anderem dazu, dass die Familienmitglieder, die denselben Wohnort haben, also die Haushaltsangehörigen, direkt oder indirekt in die Produktionstätigkeit involviert werden. Gleichzeitig ermöglicht die Einbindung des Produktionsprozesses in das Familienleben die Erfüllung der Haushaltspflichten bei gleichzeitiger einkommensgenerierender Tätigkeit. So berichtet Gala (34), die sich als Konditorin betätigt: „Ich bin praktisch die ganze Zeit beim Backen. Meine Schwiegermutter hilft mir sehr. Unsere jüngere Tochter wird komplett von ihr betreut – sie gehen spazieren oder machen etwas zusammen. Sie kocht auch für uns. Ich sage meinem Mann, es sei mir peinlich, dass die alte Frau das alles für uns macht. Er sagte: ‚Störe sie nicht, lass sie das machen, sonst wird sie denken, sie kann nicht mehr nützlich sein.‘ Und ich mag nicht kochen. Mir ist es lieber, drei Torten zu backen als ein Mittagessen. Sonst ist alles meine Sache – Putzen, Waschen. Und mit meiner älteren Tochter beschäftige ich mich selbst. Ich fahre sie zum Englischunterricht. Und die Hausaufgaben macht sie neben mir in der Küche. Mein Mann ist ja die ganze Zeit bei der Arbeit [Fahrer]. Und ohne meine Schwiegermutter hätte ich das alles nicht schaffen können. Auch beim Backen kann sie mir mal helfen oder einfach einen Rat geben. Und sonst, falls ich einmal einen eiligen Auftrag bekomme, aber mich gerade mit Waschen beschäftige, so springt sie für mich ein, und macht die Wäsche zu Ende.“

Dabei wird deutlich, dass beide Bereiche von der engen Verflechtung profitieren. Denn einerseits können die Haushaltspflichten der Frau nur zu Hause erfüllt werden. Andererseits werden zu Hause günstigere Bedingungen für den Produktionsprozess geschaffen, denn Wohnräume werden zu Produktionsräumen, und Haushaltsgeräte werden zu Produktionsmitteln für die einkommensgenerierende Tätigkeit. „Alles, was ich früher zu Hause gemacht habe, mache ich weiter. Wir haben einfach eine neue Erwerbsquelle gefunden, weil ich jetzt auch für andere Leute schneidere und mit meiner alten Nähmaschine Geld verdiene.“ (Larisa, 52)

Auch wenn die Tätigkeit nicht zu Hause stattfindet, haben die Akteurinnen die gleichen strategischen Ziele. Auch bei ihnen ist eine enge Verflechtung der beiden Sphären festzustellen. Dies reicht von der Mitarbeit von Haushaltsangehörigen im Produktionsprozess bis zur sorgfältigen Abstimmung von Rollen und Pflichten innerhalb der Familie. So berichtet Matljuba (39), die einen kleinen Lebensmittel- und Kleinartikelladen besitzt: „Ich mache um 7 Uhr morgens auf und so bis 10 Uhr abends. Es ist wichtig, dass der Laden so lange auf hat. Und zu Hause machen alles meine Töchter. Ich habe ja keine Zeit.“

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Damit ist also schon die Entscheidung über die physische Zusammenlegung von Produktions- und Haushaltsbereich eine Wahlentscheidung und damit Ausdruck strategischen Handelns. Allerdings ist hierbei zu untersuchen, wie groß der Freiheitsgrad bei dieser Entscheidung ist, oder anders ausgedrückt, wie stark einer der beiden Zielbereiche unter einer anderen Entscheidung ‚leiden‘ müsste. Nicht selten wird die außerhäusige Arbeit als Störung gesehen, die man zu bewältigen hat. Nataša, 29, ist geschieden, hat zwei Kinder von 5 und 8 Jahren und verdient ihren Lebensunterhalt, indem sie fertige Mahlzeiten anbietet: „Früher, als ich noch arbeitete [als Putzfrau in Büros], da passten meine Freundinnen auf meine Kinder auf. Ich war oft erst um 9 oder halb 10 Uhr abends mit der Arbeit fertig. So konnte es nicht lange gehen. Da bin ich froh, dass ich jetzt die meiste Zeit zu Hause verbringen kann. Am Wochenende bin ich zu Hause, wenn die Organisationen [Büros] geschlossen haben. Dann an den Werktagen bin ich vormittags zu Hause mit dem Kochen beschäftigt, und mittags gehe ich in Büros, um die Sachen anzubieten. Spätestens um 3 Uhr bin ich schon zu Hause, so dass die Kinder nicht mehr lange auf mich warten müssen.“

Hierbei spielen die individuellen Umstände wie Anzahl und Alter der Familienangehörigen und Art der unternehmerischen Tätigkeit eine große Rolle. „Hier wohnen wir alle, 22 Menschen. Alle meine Söhne mit Frauen und Kindern. Und die Schwester von meinem Mann wohnt auch hier. Sie steht alleine mit 3 Kindern […]. Dann sagte ich, sie kann hier wohnen und auf die Kinder aufpassen. Andere müssen doch arbeiten und sie ist schon alt.“ (Tašbu, 59, Inhaberin einer ČojChona)

Somit wird die Analyse des strategischen Handelns der Frau im Schnittfeld von Haushaltsangehörigen und Produktionsprozess für sich genommen zum wichtigsten Feld der Untersuchung: Hier sind die handelnden Personen für beide Zielbereiche identisch, und hier berührt jede Entscheidung im Hinblick auf ein Ziel automatisch auch das andere. Zudem verbringt die Frau – gerade, wenn der Produktionsprozess zu Hause stattfindet – den überwiegenden Teil ihrer Zeit im Haushalt, so dass allein hierin die große Bedeutung dieses Bereiches deutlich wird. Neben der ausführlichen Darstellung der verschiedenen Handlungsmuster an der Schnittstelle von Haushalts- und Produktionsbereich ist nun zu untersuchen, ob und wie die physische Nähe beider Bereiche gesucht bzw. genutzt wird, um die strategischen Ziele zu verfolgen. Handlungsmuster Ist die Entscheidung über den Produktionsstandort einmal getroffen1, drückt sich das strategische Handeln in den innerhalb dieses Rahmens getrof01 Dies muss nicht implizieren, dass die Wahl des Produktionsstandorts vollkommen bewusst getroffen wird und dass es tatsächlich eine zeitliche Abfolge dieser beiden Ebenen strategischen Handelns gibt.

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fenen Verabredungen über Arbeitsteilung und Rollenverteilung sowie insbesondere im Zeitmanagement aus. Es werden Handlungsmuster ausgearbeitet, die der Rationalität der Handelnden entsprechen. Hierbei kann zwischen ‚Kompromissen‘ und ‚echten Synergien‘2 unterschieden werden: Zunächst gibt es Bereiche und Situationen, in denen beide Ziele die gleiche Handlung nahe legen, in denen also die Verfolgung des einen Ziels die Erreichung des anderen unterstützt. Hier wäre ein Beispiel die o.g. Nutzung von Räumlichkeiten und Geräten für beide Bereiche. Gala, 34, wohnt in einer 2-Zimmer-Wohnung mit ihrem Mann, zwei Kindern und ihrer Schwiegermutter zusammen: I.: Wo haben Sie die für Ihre Tätigkeit nötigen Mittel her? R.: „Alles, was ich brauche, ist meine Küche. Nur wird es da manchmal eng, wenn ich gerade backe und meine Schwiegermutter anfängt zu kochen. Das Problem ist nicht der Herd – ich brauche meistens nur den Ofen. Aber der Platz – 7 Quadratmeter sind ja nicht viel […]. Und sonst habe ich einen Mixer und so Schüsseln, Bleche – Sachen, die jeder in der Küche hat. Was noch... […] der Kühlschrank ist natürlich wichtig, aber das ist doch unser Kühlschrank, ‚Familienkühlschrank‘ sozusagen. Und das Telefon brauche ich unbedingt. Ohne Telefon kriege ich keine Kunden.“

Die Gegenstände oder Räumlichkeiten sind sowohl für den Produktionsprozess als auch für den Haushalt unverzichtbar.3 Die Kosten für die (Wieder-) Anschaffung entstehen daher auf jeden Fall, wobei dies als Familienangelegenheit wahrgenommen wird, auch wenn die Gegenstände, z.B. Nähmaschine, in der Tat fast ausschließlich für die marktorientierte Produktion genutzt werden. Ein weiterer Bereich wesentlicher Synergien ist die Nutzung der Arbeitskraft der Familienmitglieder für die Marktproduktion. Zuchra, 34, bezeichnet das Backen von Brot als ‚ihre Tätigkeit‘. Aus der Beschreibung ihres Arbeitstags wird klar, dass die Beteiligung ihrer Familienmitglieder dabei fest inbegriffen ist:

02 Beide Bezeichnungen wurden aus den Gesprächen mit den Produzentinnen abgeleitet und vermitteln auch ihre Einstellungen gegenüber eigenen Tätigkeiten. Mehr dazu im Kap. 5.1. 03 In diesem Zusammenhang sei noch einmal auf die Besonderheit der postsowjetischen Transformationsgesellschaften verwiesen, dass viele Haushalte über eine – im Vergleich zu Entwicklungsländern – sehr gute Ausstattung mit langlebigen Konsumgütern verfügen. Allerdings ist es wegen des Rückgangs der Realeinkommen fraglich, ob diese nach dem Ende ihrer Nutzungsdauer ersetzt werden können. Hier zeigen sich die Folgen der Rezession also erst mit mehrjähriger Verspätung. Wenn nun durch die Marktproduktion der Ersatz oder die Neuanschaffung solcher Gegenstände erwirtschaftet werden kann, dann ist es – so war die These – möglich, mittels informeller einkommensgenerierender Tätigkeit den gewohnten Lebensstandard zu halten.

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R.: „Ich backe Brot den ganzen Tag. Ich stehe um 5 Uhr auf und mache den Teig. Mein Mann hilft mir dabei manchmal, wenn wir viel Brot backen müssen. Ich habe ja nicht so viel Kraft wie er. Dann geht er zur Arbeit. Wenn meine Kinder aus der Schule zurück sind, dann habe ich schon genug Brot für den Basar. Mein Sohn geht es dann verkaufen […].“ I.: Und die Hausarbeit? R.: „Ich mache alles. Wenn das Brot im Ofen ist, habe ich ja die Hände frei“.

Gleichzeitig lässt sich der Markterfolg – ohne dass dies hier näher untersucht werden kann – wesentlich auf die Einbindung und Mitarbeit von Familienangehörigen zurückführen. Die Vorteile gegenüber einer theoretisch denkbaren Beschäftigung von außenstehenden Angestellten sind dabei vielfältig: Zunächst liegen sie in der Bereitschaft der Familienmitglieder, ohne (direkten) Arbeitslohn mitzuarbeiten, was die Produktionskosten verbilligt. Darüber hinaus verursacht die Mitarbeit von Familienangehörigen wie im Beispiel der Brotbäckerin keinerlei Transaktionskosten: Suchkosten entfallen, die Arbeit ist in beliebiger Menge ‚abrufbar‘ (während bezahlte Boten oder Helfer evtl. stundenweise oder gar tageweise bezahlt werden müssten), und vor allem ermöglicht die Vertrauensbeziehung zu Familienmitgliedern den Verzicht auf Kontrolle und Formalitäten. Gerade bei Tätigkeiten, deren Intensität an verschiedenen Tagen oder jahreszeitlich weniger gleichmäßig ist als die des Brotbackens, entfällt zudem das Beschäftigungsrisiko, und Liquiditätsschwankungen können leichter ausgeglichen werden. Das Beispiel von Džamilja, 47, die vom Blumenzüchten auf Zitronenanbau umgestiegen ist, bestätigt diese Überlegungen: R.: „Früher haben wir uns mit Blumen beschäftigt – haben hier Rosen für den Verkauf gepflanzt. Aber das ist ja sehr viel Arbeit, da muss man wirklich jeden Tag von morgens bis abends arbeiten. Und ich bin noch in der Schule, mein Mann arbeitet auch in der Stadt, die Kinder müssen zur Schule. So, dann hatten wir uns überlegt jemanden anzustellen. Aber das würde ja bedeuten, abgesehen davon, dass man die Leute bezahlt, noch kochen für sie, sehen, dass sie arbeiten und sonst so fremde Leute zu Hause – das wollte ich nicht […]. Mit Zitronen ist es anders. Die heiße Zeit ist bei uns Oktober, wenn sie reif werden. Dann sind wir alle dabei – pflücken und zu den Käufern bringen. Einmal hat mein Mann sogar seine Sekretärin mitbeschäftigt. Wir hatten damals eine sehr gute Ernte und die Käufer meldeten sich noch nicht. Ihtiyar [der Sohn] brachte ein Teil davon zum Basar. Dann kam eines Tages mein Mann mit seiner Sekretärin zu uns, hat sein Auto voll mit Zitronen geladen und sie sind zum Basar gefahren. Da haben sie alles in zwei Stunden verkauft und die war auch zufrieden, hat etwas verdient.“ I.: Wie viel? R.: Er hat ihr für jede Kiste 100 Sum versprochen, also schätze ich mal, sie hat 1 500 Sum (ca. US $ 4) in zwei Stunden eingenommen.“

Nicht zuletzt aber gibt es bei der Mitarbeit von Familienangehörigen weniger Motivations- und Kontrollprobleme, weil die Verantwortungsgemeinschaft im Produktionsprozess und Haushalt die gleiche ist. Auf den Produktionsprozess bezogen heißt dies, dass die Mitarbeiter die gleiche Zielfunktion haben wie die Unternehmerin. Allerdings kann gerade diese Ausdehnung der Verantwortungsgemeinschaft Familie auf den Produktionsbereich auch zu eigenen Prob-

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lemen führen (vgl. hierzu den Abschnitt Partner im Produktionsprozess in diesem Kap.). Neben diesen Synergien gibt es aber Bereiche und Situationen, in denen jedes strategische Ziel für sich unterschiedliche oder entgegengesetzte Handlungen nahe legen würde. Ein häufiges Beispiel ist die notwendige Vereinbarung von Kinderbetreuung und Marktproduktion. Sveta, 32, ist geschieden, wohnt mit ihrer Mutter und Tochter zusammen und ist als Schneiderin tätig: „Ich und meine Mutter, wir haben eine Arbeitsteilung eingeführt. Denn wenn ich nähe, dann vergesse ich alles. Kann zum Beispiel Wasser aufs Feuer stellen, und so kocht es, bis es alles weg ist. Ich muss mich auf die Arbeit konzentrieren. Und meine Mutter, sie kann nicht arbeiten. Also verdiene ich Geld für vier Menschen [sie selbst, ihre Tochter, ihre Mutter und ihre Großmutter] und meine Mutter betreut das Kind und kocht für uns.“

Auch Olga, 37, Friseurin, ist auf die Unterstützung des Umfeldes angewiesen: „Kinderbetreuung ist bei mir eine brennende Frage, und da sehe ich ehrlich gesagt keinen Ausweg. Morgens bringt eine Nachbarin meine Tochter zum Kindergarten, sie hat auch eine kleine Tochter. Mittags fahre ich mit dem Taxi nach Hause und koche das Mittagessen, dann kommt der ältere Sohn aus der Schule nach Hause. Der holt die Kleine dann aus dem Kindergarten. Ich komme ja erst dann nach Hause, wenn es im Salon keine Kunden mehr gibt.“

Die Bereiche und Situationen konfligierender Ziele sind insbesondere im Hinblick auf die Hierarchie der Ziele interessant: Wenn auch in keinem Fall eines der Ziele so stark dominiert, dass das andere bei Konflikten immer und überall hintangestellt wird, so lassen sich doch bei den verschiedenen Gesprächspartnerinnen klare Unterschiede in Bezug auf die Gewichtung der Ziele, die Nutzung der jeweiligen adaptiven Ressourcen sowie die ‚Opferbereitschaft‘ in einem Zielbereich ausmachen. So würde die Friseurin aus dem Beispiel sicherlich nicht darauf verzichten, die Tochter aus dem Kindergarten abzuholen oder abholen zu lassen, auch wenn sie keinen älteren Sohn hätte. Wenn sich kein anderes Arrangement finden ließe (Freundinnen, Verwandte), würde sie wahrscheinlich versuchen, eine Pause bei ihrer Arbeit zu machen oder – wenn sich dies als unmöglich erwiese – sogar ganz auf die Arbeit verzichten. Damit wird deutlich: Die Ziele ‚Sicherheit der Tochter auf dem Heimweg‘ und ‚Maximierung der Einnahmen im Friseursalon‘ bestehen nebeneinander, und die Frau versucht, sie in Einklang zu bringen. Die Beauftragung des Sohnes erscheint dabei als tragbarer Kompromiss, genauso wie morgens der Rückgriff auf die Freundin. Das Risiko, die Tochter allein gehen zu lassen, wäre dagegen wahrscheinlich nicht mehr akzeptabel und das andere Ziel würde hintangestellt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass die Handlungsparameter sich gegenseitig beeinflussen und die Unterscheidung nur zu analytischen Zwecken gemacht werden kann: Das eigene Zeitmanagement hängt eng mit der Arbeitsteilung zusammen und um-

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gekehrt, und die Rollenverteilung innerhalb der Familie ändert sich mit den übernommenen Aufgaben. „Als ich bemerkt habe, dass ich wegen der Aufträge kaum noch Zeit für das Haus habe, da haben wir [Respondentin, ihr Mann und beide Kinder, 12 und 13 Jahre alt] abgemacht, dass einmal pro Woche jeder abwechselnd die Wohnung sauber macht. Mir bleibt dann Waschen und Kochen. Die Maschine wäscht und ich kann auch dabei weiter an den Aufträgen arbeiten.“ (Nelja, 37, Schneiderin)

Die Palette der Beteiligung der Familienangehörigen an der unternehmerischen Tätigkeit der Frauen breitet sich von vereinzelten ‚freiwilligen‘ Dienstleistungen, wie z.B. die Waren zum Markt bringen helfen oder die Torte schmücken, bis zur ständigen Mitarbeit, z.B. Erledigen von Einkäufen oder Übernahme von Hilfstätigkeiten. Allgemein lässt sich feststellen, dass sowohl die Beteiligung der Haushaltsangehörigen an den einkommensgenerierenden Aktivitäten der Frauen als auch die an den Arbeiten im Haushalt von allen Akteuren meistens als gegenseitige Hilfe gesehen wird; die Verantwortung für den erfolgreichen Ablauf der Tätigkeit bleibt also bei der Frau. Zu einer wirklich gleichberechtigten Teilung der Verantwortung kommt es nur selten. Ein Beispiel hierfür wäre ein Familienrestaurant, das Tašbu, 59, besitzt, wo die Aufgaben unter allen 22 Haushaltsangehörigen festgelegt sind: „Das sind alle meine acht Kinder mit ihren Familien und die jüngere verwitwete Schwester meines Mannes, der vor 10 Jahren starb. Alle beteiligen sich am Restaurantbetrieb. Die Mädchen kochen und passen auf die Kinder auf. Die Jungen machen Schaschlik, fahren zum Einkaufen. Ja, gute Kinder habe ich. […] Und ich, ich habe ja Zeit für nichts. Ich laufe hier herum und regiere. Ich habe ja nicht studiert, habe keine Ausbildung, nicht wie meine Kinder. Und rechnen kann ich nur im Kopf. Aber gut rechnen!“

Budget Wie in Kapitel 2 ausgeführt wurde, ist eine gemeinsame Kassenhaltung für (Kern-)Familien in Usbekistan üblich. Es wurde dargestellt, dass die Ernährung der größte und wichtigste Ausgabenbereich der Familie ist. Tendenziell sehen sich die Frauen in erster Linie für die Kinderversorgung und für alltägliche Bedürfnisse zuständig, während Männer zur Erreichung von Zielen wie neue Wohnung, Auto oder Renovierung beitragen, die einen einmaligen großen Geldbetrag in Anspruch nehmen. Interessant ist nun die Frage, ob und wenn ja inwieweit diese Kassengemeinschaft bei Aufnahme einer informellen marktorientierten Tätigkeit aufrechterhalten bleibt. Die Frage ist also, wo sich die Mittel der Frauenökonomie befinden und welche Faktoren Einfluss darauf nehmen, wie sie verwaltet werden. Dabei lassen sich drei typische Modelle feststellen. Der erste Typ ist die gemeinsame Kasse für alle Bereiche, in der das Einkommen aus allen Quellen zusammengelegt wird und aus der alle Ausgaben

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bestritten werden. Da die Ausgaben, die zur Befriedigung von alltäglichen Grundbedürfnissen der Familie, wie z.B. Nahrung, Wohnkosten usw. dienen, einen Großteil des Gesamteinkommens in Anspruch nehmen, wird kaum noch über Zuständigkeiten für bestimmte Bereichen diskutiert. Im Bereich der Produktion wird zwischen den unverzichtbaren Ausgaben – z.B. für Einkauf von Zutaten oder Steuern –, also solchen, die sonst den Ablauf der Tätigkeit in ihrer aktuellen Form unmöglich machen würden, und ‚zusätzlichen Ausgaben‘ unterschieden. Die Höhe dieser ‚zusätzlichen‘ Ausgaben für die marktorientierte Produktion ist nicht festgelegt und hängt mit der ‚aktuellen Situation‘ zusammen, also davon, ob momentan andere Ausgabenbereiche – wie z.B. Kosten für medizinische Behandlung oder Winterschuhe für Kinder – prioritär sind. Diese Form ist typisch für Haushalte, in denen das Einkommen aus der unternehmerischen Tätigkeit den weitaus überwiegenden Teil des Haushaltseinkommens ausmacht und/oder für Haushalte, die über ein relativ geringes Gesamteinkommen verfügen. In folgendem Ausschnitt aus einem Interview mit Olga, 28, die private PC-Kurse anbietet, wird eine solche Form von Kassenhaltung dargestellt: I.: Wofür werden die Einnahmen aus Deiner Tätigkeit ausgegeben? R.: „Die gibt es nicht. Das ganze Budget geht fürs Essen drauf. Meine Eltern – beide pensioniert – wohnen bei uns. Eigene Kinder habe ich nicht, aber die beiden Kinder von meinem Mann sind meistens bei uns, und die Kleidung für sie kaufe ich. Mein Mann muss auch angezogen werden. Gott sei Dank brauche ich noch keine Klamotten für mich zu kaufen. Als meine Mutter noch arbeitete [in einem Warenlager], hat sie für uns Klamotten für zehn Jahre besorgt. Also mir reichen sie noch aus. Für mich kaufe ich nur Kosmetik, das gilt doch noch nicht als eine große Ausgabe […]. Die Rente von meinen Eltern reicht nur, um den Strom und das Telefon zu bezahlen. Reicht gerade noch. Noch bezahlen wir jemanden beim Friedhof, damit das Grab von Andrejs [der Ehemann] Mutter versorgt wird. Sonst etwas zu sparen – klappt nicht. Von einem Urlaub kann man nur träumen. Dann muss ich noch das Patent4 bezahlen – 10 000 Sum monatlich. Und wenn es klappt, dann gebe ich noch für den PC etwas aus“. I.: Was heißt, wenn es klappt? R.: „Na ja, wenn sozusagen nichts mehr ‚brennt‘ – keine Kranken im Haus, keiner ist barfuß im Winter.“

Der zweite Typ der Kassenführung wird dadurch charakterisiert, dass aus Sicht der Frau zwei getrennte Kassen vorhanden sind, und zwar eine Familienkasse und eine Geschäftskasse. Hierbei wird ein bestimmter Teil des Kapitals als rein geschäftliche Ressource angesehen – z.B. Umlaufkapital im Handel –, das nicht für familiäre Zwecke benutzt wird. Die Gewinne, welche die Frau mittels dieses Kapitals erwirtschaftet, fließen wie auch das Einkommen von anderen Haushaltsangehörigen in einen gemeinsamen Topf, aus dem die Ausgaben der Familie bestritten werden. Selbstverständlich kann hierbei wie04 Unter Patent versteht man die Registrierung einer unternehmerischen Tätigkeit ohne Bildung einer juristischen Person. Für ein Patent wird eine monatliche Pauschalsteuer erhoben, deren Höhe von der Art der Tätigkeit abhängt.

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derum eine Arbeitsteilung zwischen den verschiedenen Haushaltsmitgliedern bestehen. Dieser Typ ist häufig in Haushalten mit mehreren, in etwa gleich bedeutenden Einkommensquellen anzutreffen. Darüber hinaus trifft die Beschreibung aber auch auf Fälle zu, in denen die unternehmerische Tätigkeit der Frau die überwiegende oder alleinige Einkommensquelle ist. Šachida, 42, betreibt Kleinhandel und verbringt geschäftlich viel Zeit in Russland: „Alle 15 Tage kaufe ich Waren für US $ 5 000 ein. Ich muss aufpassen, dass ich das Geld möglichst schnell zurückkriege, damit ich weiter investieren kann. Also diese US $ 5 000 sind unantastbar – das ist mein Umlaufkapital. Was ich alles sonst verdiene, ist dann für mich und meinen Sohn. Während ich in Ekaterinburg bin, wohnt er bei meiner Mutter. Ich rufe sie jede Woche an, schicke Kleider und Süßigkeiten. Das kostet ja auch nicht wenig. Und jeden Sommer fährt er mit der Frau, bei der ich in Ekaterinburg wohne, nach Anapa [an der Schwarzmeerküste]. Sie hat da eine gute Freundin, die da ein Haus hat. Gut, sie will sie besuchen, kann auch meinen Sohn mitnehmen, und ich bezahle die Fahrt und gebe noch Geld für meinen Sohn“. I.: Wenn Sie in Russland sind, schicken Sie auch Geld nach Hause? R.: „Nein, meine Mutter ist eine alte Frau, braucht nicht viel. Und für das Essen für die beiden reicht ihre Rente aus.“

Im dritten Fall kann man zwischen einer ‚Frauenkasse‘ für Haushalt und Unternehmen, und einer ‚Männerkasse‘ oder ‚übrigen Familienkasse‘ unterscheiden, die getrennt voneinander geführt werden. Hierbei steht die Zuständigkeitsverteilung für die Familienausgaben im Vordergrund: Jeder Teil ist selbständig für einen Ausgabenbereich und das hierfür notwendige Einkommen verantwortlich. Häufig werden die als regelmäßig und in ihrer Höhe bekannten Ausgaben, die wie z.B. Strom- oder Telefonkosten monatlich zu bezahlen sind, aus dem regulären Einkommen wie Lohn oder Rente der anderen Haushaltsangehörigen bestritten. Auch die Ersparnisse für klar definierte Ziele wie eine neue Wohnung werden aus dem regelmäßigen Lohn aus Erwerbstätigkeit gebildet – also in der Regel aus dem Lohn des Mannes. Die Ausgaben für alltägliche Nahrungsmittel und Kleidung, die subjektiv nicht als regelmäßig wahrgenommen werden, werden der Frau zugeordnet. Die Mittel dafür kommen zunächst aus der marktorientierten Tätigkeit der Frau. Wie die Mittel innerhalb ‚ihrer‘ Kasse verwaltet werden, ist die Angelegenheit der Frau: Die Einnahmen aus der unternehmerischen Tätigkeit gehen zunächst nicht in die allgemeine Familienkasse ein, sondern verbleiben im Bereich der Frauenökonomie. In der Reinform ist dieser Typ vor allem anzutreffen, wenn die Einnahmen der Frau in etwa den notwendigen Ausgaben für ihren Verantwortungsbereich entsprechen. Weichen jedoch die notwendigen Ausgaben systematisch nach oben vom unternehmerischen Einkommen ab, so kann es sein, dass der Frau ein fixer monatlicher Betrag von anderen Haushaltsangehörigen, jedoch in der Regel vom Ehemann, zur Verfügung gestellt wird. Im umgekehrten Fall wird sich die Frau an den außerhalb ihres eigentlichen Verantwortungsbereiches liegenden Ausgaben beteiligen. In solchen Fällen wird oft von gegenseitigem

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‚Ausleihen‘ gesprochen, wobei der Betrag dann aber nicht unbedingt zurückzuzahlen ist. Wie das Balancieren zwischen dem ‚unregelmäßigen‘ täglichen Familienunterhalt und der marktorientierten Tätigkeit in der Praxis abläuft, wird aus dem Beispiel Zojas, 36, die sich mit Konditorei beschäftigt, deutlich. In dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann und vier Kindern wohnt, leben noch drei Brüder des Mannes mit ihren Familien. Alle Männer sind erwerbstätig und jede Familie verfügt über ein eigenes Familienbudget. Die Familie von Zoja hat beschlossen, umzuziehen, da es im Haus zu wenig Platz gibt: I.: Wie gehen Sie mit Ihren Gewinnen um? R.: „Alles wird für die Nahrungsmittel ausgegeben und etwas für die Produktion. Wir brauchen eine neue Wohnung. Also haben wir uns abgesprochen: was mein Mann verdient, geht für die Wohnung, und alles andere – Essen und Kleidung –, das besorge ich […].“ I.: Was verdienen Sie monatlich? R.: „Das kann ich nicht genau sagen, aber es reicht – ich schaffe es immer, etwas zu Essen zu Hause zu haben. Wir [Zoja und ihre Schwester, mit der sie zusammen arbeitet] führen keine richtige Buchhaltung, machen alles nach Gefühl. Abends nehmen wir, was wir heute verdient haben und schreiben auf, was wir für morgen brauchen. Nehmen das Geld dafür und den Rest teilen wir unter uns 50:50. Manchmal, wenn wir etwas Großes kaufen müssen, z.B. Zucker oder Mehl, dann nehmen wir das ganze Geld von heute oder auch manchmal, was wir in zwei bis drei Tagen verdient haben und kaufen gleich einen Sack (50 kg) davon […]. Also bringe ich heute nichts nach Hause.“

Bei allen Unterschieden zwischen den drei Typen, die in der Realität natürlich fließend ineinander übergehen, lassen sich doch einige gemeinsame Merkmale feststellen: Innerhalb des Haushalts wird eine gewisse Arbeits- und Verantwortungsteilung für verschiedene Ausgabenbereiche eingehalten. Die unternehmerisch tätigen Frauen begreifen ihre monetären Aufgaben bzw. Ziele in Familie und ‚Unternehmen‘ als eine Einheit, einen Verantwortungsbereich, dessen Umfang und Grenzen im Wesentlichen von der Familiensituation und der Einkommensstruktur des Haushalts abhängen. Innerhalb ihres Verantwortungsbereichs, also der Frauenökonomie, führen die Frauen tendenziell nur dann eine getrennte Kassenhaltung ein, wenn dies für einen Bereich unabdingbar ist. Das häufigste Beispiel hierfür ist die Notwendigkeit, ein bestimmtes Umlaufkapital in der Unternehmenssphäre aufrechtzuerhalten. Von solchen ‚unantastbaren‘ Teilen abgesehen, werden die Ausgabenentscheidungen durch die zum jeweiligen Zeitpunkt gegebene Priorität bestimmt, wobei aber immer das strategische Ziel im Auge behalten wird. Man darf nicht außer Acht lassen, dass die Frauen in Usbekistan oft auch über einen formellen Job verfügen, der als Einkommensquelle dient, wenn auch eher in Form von Ermäßigungen als direktem monetären Einkommen.5 Auch Aufbau und Pflege von Strukturen der sozialen Sicherheit, wie z.B. ge05 Siehe dazu Kap. 2.

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genseitige Hilfe und Geschenke an Verwandte und Nachbarn, Teilnahme an ‚Gap‘ – eine Art Sparclub6 –, für die Frauen zuständig sind, bestimmen das Budget der Frauenökonomie. Als Zwischenergebnis lässt sich feststellen, dass das Budget der Frauenökonomie an der Schnittstelle der Bereiche Familie und marktorientierte Produktion sowie Erwerbstätigkeit und Strukturen der sozialen Sicherheit und Solidarität zu definieren ist. Dabei kann die Zugehörigkeit zu diesem Budget auch als Unterscheidungsmerkmal für ‚Innen‘ und ‚Außen‘ verstanden werden. Aus den oben eingeführten Beispielen wird klar, dass weder der gemeinsame Wohnraum noch der Verwandtschaftsgrad allein ausreichende Kriterien für die Einordnung von ‚Innen‘ oder ‚Außen‘ darstellen. Im Folgendem ist zu untersuchen, welche Faktoren die Rationalität der verschiedenen Formen des Budgetführens aus Sicht der Akteurinnen bestimmen. Als Erstes ist hier das Zusammenfallen – oder anders gesagt: die Untrennbarkeit – von Einnahmen und Kosten für die Bereiche Subsistenz- und Marktproduktion zu nennen. Häufig ist eine genaue Zurechnung unmöglich, z.B. bei der oben genannten gemeinsamen Nutzung von Gegenständen. Eine getrennte Kassenhaltung würde hier eine komplizierte Buchhaltung erforderlich machen. Entweder es besteht kein Widerspruch zwischen den Erfordernissen unternehmerischer Tätigkeit und Familienunterhalt, oder ein Bereich dominiert eindeutig: Wenn der Produktionsbereich nur als Mittel zum (finanziellen) Unterhalt der Familie gesehen wird, dann besteht wenig Interesse an einer getrennten Buchführung für den Produktionsbereich. „Ich sehe eigentlich nicht, was ich verdiene. Was ich schaffe, ist der Nachhilfeunterricht für meine Tochter, denn sie muss im Sommer zur Uni. Sonst geht alles, ich meine auch der Lohn meines Mannes, für Strom, Telefon und erstens fürs Essen drauf. Ich muss ehrlich sagen: wir haben kein Geld übrig. Die Zutaten für eine große Torte kosten 2 000 Sum, also bekomme ich 4 000 Sum von den Kunden. Mir bleiben 2 000 Sum (5 US $) für meine Arbeit. Was kann ich mir dafür heutzutage leisten, wenn ein Kilo Fleisch 400 Sum kostet. Also kaufen wir zwei Kilo Fleisch und leben davon eine ganze Woche. Oder, wenn ich günstig Zucker im Angebot sehe oder gutes Mehl, dann nehme ich gleich einen Sack [50 kg]. Außerdem muss ich immer Geld für den nächsten Auftrag haben. Denn ich nehme von Kunden keine Anzahlung und kaufe alle Zutaten selbst.“ (Olja, 37, Konditorin)

Diese Logik stimmt auch in einem umgekehrten Fall – z.B. bei einem größeren Restaurant: Wenn der Umfang der Haushaltsausgaben (für eine bestimmte Produktgruppe wie eben Lebensmittel) im Vergleich zu den Gesamtkosten für diese Produkte so gering ist, dass er kaum ins Gewicht fällt; die Familie isst dann quasi im Restaurant mit. Auch diese starke Dominanz eines Ziels oder eines Bereichs kann ein Grund gegen eine getrennte Kassenhaltung sein. So erzählt Tašbu, 59, über das Kassenführen in ihrer Čhoj-Chona: 06 Ausführlicher über ‚Gap‘ siehe Abschnitt Status und sozialer Austausch in Kap. 5.1.

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I.: Wer kocht in Ihrer Familie? R.: [lacht] „Alle kochen und alle essen! Das ist doch eine Čhoj-Chona […]. Ich weiß nicht, wie viel wir verdienen. Weiß nur, dass wir für das Patent 8 500 Sum im Monat zahlen. Uns reicht es aber – alle sind satt und gesund. Und wenn ich Geld brauche, dann nehme ich einfach […]. Das Geld liegt bei mir, wenn die Söhne zum Basar fahren, Fleisch, Getränke und alles was wir sonst brauchen kaufen, dann nehmen sie, was sie brauchen […]. Und sonst, wenn es Bairam ist, Kurban oder so, kaufen wir Geschenke für Verwandte, helfen auch mit Geld, wenn sie fragen.“

So wird die Flexibilität der Ressourcenverwaltung gewährleistet, was die in einem Bereich häufig unvorhergesehen anfallenden Ausgaben oder deren stark schwankende Höhe bewältigen hilft. Džamilja, 47, finanziert über die Gewinne, die sie durch das Zitronenzüchten erwirtschaftet, das Hochschulstudium ihres Sohnes. Die Gebühren werden jedes Jahr erhöht, so dass man erst kurz vor der Einzahlungsfrist den genauen Betrag erfährt. Das macht, so Džamilja, weitere Kalkulationen unmöglich: „Erst wenn das Studium bezahlt ist, kann man sich beruhigen und Vorräte für den Winter anlegen – so Kartoffeln, Zwiebel, Karotten, Knoblauch […]. Dann denkt man auch, was für die Zitronen alles neu angeschafft werden muss. Und das wird ja teuer sein. Denn nur für die Folie müssen wir 15–20 000 Sum ausgeben. Gut, dass mein Mann da arbeitet [wo die Folie hergestellt wird], und Diesel für die Heizung bringt er auch von der Arbeit günstiger.“

Die Beteiligung an der Erfüllung der aus Sicht der Familie vorrangigen Aufgaben sichert der Produzentin also die Inanspruchnahme der Netzwerke der anderen Familienmitglieder, um den Zugang zu den für die Produktion nötigen Ressourcen zu ermöglichen. Preis- und Kostenkalkulationen bleiben häufig sehr grob – an eine genauere Erfassung der verschiedenen Kostenpositionen, insbesondere bei der gleichzeitigen Nutzung von Räumlichkeiten und Gegenständen für Produktion und Haushalt, wird nicht gedacht. Auf die Frage über das Festlegen den Preisen kommt oft die Antwort: „So, wie man es uns in den Backkursen gesagt hat – 50 % Zutatenkosten und 50 % meine Arbeit.“ (Olja, 37, Konditorin) Die Überlegungen von Schneiderin Sveta, 32, weisen auf eine weitere typische Argumentation: R.: „Einerseits sehe ich, was das bei anderen Schneiderinnen kostet und dann auch, wie viel Zeit ich dafür brauche. Ein Jackett wird so um 4 000 Sum kosten, eine Bluse 2 000 Sum. Denn für das Jackett werde ich einen ganzen Tag brauchen und mit der Bluse geht es schneller. Kommt auch auf den Stoff an, wenn es ein teuerer Stoff ist, dann kostet meine Arbeit auch mehr. Besonders, wenn sie nicht genau wissen, was es sein soll. Dann soll ich mir noch Gedanken über den Schnitt machen“. I.: Rechnen Sie es irgendwie aus? R.: „Nein, aber ich sehe, wenn es viel Arbeit ist. Und wenn ich den Stoff noch selber kaufen muss, dann schlage ich gleich 300 Sum drauf. Ich sage ja gleich den Kunden – ich fahre mit dem Taxi zum Basar und muss da ja noch was essen oder wenigstens trinken.“

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Wenn der Gesamtumsatz beider Bereiche sehr gering und die Zahlungsströme sehr übersichtlich sind, lohnt sich eine getrennte Kassenhaltung kaum. Umgekehrt dürfte ab einer bestimmten Größe des Produktionsbereichs das Bedürfnis wachsen, über eine getrennte Kassenhaltung und entsprechende Buchführung Informationen über das Unternehmen zu erheben und Kontrolle auszuüben. Hierzu kommt auch der Formalisierungsgrad der Tätigkeit, der in der Praxis allerdings nicht unbedingt mit der Größe des Produktionsbereichs korreliert. Mit zunehmender Gestaltung der Tätigkeit als ein Unternehmen, also z.B. mit der Einstellung von Angestellten (abgesehen von Haushaltsmitgliedern)7, sowie der zumindest zeitweiligen Durchführung der Tätigkeit außerhalb der privaten Räume steigen die Produktionskosten erheblich. Dabei ergibt sich die Notwendigkeit einer genauen Kalkulation von Kosten und Gewinnen. So erzählt Matljuba, 39, die nach 20 Jahren Erwerbstätigkeit als Verkäuferin sich nun als Schneiderin selbständig gemacht hat: R.: „Am Anfang habe ich die Kleider selbst gefertigt und einfach so verkauft, von Hand sozusagen neben dem Markt verkauft. Aber hier auf dem Basar kostet ein Platz schon Geld, dann muss man sich registrieren lassen.8 Für ein Quartal muss ich 25 000 Sum bezahlen. Ich habe dann 4 Mädchen aus der Nachbarschaft engagiert, sie nähen bei mir zu Hause und ich verkaufe alles hier. Sie kriegen 70 Sum für jedes Kleid, also haben sie so 3 000–5 000 Sum in Monat. Bei mir auf dem Markt kostet ein Kleid 700 Sum […]. Ich habe in Monat so 50–60 000 Sum steuerfrei. Ist gut und mein Mann arbeitet noch, also können wir uns schon versorgen und müssen uns auch nicht schämen, wenn Gäste kommen“. I.: Kriegen Sie häufig Besuch? R.: „Ja, so zwei-, dreimal im Monat wird es schon sein. Und es kostet ja auch Geld.“

Die Art der Tätigkeit und die Markterfordernisse sind für die Form der Budgetverwaltung relevant. Die entscheidenden Merkmale sind hierbei Konkurrenz, Margen und Umsatz. Im Handel ist die Konkurrenz sehr stark und die Margen sind entsprechend gering. Dies bedeutet gleichzeitig, dass zur Erzielung eines bestimmten Gewinns ein sehr hoher Umsatz erzielt werden muss. Hierzu ist aber der Einsatz eines hohen Umlaufkapitals notwendig, weil die Ware ja in der Regel vorfinanziert werden muss. Alle diese Umstände führen dazu, dass die ‚Unternehmenskasse‘ im Vergleich zur Haushaltskasse hohe Umsätze und einen hohen Bestand aufweist. Gleichzeitig ist eine genaue Information über den Kassenstand und die genauen Kosten unentbehrlich zur Kalkulation der notwendigen Marge. Damit spricht in diesem Bereich viel für eine getrennte Kassenhaltung. Svetlana, 34, Kleinhändlerin, berichtet, irgendwann zu der Einsicht gekommen zu sein, alle Einkommen sowie Ausgaben 07 Dies gilt insbesondere dann, wenn die Frau den Produktionsprozess nicht alleinverantwortlich, sondern zusammen mit Partnern leitet. Siehe hierzu den folgenden Unterabschnitt. 08 Die Standgebühr wird täglich an die Marktverwaltung bezahlt. 80 cm (ein Platz) kosten 250 Sum pro Tag. Die meisten Händler nehmen 2 bis 4 Plätze nebeneinander.

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genau registrieren zu müssen, um einen Überblick zu bekommen. Nach ein paar Monaten habe sie festgestellt, dass sie – Svetlana, ihr Mann, z.Zt. erwerbslos, und ihr Sohn – ‚für das Leben‘ US $ 100 in Monat brauchen. Und die Gewinne, die sie mit ihrer Tätigkeit macht – ca. US $ 150 – lassen dies zu. Seitdem lebt Svetlana nach der Logik, wenn das Geld im Alltag zu kurz kommt, dann stimmt etwas in ihrer Tätigkeit nicht, weil sie zu wenig Gewinne erzielt. Im Übrigen berichtet sie, nur darauf zu achten, dass es im Geschäft eine Ordnung gibt: „Wenn ich die Waren kaufe, dann trage ich in mein Heft ein, was wie viel kostet. Denn die US $ 4 000, die da investiert sind, sind ja kein Witz. Und ich bezahle meistens sofort […]. Auf die Einkaufspreise schlage ich 10–20 %, wenn ich selber verkaufe. Mehr kann ich nicht, denn die Preise sollen ja realistisch bleiben. Wenn ich die Waren an meine Realisatoren9 gebe, dann nehme ich weniger für mich – 7 oder 10 %, denn ihnen soll auch etwas bleiben. Über ihre Preise sollen sie selber entscheiden, nur wissen sie, dass ich auf sie nächste Woche warte. Je schneller verkauft, desto schneller wieder Geld für die Arbeit. Ich meine, mir ist es lieber, billiger zu verkaufen, aber schneller.“ (Svetlana, 34, Kleinhändlerin)

Im Vergleich hierzu ist bei einer Konditorin der Einsatz von Umlaufkapital wesentlich geringer und die Marge ist wesentlich höher. Da fallen außer dem Material praktisch keine Kosten an und die Marge beträgt, wie oben gesehen, 50 %. Diese Unterschiede legen nahe, dass im Fall der Händlerin eine Trennung von Produktions- und Haushaltsbereich praktisch unverzichtbar ist, während die Konditorin beide Kassen zusammen wesentlich leichter überblicken kann. Zusammenfassend kann man sagen, dass die Gewichtung der Ziele in den zentralen Bereichen Haushalt, Produktion und soziale Netzwerke die Form der Budgetverwaltung in der Frauenökonomie bestimmt. Während die Entscheidung über die Ausgaben für das Aufrechterhalten der sozialen Netzwerke nur selten als problematisch wahrgenommen wird10, spiegelt sich im Abwägen über Konsum oder Re-Investition der Gewinne in den Produktionsbereich die Logik der Frauenökonomie wider, die teils verbundene, teils widersprüchliche Ziele zu vereinbaren hat: „Ich muss mich selbst übervorteilen – bin in diesem Jahr ohne Stiefel geblieben. Weil ich es nicht zulassen kann, dass meine Tochter schlechter als andere gekleidet ist. Nina, meine Nachbarin – sie ist ja eine Unternehmerin –, hat sich schon wieder einen neuen Mixer gekauft. Sie sagt, sie braucht ihn zum Arbeiten und keiner sagt ihr was dagegen. Das Gerät kostet 3 000 Sum, aber sie setzt sich durch, sagt: ‚Ich 09 Diese Tätigkeitsform wurde bereits in Abschnitt Transnationaler Handel in Kap. 3.2 analysiert. 10 Höhe und Häufigkeit dieser Ausgaben werden im Wesentlichen durch soziale Einbettung bestimmt und können nur eingeschränkt als Resultat individueller Entscheidungen der Akteurinnen aufgefasst werden. Siehe auch Abschnitt Status und sozialer Austausch in Kap. 5.1.

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verdiene Geld und die Maschine macht es mir etwas einfacher‘. Und was bin ich schon für eine Businesswoman?“ (Gala, 34)

Damit ist auch klar, dass die unternehmerische Tätigkeit stets in ihrer Einbettung in den Familienzusammenhang gesehen wird und nicht ausschließlich als Mittel zu einer größeren Selbständigkeit oder finanziellen Unabhängigkeit der Frau. Partner im Produktionsprozess Es wurde bereits in Kapitel 3 dieser Arbeit über verschiedene Typen der wirtschaftlichen Betätigung gesprochen. In diesem Abschnitt sind nun die Beziehungen der Produzentin zu den neben ihr am Produktionsprozess Beteiligten unter Berücksichtigung ihrer Einbettung in die gesamten Logik der Gestaltung des frauenökonomischen Handlungsraums zu untersuchen. Hierbei kann zwischen horizontalen und vertikalen Beziehungen unterschieden werden. Durch horizontale symmetrische werden die Partnerschaften der informellen Produzentinnen klar. Es ist nun zu definieren, welche Inhalte dem Begriff Partnerschaft aus der Sicht der Akteurinnen zugesprochen werden. Als Ergebnis ist vorwegzunehmen, dass als Partner nur am Produktionsprozess beteiligte Personen aufgefasst werden, die nicht schon vorher zur Haushaltsgemeinschaft gehörten. Die Familienangehörigen, die zu demselben Haushalt gehören, werden dagegen nicht als Partner bezeichnet, auch wenn sie an der marktorientierter Tätigkeit der Frau regelmäßig teilnehmen. Die regelmäßige Beteiligung weiterer Personen, die nicht zu demselben Haushalt gehören, an der marktorientierten Tätigkeit bringt gewisse Umstellungen in der Aufgabenteilung und der Gewinnverwendung und -verteilung mit sich. Nimmt man die zwei Merkmale Arbeits- und Gewinnteilung als Grundlage, so lassen sich zwei Schemata der Partnerschaft skizzieren. Im ersten Fall wird zwar berichtet, einen Partner zu haben, aber die Beziehungen zwischen den Partnern überschreiten oft die eigentliche ‚Produktionssphäre‘. Es kommt hinzu, dass der Partner sozusagen in die Familie aufgenommen wird. Ähnlich wie bei Familienangehörigen verwischen sich bei der Aufgabenteilung die Grenzen zwischen Subsistenz- und Marktproduktion. Andererseits werden auch die Gewinne nicht streng unter den Partnern geteilt. Die gemeinsame Kasse für Haushalt und Produktion bleibt bestehen. Typisch für solche Partnerschaften ist die Organisation des Zitronenanbaus im Garten von Džamilja, 47. Džamilja bewohnt mit ihrem Mann und 3 Kindern ein Haus, das sich auf demselben privaten Grundstück wie der Garten befindet. Für die Arbeit im Garten hat Džamilja einen Fachmann gewonnen, der laut Džamilja professionell mit den Pflanzen umgehen kann, wenn er auch keine formale Fachausbildung hat. Er arbeitete zuvor zusammen mit Džamiljas Ehemann in einer Fabrik, wodurch die Bekanntschaft zustande kam. Nun ist der

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alleinstehende Mann, der auch eine Zeit lang als Koch bei der Marine tätig war, nach seiner Pensionierung ins Haus der Familie von Džamilja eingezogen. R.: „Wir sind jetzt wie Verwandte geworden, er wohnt auch bei uns, kocht meistens und, nun, die meiste körperliche Arbeit im Zitronengarten macht er auch. Ich verwalte sozusagen das alles“. I.: Bekommt er Geld für seine Arbeit? R.: „Nicht richtig, ich sage doch er wohnt hier. Er hat keine Familie. Nun wenn er etwas braucht, gebe ich ihm Geld, für Zigaretten oder sonst noch was.“

Džamilja besteht darauf, djadja Sereža (Onkel Sereža, wie ihn alle Familienmitglieder sowie Nachbarn nennen) als ihren Partner zu bezeichnen. Der Grund dafür ist, dass die beiden die Verantwortung für den Zitronenanbau untereinander teilen und djadja Sereža nicht beliebig durch einen anderen Lohnarbeiter ersetzt werden kann. Zu dieser Kategorie kann man auch Partnerschaften zwischen den Verwandten aus der Stadt und denen vom Land rechnen. Besonders nach dem Saisonende in der Landwirtschaft kommt es dazu, dass die Verwandten in der Stadt ‚besucht‘ werden. Der Besuch dauert in der Regel drei bis vier Monate. Sofern sie keine Erwerbsarbeit finden, beteiligen sich die Zugereisten an den Tätigkeiten der städtischen Verwandten. Für ihre Mitarbeit erhalten sie meistens keine feste finanzielle Entlohnung, schließlich ist man zu Besuch da. Wenn sie dann wieder nach Hause abreisen, bekommen sie von den Gastgebern mehrere Geschenke – Kleidung, Stoffe, Geschirr, aber auch Geld – für sich und für andere Verwandte. Typisch für diese Kategorie ist, dass es sich nicht um gleichberechtigte Partnerschaft handelt, sondern eher um eine Art informelle Erwerbstätigkeit, die in einer Form belohnt wird, die komplexer ist als eine rein monetäre. Von dem zweiten Beziehungsschema kann man sprechen, wenn der Partner nur im Bereich der marktorientierten Produktion präsent ist. Kennzeichnend dabei ist, dass die Kassen für das Geschäft und den Haushalt von jedem Partner getrennt gehalten werden, was seinerseits die Bildung einer gemeinsamen Geschäftskasse ermöglicht. In der Praxis sind jedoch auch in diesem Fall die Grenzen zwischen Produktions- und Haushaltsmitteln nicht immer klar gezogen. Entscheidend dabei ist, dass der Produktionsstandort – mindestens für einen der Partner – nicht gleichzeitig Wohnort ist. Also muss die Frau über Möglichkeiten verfügen, ihre Haushaltstätigkeit und marktorientierte Produktion zeitlich und räumlich zu trennen. Dies wird zum Beispiel am Fall Zojas deutlich. Als sie, 36, und ihre Schwester, 32, auf die Idee kamen, zusammen Torten zu backen, war klar, dass das bei der Schwester zu Hause stattfinden würde, denn sie hat ihre kleinen Kinder (1,5 bis 4 Jahre alt) zu betreuen, während Zoja, die selbst vier Kinder hat, nach ihren Worten ‚schon freie Hände hat‘. Ihre älteren Töchter sind 14 und 12 und können die Arbeit im Haushalt übernehmen:

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„Sie sind gute Mädchen, machen alles zu Hause, kochen, aufräumen und auch auf die Kleinen aufpassen. So weiß ich, dass zu Hause alles in Ordnung ist. Und wenn was passiert, wissen sie auch wo ich zu finden bin – sie rufen mich sofort an.“

Täglich um 6 Uhr morgens macht sich Zoja auf den Weg zu ihrer Schwester, die in der Altstadt wohnt. Die Fahrt mit zwei Bussen dauert ca. eine Stunde. An der Arbeit sowie an den Gewinnen beteiligen sich beide Schwestern gleich. Nur wenn für die Produktion viel zugekauft werden muss, etwa Mehl oder Zucker, jeweils in Säcken zu 50 Kilogramm, wird zur Hilfe auf einen der Ehemänner – beide fest angestellt bei staatlichen Organisationen – zurückgegriffen, welche die Einkäufe mit ihren Autos nach Hause transportieren. Sonst, so Zoja, „mischen sich die Männer in unsere Sachen nicht ein.“ Aus den beiden Beispielen wird klar, dass eine partnerschaftliche Zusammenarbeit im Bereich Produktion einen gewissen Flexibilitätsgrad für den gesamten frauenökonomischen Bereich verlangt, diesen aber auch erhöht. Die Tatsache, dass solche Partnerschaften in der Praxis eher selten anzutreffen sind, deutet auf die Komplexität solcher Arrangements. In den Gesprächen tendieren die meisten Frauen dazu, sich als selbständig bzw. frei in der Bestimmung ihres Tätigkeitsablauf zu sehen. Es ist genau die bestehende Verflechtung zwischen der Arbeit im Haushalt und marktorientierter Tätigkeit, die einzigartige Konstellation aller Ressourcen in jedem konkreten Fall, die eine mögliche Partnerschaft, d.h. eine Anpassung an andere, so schwer machen. Denn die Frauen sehen sich bei der Erreichung ihres strategischen Ziels auf sich allein gestellt: In dem Maße, wie die Erfordernisse der Subsistenzsicherung für die Familie die Organisation der marktorientierten Tätigkeit beeinflussen, wird die Zusammenarbeit mit einem Partner problematisch, dessen Ziele eben nur in diesem Bereich deckungsgleich sind. Dieser Faktor beeinflusst auch die Organisation vertikaler Beziehungen, also zu Angestellten oder Vorgesetzten. So können Frauen oft nicht ‚garantieren‘, pünktlich zur Arbeit zu kommen, was sie zu schlechten Geschäftspartnerinnen macht. So berichtet Šachida, 42, die sich mit Kleinhandel beschäftigt und mehrere Verkaufsstellen auf einem Kleinhändlermarkt hat, wie sie bewusst Frauen aus ihrem Mitarbeiterkreis ausschließt: „Ich arbeite prinzipiell nur mit Männern. Frauen sind gierig, versuchen bei jeder Gelegenheit etwas für sich heraus zu schlagen. Erst kommen sie zu mir – diese ‚armen Unglücklichen‘, bitten, ihnen etwas für die Realisation zu geben. Dann wenn ich sie kontrolliere – und was sehe ich? Mein Preis ist z.B. 2 500 und sie will dafür 4 000 haben. Und zwar weiß sie, dass sie 10 % von dem Tagesgewinn von mir garantiert bekommt. Wenn sie erwischt wird, dann sagt sie, es sei nur einmal […]. Ich kenne sie – bei Frauen herrscht Chaos im Kopf: Kinder, nicht genug Geld –, immer passiert ihnen etwas, denken gar nicht ans Geschäft, wenn sie arbeiten. Männer sind eine ganz andere Sache – Geschäft ist Geschäft, wenn ich sage so und so viel ist zu bezahlen, so macht man und sagt nicht ‚Morgen‘ oder dass die Kinder zu Hause sind. Frauen haben es schwer, sich von jedem Groschen zu trennen.“

Die Bereitschaft der Frau, sich die Verantwortung für den erfolgreichen Ablauf der Tätigkeit mit jemand anderem zu teilen, spielt eine sehr wichtige Rol-

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le. Notwendig ist Vertrauen, wobei es nicht genügt, ‚fachlich‘ gut zu sein. Oft werden Gründe wie Sympathie weit vor die fachlichen Kompetenzen gestellt. Es wird nach Personen gesucht, die mit ihren Einstellungen in die Arbeitsatmosphäre passen. Kleinhändlerin Šachida berichtet weiter über ihre Prinzipien beim Aufbau von Geschäftsbeziehungen: „Auf dem Markt habe ich Leute von den Nachbarständen kennen gelernt und so haben wir ein Team gebildet, um zusammen zu arbeiten nach dem Schema, dass einer in die Türkei fährt und Waren für uns alle bringt, während wir uns um den Verkauf seiner restlichen Waren kümmern. Sicher spart es uns allen Geld und Zeit, aber ich meine, dass es bei uns so gut funktioniert, liegt daran, dass wir zueinander passen. Dass wir alle einen Hochschulabschluss haben, spielt eine wichtige Rolle. Valera studierte im Konservatorium, Ženja war Lehrer [R. selbst studierte Medizin]. Wir haben die gleichen Einstellungen – das Geschäft zu machen und sich ein neues Leben zu schaffen. Wichtig ist, wie man das Leben nimmt. Wenn jemand Angst in seinen Augen hat, dann ist er nicht zuverlässig, es wird schwer, mit ihm zu arbeiten.“

Das äußere Erscheinungsbild sowie die Intelligenz, über die häufig durch das Ausbildungsniveau geurteilt wird, sind oft bei der Aufnahme der neuen Mitglieder in die geschäftlichen Beziehungen entscheidend. Besonders im Handel, einschließlich des Verkaufs von selbstgefertigten Produkten, wird großer Wert auf diese Eigenschaften gelegt. So hatte eine Friseurin keine Chance, bei einem Salon angestellt zu werden, denn sie hätte, nach den Worten der Inhaberin, die früher als Ärztin tätig war, „mit ihrem Aussehen und unmöglichen Sprüchen“ dem Ruf des Salons geschadet. Soziale Netzwerke Wenn das Unternehmen von der Persönlichkeit der Produzentin schwer zu trennen ist, dominieren in der Partnerschaft sowie in den hierarchischen Netzwerken langfristige Beziehungen. In den meisten Fällen liefert die nächste soziale Umgebung – Verwandte, Freunde, Nachbarn sowie die ehemaligen oder eben gegenwärtigen Arbeitskollegen – den Kandidaten für den Aufbau von geschäftlichen Netzwerken. Wie von Granovetter (1985: 493) beschrieben, stellen persönliche Beziehungen eine Grundlage sowohl für das große Vertrauen als auch für den Missbrauch dieses Vertrauens im wirtschaftlichen Leben dar. „Meine Freundin ist die Chefin. Sie hat das alles durch ihre Beziehungen organisiert und wollte, dass ich ihr am Anfang helfe. Denn wir kennen uns seit vielen Jahren, und sie weiß, ich werde sie nicht hereinlegen, weder mit Geld oder anders wie. Aber das ist eher eine Ausnahme. Denn sie gibt ihre Waren nicht mehr so gern zur Realisation. Manche sind unverantwortlich. So hat zum Beispiel eine Frau die Waren für US $ 250 schon seit einem Jahr genommen und bringt das Geld nicht zurück. Es sind keine 10 000, trotzdem ist dieses Geld wichtig, denn die Frau macht es anderen schwer. Die meisten haben kein Geld, um die Waren im Voraus zu bezahlen. Also müssen sie ohne Arbeit bleiben, wenn es kein Vertrauen zueinander gibt. Nun, bei mir ist es anders, denn sie ist meine Freundin.“ (Natalja, 33, verkauft Kosmetik)

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An diesem Beispiel wird klar, wie durch Beziehungen aus der Vortransformationszeit – ehemalige Kollegen, Freunde – eine Grundlage des Vertrauens konstituiert wird. Wenn es wie beim Handel zum Aufbau von geschäftlichen Netzwerken kommt, die sich nicht mehr nur auf enge Bekanntschaftskreise stützen können, dann werden andere Mittel zur Erzeugung von Vertrauen eingesetzt. Intuition oder ‚gesunder Menschenverstand‘ werden häufig als wichtigste Mittel zur Beteiligung möglicher Partner genannt. Svetlana, 34, sieht materielle Not und das Bestreben, die Lage zu verbessern, als wichtigste Grundlagen für einen verantwortungsvollen ‚Realisator‘. Dieses Vertrauen in Menschen ist, meint Svetlana, eine Art Kredit, den sie am Anfang ihrer Tätigkeit von anderen bekommen hat, der den Erfolg ihres Geschäftes ermöglichte und den sie jetzt zurückzuzahlen hat: „Ich vertraue, wie mir auch mal andere vertraut haben. Diese Leute, die haben mir doch auch Waren zur Realisation gegeben. Und heute bin ich Chef, doch ich verstehe, wie es den Leuten geht.“

Auch wenn die Produktion erst durch das Bestehen eigener geschäftlicher Netzwerken zustande kommen kann, werden diese eher als äußere Bedingungen wahrgenommen. Als Partner werden nur diejenigen Akteure wahrgenommen, welche die Verantwortung für den Erfolg des Produktionsprozesses oder eines seiner Bereiche mit der Frau teilen, die sich dafür zuständig sieht. Dies kann anhand des Beispiels von Anna, 32, das in Kapitel 3.2 vorgestellt wurde, verdeutlicht werden. Anna sorgt selbst für den Produktionsprozess in der Küche zur Herstellung von diätischen Milchprodukten und bezeichnet sich als individuelle Unternehmerin. Denn ihrer Meinung nach erzielt sie die Gewinne, von denen die beiden anderen im Gesamtunternehmen beteiligten Personen ihre festgelegten Anteile bekommen: „In der Tat arbeite ich alleine, überwache alles. Auch die Kunden sind alle meine, ich meine, ich bemühe mich, dass hier im Bezirk alle von uns wissen. Und sie [die beiden anderen] machen nur etwas, wenn ich es sage. Klar ist es für mich einfacher, mit ihnen eine Verabredung zu treffen, aber Partner sind wir nicht.“

Zusammenfassend kann man sagen, dass sich meistens mehrere Personen an der marktorientierten Tätigkeit der Frauen beteiligen, die jedoch nicht automatisch als Partner klassifiziert werden können. Entscheidend bei der Bezeichnung ‚Partner‘ ist die Mitverantwortung für den Erfolg der Tätigkeit insgesamt. Nicht zuletzt spielt hier Zugang zu Kunden eine Rolle.

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4.2 Kunden und Märkte: Bindeglied zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ Ist die Tätigkeit marktorientiert, so muss der Handlungsraum, in dem diese Tätigkeit abläuft, in ihrer Gestaltung die An-/Verbindung mit den (Absatz-) Märkten ermöglichen. Nun wird der Charakter der Frauenökonomie – die durch die Verflechtung von Subsistenz- und Marktproduktion und das Kreieren von economic spaces gekennzeichnet wird – am deutlichsten durch die Inanspruchnahme bzw. den Verbrauch der angebotenen Dienstleistungen und Produkte sichtbar. In Kapitel 3 dieser Arbeit wurde über die Märkte gesprochen, an die informelle Produzentinnen angebunden sind. In diesem Abschnitt ist zu untersuchen, wie die Anbindung an Kunden aus der Sicht der Akteurinnen der Frauenökonomie stattfindet. Dabei ist die These, dass sie durch die spezifische Gestaltung des Handlungsraums die geldwirtschaftliche und gebrauchswertliche Orientierung ihrer Tätigkeit möglich machen. Die Hierarchie dieser Orientierungen ist einer der wichtigsten Gründe für die Präsenz oder Nichtpräsenz auf bestimmten Märkten. Es erweist sich als sinnvoll für die Analyse, näher zu betrachten, von wem die angebotenen Produkte und Dienstleistungen in Anspruch genommen werden. Ein Unterscheidungsmerkmal zwischen den Abnehmerkategorien liefern meine Gesprächspartnerinnen, indem sie klar zwischen ‚Kunden‘ und ‚Eigenen‘ unterscheiden. Damit werden unterschiedliche Austauschformen dargestellt, die in der Frauenökonomie vorhanden sind. Zum einen handelt es um reziproke Beziehungen, wie sie in Kapitel 2 angesprochen wurden. Austausch, der innerhalb der ‚Eigenen-Gruppe‘ stattfindet, wird von Elwert (1987: 303) als „Austausch von Gütern und Leistungen nach Prinzipien von Anrecht und Verpflichtung“ definiert. Der Inhalt des Begriffes ‚Eigene‘ lässt sich schwer allgemein festlegen (siehe auch Kapitel 5). Bezüglich der Inanspruchnahme ihrer Leistungen sprechen die Frauen über domašnie [etwa: Haushaltsmitglieder]: „Natürlich backe ich für meine domašnie auch, einfach zum Tee. Sonst wäre es ja wie Schuster ohne Schuh.“ (Gala, 34, Konditorin) Zu den ‚Eigenen‘ werden auch weitere Verwandte sowie Angehörige des näheren Freundeskreises gezählt, wobei die Leistungen der Produzentin ihrerseits schon oft als usluga (Dienstleistung, Gefallen) eingestuft werden und somit die Grenzen etwas verwischt werden: „Ich arbeite oft für meine Verwandten, immer wenn sie was brauchen. Zum Beispiel hatte vor kurzem mein Schwiegervater Geburtstag, so habe ich zwei riesige Torten für ihn gebacken, als Geschenk selbstverständlich. Ich werde doch von ihnen kein Geld verlangen. Auch für Freunde, wenn es tatsächlich für sie ist – dann geht es als Geschenk. Aber ehrlich gesagt, unter dem Strich macht es sich bemerkbar, solche Kundschaft zu haben.“ (Gala, 34, Konditorin)

Die Inanspruchnahme der Leistungen von Verwandten und Freunden wird als selbstverständlich wahrgenommen:

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I.: Welche Rolle spielen verwandtschaftliche und freundschaftliche Beziehungen in ihrem Geschäft? R.: [lacht] „In meinem Business schon eine beachtliche – viel kann man von ihnen nicht kriegen! Rein symbolisch etwas – ein ‚Danke‘ zum Beispiel. Andererseits, falls etwas schief geht, nehmen sie es mir nicht übel.“ (Galija, 35, Schneiderin)

Die Leistungen dienen hier zur Herstellung reziproker Beziehungen, wobei wiederum betont werden muss, dass es nicht um eine Gleichgewichtigkeit der Leistungen wie beim Warentausch, sondern um eine Reziprozität der Anrechte handelt (vgl. Elwert 1987: 304). Betrachtet man die Gegenleistungen in einem engeren Sinn11, also in ihrer unmittelbarer Nützlichkeit für den Ablauf der Tätigkeit, so kann man sagen, dass die ‚Eigenen-Gruppe‘ eine Brücke zur Vermarktung der Leistungen bildet. Zum einen stellt diese Gruppe eine Art Versuchsfeld dar, wo Fertigkeiten der Produzentin geprüft werden, bevor sie sich entscheidet, ihre Leistungen als Ware anzubieten. Die Geschichte von Konditorin Olja, 37, kann hier als typisch dargestellt werden: R.: „Meine erste Torte im Auftrag sozusagen habe ich für eine meiner Nachbarinnen gemacht. Wir sind befreundet und sie wusste natürlich, dass ich die Kurse [Konditorei] besuche. Es war ihr Geburtstag und ich war sehr nervös, ob es mir gelingt, denn ich hatte damals keine Erfahrungen. Nun ist da etwas schief gelaufen, ich dachte, es sei eine Katastrophe, die Torte sieht nicht so aus, wie sie soll, ich bin da überhaupt nicht hingegangen. Doch die Nachbarin kam am nächsten Tag und sagte, dass meine Torte Spitze war und alle wollten wissen, wer sie wohl gemacht hat.“ I.: Hat sie die Torte bezahlt? R.: „Bezahlt kann man nicht sagen. Also, wir haben es po-svojski [in etwa: auf unsere Art und Weise] gemacht – sie hat alle Zutaten gekauft. Und hat mir noch umsonst die Haare geschnitten, wenn das als Bezahlung gilt.“

Zum anderen stellen die Angehörigen der ‚Eigenen-Gruppe‘ der informellen Produzentin ihre persönlichen Netzwerke bei der Vermarktung der Dienstleistungen zur Verfügung. Nelja, 37, Schneiderin erzählt über ihre Kundschaft: „Unsere Nachbarin von unten hatte eine Hochzeit. Ich habe für sie auch früher etwas genäht und auch für ihre Schwester. Das war ein großes Fest und ich habe dafür drei Kleider gemacht. Sie waren alle sehr zufrieden damit und so kamen dann immer wieder Leute von ihr. Und andere Nachbarn lassen sich mal etwas bei mir schneidern.“

Durch die Vermittlung von Freunden, Verwandten, ehemaligen Kollegen, Nachbarn entstehen die non-anonymous markets (Lachenmann 1997b: 34), die durch einen höheren Grad des Vertrauens zu charakterisieren sind. Die Kontakte von einem potentiellen Kunden zur Produzentin werden nicht nur vermittelt, sondern man erteilt auch eine Art Bürgschaft für den neuen Kun11 Die Bedeutung solcher Transaktionen für den Aufbau von Strukturen der sozialer Sicherheit und die Selbstdefinition wird in Abschnitt Status und sozialer Austausch in Kap. 5.1 besprochen.

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den. Die so genannten ‚Kunden per Empfehlung‘ bilden den wichtigsten Bestandteil der Kundschaft der meisten informellen Produzentinnen: R.: „Meine Werbung sind die Sachen, die ich gemacht habe. Leute sehen, wie die von mir genähten Sachen bei meinen Freunden sitzen, und bitten, uns miteinander bekannt zu machen. Uns so bildet sich die Kette. Also sind das alle meine eigenen, keiner kommt von der Straße, anderseits würde ich auch mit unbekannten Leuten nicht arbeiten.“ I.: Warum nicht? R.: „Ist mir unangenehm, jemand Fremden zu Hause zu empfangen, wenn ich nicht weiß, was das für ein Mensch ist. Er könnte ja auch betrügen, nicht bezahlen etc. Andererseits – woher soll ich wissen, dass der Mensch mich nicht beim Finanzamt anzeigt? Nein, ich arbeite lieber mit ‚meinen‘, da läuft alles glatt, wir kennen uns und sind miteinander zufrieden.“ (Nelja, 37, Schneiderin)

Kundschaft per Empfehlung wird als Bedingung für eine konfliktlose und angenehme Arbeitsatmosphäre gesehen. Gleichzeitig beeinflusst dieses Fehlen von Anonymität auch die Aushandlung der materiellen Konditionen sowie die persönlichen Beziehungen mit ‚Empfehlenden‘ und ‚Empfohlenen‘. Auf einem anonymen Markt wird der Preis durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage bestimmt; im Idealfall sind Art und Qualität der Leistung vollkommen transparent und vergleichbar. Dennoch entstehen erhebliche Suchkosten für Käufer und Verkäufer, um bestehende Informationsasymmetrien auszugleichen. Wie Geertz (1978) darlegt, versuchen die Marktteilnehmer, diese Suchkosten zu reduzieren. Zwei erfolgreiche Verfahren dabei sind das Bargaining, also Feilschen oder Handeln, sowie die Clientelization, also das Herausbilden langfristiger Beziehungen, in denen gegenseitiges Vertrauen die vollkommene Information ersetzt. Nun sind die Märkte für die hier beschriebenen Produkte und Dienstleistungen alles andere als transparent: Qualität und Preise sind kaum vergleichbar, die Konkurrenz ist nicht gleich nebenan und kann vielleicht überhaupt nicht ausfindig gemacht werden. In einer solchen Situation besteht erhebliche Unsicherheit hinsichtlich des Preises, und zwar für die Produzentin wie für den Käufer. Diese Unsicherheit wird umgangen, indem Vertrauen an die Stelle der Transparenz tritt. Durch die Weiterempfehlung der Kunden durch einen Dritten wird die Qualität garantiert und die Preisabsprache aus den Verhandlungen zwischen Produzentin und Kunde herausgenommen. Die Preise werden a priori als gerecht oder angemessen definiert; sie sind für Verhandlungen tabu. Die Vertrauenswürdigkeit des Dritten beruht darauf, dass er mit beiden Partnern durch ein Netz sozialer Verpflichtungen verknüpft ist. Diese sozialen Bindungen sind für alle Beteiligten wichtiger als der mögliche Vorteil, den eine Partei aus einem ‚unehrenhaften‘ Verhalten bei der geplanten Transaktion erzielen könnte. In der Folge verhalten sich beide Parteien absprachekonform. In der Terminologie von Geertz liegt hier also ein ausgeprägter Fall der Clientelization vor. Der Unterschied liegt jedoch darin, dass in diesem Fall die Einbettung in das soziale Umfeld eine Vertrauensbeziehung schon bei der ersten gemeinsamen Transaktion und damit nicht nur für langfristige Verkäufer-

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Kunden-Beziehungen ermöglicht. Bei allen Veränderungen lassen sich diese Verhaltensmuster bis in die Vortransformationszeit zurückverfolgen. Jedoch findet diese beiderseits vorteilhafte Organisationsform auch ihre Grenzen: Die Kundschaft per Empfehlung lässt sich nicht beliebig ausweiten, es wird Fälle geben, in denen das Vertrauen missbraucht wird, und nicht zuletzt ist die Definition eines ‚gerechten‘ oder ‚angemessenen‘ Preises dynamisch und liegt zudem im Spannungsfeld zwischen Gewinninteresse und sozialer Verantwortung. Die hieraus entspringende Notwendigkeit, sich ständig gegenüber den Kunden aus der erweiterten ‚Eigenen-Gruppe‘ als Geschäftsfrau zu rechtfertigen, die für ihre Leistungen berechtigte Preise verlangt, und andererseits die Anbindung an diese Gruppe aufrechtzuerhalten, versetzt die Frau in die Situation, die von Evers (1994: 8) als trader’s dilemma bezeichnet wurde: „They would therefore have to choose between losing either cash or social esteem. In either case they stand to lose, i.e. they are in dilemma in the strict sense of the word.“ Durch den Wechsel von sozialer und kultureller Umgebung kann das Dilemma gelöst werden. Für die informellen Produzentinnen bedeutet das ein Umstellen der Tätigkeit auf anonyme Kunden. Man entscheidet sich für die Emigration im Sinne eines Angebots von Dienstleistungen, die aus dem weiteren sozialen Kontext herausgenommen werden. Dies kann auch einen tatsächlichen Wechsel des Wohnortes bedeuten. So war es für die Kleinhändlerin Šachida, 34, die den Ort ihrer Tätigkeit von Taschkent nach Ekaterinburg (Russland) verlegt hatte: R.: „Als ich [mit dem Kleinhandel] angefangen habe, da habe ich immer im Auftrag Sachen geliefert. Ich konnte auch nicht anders, hatte kein Geld. Und auf dem Markt konnte ich nicht handeln, denn mein Sohn war noch zu klein. Aber als meine Mutter pensioniert wurde, da bin ich gleich weggegangen.“ I.: Von wo? R.: „Na, von Zuhause, von Nachbarn, die mich immer schief angeguckt haben, obwohl ich für einige auch was herbrachte“. I.: Und was sagen die Nachbarn jetzt dazu? R.: „Interessiert mich nicht, obwohl – manchmal denke ich, meine arme Mutter, sie muss sich damit auseinandersetzen. Aber sie sagt, es sei schon in Ordnung. Will mich einfach nicht deprimieren.“

Die Erweiterung der Kundschaft durch die Anbindung an anonyme Märkte stellt eine Kompromisslösung dar. Denn dadurch wird einerseits „the depersonalisation (disembedding) of economic relations“ (Evers 1994: 10) bezüglich der neuen Kunden erreicht, andererseits bleibt die einkommensgenerierende Tätigkeit der Frau in Bezug auf Produktion, Haushaltsführung, Kinderpflege, Gemeinschaftspflichten usw. in ihre soziale Umwelt eingebettet. Doch die Märkte sind nicht frei zugänglich, sondern es gibt Markteintrittsbarrieren und -kosten, die zudem von persönlichen Beziehungen, der Art der Tätigkeit und weiteren Umständen abhängen. Und die Tatsache, dass es verschiedene Marktsegmente gibt – von formell organisierten Marktplätzen, innerhalb derer man zwischen traditionellen Basaren und Kleinhändlermärkten unterscheiden muss, über die spontan entstandenen Handelsplätze bis hin zur Vermarktung

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von Dienstleistungen durch Kundenbesuche oder Anzeigen in der Zeitungen oder im Kabelfernsehen –, beweist diesen Zusammenhang. Der Einstieg in die organisierten Märkte wird leichter oder überhaupt erst möglich, wenn man dabei auf die Ressourcen der ‚Eigenen-Gruppe‘ zurückgreifen kann. Auf jeden Fall kann man hier über einen Wendepunkt in der Karriere der informellen Produzentin sprechen: R.: „Diesen Schritt auf die Straße traue ich mich noch nicht. Aber wenn ich länger ohne Aufträge bleiben sollte, dann werde ich mich wahrscheinlich doch zusammenreißen müssen und einfach hingehen“. I.: Wo würden Sie dann hingehen? R.: „Hier zum ‚Universam‘, da stehen schon viele. Und das macht mir auch Angst, nicht nur die Peinlichkeit, auf der Straße zu stehen. Denn ich mache ja alles von bester Qualität, aber wer wird denn das in dieser Menge erkennen?“ (Olja, 37, Konditorin)

Der erste ‚Schritt auf die Straße‘ wird als einer der dramatischsten Momente in der Karriere wahrgenommen. In dieser Unentschlossenheit erkennt man die Angst, alleine ‚draußen‘ handeln zu müssen. Mit dem Schritt auf die Straße, der manchmal wie im Beispiel auch wörtlich vollzogen werden muss, wird man nicht nur für neue anonyme Kunden, sondern auch für anderen Produzenten sowie für Kontrollorganisationen sichtbar. Man hat sich also mit dem freien Markt auseinander zu setzen, den man zu Hause nicht direkt zu spüren bekommt.

4.3 Gestaltung der Handlungsräume nach ‚Außen‘: Legitimation In der sozialen Welt dienen Handlungen von Akteuren nicht nur ihren rationalen Zielen, sondern sie werden auch von Normen und Werten gesteuert. Sie werden also nicht nur nach materiellen Bedingungen und ihrer Effizienz eingeschätzt, sondern ‚Richtigkeit‘ und ‚Legitimität‘ sind bei ihrer Einschätzung zentral. Demgemäß konzentriert sich das Analyseinteresse auf die Frage, wie die Akteure in ihren Lebenswelten ihre Beziehungen zur Außenwelt gestalten. Es geht also um „emphasizing action“ (Seur 1992: 116). Die äußere Gestaltung der frauenökonomischen Handlungsräume erfolgt in der Schaffung von Handlungsfeldern, die unter anderem zur gesellschaftlichen Legitimation der Frauenökonomie dienen. Die Handlungen finden im Bereich der gegenüber den marktorientierten Tätigkeiten ausgeübten sozialen Kontrolle statt, also insbesondere am interface mit Staat, Nachbarschaft und Kundenkreis. Dies deutet auf den moralökonomischen Charakter der Frauenökonomie hin. Der gesamte Aufbau von äußeren Handlungsfeldern der Frauenökonomie beruht auf solchen reziproken Beziehungen, denen ein unterschiedlicher Generalisierungsgrad beigemessen werden kann.

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Die soziale Kontrolle wird gegenüber den marktorientierten Tätigkeiten der Frauen in zwei Formen ausgeübt – durch die staatliche Kontrolle und durch die Kontrolle der Öffentlichkeit (Elwert 1987). Der Staat dient dazu, „[…] Standards zu definieren und Abweichungen als sanktionierbar zu erklären“ (Elwert 1987: 315). Diese Standards – Gesetze, Erlasse, Verordnungen usw. – sind für die marktorientierte Tätigkeit insbesondere im Hinblick auf Steuern und Abgaben von Bedeutung. Diese wiederum werden vor allem durch die Art der Registrierung der Tätigkeit bestimmt. Hierbei können im Wesentlichen drei Formen unterschieden werden: Tätigkeit ohne Zulassung, Registrierung als Einzelunternehmer und Registrierung als juristische Person. Tabelle 1: Organisationstypen wirtschaftlicher Tätigkeit

Umgangssprachliche Bezeichnung Staatliche Registrierung Lizenzierung Produktionsort Rechnungslegung Mitgliedschaft in Berufsverbänden Bankkonto b

Besteuerung

Mitarbeiter

Ohne Zulassung Informelles Business keine entfällt

Einzelunternehmer

Juristische Person

Patent, Natürliche Person, Individual

Firma, Juristische Person

Lokalverwaltung

Justizministerium

nicht geregelt

für bestimmte Tätigkeiten Gewerberauma

entfällt

vereinfacht

voll

entfällt

freiwillig

verbindlich

freiwillig keine

monatliche Pauschale in Abhängigkeit von Tätigkeit und Ort

nur Familiennicht geregelt; mitglieder; z.T. Partner, keine Angestellten Familienmitglieder erlaubt

verbindlich a) vollc (Ertrags-, Kapitalsteuer etc.) b) vereinfacht: Bruttoumsatzsteuer beliebig viele; mit Registrierung und Sozialabgaben

Anmerkungen: a vom Wohnraum getrennter Raum, der von Feuerwehr und Sanitärinspektion abgenommen werden muss b ohne informelle Angaben c in Abhängigkeit von der Unternehmensgröße

Tabelle 1 fasst die wesentlichen Eigenschaften dieser drei Organisationstypen in Bezug auf das Interface mit dem Staat zusammen. Dabei ist stets zu bedenken, dass diese offiziellen Regelungen gesellschaftlich eingebettet sind, dass also z.B. Netzwerke genutzt werden können, um Regelungen zu umgehen o-

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der dass Regelungen auch nur geschaffen werden, um bestimmten Interessen zu dienen. Eine Folge davon ist, dass offizielle Anforderungen, seien es Registrierung, Lizenzierung, Besteuerung oder anderes, häufig zum Anknüpfungspunkt für die Erhebung zusätzlicher informeller Forderungen werden. Umgekehrt ist eine Tätigkeit ohne Zulassung natürlich illegal, was ebenfalls Anlass zu informellen Forderungen geben kann. Insofern ist die Tabelle nur als Referenzpunkt für die weitere Analyse zu sehen; auf konkrete Ausgestaltungen des Interfaces wird dann anhand einiger rekonstruierter Fallstudien einzugehen sein. Wie aus der Tabelle deutlich wird, steigt mit dem Umfang der unternehmerischen Tätigkeit der Grad der notwendigen Formalisierung. Diese Formalisierung ist mit Kosten verbunden, und zwar sowohl mit einmaligen (Registrierung, Lizenzen) als auch mit ständigen (Steuern, Abgaben, Zeitaufwand). Dies gilt um so mehr, als häufig neben den offiziellen Beträgen noch weitere Zahlungen geleistet werden müssen. Eine Formalisierung ist für den Unternehmer nur dann sinnvoll, wenn sie zu einer Erhöhung des Gewinns führt und/oder wenn die Sanktionsdrohung des Staates bei Ausübung nicht legalisierter Aktivitäten glaubwürdig ist, d.h. wenn die Registrierung zu einer Zunahme an Sicherheit führt. An dieser Stelle ist es notwendig, einige allgemeine Charakteristika der usbekischen Wirtschaft zu erwähnen, die alle genannten Organisationstypen in ähnlichem Maße betreffen. Wie in Kapitel 2 angedeutet, machen Rechtslage und -praxis eine wirtschaftliche Tätigkeit für Kleinunternehmer auch im postsowjetischen Vergleich außerordentlich schwierig. Dies betrifft Beschränkungen des Bargeldverkehrs12 ebenso wie Behördenwillkür – die plötzliche Schließung ganzer Basare samt Konfiskation der Waren ist an der Tagesordnung – und natürlich das Währungsregime. Eine Folge dieser Verhältnisse ist, dass ein Kreditangebot von Banken oder anderen offiziellen Institutionen praktisch nicht besteht, und zwar im Wesentlichen unabhängig vom Organisationstyp.13 Die Finanzierung der wirtschaftlichen Aktivitäten ist daher maß12 In Usbekistan gilt nach wie vor die aus sowjetischer Zeit übernommene Regelung, dass Bargeld nur Personen verwendet werden darf, während alle Zahlungen zwischen Unternehmen per Überweisung erfolgen müssen. Schnittstellen sollen lediglich die Lohn- und Gehaltszahlungen sowie der Einzelhandel sein. Die Einzelhändler sind verpflichtet, ihre Tageseinnahmen jeden Abend in der Bank abzugeben. Die offizielle Begründung für diese Beschränkung ist, dass über eine Kontrolle der Bargeldmenge die Inflation kontrolliert werden könne. In der Praxis jedoch ist die Wirtschaft weitgehend bargeldorientiert, und Waren und Leistungen sind gegen Bargeld für 10–20% preiswerter zu erhalten als gegen Überweisung. In weiten Bereichen der Wirtschaft ist es praktisch unmöglich, mit Überweisungen zu arbeiten. Dies drängt die Kleinunternehmen in die Illegalität, da sie gezwungen sind, Bargeldeinnahmen zu verheimlichen, um sie nicht in der Bank abgeben zu müssen, sondern für das Geschäft verwenden zu können. 13 Zwar gibt es einige staatliche Kreditprogramme, doch ist der Zugang in der Praxis meist auf Bekannte beschränkt bzw. er ist nur bei Zahlung entsprechender

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geblich auf eigene Mittel, informelle Quellen wie Verwandte und Geldverleiher sowie Lieferantenkredite bzw. Anzahlungen beschränkt. Im Hinblick auf das Interface mit dem Staat ist es wichtig zu verstehen, dass die Akteure klar zwischen dem ‚Staat als solchem‘ und seinen Vertretern unterscheiden. Der Staat wird von den Akteuren oft als eine symbolische Macht wahrgenommen, welche die Rahmenbedingungen für ihre Tätigkeiten konstituiert, und auf die der einzelne Akteur keinen Einfluss hat. Das Verhältnis mit den Vertretern des Staates dagegen wird weitgehend nach den Prinzip der „gegenseitigen Nachsicht“ (Lewada 1993) aufgebaut. Auch wie zu Sowjetzeiten, als „[…] die Unterordnung unter die allgemeine Planung […] als Garantie für eine gewisse wirtschaftliche Autonomie“ (Lewada 1993: 33) diente, wird die individuelle wirtschaftliche Tätigkeit als private Angelegenheit gesehen, wobei man innerhalb gewisser Grenzen auf die Tolerierung seitens nicht nur der Verwandten und Bekannten, sondern auch der staatlichen Vertreter zählen kann. Diese können ihre Position dazu nutzen, um die staatlichen Sanktionen willkürlich, d.h. von Fall zu Fall, auszusetzen. Dieser Sachverhalt bestätigt sich in der Frage der Registrierung der wirtschaftlichen Tätigkeit: Trotz der allgemein bekannten Tatsache, dass eine staatliche Registrierung wirtschaftlicher Tätigkeit gesetzlich vorgeschrieben ist, weist das Verhalten der Akteure darauf hin, dass die Entscheidung aushandelbar ist. Wie im Folgenden geschildert, gilt dies für alle oben genannten Typen von Unternehmen: Es gibt ein Vielzahl von nicht registrierten Unternehmern, deren Existenz und Aktivitäten den Vertretern des Staates sehr wohl bekannt ist. Einzelunternehmer beschäftigen häufig Angestellte, obwohl dies nicht erlaubt ist, und selbstverständlich bleibt den Steuerinspektoren auch nicht verborgen, dass viele juristische Personen systematisch Steuern hinterziehen. Die Art der Selbstwahrnehmung der eigenen wirtschaftlichen Tätigkeit sowie eine große Unkenntnis der Gesetzgebung bestimmen die Handlungsrationalität der Akteure in diesem Handlungsfeld. Oft wird die Tätigkeit im informellen Sektor von den Produzenten nicht als unternehmerische Tätigkeit angesehen. Es wird an erster Stelle auf den unregelmäßigen Charakter des Einkommens hingewiesen: R.: „Wenn ich ein reguläres Einkommen hätte, wie zum Beispiel, die, die in den Kiosken handeln, dann würde ich mich registrieren lassen. Sonst schaffe ich es jetzt nicht, eine Lizenz zu bezahlen. 5 000 Sum im Monat ist für mich zu viel. Ich muss doch ständig was kaufen. Und andererseits, auch wenn ich keine Aufträge habe, muss die Lizenz Monat für Monat bezahlt werden, ich kann ihnen da doch nicht erklären, dass ich nicht viel verdiene.“ I.: Und woher weißt Du, dass es 5 000 Sum monatlich sind? Schmiergelder möglich. Vor allem wegen der Bargeld- und Fremdwährungsbeschränkungen existierten zum Zeitpunkt der Untersuchung auch keine nennenswerten Programme in- oder ausländischer Mikrokreditorganisationen. Selbst Pfandhäuser gibt es in Usbekistan nicht.

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R.: „Eine Bekannte sagte es mir, sie handelt mit Kräutern.“ (Galija, 35, Schneiderin)

Aus dem Beispiel kann man auch eine Vorstellung über den Informationsstand der Akteure über die gesetzlichen Rahmenbedingungen gewinnen.14 Informationsaustausch findet vorwiegend im Bekanntenkreis statt, eine systematische Information mittels der (sämtlich staatlich kontrollierten) Medien ist kaum möglich. Aufgrund der lebenslangen Erfahrungen wird offiziellen Verlautbarungen und Berichten nur ein eingeschränkter Wahrheitsgehalt beigemessen. Die vereinzelten kritischen Berichte in den Medien verstärken dabei nur die Vorstellungen über Korruption und Willkür der Behörden.15 An den Unvollkommenheiten der Gesetzgebung scheitern viele Versuche, die Tätigkeit offiziell registrieren zu lassen. So berichtet Tanja, 46, die internationale Heiratsbekanntschaften per Internet vermittelt, über ihre Versuche, sich bei der Lokalbehörde als Unternehmerin zu registrieren: „Ich bin zum Chokimijat gegangen, wollte offiziell arbeiten. Und die Frau da sagte zu mir: ‚Nein, so eine Tätigkeit steht nicht in unserer Liste.‘ Und ich sagte, ich will doch Steuern zahlen. Und sie sagt, ‚dann zahlen sie halt nicht.‘ Gut, dann zahle ich halt nicht.“

Andererseits sind Einstellungen verbreitet, die man als ein ‚Echo von gestern‘ bezeichnen kann. So wie früher bei den staatlichen Großbetrieben mit hoch differenzierten Subordinationssystemen wird auch heute geglaubt, dass man sich, wenn man im Auftrag arbeitet, nicht mehr selbst um die eigene rechtliche Lage zu kümmern braucht. Ein typisches Beispiel ist Natalja, 33, die als

14 Es wird oft von einer ‚Lizenz‘ als einer Erlaubnis für die Ausübung einer Tätigkeit gesprochen, die ziemlich schwer zu bekommen sei. In Wirklichkeit geht es um ein so genanntes ‚Patent‘, eine Zulassung, die man bei der Registrierung als ‚natürliche Person‘ beim Finanzamt bekommt. Als ‚natürliche Person‘ werden hier Einzelunternehmerinnen bezeichnet, die eine, so der offizielle Begriff, „wirtschaftliche Tätigkeit ohne Bildung einer juristischen Person“ ausüben. Je nach Art der Tätigkeit wird dann eine Pauschalsteuer berechnet, die man monatlich zu bezahlen hat. Eine Lizenz dagegen braucht man nur für einige bestimmte Tätigkeiten, die gefährlich sein können (o.V. 2001, Ekonomičeskoe Zakonodatel’stvo Respubliki Uzbekistan). 15 Aysulu Kurbanowa (2000) liefert in ihrem Artikel Ženščina vychodit na Basar eins von vielen Beispielen, wie die Gesetze im Alltag von der lokalen Verwaltung missbraucht werden. So wurden in einem Erlass des Präsidenten vom 21.01.1994 alle Tätigkeitsformen genannt, für deren Ausübung man eine Lizenz braucht. Doch zu diesem Erlass gibt es eine Verordnung des Chokim (Bürgermeisters) von Taschkent über die Dienstleistungsbetriebe, nach der sie, unabhängig von ihrer Eigentumsform, eine Erlaubnis für ihre Tätigkeit von der Taschgorbit (Taschkenter Städtische Dienstleistungsbetriebe) bekommen müssen. Das Taschgorbit seinerseits nutzt die Gelegenheit, um alle Antragsteller zur (kostenpflichtigen) Mitgliedschaft bei der Assoziation der kommunalen Dienstleistungsbetriebe zu zwingen.

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‚Realisatorin‘ von französischen Kosmetikartikeln bei einem Handelsunternehmen tätig ist:

R.: „Nach einer Zeit dachte ich, ich sollte mich vielleicht registrieren lassen. Ich bin ja den ganzen Tag in der Öffentlichkeit, kann halt passieren, dass ich kontrolliert werde. Aber meine Chefin sagte, ich brauche mich nicht zu kümmern, sie macht es schon. Gut, dann denke ich, sie wird es schon besser wissen“. I.: Und wenn Sie auffallen werden? R.: „Dann werde ich sie anrufen, sie weiß mit denen zu sprechen.“

Die beiden letzten Beispiele zeigen, dass die staatlichen Sanktionen aushandelbar sind. Die Legitimation gegenüber dem Staat kann häufig der Legitimation bei den konkreten Menschen, die staatliche Kontrolle ausüben, gleichgestellt werden. In den Beispielen erwies sich dies als vorteilhaft für die informellen Unternehmerinnen. Dies muss aber keineswegs immer so sein, denn umgekehrt garantiert auch der Besitz eines Patents keinen Schutz vor Behördenwillkür: Gerade durch die offizielle Registrierung können andere Behörden wie die Sanitäts- oder Feuerinspektion oder auch die Miliz auf den Plan gerufen werden. Andererseits wird die Androhung einer Strafe für eine fehlende Registrierung eher als symbolisch wahrgenommen. Dies gilt insbesondere auch im Hinblick auf die Art der Steuerfestsetzung in Usbekistan, die eben nicht geordnet und per Einkommensteuererklärung, sondern durch Verhandlung mit dem jeweiligen Steuerinspektor erfolgt. Bei diesen Verhandlungen können moralische Argumente wie die Bedürftigkeit der Familie von großer Bedeutung sein. Nicht zuletzt spielt hierbei die Führung einer gemeinsamen Familienkasse eine Rolle, was eine Verschleierung des wahren Umsatzes oder Gewinns des Produktionsbereichs einfacher macht und damit der Steuervermeidung dienen kann. Es werden also auf diesem Handlungsfeld „Strategien der Anpassung oder Verweigerung“ (Lachenmann 1990: 131) eingesetzt, die durch Erhalt eines Patents oder Verheimlichung der Tätigkeit gekennzeichnet sind. Die Handlungsrationalität kann jedoch nur durch den gesamten Aufbau der Frauenökonomie erklärt werden. Für eine detaillierte Analyse der strategischen Gestaltung von Handlungsräumen kann hier der physische Produktionsstandort als einer der wichtigsten Parameter genannt werden. Denn durch ihn wird die eigene Wahrnehmung der Notwendigkeit, sich beim Staat zu legitimieren, ebenso beeinflusst wie die Legitimationsform. Andererseits kann die Entscheidung über den Produktionsort selbst zur strategischen Handlung auf dem Feld sozialer Kontrolle werden. Durch das Platzieren des Produktionsortes wird entschieden, in welchen sozialen Kontext die Tätigkeit eingebettet wird. Es wird also bestimmt, welche soziale Einheit als ‚Öffentlichkeit‘ hervortritt und über welche Mittel die Legitimation erfolgt. Moral erfüllt dabei die Rolle der Steuerungsprinzipien (Schrader 1994: 3). Die „Zuweisung von Ansehen und Schande“ (Elwert 1987: 405) sowie Peinlichkeit und Scham (Elias 1981; Schrader 1994: 3) oder die „internalisierten Selbstzwänge und Kontrollmechanismen“ (Schrader 1994: 3) sind im Begriff ‚Moral‘ als Form der sozialen

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Kontrolle inbegriffen. „Moral ist demnach eine Funktion sozialen Wandels, wobei die Grenzen der sozialen Einheit die Grenzen der Moral markieren“ (Schrader 1994: 4). Die Legitimation der marktorientierten Tätigkeit der informellen Produzentinnen gegenüber der Öffentlichkeit erfolgt durch die Aushandlung von ‚vernünftigen Preisen‘, ‚Qualitätsarbeit‘ und das Image der Produzentin als einer fleißigen und ehrlichen Frau. Wenn wir Standort und rechtliche Lage der Tätigkeit als Grundlage für eine Typenbildung nehmen, so kommen wir auf folgendes Schema, in dem je nach dem Typ die sozial legitimen Handlungsalternativen eingesetzt werden. Tabelle 2:

Schematische Übersicht wirtschaftlicher Tätigkeiten

Zu Hause An öffentlichen Orten

ohne Zulassung Typ I Typ III

mit Zulassung Typ II Typ IV

In den folgenden Abschnitten werden anhand von rekonstruierten Fallstudien die Typen dargestellt, wobei die Formen der sozialen Legitimation sowie die sie konstituierenden einzelnen Strategien den Schwerpunkt der Analyse bilden. Typ I – Zu Hause ohne Zulassung Die Telefonnummer von Nelja, einer Schneiderin, bekomme ich von einer meiner Bekannten, die der Meinung ist, sie würde wohl nichts dagegen haben, sich mit mir zu unterhalten. Als ich Nelja anrufe und sie mit dem Hinweis auf meine Bekannte um einen Gespräch bitte, sagt sie zu, denn die Bekannte hat ihr schon Bescheid gesagt. Sie nennt mir ihre Adresse, ich kann sie zu Hause besuchen. Nelja, 37, wohnt in einer 2-Zimmer-Wohnung in einem Mehrfamilienhaus im Stadtzentrum. Ein Zimmer dient seit 6 Jahren als Schneiderei und zugleich als Schlafzimmer für sie und ihren Mann. Die Kinder – zwei Jungen von 12 und 13 Jahren – schlafen im Wohnzimmer. Auf dem Boden im Arbeitszimmer neben dem großen Tisch liegen Stapel von Mappen. „Meine Kunden“, sagt Nelja. Es sind 53 Mappen mit Modellen, alles Leute, für die Nelja einmal etwas angefertigt hat. Je häufiger ein Kunde mit einem Auftrag kommt, desto dicker die Mappe. Es sind 18, die Nelja als ihre regelmäßigen Kunden bezeichnet. Auf die Frage, wie die Kunden sie finden, sagt sie: R.: „So wie Du, durch Bekannte. Erst rufen die [Bekannten] an und fragen mich, ob jemand bei mir vorbeikommen kann. Und dann kommt sie, wenn es mir passt.“ I.: Was heißt: ‚wenn es Dir passt‘?

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R.: „Na wenn ich sicher bin, wer das ist, und auch wenn ich Zeit habe, wenn die Preise stimmen. So rief neulich ein Mädchen an und konnte gar nicht erklären, woher sie meine Telefonnummer hat, hat gesagt, sie habe es vergessen. Na, dann sagte ich zu ihr, sie hat sich wohl verwählt. Es kann doch sein, dass sie vom Finanzamt ist.“

Nelja hat kein Patent, denn ihrer Meinung nach verdient sie zu wenig und zu unregelmäßig, um auch noch Steuer zu bezahlen. Nach eigenen Überlegungen, rechnet sie aus, verdient sie im Durchschnitt 15 000 bis 20 000 Sum im Monat. Aber kein Monat ist dem anderen gleich, und manchmal sitzt sie ganz ohne Arbeit da. Die illegale Lage, wie sie es selbst bezeichnet, macht ihr wenig Sorge, denn „wichtig ist, was die Kunden von dir halten. Ob mit Patent oder nicht. Wenn einer sich ein Medizindiplom kauft, ist er nicht gleich ein Arzt. Und mir vertraut man, weil man mich kennt, man weiß, wie ich arbeite, wofür noch Papiere?“

Der Aufbau des Kundenkreises aus Bekannten bzw. von Bekannten vermittelten Personen versichert Nelja gegen ungewolltes Auffallen bei den Behörden, vor allem dem Finanzamt. Daher muss Nelja aber auch auf eine breite Kundschaft verzichten. Das wird durch die Intensivierung der schon bereits bestehenden Beziehungen kompensiert. „Ja, manchmal kümmere ich mich um sie wie um kleine Kinder. Eine ruft an und weiß nicht, was sie will, dann müssen wir es uns zusammen überlegen. Eine andere kann nur um 7 Uhr morgens kommen, die andere erst um 10 Uhr abends, oder jemand will das Kleid nun gleich morgen haben. Und ich bemühe mich, denn ich will, dass sie meine Kunden bleiben und es uns beiden gefällt. Schneidern können ja viele.“

Nelja glaubt, ihre Kunden mit der Qualität ihrer Arbeit und niedrigen Preisen zu überzeugen. Bei der Festlegung des Preises beruft sie sich auf die Preise, die man auf dem Markt für selbstangefertigte Kleidung verlangt oder auf die Preise von anderen Schneiderinnen. Obwohl sie berichtet, keine Kontakte zu anderen Schneiderinnen zu pflegen, weiß sie über die Preise Bescheid: I.: Wie kommst Du darauf, dass Deine Preise niedrig sind? R.: „Weil ich es weiß. Man bekommt ja zu hören, was die anderen verlangen.“ I.: Von wem? R.: „Na von allen, ich frage ja auch, wenn ich ein Kleidungsstück bei jemandem sehe, was das gekostet hat. Und nun mache ich es für meine Kunden etwas billiger. Aber auch nicht so, dass ich umsonst arbeite.“

Die Kosten für die Arbeit werden grundsätzlich nach Zeitaufwand berechnet. Dann legt Nelja eine Preisspanne für sich fest, und je nach Situation wird ein höherer oder niedrigerer Preis genannt. „Eine Bluse ist nicht gleich eine Bluse und eine Kundin ist auch der anderen nicht gleich. Wenn ich sehe, dass sie nicht viel bezahlen kann, oder sie sagt, sie habe nicht

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so viel Geld übrig, dann mache ich es für sie billiger, ehe ich sie verliere. Denn ich habe auch andere Damen, die sich für den Preis nicht interessieren. Aber ich denke, ich handle gerecht.“

Sie ist überzeugt, dass ihre Preise gerecht sind, und geht davon aus, dass die Kunden es auch so empfinden: „Manchmal sagen mir einige sogar, dass ich zu wenig Geld nehme. Ich solle nicht so schüchtern sein.“ Nelja mag es nicht, mit den Kunden direkt über den Preis zu verhandeln, es ist ihr peinlich, wenn jemand denkt, sie wolle leichtes Geld verdienen. Andererseits sieht sie darin den Versuch, sie als unehrliche Frau zu diskreditieren. Denn bevor es zu einem Treffen zwischen Produzentin und neuem Kunden kommt, werden beide Seiten schon von der Person, die den Kontakt vermittelt, vorbereitet, so dass solche ‚heiklen‘ Themen wie Preisvorstellungen nicht mehr für Überraschungen und dadurch zu Spannungen in der Beziehung führen. Sollte es doch zu einem Konflikt kommen, so wird dieser schnell von der finanziellen Ebene – die meistens den Anlass zum Konflikt bietet – auf die Ebene persönlicher Beziehungen übertragen. I.: Kommt es mal zu Konflikten mit Deinen Kunden? R.: „Nur einmal wurde ich betrogen – man hat mir nur den halben Preis bezahlt. Eigentlich wird der Preis sofort, noch am Telefon abgesprochen. Aber es gibt Leute, die sich für den Preis nicht interessieren. Sie sagen, ‚du kaufst den Stoff selber und machst alles fertig, und dann bezahle ich alles zusammen.‘ So hat es auch eine Nachbarin, und ich würde sagen, eine nicht arme Frau, zu mir gesagt. So haben wir uns abgesprochen. Ich schreibe den Preis gewöhnlich auf einen Zettel unter dem Modell und gebe es so ab. Und sie nahm das und ging nach Hause. Und dann kommt sie und sagt, vielleicht habe ich mir diesen Preis einfach ausgedacht [d.h. der Preis ist nicht angemessen] und sie würde nur so und so viel bezahlen. Ich war so entsetzt, als sie wegging, und habe geweint. Nun mache ich nichts mehr für sie, sogar wenn mich jemand anderes bittet, mit ihr darüber zu sprechen.“

Solche ‚peinlichen Situationen‘ werden mit dem Ehemann ausdiskutiert, bei dem sie immer emotionelle Unterstützung findet, aber dann auch mit der Person, die diesen Kontakt vermittelt hat, und auch mit anderen Kunden, denn ehe es zu Gerüchten kommt, möchte Nelja allen alles klar machen. Besonders peinlich wird es, meint Nelja, wenn solche Kunden aus der Nachbarschaft sind. Denn dadurch können ihre Beziehungen zu Nachbarn, die durch einen großen Solidaritätsgrad ausgezeichnet sind, beschädigt werden. Dass die Nachbarn auch zum Kundenkreis gehören, sieht Nelja positiv und negativ zugleich: „Mit den Nachbarn haben wir gute Kontakte. Hier machen viele was, man muss doch irgendwie leben. Aber wenn ich mal auffalle [bei der Steuerbehörde], dann werde ich entweder aufhören müssen, oder ein Patent beantragen, denn sie [Steuerbehörde] werden doch sicher die Machalla mit der Aufsicht beauftragen.“

Die Nachbarn stellen also keine direkte Bedrohung für die informelle Tätigkeit dar, solange sich viele damit beschäftigen und Solidaritätsgefühle durch gegenseitige Hilfe oder Dienstleistungen zueinander pflegen. Aber die Nach-

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barschaft als eine formale Institution – Machalla – kann von einer anderen Institution verpflichtet werden, die Kontrolle auszuüben. Ihr ‚Erfolg‘, dass sie bis heute noch nie aufgefallen ist, wird nicht nur der eigenen Kompetenz und oder dem Glück zugeschrieben. Die Bedrohung durch eine ernsthafte Kontrolle sieht sie eher als unwahrscheinlich. Nelja sieht sich zu uninteressant für die ‚ernsthaften‘ staatlichen Kontrollorgane: „Gott sei Dank wurde ich noch nie kontrolliert. Andererseits – manchmal denke ich, die da sollten sich um etwas Wichtigeres kümmern, ich bin schließlich kein Mafioso.“ Sollte es doch zu einer Kontrolle kommen, ist Nelja entschlossen zu versuchen, mit den Behörden zu einer Absprache zu kommen. Zwar berichtet sie, keine ‚nützlichen Beziehungen‘ dazu zu haben, was die Verhandlungen sicher einfacher machen würde – ein privates ‚menschliches‘ (počelovečeski) Abkommen wäre ihr lieber als eine Geldstrafe. Denn eine Geldstrafe ist eine offizielle Maßnahme, die weitere Prüfungen und Überwachungen seitens des Machalla-Komitees nach sich ziehen und ihre weitere Tätigkeit unmöglich machen würde. Die Entscheidung für den Erwerb eines Patents würde die Notwendigkeit einer Neugestaltung der Verhältnisse mit den Kunden bedeuten: „Ich kann jetzt kein Patent nehmen. Denn Patent bedeutet Steuer. Ich werde dann meine Preise gleich steigern müssen. Da weiß ich nicht, wie viele von meinen Kunden mitmachen werden. Da würde ich mehr arbeiten müssen, und zwar mit mehr Kunden, als ich jetzt habe. Nein, das kann ich mir noch nicht vorstellen.“

Nelja ist sicher, dass, wenn sie in solche Schwierigkeiten geraten sollte, sie mit der Loyalität ihrer Kundinnen rechnen kann, und auch mit ihrer Hilfe, wenn sie darum bittet. Man kann auch versuchen, die zu Hause gefertigten Produkte von jemandem verkaufen zu lassen. Die Frage nach dem gegenseitigen Vertrauen gewinnt hier wieder an Bedeutung. Man muss sicher sein, von den ‚Realisatoren‘ nicht verraten zu werden. Einerseits geht es hier darum, dass die ‚Realisatoren‘ mögliche Probleme mit dem Finanzamt und anderen Kontrollorganen auf sich nehmen, andererseits will man verhindern, dass die Gewinne durch ‚unsauberes‘ Verhalten von ‚Realisatoren‘ reduziert werden. Mangelndes Vertrauen blockiert in der Praxis oft solche Versuche. Typ II – Zu Hause mit Zulassung In Zeitungen und im Kabelfernsehen sowie an den Verkehrshaltestellen und überall auf der Straße fallen Anzeigen über verschiedene Dienstleistungsangebote ins Auge. Meistens steht eine private Telefonnummer darunter. Als eine freiberuflich tätige selbständige Person mit Zulassung hat man die Möglichkeit, sich für eine breitere Kundschaft sichtbar zu machen und gleichzeitig die Tätigkeit zu Hause zu betreiben.

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Olga ist 28 und bietet PC- und Internet-Kurse für Anfänger an. Zusammen mit ihrem Mann und ihren Eltern bewohnt sie ein Privathaus nicht weit vom Stadtzentrum. Das Haus gehört ihren Eltern, die das Erdgeschoss bewohnen. Eins von den zwei Zimmern auf der ersten Etage ist als Arbeitszimmer eingerichtet, mit vielen Büchern und einem PC. An der Wand hängen Diplome über den Abschluss von verschiedenen Programmierkursen und Psychologiekursen. Hier findet der Unterricht statt. Olga erzählt, wie sie ganz bewusst zu der Entscheidung gekommen ist, ein Patent zu erwerben: „Früher waren wir [sie und ihr Mann] als eine Firma registriert. Und da darfst Du nicht zu Hause arbeiten. Du musst einen gewerblichen Raum finden und ein Diensttelefon haben, nicht deins von zu Hause. Und wenn Du das alles mal hast, dann kommt Feuerwehr, Miliz, Strominspektoren, einfach so, weißt Du, um zu prüfen. Ich bin damals nur von einer Institution zur anderen gerannt. Und jetzt ist es viel angenehmer, ich bezahle einmal pro Monat 8 300 Sum und komme nur gelegentlich zum Finanzamt.“

Von den ungewollten Besuchen seitens der Miliz oder anderer kontrollierender Organe fühlt sich Olga durch ihre Arbeit zu Hause geschützt. Sie weiß, so hat man es ihr im Chokimijat bestätigt, dass sie ihre wirtschaftliche Tätigkeit nur mit der Steuerbehörde abklären muss, solange sie die Nachbarn nicht stört. Sie nimmt die Ausgabe von 8 300 Sum in Kauf, denn dadurch, meint sie, kann sie ungestört arbeiten und es liegt nur an ihrem Willen und ihrer Gesundheit, ob ihre Tätigkeit ihr Gewinne bringt. Durch den Erwerb eines Patents setzt eine Frau also ein Zeichen dafür, dass sie sich in der Lage fühlt, mit ihrer Tätigkeit ausreichende Gewinne zu machen, die durch Steuern nicht dramatisch reduziert werden. Eine wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die angebotenen Dienstleistungen auf eine ausreichende Nachfrage treffen. Zur Gewinnung von Kunden werden verschiedene Strategien eingesetzt: I.: Wo kommen Deine Kunden her? R.: „Von überall. Wir setzen Anzeigen in Zeitungen, aber meistens wird es so rumerzählt. Wenn einer bei uns gelernt hat, dann wird er über uns weiter erzählen.“

Obwohl die Anzahl der Interessenten nach Olgas Meinung nicht übermäßig groß ist, trifft sie auch eine Art Auswahl ihrer Kunden: „Ich arbeite nicht mit allen. Ich glaube, ich kann jedem PC-Kenntnisse beibringen, egal ob er aus dem Dorf kommt oder glaubt, es sei zu schwer. Daran liegt es nicht. Ich will einfach, dass wir uns als Menschen respektieren.“

Der Respekt zeigt sich unter anderem darin, dass man über den Preis nicht diskutiert. Olga hat eine Preisliste für ihre Kurse. Die Kurse hat sie selbst konzipiert. Um eine Vorstellung über die Preise zu gewinnen, hat sie sich bei den organisierten Anbietern über vergleichbare Kurse erkundigt. Dadurch,

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dass ihre Preise niedriger sind, glaubt Olga, sich auf einen anderen Kundenkreis zu orientieren, als die organisierten Anbieter: „Unsere Kunden sind die, die entweder einen individuellen Zugang brauchen – denn bei uns können sie selber entscheiden, wann sie kommen und überhaupt, wie die Unterrichtszeit aufgeteilt wird. Oder es gibt die Schüchternen, wie ich sage, die sich nicht trauen, in einer Gruppe zu arbeiten. Und wenn sie dann noch über meine Preise verhandeln wollen, da bin ich stur. Das hier ist schließlich keine Wohlfahrtseinrichtung.“

Olga erwähnt, dass durch die Präsenz fremder Menschen zu Hause eine Bedrohung für die eigene Sicherheit besteht. Sie versucht, mit solchen Kunden nur in Gegenwart ihres Mannes zu arbeiten: „Bei einigen, bei Männern, da fühle ich mich manchmal unruhig, ich weiß ja nicht, vielleicht denken sie, ich sei allein zu Hause, ja und meine Eltern sind alt. Deshalb will ich, dass sie meinen Mann sehen, dass er immer zu Hause ist.“

In diesem Zusammenhang werden die Bekannten oder Nachbarn zu den angenehmen Kunden gezählt, mit denen es sich konfliktlos arbeiten lässt. Olga berichtet auch, den ‚Eigenen‘ häufig ‚umsonst‘ einige Gefälligkeiten zu tun, wenn jemand zum Beispiel ein Problem mit seinem PC hat oder einfach kurz etwas schreiben will. Aus solchen Gefälligkeiten, die in einem weiteren Kontext gesehen gegenseitigen Charakter tragen16, hat sich für Olga eine zusätzliche Einkommensquelle entwickelt. Einigen ihr bekannten Frauen hilft sie, den Anschluss zu Internet-Bekanntschaftsklubs herzustellen. Da die meisten keine Englischkenntnisse haben, hilft sie auch, den Briefwechsel zu übersetzen. Obwohl Olga behauptet, sich damit nur aus Spaß zu beschäftigen, bringt ihr jeder Brief 150 Sum, was sie als Kostendeckung für die Internetnutzung bei dem Briefwechsel berechnet (zum Vergleich: eine Stunde Unterricht mit Internetnutzung kostet ca. 450 Sum). Das Benutzen eines Patents als eine Art Deckmantel für weitere Tätigkeiten kommt nicht selten vor. Die Logik dabei ist, dass die häufigen Besuche von Kunden bei der Nachbarschaft sowie bei Kontrollorganisationen mit der patentierten Tätigkeit erklärt werden können. Nur werden diese zusätzlichen Dienstleistungen nach dem Muster ‚Kundschaft per Empfehlung‘ angeboten, das im vorhergehenden Abschnitt beschrieben wurde. Der Besitz eines Patents ermöglicht den Zugang zu Berufsverbänden, was zu einem besseren Informationsstand über die eigenen Rechte sowie über mögliche Wege zur Erweiterung des Geschäfts beiträgt. Obwohl man, nach Olgas Meinung, diesen Organisationen nicht zu viel Vertrauen schenken sollte:

16 Siehe dazu Abschnitt Status und sozialer Austausch in Kap. 5.1.

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R.: „Das einzige, was ich von meiner Mitgliedschaft bei dem Unternehmensverband habe, ist, dass ich mich da jederzeit beschweren kann. Es bringt nichts, aber wenn man es öfter tut, wird man von ihnen in Ruhe gelassen.“ I.: Von wem? R.: „Na von unseren ‚guten‘ kontrollierenden Organen.“

Olga bezeichnet sich gerne als eine Unternehmerin, die ihre Familie versorgen kann. Und ihre Eltern sind stolz auf sie. Auch in der Nachbarschaft und unter den Freunden würde sie respektiert und manchmal auch beneidet, wofür sie nicht immer Verständnis hat: „Wenn die Tochter von unseren Nachbarn sagt, sie möchte gerne so wie ich sein, dann ist es noch in Ordnung. Aber wenn meine Freunde mir vorwerfen, ich sei zu hochnäsig geworden, dann denke ich, dass sie mich nur beneiden und selbst nur jammern können.“

Seitdem Olga selbständig arbeitet, ist sie viel kritischer geworden in ihren persönlichen Kontakten. Sie versucht eine Umgebung für sich zu schaffen, in der sie von Menschen, die auch aktiv sind, Unterstützung und Verständnis bekommt. Oft sind es Menschen, mit denen sie die Programmier- oder Psychologiekurse besucht hat und zu denen sich freundschaftliche Beziehungen entwickelt haben. Typ III – An öffentlichen Orten ohne Zulassung Man entscheidet sich, ohne eine Zulassung zu haben, an öffentlichen Plätzen wie Basaren oder Verkehrsknotenpunkten, Büros usw. seine Produkte oder Dienstleistungen anzubieten. Meistens wird damit gerechnet, durch den Kundenstrom ausreichend Gewinne machen zu können, bevor die Kontrolle kommt. Trotz der scheinbaren Kurzsichtigkeit dieser Strategie sind ihre Vertreterinnen überall zu finden. Um die Mittagszeit geht Zoja mit zwei großen Taschen zum Čor-Su – einem der größten Basare in Taschkent, 10 Minuten zu Fuß von dem Haus der Schwester entfernt. Die Schwester bleibt nun zu Hause, da sie wohl mit ihren kleinen Kindern noch viel zu tun hat. Gleich an einem der Eingänge zum Marktgelände stehen schon andere Frauen mit ihrem Gebäck. Zoja stellt sich in ihre Reihe und legt ihre in Stücke geschnittene Torte auf einem Tablett aus. Es sind nicht immer die gleichen Frauen, die an diesem Platz handeln. „Mal kommen neue oder es zeigt sich jemand eine Weile nicht. Ich merke mir das alles nicht, schließlich darf hier sich jeder daneben stellen, keiner fragt, was Du hier willst.“ Auf die Bitte, mehr über die Unterhaltung zwischen den Frauen zu erzählen, sagt Zoja: R.: „Wir kennen einander schon, aber nicht sehr gut […], einige kenne ich mit Vornamen, andere nicht. Wir sprechen miteinander einfach so, es ist doch langweilig, da die ganze Zeit zu stehen.“

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I.: Sprechen Sie über Ihre Preise? R.: „Nein, ich habe meine Preise und die anderen ihre, jeder entscheidet für sich.“

Man stellt bald fest, dass die Auswahl an Süßigkeiten, welche die ca. 15 Frauen auf ihren Tabletts anbieten, nicht gerade sehr groß ist – es sind 3 oder 5 Sorten von Gebäck, die sich ständig wiederholen. Auch die Preise sind relativ gleich. Zoja berechnet ihre Preise aus den Zutatenkosten und nimmt 500 Sum für die Arbeit je Torte. Und weil alle es so machen und sich die Kosten für die Zutaten nicht wesentlich unterscheiden, meint Zoja, so sind auch die Preise gleich, nur nimmt eine 50 Sum mehr oder weniger für ihre Arbeit. Eine bis drei Stunden verbringt Zoja auf dem Markt. „Und die ganze Zeit habe ich nur einen Wunsch: schnell wieder zu Hause zu sein.“ Um den Verkauf zu beschleunigen, bietet Zoja ihr Gebäck stückweise an, sie geht zum Basar zu der Zeit, zu der ihrer Meinung nach die meisten Kunden – Schüler, junge Leute – da sind. Sie bemüht sich auch, dass ihre Preise nicht höher als bei anderen sind und ist bereit, manchmal um „eine Kleinigkeit“ (20 Sum) billiger zu verkaufen. Der Grund für solche Eile ist, dass Zoja der Kontrolle seitens der Miliz entkommen möchte, weil man auf dem Marktgelände ohne Patent nicht handeln darf. R.: „Wenn ich einen Milizionär sehe, dann gehe ich raus und warte, bis er weg geht.“ I.: Und die anderen? R.: „Auch sie machen es so. Ich denke, da hat keine ein Patent. Einige bleiben dann, um mit ihnen zu sprechen. Nun, es ist die Sache von jedes Einzelnen, wie es geregelt wird.“

In der Regel zahlt man eine Strafe in Höhe von 500 Sum (ein Stück Kuchen kostet je nach Art von 80 bis 200 Sum) und wird verwarnt. Nach Rückzug der Miliz ‚geht alles wieder seinen Gang‘. Zoja berichtet, dass solche Vorfälle nun zum Alltag gehören und außer Geldverlust keinen weiteren Schaden mit sich bringen: „Sie haben doch einen Plan zur Bekämpfung solcher Leute wie mir zu erfüllen. Nun denke ich, haben sie heutzutage etwas Wichtigeres zu tun […] mit allen diesen Taliban.“ Für die Legitimation des eigenen Verhaltens appelliert man an die Gerechtigkeitsgefühle der Kontrolleure. Es wird zugegeben, gezwungen zu sein, diese Tätigkeit auszuüben, weil man eine Familie zu erhalten hat und auf solche Weise ein bisschen Geld verdienen wollte. Das Publikum – andere Händler, Kunden – wird in den Verhandlungsprozessen als Zeuge involviert. Oft wird ein unangenehmes Gefühl erwähnt, sich als ‚Spekulantin‘ öffentlich präsentieren zu müssen, was dann wiederum mit der Notwendigkeit des Gelderwerbs gerechtfertigt wird. Trotz der Auffälligkeit ihrer Tätigkeit auch an anderen öffentlichen Plätzen – in Dienstgebäuden oder in U-Bahnübergängen – haben die Kontrolleure es schwer, ein Vergehen nachzuweisen:

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„Was können sie denn beweisen, dass ich ein Paar Blusen dabei habe. Na gut, die können sie mir wegnehmen. Das wäre ja schade, aber sonst können sie mich nicht aufhalten.“ (Svetlana, 34, Kleinhändlerin)

Eine solche Strategie wird selbst von den Akteurinnen oft als vorübergehend bezeichnet. Zoja, ausgebildete Volkswirtin, berichtet, für ein Patent noch „nicht reif“ zu sein: „Wir müssten dann 10 000 Sum monatlich Steuer bezahlen. Das können wir heute nicht. Wenn wir später einen Betrieb organisieren, mit Verkaufsstellen, dann wird es Sinn haben.“ Typ IV – An öffentlichen Orten mit Zulassung Wie bereits die Bezeichnung deutlich macht, wird die Tätigkeit öffentlich und mit gültiger Zulassung betrieben. Die Formen, welche diese Tätigkeit annimmt, sind vielfältig und hängen von der Art der Dienstleistungen sowie den Zugangsmöglichkeiten der Akteurinnen zu den Märkten ab. Ein alleinstehender Geschäftsraum (z.B. ein Friseursalon, Restaurant oder ein Kiosk im Wohnviertel), ein Platz oder ein Laden auf dem Basar, ein Raum in einer Institution (z.B. ein Massageraum in einem Fitnessstudio oder Krankenhaus) – so unterschiedlich alle diese von Frauen geleiteten Unternehmen erscheinen, weisen sie doch die Gemeinsamkeit auf, dass eine Notwendigkeit besteht, die öffentliche Präsenz gegenüber den staatlichen Kontrollorganen und der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. In Gegensatz zu den oben beschriebenen Typen wird hier die Preisbildung kalkuliert und mit geschäftlichen Ausgaben – Miete, Steuer – sowie mit Faktoren wie Dollarkurs oder der Kaufkraft der Kunden direkt in Verbindung gesetzt. Man berichtet, die Preise wie in Geschäften zu haben, ‚wie bei allen, wie bei den anderen‘.17 Mit der Bezugnahme auf ‚alle‘ oder ‚die anderen‘ beweist man seine ‚Normalität‘, weil man ‚wie die anderen‘ handelt. Andererseits grenzt man sich von dem Verhalten der ‚anderen‘ ab. Diese werden in den seltensten Fällen personifiziert, sondern es wird allgemein behauptet, die anderen könnten ihre Geschäfte mit maximalen Profiten abwickeln, weil sie keine moralischen Pflichten hätten. Damit beansprucht man Loyalität seitens der Kunden und der ‚Eigenen-Gruppe‘. Gul’čichra, 39, die mit importierten Stoffen auf einem Kleinhändlermarkt handelt, wo sie einen festen Platz hat, erklärt, wie sie ihre Preise bildet: „Preise mache ich wie alle – 15–20 % von dem Preis auf dem Ippodrom. Wenn aber die Ware länger liegen bleibt, dann gehe ich gleich runter mit dem Preis, denn ich will, dass die Kunden bei mir immer wieder was Neues finden, nicht wie bei den anderen.“

17 „Kак у всех, как у других“.

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Auch die Verkäufer von selbst angefertigten Waren vertreten meist die Position, dass der Umsatz wichtiger als der Gewinn aus jeder einzelnen verkauften Ware ist. Die öffentlich betriebene individuelle Tätigkeit wirkt anziehend auf die Vertreter verschiedener staatlicher Institutionen, die unter der Maske ihrer Dienstaufsicht an dem Markterfolg der Unternehmen profitieren wollen. Um die unkontrollierten Besuche, nicht nur seitens der Steuerbehörden, sondern auch der Miliz, Sanitätskontrolle, Feuerwehr, Stromverwaltung und der lokalen kommunalen Verwaltung zu bewältigen, greift man auf Klientel-Netzwerke zurück. Die Beschützerrolle übernehmen auch Angehörige der näheren sozialen Umgebung, vor allem Verwandte. Die Rolle des Patrons (kryša – ‚Dach‘) spielen in einigen Fällen diejenigen Institutionen bzw. Personen, welche die Schlüsselpositionen besetzen, unter deren Dach man tatsächlich arbeitet. Nina, 42, hat eine Massagepraxis in einer Poliklinik. Den Oberarzt kennt sie schon seit ihren Studienzeiten: „Rafšan lässt mich in Ruhe arbeiten. Er sagt nur, ich soll meine Papiere und Steuer in Ordnung halten.“ Auf den Märkten oder anderen öffentlichen Orten lassen sich Strategien verfolgen, die zum Aufbau der kollektiven Sicherheit beitragen. Anhand des in Kapitel 3 dieser Arbeit eingeführten Falles von Tašbu, die ein Familienrestaurant besitzt, lässt sich die Einbettung in ein solches kollektives Sicherheitssystem darstellen. Hält man mit dem Auto an einem Ort ca. 30 km von Taschkent Richtung Süden, so sieht man auf einer Straßenseite drei nebeneinander liegende Restaurants. Im Schatten daneben sitzen Frauen, die ‚Airan‘ (ein Erfrischungsgetränk aus Sauermilch und Kräutern) verkaufen. Auf der anderen Straßenseite gegenüber den Restaurants findet man einen Laden mit Snacks, Zigaretten, Arak (Schnaps), Seife und Shampoo, kleinen Spielzeugartikeln. Autos halten an, die Menschen machen Mittagspause, kaufen sich etwas. Wenn man die Straße eine Weile genau beobachtet, bemerkt man eine ältere Frau in grünem Kleid, die dauernd auf der Straße hin und her läuft. Die Frau heißt Tašbu, ihr gehört eins von den drei Restaurants. Auch der Laden und die zwei anderen Restaurants an diesem Ort werden von Frauen betrieben. Tašbu mit ihren 59 Jahren ist die älteste von ihnen, und sie ist schon am längsten da. So hat es sich ergeben, das sie zur inoffiziellen Chefin des Ortes gewählt wurde. So berichtet die Ladenbesitzerin: „Gut, dass wir hier alle zusammen sind. So habe ich keine Angst, abends zu arbeiten. Denn es ist doch Straße, verstehen sie […]. Und Tašbu, sie ist unsere Chefin hier, sie ist so mutig, kann mit jedem sprechen, sei es ein Betrunkener oder wenn jemand von der Kontrolle kommt. Sonst hätte man kein Leben – Steuern, Miliz, Sanitätskontrolle, Feuerwehr – alle kommen und nehmen, was sie wollen.“ (Šoira, 35)

Seit einigen Jahren besteht unter den Frauen eine Vereinbarung, dass alle ‚Besucher‘ zu Tašbu geschickt werden. So hat man keinen direkten Kontakt mit den Behörden. Tašbu empfängt sie dann in ihrem Restaurant, verhandelt über die Höhe des Betrages. Dann teilt sie den anderen mit, was zu bezahlen ist. Die Kosten für das Essen bei Tašbu werden dabei mitgerechnet. Die Frauen

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berichten, volles Vertrauen zu Tašbu zu haben und nie ihre Ehrlichkeit in Zweifel gezogen zu haben. Auch die Frauen, die im Schatten ‚Airan‘ verkaufen, leisten ihren Beitrag zu diesem System. Sie besitzen keine Zulassung, haben sich mit Tašbu aber abgesprochen: „Klar können sie hier handeln. Ich fing doch damals auch damit an. Wir sind alle Nachbarn hier, und essen wollen wir doch schließlich auch alle.“ Mit dieser Beteiligung entscheiden sich die Frauen lieber für die Anpassung an das System von Tašbu, sie alleine mit den Kontrollorganen verhandeln zu lassen. Allerdings kann man nicht außer Acht lassen, dass die Freiwilligkeit dieser Entscheidung wesentlich dadurch beeinflusst wird, dass sich alle Frauen aus dieser Straße an dem System beteiligen. Tašbu selbst hat zwei Patente und ein Bankkonto, von dem die Steuer monatlich abgebucht wird. So hat es ihr eine Steuerbehörde vorgeschrieben. Das hilft ihr aber nicht, die Besuche von den Kontrollorganisationen zu verhindern. Sie fügt ein: „Hauptsache, dass sie nicht zu oft hierher kommen. Ich empfange sie hier immer höflich und zu Essen kriegen sie immer das beste […] – ja und etwas Geld noch. Aber, bitte, nicht zu oft!“

Tašbu weiß, dass ihr Alter und das Geschick im Umgang mit Menschen entscheidend sind. Sie bemüht sich um ihren Ruf in der Ortschaft. Neulich hat sie einen Parkplatz vor ihrem Restaurant bauen lassen, so dass alle der Meinung sind, dass es so viel schöner und bequemer für Kunden und ‚Eigene‘ ist. Die Verantwortung der Chefin erstreckt sich auch auf die allgemeine Disziplin und Ruhe in dem Ort. Auf ihre Autorität beruft man sich auch in Bereichen, die nicht unmittelbar mit der kollektiven Sicherheit verbunden sind – z.B. Änderung des Sortiments, Erweiterung des Geschäfts. Auch die ‚Kontrolleure‘ sprechen respektvoll von Tašbu. „Hier lebt man ehrlich, aber nicht nach dem Gesetz“, resümiert Tašbu.

4.4 Zusammenfassung: Moralökonomische Grundlagen der Frauenökonomie Die Handlungen der Akteure beim Aufbau von äußeren Handlungsfeldern der Frauenökonomie werden durch eine bounded socioeconomic rationality charakterisiert, also durch sozioökonomische Rationalität unter sozialen Beschränkungen (Schrader 1994: 16). Die Akteure schaffen ihre Handlungsräume nach ‚Außen‘ in ständiger Suche nach dem geeigneten Handlungsmuster. Die konkreten Ausprägungen dieser Handlungsmuster sind dynamisch. Sie werden durch situationsbedingte Wechsel von Strategien gebildet. Die Auswahl der legitimen Handlungsalternativen hängt vom konkreten sozialen Kontext ab. Der Grad der Einbettung ist wesentlich von persönlichen Eigenschaften und Vorstellungen von sozialer Distanz oder Nähe abhängig. Dennoch

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kann man von gemeinsamen grundlegenden Handlungsparametern sprechen. Diese Handlungsparameter weisen auf den moralökonomischen Charakter der Frauenökonomie. Es kann eine deutliche Präferenz für eingebettete Handlungen nachgewiesen werden. Vertrauen und Solidarität, die solche Handlungen begleiten, bilden eine Grundlage für soziale Sicherheit, die als höchstes Ziel gesehen wird. Die Strategien für den Aufbau kollektiver und individueller Sicherheit sind dabei nicht als Alternativen zu sehen, sondern als Bausteine zur Gestaltung der eigenen Handlungen. Mit ihrer Einstellung, dass es besser ist, weniger Kunden, aber nur vertrauensvolle Menschen zu haben, besser, weniger Gewinn zu machen, als die Kunden zu verlieren, die Kundschaft zu beschränken, als die Gewinne durch Abgaben – ob Steuer oder Schmiergeld – zu reduzieren, bestätigen die Produzentinnen die Priorität der Sicherheit vor kurzfristigem Gewinn. Hierin spiegelt sich wider, dass eben nicht nur (kurzfristiger) wirtschaftlicher Erfolg das Ziel der Aktivitäten ist, sondern ein möglichst langfristig sicheres Einkommen zur Subsistenzsicherung der Familie. Die Bemühungen um den Erhalt der Position in der Gemeinschaft, in welche die Frauenökonomie eingebettet ist, bilden einen weiteren Handlungsparameter. Die Priorität der Einbettung vor den monetären Gewinnen wird besonders deutlich, wenn die Kunden zur selben Gemeinschaft gehören. Das gilt auch dann, wenn sich auf der Grundlage von marktorientierten Tätigkeiten neue Gemeinschaften von selbständigen Akteuren bilden, wie z.B. auf dem Rastplatz in Toy-Tepa. Der Vergleich mit anonymen ‚Anderen‘ gehört zu den verbreiteten Strategien für die gesellschaftliche Legitimation des eigenen Verhaltens auf den meisten Typen von Märkten. Auch der Wechsel der sozialen Umgebung, der z.B. durch Emigration oder Auslagerung des Produktionsstandortes oder durch Eintritt in einen neuen Bekanntenkreis erfolgen kann, sprechen dafür, dass die Suche nach dem geeigneten sozialen Milieu von großer Bedeutung ist. Das Verhältnis zum Staat wird nach dem Schema von Klientel-Beziehungen aufgebaut. Kennzeichnend ist dabei die aus Sowjetzeiten gebliebene gegenseitige Nachsicht, so dass die staatlichen Strafsanktionen eine eher symbolische Bedeutung haben, während man im Alltag zur Strategie der Aushandlung mit den Vertretern der staatlichen Kontrollorgane greift. Die Einbeziehung der Machalla-Strukturen als Vermittler in der Interaktion zwischen dem Staat und informellen Produzenten verstärkt diese Tendenzen. Neben den Klientel-Beziehungen, die vertikal aufgebaut sind, spielen horizontale Beziehungen eine wichtige Rolle bei der Gestaltung von Handlungsräumen der informellen Produzentinnen nach Außen. Hierbei kann in Anlehnung an Wallace (1997) zwischen horizontalen symmetrischen und horizontalen nichtsymmetrischen Beziehungen unterschieden werden. Als Beispiel für horizontale symmetrische Beziehungen, die Wallace zur Beschreibung von reziproken Beziehungen zwischen Kleinhändlern einführt, kann einerseits die gegenseitige Toleranz unter Konkurrentinnen dargestellt werden – wie im Fall Zoja in ihrem Verhältnis zu anderen Tortenverkäuferinnen. Andererseits finden die horizontalen symmetrischen Beziehungen darin Ausdruck, dass sich informel-

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le Produzentinnen unterschiedlicher Waren gegenseitig die Kunden liefern. Dadurch, dass die Nachbarschaft vom Staat die Aufgabe der Aufsicht über die wirtschaftlichen Aktivitäten ihrer Mitglieder erhält, wird die Einbettung der letzteren verstärkt. Im Sinne der strategischen Handlung bedeutet es, dass die Mittel für die Legitimation von marktorientierten Tätigkeiten gegenüber Staat und Öffentlichkeit bis zu einem gewissen Maße übereinstimmen. Dabei wird die Bedeutung der horizontalen nicht-symmetrischen Beziehungen klar, die vor allem auf einer Beziehung aus den vergangenen Zeiten basieren oder aber auf spontaner Solidarität beruhen (vgl. Wallace 1997: 39). Auf der Grundlage der allgemein schwierigen materiellen Lage, durch welche die alltäglichen Handlungen der Bevölkerung bestimmt werden, gewinnt ein Bild der Frau, die für das Überleben ihrer Familie sorgt, an Legitimationspotenzial. Durch das Abgrenzen der eigenen wirtschaftlichen Aktivitäten von denen von ‚Spekulanten‘ – unehrlichen Unternehmern – mittels ‚angemessener Preise‘ und ‚guter Qualität‘ sowie durch Investitionen in soziale Beziehungen wird der Ruf als ‚gute Frau‘ erarbeitet. Es geht dabei im Wesentlichen um „accumulation of status honour (cultural capital)“, was Evers (1994: 10) als eine der möglichen Lösungen für das trader’s dilemma nennt. Wenn eine Unternehmerin von ihrem erwirtschafteten Gewinn einen öffentlichen Parkplatz baut oder den bedürftigen Kunden Preisnachlass gewährt, dann kann sie mit der Loyalität der Gesellschaft rechnen – auch der Vertreter der staatlichen Kontrollorgane.

5 IDENTITÄTSBILDUNG ZWISCHEN FREIHEIT UND MARGINALISIERUNG Aus individueller Sicht ist die Bildung einer eigenen Identität, die sich aus Werten, Selbst- und Weltbild, materiellem und sozialem Status sowie vielen anderen Aspekten zusammenfügt, von hervorragender Bedeutung für die livelihood. Entscheidend ist dabei, dass sich Identitäten1 immer in der sozialen Interaktion, in der Auseinandersetzung und dem Vergleich mit anderen entwickeln, deren Lebenswelt und sozialer Status sich stark von denen der Handelnden unterscheiden können (vgl. Long 2000: 197). Identitäten unterliegen einem ständigen Prozess des Hinterfragens, des Überprüfens und der Veränderung. Dies gilt insbesondere in einer Zeit tiefgreifender gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umbrüche, die zu einer Neudefinition von Handlungsmustern, Überzeugungen und Wahrheiten – kurz: einer Neudefinition von Identitäten – zwingen. Identitätsbildung ist auf das Engste mit Sinnsetzung verknüpft. Wichtig für die Analyse ist eine Herangehensweise, welche die Handelnden als Subjekte ernst nimmt (vgl. Lachenmann 1995a: 11). Nur so ist es möglich, aus den Handlungen auf die zugrundeliegende Sinnsetzung rückzuschließen. Diese Grundannahme bestimmt nicht nur die wissenschaftliche Analyse, sondern auch die Interaktion zwischen den Handelnden selbst. Die Analyse von Sinnsetzungen ist eine komplexe Aufgabe. Es müssen zum einem die Kategorien erfasst werden, entlang derer die Alltagspraktiken ihren Sinn erhalten. Zum anderen müssen aber auch die für die Sinnsetzungen relevanten sozialen Einheiten definiert werden. Sozialer Austausch wird somit als Mechanismus der Definition eines sozialen Gebildes als Einheit und zur Bestimmung der Grenzen verstanden. In diesem Zusammenhang sind die Begriffe von ‚Wir-Gruppe‘ und Lokalität2 zentral. Determinanten für ‚Wir-Gruppen‘ und Lokalität können die Zu01 Nach Elwert (2002: 40) kann das Konzept der Identität in drei miteinander verbundenen Begriffen operationalisiert werden: „a) Belongingness (membership, the binding together of different people) […], b) Self-information (what do people think characterises themselves), c) Self-valuation/attribution of prestige (what are parameters of esteem and where does one place one’s own group in relation to others)“. 02 In Anlehnung an Korff (2001: 145) wird hier unter Lokalität ein „Begriff zur Kennzeichnung der Interdependenz zwischen sozialer Organisation, Raum und Wissen“ verstanden.

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gehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, einer Region oder einem Staat, aber auch einer Familie, einer Berufs- und Altersgruppe oder einer bestimmten sozialen Schicht wie auch religiöse, weltanschauliche und politische Überzeugungen sein. ‚Wir-Gruppen‘ werden durch Gruppenaushandlungen am interface der verschiedenen Handlungsfelder gebildet und erfahren in einem dynamischen Prozess ständige Überprüfung und Anpassung. ‚Wir-Gruppen‘ sind nicht exklusiv. Die Individuen gehören immer verschiedenen ‚Wir-Gruppen‘ an, die sich nur teilweise überschneiden, und haben damit multiple Identitäten. Insofern haben auch Lokalität und ethnische Zugehörigkeit keinen exklusiven Charakter, auch wenn sie häufig von sehr starken Zusammengehörigkeitsgefühlen getragen werden und/oder sich politisch instrumentalisieren lassen, indem ihnen eine Dominanz über andere ‚Wir-Gruppen‘ zugeschrieben wird. Gerade im sowjetischen bzw. postsowjetischen Zusammenhang lassen sich parallel existierende Zugehörigkeiten zu ganz verschiedenen ‚Wir-Gruppen‘ feststellen, die zum Teil auch sehr widersprüchlich sind. So ist es im allgemeinen Sprachgebrauch auch zehn Jahre nach dem Ende der Sowjetunion noch üblich, Menschen aus allen ehemaligen Sowjetrepubliken als ‚unsere‘ (naši) zu bezeichnen, was auf die immer noch vorhandene Gruppenidentität der Sowjetbürger3 hinweist. Gleichzeitig aber werden die nationalen und anderen (kleineren) Gruppenidentitäten betont, gerade auch in Abgrenzung zu Angehörigen anderer Ethnien oder Bürger anderer Republiken. Welche Facette der Identität im Vordergrund steht, ist nicht zuletzt auch kontextabhängig. So mag bei einem Treffen eines Usbeken und eines Russen in der Taschkenter Altstadt das Trennende im Vordergrund stehen – sehen sich die beiden zufällig in New York, werden sie sich vielleicht freudig als ‚unsere‘ begrüßen. In der Transformationszeit sind ‚Wir-Gruppen‘-Prozesse und Lokalitäten einem besonders starken Wandel unterworfen, weil gleichzeitig nationale, wirtschaftliche, ideologische und viele andere Dimensionen der Gesellschaft grundlegend neu ausgehandelt werden. Aus der Akteursperspektive erfolgt dieser Wandel in Wechselwirkung zwischen äußeren Einflüssen und individuellen Umgewichtungen in der Sinnsetzung. Was in Usbekistan zu beobachten ist, kann man also als eine Neudefinition der Gruppenidentitäten bezeichnen: „Identities are remoulded also by political movements that define different aggregates of people as the target of their politics, or who instrumentalise identifications for the organisation of support“ (Schlee 2002: 8).4 03 Gerade in der Ambivalenz dieses Begriffes wird die Komplexität von ‚WirGruppen‘-Prozessen deutlich: Während die Realität auch schon zu sowjetischen Zeiten nicht dem propagandistischen Gebrauch des Begriffes als quasi allumfassende Identität entsprach, bleibt die Zusammengehörigkeit in gewissen Zusammenhängen noch bestehen, obwohl die definierende (staatsrechtliche) Grundlage seit 10 Jahren obsolet geworden ist. 04 Auf die Art und Richtung politischer Bewegungen im Transformationsprozess wird in den folgenden Abschnitten eingegangen.

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In Bezug auf die hier untersuchte Zielgruppe ist eine Diskussion der Lokalitäten besonders wichtig, denn hier treffen, so Elwert (2002: 47), zwei zentrale Prozesse für die Bildung von ‚Wir-Gruppen‘-Identitäten zusammen: Moralökonomie und Institutionen der Konfliktlösung. Die Kategorien der Sinnsetzung sowie die relevanten sozialen Einheiten können nicht vorab bestimmt, sondern nur in einer empirischen Forschung erfassbar gemacht werden. Wie die Analyse zeigt, wirken nicht nur Familie oder Machalla, sondern auch translokale Beziehungen über ausgewanderte Freunde sowie die Massenmedien, vor allem das Fernsehen, identitätsbildend.

5.1 Welchen Sinn macht die Selbständigkeit? ‚Menschenwürdiges Dasein‘ als zentrale Kategorie Da die einkommensschaffenden Tätigkeiten kaum von anderen Lebensbereichen getrennt werden können, sind auch die Anreize und Schwierigkeiten (Risiken) dafür aus der gesamten Lebenswelt der Handelnden heraus zu verstehen. Als zentrale Kategorie der Livelihood-Strategien kann das Bestreben nach einem ‚menschenwürdigen Leben‘ (žit’ po-čelovečeski) bezeichnet werden. Damit ist auch klar, dass ein Scheitern bei der Generierung von Einkommen nicht nur als Bedrohung der Tätigkeit an sich, sondern auch des gesamten Lebensprojekts angesehen wird, das im Transformationsprozess ohnehin massiv in Frage gestellt und umgedeutet wird. Im Folgenden wird untersucht, mit welchen konkreten Inhalten dieses Konzept des menschenwürdigen Lebens gefüllt wird. Absicherung der Existenz Eine wesentliche Kategorie ist die Aufrechterhaltung oder Erhöhung des Lebensstandards. Der direkte Zusammenhang zwischen der einkommensschaffenden Tätigkeit und dem materiellem Wohlstand ist offensichtlich. Damit können die Handlungen auf ihre Sinnhaftigkeit im Hinblick auf diese Kategorie untersucht werden. Angesichts der Bedeutung des Einkommens aus dieser Tätigkeit für das gesamte Familienbudget (vgl. vorherige Kapitel) hängt die Befriedigung von existenziellen Bedürfnissen wie Essen und Kleidung direkt vom Ablauf dieser Tätigkeiten ab. Dementsprechend sind die einkommensschaffenden Tätigkeiten von existenzieller Bedeutung. Die Marktanbindungen der Produzenten werden durch vielerlei Risiken bedroht. Die Hauptsorge der Produzenten sind die allgemein fallende Kaufkraft der Kunden sowie die zunehmende Konkurrenz: In einer Lage, wo es, nach den Worten einer meiner Gesprächspartnerinnen, mehr Händler als Kunden gibt, können die Preise nicht erhöht werden. Sveta, 32, Schneiderin, ist

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besorgt, dass sie trotz der allgemein steigenden Lebenskosten die Preise für ihre Dienstleistungen nicht erhöhen kann: „Bei uns dreht sich alles um die Finanzen – keiner hat Geld. Die Leute kaufen sich heutzutage lieber etwas zu essen, als sich für das Geld etwas nähen zu lassen. Also muss ich die Preise [niedrig] halten, damit mir die Kunden nicht alle weglaufen.“

Die Strategien zur Lösung dieses Problems werden durch das Intensivieren der Arbeit bestimmt. Nur durch das Ausschöpfen aller Transaktionsmöglichkeiten kann man überleben. Der nicht normierte Arbeitstag – der gemeinhin als frauen- und familienfreundlich angesehen wird – weist auf die Marktunsicherheiten und Absatzschwierigkeiten hin, denen die Produzenten begegnen. Nicht normiert bedeutet in der Praxis häufig, dass so viel wie möglich gearbeitet wird, weil jede Pause den Verlust von Kunden bedeuten kann. Gul’čichra, 39, ist seit sechs Jahren auf dem Basar tätig: „Wir sind fast am längsten hier. Das ist eine schwere Arbeit […]. Rein physisch ist es schwer, nicht alle können das durchhalten, werden krank und so machen sie pleite […], man darf sich keine Erholungspause gönnen.“

Neben langen täglichen Arbeitszeiten ist die Saisonabhängigkeit einiger Tätigkeitsbereiche ein Problem: Die Bedeutung der Tätigkeit für die Befriedigung existenzieller Bedürfnisse zwingt die Frauen zur Weiterarbeit in Zeiten, in denen nur ein minimaler Gewinn erzielt werden kann. Šoira, 35, Ladenbesitzerin, beklagt sich, dass der Handel nur im Sommer gut läuft, wenn es viele Wochenendtouristen gibt. Im Winter gibt es kaum Kunden, dennoch kann sie den Laden nicht schließen: „Im Winter hat das Geschäft eigentlich keinen Sinn – ich friere hier nur. Aber ganz und gar ohne Kunden kommen wir nicht über den Winter.“ Gleichzeitig zwingen saisonale Höhepunkte die Frauen zu einer Intensivierung der Arbeit bis an die Grenze des Möglichen. Für viele Sektoren sind diese Höhepunkte die Hochzeitssaison im April-Mai und August-September sowie große Feiertage wie die Zeit um Neujahr oder der Internationale Frauentag am 8. März. „Letztes Neujahr war für mich eine schreckliche Zeit. Ich habe 20 Tage lang kaum geschlafen – nur gearbeitet. Eigentlich sollte ich mich über so viele Aufträge freuen, aber ich war am Ende mit meinen Kräften, dazu kam noch eine Erkältung. Gott sei Dank bin ich erst danach so richtig zusammengebrochen. Damals habe ich verstanden: ich darf nicht krank werden.“ (Olja, 37, Konditorin)

Aus den Zitaten wird u.a. deutlich, dass die Belastung durch die einkommensgenerierende Tätigkeit häufig zu einem Gesundheitsrisiko wird. Umgekehrt betrachtet ist der Gesundheitszustand der Frauen ein Risikofaktor für die Einkommenserzielung. Dies ist ein klares Zeichen dafür, wie unsicher und ungeschützt die komplexen Arrangements zwischen Subsistenz- und Marktproduktion sind. Dies gilt um so mehr, als es naturgemäß keine staatlichen Systeme

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für eine Absicherung informeller Tätigkeiten gibt und dass gleichzeitig, wie in den vorherigen Kapiteln gezeigt, die existierenden Sozialsysteme weitgehend ausgehöhlt wurden. Dass durch die marktorientierten Tätigkeiten in erster Linie das Überleben abgesichert wird, kann, wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, als eine der von Frauen verfolgten Strategien zur Lösung des trader’s dilemma verstanden werden. Wird die Tätigkeit nicht auf das Erzielen von Gewinn, sondern auf die Überlebenssicherung ausgerichtet, so wird sie vor gewissen Risiken und Zugriffen geschützt (vgl. Evers/Schlee 1995: 21). Trotzdem wird eine derartige Situation von den Akteuren selbst häufig als minderwertig angesehen. Der geringe Gewinn, der sich als Schutzfaktor auf dem Markt erweist, stellt einen wichtigen Anhaltspunkt für die Selbsteinschätzung der Akteure dar: Gala, 34, die sich mit der Herstellung von Fertigmahlzeiten beschäftigt, erzählt, wie sie von einer ihrer Bekannten ausgelacht wurde, als jene nach ihrem Beispiel versucht hatte, Geld zu verdienen und selbst erfuhr, wie gering der Gewinn für solche Bemühungen ist. Häufig wurde das geringe Einkommen sogar als Grund für die Absage für ein Gespräch genannt, weil den angesprochenen Frauen selbst die Tätigkeit an sich als zu uninteressant und unbedeutend erschien. Mein Interesse wurde manchmal auch als verdächtig (also z.B. von der Steuerinspektion geschickt) eingeschätzt, denn „die Einheimischen interessiert so etwas nicht“, so die Mutter einer Gesprächspartnerin. „Ich sehe das Geld tatsächlich nicht. Alles wird aufgegessen. Und das macht mir Angst.“ (Gala, 34) Diese und ähnliche Aussagen darüber, dass das ganze Geld ‚gegessen‘ wird, sind häufig sowohl von Frauen selbst als auch von ihren Haushaltsangehörigen als negatives und ernüchterndes Urteil über die einkommensschaffende Tätigkeit anzutreffen. Allerdings bedarf diese Einschätzung durchaus einer kritischen Analyse. Dabei können zunächst Veränderungen in den Essgewohnheiten der Familie betrachtet werden. Zu berücksichtigen ist, dass bei der subjektiven Beurteilung des materiellen Wohlstands häufig noch die eigene Situation in der sowjetischen Zeit als ‚normal‘ angesehen wird, d.h. als Messlatte angesehen wird, an der die gegenwärtige Lage gemessen wird. Dazu kommt noch, dass gerade die wichtigsten Lebensmittel Ende der 1980er und Anfang der 1990er noch nach einem Bezugskartensystem zu erwerben waren. Die auch in den ersten Jahren der Transformation noch bedeutende staatliche Subventionierung von Grundnahrungsmitteln wird auf immer weniger Produkte beschränkt. Nach der Abschaffung dieser Versorgungs- und Rationierungsmaßnahmen sind alle Produkte nur noch auf dem Markt und zu Marktpreisen zu bekommen. Wenn es durch die einkommensschaffende Tätigkeit gelingt, den gewohnten Standard zu halten, so wird dies von vielen Akteuren nicht als besonderer Erfolg angesehen, auch wenn bei vergleichbaren Personen, die keiner solchen Tätigkeit nachgehen, ein deutlicher Rückgang des materiellen Wohlstands festzustellen ist. Beispielhaft ist hier die Geschichte von Inna, 32, die nach der Trennung von ihrem Mann vor drei Jahren alleine mit zwei Kindern lebt. We-

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gen der kleinen Kinder konnte sie nicht in ihrem Beruf – Krankenschwester – arbeiten. Für das Geld, das der Ehemann ihr noch gegeben hatte, konnte sie nur bescheiden leben und musste es schaffen, mit einem Kilo Fleisch eine Woche lang auszukommen. Seit sie als Masseurin tätig ist, kann sie berichten: „Heute essen wir auch fast täglich Fleisch.“ Die Unregelmäßigkeiten des Einkommens werden als Bedrohung für die Essgewohnheiten der Familie angesehen und nicht selten durch Schulden ausgeglichen: „Solange ich gut verdiente, haben wir alles gegessen, was wir wollten. Verdiente ich weniger, so musste ich Schulden machen, denn meine [Familienangehörigen] waren an Sahne, Käse, Fleisch vom Basar gewöhnt. Verdiene ich wieder etwas, so zahle ich die Schulden zurück.“ (Natalja, 33, Kleinhändlerin)

Hierin zeigt sich aber auch, wie Chancen und Risiken der wirtschaftlichen Tätigkeit zusammenhängen, denn erst diese Tätigkeit machte die Gewöhnung an eine höherwertige Ernährung möglich. Darüber hinaus muss untersucht werden, welche Mitglieder der sozialen Umgebung durch die Tätigkeit der Frau mit ernährt werden. So muss gefragt werden, wer da mitisst, wenn auch nicht regelmäßig. In vielen Fällen ist es zum Beispiel üblich, dass sich die erwachsenen Kinder regelmäßig im Elternhaus treffen. Seit dem Tod ihrer Eltern sieht sich Džamilja, 47, die älteste Tochter, für das Wohl ihrer Geschwister verantwortlich: „Sie sind bestimmt einmal die Woche bei uns. Einfach so, ohne großen Anlass. Natürlich essen wir gemeinsam und erzählen, wie es uns so geht. Meine Brüder leben so mittelmäßig, brauchen öfter mal Geld. Ich leihe es, auch wenn ich weiß, ich werde mein Geld nicht so bald wiedersehen. Doch sie sind meine Brüder, Inflation – das gilt hier nicht, sie bringen das Geld zurück, wenn sie es schaffen.“

Hier wird deutlich, dass die Frau durch ihre wirtschaftliche Tätigkeit zumindest teilweise zur Ernährerin der (Groß-)Familie wird. Selbst wenn ein großer Teil des erzielten Gewinns für Nahrungsmittel verwendet wird, darf der Zusammenhang zwischen Ausgaben für den Subsistenzbereich und sozialem Status nicht übersehen werden. Status und sozialer Austausch Durch das obige Zitat von Džamilja wird der enge Zusammenhang zwischen materiellem Wohlstand und der Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen deutlich. Das Einladen der Brüder wird durch den erzielten Gewinn ermöglicht, dient aber außer zur Ernährung auch der Pflege der Familienbeziehungen. Das soziale Leben ist in hohem Maße auf große Ereignisse ausgerichtet. So weiß Džamilja, dass ihre Brüder die Schulden begleichen werden, wenn sie das Hochzeitsfest für ihren Sohn veranstaltet. Man sieht sich verpflichtet, sol-

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che Feiern, insbesondere Hochzeiten, möglichst prunkhaft zu gestalten. Das Geld hierfür wird von den Eltern von der Geburt des Kindes an gesammelt und gespart. Die Größe und der Aufwand einer Hochzeitsfeier bestimmen in nicht unerheblichem Maße den Status einer Familie. Gleichzeitig ist es weit verbreitet, über die hohen Ausgaben für solche Feste, die durch das soziale Umfeld ‚erzwungen‘ werden, zu klagen. „Bis die Kinder geheiratet haben, denkst Du immer daran. Jede Kopeke wird beiseite gelegt.“ (Nigora, 38) Mit weniger Aufwand, aber unverzichtbar, werden auch einige andere mit dem Lebenszyklus verbundenen Ereignisse gefeiert. Neben der Geburt – gefeiert mit dem ersten öffentlichen Vorzeigen des Neugeborenen 40 Tage danach – sind hier bei den Usbeken vor allem die Beschneidung der Söhne, bei den Koreanern der erste und der 60. Geburtstag zu nennen, wobei der letztere von den Kindern finanziert wird. Es kann zwischen den ‚obligatorischen‘ Gemeinschaftspflichten – den genannten großen Festen – und einem weniger ‚formellen‘ Austausch unterschieden werden. Während man die Teilnahme an den ersten kaum verweigern kann, gelten die letzteren als ein Indikator für die Ausgaben, die man in die sozialen Beziehungen investieren kann. Hierbei sind insbesondere die Feier von Navrus, dem usbekischen Neujahr, sowie die Neujahrsfeier am 31. Dezember (zu der traditionell Geschenke verteilt werden), der 8. März und Geburtstagsfeiern zu nennen. Gäste empfangen zu können wird als wichtiger Bestandteil des menschenwürdigen Leben verstanden. Wie die Höhe der Ausgaben hierfür bewertet wird, kann die folgende Aussage von Natalja, 33, verdeutlichen: „Die Geburtstagsfeiern machen uns fertig, aber man will sich auch nicht schämen müssen, aber auf der anderen Seite: Sein Geld gibt man ja doch für immer weg.“ Die Aufrechterhaltung von sozialen Beziehungen ist grundlegend für die eigene Identität. Fehlende Kontakte führen zu einer negativen Selbsteinschätzung: „Ich habe doch keine Unterhaltung mehr. Sitze zu Hause, werde immer dümmer und böser.“ (Gala, 34) In diesem Zusammenhang erinnert man sich oft an die sowjetische Zeit, in der den Arbeitskollektiven eine große Bedeutung für das Entstehen und die Pflege von sozialen Kontakten zukam. Dabei ist nicht nur an die Kommunikation am Arbeitsplatz zu denken, sondern auch daran, dass sich aus dem Arbeitskollektiv häufig auch engere Freundschaften entwickelten. Die eigene Wohnung und insbesondere die viel zitierten Küchen waren die einzigen freien, wirklich privaten Bereiche, in denen im Gegensatz zum Arbeitsplatz reale Probleme diskutiert und wirkliche Gefühle gezeigt wurden. Lissyutkina (1993: 276) schreibt über die Flucht ins Privatleben als einzige Form von Protest: „[Women] by no means perceive their kitchen […] as a narrow corridor cut off from the world […]. [I]n the kitchen one is surrounded by intimacy, publicity and intellectual creativity […]. [I]n the kitchen life rushes forth.“

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Der Verlust des Arbeitsplatzes und damit des Arbeitskollektivs stellt einen ganz wichtigen Einschnitt für das soziale Leben und die eigene Identität dar. Aber nicht nur der Verlust dieser Arena des sozialen Austauschs wird für die Reduzierung der Kontakte verantwortlich gemacht, sondern auch die schwierige materielle Lage der Menschen: „Wir haben jetzt weniger mit anderen zu tun und treffen uns nicht mehr einfach so. Alle haben mit der Sorge um das tägliche Brot zu tun und sind müde von ihren Problemen – und wird es etwa davon besser, wenn man noch die fremden Probleme wälzt?“ (Šachida, 42)

Hier bieten die wirtschaftlichen Handlungsfelder die Möglichkeit, neben den geschäftlichen auch die sozialen Beziehungen auszubauen. So berichtet Šachida, die auf einem Kleinhandelsmarkt tätig ist: „Menschen suchen doch Unterhaltung. Hier auf dem Ippodrom sitzen Menschen mit akademischer Ausbildung und verkaufen Sachen. Anstatt sich bei Konzerten zu treffen, sehen sie sich auf solche Weise.“

Kunden und neue Arbeitskollegen werden nicht selten als eine neue ‚WirGruppe‘ angesehen. Der Vergleich zu dem alten Arbeitskollektiv liefert häufig die Grundlage für neue Identitäten in neuen Gruppen. So berichtet Olga, 37: „Ich war immer gewohnt, bei der Arbeit mit vielen Menschen zu tun zu haben. Jedoch ist es heute ganz anders. Meine beste Kundin, und so kann man sagen, fast eine Freundin, ist Schuldirektorin, das Wort alleine hätte mir früher schon Angst gemacht. Und heute kenne ich Ärzte, Hochschullehrer, sogar Anwälte. Irgendwie macht es mich selbstsicherer, wenn ich weiß, ich kann sie zur Not anrufen.“

Die Gruppenbildungsprozesse entstehen aus ganz unterschiedlichen Zusammenhängen heraus. Gerade, dass man fachfremd arbeitet, sorgt z.B. in einem Friseursalon für Solidarität und spricht das Zusammengehörigkeitsgefühl an. Die hier arbeitende Gesprächspartnerin, ausgebildete Kinderärztin, ist froh, einen Kollegenkreis zu haben, in dem alle so gut zu einander passen, dass man die Geburtstage wieder wie früher ‚auf der Arbeit‘ (na rabote) feiern und abends mal einfach länger bleiben kann, wenn es geht. In einem weiteren Beispiel wird die Konfession zur Grundlage einer Gruppenidentität. Die Händlerinnen auf einem Basar (der Fall wurde in Kapitel 3 eingeführt), berichten zwar, in ihrer Freizeit nicht viel miteinander zu tun zu haben, unternahmen aber einmal eine gemeinsame Pilgerreise nach Buchara. Zwar sind nicht alle auf dem Basar tätigen Händlerinnnen mitgefahren, aber sie teilen das Gefühl ihrer Zugehörigkeit. So sagt eine Händlerin, die selbst nicht mitgefahren war: „Nun sind sie da [in Buchara] gewesen. Jetzt soll eine von uns nach Mekka fahren.“ (Nodra, 22) Als geeignete Person wird die älteste der Händlerinnen angesehen, die ihrerseits berichtet, sich ernsthaft auf die Reise vorzubereiten. Vor allem versucht sie, das Geld dafür zu sparen,

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denn ihren Kindern will sie solche Ausgaben wie die Finanzierung ihrer Reise nicht zumuten. Auch wenn keine neue Gruppenidentität entsteht, ist das wirtschaftliche Feld das Forum, in dem ein Informationsaustausch stattfindet, wobei auch Verbindungen zum weiteren sozialen Kontext hergestellt werden, indem nicht nur über das Geschäft, sondern auch über ‚unbedeutende‘ Themen gesprochen wird. „Ich sitze zu Hause, aber ein bisschen was kriege ich auch mit. Wenn die Kundinnen kommen, erzählt die eine oder andere, wo sie waren, was sie gesehen haben. Neulich war hier eine, die hat über ihren Urlaub in Spanien erzählt, dass sie da erst um 10 Uhr abends essen. Nun, sage ich, solche spanischen Abendmahlzeiten haben wir auch öfter im Sommer.“ (Gala, 33)

Die Möglichkeit, seinen eigenen Lebensstil mit dem anderer zu vergleichen, die sich durch die marktorientierte Tätigkeit ergibt, ist bedeutend für die Selbsteinschätzung. Im folgenden Abschnitt wird über die Einbettung in den globalen Kontext gesprochen. Einige Formen des sozialen Austauschs sind zwar nicht neu, gewinnen aber immer mehr an Bedeutung für die Gestaltung von sozialen Beziehungen. Ein Beispiel hierfür ist der so genannte ‚Gap‘ (usb. für Unterhaltung), eine Art rotierender Sparclub. In regulären Zeitabständen trifft sich eine Gruppe bei einem der Teilnehmer zu Hause, um ‚Gap‘ zu spielen (igrat’ v Gap). Es wird gegessen, getanzt und geredet. Am Ende des Abends bekommt der Gastgeber von jedem Teilnehmer einen festgelegten Geldbetrag, und es wird entschieden, wer als nächster die Rolle des Gastgebers übernehmen wird. Die Gruppen bestehen aus 10 bis 15 Teilnehmern, und die Dauer einer Runde hängt davon ab, wie häufig man zusammentrifft. Bei den gewöhnlich monatlichen Treffen wird also mit etwa einem Jahr gerechnet, bis man wieder an der Reihe ist. Ursprünglich bekannt als unter Männern gebräuchlicher rotierender Sparund Kreditclub, gewinnt ‚Gap‘ seit den 1970er Jahren an Popularität in den Städten Usbekistans. Diese Form von Kommunikation wurde vor allem von jüngeren erwerbstätigen oder studierenden, allein lebenden Menschen aus den ländlichen Regionen eingeführt. In diesem Zusammenhang verwies N. Abdurakhmanov, Sozialwissenschaftler und Leiter eines Meinungsforschungsinstituts in Taschkent, in einem Gespräch auf die Suche nach einem Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe in einer neuen Umgebung, das nach seiner Meinung die Popularität des ‚Gap‘ ausmachte. Aus den ursprünglichen ‚Männerhäusern‘ haben sich unterschiedliche Formen entwickelt, die sich klar geschlechtsspezifisch unterscheiden lassen. So ist die Čoy-chana (wörtlich: Teehaus) eine rein männliche Institution, in der über Probleme und Konflikte verhandelt wird und wichtige Ereignisse im Leben gefeiert werden. Als ‚Gap‘ werden hingegen heute vornehmlich die

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Frauengruppen bezeichnet.5 Es lassen sich keine Altersgrenzen für die Teilnahme am ‚Gap‘ feststellen; als Zuordnungsprinzip zu einer bestimmten Gruppe gilt jedoch vor allem das Alter. Ältere Frauen tun sich meistens mit den Mitgliedern ihrer Nachbarschaft zusammen. Gespielt wird auch unter Studienkollegen, Arbeitskollegen, Freunden. Man kann auch Verwandte in einem Kreis treffen, wobei die Meinungen hierüber differieren. Oft wird die Teilnahme von engeren Verwandten an einer Gruppe als Geldverschwendung eingeschätzt. Die Verfügbarkeit von eigenem Geld wird als wichtige Voraussetzung zur Teilnahme am ‚Gap‘ gesehen. Die Höhe des Beitrags, der monatlich zur Verfügung gestellt werden muss, ist eine bedeutende Barriere zur Teilnahme an bestimmten Gruppen. So berichtet Malika, 70, über ihre Mitgliedschaft in zwei Kreisen – mit ihren Nachbarinnen ist der Einsatz 3 000 Sum (etwa US $ 5,50) und mit den Frauen, mit denen sie zusammen auf dem Basar handelt, beträgt der Einsatz 1 000 Sum. Wie viele andere weist sie auf die Kombination von finanziellen Interessen und der Unterhaltung hin, die den Wert des ‚Gap‘ ausmache. „‚Gap‘ ist gut. Man bekommt viel Geld, kann sich etwas kaufen. Es ist aber auch lustig, ‚Gap‘ zu spielen. Wir lachen da viel“ (Malika, 70). Finanziell gesehen ist es interessant, einmal eine größere Summe auf einmal in die Hand zu bekommen. Auf den Termin, an dem die Gastgeberrolle übernommen wird, bereitet man sich frühzeitig vor. Einige Anschaffungen werden auf den Termin abgestimmt, andererseits muss man für den Empfang der Gäste einen gewissen Geldbetrag zur Verfügung haben. Das gesammelte Geld (in dem Fall von Malikas erster Gruppe machte dies 27 000 Sum aus – ca. US $ 50) wird meistens für die Anschaffung von einigen Haushaltsartikeln wie Geschirr oder aber für den Tagesbedarf verwendet. Für das Essen für den Abend rechnet sie 5 000 Sum ein. Sie meint, es sei viel Geld, aber man dürfe sich nicht blamieren und als geizig zeigen, denn schließlich ist es am wichtigsten, „was man von Dir hält.“ Neben ihrer finanziellen und sozialen Bedeutung sind die ‚Gap‘-Treffen ein Austauschfeld, auf dem neben dem Informationsaustausch auch ökonomische Transaktionen stattfinden – Waren und Dienstleistungen werden angeboten und Aufträge entgegengenommen. So fand Kleinhändlerin Farida, 42, ihre erste Kundschaft in ihrer ‚Gap‘-Gruppe. Nach ihrer ersten Reise in den Iran hat sie die mitgebrachten Kleider einfach zur nächsten ‚Gap‘-Sitzung mitgenommen.

05 Obwohl man den ‚Gap‘ häufig als Frauensache betrachtet, wird auch über gemischte Gruppen berichtet, in denen Männer und Frauen an einer Gruppe teilnehmen. Hier treffen sich vor allem jüngere Menschen, zum Teil auch Verwandte. Allerdings ist die Einstellung zu solchen Gruppen häufig negativ, weil „es nicht immer gut endet.“ So wurde über eine Scheidung berichtet, deren Ursachen im ‚Gap‘ gesehen wurden, weil eine Frau eifersüchtig auf ihren Mann wurde. Zoya: „Mein Mann hat recht, man sollte getrennt gehen – Chay-hona für Männer, Gap – für Frauen.“

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‚Gap‘ ist auch eine Form der sozialen Kontrolle. Dabei geht es nicht nur darum, dass das vorzeitiges Abbrechen der Mitgliedschaft in einer Gruppe als ungehörig angesehen wird. Selbst das auf den ersten Blick freiwillige Einsteigen in den ‚Gap‘ wird manchmal als verbindlich erfahren. „Wenn du nicht spielst, sagen einige: ‚wir kommen nicht, wenn deine Kinder Hochzeit haben‘“, berichtet Gul’čichra, 39. Sie selbst spiele ‚Gap‘ nicht: „Es ist mir zu teuer, ein Jahr lang auf das Geld zu warten. Das am Ende eingenommene Geld deckt nicht die Kosten, die ich habe, um jeden Monat das Geld aus meinem Geschäft zu ziehen. Dann kann ich sie [die ‚Gap‘-Partner] auch auf andere Weise treffen – einfach zu Besuch einladen“.

Insgesamt stellt der ‚Gap‘ damit eine Form der Investition in soziale Beziehungen dar und kann nicht vorrangig als Investition in das Geschäft oder als Finanzierungsmechanismus betrachtet werden. Die Finanzierung der wirtschaftlichen Tätigkeit über Kredit wird sozial als sehr gefährlich angesehen: Bei Banken ist es nahezu unmöglich, einen Kredit zu bekommen, vor allem wenn das Einkommen zu unstabil ist. Daher bleibt häufig nur die Anleihe bei Bekannten, aber auch das ist risikoreich, denn wenn es Schwierigkeiten mit der Rückzahlung gibt, werden nicht nur die Geschäfts-, sondern auch die sozialen Beziehungen gefährdet: „Ich mag nicht auf Kredit Handel treiben, das ist ja gefährlich. Wenn ich einen guten Ruf habe, kann ich die Leute [Geldgeber] dazu bringen, ein bisschen zu warten. Nur mag ich es nicht ausnutzen. Denn wenn Du einmal versagst, dann ist es vorbei mit dem Vertrauen.“ (Svetlana, 32, Kleinhändlerin)

Lokalität und translokale Beziehungen Translokale Beziehungen bilden für viele Stadtbewohner einen wichtigen Bestandteil ihrer sozialen Umgebung. Zum einem haben Migrationsprozesse die Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung in Usbekistan stark beeinflusst (siehe Kapitel 2). Trotz der weiten Entfernung wurden die Beziehungen zu den Herkunftsorten meistens aufrechterhalten – z.B. wenn Kinder zum Studium zu Verwandten nach Russland geschickt wurden. In den Transformationsprozessen ändert sich das Verhältnis von Lokalität und translokalen Beziehungen. Unter anderem werden die Reisegewohnheiten neu bestimmt. Waren früher Fernreisen in alle möglichen Gegenden der UdSSR eine Selbstverständlichkeit für viele – insbesondere Verwandtenbesuche, Reisen nach Moskau oder St. Petersburg und der Sommerurlaub am Schwarzen Meer – so sind diese heute sehr viel komplizierter und vor allem teurer geworden. Andererseits haben sich neue Möglichkeiten zu Reisen in das so genannte ferne (westliche) Ausland ergeben, die früher undenkbar gewesen wären. Dies wird verstärkt durch die vielfältigen Kontakte zu Freunden, Verwandten und Bekannten, die als Emigranten überall in der Welt leben. In diesem Zusammenhang ist die Dehnung sozialer Wirklichkeit vieler

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Akteure und damit auch die Verbindung unterschiedlicher Kontexte zu beobachten, was eine der wesentlichen Erscheinungen und Inhalte der Globalisierungsprozesse ausmacht (vgl. Dannecker et al. 1998: 3). Versteht man sozialen Austausch als einen „Mechanismus der Definition eines sozialen Gebildes“ (Korff 2001: 136), so ist klar, dass nicht nur die Frage, mit wem sozialer Austausch gepflegt wird, die Identität bestimmt, sondern auch die Frage, wie dieser Austausch erfolgt. Besonders deutlich wird dies am Beispiel von ‚Wir-Gruppen‘, die über große räumliche Entfernungen hinweg gepflegt werden, also die Kontakte zu Verwandten und Freunden, die in anderen Teilen der ehemaligen UdSSR oder irgendwo in der Welt leben. Der Austausch innerhalb solcher Gruppen ist nicht nur zeitaufwändig, sondern auch teuer. Die Möglichkeit, die Kosten für Ferngespräche und für Reisen zu tragen, wird damit zum Kriterium für ein menschenwürdiges Leben. So berichtet Galija, 35, deren Mutter und Schwester in Kasachstan wohnen: „Früher sind wir jeden Sommer ans Meer gefahren. Heute kann ich einmal im Jahr zu meiner Schwester nach Kasachstan fahren – das ist schon gut.“ In vielen Fällen profitieren die Akteure aber auch von den über große Entfernungen hinweg fortgesetzten Lokalitäten. So bekommt Olga von den Verwandten aus Kasachstan, die nach ihren Worten mehr Geld verdienen und einen höheren Lebensstandard haben, auch finanzielle Unterstützung, wenn sie Geld für größere Anschaffungen braucht – wie im letzten Sommer einen neuen Kühlschrank. Gleiches gilt für Verwandte und Freunde, die ins westliche Ausland emigriert sind und von dort aus materielle Unterstützung senden oder aber im Falle einer eigenen Emigration den Start erleichtern. Über die materiellen Hilfen hinaus bilden solche Kontakte ein wichtiges Austauschfeld für Informationen, Handlungsperspektiven und Pläne. Das Aufrechterhalten des ‚Kontakts mit der Welt‘ ist eine der bestimmenden Kategorien bei der Selbstwahrnehmung vieler Akteure. Wie dieser Kontakt hergestellt wird – sei es durch im Ausland wohnende Verwandte und Freunde, beim ‚Gap‘ oder beim Unterhalten mit den Kunden und Geschäftspartnern – ist unterschiedlich. Eine besondere Situation ergibt sich für Akteure, deren eigene einkommensschaffende Tätigkeit mit langen Reisen verbunden ist, also z.B. die so genannten shuttle trader. Für diese können sich neue soziale Kontakte nicht nur mit ‚Kollegen‘ bilden, mit denen sie gemeinsam reisen, sondern auch mit Bewohnern ihrer Zielorte. In diesem Zusammenhang sei auch auf die große Bedeutung der Wanderarbeiter (vor allem aus Industrie, Bauwirtschaft und Handel) verwiesen, die (saisonal) in anderen Teilen der ehemaligen UdSSR, insbesondere in Russland, arbeiten, ihren eigentlichen Lebensmittelpunkt aber in Usbekistan behalten. Die Welt ist somit für viele gleichzeitig größer und kleiner geworden und der Gedanke an Auswanderung für sehr viele Menschen eine reale Option. Nicht zuletzt die reale Möglichkeit, mit Hilfe der eigenen Verwandten in geographisch weit entfernten Gebiete auszuwandern, ist ein wichtiger Teil der Identität geworden. Gerade auch weil viele bisher als selbstverständlich wahrgenomme ‚Wir-Gruppen‘ – vom Arbeitskollektiv über Nachbarn bis zu Sowjetbürgern – nicht mehr in der gewohnten Form

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existieren, ist die Anforderung an jeden einzelnen, sich selbst, seine Rolle und seine Zugehörigkeit zu definieren, wesentlich deutlicher geworden. Die Option ‚wegzugehen‘ erleichtert auch die Wahrnehmung der eigenen materiellen und sozialen Situation als zeitweilig oder vorläufig, was ein Ertragen von Erscheinungen erleichtert, die als schlecht oder fremd wahrgenommen werden. So meint Olya, die seit 5 Jahren für ihre Tochter und sich selbst alleine sorgt, während ihr Mann versucht, in Russland einen Job zu finden: „Manchmal frage ich mich ob diese tägliche Plackerei noch einen Sinn hat. Dann sage ich mir aber: es ist nur für eine Weile, vielleicht gehen wir doch weg, wenn er [der Ehemann] da etwas findet.“

Zunehmende Vielfalt der Identitäten Aus dem Vorstehenden wird deutlich, dass es keine allgemeingültige Identität oder Lebenswelt gibt, die für alle Akteure gültig wäre. Die Transformationsprozesse führen zu einer Verstärkung dieser Vielfalt. Dabei wäre es falsch, die eine oder andere Form als besser oder überlegen zu bezeichnen. Den Akteuren gemeinsam ist aber der Wunsch, ein Leben zu führen, das sie selbst als ‚menschenwürdig‘ empfinden. Die Felder, auf denen diese Menschenwürdigkeit bestimmt wird, sind ebenfalls für alle gleich: materieller Wohlstand, sozialer Austausch, Status und Identität. Wie aber der einzelne Akteur handelt, und wie er jeweils menschenwürdig definiert, unterscheidet sich interpersonell erheblich. Deutlich wird aber auch, dass nicht nur der materielle Lebensstandard im engeren Sinne, sondern auch die allgemeine livelihood von der Höhe des zur Verfügung stehenden Einkommens geprägt werden. Damit stellt Einkommen eine emische Kategorie dar, die auch mit anderen emischen Statuseinschätzungen korreliert: genug essen, ‚klar kommen‘. Insofern sind Subsistenz- und Marktproduktion zwar unterschiedlich organisiert, sie gleichen sich aber darin, dass sie einen positiven Einfluss auf die emischen Statuseinschätzungen haben.

5.2 Nationenbildung und Diskurse um den Alltag Öffentliche Diskursführung in Usbekistan Wie zu Anfang des Kapitels angedeutet, untersucht dieser Abschnitt die Wechselwirkungen der Herausbildung der individuellen Identitäten mit den aktuellen politischen und öffentlichen Diskursen. Zum Verständnis der weiteren Analyse werden zunächst die Verfassung und Verfassungswirklichkeit Usbekistans kurz dargestellt, bevor im Einzelnen auf die Diskurse zu Nation und Nationalstaat, Frauenpolitik und Sozialpolitik eingegangen wird.

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Die zentrale Figur im Staatsaufbau ist der seit der Unabhängigkeit amtierende Präsident6 (vgl. hier und im Folgenden: o.V. 1992, Konstitucija Respubliki Usbekistan; ADB 2001; Levitin 2001), der zugleich Staatsoberhaupt und – in seiner Funktion als Vorsitzender des Ministerkabinetts – Regierungschef ist. Seine Machtbefugnisse gehen dabei außerordentlich weit: Er bestellt und entlässt die Minister ebenso wie die Chokime (Gebietsgouverneure) und die Richter des Obersten Gerichts. Auch die Legislative ist faktisch dem Präsidenten untergeordnet: Zum einen wird ein Großteil der legislativen Akte durch Erlasse (ukaz) des Präsidenten und Verordnungen (postanovlenie) des von ihm geleiteten Ministerkabinetts geregelt, zum anderen tritt Olij Majlis (das Ein-Kammer-Parlament) mit seinen 250 Mitgliedern nur für wenige Sitzungen im Jahr zusammen, in denen im Wesentlichen die Gesetzentwürfe der Regierung bestätigt werden. Eine selbständige gesetzgeberische Arbeit des Parlaments oder seiner Ausschüsse findet kaum statt, und es hat keine Kontrollfunktion für die Arbeit des Präsidenten. Die Gebietsgouverneure sind gleichzeitig Vorsitzende der Regionalparlamente. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass praktisch keine wichtige Entscheidung ohne maßgebliche Beteiligung des Präsidenten getroffen wird. Für die Verfassungswirklichkeit muss zudem angemerkt werden, dass die Wahlen des Präsidenten sowie des Parlaments alles andere als frei sind. Geheimdienste, Armee, Polizei und Staatsanwaltschaft spielen eine wichtige Rolle für die Kontrolle der Gesellschaft. Berichte über schwere Menschenrechts06 Geboren 1938 in Samarkand als sechstes Kind eines einfachen Beamten und einer Hausfrau, studierte Islam Karimov am Taschkenter Polytechnischen Institut Ingenieurwesen und arbeitete dann mehrere Jahre lang für zwei der größten Industriebetriebe Usbekistans – das Taschkenter Flugzeugwerk und die Taschkenter Landmaschinenfabrik. 1966 wechselte er zu Gosplan, der staatlichen Planungsbehörde, zu deren Vorsitzenden auf Republikebene er 1986 aufstieg. Schon seit 1983 war er auch Finanzminister der Usbekischen SSR. Als Vorsitzender von Gosplan war Karimov auch Stellvertretender Ministerpräsident der Usbekischen SSR. Im Juni 1989 wurde er dann vom Politbüro zum 1. Sekretär des ZK der KPdSU der Usbekischen SSR ernannt und damit zum mächtigsten Mann der Republik. Nachdem Gorbatschow auf Unionsebene das neue Amt eines Präsidenten eingeführt hatte, ließ sich Karimov ohne Absprache mit Moskau und ohne Gegenkandidaten am 24. März 1990 vom Obersten Sowjet zum ersten Präsidenten einer Unionsrepublik wählen. Sechs Monate später ernannte ihn der Oberste Sowjet auch zum Ministerpräsidenten der Republik, womit die Vereinigung der obersten Partei- und Regierungsämter vollendet wurde. Nach dem gescheiterten Putsch vom August 1991 erklärte Karimov am 1. September 1991 die Unabhängigkeit Usbekistans und wurde im Dezember in allgemeinen Wahlen in seinem Amt bestätigt. Die wichtigsten politischen Widersacher wurden in den folgenden Jahren festgenommen oder ins Exil getrieben. Die verschiedenen seitdem erfolgten Bestätigungen Karimovs im Amt – sei es durch Wiederwahl oder durch die Verlängerung der Amtszeit per Referendum – erfüllten nach Auffassung der meisten ausländischen Beobachter nicht die Kriterien freier und demokratischer Wahlen.

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verletzungen durch Justiz und Exekutive sind an der Tagesordnung.7 Auf die sehr zögerliche Privatisierung (und damit Reduzierung des staatlichen Einflusses auf die Wirtschaft) wurde in den vorangegangenen Kapiteln bereits eingegangen. Levitin (2001: 201)8 fasst zusammen: „Meiner Meinung nach können folgende typische Charakteristika [des politischen Regimes] ausgemacht werden: die Ausstattung des Präsidenten mit breiten Machtbefugnissen als Staatsoberhaupt und Oberhaupt der Exekutive; die starke Vertikalstruktur der Exekutive; nicht zureichende Kontrollvollmachten des Parlaments; die Bewahrung der staatlichen Verfügungsgewalt über die Ressourcen; die Stärkung des faktischen Status der Machtstrukturen9 (nationale Sicherheit, Innenministerium); die Zensur der Massenmedien; die Möglichkeit der Exekutive, die Tätigkeit politischer Organisationen zu beschränken“.

Wegen seiner Bedeutung für die Gestaltung von Diskursen wird der zuletzt genannte Aspekt, die Zensur der Massenmedien, im Folgenden näher untersucht. Durch Massenmedien werden verschiedene Realitäten produziert und verschiedene Diskurse hergestellt, die ihren Einfluss auf die Lokalitäten ausüben, wobei Lokalitäten in diesem Zusammenhang am besten als „structures of feeling“ (Appadurai 1996) beschrieben werden können. Das Fernsehen gehört zu den wichtigsten Massenmedien für die meisten Einwohner Taschkents: „Mein bester Freund ist der Fernseher. Es ist von morgens bis abends an, und ich sage auch oft was zu ihm.“ (Olga, 37) In Usbekistan gibt es keine Presse- und Rundfunkfreiheit. Alle Fernsehkanäle und Zeitungen sind entweder staatlich10 oder sie unterliegen einer strengen Kontrolle, die aus direkter Zensur sowie einer Vielzahl von Druckmitteln besteht, die ein Ausbrechen aus dem akzeptablen Rahmen verhindern. Hierzu eine Meldung des Institute for War and Peace Reporting (IWPR): „According to CPJ [Committee for the of Protection Journalists – IY], at the same time as the censorship organs were being disbanded, the authorities sent out warnings to the editors of newspapers, magazines and broadcasters that if undesirable material appeared they would be held responsible. This has promoted self-censorship and all but cancelled out the need for state bodies […]. CPJ research indicates 07 Siehe hierzu vor allem die Berichte verschiedener Internet-Nachrichtendienste wie Institute for War and Peace Reporting (IWPR) u.a. 08 Levitins Buch trägt den Untertitel Kritische Anmerkungen eines Parteigängers des Präsidenten Karimov. Der Autor ist ein bekannter Rechtswissenschaftler und keineswegs als Vertreter einer überkritischen Opposition einzuordnen. 09 Der russische Begriff Silovye Struktury lässt sich nur ungenau ins Deutsche übersetzen. Er fasst alle bewaffneten und/oder mit der Staatssicherheit befassten Institutionen – Armee, Geheimdienste, Polizei, Truppen des Innenministeriums – zusammen. In Bezug auf die RF hat sich in der deutschen Publizistik der Begriff Macht-Ministerien eingebürgert, der auch hier sinngemäß verwendet wird. Fußnote – IY. 10 Angesichts der o.g. Verfassungswirklichkeit ist Staatsfernsehen gleichbedeutend mit Regierungsfernsehen.

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that the authorities continue to use all available resources – threats, persecution, arrest and imprisonment – to subdue journalists who write critical material or highlight the serious problems besetting Uzbekistan“ (IWPR, o.J., No. 143).11

Das jüngste Beispiel hierfür ist die seit März 2002 gültige Anweisung an die Redaktionen aller usbekischen Massenmedien, einen Jahresplan ihrer kritischen Publikationen an den Pressedienst des Präsidenten einzureichen. Diese Maßnahmen sollen dazu dienen, die Kritik „aktuell und angemessen“ zu machen (IWPR, o.J., No. 110). Im Ergebnis sind die Massenmedien kaum mehr als Verkündungsorgane für die Regierungspolitik, angereichert mit politisch korrekter Unterhaltung – im Fernsehen zuvörderst Volksmusik und Erbauungsfilme. Weit im Vordergrund der Berichterstattung steht der Präsident, der stets als patriarchalischer, gutmütiger, weiser, gerechter und harter Herrscher dargestellt wird. Eine offene Berichterstattung über Ereignisse im In- und Ausland findet kaum statt. Für viele Menschen ist dieses Medienangebot sehr unbefriedigend; als ernst zu nehmende Quelle für wahrheitsgemäße Information wird es kaum angesehen. Nichtsdestotrotz entfaltet das Meinungsmonopol in den Medien seine Wirkung, die vor allem in der Schaffung einer „obvious reality“ (Elwert 2002) besteht: Es werden klare Bilder von Normen und Normalität gezeigt, an der die Zuschauer ihre Realität messen. Wenn es keine Möglichkeiten gibt, andere Normen und Normalitäten zu erfahren, so wird die obvious reality mehr und mehr akzeptiert werden. Allerdings tragen ausländische Massenmedien zur Herstellung von kontroversen Diskursen in Usbekistan bei.12 Hierbei sind in erster Linie das russische Fernsehen und russische Zeitungen, aber auch (russischsprachige) kasachische sowie westliche Medien (CNN, BBC, Deutsche Welle etc.) zu nennen. Für große Teile der Bevölkerung in Taschkent, hier unabhängig von ihrer Ethnizität, sind diese ausländischen Medien die primäre Quelle für Informationen. Ein wichtiger Grund hierfür ist neben der Sprache – wie in Kapitel 2 gezeigt, ist das Russische als Verkehrssprache weiterhin stark verbreitet – der als propagandistisch wahrgenommene Stil der usbekischen Medien. Und so werden ausländische Medien nicht nur zu Informationszwecken und als ‚Tor zur Welt‘ genutzt, sondern sie haben auch einen erheblichen Einfluss auf die Selbstbilder ihrer Zuschauer und Leser.

11 Die Quelle für dieses Zitat ist typisch für kritische Berichte zur aktuellen Lage: Man findet sie nur im Internet, meist geschrieben von ausländischen Journalisten oder unter Pseudonym. 12 Der Empfang von ausländischen Fernsehkanälen wird durch Satellitenantennen oder lokales Kabelfernsehen möglich, was mit finanziellen Ausgaben verbunden ist. Das gilt auch für das russische Fernsehen, dessen freier Empfang in Usbekistan nicht mehr möglich ist.

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Man geht nicht zu weit, wenn man annimmt, dass die heimischen Massenmedien von vielen Bewohnern Taschkent praktisch nicht wahrgenommen werden. Typisch ist dabei die Aussage einer Gesprächspartnerin: R.: „Nachrichten kriegen wir natürlich aus dem Fernsehen, wir haben Kabel. Und AiF [Argumenti i Fakty, eine der größten russischen Zeitungen] lesen wir regelmäßig, sonst kaufe ich mir den Bisnessvestnik [Bisnessvestnik Vostoka, ‚Wirtschaftsbote des Ostens‘, eine usbekische Wochenzeitung, die neben Nachrichten und Wirtschaftsberichten eine große Zahl von privaten Kleinanzeigen vermittelt], wenn ich etwas brauche.“ I.: Und das lokale Fernsehen? R.: „Nun, den Wetterbericht gucke ich in Akhborot [Nachrichtensendung des usbekischen Fernsehens].“ (Olja, 37)

Auch in anderen Diskussionsforen dominiert der Staat den Diskurs. Dies gilt nicht zuletzt für die Arbeit von NRO, die nach der Unabhängigkeit entstanden sind. 1998 bestanden in Usbekistan insgesamt 412 NRO. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass es sich hierbei wirklich immer um unabhängige Interessensverbände oder Zusammenschlüsse Gleichgesinnter handelt, denn eine eigene Tradition der Bürgerbewegungen fehlt vollständig, und eine Finanzierung aus Spenden oder Mitgliedsbeiträgen ist praktisch unmöglich. Dementsprechend finanzieren sich die meisten NRO durch Zuschüsse – sei es aus dem Ausland, sei es aus letztlich der Regierung unterstellten Fonds. Daher spielen neben dem Engagement für eine Sache persönliche Interessen wie ein gut bezahlter Arbeitsplatz, Reisen o.ä. eine wichtige Rolle für die Motivation der Mitarbeiter und Mitglieder von NRO. Trotz der von NRO geführten Diskurse und ihrer Einbindung in Dialoge mit dem Staat sowie mit ausländischen Institutionen wie den großen Geberorganisationen haben die NRO keinen wirklich unabhängigen Einfluss auf die Politik. Im Gegenteil – die Regierung instrumentalisiert und steuert auch die NRO in ganz erheblichem Maße, indem sie beeinflusst, worüber wie geschrieben und geredet werden darf. Die Mittel zu einer solchen Beeinflussung reichen von der Finanzierung über ‚Gängelei‘ und Zensur bis hin zu Festnahmen. In einem der folgenden Unterabschnitte wird beispielhaft auf die Tätigkeiten von NRO im Bereich der Frauenpolitik eingegangen. Ein weiteres Beispiel sind die im formellen Privatsektor organisierten Interessengemeinschaften wie Unternehmer- und Berufsverbände sowie die Gewerkschaften. Die Mitgliedschaft ist hier in der Regel mandatorisch, und die Verbände selbst stehen meist unter so direktem staatlichen Einfluss, dass sich kaum Abweichungen von der offiziellen Linie feststellen lassen. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass in der Fortsetzung und Verstärkung der undemokratischen, autoritären Tradition der Sowjetunion eine der wesentlichen Kontinuitäten der usbekischen Politik liegt.

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Die Nation und ihre Nachbarn In Usbekistan (ebenso wie in den meisten anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion) kann eine Vielzahl von Gruppenidentitäten oder ‚Wir-Gruppen‘ nachgewiesen werden, die nebeneinender existieren. Ethnisch, traditionell, wirtschaftlich oder durch Ausbildung bedingte Zusammengehörigkeiten fallen keineswegs immer mit den Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken zusammen, und auch das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung der ehemaligen UdSSR insgesamt ist nach wie vor festzustellen. Mit der Unabhängigkeit, die am 01.09.1991 ohne Gewalt und weniger als Ergebnis eigener Bestrebungen denn als Resultat des allgemeinen Zerfalls der Sowjetunion erklärt wurde, stand Usbekistan vor der Aufgabe, eine neue Identität als Grundlage für eine Nation zu schaffen. Im Mittelpunkt der Grundidee des neuen Usbekistans, wie sie in den Werken von Präsident Karimov entworfen wird, stehen Begriffe wie ‚unabhängiges Usbekistan‘ und ‚eigener, usbekischer Weg der Entwicklung‘. Anstelle des Aufbaus einer kommunistischen Gesellschaft wird das kulturelle Erbe des usbekischen Volkes zur Leitidee erklärt und soll als Identifikationspunkt der Nation als neuen ‚Wir-Gruppe‘ dienen. Das Entstehen eines neuen Nationalstaats kann daher als ein Prozess des kollektiven Wechsels von Identitäten betrachtet werden. Das Hauptmerkmal der ‚Wir-Gruppe‘ ist dabei die Ethnizität: „Nationalität definiert sich ethnisch“ (Evers/Schlee 1995: 24). Da die Abgrenzung von Ethnizität aber nicht vorgeben ist, sondern in Selbst- und Fremdzuschreibung definiert wird (vgl. Kapitel 2), bedarf es der Benennung von Merkmalen, die als eigen oder fremd, usbekisch oder nicht-usbekisch erklärt werden. „One of the basic ideas of the ‚nation‘ state is that a group, based on common ethnicity (no matter how much ideological effort is required to construct it), defined by an open list of criteria (which tend to comprise historical, linguistic or other cultural features in complex combinations) should be able to claim a common territory“ (Schlee 2002: 3).

Da aber gleichzeitig ein tiefgreifender Umbruch von Werten und Lebensformen stattfindet, muss häufig zunächst definiert werden, was jeweils usbekisch ist. Eine Werteskala wird wiederum häufig vom Präsidenten persönlich festgelegt.13 Der Definitionsanspruch ist hierbei sehr weitreichend, und nationalmoralisierende Vorgaben lassen sich in nahezu allen Lebensbereichen nachweisen.14 Die Konstruktion der neuen Leitidee erfolgt durch eine Vielzahl von 13 Zur Symbolik des usbekischen Staates vgl. Kap. 1.1. 14 Beispielhaft ist das Thema Hochzeitsfeiern. Wie im Abschnitt Status und sozialer Austausch dieses Kapitels dargestellt wurde, zählen die Hochzeiten zu einem der wichtigsten Ereignisse im Familien- und Gemeindeleben. 1998 wurden per Präsidentenerlass allzu üppige Hochzeitsfeiern verboten, da sie nicht der Mentalität und den Traditionen des usbekischen Volkes entsprächen und die Menschen zu unzulässigen Ausgaben zwängen.

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Techniken und Mitteln. Gemeinsam ist ihnen, dass der Staat bzw. seine Führung derjenige Akteur ist, der bewusst und aktiv eine bestimmte Identität, definiert als Nexus von Symbolen, Emblemen und Eigenschaften (Schlee 2002: 21), propagiert, fördert und zur Norm macht, und der die Diskurse hierarchisch bestimmt. Die Felder, auf denen diese Diskurse transportiert werden, reichen neben den Massenmedien von der Gesetzgebung, über die Umdeutung der Geschichte, die Neugestaltung von Lehrplänen in Schulen und Universitäten, über die Nutzung von Massenmedien sowie Bildern und Parolen im Straßenbild und zur Steuerung der öffentlichen Meinung durch pseudounabhängige Organisationen bis hin zu Verbot und Unterdrückung abweichender Ideen. Die der usbekischen Nation zugesprochenen Attribute werden als Grundlage der Solidarität verwendet. Es kann in diesem Zusammenhang nach Appadurai (1996: 15) von Kulturalismus gesprochen werden: „Culturalism, put simply, is identity politics mobilized at the level of the nation-state“. Autoren, die Sprache, Kultur und Religion als Hauptkriterien des ‚NationBuilding‘ ausmachen15, haben daher insoweit recht, als diese Kriterien zur Definition dessen herangezogen werden, was die Nation ist. Dieser Bestimmung vorgelagert ist aber die Zugehörigkeit zur ethnischen Gruppe der Usbeken. Die Ethnie, verstanden als familienübergreifende und familienerfassende Gruppe, die sich selbst eine Identität zuschreibt (Elwert 1989: 447), ist jedoch keine kontextunabhängige Gegebenheit. In der Auseinandersetzung mit anderen Ethnizitäten werden die genannten Kriterien zur Artikulation der usbekischen Ethnizität, und damit der Zugehörigkeit zur ‚Wir-Gruppe‘, je nach Kontext eingesetzt. Zwar ist es schon seit sowjetischer Zeit unter den Angehörigen der lokalen Ethnien üblich, sich selbst als mestnie, nacionaly (hiesige, nationale) im Gegensatz zu den evropejci (Europäer) zu definieren, was nicht nur den Russen oder Ukrainer einschließt, sondern auch Koreaner, also „all non-Moslems who lead a different way of life“ (Koroteyeva/Makarova 1998: 580). Doch die gewaltsamen Konflikte, die im Sommer 1990 zwischen Usbeken und Kirgisen im Ferganatal und im Juni 1989 zwischen Usbeken und Turk-Mescheten ausbrachen und im Anspruch der verschiedenen in diesem Gebiet angesiedelten 15 „Nation-building projects in the newly independent states in Central Asia are based on three central elements: the reinstatement of Islamic values as guiding ethic for the society; the rearticulation of the national culture by such means as the rewriting of the historical narrative to establish linkages between the precolonial past and the post-Soviet present, and the reviving of the ‚authentic‘ traditional instutitions, symbols and concepts of propriety; and the reassertion of patriarchal authority though the symbolic identification of the head of state as the ‚Father of the Nation‘“ (Akiner 1997: 284). Ähnlich Kaiser (1998a: 86): „Identity in the post-Soviet states is being constructed principally in terms of language and religion, the two aspects of identity now being used to define and separate ‚them‘ from ‚us‘.“

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Ethnien auf Territorien und Ressourcen begründet lagen, zeugen davon, dass die gemeinsame Grundlage des Islam nicht in einem direkten Zusammenhang mit der Konstruktion von ‚Wir-Gruppen‘ im Sinne einer Nation steht. Hierin kommt zum Ausdruck, dass es einen Unterschied zwischen dem Islam als kultureller Grundlage und dem Aufbau des Nationalstaates gibt.16, 17 Mit dem Nationen-Building verbunden sind Erscheinungen, die man unter dem Begriff Neotraditionalisierung zusammenfassen kann. Die staatliche Politik propagiert sie affirmativ als Ausdruck der usbekischen Traditionen. Diese Erscheinung lässt sich auch in anderen Ländern beobachten: „Traditionelle Institutionen werden oft übernommen, um neue Inhalte oder Zwecke zu erfüllen […]. Damit wird einerseits der Wandel bewältigbar – indem er auf der symbolischen Ebene des Handelns erfasst wird –, andererseits wird damit die Verflechtung zu den ‚modernen‘ Bereichen hergestellt“ (Lachenmann 1990: 128).

Ein Beispiel für Neotraditionalisierung ist der erweiterte Tätigkeitsbereich der Machalla. Heute wird unter Machalla nicht mehr nur wie im ursprünglichen Sinne ein Nachbarschaftsverbund in der Stadt, sondern allgemein eine lokale Selbstverwaltungseinheit verstanden, auch auf dem Lande, und auch in Hochhaussiedlungen in der Stadt. Die Funktion der Machalla als Einheit der Selbstverwaltung bleibt jedoch auf die lokale Ebene beschränkt: Sie ist ein Instrument für die Umsetzung der staatlichen Gesetze und Erlasse, verfügt jedoch nicht über wirksame Strukturen zur Beeinflussung der zentralstaatlichen Politik, denn die Chokime werden vom Präsidenten ernannt und ernennen ihrerseits die untergeordneten Regierungs- bzw. Verwaltungsbeamten auf lokaler Ebene. Diesen wiederum ist das Machalla-Komitee verantwortlich. Auf der lokalen und regionalen Ebene gibt es keine gewählten Volksvertretungen. Es führt an dieser Stelle zu weit, die einzelnen Mechanismen und Entwicklungen des Nationenbildung und der Regierungspolitik allgemein zu analysieren oder gar zu bewerten. Wichtig ist jedoch, dass der Staat einen weitreichenden Wahrheitsanspruch hat und dementsprechend offene Diskurse kaum zulässt. Die Auseinandersetzung um die Inhalte der staatlichen Politik 16 In diesem Zusammenhang ist auch zu erwähnen, dass der Staat streng laizistisch ausgerichtet ist. Nicht nur sind laut Verfassung die religiösen Organisationen vom Staat getrennt (Artikel 61), sondern Artikel 57 der Verfassung verbietet auch die Gründung und Tätigkeit von politischen Parteien auf religiöser Basis. Das 1997 eingeführte Religionsgesetz gilt international als sehr streng (so sind z.B. das Tragen von Schleiern und das Rufen der Muezzins in der Öffentlichkeit verboten). Gruppen des politischen Islam, insbesondere IMU (Islamic Movement of Uzbekistan) oder Vertreter des Wahhabismus werden als Hauptfeind des Staates angesehen (siehe für eine ausführlichere Analyse Levitin 2001). Man geht von mehreren Tausend aus religiös-politischen Gründen Inhaftierten aus. 17 Auf die Bedeutung der Sprachpolitik für das Nationenbildung wurde bereits im Abschnitt Nationalitätenpolitik und Arbeitsmarkt im unabhängigen Usbekistan im Kap. 2.6 eingegangen.

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findet daher nicht in Parlament oder Öffentlichkeit statt, sondern in Diskursen in und um den Alltag. Hier äußert sie sich vor allem in einer Auseinandersetzung mit der vom Staat geschaffenen obvious reality, die an der unmittelbar wahrgenommenen Lebenswelt gemessen wird. Diese Politik hat eine zugleich marginalisierende und integrierende Wirkung: Zum einen fühlen sich durchaus nicht alle Einwohner von dem neuen Idealbild angesprochen. Dies gilt auch für diejenigen, die sich der usbekischen Nation zugehörig fühlen18, also dem o.g. Wechsel der ‚Wir-Gruppe‘ im Prinzip positiv gegenüberstehen, sich aber nicht mit den dieser Nation zugeschriebenen Attributen identifizieren. Das Fehlen eines offenen Diskurses führt tendenziell zu einer passiven Haltung, die Staat und Politik als etwas von oben Vorgegebenes betrachtet, das durch den einzelnen nicht beeinflusst werden kann. Zum anderen aber zwingt die Verbindung einfacher, alltäglicher Fragen mit höchsten Werten die Einwohner häufig zu einer affirmativen Haltung zu eben diesen Werten und wirkt so auch integrativ: Wenn beispielsweise Kritik an der wirtschaftlichen Lage als Kritik am unabhängigen Usbekistan interpretiert wird, so führt dies meist dazu, dass diese Kritik gar nicht erst geäußert wird. Die Instrumentalisierung nationaler Symbolik für alle möglichen, auch tagespolitischen Ziele kann man auch als Nationalisierung des politischen Raums bezeichnen (Kaiser 2003). Sie hat unter anderem zur Folge, dass Identitäten über sehr allgemeine Kategorien wie eben nacional’nost (Nationalität), Religion oder auch Geschlecht gebildet werden, während andere mögliche Kategorien wie Berufsgruppe oder Ausbildung in den Hintergrund treten. Die Schwierigkeiten und Widersprüche, die eine solche Konzeption in einem Vielvölkerstaat mit sich bringen, sind offensichtlich. Hier kann in Anlehnung an Appadurai auf den Widerspruch zwischen der Idee des Nationalstaats als Gemeinschaft aller Mitglieder (nur) eines Ethnos und der historischen Realität hingewiesen werden, dass in praktisch allen Nationalstaaten verschiedene ethnische Identitäten vereinigt sind (Appadurai 1996: 156).19 Zur Legitimation dieses Paradoxons wird insbesondere die Bevölkerungsstruktur bemüht: „Eine Besonderheit Usbekistans ist die nationale Zusammensetzung der Bevölkerung. In der ethnischen Struktur nimmt die bodenständige Bevölkerung die vorherrschende Stellung ein. Daneben leben jedoch im Republikshoheitsgebiet Vertreter von über 100 Nationalitäten mit eigener Kultur und Tradition.“ (Karimov 1992: 12)

Karimov knüpft hier an die sowjetische Terminologie der Titularnationen (siehe Kapitel 2) an und verweist darauf, dass der Anteil der ethnischen Usbe18 Folglich handelt es sich hierbei vor allem um ethnische Usbeken. 19 Auch die zweite historische Realität, dass in den seltensten Fällen wirklich alle Mitglieder dieses Ethnos im Nationalstaat vereinigt werden, ist gerade im zentralasiatischen Kontext von Bedeutung.

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ken an der Gesamtbevölkerung im (post-)sowjetischen Vergleich mit 71,4 % relativ hoch ist.20 Die Terminologie hat sich dabei seit der sowjetischen Zeit erhalten, nur wurden gewissermaßen die Seiten getauscht. Usbekistan wird als Heimatland aller Usbeken gesehen und anstatt vom ‚großen Bruder‘ des russischen Volks wird heute vom usbekischen Volk gesprochen, das friedlich und freundschaftlich mit seinen nicht usbekischen Nachbarn zusammen lebt. Zu den Nachbarn werden in dieser Hinsicht nicht nur die Nachbarländer, sondern auch die Vertreter der anderen ethnischen Gruppen in Usbekistan gezählt, also vor allem Tadschiken, Russen/Europäer und Koreaner, auch wenn sie die usbekische Staatsbürgerschaft besitzen. Dabei wird die sowjetische Tradition fortgesetzt, die ‚Nationalität‘, d.h. die ethnische Zugehörigkeit im Reisepass zu vermerken.21 Hieraus lässt sich ableiten, dass alle diese Ethnien zwar willkommene Bewohner Usbekistans sind, sie aber im Verhältnis zu den Usbeken zahlenmäßig so unbedeutend sind, dass sie keinen Einfluss auf die Politik oder die Formung einer usbekischen Identität haben. Dies kann mit Appadurai so interpretiert werden, dass in einem Nationalstaat die Integration der so genannten Nachbarn (Appadurai 1996) in einem gewissen Widerspruch zu dessen Legitimationsmustern steht: „From the point of view of the modern nationalism, neighborhoods exist principally to incubate and reproduce compliant citizens – and not for the production of local subjects.“ (Appadurai 1996: 183f.)

Im Ergebnis werden die anderen Ethnien als Minderheiten angesehen. Im öffentlichen Bild treten diese Minderheiten vor allem in kulturellen oder folkloristischen Zusammenhängen auf. Dies trifft sowohl für die Rhetorik des Präsidenten als auch für die Gestaltung des Themas in den Massenmedien zu. „Die politische und staatliche Struktur der erneuerten Gesellschaft muss […] Schutz der Interessen und Rechte der nationalen Minderheiten, Sicherungsgarantien für die Erhaltung und Entwicklung ihrer Kultur, Sprache, nationalen Bräuche und Traditionen, aktive Teilnahme an der Tätigkeit der Staatstrukturen und am gesellschaftlichen Leben [garantieren].“ (Karimov 1992: 18)

20 In anderen Unionsrepubliken wie Kasachstan (39,7%) oder Kirgistan (52,4%) war dieser Anteil wesentlich geringer. Zieht man jedoch in Betracht, dass in der Hauptstadt Taschkent der Anteil der Usbeken bei 44%, der Russen bei 34% und der anderer Ethnien bei 22% lag, so wird deutlich, wie problematisch diese Aussagen sind. Alle Angaben für 1989. Vgl. Islamov (2000). Ausführlichere Zahlen finden sich in Tabelle 4 im Anhang. 21 Usbekische Reisepässe enthalten die Persönlichkeitsdaten zweimal – einmal auf englisch/usbekisch, einmal auf usbekisch/russisch. Bei ethnischen Russen steht in der englisch/usbekischen Variante unter „Nationalität“ „Uzbekistan“, in der usbekisch/russischen dagegen „russisch“.

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Wohl am deutlichsten tritt diese participation an den großen nationalen Feiertagen zu Tage – Navrus (Frühlingsfest, 21. März) und Mustakillik (Unabhängigkeitstag, 1. September) –, wenn auf einem der wichtigsten Plätze Taschkents, Halklar dustligi maidoni (Platz der Völkerfreundschaft), die Mitglieder der nationalen kulturellen Zentren ihre Volkstänze und Lieder vorführen. War die Instrumentalisierung von Sprache und Nation für alle möglichen politischen Ziele schon für die Angehörigen des usbekischen Ethnos als problematisch angesehen worden, so gilt dies umso mehr für die Angehörigen der nationalen Minderheiten. Gerade aus ihrer Sichtweise wird deutlich, dass die integrativen Maßnahmen zur Bildung einer usbekischen Nation auch auf einer Abgrenzung gegenüber anderen beruhen. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden anhand der Rolle der Massenmedien untersucht werden, deren ‚Kulturalismus‘ ein entscheidender identitätsbildender Faktor in diesem Diskurs ist. Wie im vorangehenden Unterabschnitt beschrieben, vermitteln Massenmedien das Gefühl, in eine Realität integriert zu sein. Wie kontrovers diese Realitäten aufgebaut sind, wird beim Thema Migration deutlich. Die Migrationsbewegungen der letzten Jahre, also vor allem die Auswanderung von Russen und anderen Minderheiten, sind ein zentrales Thema für viele Menschen, insbesondere Angehörige der nationalen Minderheiten. Die usbekischen Medien legen hier den Akzent auf ökonomischen Gründe (ekonomičeskie migranty), welche die Menschen zur Auswanderung bewegten. Dabei wird die Migrationsstatistik zur Unterstützung des politischen Kurses verwendet: Sinkende Auswanderungszahlen in den letzten Jahren dienen als Beweis dafür, dass sich die wirtschaftliche Lage verbessert hat (vgl. Islamov 2000). In den russischen Massenmedien haben sich dagegen Begriffe wie ‚historische Heimat‘ (= Russland) in den Berichten über die Vertreter der nicht zentralasiatischen ethnischen Gruppen etabliert. Sie bilden gewissermaßen das Gegenstück zu dem Begriff der korennoe naselenie (etwa: ursprüngliche Bevölkerung). Solche Begriffe unterstützen das Verständnis vom usbekischen Volk als ‚eigentlicher Bevölkerung‘ des Landes und seinen Nachbarn/Gästen, wie es in den usbekischen Medien verwendet wird. Sie können aber nicht dazu dienen, eine Identifikation dieser Minderheiten mit dem usbekischen Nationalstaat zu fördern. Noch bedeutender ist die Sichtweise der russischen Medien in Bezug auf die Migrationsprozesse. Es wird über die Flut von Flüchtlingen berichtet, die nicht mehr zu stoppen sei (Kosmarskaya 1999). Allgemein ist es in den russischen Massenmedien üblich, Migranten, die aus den verschiedenen GUSRepubliken in die Russische Föderation emigrieren, als ‚Flüchtlinge‘ zu bezeichnen, wobei unter diesem Begriff verschiedene Personengruppen zusam-

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mengefasst werden.22 Als entscheidendes Migrationsmotiv werden aber Sicherheitsgründe ausgemacht, welche die Menschen dazu bewegten, ihren früheren Wohnort zu verlassen. Es ist deutlich, dass schon die Wahl der Begriffe Rückwirkungen auf das Selbstbild der Menschen hat, die sich in einer ähnlichen Situation wissen wie diese ‚Flüchtlinge‘. Für die Einwohner Taschkents, die viele Nachbarn und Freunde haben, die das Land verlassen haben, sind solche Darstellungen ein Grund zur Beunruhigung. Besonders Wahlkampfzeiten in Russland sorgen für eine gesteigerte Nervosität. Die nationalistischen Parolen einiger Kandidaten spiegeln sich in der Besorgnis der Angehörigen der evropeizev (‚Europäer‘) um die eigene Sicherheit im Alltag wider. Vor jeder Wahl in Russland werden die möglichen Konsequenzen für den eigenen Alltag und die Lebensplanung in Usbekistan diskutiert. Dabei ist zu beachten, dass eine Emigration in der Regel weniger als zielgerichtete Immigration in ein bestimmtes Land oder System gesehen wird, sondern mehr als Möglichkeit, ‚weg zu kommen‘. Hierbei wiederum bestehen starke Rückwirkungen der ausländischen Sichtweisen (z.B. russisches Fernsehen), die für die Akteure eine negativ geprägte Realität schaffen. Hier werden die parallelen Diskurse deutlich: Dieselben Personengruppen, die in den usbekischen Medien als Wirtschaftsmigranten bezeichnet werden, gelten hier als Flüchtlinge aus Sicherheitsgründen. Die Aufrechterhaltung des staatlichen Meinungsmonopols verhindert, dass sich die betroffenen Menschen selbst in den Diskurs einschalten und so eine eigene Identität – z.B. als Russen in Usbekistan – konstruktiv entwickeln. Im Ergebnis entwickelt sich eine eher pessimistische Grundeinstellung mit dem Gefühl, weder in Usbekistan noch in Russland gebraucht zu werden. Der usbekische Staat überlässt so durch das Unterbinden eines freien Diskurses im Land ausländischen Medien die Meinungsführerschaft zumindest in Bezug auf Bevölkerungsgruppen, die nicht zur ethnisch definierten usbekischen Nation gehören.

22 Uwe Halbach (1997: 7) verweist auf die Unklarheit der Terminologie, die zum Thema Migration herrscht. Man unterscheidet folgende Migrantengruppen: 1. Vynuždennye pereselency (Zwangsübersiedler) sind ethnische Russen, die aus Sicherheitsgründen ihre Wohnorte in den sowjetischen Nachfolgestaaten verlassen haben und nach Russland ausgewandert sind; 2. Angehörige anderer Nationalitäten (ehemalige Sowjetbürger), die aus vergleichbaren Gründen nach Russland ausgewandert sind; 3. Angehörige ehemals deportierter Völker, die in ihr ‚ethnisches Mutterland‘ zurückkehren.

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Das Bild ‚unserer Frauen‘ Es besteht ein enger Zusammenhang zwischen dem Projekt der Nationenbildung und dem staatlich geförderten Frauenbild. Die nationale Identität wird nicht zuletzt durch das Bild ‚unserer Frauen‘ gestärkt, was Verdery (1996) als „gendering of nationalism“ bezeichnet. Wenn zu sowjetischen Zeiten der russisch geprägte, weibliche Sowjetmensch das Frauenideal war23, so ist es heute die Bürgerin von Usbekistan, also vor allem die Usbekin. Da die Frauen- und Emanzipationspolitik, wie gesehen, eins der Kernelemente der Sowjetisierung und Russifizierung gewesen war, wundert es kaum, dass das sowjetische Frauenbild nach der Unabhängigkeit zumindest teilweise in Frage gestellt wurde, und dass auch vorsowjetische Modelle wieder an Attraktivität gewannen. Hieraus ergibt sich eine Position, die sich in etwa so umschreiben lässt: Die ‚Frauenfrage‘, wie die Problematik der Gleichberechtigung der Geschlechter bezeichnet wurde, ist in der Sowjetunion gelöst worden – und zwar ein für alle mal. Im unabhängigen Usbekistan geht es nun darum, die Rückkehr zu traditionellen Werten mit den ‚Errungenschaften‘ der sowjetischen Zeit zu verbinden. Eine kritische Betrachtung macht jedoch die Widersprüchlichkeit dieser These deutlich: Zum einen war die ‚Frauenfrage‘ zu sowjetischer Zeit eben nur offiziell ‚gelöst‘, zum anderen lassen sich sozialistische und traditionelle Ideale nicht immer leicht vereinbaren. Typisch für die widersprüchliche Problemstellung – sich vom Erbe des Sozialismus befreien, die Rückkehr zu den wahren Werten finden, die Freiheit aber nicht verlieren – sind Aussagen wie: „Central Asian women are today caught up in three rings of discrimination, influenced by traditions of patriarchy, Soviet ideals, and images from the West […]. Most now find themselves in an ambiguous situation: politically emancipated, but ethnically constrained, with child bearing, caring for husband and children, and keeping house traditionally their only roles. A desire to break free from these constraints brings its own stresses: today’s Central Asian society would regard a retreat from tradition as a manifestation of despised Russification or Westernization, and a loss of ethnic identity.“ (Tabyshalieva 2000: 55)

Wie im Bereich des Nation-Building wird auch in Bezug auf das Frauenbild eine obvious reality geschaffen, welche die „prevailing gender order“ (Elson 1999: 620) der usbekischen Gesellschaft darstellen soll. Im so geschaffenen Frauenbild zeigen sich Kontinuität und Wandel gleichermaßen: Einerseits wird auch nach wie vor die gut ausgebildete, moderne, berufstätige Frau als Ideal dargestellt. Andererseits ist aber eine stärkere Gewichtung der Rolle als Frau und Mutter festzustellen. Die Frauen erfüllen damals wie heute ihre ‚Pflicht vor dem Vaterland‘, indem sie Kinder zur Welt bringen oder auch erwerbstätig sind. Die Entscheidung über ihren Lebensweg ist somit nicht ihre 23 Zu einer ausführlichen Darstellung von Ideal, Klischee und Wirklichkeit des sowjetischen Frauenbildes siehe Köbberling (1997).

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Privatangelegenheit, sondern hat ‚dem Wohle der Heimat‘ zu dienen. Im Unterschied zur sowjetischen Zeit wird jetzt nicht nur die Mutterschaft an sich, sondern auch die Rolle der Familie und der Häuslichkeit betont: „[…] the centrality of motherhood is being reaffirmed, but with a telling shift of emphasis: during the Soviet period, the maternal role was divorced from domesticity. Now, the domestic context has been reinstated and child-rearing is being accorded the same importance as child-bearing. Concominantly, the role of women as the moral educators of the new generation is being highlighted.“ (Akiner 1997: 285)

Die Tendenz geht eindeutig auf die stärkere Gewichtung der reproduktiven Rolle der Frau und der Institution der Familie. Der Hauptgrund für diese Wandlung der Politik ist in der Kombination der weltanschaulichen Überzeugungen der Führungselite und der wirtschaftlichen Situation zu suchen: Angesichts der Knappheit von Arbeitsplätzen und der Aushöhlung der staatlichen Dienstleistungs- und Sozialsysteme erscheint es opportun, die Erwerbstätigkeit der Frauen eher zu reduzieren als zu fördern. Hierin folgt das unabhängige Usbekistan einer sowjetischen Tradition, Frauenpolitik für arbeitsmarktpolitische und/oder demographische Ziele zu instrumentalisieren. Im sowjetischen System beeinflusste und bestimmte der Staat die Geschlechterordnung in besonders hohem Maße. Dies liegt zum einen an dem im Marxismus-Leninismus begründeten Anspruch, eine völlig neue Gesellschaft aufzubauen, in der alle Lebensbereiche grundlegend neu geregelt werden. Zum anderen wurden jedoch die Wirtschafts- und insbesondere die Arbeitsmarktpolitik zur entscheidenden Triebkraft für die Betonung der Gleichberechtigung der Geschlechter, die vor allem unter dem Aspekt der gleichberechtigten Erwerbstätigkeit betrachtet wurde. In Zeiten mit hohem Arbeitskräftebedarf, wie z.B. während der Industrialisierungspolitik der Stalinzeit, wurde die Frau vor allem als Arbeiterin dargestellt. „[…] socialist regimes pushed an industrialisation programme that was (perforce) labor-intensive and capital poor, necessarily requiring the labor power of everyone regardless of sex. More than any ideological commitment this fact produced socialism’s emphasis on gender equality and the policies that facilitated it.“ (Verdery 1996: 64)

Seit den 1980er Jahren, verstärkt unter Gorbatschow, wurde dagegen wieder stärker die Rolle der Frau in der Familie betont. Zum einen führte die wirtschaftliche Stagnation zu einer steigenden (verdeckten) Arbeitslosigkeit. Zum anderen nahm die soziale Desintegration zu, was sich nicht zuletzt im zunehmenden Alkoholismus ausdrückte. Mit dem Rückzug der Frauen aus dem Arbeitsmarkt, so glaubte man, könne man quasi ‚zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen‘ (vgl. Bridger/Kay/Pinnick 1996: 39). Hier wird die Instrumentalisierung der Frauenpolitik deutlich. Gorbatschow spricht über Entwertung der Familienpflichten bei Frauen – ein Versäumnis, das sich aus den Vorteilen der Gesellschaft entwickelt habe:

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„Eine Frau, die auf der Baustelle, in der Produktion, im Dienstleistungssektor, in der Wissenschaft tätig ist, die voll mit kreativer Arbeit beschäftigt ist, hat einfach keine Zeit für ganz alltägliche Sachen – im Haushalt, bei der Kindererziehung und einfach im gemütlichen Familienkreis […]. Und deswegen beschäftigt uns die Frage, wie der Frau ihre weibliche Bestimmung im vollen Maß zurückgegeben werden kann.“ (Gorbatschow 1988: 117, aus dem Russischen – IY)

Nach Gorbatschows Vorstellungen sollte sich die Frau frei entscheiden können, ob sie erwerbstätig bleibt oder zu ihrer ‚natürlichen weiblichen Bestimmung‘ zurückkehrt. Gemeint war damit, dass sich wenige für eine Karriere entscheiden sollten, während die Mehrheit der Frauen es bevorzugt, zu Hause zu bleiben und sich ihren Kindern und Männern zu widmen. Die neue Politik wurde ideologisch durch die Massenmedien unterstützt mit dem Bild der abwesenden (weil erwerbstätigen) Mutter, die ihre Familien vernachlässigt. An der heutigen Rhetorik von Präsident und Regierung lässt sich die Kontinuität dieser Politik ablesen: Zum einen hat die Rezession der Transformationszeit die Arbeitslosigkeit verstärkt. Ein Rückzug der Frauen aus dem Erwerbsleben erscheint daher als probates Mittel, die damit verbundenen Probleme zu bewältigen. Andererseits kann die usbekische Wirtschaft auf die Beteiligung der Frauen nicht verzichten, und die Geburtenraten bleiben weiterhin hoch.24 Im Ergebnis stellt das nun propagierte Frauenbild eine Mischung aus postsozialistischen und traditionalistischen Idealen dar: Zum einen wird weiter das aus sowjetischer Zeit tradierte Bild der modernen, berufstätigen Frau mit guter Ausbildung aufrechterhalten. Andererseits aber wird auch das Idealbild der usbekischen Hausfrau und Mutter verbreitet. Der Rückzug von Frauen aus dem Berufsleben wird vor allem durch die hohe Belastung der Frauen im Haushalt, durch Schwierigkeiten der Vereinbarung beider Rollen als Ehefrau/Mutter und Erwerbstätige sowie nicht zuletzt durch eine angeblich schwache Motivation der Frauen für eine Berufsperspektive gerechtfertigt. Die „patriarchalische Renaissance“ (Mezenceva 1992: 26), vor allem was die Ausübung einer Erwerbstätigkeit angeht, wird als unvermeidlich für den Übergang zu Marktwirtschaft dargestellt und wahrgenommen. Deutlich zu Tage tritt dabei eine zunehmende Betonung der männlichen Autorität in Familie und Gesellschaft. Das Bild des starken, fürsorglichen Vaters ist allgegenwärtig. Neben der Fixierung auf die Person des Präsidenten können in diesem Zusammenhang staatliche Werbung und Parolen im Straßenbild angeführt werden.25 Frauen- wie Männerbild erhalten dabei eine ethnische Dimension. Wiederum werden also kulturelle und auch nationale Ideen für wirtschaftspolitische Zwecke instrumentalisiert. Gleichzeitig dient diese Instrumentalisierung auch dazu, eine Diskussion über dringliche wirtschaftliche und 24 1998 betrug die Geburtenrate 23,2 auf 1000 Einwohner, 1990 waren es 33,9 (UNDP 1999: 4/2). 25 So lautet eine Parole am Stadtausgang von Taschkent: „Der Vater ist das Haupt der Familie“.

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soziale Probleme zu unterbinden, denn auch hier greift die Mischung von Identifikationsangebot und Marginalisierungsdrohung. Mit der Definition der ‚idealen Frau‘ werden andere Entwürfe marginalisiert. In öffentlichen Stellungnahmen des Präsidenten (und der Regierung) zur Frauenpolitik steht häufig die Darstellung der Frau als schützenswertes Objekt im Vordergrund.26 Diese Sichtweise bildet nicht zuletzt die Grundlage für die Art und Weise der Förderung der weiblichen Beteiligung an der Marktproduktion. So erklärte Präsident Karimov die Schaffung von Arbeitsplätzen für Frauen zum Staatsziel.27 Als Grund für die besondere Förderung wurde hierbei genannt, dass Frauen sich nicht schnell genug an die neue Marktbedingungen anpassen könnten. Teilzeit- und Heimarbeit, ob selbständig oder als Auftragsarbeit, werden als die für den Frauen geeigneten Arbeitsbedingungen gesehen. Es ist offensichtlich, dass damit die in Kapitel 2 aufgezeigte geschlechtsspezifische Struktur des Arbeitsmarktes verstärkt wird. Es wird kaum darauf eingegangen, welche Auswirkungen dies auf die Selbständigkeit der Frauen auf dem Markt, auf den Zugang zu Ressourcen hat. Dabei führt gerade der Mangel an eigenen Ressourcen zu einer Rechtlosigkeit vieler Frauen. Die größte Gefährdung der Rechte der Frauen aber geht sicherlich von den Versuchen aus, in der schwierigen wirtschaftlichen Lage ihr Potential zu instrumentalisieren. Programme zur Förderung von Unternehmerinnen machen in der Regel die Formalisierung bzw. Legalisierung der Tätigkeit zur Bedingung – dass die Frauen also zu ‚echten‘ Unternehmerinnen werden. Dies passt aber, wie in den vorangegangen Kapiteln gesehen, häufig nicht in die von den Frauen erarbeiteten Schemata, so dass solche Programme nicht in Anspruch genommen werden. Darüber hinaus fehlt es auch häufig an ‚unabhängigen‘ Informationsquellen über die Arbeit von Verbänden und NRO. Die Erfolge der staatlichen Frauenpolitik werden der Öffentlichkeit an erster Stelle durch die Berichte über die Beteiligung Usbekistans an internationa-

26 Recht deutlich wird diese Rhetorik in dem folgenden Bericht von Balfour (2001): „Highlighting 2001 as the Year of the Mother and Child, following closely on the heels of 1999’s Year of the Mother and 2000’s Year of the healthy generation, Karimov thanked the ‚sacred‘ and ‚caring‘ mothers and the ‚admired wives and sisters‘ for their ‚increasing role‘ and ‚huge contribution to the economy‘. Praising women’s efforts in the country’s strides towards increased prosperity, he claimed great improvements in conditions for women and considered it the ‚sacred duty of men‘ to continue to protect, console and ensure women were able to achieve their goals. ‚History bears witness to the fact that a state’s cultural level is above all determined by the degree of respect afforded to women‘, he said. ‚It is no exaggeration to say that the peace, harmony and love reigning in a country are due above all to the role of women and their labor of patience‘.“ 27 Siehe Präsidialerlass Über Maßnahmen zur Verstärkung der Rolle der Frauen beim staatlichen und gesellschaftlichen Aufbau der Republik Usbekistan vom 02.03.1995.

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len Abkommen28 sowie in Zeitungen und Zeitschriften durch in Frage- und Antwortform verfasste Erläuterungen von Gesetzen und Erlassen nahegebracht (z.B. Ekonomičeskoe obozrenie 08/1999: 5ff.) Tenor solcher Belehrungen ist, dass eine Diskriminierung nach dem Geschlecht verboten ist – und damit auch nicht existent.29 In der Familienpolitik dominieren Maßnahmen zur Geburtenkontrolle. Usbekistan war die erste der neuen zentralasiatischen Republiken, in der ein staatliches Programm zur Familienplanung eingeführt wurde.30 Die anhaltend hohen Geburtenraten, insbesondere auf dem Lande, werden angesichts des schlechten Zustands der Gesundheitsversorgung als Problem erkannt. Darüber hinaus existieren Regierungsprogramme mit Bezeichnungen wie „Vorbereitung von jungen Frauen auf das Familienleben“, „Umwelt und Frau“, „Frau, Familie, Machalla“ oder „Sozialer Schutz der Frauenarbeit“. Dabei geht es im Wesentlichen um Aufklärungsprogramme zu ‚vernünftigen Geburtenraten‘ und Hygiene, die sowohl in den Schulen als auch durch die lokalen Frauenkomitees, meistens im Form eines Seminars, ungesetzt werden. Gerade auf der Ebene der Machalla wird die Rolle der Frauen als Schützerin der Tradition wiederbelebt. Durch die Frauenkomitees werden unter anderen das Erlernen alter Bräuche für die Bewohnerinnen der Machalla organisiert. Eine wesentliche Facette des Frauenbildes nach der Unabhängigkeit ist die Darstellung der usbekischen Frau als gute Muslimin. Kritische Autorinnen, wie z.B. Isamiddinova und Tokhtakhodjaeva (UNDP 1999) weisen darauf hin, dass die Begriffe ‚usbekische Frau‘ und ‚islamische Frau‘ wohl identisch geworden seien, und sehen den Ursprung dafür in den Entwicklungen der Jahre 1991–1992, als die Idee der Unabhängigkeit parallel zur Wiederbelebung des Islam durchgesetzt wurde. Der Zusammenhang von Nationalität und Religion wird in der staatlichen und präsidialen Rhetorik affirmativ hergestellt. Entscheidend hierbei ist, dass 28 Eine Übersicht über diese Konventionen findet sich in Überblick über die gültige Gesetzgebung der Republik Usbekistan (o.V. 1999: 12ff.). 29 In ihren Analysen thematisiert Mezenceva (1992: 24) die Bruchstellen in der staatlichen Politik bezüglich der Gleichberechtigung der Geschlechter. Trotz der Mitgliedschaft in verschiedenen internationalen Konventionen und Abkommen ändert sich in der Praxis wenig. Dies liegt auch daran, dass sich die Bemühungen im wesentlich auf die rechtliche Seite dieser Abkommen beschränken – d.h. die Gleichberechtigung der Geschlechter in Ausbildung und Erwerbstätigkeit wird gesetzlich festgeschrieben. Ein Beispiel hierfür ist das Familienrecht, das 1998 mit der Begründung überarbeitet wurde, es in Übereinstimmung mit internationalen Abkommen zu bringen (vgl. ADB 2001: 8). Die praktische Umsetzung lässt dagegen oft zu wünschen übrig. Dieses Verhalten stammt noch aus Sowjetzeiten, wenn z.B in den Berichten an die UNO die gesetzlichen Bestimmungen zur Beschreibung der tatsächlichen Situation herangezogen wurden. 30 Anfang der 1990er Jahre verschlechterte sich die demographische Situation in Usbekistan – neben den höheren Geburtsraten, besonders auf dem Lande, waren höhere Sterberaten bei Kindern und Müttern festzustellen.

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ein ganz bestimmtes Bild der islamischen Frau proklamiert wird, das sich an Werten wie Geduld und Aufopferung orientiert. Zugleich mit der Hervorhebung der religiösen Traditionen wird hier anderen, aus dem Ausland stammenden islamischen (und islamistischen) Strömungen – vor allem dem Wahhabismus – eine strikte Absage erteilt. Solche Tendenzen seien nicht usbekisch, sondern fremd, und sie seien abzulehnen. Die gleiche Ablehnung erfahren auch ‚westliche‘ oder ‚russische‘ Frauenbilder, die unter Schlagworten wie ‚Konsum‘, ‚Sexobjekt‘ oder ‚unmoralisch‘ zusammengefasst werden (vgl. z.B. Tabyshalieva 2000: 55). Einmal mehr besteht also ein sehr enger Zusammenhang zwischen Instrumentalisierung, Vereinnahmung und Ausgrenzung bzw. zwischen Identitätsstiftung und Ausgrenzung. Aufschlussreich ist die Entwicklung der Beteiligung von Frauen in Politik und Exekutive. Hierzu ist zunächst ein kurzer historischer Rückblick nötig: Die Frauenkomitees – in den 1920 Jahren unter den Nahmen ženotdely (wörtlich: Frauenabteilungen) auf allen Verwaltungsebenen eingeführt – führten ideologische Schulungen für Frauen durch und waren auf lokaler Ebene für die Überwachung anderer Behörden in ihrem Verhalten zu Frauen in ihrer neuen rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung zuständig.31 In von den ženotdely betreuten Frauenklubs wurden für Frauen Dienstleistungen in den Bereichen Medizin, Recht, Ausbildung, Hygiene und Kindererziehung sowie Ernährung angeboten. Es fanden Lesungen und Laientheateraufführungen statt, die meistens die aktuelle Situation darstellten. Zudem wurden Konzerte gegeben und Filme gezeigt. Da diese Klubs nur für Frauen zugänglich waren, konnten sich diese hier relativ sicher fühlen. Der erste dieser Klubs entstand 1924 in der Altstadt von Taschkent, danach wurden viele Klubs in den Regionen des Landes, auch im ländlichen Raum, eröffnet. Allgemein gesprochen, waren die ženotdely sowie die Frauenklubs auf lokaler Ebene eine der wichtigsten institutionellen Einrichtungen der neuen gesellschaftlichen Ordnung, die im bewussten Gegensatz zu den ‚alten‘ Institutionen – wie dem Ältestenrat in der Machalla – eingerichtet wurden. Über die gesamte sowjetische Zeit hinweg bestanden die Frauenkomitees auf allen Verwaltungs- und Parteiebenen fort und waren für die Belange von Frauen zuständig. Nach der Unabhängigkeit bestehen die Frauenkomitees fort. Auf der lokalen Ebene sind sie aber jetzt zu einem institutionellen Bestandteil der Machalla geworden. Auf Republikebene32 wurde die neue Position eines stellvertretenden Ministerpräsidenten für „Fragen des sozialen Schutzes der Familie, der 31 Die Land- und Wasserreformen von 1925–29 gaben den Frauen ein selbständiges Recht auf Zugang zu diesen Ressourcen. Familien, die ihre männlichen ‚Brotverdiener‘ verloren hatten, wurden bei der Vergabe von Land, Werkzeug und Saatgut bevorzugt. Wenn es in einer Familie keinen Mann gab, wurde die Frau rechtlich als Haushaltsvorstand anerkannt (vgl. Tokhtakhodjaeva 1995: 55). 32 Alle hier angeführten Neuregelungen gehen auf den Präsidentenerlass Über Maßnahmen zur Stärkung der Rolle der Frauen im staatlichen und gesellschaftlichen Aufbau der Republik Usbekistan vom März 1995 zurück.

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Mutterschaft und der Kindheit“ samt nachgeordneter Behörde im Ministerkabinett geschaffen.33 Die Vorsitzenden der Frauenkomitees sind gleichzeitig zu stellvertretenden Chokimen (Gouverneuren) ernannt worden und für die Sozialpolitik zuständig. In anderen Bereichen von Politik und Verwaltung dagegen sind Frauen kaum in höheren Positionen zu finden. So sind lediglich vier der 163 Bezirks-Chokime weiblich, und kein einziger der darüber stehenden Gebietsgouverneure ist eine Frau. Der Anteil der weiblichen Abgeordneten im Parlament ging zwischen 1985 (Oberster Sowjet der Usbekischen SSR) bis 1998 (Olij Majlis) von 35 % auf 8 % zurück. Auf regionaler Ebene liegt der Frauenanteil bei durchschnittlich 7 % (vgl. ADB 2001: 13f.). Hierbei kommt die Abschaffung des in sowjetischer Zeit üblichen Quotensystems zum Ausdruck. Durch die o.g. Maßnahmen wurden allerdings indirekt wieder Quoten eingeführt. Neben dem Rückgang des Frauenanteils wird deutlich, dass weibliche Politiker fast ausschließlich für die Belange von Frauen und Familien, z.T. auch noch der Sozialpolitik im allgemeinen zuständig sind. In anderen Ressorts fehlt ein weiblicher Einfluss fast völlig. Wie oben beschrieben, gelingt es auch den NRO kaum, einen unabhängigen Einfluss auf Diskurs und Politik zu entwickeln. Zwar ist die Zahl der so genannten Frauen-NRO in den 1990 Jahren deutlich gestiegen. Gab es 1991 nur eine solche Vereinigung – Tadbirkor Ayel (‚Verband der Unternehmerinnen‘)34, so waren es 1998 schon über 40. Angesichts der geschilderten Methoden der Instrumentalisierung und Steuerung bekommen nur diejenigen NRO ‚grünes Licht‘ für ihre Arbeit, die der Staatspolitik zustimmen. Selbst wenn eine NRO – zum Beispiel durch eine Finanzierung aus dem Ausland – in ihrer täglichen Arbeit weitgehend unabhängig sein kann, so hat sie doch kaum eine Möglichkeit, sich wirklich kritisch zu artikulieren oder die von der Regierung vorgegebenen Parameter zu verlassen. Ein Beispiel hierfür ist die Schaffung einer Art von Frauen-Dachverband (unter dem Namen Mekr) zur Koordinierung aller Frauenorganisationen auf Regierungs- und Nichtregierungsebene (ADB 2001: 15), in der das Frauenkomitee die entscheidende Rolle übernehmen soll. Pro forma oder ‚relativ‘ unabhängige Organisationen bieten der Regierung eine gute Gelegenheit, nach außen wie nach innen auf ‚neutrale Beobachter‘ oder lebendige demokratische Prozesse zu verweisen. 33 In der sowjetischen und postsowjetischen Verwaltungstradition ist es üblich, für wichtige Positionen mehrere Erste Stellvertreter sowie mehrere Stellvertreter zu haben. Die Bedeutung des Titels ist daher eine etwas andere als im üblichen deutschen Sprachgebrauch. 34 1999 zählt die Assoziation über 3000 Mitglieder, unter denen Unternehmerinnen, Intellektuelle sowie im staatlichen Sektor Tätige sind. Die größte Frauen-NRO des Landes arbeitet eng mit internationalen Organisationen wie GTZ, TACIS, UNDP, Counterpart Consortium usw. zusammen. Die Tätigkeit ist vor allem auf die Probleme der Kleinunternehmerinnen und den sozialen Schutz der Frauen ausgerichtet.

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Kennzeichnend ist hier wiederum die Situation in den Massenmedien. Eine der wenigen auf Frauen orientierten Zeitschriften ist Saodat – das offizielle Presseorgan des Frauenkomitees der Republik Usbekistan. Ihre Struktur hat sich seit Sowjetzeiten kaum geändert – offizielle Informationen werden durch Literaturteil und Haushaltsratschläge ergänzt. Genauso wie in der Zeitschrift Saida, die eine deutliche Werbeausrichtung hat, findet man keine kritischen Analysen zur aktuellen Lage. Pionierarbeit leistet in diesem Bereich das Zenskij Ressursnj Centr (Women’s Resource Centre)35 mit seinen Artikelbänden ‚Ženščiny Central’noj Azii‘ (Frauen Zentralasiens). Die geringe Auflage der Bände – 500 Exemplare –, die zudem nicht im freien Verkauf erhältlich sind, beschränkt jedoch den Zugang zu dieser Quelle. Bezeichnend für das Verhältnis von NRO und selbst internationalen Stellen zum Staat ist ein Zitat aus dem Bericht über die Lage der Frauen in der Republik Usbekistan, herausgegeben 1999 von UNDP in Zusammenarbeit mit dem Center on Economic Research (CER, Usbekistan):36 „Der Erlass37 gab den Anstoß zu einer Aktivierung der Tätigkeit von Frauenkomitees auf allen Ebenen. Das Jahr 1999 wurde auf Initiative des Präsidenten der Republik Usbekistan zum Jahr der Frau erklärt. Von Anfang an war es durch eine bedeutende Belebung auf dem Feld der Verbesserung der Lage der Frauen gekennzeichnet: auf der Ebene der Regierung durch die Ausarbeitung des Programms zur Förderung der Frauen, [und] durch Maßnahmen zum Schutze der Gesundheit der Frauen […], durch die Durchführung von Konferenzen von Frauen-NRO […]. Die FrauenNRO in Usbekistan begreifen sich als Partner des Staates, als seine Helfer bei der Lösung der gesellschaftlichen Probleme und der Durchführung einer Politik, die auf 35 Diese NRO wurde 1995 von einer Gruppe von Frauen gegründet, die in unterschiedlichen Berufen tätig waren, darunter eine Architektin, eine Biologin und andere. Ihre Aufgaben sehen die Mitglieder des Zentrums unter anderen im Aufbau einer Sammlung historischer und zeitgenössischer Quellen über Frauen in Zentralasien. Der Artikelband wird mit Unterstützung von NOVIB, einer niederländischen NRO, herausgebracht. 36 „Указ стал толчком для активизации деятельности комитетов женщин на всех уровнях. 1999 год по инициативе Президента Республики Узбекистан объявлен Годом женщины. Он с самого начала ознаменовался значительным оживлением в области улучшения положения женщин: разработкой программ поддержки женщин на правительственном уровне, мерами по охране здоровья женщин […], проведением конференций женских неправительственных организаций […]. Неправительственные женские организации в Узбекистане считают себя партнерами государства, его помошниками в решении общественных проблем и пробедении политики, направленной на достижение гендерного равенства“ (UNDP/CER 1999: 2). 37 Erlass des Präsidenten der Republik Usbekistan, I. Karimov, vom 2. März 1995 „Über Maßnahmen zur Stärkung der Rolle der Frauen im staatlichen und gesellschaftlichen Aufbau der Republik Usbekistan“ (Указ Президента Республики Узбекистан И.Каримова от 2 марта 1995 года „О мерах по повышению роли женщин в гозударственном и общественном строительстве Республики Узбекистан“).

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die geschlechtliche Gleichberechtigung abzielt.“ (UNDP/CER 1999: 2, aus dem Russischen – IY)

Der Schwerpunkt in der Tätigkeit der NRO wird damit auf die Unterstützung und Umsetzung der gesetzlichen Garantien der Gleichberechtigung der Geschlechter gesetzt. Das folgende Zitat macht die Instrumentalisierung durch den Staat besonders deutlich:38 „Die staatlichen Behörden binden die Vertreter der vom Staat gegründeten NRO aktiv in ihre Komitees und Kommissionen ein, laden sie zur Durchführung von Monitoring-Arbeiten ein, zum Beispiel für Untersuchungen zur Lage der Frauen- und Kinderrechte.“ (ebd.: 10, aus dem Russischen – IY)

Die engen Verbindungen zeigen sich auch an der Arbeitsweise: So werden z.B. NRO-Seminare zur Fortbildung von Frauen in Rechtsfragen von der lokalen Administration organisiert, was sowohl die Zurverfügungstellung von Räumen als auch die Auswahl der Teilnehmerinnen einschließt. Von den partizipativen Methoden, von denen hinterher im Bericht der NRO zu lesen sein wird, ist dabei wenig zu spüren. Insgesamt kann man feststellen, dass trotz der Verschiedenheit der Akteure die diskursive Gestaltung der Frauenproblematik im Wesentlichen von der Regierung gesteuert wird. Eine typische Einstellung dazu gibt folgendes Zitat wieder: „Vielleicht gibt es so etwas, aber ich habe noch nie davon gehört. Kann sein, dass sie da in ihren engeren Kreise sich unterhalten und gegenseitige Hilfe leisten […]. Mit der Hilfe für solche wie mich wird man wohl nichts anfangen können. Denn ich meine, wenn man so wie ich arbeitet und keine Steuer zahlt, dann will man keine Organisation, sonst kommt gleich die Steuerbehörde. Und die mit Registrierung werden wohl keine Hilfe brauchen.“ (Larisa, 52)

Im Ergebnis werden die öffentlichen Diskurse von vielen nicht wahrgenommen – man identifiziert sich nicht damit und nimmt daran nicht teil. Praktische Folgen staatlicher Frauenpolitik sind ebenfalls kaum zu spüren. So erfährt man nur aus den Straßenparolen, dass dem Jahr der Familie das Jahr der Frau folgte.

38 „Государственные структуры активно включают представителей неправительственных организаций, созданных государством, в свои коммитеты и комиссии, приглашают их для проведения мониторинговых работ, например для определеня состояния прав женщин и детей […]“ (ebd.: 10).

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Der Staat als Wohltäter: wer ist arm? Einer der wichtigsten Diskurse um den Alltag betrifft die soziale Sicherheit. Wie schon erwähnt, ließ sich der aus sowjetischer Zeit gewohnte Standard einer relativ umfassenden sozialen Grundversorgung nicht mehr aufrechterhalten. In Zeiten desolater Staatsfinanzen und hoher Inflation wurden Renten, Stipendien, Arbeitslosengeld und andere staatliche Sozialleistungen, die an offizielle Gehälter geknüpft sind39, real so stark reduziert, dass sie in vielen Fällen gerade für das Überleben ausreichen. Zudem wurde das Subventionierungssystem für Güter des Grundbedarfs (Lebensmittel, Strom, Wasser usw.) weitgehend abgeschafft. Abgesehen von den Finanzierungsschwierigkeiten steht der Staat auch vor der Aufgabe, die Systeme der sozialen Sicherheit von einem sozialistischen auf ein marktwirtschaftlich geprägtes System umzustellen, d.h. privatwirtschaftlich organisierte und/oder auf dem Solidaritätsprinzip basierende Institutionen einzuführen. Die diskursive Gestaltung des Themas sozialer Sicherheit dient der Legitimierung der nationalstaatlichen Ideen. Durch ein Programm von staatlichen Maßnahmen zur allmählichen Anpassung sollten der Bevölkerung die Erfahrungen einer ‚Schocktherapie‘ wie in anderen Ländern des ehemaligen ‚Ostblocks‘ erspart bleiben. Die Richtlinien für Usbekistan in der Übergangsperiode wurden von Präsident Karimov in fünf Grundprinzipien erfasst.40 Er fordert eine Gesellschaftsstruktur, die mit der islamischen Überlieferung vereinbar und in diesem Sinne gerecht und demokratisch ist. Die Leitprinzipien der Reformpolitik in Usbekistan werden auch aus der islamischen Ethik abgeleitet. Diese beinhaltet, dass der Staat auch keine Polarisierung der Bevölkerung in Reiche und Arme zulassen dürfe. In der Realität widersprechen dem das augenscheinliche Straßenbild41 ebenso wie Untersuchungen zur Einkommensdifferenzierung (vgl. ADB 2001: 5; EBRD 2000b: 16f.). Zwei der Prinzipien des proklamierten ‚usbekischen Wegs‘ zur Erneuerung sind die Rolle des Staates als Reformator sowie die Priorität der Sozialpolitik. Auch hier bestimmt also die Regierung den Diskurs. Dies betrifft die Definition von Armut und Hilfsbedürftigkeit ebenso wie die Architektur des geeigneten Sozialsystems. Eine staatliche Behörde besitzt ein Monopol auf alle aktuellen statistischen Daten, und so werden in offiziellen Berichten Zahlen 39 In der Regel werden Sozialleistungen in Usbekistan als Vielfache des Mindestlohns gezahlt. 40 1. Primat der Ökonomie über die Politik, 2. Der Hauptreformator ist der Staat, 3. Rechtsstaatlichkeit als Grundlage, 4. Wichtige Rolle der Sozialpolitik, 5. Etappenweiser Übergang zur Marktwirtschaft (vgl. Karimov 1995: 10f.). 41 So lassen sich in Taschkent die massive Bautätigkeit privater Villen – vor allem von hohen Staatsbeamten und leitenden Angestellten von Staatsunternehmen – und die sichtbare Verarmung erheblicher Bevölkerungsteile nebeneinander beobachten.

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und Vergleiche dargestellt, die für einen unabhängigen Forscher kaum zu überprüfen sind. Die Brisanz der Armutsdefinition zeigt sich unter anderem darin, dass die Art und Weise der Berechnung des seit 1992 vom Ministerium für Arbeit bestimmten Existenzminimums außerhalb der Regierung nicht öffentlich zugänglich gemacht wird. Aufgrund dieses Existenzminimums aber werden der Mindestlohn und damit die Höhe der meisten sozialen Hilfsleistungen bestimmt. So ist die offizielle Armutsgrenze als das 1,5-fache des Mindestlohns festgelegt. Gemäß der definierten Armutsgrenze wurden 1998 ein Viertel der Familien in Usbekistan (mit durchschnittlich fünf Mitgliedern) als arm eingestuft (vgl. UNDP 1998: 53). Dies ist ein starker Rückgang gegenüber dem Ende der Sowjetzeit, als 44 % der erwerbstätigen Bevölkerung Usbekistans als arm bezeichnet wurden (vgl. ADB 2001: 3). Allerdings müssen solchen Darstellungen mit erheblicher Skepsis betrachtet werden; sie sind ein typischer Fall für die Art und Weise, wie die usbekische Regierung Statistiken manipuliert und instrumentalisiert. Zu beachten sind hierbei nicht nur die erheblichen Unvollkommenheiten der aktuellen Statistiken und der Vergleiche mit anderen Perioden. Wichtig sind darüber hinaus die steigenden realen Kosten für staatliche soziale Dienstleistungen – vor allem im Gesundheits- und Bildungsbereich –, die offiziell nach wie vor meist kostenlos sind und darüber hinaus als Ausgabenbereich nicht in Betracht gezogen werden. Noch gravierender ist die reale Verschiebung der definierten Armutsgrenze nach unten, denn der als Bemessungsgrundlage dienende Mindestlohn reicht heute nicht mehr zur Deckung der einfachsten Lebenshaltungskosten aus. Anhand der Daten des Household Budget Survey mit Kalkulationen der Einkommen und realen Ausgaben können 1999 40 % der Bevölkerung als arm angestuft werden (vgl. ADB 2001: 3). Außerdem bilden sich in Hinsicht auf Armut neue Risikogruppen, die von Forschern als die ‚neuen Armen‘ bezeichnet werden. Neben den allein erziehenden Müttern und allein stehenden Rentnern sind es heute auch Berufsgruppen, die formal zu einer mittleren Schicht gehören – Mediziner, Lehrer, Wissenschaftler und Angestellte der großen Betriebe –, deren Monatslohn nicht mehr für die Lebenshaltungskosten ausreicht. Die neue Sozialpolitik beruht im Wesentlichen auf zwei Säulen: Erwerbstätigkeit und Machalla. Damit setzt der Staat aber gleichzeitig den Rahmen für die Normalität: Um in den Genuss von Sozialleistungen zu kommen, muss man entweder erwerbstätig (gewesen) sein und/oder ein Mitglied der Machalla. Das an die Erwerbstätigkeit gekoppelte System beinhaltet vor allem die Subventionierung von Preisen für kommunale Dienstleistungen für bestimmte Berufsgruppen. Hierzu zählen reduzierte Wohnungsmieten (und auch reduzierte Preise für die Privatisierung von Wohnungen), verbilligte oder kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs, reduzierte Sätze für Strom, Was-

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ser usw. Auch das Rentensystem42 bleibt an die vorherige Erwerbstätigkeit gekoppelt (hierzu Kapitel 2). Dieser wichtige Teil des Sozialsystems bleibt also Personen vorbehalten, die im formellen Sektor erwerbstätig sind. Nicht erwerbstätige und selbständig wirtschaftlich tätige Personen hingegen werden nicht berücksichtigt. Eine private Rentenversicherung gibt es in Usbekistan bislang nicht. Die zweite Säule der Sozialversorgung kann mit ‚Armenfürsorge in der Gemeinde‘ umschrieben werden. Sie stützt sich auf die Machalla, die über ein intimes Wissen über die Bedürftigkeit ihrer Mitglieder verfügt und entsprechend gerecht Hilfe verteilen kann. Von der Zentralregierung mit einem Budget ausgestattet, entscheidet die örtliche Machalla selbst, welche ihre Mitglieder Hilfe erhalten. Als Grundlage für die Entscheidung dient dabei eine allgemein gehaltene Anweisung des Arbeitsministeriums, wonach Familienzusammensetzung und -einkommen, aber auch Vermögensverhältnisse (Land, Wohneigentum, langlebige Konsumgüter) als Kriterien herangezogen werden sollen. Kinderreiche Familien oder Familien, deren Hauptverdiener nur bedingt arbeitsfähig ist, sollen bevorzugt behandelt werden.43 An die Stelle eines Anrechts auf Sozialleistungen anhand von nachprüfbaren Kriterien (wie Kinderzahl oder Einkommen) tritt also die Entscheidung des Nachbarschaftskomitees. Diese Zuweisung der Schutzaufgabe an die Machalla soll die Gerechtigkeit fördern, denn die Nachbarschaftsgemeinde als soziale Einheit und Vertreterin der grundlegenden Werte kenne die Bedürfnisse ihrer Mitglieder besser als jede andere Stelle. Die Verwendung verschiedener Kriterien und die Einbindung eines Komitees aus angesehenen Bürgern der Machalla und Mitarbeitern der Verwaltungsorgane soll dabei sicherstellen, dass die Hilfe wirklich die Bedürftigsten erreicht. Die Möglichkeiten zu einem Missbrauch solcher

42 Laut dem Gesetz Über die Rentenversorgung der Bürger (O gosudarstvennom pensionnom obespechenii graždan), gültig seit dem 01.07.1994, sind drei Typen von Renten vorgesehen: Altersrente, Arbeitsunfähigkeitsrente, Hinterbliebenenrente. Um eine Rente in Anspruch nehmen zu dürfen, muss allerdings einen Erwerbstätigkeitsgeschichte nachgewiesen werden. 43 Wie Coudouel/Marnie/Micklewright (1999) zusammenfassen, werden durch die Machalla zwei Programme verwaltet: Zum einen das so genannte „zielgerichtete Programm der Sozialhilfe“, zum anderen Kindergeld für bedürftige Familien. In beiden Fällen entscheidet das Machalla-Komitee auf der Grundlage von objektiven und subjektiven Kriterien über die Vergabe von Hilfen. Die Antragsteller müssen ihre Einkommens- und auch Vermögenslage vollkommen offen legen und insbesondere für das Kindergeldprogramm einen recht umfangreichen Antragsprozess durchlaufen. Die endgültige Entscheidung über die Vergabe von Hilfen wird in offener Abstimmung im Machalla-Komitee gefällt. Die Höhe der Beihilfen liegt bei 1–3 Mindestlöhnen als Einmalzahlung im Sozialhilfeprogramm und, je nach Kinderzahl, zwischen 0,5 und 1,75 Mindestlöhnen, die nach jeweils sechs Monaten neu beantragt werden müssen.

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diskretionärer Möglichkeiten, sei es als Mittel der Sozialkontrolle oder durch Willkür und Korruption, sind offensichtlich.44 Wie in den vergangenen Kapiteln beschrieben, sind zwar alle Einwohner Usbekistans nominell Mitglied einer Machalla als einer administrativen Einheit. Neben ihrer neuen Rolle als Teil der Verwaltungsstruktur wird aber die ursprüngliche Bedeutung der Machalla als traditionelle usbekische (oder tadschikische) Institution ideologisch genutzt. Gerade in den ‚neuen‘ Machallas in den Hochhaussiedlungen sollen die Einwohner durch gemeinsame Aktivitäten wie Feste oder Bildungsseminare besser integriert werden. In der Praxis haben die Einwohner dieser neuen Machallas jedoch, außer in rein administrativen, kommunalen Angelegenheiten, die früher Aufgabe der domkom oder ‚Hauskomitees‘ gewesen waren, kaum Verbindung zum Machalla-Komitee. Es zeigt sich aber, dass es mehr als der formellen Mitgliedschaft in der Machalla bedarf, um wirklich Hilfsleistungen zu erhalten. Wer sich nicht mit der Gemeinde identifiziert und sich nicht integriert, wird auch nicht den Machalla-Rat um Hilfsleistungen bitten. Damit kann man aus den beiden Gruppen und ihren Systemen der sozialen Sicherung ausgeschlossen bleiben – die der Erwerbstätigen und die der Machalla-Mitglieder. So berichtet Inna, 32, allein erziehende Mutter von zwei Kindern: „Die vom Machalla-Komitee kamen einmal zu uns und fragten, ob ich einen Antrag auf Kindergeld stellen möchte. Aber ich denke, wenn sie wissen, dass ich dazu berechtigt bin, weil ich zwei kleine Kinder habe und keinen richtigen Job, dann sollen sie es mir geben und keinen Wettbewerb, wer hier ärmer ist, veranstalten.“

Hierbei tritt ein entscheidender Aspekt der Hilfsleistungen durch die Machalla zu Tage: Man muss öffentlich zugeben, hilfsbedürftig zu sein, um Hilfe zu bekommen.45 Zwar ist dies ein allgemeines Prinzip von Sozialhilfe, doch hier führen die Mitglieder des Machalla-Komitees eine persönliche eingehende 44 Eine Widersprüchlichkeit dieses Systems besteht darin, dass der Zentralstaat den Machallas die Mittel für die Sozialprogramme zuweist. Als Berechnungsgrundlage diente zunächst nur die Einwohnerzahl. Während dies zu einer Verteilungsgerechtigkeit innerhalb einer Machalla führen kann, kann es keinen regionalen Ausgleich herbeiführen und damit auch keine Gleichstellung Hilfsbedürftiger in unterschiedlichen Machallas. Im Zuge einer Verfeinerung des Systems werden die Mittel zielgerichteter und auch auf Grundlage regionaler Unterschiede zugewiesen. Wenn diese Zuweisung aber auf der Grundlage der wirklichen Bedürftigkeit erfolgt (die ja definitionsgemäß in den einzelnen Machallas festgestellt wird), stellt sich die Frage, worin der Sinn einer diskretionären Entscheidungsmacht des Machalla-Komitees für die Verteilung der zugewiesenen Mittel besteht). 45 So müssen für die Beantragung von Kindergeld das monatliche Einkommen aller Haushaltsmitglieder für die vergangenen 12 Monate offen gelegt und etliche Dokumente beigebracht werden. Zudem wird die Vermögenslage genau geprüft, wobei sowohl auf langlebige Konsumgüter als auch auf den Besitz von Land oder Garten geachtet wird, der zur Subsistenzproduktion genutzt werden kann.

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Untersuchung der gesamten Vermögensverhältnisse durch, die dann in öffentlicher Sitzung diskutiert werden. Dies ist gewissermaßen eine Umkehrung des traditionellen Prinzips der Nachbarschaftshilfe: Dort wussten die Nachbarn durch ihren täglichen sozialen Kontakt um die Hilfsbedürftigkeit anderer. In ansonsten eher anonymen Nachbarschaften wie Hochhaussiedlungen fehlt dieses intime Wissen aber und muss erst durch eine Inspektion erworben werden. Dass diese Prozedur von vielen potentiellen Antragstellern als erniedrigend empfunden wird, ist kaum verwunderlich. Das Einräumen einer diskretionären Entscheidungsbefungnis für das Machalla-Komitee löst jedoch nicht die aus Sozialversicherungssystemen bekannten Anreiz- und Gerechtigkeitsprobleme. Eine meiner Gesprächspartnerinnen, Zuchra, 34, berichtet, dass sie schon mehrmals einen Antrag auf finanzielle Unterstützung gestellt hatte, weil ihr Mann nicht viel verdient und sie drei Kinder zu ernähren hat. Erst nachdem sie für eine Weile aufgehört hatte, Brot zu backen, hat sie die Hilfe erhalten: „Sie wussten doch, dass ich für den Basar lepeška [usbekisches Fladenbrot] backe, so gaben sie uns nichts, weil ich nicht ohne Einkommen sei.“ Zieht man die erhebliche Sozialkontrolle in Betracht, die von der Machalla ausgeht, so wird deutlich, dass diese Art der Hilfsleistung ein sehr machtvolles Instrument zur Sicherstellung eines normgerechten Verhaltens ist. Die Art und Weise der Verteilung führt häufig dazu, dass sich Antragsteller mehr als ‚hilfsbedürftig‘ denn als ‚anspruchsberechtigt‘ empfinden. Dies wird aber oft mit ‚arm‘ gleichgestellt und löst damit Sorgen um ihren sozialen Status aus. Adolat, 67, kann trotz ihrer jahrelangen Erwerbstätigkeit ihre „Arbeitsbiographie“ nicht nachweisen, weil ihr Arbeitsbuch (trudovaya kniga; hierin wird die Geschichte der persönlichen Erwerbstätigkeit verzeichnet) verloren gegangen ist. Als sie die Machalla bitten wollte, ihr bei der Beantragung ihrer staatlichen Rente zu helfen, wurde ihr stattdessen angeboten, einen Antrag auf finanzielle Unterstützung bei der Machalla zu stellen. Die Reaktion darauf war: „Ich bin nicht arm. Solange ich arbeiten kann, werde ich keinen anbetteln.“ Ein weiterer Aspekt der über die Machalla verteilten Sozialleistungen ist ihre – gemessen an den Lebenshaltungskosten und der subjektiven Einschätzung vieler Betroffener – verschwindend geringe Höhe.46 Für viele Personen, gerade auch die in dieser Arbeit befragten Frauen, lohnt die Aussicht auf eine solche Hilfe nicht die bürokratischen und psychologischen Schwierigkeiten der Antragstellung. Im Ergebnis kann festgehalten werden, dass die Verteilung von Sozialleistungen über das Machalla-System sicherlich dazu beitragen kann, wirklich bedürftige Familien zu erreichen. Andererseits muss aber konstatiert werden, dass die Verteilung in nicht unerheblichem Maße für eine soziale Kontrolle 46 Der Mindestlohn betrug im Durchschnitt von Januar-August 1999 1 374 Sum, was nach offiziellem Wechselkurs US $ 11,60, nach dem Schwarzmarktkurs US $ 3,0 entsprach (siehe Abb. 2 und Tab. 6 im Anhang).

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instrumentalisiert wird, die in der Praxis zu einer Diskriminierung von Lebensformen (oder auch ethnischen Gruppen) führen kann, die dem als Norm vorgegebenen Modell nicht entsprechen. Hinzu kommt, dass der Anteil der sozial Schwachen, gemessen am Lebensstandard der Vergangenheit, wesentlich angestiegen ist und dass dieser Personenkreis gleichzeitig von staatlichen Sozialleistungen kaum erreicht wird. Im öffentlichen Diskurs über die Sozialpolitik kommt dieser Zusammenhang jedoch nicht zum Tragen. Hier wird im Gegenteil einseitig der harmonische Einklang von intakter Gemeinde, zentralstaatlicher Unterstützung und Versorgung der Bedürftigen herausgestellt. Die vermeldeten Erfolge im Bereich der sozialen Sicherung stehen darüber hinaus als Beweis für den Erfolg des neuen Nationalstaats. Aus der Sicht vieler Akteure, insbesondere den zur Risikogruppe gewordenen Teilen der Mittelklasse, beruht die staatliche Sozialpolitik auf einer Mischung aus Identifikationsangebot und Marginalisierungsdrohung – die in diesem Fall in einem Verzicht auf staatliche Unterstützung zum Ausdruck kommt. Und wieder zeigt sich, dass eine eigene wirtschaftliche Tätigkeit den Freiraum der Akteure erhöht, nicht nur finanziell, sondern auch durch die Möglichkeit, sich dem Absolutheitsanspruch des Staates auf eine Identifikation seiner Bürger mit den zur Norm gemachten Werten und Lebensformen zu entziehen.

5.3 Zusammenfassung: ‚Menschenwürdiges Berufsleben‘ – ein diskursives Tabu? Den hier analysierten Diskursen ist gemeinsam, dass der Staat die Bestimmung der Themen, die Definition der Begriffe sowie die Festsetzung der Grenzen der Diskussion dominiert. Zudem werden vielfach konkrete Sachthemen mit abstrakten Werten verbunden, so dass eine abweichende Meinung im Konkreten als Ablehnung der die Nation einigenden Bande verstanden und entsprechend sanktioniert werden kann. Die Instrumentalisierung sozialer, philosophischer und ethnischer Werte geht jedoch noch weiter: Durch die aktive Besetzung der genannten Problemfelder und die entsprechende Steuerung der Diskussion verhindert der Staat einen offenen Diskurs über einen der wichtigsten Interessenkonflikte der Transformationszeit: Das Versagen des Staates, eine leistungsfähige Marktwirtschaft aufzubauen, in der die ausgebildeten Fachkräfte eine adäquate Beschäftigung finden können. Genau dies aber ist das zentrale politische Problem der Menschen, die arbeitslos oder fachfremd im informellen Sektor tätig sind. Wie wichtig dieses Problem für die Akteure ist, zeigt sich schon daran, wie hoch die soziale Wertschätzung für jemanden ist, der ‚in seinem Beruf‘ (po professii) arbeitet und dabei seinen Lebensunterhalt gut sichern kann. Hierin wird auch deutlich, dass eine der wichtigsten identitätsstiftenden Merkmale der Akteure ihre Zugehörigkeit zu einer Berufsgruppe und einem

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Bildungsniveau ist. Die mangelhafte Gestaltung dieses Problemfeldes mit öffentlichen Diskursen wirkt sich auf die Identitätsbildung der betroffenen Akteure aus. Die Zugehörigkeit zu einer ‚Wir-Gruppe‘, definiert durch Sprache, Zugehörigkeit zu einer Nation oder Einbettung in die Gemeinde, sind keine ausreichenden Bedingungen für Loyalität, wenn gleichzeitig wesentliche andere Dimensionen der eigenen Identität vernachlässigt oder sogar als inferior gekennzeichnet werden. Dementsprechend werden die Identitäten zum Teil in einer bewussten Distanzierung vom Staat, zum Teil auch in einem situativen Taktieren (Rottenburg 1994) konstruiert. Gerade der so genannte informelle Sektor, oder besser, die Personen, die Thema dieser Arbeit sind, stehen dem Staat kritisch gegenüber, wenn es um die Einschätzung der eigenen Erwerbstätigkeiten und Optionen geht. Der Erfolg bei dem Bemühen, ‚wie ein Mensch‘ zu leben, wirkt auf die eigene Einstellung gegenüber dem Staat: je mehr es gelingt, materiell auf eigenen Füßen zu stehen und sich Arenen für den sozialen Austausch zu schaffen, desto weniger ist man auf Kooperation mit dem Staat angewiesen; d.h. eine Distanzierung von der staatlich vorgegeben Identität ist leichter. In diesem Sinne kann man die Aussage von Svetlana, 34, einer ausgebildeten Volkswirtin, deuten: „Wenn man spürt, dass man selber klar kommen kann, dann kann man dem Staat winken und sich verabschieden […]. Nur wenn die Frau Geld hat, wird sie respektiert. Verdient sie selbständig unterm Strich US $ 300 monatlich, so ist sie großartig.“

Andererseits ist hier der temporäre und vielfach auch als minderwertig eingeschätzte Charakter der aktuellen Tätigkeit zu erwähnen, was nicht selten bei der Einschätzung der eigenen Perspektiven zur Sprache kommt. Nigora, 38, wurde mir von den Mitarbeitern einer NRO als eine der erfolgreichen Frauen vorgestellt. Einige Jahre lang war die Grundschullehrerin aufgrund ihrer Familienpflichten nicht erwerbstätig. Auf Einladung einer Freundin wirkt sie seit 1993 bei der Arbeit einer Frauen-NRO mit, wobei ihre Kenntnisse der literarischen usbekischen Sprache zur Geltung kommen. Nun ist es ihr gelungen, eine für sie völlig neue Erwerbsquelle zu erschaffen – sie leitet ein Modeatelier, das zu der NRO gehört. Jedoch bleibt Nigora skeptisch bei der Einschätzung ihrer aktuellen Tätigkeit: „Ich bin Pädagogin, das ist mein Beruf und nicht, was ich jetzt tue. Ich bin gewohnt, bis über den Kopf in Arbeit zu stecken, mich dafür hinzugeben. Aber solange die Pädagogen solche Löhne kriegen, werde ich für die Gesellschaft verloren sein.“

Gerade in herkömmlichen Frauenbereiche wie Bildung und Gesundheitswesen werden die Arbeitsbedingungen nicht als angemessen wahrgenommen. In der Folge bemüht man sich auch nicht mehr um einen Arbeitsplatz in diesem Bereich. Die Erklärung für die fehlende Initiative seitens der Arbeitenden selbst sowie für das Verhalten des Staates wird in einem Überschuss von entspre-

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chend ausgebildeten Menschen gesehen. Dabei wird jedoch die Qualität der Ausbildung nicht immer hoch geschätzt: „Es fing nicht gestern an, sondern als alle Pädagogik studierten, die anderswo die Aufnahmeprüfungen nicht ablegen könnten. Was können sie da heute unterrichten?“ (Nigora) Die Vorstellungen über menschenwürdige Arbeitsbedingungen basieren einerseits auf den Erinnerungen an die Sowjetzeit, andererseits werden sie durch den Vergleich der aktuellen Lage im Lande mit globalen Entwicklungen bestimmt. In diesem Sinne kann man über imagination als Grundlage für Handlungen sprechen: „It is imagination, in its collective forms, that creates ideas of neighborhood and nationhood, of moral economies and unjust rule, of higher wages and foreign labor prospects. The imagination is today a staging ground for action, and not only for escape.“ (Appadurai 1996: 7)

Die multiplen Identitäten, ausgebaute Netzwerke als Systeme von Sicherheit sowie die Möglichkeit der Emigration sind bei der Sinnsetzung für die eigenen Handlungen gegenüber dem Staat von entscheidender Bedeutung: Neue Handlungsalternativen treten neben das Gefühl, mit den eigenen beruflichen Leistungen nicht mehr gebraucht zu werden. Insofern kann man die Großstadt Taschkent mit ihren disparaten Lokalitäten auch als pluralistische Gesellschaft begreifen, auch wenn das mit diesem Begriff gewöhnlich verbundene Demokratieverständnis ein vollkommen anderes ist: „Als pluralistisch kann man eine Gesellschaftsformation bezeichnen, in der verschiedene Lebensgemeinschaften ohne eine gemeinsame Wertordnung zusammen leben. […] [D]ie persönliche Identität des Menschen [wird] in einer pluralistischen Gesellschaft stärker als je zuvor zur ‚Privatsache‘“ (Luckmann 1998: 25f.).

Der Alltag vieler Leute wird von der staatlichen Propaganda und Rhetorik nicht wirklich berührt. Der Staat wird nicht als etwas Eigenes und Gestaltbares wahrgenommen, dementsprechend wird auch staatliche Propaganda nicht unbedingt ernst genommen. Die Wahrnehmung, dass der Staat nur ein Instrument der Mächtigen zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen darstellt, ist weit verbreitet. Die Verhältnisse der Akteure im informellen wirtschaftlichen Sektor kennzeichnet daher häufig eine gewisse Toleranz, ausgedrückt in einer Prämisse des ‚Leben und leben lassen‘. Gerade für solche Akteure, deren ‚nationale Merkmale‘ (nacional’nye priznaki, d.h. ethnische Zugehörigkeit und Sprachkenntnisse) zu Problemen im staatlichen und formellen Sektor führen können, bietet eine informelle wirtschaftliche Tätigkeit einen Ausweg. In diesem Zusammenhang wird der informelle Sektor nicht selten als „weniger politisiert“ bezeichnet (vgl. Kosmarskaya 1999). Eine Politisierung der Beziehungen findet aber offenbar desto mehr statt, je mehr der öffentliche Raum betreten wird, in dem der Staat auf einem Mei-

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nungsmonopol besteht. Dies hängt auch von der betriebenen Tätigkeit ab, wie z.B. Olga berichtet: „Wir wollten eine Computerzeitschrift gründen. Aber man sagte uns, dass in Usbekistan eine Zeitschrift auf Russisch nicht gebraucht wird. Und da wir die usbekische Sprache nicht beherrschen, sollten wir es den anderen überlassen.“

Die Beobachtung einer Distanzierung vom Staat gilt umso mehr, je stärker sich die Person vom propagierten Ideal des neuen Usbeken unterscheidet; d.h. die Identifikation ist tendenziell bei nationalen Minderheiten (Russen, Koreanern und anderen) geringer. Aber auch viele Usbeken, gerade die sowjetisch geprägten, distanzieren sich. Die Distanzierung erfolgt (abgesehen von der Auswanderung) kaum durch Protest oder öffentliche Meinungsäußerung, sondern durch die Schaffung paralleler Lokalitäten. Dies unterstützt die Wahrnehmung der eigenen Situation als vorübergehend. Die eigene wirtschaftliche Tätigkeit wird ebenso wie die gesamte politische Entwicklung als Übergangszeit wahrgenommen; der Hochschullehrer überwintert gewissermaßen im informellen Sektor, bis wieder bessere Zeiten kommen. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass eine über einen Zeitraum von mehr als einem Jahrzehnt bestehende Situation, auch wenn sie von den Akteuren als zeitweilig empfunden wird, doch ihre eigenen Spuren und Prägungen hinterlässt. Dies lässt sich gut am Beispiel der Bildung und Ausbildung verdeutlichen. Wenn ein Akademiker über Jahre hinweg fachfremd und im informellen Sektor tätig ist, dann geht der Gesellschaft nicht nur sein Bildungspotential als das eines aktuell nicht Berufstätigen verloren, sondern er kann die Einstellung zum Wert der Ausbildung auch nicht an die Kinder weiter vermitteln. So sagt Svetlana, 34, über die Zukunft ihres Sohnes: „Nach der Schule will er nicht weiter studieren. Denn ich meine, das Studium braucht er gar nicht. Er schaut sich doch uns an. Und was? Alle haben die Hochschule absolviert und keiner arbeitet im Beruf. Also aus meiner Umgebung keiner.“

In der Zwischenzeit ist eine Generation von Kindern aufgewachsen, die von ihren Eltern und ihrer Umgebung andere Verhaltensmuster gelernt haben. Aus ihren Lebenserfahrungen heraus nehmen sie eine kritische Haltung gegenüber den als selbstverständlich dargestellten Werten ein, z.B. der Wichtigkeit einer offiziellen Ausbildung, die vom Staat angeboten wird. Häufig bildet dabei allerdings nicht die Schulbildung an sich den Kritikpunkt, sondern die Art und Weise, wie die Kenntnisse in den staatlichen Schulen vermittelt werden. So sagt Šachida, 42, die einen Sohn im Schulalter hat: „Unser Ausbildungssystem ist schuld. Wenn ein Kind von der Schulbank an nur für seine Anwesenheit belohnt wird, und dafür, dass es keinen Ärger macht, dann sollen wir uns über so hilflose Erwachsene nicht wundern.“

6 SCHLUSSBEMERKUNG UND AUSBLICK Die Arbeit hat gezeigt, dass Transformation aus individueller Sicht vor allem eine Neudefinition und Neu-Aushandlung ökonomischer und sozialer Handlungsspielräume bedeutet. Handlungsfelder verschieben sich, öffentlich-rechtliche und gesellschaftliche Regeln und Normen sind im Wandel begriffen, Ressourcen werden umbewertet. Die gewohnten Arrangements in Bezug auf Erwerbsarbeit, häusliche Arbeit, Versorgung der Familie usw. können von weiten Teilen der Bevölkerung nicht in der gleichen Form fortgeführt werden. Überleben in dieser Zeit heißt für die Akteure – hier mit Fokus auf die selbständig wirtschaftlich tätigen Frauen – vor allem, aus eigener Kraft, mit eigener Initiative und unter Zuhilfenahme aller möglichen Ressourcen aus dem beruflichen, sozialen und familiären Bereich das (ökonomische) Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, d.h. individuelle Lösungen zu finden. Neu definiert werden insbesondere auch die Verantwortungsbereiche der Existenzsicherung. Persönliche Netzwerke spielen hierbei eine besondere Rolle, während die großen gesellschaftlichen Institutionen – Staat, Partei, Verbände, Gewerkschaften usw. – für die hier untersuchten Bevölkerungsteile an praktischer Bedeutung als strategische Partner verlieren: sie werden als fremd und von Eliteninteressen bestimmt wahrgenommen. Überhaupt ist der Rückzug ins Private sowie in überschaubare soziale Arrangements eines der Hauptmerkmale der Transformation. Eine wesentliche Kontinuität im Vergleich zur sowjetischen Zeit liegt in der Nutzung von Verflechtungen (in Form von Netzwerken, informellen Absprachen, privilegiertem Zugang zu Ressourcen usw.) als Strategie für wirtschaftliches Handeln. Netzwerke und die Verflechtung von Handlungsfeldern lassen sich auch als moralökonomische Beziehungen auffassen. Die wirtschaftlichen Handlungen sind durch einen hohen Grad der gesellschaftlichen Einbettung charakterisiert. Nur durch die Verflechtungen und Netzwerke ist eine erfolgreiche Tätigkeit möglich. Die Möglichkeit, an Verflechtungen aus sowjetischer Zeit anzuknüpfen, war und ist in vielen Fällen die Voraussetzung für eine selbständige Tätigkeit. Andererseits zerfallen aber auch viele Verflechtungen, die in sowjetischer Zeit von großer Bedeutung waren, oder sie verlieren ihren wirtschaftlichen oder sozialen Nutzen. Der geschlechtsspezifische Charakter dieser Einbettung wurde an vielen Stellen dieser Arbeit aufgezeigt. Macht und der Zugang zu Ressourcen spielen hierbei eine entscheidende Rolle für die Gestaltung von Handlungsräumen. Veränderungen der Geschlechterordnung machen die geschlechtsspezifische Dimension der gesellschaftlichen Transformation aus. Sie sind nicht Produkt, sondern Bestandteil

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der Entwicklungsprozesse und wichtig für die Konstruktion sozialer Differenzen. Die Transformationsprozesse können auch als Expansion von Märkten (Evers 1996) betrachtet werden. Dies betrifft im usbekischen (und allgemein postsowjetischen) Kontext vor allem die Regelung solcher Interaktionsbereiche durch Marktbeziehungen, die zuvor im wesentlichen Maße durch (zentral gesteuerte) Redistribution bestimmt waren. Dies umfasst nicht nur alle Sektoren der Wirtschaft, sondern auch Bereiche wie Bildungs- und Gesundheitswesen. Gleichzeitig kommt es aber zu einer erheblichen Zunahme von Subsistenzproduktion. Betrachtet man Marktexpansion daher als Zunahme von (gesellschaftlicher, internationaler oder anders gearteter) Arbeitsteilung, so erscheint der Transformationsprozess häufig auch als Rückgang derselben. Auch im Hinblick auf die Internationalisierung von Märkten gilt diese Vielschichtigkeit: Einerseits findet eine zunehmende Integration in die Weltwirtschaft statt – nicht zuletzt auch durch die im transnationalen Kleinhandel aktiven Akteure. Gleichzeitig aber ist eine dramatische Desintegration des sowjetischen Wirtschaftsraums (und darüber hinaus des Raums der RGW-Staaten) mit seiner extremen Arbeitsteilung zu beobachten, was mit erheblichen Versorgungs- und Abgrenzungsproblemen verbunden ist. Parallel zu diesen Prozessen findet eine Neu- und Umbildung von Identitäten statt. Alte Identitäten – vor allem als Sowjetbürger, aber auch als Angehöriger bestimmter Schichten oder Berufsgruppen – verlieren an Bedeutung, während neue – wie die als Bürger des unabhängigen Usbekistans oder Angehöriger einer bestimmten Lokalität – entstehen. Hierbei handelt es sich um vielschichtige Prozesse; einerseits finden ‚Nationenbildung‘ und Abgrenzung über die Neudefinition von Traditionen statt, andererseits entstehen translokale Beziehungen und Globalisierungstendenzen. Insgesamt ist die Transformation von einer Zunahme der Disparitäten in lokaler, sozialer, ökonomischer und ethnischer Hinsicht gekennzeichnet. Die Tendenzen von Globalisierung und Lokalisierung sind vielschichtig und häufig widersprüchlich: Während einerseits durch die ‚Öffnung der Grenzen‘ neue Möglichkeiten des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Austauschs (sei es mit Westeuropa und Nordamerika, sei es mit China oder der arabischen Welt) geschaffen wurden, ist gleichzeitig der große einheitliche Raum Sowjetunion in viele Einzelstaaten zerfallen. Einerseits ergeben sich damit neue Möglichkeiten, insbesondere auch die Alternative, ‚weg zu gehen‘, zu emigrieren – eine Möglichkeit, die es in der sowjetischen Zeit praktisch nicht gab. Andererseits ist aber der als ‚eigener‘ wahrgenommene soziale Raum für viele Akteure viel kleiner geworden; plötzlich wird aus dem Verwandtenbesuch in Russland eine Auslandsreise mit Visapflicht und hohen Kosten. Beides hat starke Wechselwirkungen mit der Selbstwahrnehmung der Akteure. In der Arbeit wurden Flexibilität und Einfallsreichtum der Kleinproduzentinnen hervorgehoben, gerade auch in Bezug auf Bereiche, für die früher oder auch heute noch formell der Staat zuständig war. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die Arrangements zur Organisation der wirtschaftli-

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chen Tätigkeit mit einem hohen Risiko behaftet sind. Dies beginnt damit, dass der – z.B. krankheitsbedingte – Ausfall nicht nur der Produzentin selbst, sondern auch eines Teils des Netzwerks die gesamte Produktion und damit die Existenz in Frage stellt, z.B. wenn die Oma nicht mehr die Kinder betreuen kann. Es beinhaltet aber auch, und dies geht weiter als das Fehlen einer Sozialversicherung, die Unsicherheit der Klientel-Beziehungen und Netzwerke – oder anders ausgedrückt: die Gefahr, dass Gewohnheitsarrangements willkürlich unterbrochen werden. Dies kann in Form von Gesetzesänderungen geschehen – so wurden ganz aktuell im zweiten Halbjahr 2002 ohne Vorwarnung prohibitiv hohe Einfuhrzölle eingeführt sowie ganze Märkte zum Teil unter Gewaltanwendung geschlossen –, aber auch durch Personalwechsel in den staatlichen Institutionen. Hierin zeigt sich das Risiko der ‚für den Staat unsichtbaren‘ Kleinproduzenten: Sie handeln in einem Raum, der – im Sinne geschriebener und allgemein gültiger Gesetze – weitgehend unreguliert ist. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es sich um freie Märkte ohne eigene Regeln handelt. Während hinter beschränkenden oder knebelnden gesetzlichen Vorschriften häufig Partikularinteressen stehen, können die ‚Mächtigen‘ in (faktisch) unregulierten Räumen ihre Interessen ohne Rücksicht auf allgemeine Beschränkungen durchsetzen. Überlegungen zu Gruppeninteressen, partiellen Reformen oder zum Vereinnahmung des Staates gehen über das Interesse dieser Arbeit hinaus. Dennoch wird deutlich, dass die von Partikularinteressen geleitete Gestaltung von Institutionen von weit größerer Bedeutung ist als eine Selbstregulierung des Marktes. In einem undemokratischen und sozialpolitisch wenig leistungsfähigen Staatswesen, so wurde argumentiert, besteht eine wichtige Strategie im Rückzug auf das Private und persönliche Netzwerke: Durch moralökonomische Arrangements können Rechtsunsicherheit und Marktbarrieren partiell überwunden werden. Dies bedeutet jedoch nicht unbedingt Schutz vor Willkür und ‚unfairer‘ Konkurrenz – die Rechtlosigkeit bleibt bestehen. Ein interessantes Feld für weitere Forschungen wäre, inwieweit gerade der (ökonomische) Erfolg von Kleinproduzenten eine Gefahr für die Arrangements darstellt, wie z.B. ein ‚Upgrading‘ dazu führen kann, dass Konkurrenten ihre Beziehungen und Ressourcen einsetzen, um dem Produzenten bewusst zu schaden. An dieser Stelle wird die praktische Bedeutung der weiter oben angesprochenen Kategorien von Macht und Zugang zu Ressourcen deutlich. Die ausgehandelten Arrangements und Verflechtungen können jederzeit durch Akteure in Frage gestellt werden, die in der konkreten Situation in höherem Maße Zugang zu Ressourcen besitzen oder die Handlungen des Staates und seiner Vertreter in ihrem Sinne beeinflussen können, die also mehr Macht haben. Als Strategie zur Vermeidung solcher Interventionen werden die Vorteile einer geringen ‚Sichtbarkeit‘ genutzt, um der Aufmerksamkeit von Staatsorganen oder Konkurrenten zu entgehen. Dies limitiert nicht nur die wirtschaftlichen Expansionsmöglichkeiten der Kleinproduzentinnen, es manifestiert und perpetuiert auch den vorläufigen und unsicheren Charakter ihrer Aktivitäten. Die

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Dominanz von individuell-informellen Aushandlungen mit konkreten Vertretern der Staatsmacht oder Bürokratie (aber auch Partnern, Kunden und Lieferanten) über die allgemeine Anwendung gleicher (und rechtsstaatlicher) Prinzipien verhindert häufig den Aufbau langfristig tragfähiger Arrangements oder auch ein ‚Upgrading‘. Dieser Erkenntnis widerspricht nicht, dass gerade diese Aushandlungen die Möglichkeit geben, eine selbständige wirtschaftliche Tätigkeit zu betreiben, und sie erstreckt sich nicht nur auf die Kleinproduzentinnen. Die Schwierigkeiten eines erfolgreichen ‚Upgrading‘ beruhen nicht zuletzt auch darauf, dass in der Transformationsökonomie keine funktionierenden formellen oder ‚entwickelten‘ Marktinstitutionen (wie z.B. Banken, Unternehmerverbände usw.) existieren, an die man sich per ‚Upgrading‘ anbinden könnte. Hier ist das Angebot für alle sehr schlecht, und Erfolg beruht vor allem auf informellen Beziehungen. Auch ist die Rechtssicherheit im so genannten formellen Sektor nicht viel größer, zumal auch hier nur ein kleiner Teil des Geschäfts ‚über die offiziellen Bücher läuft‘. Die wenigen ‚strategisch wichtigen Betriebe‘ – UzDaewooAuto oder das Flugzeugwerk Chkalov, einige Metallurgie- oder Chemiekombinate – sowie durch direkte Beziehungen mit dem Präsidenten verbundene Unternehmen sind überprivilegiert (in Bezug auf Konvertierungsmöglichkeiten der usbekischen Währung usw.) und damit aus der Konkurrenz mit den ‚Upgrading-Unternehmen‘ ausgeschlossen. In gewisser Weise schließt sich hier der Kreis zum Beginn der Arbeit, als eine analytische Trennung der Wirtschaft in einen formellen und einen informellen Sektor abgelehnt wurde. Die Ablehnung beruht dann darauf, dass auch im so genannten formellen Sektor keine einheitlichen Regeln und Normen gelten. Dies führt zurück zu den gängigen Transformationstheorien mit ihrer Bewertung des Erfolgs beim Übergang zu Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie: Zwar ist es aus individueller Sicht und bei einer kurzfristigen Betrachtung von untergeordneter Bedeutung, ob die mit dem Steuerinspektor ausgehandelte Summe dem Gesetz entspricht oder nicht. Als langfristige Perspektive für die individuellen Handlungsräume wie auch für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung aber stellen die geringe Verlässlichkeit ständig neu ausgehandelter individueller Arrangements ein entscheidendes Hindernis dar. Solche Überlegungen gehen über den Rahmen dieser Arbeit hinaus. Gezeigt werden sollte, wie die Akteure ihre Lebenswelten in der Transformationszeit gestalten. Dabei wurde deutlich, wie vielfältig die Arrangements sind, mit denen Existenzsicherung betrieben wird, und wie wichtig solche Arrangements für die Volkswirtschaft insgesamt sind. In statistischen und anderen Untersuchungen bleibt dieser Teil der Ökonomie allerdings sehr häufig unbeachtet oder zumindest unterschätzt. Ebenso wurde deutlich gemacht, wie die Geschlechterordnung den Wandel beeinflusst und umgekehrt. Aus individueller Sicht steht dabei der ‚politischen Ökonomie der Geduld‘ eine Phase intensiven Wandels gegenüber. Inwieweit die so ausgehandelten Arrangements Bestand haben werden, wird die

SCHLUSSBEMERKUNG UND AUSBLICK

179

weitere Entwicklung zeigen. Dass aber die wirtschaftlichen Tätigkeiten über zehn Jahre Transformationszeit hinweg wesentlich zur Sicherung der Lebensgrundlagen und damit zum Funktionieren der Transformationsökonomie insgesamt beigetragen haben, steht außer Frage.

ANHANG

Abbildung 2: Entwicklung des Wechselkurses (1996–2002) 1.800 UZS 1.600 UZS 1.400 UZS 1.200 UZS

Schwarzmarktkurs

1.000 UZS Offizieller Wechselkurs

800 UZS 600 UZS 400 UZS 200 UZS

Ja n 9 Ju 6 l9 Ja 6 n 9 Ju 7 l9 Ja 7 n 9 Ju 8 l9 Ja 8 n 9 Ju 9 l9 Ja 9 n 0 Ju 0 l0 Ja 0 n 0 Ju 1 l0 Ja 1 n 0 Ju 2 l0 2

0 UZS

Quelle: EBRD (2003).

Abbildung 3: Frauenanteil an den Beschäftigten und Durchschnittslohn Frauenanteil und Durchschnittslohn (Durchschnitt der Gesamtwirtschaft = 100) Durchschnittslohn

200 150

Bauwirtschaft Transport und ▲ Kommunikation ■ Industrie ◊ ○ Kommunale Dienstleistungen

100 Handel ●

50 0%

20%

□ Landwirtschaft

40%

☼ Volksbildung

60%

▼ Gesundheit

80%

100%

Frauenanteil

Für das Jahr 1997. Quellen: UNDP (1992: 5/6), eigene Berechnungen.

182

Tabelle 3:

DER ALLTAG DER TRANSFORMATION

Verteilung der städtischen und ländlichen Bevölkerung in Usbekistan nach administrativen Bezirken (Gebieten) Bezirk Republik Karakalpakstan Andižan Buchara Džisak Kaškadarya Navoi Namangan Samarkand Surchandarya Syrdarya Taschkent Fergana Choresm Stadt Taschkent Republik Usbekistan

städtisch ländlich 724,2 778,8 657,5 1 528,7 440,7 978,6 294,7 680,1 551,3 1 615,5 316,7 466,6 722,6 1 201,7 724,1 1 946,2 344,8 1 391,9 206,1 436,1 949,7 1 400,5 776,1 1 888,3 314,7 1 009,2 2 142,3 9 165,5 15 322,9

insgesamt 1 503,0 2 186,2 1 419,3 974,8 2 166,8 783,3 1 924,3 2 670,3 1 736,7 642,2 2 350,2 2 664,4 1 323,9 2 142,3 24 487,7

Angaben in Tausend. Stand: 01.01.2000. Quelle: Statistisches Amt Republik Usbekistan (Ministerstvo makroekonomiki i statitistiki) (2002).

Tabelle 4:

Ethnische Struktur der Bevölkerung

davon

Usbekistan Taschkent 1979 1989 1992 1979 1989 1992 Bevölkerung 15,4 Mio. 19,8 Mio. 21,4 Mio. 1,8 Mio. 2,1 Mio. 2,4 Mio. Usbeken 68,7% 71,4% 74,5% 40,8% 44,2% 53,0% Russen 10,8% 8,3% 6,9% 38,4% 34,0% 29,0% Andere 20,5% 20,3% 18,6% 20,8% 21,8% 18,0% Tadschiken 3,9% 4,7% Kasachen 4,0% 4,1% 1,2% 1,5% Tataren 3,5% 2,4% 7,0% 6,3% Karakalpaken 1,9% 2,1% 0,1% 0,2% Ukrainer 0,7% 0,8% 2,5% 2,9% Juden 3,2% 2,5% Koreaner 1,1% 0,9% 1,7% 2,1% Sonstige 5,4% 5,3% 5,1% 6,3%

Quellen: Nowak (1995: 15ff.); Islamov (2000: 187, 195). Daten für 1979 und 1989 basieren auf eigenen Angaben der Befragten bei Volkszählungen; Daten für 1992 sind Fortschreibungen.

ANHANG

183

Tabelle 5:

Ausgewählte Daten der wirtschaftlichen Entwicklung in Usbekistan, der Russischen Förderation und Kasachstan

Gesamtbevölkerung (Mio., 1999) Fläche (km2) Bruttosozialprod. 1996 (1991 = 100) Bruttosozialprod. 2001 (1998 = 100) Bruttosozialprodukt pro Kopf (1999), US $ Anteil privatisierter kleiner Unternehmen Beschäftigte im industriellen Sektor (1992–1999) Arbeitslosigkeit (offiziell, 1999) Beschäftigte 1998 (1991 = 100)

Usbekistan 24,5 447 400 83,4 120

Russ. Föderation 145,7 17 075 000 63,1 122

Kasachstan 14,9 2 717 300 77,6 139

304

1 249

1 058

56,7%

90,0%

100%

14,6–12,8% 30,4–18,7% 20,7–11,4% 0,6% 107,1

11,7% 88,1

14,1% -/-

Quelle: EBRD (2000a, 2003).

Tabelle 6:

1993 1994 1995 1996 1997 1998 1999d

Arbeitslöhne in Usbekistan

Mindestlohna US $ US $ UZS 1b 2c 9,0 9,6 k.A. 69,6 7,0 k.A. 175,0 5,9 k.A. 417,0 10,4 7,4 675,0 10,2 4,6 925,0 9,8 4,2 1 374,0 11,6 3,0

Durchschnittslohna Wechselkursa US $ US $ SchwarzUZS offiziell 1b 2c markt 30,0 31,5 k.A. 1,0 k.A. 279,7 28,1 k.A. 10,0 k.A. 1 069,7 35,9 k.A. 30,0 k.A. 2 166,0 53,9 38,7 40,0 56,0 3 697,2 55,7 25,2 66,0 147,0 5 414,0 57,1 24,8 95,0 218,0 7 833,0 66,0 17,3 119,0 453,0

Quellen: IMF (2000); EBRD (2003), eigene Berechnungen. Anmerkungen: a jährlicher Durchschnitt; berechnet als Mittelwert der Monatszahlen b US $ 1 – Offizieller Wechselkurs c US $ 2 – Schwarzmarktkurs d Januar bis August 1999

184

Tabelle 7:

DER ALLTAG DER TRANSFORMATION

Frauenanteil an den Beschäftigten nach Wirtschaftszweigen FrauenSektor anteil 47,1% Staatsverwaltung Handel, 80,9% Dienstleistungssektor

Sektor Landwirtschaft Leichtindustrie Gesundheits- und Sozialwesen Kultur, Bildung und Wissenschaft

Frauenanteil 47% 50–52%

70,0% Transport

13%

47–60% Bauwesen

12%

Quelle: UNDP (1999).

Tabelle 8:

Tätigkeiten und Zuständigkeiten von Haushaltsangehörigen

HausBrothaltsverdiener mitglied 71,6 Ehefrau (78,5) Ehe79,4 mann (82,5) 27,4 Kinder (31,0) Großel16,8 tern (20,0) Andere 8,2 Ver(6,0) wandte

Lebensmitteleinkauf 75,2 (74,0) 52,9 (55,5) 9,6 (10,5) 7,2 (9,0)

Kinderbetreuung 93,7 (97,2) 4,7 (3,9) 5,8 (3,9) 11,4 (10,6)

6,0 (7,0)

1,6 (0,6)

88,9 (90,5) 5,6 (1,0) 20,5 (22,1) 5,6 (3,0)

Waschen und Putzen 76,4 (70,6) 3,2 (3,6) 48,2 (62,9) 2,8 (2,5)

2,8 (2,0)

3,4 (2,0)

Kochen

Nutzgarten 34,0 (9,5) 71,3 (77,1) 48,8 (61,9) 10,5 (7,6) 7,7 (4,8)

(Frage: „Wer in Ihrer Familie erfüllt regelmäßig folgende Aufgaben?“; Mehrfachangaben möglich. Angaben in Prozent; in Klammern Angaben für Taschkent) Quelle: eigene Forschung Yurkova/Tadquiqot (1999).

ANHANG

Tabelle 9:

185

Einkommensquellen von Haushalten im städtischen Bereich Usbekistans Einkommensquelle Lohn der Ehefrau Lohn des Ehemannes Lohn der Kinder Lohn/Pension der Eltern Soziale Hilfe Selbständige wirtschaftliche Tätigkeiten Unterstützung von Verwandten Nutzgarten

Taschkent Insgesamt 81,0 78,2 74,5 66,8 41,0 40,0 21,0 18,4 28,0 23,2 32,5 10,5 33,5

25,4 13,2 21,0

(Frage: „Aus welchen Quellen bezieht Ihr Haushalt Einkommen (nicht nur in monetärer Form)?“ Mehrfachangaben möglich. Angaben in Prozent) Quelle: eigene Forschung Yurkova/Tadquiqot (1999).

Tabelle 10: Einkommensquellen von Frauen im städtischen Bereich Usbekistans Einkommensquelle Arbeitslohn Soziale Hilfe Selbständige wirtschaftliche Tätigkeiten Unterstützung von Verwandten Nutzgarten

Taschkent Insgesamt 52,4 54,0 29,3 17,6 22,0 6,0 5,0

23,8 7,3 6,2

(Frage: „Aus welchen Quellen beziehen Sie Einkommen (nicht nur in monetärer Form)?“; Mehrfachangaben möglich. Angaben in Prozent) Quelle: eigene Forschung Yurkova/Tadquiqot (1999).

186

DER ALLTAG DER TRANSFORMATION

Glossar Airan – Getränk aus saurer Milch Aksakal – usb., ‚Weißbart‘, Mitglied des Ältestenrats in der Machalla Artel – russ., Handwerkerkooperative, In den 1920er Jahren erste Organisationsform von öffentlichen Erwerbstätigkeiten der Frauen in Zentralasien Atin-ayi – Frau, die sich mit dem richtigen Ablauf von religiösen Zeremonien auskennt, außerdem Zauberei und Heilkunde betreibt Atinčik – Vermittlung von Wissen über religiöse Gebräuche und Heilkunde; war die erste Form von Mädchenausbildung im 19. Jahrhundert Behalfa – Regionale Bezeichnung für atin-ayi in Samarkand Blat – russ., in der Sowjetunion umgangssprachliche Bezeichnung für Netzwerke von ‚Gefallen‘ und Hilfestellungen, die sich rund um den (informellen) Zugang zu staatlichen Ressourcen gebildet haben Čašvan – Gesichtsschleier aus Rosshaaren, das auf den oberen Teil der Parandža gesetzt wird Chokim – Vorsitzender der Verwaltung auf verschiedenen administrativen Ebenen. Die Chokime der Gebiete (oblast') (im Text: Gebietsgouverneure) sowie der Bürgermeister der Stadt Taschkent werden direkt vom Präsidenten ernannt. Die Chokime der kleineren administrativen Einheiten werden vom jeweils zuständigen Chokim des Gebiets ernannt Chokimiat – Bezirks- bzw. Stadtverwaltung in Usbekistan Čoj-Chona – usb., Teehaus Dehkon – usb., Kleinbauer Komsomol – russ., Kommunistische Union der Jugend, offizielle Jugendorganisation der UdSSR Machalla – arab., Ort, traditionelle Nachbarschaftsgemeinde in Usbekistan, zugleich administrative Einheit der lokalen Selbstverwaltung. Nigoh – Zeremonie der Eheschließung in der Moschee Olij Majlis – usb., Oberste Versammlung, usbekisches Einkammerparlament Parandža – Dicker Schleier aus Baumwolle Sovety – russ., Räte; Lokale Selbstverwaltung in der UdSSR Tolkučka – russ., umgangssprachliche Bezeichnung für Kleinhändlermärkte in der ehemaligen Sowjetunion Ženotdel – russ., Frauenabteilung, lokales Frauenkomitee in der UdSSR

ANHANG

187

Abkürzungsverzeichnis ADB – Asian Development Bank BIP – Bruttoinlandsprodukt CER – Center on Economic Research; Taschkent EBRD – European Bank for Reconstruction and Development GTZ – Deutsche Gesellschaft für technische Zusammenarbeit GmbH GUS – Gemeinschaft Unabhängiger Staaten IBRD – International Bank for Reconstruction and Development IFC – International Finance Corporation INION – Institut naučnoj informacii po obščestvennym naukam (Institut für wissenschaftliche Informationen der Gesellschaftswissenschaften), Moskau IREX – International Research and Exchanges Board IWPR – Institute for War and Peace Reporting, London NRO – Nichtregierungsorganisation RGW – Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe SECO – Swiss State Secretariate for Economic Affairs UdSSR – Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken UNDP – United Nations Development Programm Unifem – United Nations Development Fund for Women USIA – United States Information Agency ZSB – Centr Sodejstvija Biznesu (Zentrum für Unternehmerförderung), Taschkent

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DER ALLTAG DER TRANSFORMATION

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ISBN: 3-89942-209-0

Transformation Kleinunternehmerinnen in

Andreas Ackermann,

Usbekistan

Britta Duelke (Hg.)

März 2004, 212 Seiten,

Des Widerspenstigen

kart., 25,80 €,

Zähmung

ISBN: 3-89942-219-8

Studien zu Formen sozialer Sinnbildung 2003, 208 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-134-5

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de

Aktuelle Titel der Reihe Kultur und soziale Praxis Roger Behrens

Cosima Peißker-Meyer

Die Diktatur der Angepassten

Heimat auf Zeit

Texte zur kritischen Theorie

Europäische Frauen in der

der Popkultur

arabischen Welt

2003, 298 Seiten,

2002, 222 Seiten,

kart., 24,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-89942-115-9

ISBN: 3-89942-103-5

Markus Kaiser (Hg.)

Sibylle Niekisch

Auf der Suche nach Eurasien

Kolonisation und Konsum

Politik, Religion und

Kulturkonzepte in Ethnologie

Alltagskultur zwischen

und Cultural Studies

Russland und Europa

2002, 110 Seiten,

2003, 398 Seiten,

kart., 13,80 €,

kart., 25,80 €,

ISBN: 3-89942-101-9

ISBN: 3-89942-131-0

Andreas Ackermann, Klaus E. Müller (Hg.)

Klaus E. Müller (Hg.)

Phänomen Kultur

Patchwork: Dimensionen

Perspektiven und Aufgaben der

multikultureller

Kulturwissenschaften

Gesellschaften

2003, 238 Seiten,

Geschichte, Problematik und

kart., 25,80 €,

Chancen

ISBN: 3-89942-117-5

2002, 312 Seiten, kart., 25,80 €,

Markus Kaiser (Hg.)

ISBN: 3-89942-108-6

WeltWissen Entwicklungszusammenarbeit in der Weltgesellschaft 2003, 384 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-112-4

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