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German Pages XV, 417 [416] Year 2020
Markus H. Dahm Stefan Thode Hrsg.
Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis Mindset – Leadership – Akteure – Technologien
Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis
Markus H. Dahm • Stefan Thode Hrsg.
Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis Mindset – Leadership – Akteure – Technologien
Hrsg. Markus H. Dahm IBM Deutschland Hamburg, Deutschland
Stefan Thode FOM Hochschule für Oekonomie & Management Hamburg, Deutschland
ISBN 978-3-658-28556-2 ISBN 978-3-658-28557-9 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Vorwort
Wir alle – d. h. Bürger wie Konsumenten, Mitarbeiter in öffentlichen Institutionen wie auch in Unternehmen – leben in gleichermaßen herausfordernden wie spannenden Zeiten. Seitdem in den 1970er-Jahren die Computerisierung schrittweise unsere gesamte Lebenswirklichkeit erschlossen hat und nun mit zunehmendem Tempo gar zur digitalen Transformation wird, stellen sich uns allen gleichermaßen ungeahnte Chancen und Risiken. Wo einerseits Start-ups auf Basis neuer Geschäftsmodelle gegründet werden und rasend schnell Märkte erobern oder gar neue kreieren, laufen etablierte Unternehmen Gefahr, aufgrund von Schwerfälligkeit und Festhalten an tradierten Erfolgsmustern in Windeseile weggefegt zu werden – und ihren ganz persönlichen „Kodak-Moment“ zu erleben. In die von Clayton Christensen als „The Innovator’s Dilemma“ so anschaulich beschriebene Falle ist nicht nur der ehemalige US-amerikanische Hersteller für fotografische Ausrüstung getreten. Dutzende weitere Beispiele, unter anderem Blackberry und Nokia, ließen sich nennen. So manche Geschäftsmodelle, wie Airbnb, Amazon und Uber, sind gerade dabei, etablierte Player wie Hotelketten, Einzelhändler und Taxiunternehmen herauszufordern. Und laufend treten neue Start-ups an, um ihre ganz eigene Disruption herbeizuführen. Doch es gibt Hoffnung: Etablierte Unternehmen sind der digitalen Transformation keineswegs chancenlos ausgeliefert. Unternehmenspraxis wie empirische Wissenschaft generieren fortlaufend Erfolgsbeispiele, wie die digitale Transformation zum eigenen Vorteil genutzt werden kann: Axel Springer und Encyclopedia Britannica im bereits so früh und einschneidend betroffenen Mediensektor, Cewe Color in der Fotobranche und – die Zukunft wird es zeigen – eventuell auch VW mit MOIA. Organisationen stellen sich heute wiederholt die Frage: „Wie schafft unser Unternehmen den digitalen Wandel?“ Viele Lösungsansätze, die versuchen, genau diese Frage zu beantworten, beschäftigen sich zumeist damit, Prozesse zu optimieren, neue Softwarelösungen oder Technologien (wie z. B. Cloud Computing) zu entwickeln und bereitzustellen oder externe Partner bzw. Leistungen einzukaufen. Sicherlich sind die technischen Voraussetzungen der Unternehmen ein wichtiger Schlüsselfaktor für einen erfolgreichen digitalen Wandel. Doch die beste IT-Infrastruktur ist letzten Endes nur so gut wie die Mitarbeiter
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Vorwort
und Führungskräfte, die diese bedienen, leben und gegenüber Kunden einsetzen und repräsentieren. Hieraus leiten sich zwei Erkenntnisse ab: Erstens: Es geht bei der digitalen Transformation von Unternehmen – so paradox dies klingen mag – primär gar nicht um Digitalisierung. Unternehmenspraktiker wie Wissenschaftler kommen zu ähnlichen Schlüssen: Bei der erfolgreichen Bewältigung der digitalen Transformation • geht es zuvorderst um das richtige Mind- und Skillset, • sind Leadership und Kultur erfolgsbestimmend, • müssen Rollen sinnvoll ausgefüllt werden und Akteure adäquat handeln und – schließlich – • müssen auch innovative Technologien und Tools genutzt werden. Und zweitens: Digitalisierung sollte nicht als Trend-Erscheinung gesehen werden oder gar als bedrohliche Macht, die früher oder später den eigenen Arbeitsplatz gefährdet. Die Digitalisierung bzw. der digitale Wandel ist eine Chance für alle Beteiligten, aber vor allem eine Notwendigkeit, um im Wettbewerbsumfeld heute und zukünftig erfolgreich sein zu können. Der vorliegende Herausgeberband orientiert sich an diesen beiden Erkenntnissen und gliedert sich entsprechend in vier Teile mit jeweils fünf Beiträgen. Darin berichten Praktiker über ihre persönlichen Erfahrungen und präsentieren Forscher die Ergebnisse ihrer empirischen Erhebungen. Jeder Beitrag endet mit konkreten Handlungsempfehlungen. Das Buch richtet sich somit gleichermaßen an Entscheidungsträger aus der Unternehmenspraxis, Wissenschaftler und Studierende. Aufbau des Buches Teil I des Buches betrachtet Aspekte des für eine erfolgreiche digitale Transformation erforderlichen Mindsets & Skillsets. Den Anfang machen Michael Höbig und Cindy Kubsch. Auf Basis einer Interviewserie in deutschen Großunternehmen identifizieren sie vier Grundelemente eines agilen Mindsets (Leadership, organisatorische Rahmenbedingungen, Vernetzung und Selbstwirksamkeit) und zeigen auf, wie sich die Elemente gegenseitig beeinflussen und verstärken. Anschließend schöpft Marco Nink von Gallup aus den Studienergebnissen des Forschungs- und Beratungsinstituts und wirft einen vertiefenden Blick auf Agilität. Er verdeutlicht, welches Mindset Unternehmen entwickeln müssen und welche entscheidende Rolle Führungskräfte und die Unternehmenskultur bei den Veränderungen im Unternehmen spielen. Dabei stellt sich auch in Zeiten der Digitalisierung heraus: Es kommt auf den Menschen an. Julian Knorr verdeutlicht, dass es besonderer Soft Skills und damit eines Digital Mindsets bedarf, um die Herausforderungen der Digitalisierung zu bewältigen. Am Beispiel eines Projektes bei Lufthansa zeigt er auf, wie sich eine Digital Mindset Awareness entwickeln kann.
Vorwort
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Christian Hättenschwiler verdeutlicht mit seinem Beitrag, dass die Wichtigkeit sozialer, kommunikativer und kreativer Kompetenzen zugenommen hat. Er beschreibt die zehn wichtigsten Soft Skills und zeigt, dass diese aufgrund des durch die Digitalisierung verursachten Wandels der Arbeit für die Arbeitskraft der Zukunft entscheidend sind. Sonja Hollerbach und Clemens Kreimeier sprechen das Umfeld und die Schnittstelle zwischen Talent-Management und künstlicher Intelligenz an und liefern zahlreiche konkrete Beispiele, wie sich die neuen Technologien nutzen lassen. Teil II geht auf Leadership & Kultur in der digitalen Transformation ein. Zu Beginn präsentieren Helen Dombrowski und Nicolas Bogs das Konzept des Digital-Leadership- Index, der das Konstrukt Digital Leadership für die Praxis verständlich, anschaulich und anwendbar macht. Mithilfe des Digital-Leadership-Index, der die Ausprägung verschiedener Kompetenzen widerspiegelt, arbeiten sie vier unterschiedliche digitale Führungspersönlichkeiten heraus: Technik-Experte, Digitaler Beginner, Digitaler Visionär und Digitaler Leader. Markus H. Dahm, Clemens Holst und Lisa-Marie Schmitz zeigen ein Konzept zur zielgerichteten Transformation der Unternehmenskultur in deutschen Traditionsunternehmen auf – hin zu neuem Denken. Von der Bestandsaufnahme über die Bestimmung der Zielkultur bis hin zum Change-Prozess. In jeder der einzelnen Phase stellen die Autoren verschiedene Methoden und Werkzeuge vor. Jens Heuer zeigt in seinem Beitrag auf, wie Software-Produkte zur Steuerung der Kernprozesse eines Unternehmens heutzutage entwickelt werden, und beschreibt anhand eines konkreten Beispiels, wo die Chancen liegen und welche Hindernisse aus dem Weg geräumt werden müssen. Antje Kruse-Schomaker und Wibke Huber-Saffer erläutern, wie das globale Technologieunternehmen IBM Kundenerfahrung und Nutzererfahrung wieder in den Mittelpunkt gestellt hat und neue Arbeitsweisen im Unternehmen etabliert wurden. Im Beitrag wird das IBM-Design-Programm mit seinen Komponenten People, Places und Practices vorgestellt. Eine Schlüsselrolle nimmt dabei Enterprise Design Thinking ein, ein nutzerzentriertes Vorgehensmodell, das IBM nicht nur zur Entwicklung eigener Produkte und Dienstleistungen anwendet, sondern auch als unternehmensweiten Standard in der Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams etabliert hat. Michael von Kutzschenbach verbindet die Digitalisierung mit dem zweiten bedeutenden Veränderungsbeschleuniger der kommenden Jahre: der Nachhaltigkeit. Er zeigt auf, wie die aktive Gestaltung der digitalen Transformation als offener Such- und Lernprozess Unternehmen dabei unterstützt, digitale Technologien und nachhaltigkeitsorientierte Praktiken in innovativen Geschäftsmodellen zusammenzuführen. Teil III stellt spezifische Rollen & Akteure der digitalen Transformation in den Mittelpunkt. Markus H. Dahm und Clemens Holst stellen anhand verschiedener Unternehmensbereiche dar, wie sich diese in den kommenden Jahren grundlegend verändern werden. Neben der Implementierung neuer Technologien und digitaler Fähigkeiten bedarf es auch einer auf die zunehmende Digitalisierung ausgerichteten Unternehmenskultur. Um vorhandene Organisationsstrukturen und Formen der Zusammenarbeit aufzubrechen,
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Vorwort
Wissensverbreitung zu fördern und die Innovationskraft im Unternehmen zu stärken, sind die Erhöhung der Mitarbeitereigenverantwortung und die Einführung selbstorganisierter Teams empfehlenswert, sagen die Autoren. Michael Höbig und Sebastian Leonhard widmen ihren Beitrag der Tatsache, dass es innerhalb der von der digitalen Transformation betroffenen Unternehmen einer treibenden Kraft bedarf, die den digitalen Wandel steuert und verantwortet. Zunehmend etabliert sich in Unternehmen die Position eines Chief Digital Officers (CDO). Sie beleuchten die zahlreichen Herausforderungen, die sich im Spannungsfeld von Aufgabenvielfalt, internen Machtkämpfen und unzähligen externen Einflüssen für den CDO ergeben, und werfen einen Blick auf seine zukünftige Rolle. Nils-Carsten Huber proklamiert, dass ein CFO gebraucht wird, der im Sparring mit dem CEO neue, erweiterte Ambitionen für das Unternehmen ermöglicht sowie ein neutrales Verständnis von Unternehmensrisikomanagement hat, das Chancen den gleichen Platz einräumt wie Bedrohungen. Unternehmenseigner und Aufsichtsräte fangen bereits an, ihre Anforderungsbeschreibungen der Rolle des Finanzvorstands/CFO oder kaufmännischen Geschäftsführers zu überdenken, ist sich der Autor sicher. Barbara Rybol und Jan Pika stellen in ihrem Beitrag ihre Erfahrungen in einem fiktiven Coaching-Dialog mit der Persona „Charlie“, einer überzeugten agilen Convincerin, zusammen. Dabei begleiten sie Charlie im Sinne einer User Journey in Phase eins der agilen Transformation. Sie teilen Beobachtungen und methodische Empfehlungen, wie agile Transformer in einer nur mittelmäßig überzeugten Organisation erfolgreich agieren können. Die Einbeziehung von Mainstream-Ansätzen wird ebenso thematisiert wie eigene erfolgreich erprobte trojanische Lösungen aus den Bereichen Design Thinking, Scrum, Changemanagement und systemischer Arbeit. Insbesondere für kleine und mittelständische Unternehmen stellt die Digitalisierung eine große Herausforderung dar und erfordert eine engere Zusammenarbeit der Unternehmen, sind sich Maren Gierlich, Malte Volkwein und Ronny Schüritz sicher. Durch die stärker werdende Integration von KMUs in Ökosystemen können Hürden der Digitalisierung überwunden und höhere Digitalisierungslevel erreicht werden. Aus dem Zusammenspiel der Positionierung der Unternehmen im Ökosystem und den sich daraus ergebenden Digitalisierungsstrategien leiten die Autoren skalierbare Handlungsempfehlungen für KMUs ab. Teil IV präsentiert ausgewählte Technologien & Tools, die in der digitalen Transformation wichtig sind. Markus H. Dahm und Benjamin Constantine behandeln in ihrem Beitrag das Thema Machine Learning aus der Perspektive mittelständischer Betriebe. Nach einer kurzen Einführung in die Thematik kommen die Autoren zum Kern des Beitrages: der Zusammenfassung einer Studie, an der elf mittelständische Unternehmen aus Deutschland und der Schweiz teilgenommen haben. Drei ausgewählte Fallstudien werden etwas ausführlicher herausgestellt und dienen der Erarbeitung von Ansätzen und Erfolgsfaktoren. Neben dem Machine Learning kommt der Kommunikation und Kollaboration eine Schlüsselfunktion in der digitalen Transformation zu. Julian Kupfer und Melanie Neeven schildern, wie die Beiersdorf AG in einem Initialprojekt ihr Intranet und ihre Kollabora-
Vorwort
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tionsplattform durch die Einführung und Nutzung von Microsoft Office 365 modernisiert und mit „younited“ ein neues digitales Zuhause für alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter geschaffen hat. Sie stellen dar, wie es neben dem technologischen Wandel auch zu einem Wandel in der Arbeits- und Kommunikationskultur kommt. Der Beitrag von Carolin Joseph zeigt, dass Technikakzeptanz und Veränderungsbereitschaft eine essenzielle Rolle dabei spielen, den digitalen Wandel erfolgreich zu gestalten. Organisationen, die wissen, wie veränderungsbereit ihre Mitarbeiter sind, können besser verstehen, wie eine technische Neuerung akzeptiert wird. Einflussfaktoren wie die wahrgenommene Nützlichkeit oder die wahrgenommene Leichtigkeit in der Benutzung einer neuen Technik lassen sich bewusst beeinflussen, ist sich die Autorin sicher. Manuel Guttenberger und Peter Vatter beginnen ihren Beitrag ausgehend von der Tatsache, dass es vielen etablierten Unternehmen in der digitalisierten Welt im Gegensatz zu Start-ups an einem umfassenden Verständnis für dynamische Innovationsprozesse, die notwendige Arbeitskultur und passende Innovationsformate mangelt. Die Autoren stellen Ansätze vor, wie disruptive Innovationen vorangetrieben werden können. Sie fokussieren das Open Innovation Model, das den Austausch mit internen und externen Know-how- Trägern beschreibt, und stellen darauf aufbauend das Konzept des Makeathons vor, bei dem Mitarbeiter für begrenzte Zeit gezielt aus der Linienstruktur herausgelöst werden und die Möglichkeit erhalten, eine Innovation frei von den formalen Zwängen des Alltagsgeschäfts voranzutreiben. Das Buch schließen Tobias Schütz und Stephan W. Schusser. Sie stellen ein Framework vor, das Bauzulieferern dabei hilft, ihr digitales Zielbild mit seinen Werttreibern systematisch aus dem Kundennutzen abzuleiten. Das Framework berücksichtigt die Besonderheiten der Bauzulieferindustrie, kann aber mit leichten Anpassungen auch auf andere Branchen angewendet werden.
Danksagung
Die vorliegende Herausgeberschaft wäre nicht möglich gewesen ohne das Engagement und die Unterstützung zahlreicher Menschen. Wir danken den Autorinnen und Autoren für das Teilen ihrer Erfahrungen, ihre Zuverlässigkeit und den menschlich angenehmen Austausch. Angela Meffert vom Springer Gabler Verlag danken wir für die – gewohnt! – kon struktive Zusammenarbeit, das Lektorat und das frühe Signal, nach unserem ersten Buch „Strategie und Transformation im digitalen Zeitalter“ direkt eine weitere Herausgeberschaft folgen zu lassen. Und schließlich: Alles, was uns privat wie beruflich gelingt und Freude bereitet, wäre unmöglich ohne die positive Energie und liebevolle Unterstützung unserer Familien. Ihnen widmen wir dieses Buch. Hamburg, im Sommer 2020
Prof. Dr. Markus H. Dahm Prof. Dr. Stefan Thode
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Inhaltsverzeichnis
Teil I Mindset und Skills 1 Die Entwicklung eines agilen Mindsets in Unternehmen als Basis für organisationale Agilität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Michael Höbig und Cindy Kubsch 2 Auf den Menschen kommt es an! – Die Bedeutung weicher Faktoren in der digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Marco Nink 3 Digital Mindset zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 Julian Knorr 4 Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und die benötigten Soft Skills der Arbeitenden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Christian Hättenschwiler 5 Künstliche Intelligenz im Talent-Management – die richtigen Hebel zur Chancenrealisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Sonja Hollerbach und Clemens Kreimeier Teil II Leadership und Kultur 6 Digital-Leadership-Index – Führung im digitalen Umfeld anschaulich und messbar machen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Helen Dombrowski und Nicolas Bogs 7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Markus H. Dahm, Clemens Holst und Lisa-Marie Schmitz 8 Designtransformation trifft Realität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Jens Heuer
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Inhaltsverzeichnis
9 Running up the Hills – Die Designtransformation der IBM. . . . . . . . . . . . . . . 177 Antje Kruse-Schomaker und Wibke Huber-Saffer 10 Die Interdependenz von Digitalisierung und Nachhaltigkeit als Chance der unternehmerischen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Michael von Kutzschenbach Teil III Rollen und Akteure 11 Auswirkungen der Digitalisierung auf die Wertschöpfungsakteure . . . . . . . . 221 Markus H. Dahm und Clemens Holst 12 Wer steuert die Digitale Transformation im Unternehmen und wie? – Herausforderungen des Chief Digital Officer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Christian Heinrich und Sebastian Leonhard 13 Cost-Cutter, Steuersparer oder Enabler?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Nils-C. Huber 14 Anstiftung zur Disruption – Die Rolle von Agile-Coaches in der digitalen Transformation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Barbara Rybol und Kai Jan Pika 15 Die Rolle von KMUs in digitalen Ökosystemen – Wie sich KMUs in einer zunehmend digitalisierten Welt positionieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Maren Gierlich, Ronny Schüritz und Malte Volkwein Teil IV Technologien und Tools 16 Machine Learning für den Mittelstand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Markus H. Dahm und Benjamin Constantine 17 younited – Wie das digitale Zuhause von Beiersdorf eine neue Kommunikationskultur fördert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Melanie Neeven und Julian Kupfer 18 Technikakzeptanz und Veränderungsbereitschaft im digitalen Wandel. . . . . 363 Carolin Joseph 19 Innovate like Start-ups – Das Innovationsformat Makeathon als Basis für die Entwicklung disruptiver Innovationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Manuel Guttenberger und Peter Vatter 20 Digitalisierung in der Bauzulieferbranche – Ein Strategieframework. . . . . . 397 Tobias Schütz und Stephan W. Schusser
Über die Herausgeber
Prof. Dr. Markus H. Dahm (MBA) ist Organisationsentwicklungsexperte und Führungskraft im Bereich „Digital Change & Transformation“ bei der IBM Deutschland GmbH. Ferner lehrt und forscht er als Honorarprofessor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in den Themenfeldern Digital Management, Business Consulting und agile Organisationsgestaltung. Er publiziert regelmäßig zu aktuellen Management- und Leadership-Fragestellungen in wissenschaftlichen Fachmagazinen, Blogs und Online-Magazinen sowie der Wirtschaftspresse. Als Digital Transformation Thought Leader ist er auf Konferenzen und Symposien als Speaker gefragt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Mit seiner Familie lebt er in Hamburg. Prof. Dr. Stefan Thode hat in den vergangenen 20 Jahren als Manager in Deutschland, England und den USA sowie als Berater, Coach und Trainer zahlreiche komplexe Transformationsprozesse im nationalen und internationalen Umfeld begleitet. Zudem lehrt und forscht er als ordentlicher Professor für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre an der FOM Hochschule in Hamburg zu den Themenfeldern Agiles Management, Change Management, Digitale Transformation, Leadership, New Work und Strategie. Lehr- und Forschungsaufenthalte führten ihn an Universitäten in Istanbul, Kiew, Murcia, New York und Sydney. Stefan Thode wird als Keynote Speaker und Moderator zu Konferenzen und Firmenevents eingeladen. Er lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Hamburg.
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Teil I Mindset und Skills
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Die Entwicklung eines agilen Mindsets in Unternehmen als Basis für organisationale Agilität Michael Höbig und Cindy Kubsch
Inhaltsverzeichnis 1.1 B edeutung der organisationalen Agilität für die digitale Transformation 1.2 Vier Elemente zur Entwicklung eines agilen Mindsets 1.2.1 Charakteristika des agilen Mindsets 1.2.2 Empirische Untersuchung 1.2.3 Interviewergebnisse: Vier Elemente eines agilen Mindsets 1.3 Agilität und das menschliche Gehirn 1.3.1 Neurowissenschaftliche Grundlagen des menschlichen Verhaltens 1.3.2 Das menschliche Gehirn und das Element „Vernetzung“ 1.3.3 Das menschliche Gehirn und das Element „Selbstwirksamkeit“ 1.4 Zusammenfassung und Fazit Literatur
4 8 8 10 13 15 15 18 19 21 23
Schlüsselwörter
Agiles Mindset · Organisationale Agilität · Vernetzung · Selbstwirksamkeit · Neurowissenschaft cc
Lesernutzen Die Einführung von Agilität stellt selbst Großunternehmen, die mit der digitalen Transformation bereits Erfahrungen gemacht haben, vor vielfältige Herausforderungen. Die Aspekte, die hierbei zu berücksichtigen sind, können in die vier Bereiche Leadership, organisatorische R ahmenbedingungen, Vernetzung und Selbstwirksamkeit gegliedert werden. Welche Insights diese Unternehmen in den letzten Jahren in der organisationalen Agilität gesammelt
M. Höbig (*) · C. Kubsch Hamburg School of Business Administration gGmbH und MOIIN GmbH, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_1
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M. Höbig und C. Kubsch
haben, wird in diesem Beitrag prägnant zusammengefasst und mit Handlungsempfehlungen versehen. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf die Eigenheiten des menschlichen Gehirns gelegt. Dabei wird aufgezeigt, wie bestehende Denk- und Verhaltensmuster einer Transformation häufig im Wege stehen. Durch Best-Practice-Beispiele wird beschrieben, wie das Aufbrechen dieser Strukturen durch eigenes Erleben agiler Prinzipien im gesicherten Umfeld erfolgen kann.
1.1
edeutung der organisationalen Agilität für die digitale B Transformation
52 % der Unternehmen, die im Jahr 2000 zu den Fortune-500-Unternehmen gehörten, sind in der Zwischenzeit aufgrund von Zusammenschlüssen, Aufkäufen, Bankrott oder Umsatzrückgang aus dieser Liste herausgefallen (Wang 2015, S. 2). Auslöser für einige dieser Veränderungen ist das Aufkommen digitaler Produkte und Services. Auch wenn die Veränderungen der Unternehmenslandschaft in Deutschland nicht so gravierend erscheinen mögen, zeigt doch das Beispiel der Ablösung der Commerzbank durch Wirecard im DAX 30 deutlich, dass die digitale Wirtschaft auch hierzulande mehr und mehr Einzug hält (Dörner et al. 2018). Was führt zu solchen gravierenden Veränderungen und warum sind Unternehmen teilweise schlecht in der Lage, damit umzugehen? Märkte und Konsumentenverhalten entwickeln sich mit hoher Dynamik und oft unvorhersehbar sowie mit teilweise widersprüchlichen Trends. Unternehmen agieren so zunehmend in einem Umfeld, das als komplex bis chaotisch klassifiziert wird. Dieses Marktumfeld wird häufig auch als VUCA-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität/Complexity, Ambiguität/Mehrdeutigkeit) bezeichnet (Bendel 2019). Einer der zentralen Begriffe im aktuellen Wirtschaftsumfeld ist die Komplexität. Häufig werden die Herausforderungen, denen die Unternehmen sich gegenübersehen, auf die wachsende Komplexität zurückgeführt. Warum das für Unternehmen problematisch ist, verdeutlicht ein kurzer Blick auf die Komplexität an sich, die häufig mit Kompliziertheit verwechselt wird. Während es allerdings in komplizierten Systemen vor allem eine hohe Anzahl an Elementen und Beziehungen gibt, kommt unter komplexen Rahmenbedingungen meist noch hohe Dynamik hinzu. Zudem ist es schwierig, komplexe Systeme einfach zu beschreiben (Vieweg 2015, S. 16). Daher ist das Verhalten des Systems schwer nachvollziehbar und im Vorwege durchgeführte Planungen, die naturgemäß nicht alle Optionen beinhalten können, werden zumindest teilweise obsolet. Kurzgefasst gibt es für komplexe Situationen also keine einfach zu beschreibende bzw. lineare Lösung. Externe Komplexität, die sich auf das Umfeld eines Unternehmens bezieht, kann als • Nachfragekomplexität (zunehmend fragmentierte Mikromärkte mit divergierenden und sich schnell verändernden Bedürfnissen),
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• Wettbewerbskomplexität (Anstieg der Wettbewerbsdynamik, vor allem in digitalen Märkten starke Globalisierung und Senkung der Eintrittsbarrieren) sowie • technologische Komplexität (neu aufkommende sowie stärker kombinierte und inte grierte Technologien und kürzer werdende Produktzyklen) verstanden werden (Bliss 2000, S. 5). Gerade im digitalisierten Umfeld existieren diese Entwicklungen häufig parallel. Bestehende Wettbewerbsvorteile werden so von allen Seiten attackiert und die Wettbewerbsfähigkeit kann in relativ kurzer Zeit stark reduziert werden. So können beispielsweise Märkte entstehen, in denen bisher kostenpflichtige Leis tungen verschenkt werden. Aufgrund der Reduzierung von Transaktionskosten durch automatisierte Prozesse und die gleichzeitige Ausweitung der potenziellen Anzahl von Kunden durch Globalisierung greifen Skaleneffekte doppelt. In der Ära der Plattformen können dabei Unternehmensgewinne auch durch Monopolisierung ergänzender Leistungen entstehen. Wichtige Basisleistungen können somit durch Quersubventionierung kostenlos werden oder bleiben (Anderson 2009, S. 30). Vor allem kleinere Unternehmen in Deutschland scheint gerade die technologische Entwicklung beim Einsatz digitaler Technologien vor große Herausforderungen zu stellen. Ein Beispiel hierzu zeigt die vergleichsweise geringe Anzahl von Digitalisierungsprojekten vor allem in kleineren Unternehmen (Abb. 1.1).
Anteile in Prozent 60 45 35
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49
40
33 24
28
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2014/2016
50 Beschäftigte und mehr
10 bis unter 50 Beschäftigte
5 bis unter 10 Beschäftigte
Unter 5 Beschäftigte
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2015/2017
Anmerkung: Mit der Anzahl der Unternehmen hochgerechnete Werte.
Abb. 1.1 Anteil der Digitalisierer in deutschen Unternehmen. (Quelle: KfW Research 2018, S. 2)
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M. Höbig und C. Kubsch
Zusätzlich zur externen Komplexität liegt häufig in großen bzw. etablierten Unternehmen eine hohe innere Komplexität vor. Diese wird beispielsweise durch die Anzahl der Produkte oder die Organisationseinheiten beeinflusst. Durch die verbreitete Strategie, ein digitales Geschäftsmodell mit konventionellen Produkten zunächst durch digitale Services zu ergänzen, steigt die Komplexität meist weiter an. Erst durch eine radikale Ablösung des bestehenden Portfolios durch komplett digitale Entwicklungen kann die innere Komplexität dann wieder (z. B. durch Baukastenprinzipien) reduziert werden. In solchen Szenarien der Unternehmensentwicklung greifen unter anderem Mechanismen, die Christensen (1997, S. 225–230) als Innovator’s Dilemma bezeichnet: Unternehmen halten an den Produkten fest, die bereits gut sind, und verbessern diese weit über den eigentlichen Kundennutzen hinaus – mit entsprechenden Folgen für die Kosten. Dabei ignorieren sie neue, disruptive Entwicklungen, da die Märkte dafür noch zu klein, die Planung schwierig und der Return unsicher sind. Ergänzend dazu befragen sie ihre Bestandskunden und treffen aufgrund von Risikovermeidung Entscheidungen, die eher bisherige Investitionen in bestehende Ressourcen rechtfertigen, statt diese infrage zu stellen. Wirtschaftssysteme und hierin vor allem Unternehmen streben zu großen Teilen nach Effizienz und sind von daher nicht gewohnt, mit Komplexität angemessen umzugehen. Zurückzuführen ist dies unter anderem auf die Ausbildung der handelnden Personen und die vorhandenen Rahmenbedingungen. Zum Beispiel legen die wenigsten Studiengänge oder betrieblichen Ausbildungen Wert auf das Verständnis von Systemen und Systemdynamik. Häufig sind betriebliche Prozesse nicht auf Veränderungsmöglichkeiten ausgerichtet, sondern auf die möglichst effiziente Durchführung von Aufgaben. Schließlich gibt es keine Belohnung für Handeln, das vom Plan abweicht; Ziele sind eher kurzfristig ausgerichtet (Sherf et al. 2019, S. 8). Eine aktuelle Studie aus dem Bereich des Handels zeigt auf, dass Komplexität in Unternehmen in gleichem Maße auf interne Treiber wie auf externe Verursacher zurückgeführt werden kann. Komplexität wird so unter anderem durch die Organisationsstruktur wie auch durch Aufgabenvielfalt der Mitarbeiter erzeugt (Bischoff und Rudolph 2019, S. 52). Netzwerke werden in jüngster Zeit als Hilfsmittel erkannt, um zu lernen, mit der steigenden Komplexität umzugehen. Allerdings befinden sich die Erkenntnisse hierzu im Anfangsstadium und es gibt noch keine ausreichenden Untersuchungen dazu, wie Netzwerkprinzipien bei dem Management komplexer Systeme wirklich helfen können. Thurner (in Lotter 2019, S. 37) weist folgendermaßen darauf hin: „Wir fangen jetzt erst an, Netzwerke zu verstehen. Und damit zu begreifen, wie man mit Komplexität umgehen soll.“ Neuere Strömungen in der Organisationsentwicklung unterstützen dies mit der Formulierung stärkerer Selbstorganisation bis hin zu extremen Ansätzen wie Holocracy. Unternehmen müssen daher Organisationsstrukturen schaffen, die es ihnen ermöglichen, die interne sowie die externe Komplexität zu bewältigen. Dies bedeutet, die sich
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ändernden Kundenbedürfnisse zu erfassen und adäquat in hoher Geschwindigkeit zu beantworten (Mack und Khare 2016, S. 5–11). Nur so können sie flexibel auf die externen Veränderungen reagieren und schnelle Entscheidungen treffen. Um weiterhin am Markt bestehen zu bleiben oder ihren Wettbewerbsvorteil in komplexem Umfeld ausbauen zu können, wird daher häufig gefordert, dass Unternehmen agiler werden müssen. Nun ist das zunächst einmal eine undifferenzierte Sicht, denn die Einführung agiler Methoden sollte kein Selbstzweck sein. Daher stellen Unternehmen unter anderem fest, dass agiles Vorgehen per se noch keine Verbesserungen bewirkt, sondern auch durchaus zu neuen Herausforderungen führt. Dennoch wird in Agilität scheinbar ein Allheilmittel für jegliche Art von Problemen gesehen, welche im Zusammenhang mit digitaler Transformation und neuen Geschäftsmodellen stehen (Hölscher 2017, S. 108). Aus der Tätigkeit der Autoren im Digital Innovation Lab der HSBA (DI-Lab@HSBA) lassen sich ebenfalls zahlreiche Belege für diese These finden. Dass es allerdings nur eine begrenzte Notwendigkeit für die Anwendung von agilen Methoden gibt, stellt die Stacey-Matrix anschaulich dar (siehe Abb. 1.2).
Abb. 1.2 Stacey-Matrix. (Quelle: Komus und Schmidt 2018)
Die Darstellung in der Matrix spannt über zwei Dimensionen die Frage auf, ob eine Aufgabenstellung als simpel, kompliziert, komplex oder chaotisch bezeichnet werden kann. Dazu werden die Aufgaben danach klassifiziert, wie klar sie zu beschreiben sind (Achse „Anforderungen“) und inwiefern die Vorgehensweise zur Erfüllung dieser Anforderungen bekannt ist. Dabei zeigt sich, dass eine durchaus große Anzahl an Aufgaben in Kategorien fällt, die an sich keine hohe Komplexität aufweisen und somit gut mit klassischen Methoden zu lösen sind. Agile Vorgehensweisen werden in den meisten Fällen zur Bearbeitung von komplexen Aufgabenstellungen als geeignet angesehen.
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Das Konzept der Agilität geht allerdings auch deutlich über das hinaus, was häufig darunter verstanden wird. Oft werden lediglich einzelne Methoden verwendet oder es wird gar mit Scrum gleichgesetzt. Dabei ist Agilität mehr als eine Sammlung von Regeln und Vorschriften, es ist ein Mindset. Dafür bedarf es auch Mitarbeiter, die agil denken und handeln und ein sogenanntes agiles Mindset besitzen. Dieses Mindset ist charakterisiert durch offene Kommunikation, Transparenz, Kollaboration und Feedback (Scheller 2017, S. 4, 371–372). Die Wiege der organisationalen Agilität liegt in der Softwareentwicklung. 2001 wurde das „Agile Manifest“ von 17 Vertretern aus Programmierung, Softwareentwicklung und Scrum gemeinschaftlich unterzeichnet. Dieses Manifest besteht aus vier Kernwerten und zwölf Prinzipien für die Softwareentwicklung und liefert gleichzeitig relevante Ableitungen für das wirtschaftliche und organisationale Umfeld von Unternehmen (Beck et al. 2001). Demnach bedeutet „Agilität“, anpassungsfähig zu sein, flexibel auf Veränderungen zu reagieren, eine inkrementelle und iterative Arbeitsmethode mit einem starken Kundenfokus anzuwenden und Projekte in einem crossfunktionalem Team in Kollaboration durchzuführen (Cohen et al. 2004, S. 12). Aus diesem Ansatz ergibt sich die Frage, wie Organisationen Agilität als Mindset einführen und fördern können und wie organisationale Agilität gemessen werden kann. In der aktuellen Forschung existiert kein Modell, welches Hinweise und Maßnahmen zur Entwicklung eines agilen Mindsets im unternehmerischen Kontext liefert. Die Frage, die sich daraus ergibt, lautet demzufolge: „Wie können Individuen/Angestellte ein agiles Mindset entwickeln und wie kann folglich organisationale Agilität in Unternehmen eingeführt werden?“
1.2
Vier Elemente zur Entwicklung eines agilen Mindsets
1.2.1 Charakteristika des agilen Mindsets In der Literatur existieren verschiedenste Definitionen für Mindset, die wiederum unterschiedliche Merkmale hervorheben. Meist wird jedoch erklärt, dass es sich bei einem Mindset um Überzeugungen oder eine Ansammlung von Gedanken handelt, die eine mentale Einstellung bilden und zum Verhalten einer Person beitragen (Hofert 2018, S. 4–5). Ein agiles Mindset beinhaltet agiles Denken. Koutstaal definiert agiles Denken wie folgt: „Agiles Denken beinhaltet Möglichkeiten, Informationen und Wissen darzustellen und zu verarbeiten (zu nutzen), die flexibel, kreativ und an veränderte Umstände und Ziele angepasst [Hervorh. d. Verf.] sind. Es ist das Denken, das in der Lage ist, langfristige und vorläufige Pläne und Projekte angesichts eines dynamischen und stabileren Umfelds inmitten von Unsicherheiten und Unklarheiten sowie realer Risiken und Chancen zu fördern und aufrechtzuerhalten“ (Koutstaal 2011, S. 3; Übers. d. Verf.). Die kognitive Neurowissenschaft bietet verschiedene Konzepte zum Verständnis des flexibel anpassungsfähigen Denkens, während Koutstaal darauf hinweist, dass agiles Denken ein umfassendes Paradigma darstellt und als höhere Abstraktionsebene angesehen werden kann, wie in Abb. 1.3 dargestellt.
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Abb. 1.3 Mentale Agilität. (Quelle: Koutstaal 2011, S. 5)
Es ist das flexible und anpassungsfähige menschliche Gehirn, das letztendlich agiles Denken ermöglicht. An dieser Stelle scheint es wichtig zu betonen, dass agiles Denken nicht kreatives Denken bedeutet. Es stellt ein umfassenderes Konzept dar, dessen Grundlage ein agiler Geist bildet. Daher gibt es Strategien zur Entwicklung einer veränderten und agilen Denkweise. Indem wir das menschliche Gehirn in seiner Funktionsweise analysieren und verstehen, wie innere Prozesse beeinflusst werden, ist es möglich, Mindsets und Einstellungen zu verändern (Koutstaal 2011, S. 4–5). Grundsätzlich ist ein agiler Geist „[…] geprägt von dem, was und wie wir erforschen, einschließlich der Situationen und Ideen und Probleme, mit denen wir uns beschäftigen, kämpfen und spielen […]“ (Koutstaal 2011, S. 26; Übers. d. Verf.). Wie die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Forschung eine agile Denkweise fördern können, wird in Abschn. 1.3 dargestellt. Dweck (2017, S. 7, 223–226) hat die Theorie eines festen, statischen (fixed) und wachsenden, dynamischen (growth) Mindset entwickelt. Das sogenannte Growth-Mindset ist inkrementell, entwickelt sich ständig weiter und aktualisiert sich selbst. Dies ist die Kernvo raussetzung, um agil zu sein. Neben neurowissenschaftlichen und psychologischen Theorien über Mindsets und die Grundlagen des agilen Denkens, hat das agile Mindset verschiedene Charakteristika. Es zeichnet sich durch offene Kommunikation, Transparenz, Zusammenarbeit und Feedback aus. Die Etablierung eines agilen Mindsets bei Mitarbeitern zieht somit auch einen kulturellen Wandel in Unternehmen nach sich. Die Bestrebung, eine agile Organisation zu erschaffen, steht und fällt mit dem Mindset und dem Commitment des Führungsteams (Gloger und Rösner 2017, S. 53). Darüber hinaus muss eine agile Kultur auf folgenden Grundsteinen aufgebaut werden (Scheller 2017, S. 116, 386): • • • •
Motivation, Vertrauen und Verantwortung, Offenheit, Respekt, Mut sowie selbstorganisierte Gruppen und Teams.
Diese Schlüsselaspekte der agilen Kultur weisen eine hohe Überschneidung mit den vier Elementen auf, die laut Pink (2011, S. 47, 62) erforderlich sind, damit Menschen motiviert sind:
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• • • •
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Autonomie: Die Freiheit, das zu tun, was man für richtig und wichtig hält, Perfektionierung: dies dann auch mindestens gut zu können und zu beherrschen, Sinnerfüllung: zu wissen, wozu man dies tut, Zusammenarbeit: mit anderen gemeinsam an einer Aufgabe arbeiten.
Indem neurowissenschaftliche Erkenntnisse über das menschliche Gehirn und aktuelle Mindset-Studien mit den Konzepten von Agilität und agiler Kultur, einschließlich der Motivationselemente, kombiniert werden, kann der erste Meilenstein auf dem Weg zur Erfassung agiler Organisationen erreicht werden (Mack und Khare 2016, S. 14). Für Organisationen besteht daher die Herausforderung darin, eine Organisationsstruktur für sich zu finden, die diese Elemente enthält, um effektiv arbeiten zu können. In der Literatur wie auch in der Praxis existieren verschiedene Ansätze zum Thema Agilität – diese reichen von Schwarmorganisationen bis hin zu Holocracy-Ansätzen. Es ist jedoch ausdrücklich darauf hinzuweisen, dass es keine einheitliche Lösung für alle Unternehmen gibt. Auch in den von den Autoren durchgeführten Interviews mit Unternehmensvertretern (siehe Abschn. 1.2.3) hat sich gezeigt, dass weder Methoden noch Strukturen in Reinform Anwendung finden. Es muss immer individuell nach Unternehmen, Abteilung, Team bis hin zum jeweiligen Projekt bewertet werden, inwieweit Agilität in der Organisation hilfreich ist. Jedoch müssen vor allem traditionelle, hierarchische Organisationen mit einer Com mand-and-Control-Struktur ihre Strukturen gemäß den agilen Werten und Prinzipien neu organisieren. Nur so kann eine funktionsübergreifende Teamzusammenarbeit ermöglicht werden, in der Teams befähigt sind, Entscheidungen zu treffen und kundenorientiert zu handeln (Wise und Daniel 2015, S. 119; Denning 2017, S. 11). Organisationsstrukturkonzepte, die mit Command-and-Control verbunden sind, eignen sich nicht für eine agile Umgebung. Organisationskultur ist einer der Schlüsselfaktoren in jedem strategischen Transformationsprozess. Nach Larmans Gesetz muss zuerst die Organisationsstruktur angepasst und verändert werden, bevor die Organisationskultur sich verändern kann. Unternehmenskultur ist das Produkt des Verhaltens der Menschen innerhalb der Organisation (Scheller 2017, S. 349). Kurzum: Das agile Mindset der Mitarbeiter ist das Produkt aus der Veränderung der Organisationsstruktur und dem dadurch angestoßenen kulturellen Wandel. Das Konzept einer agilen Organisation wird erst dann erfassbar und erlebbar, wenn die Mitarbeiter und das Führungsteam verstanden haben, was Agilität bedeutet, und wie die agilen Werte und Prinzipien gelebt und praktiziert werden.
1.2.2 Empirische Untersuchung Das im Folgenden vorgestellte Modell zur Entwicklung eines agilen Mindsets basiert auf den Erkenntnissen einer eigens zu diesem Thema durchgeführten Studie. Es wurden 13 qualitative Interviews in zwölf deutschen Großunternehmen geführt. Alle befragten Unter-
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nehmen befinden sich bereits seit mehreren Jahren auf dem Weg zu einer agilen Organisation und haben bereits verschiedene Veränderungsprozesse angestoßen. Im Fokus dieser Befragung standen (Abb. 1.4):
Abb. 1.4 Übersicht über die durchgeführten Interviews
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• • • •
das konkrete Vorgehen sowie Erleben der Einführung von Agilität in die Organisation, Erfahrungswerte/Lessons Learned und Best-Practice-Beispiele, Beispiele für die Umsetzung von Agilität im operativen Tagesgeschäft sowie Handlungsempfehlungen für andere Unternehmen.
Basierend auf den Erkenntnissen und Resultaten war es möglich, in einem theoriebildenden Verfahren die wiederkehrenden Themen zu Clustern und in vier Elemente einzuteilen. Dieser Prozess wurde auch durch andere, in der Literatur vorgefundene Modelle und Theorien beeinflusst sowie durch Forschungsergebnisse in verwandten Disziplinen wie Psychologie, Neurowissenschaften, Sozialwissenschaften oder Change-Management angereichert. Um als Unternehmen agil zu sein, müssen die Mitarbeiter agil denken und handeln. Wie bereits beschrieben, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Das Mindset der Mitarbeiter lässt sich nicht von heute auf morgen verändern, hier bedarf es verschiedenster Rahmenbedingungen. Daher kann jedes Element für sich allein nur wenig Veränderung bewirken. Die Elemente bedingen und verstärken einander und müssen als System verstanden werden. Es ergaben sich folgende vier Hauptelemente, die bei der Entwicklung eines agilen Mindsets relevant sind: Leadership, organisatorische Rahmenbedingungen, Vernetzung und Selbstwirksamkeit. Das Modell zeigt, wie alle vier Elemente sich gegenseitig beeinflussen und verstärken (siehe Abb. 1.5).
Abb. 1.5 Agiles Mindset Entwicklungsmodell. (Quelle: Basierend auf den qualitativen Interviews)
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Bevor auf jedes einzelne dieser Elemente eingegangen wird, sollen zunächst grundsätzliche Erkenntnisse zum Thema Agilität skizziert werden. Bei der Frage, was die jeweiligen Experten unter „Agilität“ verstanden, wiesen sechs der 13 Befragten nachdrücklich darauf hin, dass Agilität ein klar definierter Prozess mit unterschiedlichen Rollen, Verantwortlichkeiten, Prozessen und Routinen ist. Fünf Befragte erwähnten explizit, dass Agilität nichts mit Chaos zu tun hat, sondern eine andere Herangehensweise an die Bearbeitung von Aufgaben ist und zur Bewältigung von Komplexität dient. Darüber hinaus ist erwähnenswert, dass Agilität als eine Haltung und nicht als eine Reihe von Werkzeugen angesehen wird. Einige der Befragten wiesen sofort folgendermaßen darauf hin: „Agilität ist nicht Scrum!“. Weiterhin wurde übereinstimmend gesagt, dass „Agilität“ in den letzten Jahren als Modewort in den Unternehmen kursiert und allein deshalb auf Widerstand in der Belegschaft stößt. Einige rieten daher sogar dazu, das Wort „agil“ nicht zu verwenden und das Konzept der Agilität durch einfachere Sprache, Visualisierungen und Geschichten einzuführen. Überdies betrachteten die Befragten die Einführung von Agilität als Teil eines umfassenden Transformationsprozesses, der in den Unternehmen häufig als „digitale Transformation“ bezeichnet wird. Begleitet wird der neue Arbeitsansatz von Innovationsprogrammen, beispielsweise Think-Tanks, Start-up-Kooperationen sowie neuen Strategieplänen, neu integrierten Technologien oder neuen Geschäftsmodellen. Die häufigsten Beweggründe für Unternehmen, Agilität anzustreben, sind: anpassungsfähiger, schneller und kundenorientierter werden, den Wettbewerbsvorteil steigern, die Unwirksamkeit traditioneller Arbeitsmethoden (hier insbesondere die Definierung von Lastenheften) sowie die Nachfrage der Kunden im Business-to-Business-Bereich und eine höhere Flexibilität bei der Durchführung von Projekten erreichen. Traditionelle und große Unternehmen kämpfen mit ihren komplexen und hierarchischen Strukturen. Aufgrund der traditionellen Denkweise des Managements werden veraltete Berichtslinien und Prozesse weiter eingehalten und so kommt es zu Konflikten an Schnittstellen zwischen der alten und der neuen, agilen Welt (Ambiguität). Solche Phänomene können durch den differenzierenden Sozialisierungsprozess erklärt werden, bei dem der Status durch ein Aufsteigen in der Hierarchie definiert wird und durch das Kontrollieren von Kommunikationslinien (Command-and-Control). In Bezug auf das Agile Manifest gab die Mehrheit der Befragten an, dass sie diesem eine geringe Relevanz beimessen oder gar nicht darauf verweisen. Einige zogen es vor, Agilität mit gesundem Menschenverstand, Unternehmenswerten, Teamwerten oder persönlichen Maximen in Verbindung zu bringen. Dagegen sprachen die in IT-Abteilungen tätigen Befragten dem Agilen Manifest eine hohe Relevanz und Sichtbarkeit zu.
1.2.3 Interviewergebnisse: Vier Elemente eines agilen Mindsets Neben den Beobachtungen zur organisatorischen Agilität im Allgemeinen werden im Folgenden die einzelnen Elemente des Modells zur Entwicklung eines agilen Mindsets detaillierter dargestellt:
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Leadership Alle Interviewpartner über alle Branchen hinweg beschrieben „Agile Leadership“ als Voraussetzung für den agilen Kulturwandel. Commitment und Rückhalt der Geschäftsführung bzw. des Vorstandes ist für einen langfristigen Erfolg daher unerlässlich. Dies verweist auf die Notwendigkeit für das Management, sich für das Konzept der Agilität einzusetzen und diejenigen Teams, die in Pilotprojekten agile Methoden anwenden, ständig zu unterstützen. Dies wurde auch als Erfolgsfaktor für die Implementierung von organisationsweiter Agilität bezeichnet. Zusammenfassend ist die Erfolgsquote der Entwicklung einer agilen Denkweise im Unternehmen stark von der Denkweise des Führungsteams abhängig. Die Führung muss ihr Verhalten an die Anforderungen der Agilität anpassen und ausrichten. Das Bekenntnis der Führungskräfte zu den agilen Werten und Prinzipien ebnet den Weg zum organisatorischen Wandel. Organisatorischer Rahmen Diese Kategorie wird in hohem Maße von der Verpflichtung der Unternehmensleitung beeinflusst, Organisationsstrukturen anzupassen. Diese sollen agile Arbeitsmethoden in neuen Arbeitsbereichen ermöglichen, die kreatives und kollaboratives Arbeiten in funktionsübergreifenden Teams sowie flexible Arbeitszeitregelungen unterstützen. Offene Kommunikation und Transparenz sind daher weitere Voraussetzungen. Die Befragten betonten, dass Agilität neue Teamrollen und Verantwortlichkeiten erfordert. Ebenso wird Verständnis dafür gefordert, dass es im Bereich der Agilität nicht „one size fits all“ gibt, d. h., dass jedes Unternehmen für sich bewerten muss, wo und wie Agilität innerhalb der Organisation sinnvoll ist. Nicht alle Abteilungen, Teams und Projekte müssen agil sein. Eine Vo raussetzung für die Anwendung agiler Arbeitsmethoden ist die Umsetzbarkeit und Flexibilität der Projekte der einzelnen Abteilungen. Vernetzung Dieses Element ist in zwei Teile unterteilt. Ein Teil ist die Organisation als Netzwerk, in dem die interne und externe Kommunikation stattfindet. Die Befragten berichteten von internen Communities sowie vom Wissensaustausch mit anderen Unternehmen, um Inputs zu erhalten und gemeinsam zu lernen und zu wachsen. Der andere Teil repräsentiert den Verhaltens- und Teamaspekt. Es geht darum, die agilen Werte und Prinzipien (Offenheit, Kommunikation etc.) zu leben, Retrospektiven in Teams durchzuführen und – häufig erwähnt – insgesamt eine Feedback-Kultur zu implementieren. Aus der Analyse ergab sich das Element Team-Fokus als eine weitere Hauptkategorie. Neben agilen Begriffen wie Selbstorganisation, Befähigung von Teams und funktionsübergreifenden Teams standen Themen wie Teamarbeit, Teamgeist und Zugehörigkeitsgefühl im Vordergrund. Selbstwirksamkeit Dieses Element konzentriert sich auf den einzelnen Mitarbeiter. Selbstwirksamkeit besteht aus eigenen Erfolgserlebnissen, dem Beobachten von erfolgreichen Modellpersonen, dem Einfluss sozialer Gruppen sowie verbaler Überzeugung und emotionaler Erregung (Bandura 1977, S. 195). Eine der Hauptkategorien, die sich aus allen Interviews ableiten,
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ist das, was hier auch als „Kernverhalten“ bezeichnet wird. Insbesondere ständige Weiterentwicklung, intrinsische Motivation, Selbstreflexion, Neugier und Mut wurden häufig erwähnt. Zwölf Befragte betonten, wie wichtig es ist, in persönlichen Experimenten eine agile Denkweise zu entwickeln. Solche Versuche erfordern einen sicheren Ort, an dem Menschen die neuen Arbeitsmethoden ausprobieren können. Einige starteten Pilotprojekte oder spielen agile Spiele, um aufzuzeigen, was Agilität bedeutet, und um zu verdeutlichen, dass Zusammenarbeit, Iterationen sowie Feedback und Selbstreflexion ihre Ergebnisse verbessern können. Durch das Erleben von Verbesserungen durch Spiele und Interaktion wird auf die Mastery Experience (Erfolgserlebnisse) von Bandura Bezug genommen und die Selbstwirksamkeit des Einzelnen unterstützt. Die Erfahrung der Autoren in Workshops und Projekten im DI-Lab@HSBA hat gezeigt, dass Unternehmensvertreter oftmals vor dem Begriff „Spiel“ zurückschrecken. Daher empfiehlt es sich, sogenannte agile Spiele bzw. Serious Games auch als „Simulationen“ zu bezeichnen. Grundsätzlich ermöglichen solche Simulationen in Workshops, den Team- und Arbeitsprozess zu unterstützen. Auch die Interviewpartner berichteten, dass Agilität mithilfe von Pilotprojekten, einfacher Sprache und dem Erzählen von Geschichten (Storytelling) im Unternehmen eingeführt wurde. Das Element Selbstwirksamkeit ist entscheidend für die Entwicklung eines agilen Mindsets. Aus diesem Grund wird im nächsten Abschnitt untersucht, wie sich agiles Denken entwickeln lässt. Dabei werden Erkenntnisse aus der neurowissenschaftlichen Forschung über die Rolle des menschlichen Gehirns bei der Entwicklung eines agilen Mindsets ebenso berücksichtigt wie Ansätze, die ihren Nutzen in der Praxis gezeigt haben.
1.3
Agilität und das menschliche Gehirn
In diesem Abschnitt wird die Rolle der Neurowissenschaften bei der Entwicklung eines agilen Mindsets untersucht. Grundlage dieser Untersuchung ist das vorgestellte Modell für die Entwicklung eines agilen Mindsets. Die Elemente „Vernetzung“ und „Selbstwirksamkeit“ werden näher betrachtet, da diese sich auf das menschliche Individuum, sein Verhalten und interne Prozesse konzentrieren. Da „Leadership“ eine entscheidende Rolle für die erfolgreiche Implementierung spielt, existieren zu dem Thema umfangreiche Forschungsergebnisse und Literatur, die sich auf agiles Führen (Gloger und Rösner 2017) sowie Führung und Neurowissenschaften (Rock und Ringleb 2013) konzentrieren. Darüber hinaus wird das Element „organisatorischer Rahmen“ kurz hervorgehoben, da mehrere Studien, z. B. zur Zukunft der Arbeitswelt (Hackl et al. 2016) oder der WorkReport 2019 (Mahlodjis 2018) bereits aktuelle Erfahrungswerte und Empfehlungen zu neuen Arbeitskonzepten und New Work publiziert haben.
1.3.1 N eurowissenschaftliche Grundlagen des menschlichen Verhaltens Die Neurowissenschaften untersuchen das Nervensystem und integrieren verschiedene Forschungsbereiche wie Biologie, Chemie und Psychologie in die Erforschung von Neu-
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ronen, Synapsen und neuronalen Netzen. Das Ziel bei der Erforschung des Gehirns und des Nervensystems besteht darin, menschliche Gedanken und Gefühle zu verstehen, zu erklären und menschliches Verhalten zu analysieren (Department of Neuroscience 2019). Das Gehirn ist die Kommandozentrale jeder physischen und psychischen Reaktion eines Menschen (Reisyan 2013, S. 164). Daher müssen wir verstehen, wie das Gehirn funktioniert, um die Wurzeln des menschlichen Verhaltens zu verstehen und diese Erkenntnisse dann auf die Frage der Entwicklung eines agilen Mindsets anwenden zu können. Abb. 1.6 zeigt die Wirkungskette von Hormonen.
Abb. 1.6 Hormonelle Wirkungskette. (Quelle: Basierend auf Reisyan 2013, S. 164)
Das Gehirn besteht aus 100 Milliarden Gehirnzellen, die an ungefähr 1000 Billionen synaptischen Verbindungen beteiligt sind und über die Informationen verarbeitet werden. Untersuchungen zeigen, dass verschiedene Eigenschaften des Gehirns plastisch sind und sich im Laufe des Lebens eines Menschen verändern können. Dies nennt man Neuroplastizität. Folglich ist Neuroplastizität ein integraler Bestandteil bei der Veränderung des menschlichen Verhaltens und Denkens (Hill et al. 2017, S. 223). Unabhängig davon ist das Gehirn konservativ, es zielt darauf ab, den Energieverbrauch für das Überleben zu minimieren. Nach der Hebbian Lerntheorie gilt folgender Mechanismus für Plastizität: „Neurons that fire together, wire together“ (übers.: „Neuronen, die zusam-
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men feuern, vernetzen sich“), d. h. Neuronen, die sich oft gegenseitig stimulieren, sind Synapsen einer starken Verbindung und bilden neuronale Netze. Je höher die Frequenz solcher Stimulationen ist, desto stärker sind diese neuronalen Systeme. Das Gehirn lernt also komplexe Verhaltensmuster durch Wiederholungen und Erfahrungen, die dann zu gelerntem und automatischem Verhalten führen (Snyder 2016, S. 25–26). Das Ändern alter oder das Aufbauen neuer neuronaler Netze (Erlernen eines neuen Verhaltens) erfordert einen hohen Energieverbrauch. Das Hebbsche Gesetz besagt auch: „Use it or lose it“ (übers.: „Benutze es oder verliere es“); Verbindungen, die nicht mehr oder selten verwendet werden, werden daher aufgelöst und gelöscht (Synapseneliminierung). Das neuronale Netzwerk wird ständig verändert, indem es starke Verbindungen fördert, komplexe Verhaltensmuster lernt und selten bzw. ungenutzte Synapsen aufgelöst werden (Snyder 2016, S. 26; Hill et al. 2017, S. 223). Dies verdeutlicht, warum das menschliche Gehirn mit veränderten Denk- und Verhaltensmustern zu kämpfen hat. Studien zeigen sogar, dass Arbeitnehmer, die organisatorischen Veränderungen in ihrem regulären Arbeitsablauf ausgesetzt sind, unter physiologischen Schmerzen und psychischem Stress leiden. Das Gehirn versucht also, mit bekannten, etablierten Routinen zum alten Zustand zurückzukehren (Brown et al. 2009, S. 1049–1051; Snyder 2016, S. 28). Die stark ausgebauten und trainierten Verhaltensmuster, die durch ihre automatisch und unbewusst ablaufenden Prozesse hoch energieeffizient sind, sollen weiterverwendet werden. Eine Veränderung, Anpassung oder gar ein kompletter Neuaufbau eines neuronalen Netzes und somit Verhaltensmusters kostet das Gehirn viel Zeit (Wiederholungen) und somit Energie. Was bedeutet das nun für agiles Denken und die Entwicklung eines agilen Mindsets? Wie ist es möglich alte, über Jahre gelernte Verhaltensmuster in Unternehmen an agile Prozesse anzupassen? Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass das menschliche Gehirn vertraute Situationen mit Sicherheit und Vorhersagbarkeit (Routinen) aufgrund von Energieeinsparung bevorzugt. Die Eigenschaften der VUCA-Welt stehen zwar im Widerspruch zum konservativen Verhalten des Gehirns und das menschliche Gehirn ist nicht für die volatilen Arbeitsbedingungen des 21. Jahrhunderts ausgelegt, jedoch können Strategien und Anleitungen zur Unterstützung des Gehirns bei der Entwicklung eines agilen Geistes entwickelt werden (Hill et al. 2017, S. 222, 225–226). In Bezug auf das „Leadership“-Element entwickelte der Neurowissenschaftler David Rock das sogenannte SCARF-Modell. Durch die Untersuchung der Gehirnfunktionen in einem organisatorischen Kontext bietet dieses Modell Führungskräften einen Leitfaden zur Förderung der Zusammenarbeit und Kreativität sowie zur Reduzierung von Widerständen (Rock 2008, S. 45–49). In Bezug auf den Begriff der „organisatorischen Rahmenbedingungen“ müssen die Organisationsstruktur und die formalen Regeln angepasst werden, um selbstorganisierende und funktionsübergreifende Teams zu fördern. Wichtig ist es hierbei, den Mitarbeitern den Raum für Experimente zu geben und beim Ausprobieren neuer Methoden stets ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Beispielsweise können speziell gestaltete Räume und Kollaborationsflächen von Vorteil sein. In der zuvor vorge-
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stellten Befragung gaben die Befragten an, dass in den jeweiligen Unternehmen eigens entsprechende Projekträume, ganze Stockwerke und sogar Arbeitsumgebungen außerhalb des Unternehmensgeländes eingerichtet wurden. Die Schaffung solcher Arbeitsräume unterstützt das Gefühl, aus der gewohnten Umgebung mit den etablierten Routinen auszubrechen, und unterstützt die Mitarbeiter darin, Neues auszuprobieren (Martens 2011, S. 67–71; Rock und Page 2009, S. 417; Jetter 2013, S. 190). Grundsätzlich wurde dies von den Mitarbeitern und Teams sehr positiv auf- und angenommen und wirkt sich bislang förderlich auf die Team- und Projektarbeit aus.
1.3.2 Das menschliche Gehirn und das Element „Vernetzung“ Das Element „Vernetzung“ umfasst Team-Fokus und Teamgeist sowie Networking zu Erfahrungs- und Wissensaustausch, Feedbackkultur und Leben der agilen Werte und Prinzipien. Das menschliche Individuum ist ein soziales Wesen, wie Brené Brown gesagt hat: „Verbindung ist der Grund, warum wir hier sind. Es ist das, was unserem Leben Sinn und Zweck gibt“ (Brown 2015, S. 253; Übers. d. Verf.). Auch der Psychotherapeut Alfred Adler postulierte, dass das Gemeinschaftsgefühl einen immensen Einfluss auf die psychische Gesundheit hat. Das Gehirn beurteilt automatisch innerhalb von Sekunden, ob jemand Mitglied der eigenen Gruppe oder einer Fremdgruppe ist. Dies führt dazu, dass entweder Oxytocin (Kuschelhormon) oder Cortisol (Stresshormon) freigesetzt wird. Während Cortisol eine Bedrohungsreaktion auslöst, führt Oxytocin zu einem Zustand des Wohlbefindens sowie des Vertrauens und erhöht die Möglichkeit der Zusammenarbeit (Rock und Page 2009, S. 444). Global agierende Unternehmen stehen vor der zusätzlichen Herausforderung, funktionsübergreifende Teams auf der ganzen Welt zu etablieren und Menschen, die sich noch nie persönlich kennengelernt haben, zusammenzubringen und zur Mitarbeit an einem Projekt zu bewegen. Die Aufnahme informeller sozialer Interaktionen in Videokonferenzen kann dabei von Vorteil sein. Die Interviewpartner berichteten über interne Communities (online und offline) und Erfahrungsnetzwerke, die manchmal inoffiziell durch die Eigeninitiative von Organisationsmitgliedern gebildet wurden. Dies spiegelt auch den menschlichen Wunsch wider, sich zu vernetzen und das Gefühl der Verbundenheit innerhalb des Unternehmens auszudrücken (Gloger und Rösner 2017, S. 56, 197–200). Studien zeigen, dass Interaktionen mit einer vertrauensvollen Person, wie z. B. einem guten Kollegen, vom Gehirn als Belohnung empfunden werden. Das führt zu einer verbesserten Zusammenarbeit und veranschaulicht den menschlichen Wunsch nach Vernetzung. Je höher das Engagement auf Teamebene ist, desto höher sind das neurologische Engagement, die Dynamik und die Synchronisation zwischen den Teammitgliedern. Dies führt zu einer verbesserten Fähigkeit, zeitkritische, komplexe Probleme in der realen Welt zu lösen, die für funktionsübergreifende Teams in der VUCA-Welt unerlässlich sind (Waldman und Balthazard 2015, S. 282).
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Während der Zusammenarbeit mit einem vertrauenswürdigen Teammitglied sind das ventrale Striatum und der mediale präfrontale Kortex aktiv, was mit einem positiven sozialen Wert verbunden ist. Insbesondere das ventrale Striatum gilt als Ort der Belohnungsverarbeitung und der positiven Emotionen. Da das Gehirn hauptsächlich durch Bestrafung und Belohnung trainiert wird, führt die Interaktion mit vertrauenswürdigen Teammitgliedern zu einem Belohnungszustand, der ein bevorzugter und angestrebter Zustand des menschlichen Gehirns ist. Daher sind soziale Verbindungen, Vertrauen und menschliches Wohlergehen miteinander verbunden und bauen in der Regel aufeinander auf. Zwischenmenschliches Vertrauen führt somit zu einer höheren Team- und Organisationseffizienz, die insbesondere in komplexen Systemen erforderlich ist. Vertrauen ist daher einer der kritischen Erfolgsfaktoren für die Teamarbeit (McAllister 1995, S. 24; Jetter 2013, S. 93–94; Zak 2017, S. 88–89). Eine vertrauenswürdige Umgebung symbolisiert Sicherheit und Komfort, ermöglicht es dem Menschen, sich aktiv einzubringen, und erleichtert das Lernen. Vertrauen erfordert offene Kommunikation und ehrliches Feedback. Feedback, Fehlerkultur und offene Kommunikation sind insofern wenig überraschend auch wesentliche Bestandteile agiler Arbeitsmethoden und -prinzipien. Aufgrund früherer Erfahrungen und des Sozialisierungsprozesses haben viele Menschen jedoch negative Assoziationen zu Feedback, nämlich oftmals „Kritik“, was den Bedrohungsmodus des Gehirns auslöst. Damit Feedback effektiv ist, sollte der Empfänger auf Feedback vorbereitet sein. Einige Methoden zur Steigerung der Agilität, wie beispielsweise Scrum, enthalten nach jedem Sprint eine Rückmeldung mithilfe einer Retrospektive, in welcher das Team den letzten Sprint analysiert (Cohen et al. 2004, S. 14–15). Indem das menschliche Gehirn diese Routinen anwendet, wie z. B. Daily Stand-ups oder Retrospektiven am Ende eines Sprints, entwickelt es neue Synapsen, die durch ihre Wiederholung und Vorhersagbarkeit zu neuen Routinen führen. Darüber hinaus ist positives Feedback ein wirksames Instrument zur Verstärkung des beabsichtigten Verhaltens. Daher sollten Teammitglieder und Manager positives Verhalten loben und die Bemühungen der Menschen anerkennen und agiles Verhalten fördern (Rock und Page 2009, S. 76, 236–237; Snyder 2016, S. 38–39). Insgesamt ist Vernetzung ein entscheidendes Element für das effektive Management agiler Teams und die Schaffung einer Kultur der Zusammenarbeit und Offenheit, des Vertrauens und Feedbacks. Dies ist der Kern einer agilen Organisation (Scheller 2017, S. 353–354).
1.3.3 Das menschliche Gehirn und das Element „Selbstwirksamkeit“ Dieses Element umfasst verschiedene Aspekte des menschlichen Verhaltens und Erlebens. Da sich dieser Teil ausschließlich auf das Individuum und die Art und Weise konzentriert, wie das Gehirn Informationen verarbeitet und Überzeugungen und mentale Einstellungen bildet, können neurowissenschaftliche Erkenntnisse die Entwicklung eines agilen Mindsets unterstützen (Koutstaal 2011, S. 524; Hill et al. 2017, S. 224).
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Es gibt vier Zugänge zum menschlichen Gehirn: Sprache, Geschichten, Symbole und Sinne. Alle diese semantischen Träger sollten für eine effektive Kommunikation mit dem Gehirn verwendet werden (Scheier und Held 2011, 67–68). Auch wenn dies teilweise in den Bereich der Führung gehört, ist es wichtig, ein tieferes Verständnis dafür zu erlangen, wie Menschen Informationen verarbeiten und neue neuronale Netze bilden. Während den Organisationsmitgliedern das Konzept der Agilität erklärt wird, wird empfohlen, eine einfache und vertraute Sprache zu verwenden, damit das Gehirn die neuen Informationen an vorhandenes Wissen anhängen kann. Deutsche Unternehmen sollten angesichts der eventuell mangelnden Englischkenntnisse ihrer Belegschaft vorsichtig mit dem Gebrauch des englischen Wortschatzes umgehen. Die Interviewpartner berichteten auch, dass übermäßiges Nutzen von Modewörtern und englischen Begriffen zu Widerstand und Abneigung in der Belegschaft führt. Darüber hinaus kann das Einführen eines neuen Fremdsprachenvokabulars in Verbindung mit einer neuen Theorie oder einem neuen Konzept wie Agilität zu einer Informationsüberflutung führen, die Stress und einen erhöhten Cortisolspiegel auslöst. Das menschliche Gehirn übersetzt diesen Zustand als Bedrohung, was zu einer Kampf- oder Fluchtreaktion führt. Dies kann zu einer defensiven Haltung gegenüber den neuen Informationen führen (Scheier und Held 2011, S. 68–69; Molenberghs et al. 2017, S. 2171–2172). Ein weiteres zentrales Element für die Einführung und Kommunikation von Agilität in der gesamten Organisation ist das Geschichtenerzählen. Je emotionaler eine Geschichte ist, desto intensiver wird das Hörerlebnis. Geschichten regen auch Spiegelneuronen an, die dafür verantwortlich sind, dass Menschen verstehen, erklären, imitieren und erleben. Durch Geschichten können komplexe Muster übertragen werden. Dies unterstützt, dass Werte, Einstellungen, Emotionen und Identifikation im Langzeitgedächtnis besser gespeichert werden können. Kurz gesagt: Durch Geschichten können Organisationsmitglieder verstehen und aufnehmen, was organisationale Agilität bedeutet und warum diese notwendig ist. Geschichten unterstützen das Gehirn dabei, die neuen Informationen besser zu verarbeiten und zu speichern, als nur Fakten und Zahlen zu kommunizieren (Scheier und Held 2011, 70–74; Carroll und Gibson 2011, S. 23–24). Die Kombination von Storytelling mit visuellen Elementen erhöht die Informationsaufnahme und verbessert die Speicherung im Langzeitgedächtnis sowie die Lernerfahrung (Rock und Page 2009, S. 253–254). Symbole können vielfältige Erscheinungsweisen haben und von Logos bis hin zu Persönlichkeiten reichen. Sie sollten eine positive Konnotation haben, um positive emotionale Reaktionen und Akzeptanz auszulösen. In jedem Unternehmen gibt es Multiplikatoren, also einflussreiche Personen, die weithin anerkannt und geschätzt werden. Das Beobachten solcher Vorbilder bei der Anwendung agiler Methoden und deren Erfolg dabei aktiviert ebenfalls Spiegelneuronen und verursacht eine stellvertretende Erfahrung (Scheier und Held 2011, S. 74–77; Weick 2009, S. 235–236; Karp und Tveteraas Helgø 2009, S. 91). Darüber hinaus lernt das menschliche Gehirn am besten, wenn alle Sinne beteiligt sind. Daher ist es für das Verständnis des Konzepts Agilität unerlässlich, es persönlich zu erleben (Scheier und Held 2011, S. 82–83; Rock und Page 2009, S. 234–235). Zum Beispiel
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nannten die Befragten Experimente und agile Spiele als einen wichtigen Teil, um die Menschen zu motivieren. Um ein anpassungsfähiges und flexibles agiles Denken zu fördern, ist es notwendig, eine sichere Umgebung zu schaffen, in der neue Dinge ausprobiert werden können. Einige der Unternehmen der Befragten führten ein Pilotprojekt durch, um einen Raum und eine vorhersehbare Aufgabe für die Erprobung agiler Methoden zu schaffen, die von agilen Trainern unterstützt wurde. Dies gibt den Mitarbeitern ein Sicherheitsnetz und Orientierung. Ein weiterer wichtiger Teil der Lernerfahrung und der Verarbeitung und Übertragung neuer Informationen ist das Spielen, das mehrere Gehirnbereiche aktiviert. Daher können iterative Spiele bzw. Simulationen, die das Konzept und den Wert von Agilität vermitteln, hilfreich sein, um agiles Verhalten zu visualisieren und einen agilen Geist zu fördern. Spielen wird als sichere Umgebung empfunden, in der Verhaltensweisen? ohne größere Konsequenzen und Risiken ausprobiert werden können. Da das Spielen normalerweise als eine freudvolle Aktivität wahrgenommen wird, aktiviert es den Belohnungsmodus des Gehirns. Dadurch wird mehr Dopamin freigesetzt und dies führt zu einer Verbesserung des Gedächtnisses, der Kreativität, der Motivation und einer mentalen Veränderung. Durch das Spielen wird das Gehirn beim Lernen unterstützt, indem neue Reize mit vorhandenen mentalen Modellen und neuronalen Netzen verbunden werden. Im Spiel wird adaptives Verhalten Schritt für Schritt durch eigene Einsichten und Iterationen erlernt, was zu flexiblem Denken und Aufzeigen von alternativen Perspektiven führt. Eigene Einsichten durch Spiele und Simulationen zu generieren, ist ein wirkungsvolles Instrument, um die eigenen Erfolgserlebnisse als stärkste Komponente der Selbstwirksamkeit zu fördern (Wang und Aamodt 2012, S. 4–5; Hamari et al. 2016, S. 171; Immordino-Yang und Damasio 2007, S. 7–8). Die vier Elemente zur Entwicklung eines agilen Mindsets bieten einen Rahmen und eine Anleitung für Unternehmen, die sich auf dem Weg zu agilen Organisationen befinden. Wichtig ist, dass alle Elemente aufeinander abgestimmt sind.
1.4
Zusammenfassung und Fazit
Wie in dem vorliegenden Beitrag gezeigt werden konnte, ist es für Unternehmen notwendig, sich intensiv mit den Einsatzmöglichkeiten und Anforderungen von Agilität auseinanderzusetzen. Dies gilt vor allem in einer schnelllebigen VUCA-Welt, wie sie durch vermehrten Einsatz digitaler Technologien in einer globalisierten Wirtschaft derzeit zu beobachten ist. Dabei ist es nicht nur erforderlich, sich mit den Komplexitätstreibern auseinanderzusetzen, um zu verstehen, welche Ursachen die erhöhten Anforderungen an die Organisation und ihre Mitarbeiter haben. Es ist auch zu berücksichtigen, dass Agilität unterschiedliche Ebenen im Unternehmen betrifft. Zudem ist es notwendig, dass das Management den Wandel zu einem agilen Unternehmen ausruft und diesen Wandel auch ausdrücklich durch unterschiedliche Maßnahmen unterstützt. Aus der durchgeführten Expertenanalyse wurde dabei deutlich, dass die Maßnahmen in vier Kategorien unterteilt werden können. Leadership, organisatorische Rah-
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menbedingungen, Vernetzung und Selbstwirksamkeit spielen gemeinsam eine große Rolle. Von diesen sind Leadership und organisatorischer Rahmen für die Transformation zu einem agilen Unternehmen inzwischen im Bewusstsein des Managements präsent. Die Wichtigkeit der stärker individuell bezogenen Themen Vernetzung und Selbstwirksamkeit kommt allerdings häufig noch nicht wirklich zum Vorschein. Mit Blick auf die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse sind aber gerade diese für einen Wandel entscheidend, da es sich bei Unternehmen schlussendlich um soziale Systeme handelt. Daher sollten die Mechanismen, die im Gehirn eine Rolle spielen, stärker in Betracht gezogen werden, wenn es um Veränderung der Organisation geht. Das menschliche Gehirn bevorzugt Routinen für einen effizienten Energieverbrauch. Durch Routinen werden starke neuronale Netzwerke aufgebaut und Prozesse wie komplexe Verhaltensmuster automatisiert. Neue Stimuli erfordern einen höheren Verarbeitungsaufwand, was zu einem höheren Energieverbrauch führt. Dies ist der Grund, warum Menschen Schwierigkeiten haben, ihre Routinen, ihr Verhalten und insbesondere ihre Denkweise zu verändern (Snyder 2016, S. 28). Bei der Einführung von organisationaler Agilität ist daher ein langfristiges Commitment der Führungsebene notwendig, um neue, agile Verhaltens- und Denkmuster einzutrainieren. Durch die Anpassung und das Erlernen eines neuen Verhaltens entwickelt sich schrittweise ein agiles Mindset. Zudem muss den Mitarbeitern durch ein klares Zielbild vermittelt werden, warum dieser Veränderungsprozess angestoßen werden muss. Zusätzlich wird empfohlen, einfache Sprache, Bilder und Emotionen im Sinne des Storytellings für die Darstellung des Zielbildes zu nutzen. Das Selbstwirksamkeitselement im Hinblick auf individuelles Verhalten ist ein weiteres Schlüsselelement. Neben dem Führungsengagement war eine der Hauptkategorien in den Interviews, eigene Einsichten zu generieren. Durch Experimentieren, Spielen und das Ausprobieren von Neuem sammeln Menschen Erfolgserlebnisse, was wiederum eine Veränderung der Denkweise im Sinne der Agilität ermöglicht. Darüber hinaus hat Spielen einen positiven Einfluss auf das menschliche Gehirn, es verbessert Lernergebnisse, Kreativität und Motivation, erzeugt positive Emotionen und ist daher entscheidend für eine nachhaltige und langfristige mentale Veränderung. Durch eine Anpassung der Organisationsstrukturen an agile Projektarbeit und Schaffung von kreativen und kollaborativen Arbeitsräumen kann der Transformationsprozess weiter unterstützt werden und langfristig zu einer Kulturveränderung innerhalb des Unternehmens führen. Überdies ist das menschliche Gehirn sozial; daher ist die Vernetzung ein wesentlicher Bestandteil des menschlichen Lebens. In einer Organisation steigern vertrauenswürdige Teambindungen die Teamleistung. Eine Herausforderung für große Unternehmen besteht daher darin, mehr Verbindungen zwischen einer großen Anzahl von Mitarbeitern zu fördern z. B. durch interne Communities für den Erfahrungs- und Wissensaustausch (Jetter 2013, S. 91–92). Eine Übersicht über die Handlungsempfehlungen zeigt Abb. 1.7. Abschließend lässt sich sagen, dass die Herausforderung für Unternehmen bei der Transformation zu agilen Organisationen darin besteht, die vorgestellten Handlungsempfehlungen der vier Elemente zu prüfen und individuell umzusetzen. Eine agile Organisation bedeutet nicht, dass jeder Mitarbeiter, jedes Projekt und jede Abteilung agil arbeiten
1 Die Entwicklung eines agilen Mindsets in Unternehmen als Basis für organisationale …
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Abb. 1.7 Handlungsempfehlungen für die Entwicklung eines agilen Mindsets
müssen und jede agile Methode ihre Anwendung finden muss. Es geht vielmehr darum zu prüfen und zu bewerten, wo und wann welche Methode und Arbeitsweise im konkreten Fall sinnvoll ist. Die Analyse hat gezeigt, dass Mitarbeiter sich in der Praxis an Komponenten agiler Methoden bedienen und diese für sich individuell zusammenstellen und nutzen. Auch die hier dargestellten Handlungsempfehlungen fanden in den einzelnen Unternehmen in unterschiedlicher Intensität Anwendung.
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M. Höbig und C. Kubsch Michael Höbig ist Professor für Supply Chain Management an der HSBA Hamburg School of Business Administration. An der HSBA leitet Professor Höbig das Digital Innovation Lab (DI-Lab), in dem Themen zu Digitalisierung und Corporate Innovation untersucht werden. Als akademischer Leiter verantwortet er die Programme MBA Corporate Management und MSc Digital Transformation & Sustainability. Michael Höbig war langjährig geschäftsführender Gesellschafter bei der Pleyma GmbH in Hamburg. Im Anschluss war er als Head of Strategy SCM bei Siemens Wind Power in Dänemark beschäftigt. Anschließend war er bei Ramboll in Hamburg im Management Consulting tätig. Zurzeit ist er parallel zur Hochschultätigkeit als geschäftsführender Gesellschafter bei der MOIIN GmbH in der digitalen Transformation von Unternehmen beratend tätig. Cindy Kubsch (MBA) arbeitet als Innovation Coach im Digital Innovation Lab der HSBA-Hamburg School of Business Adminis tration. Parallel ist sie geschäftsführende Gesellschafterin bei der MOIIN GmbH. Ihr Fokus liegt auf der Moderation und inhaltlichen Prozessbegleitung von Projekten im Bereich der digitalen Transformation von Unternehmen. Dabei geht es vor allem um die Themen Innovation, Geschäftsmodell- und Organisationsentwicklung. Sie hält einen MBA mit Schwerpunkt im strategischen Management. Ihr spezielles Fachgebiet sind organisationale Agilität und Entwicklung eines agilen Mindsets.
2
Auf den Menschen kommt es an! – Die Bedeutung weicher Faktoren in der digitalen Transformation Erkenntnisse aus der Gallup-Forschung Marco Nink
Inhaltsverzeichnis 2.1 E inleitung 2.2 Gallup Agilitäts-Index: Unternehmen müssen auf acht Faktoren achten 2.2.1 Mitarbeiter von agilen Unternehmen blicken zuversichtlicher in die Zukunft 2.2.2 Mitarbeiter erwarten eher geringere persönliche Auswirkungen der Digitalisierung 2.2.3 Deutsche haben keine Angst vor dem „Kollegen Roboter“ 2.3 Der Weg zum modernen Unternehmen führt über einen Kulturwandel 2.3.1 Teams müssen verschieden sein und die Stärken ihrer Mitglieder kennen 2.3.2 Mehr Autonomie für die Mitarbeiter 2.3.3 Wissen ist das einzige Gut, das sich vermehrt, wenn man es teilt 2.3.4 Aus Routinen ausbrechen, Fehler zulassen
28 29 30 31 32 35 37 37 38 38
Alle Daten dieses Beitrages stammen aus dem Jahr 2019 – sofern nicht anders angegeben. Erhoben wurden die Daten im Rahmen des Gallup Engagement Index Deutschland. Für diese Studie werden seit dem Jahr 2001 jedes Jahr mindestens 1000 abhängig Beschäftigte ab 18 Jahren nach einem mehrstufigen Zufallsprinzip ausgewählt und mittels computergestützter Telefon interviews (CATI) befragt. Berücksichtigung finden dabei Frauen ebenso wie Männer, Vollzeitbeschäftigte genauso wie Teilzeitbeschäftigte, Arbeitnehmer aus allen Altersgruppen, Bildungsschichten, Berufsgruppen, und Mitarbeiter aller Unternehmensgrößen und Branchen. Auch Arbeitnehmer, die eine Vorgesetztenfunktion innehaben, also Personalverantwortung für Mitarbeiter tragen, sind Bestandteil der Stichprobe. Die Ergebnisse des Gallup Engagement Index sind repräsentativ für die Arbeitnehmerschaft in Deutschland.
M. Nink (*) Gallup GmbH, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_2
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M. Nink
2.3.5 Schnellere Entscheidungen und mehr Pragmatismus 2.3.6 Bei der Einstellung hat Deutschland Nachholbedarf 2.4 Fazit: Führungskräfte bleiben auch in agilen Unternehmen Vorbilder Literatur
39 40 41 44
Schlüsselwörter
Gallup-Agilitäts-Index · Agilitätstreiber · Führungskraft · Unternehmenswandel · Kollege Roboter
cc
2.1
Lesernutzen Der Beitrag ist für Leser1 gedacht, die sich einen empirisch fundierten Überblick zum Thema Agilität verschaffen wollen und Anregungen benötigen, an welchen Stellschrauben Unternehmen drehen sollten, um ihre Organisation zu modernisieren (z. B. Geschäftsführer, Führungskräfte aller Hierarchiestufen). Dabei stellt Gallup die Erkenntnisse aus Sicht der Mitarbeiter dar und fasst die internationalen Forschungsergebnisse zusammen, die das Unternehmen in den vergangenen Jahren bei zahlreichen Erhebungen und in Beratungsprojekten gesammelt hat. Im Beitrag werden unter anderem ein Agilitäts-Index sowie acht Schlüsselfaktoren dargestellt, die entscheiden, ob ein Unternehmen agil oder träge ist.
Einleitung
Im vergangenen Jahrzehnt fand im Zuge der digitalen Revolution und Globalisierung ein rasanter Wandel statt. Unternehmen mussten sich anpassen, um nicht von der Bildfläche zu verschwinden. Die GAFA-Konzerne (Google, Apple, Facebook, Amazon) stellten Branchen auf den Kopf, sorgten für neue Spielregeln und veränderten die Verhaltensweisen der Konsumenten. Heute kennt fast jedes Unternehmen sein Uber – seinen disruptiven Herausforderer, der die (Taxi-)Branche angreift, indem neue Geschäftsmodelle und Innovationen in hohem Tempo umgesetzt werden – egal ob Mobilitätsindustrie, Transport-, Finanzwesen oder Bekleidungsindustrie (CNBC.com 2018). Dieser fundamentale Wandel ist längst nicht abgeschlossen. Dabei gilt es jetzt für Unternehmen, den Spagat zwischen dem effizienten Fortführen des aktuellen Kerngeschäfts und der Entwicklung neuer Geschäftsmodelle, Produkte und Dienstleistungen hinzubekommen. Europäische Unterneh-
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde im Text die männliche Form gewählt, nichtsdestoweniger beziehen sich die Angaben auf Angehörige alle Geschlechter (männlich, weiblich, divers).
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2 Auf den Menschen kommt es an! – Die Bedeutung weicher Faktoren in der digitalen …
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men hinken häufig einen Schritt hinterher, wenn es um Veränderungen geht oder darum, Innovationen für sich zu nutzen. So stagniert laut Sachverständigenrat der Wirtschaft in Deutschland seit Jahren die Arbeitsproduktivität (Sachverständigenrat 2015, S. 284). Oder wie es der ehemalige Airbus-Chef Tom Enders im europäischen Kontext treffend formulierte: „Europa muss sein innovatives Ökosystem kultivieren“, um mit den USA und China mitzuhalten (Enders 2018).
2.2
allup Agilitäts-Index: Unternehmen müssen auf acht G Faktoren achten
Aber was tun, damit die deutsche Wirtschaft die digitale Transformation lustvoll statt frustvoll gestaltet und ihr innovatives Ökosystem kultiviert? Wie kann sie den Kulturwandel angehen, das Innovationstempo erhöhen, die Zeit für Entscheidungen minimieren und gleichzeitig im Unternehmen Neues wagen? Antworten darauf gibt eine Gallup-Studie, die das Beratungsunternehmen in vier europäischen Ländern und den Vereinigten Staaten von Amerika durchgeführt hat. Ausgangspunkt sind die Erkenntnisse aus Kundenprojekten von 2017 bis 2018, bei denen Gallup qualitative Interviews mit Führungskräften unterschiedlicher Hierarchieebenen sowie Mitarbeitern ohne Führungsverantwortung durchführte, um die aktuellen Herausforderungen der Unternehmen zu analysieren und Lösungen zu entwickeln. Auffällig war das Streben nach Agilität von nahezu allen Gesprächspartnern.2 cc Agilität Gallup versteht unter Agilität sowohl die richtigen Arbeitsmittel und Prozesse als auch die richtige Einstellung in Unternehmen, um schnell auf geschäftliche Anforderungen reagieren zu können. Gallup systematisierte daraufhin die Antworten und entwickelte einen Index, um zu analysieren, wie es um die Agilität bestellt ist und an welchen Stellschrauben Unternehmen drehen können. Hierzu wurden im Jahr 2018 jeweils 4000 zufällig ausgewählte Arbeitnehmer ab 18 Jahren in Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien telefonisch interviewt (1000 Interviews pro Land). In den USA wurden mittels einer Online-Befragung 5500 Beschäftigte aus dem Gallup Panel befragt (offline-rekrutiertes Panel, das repräsentative Erhebungen per Online-Umfrage ermöglicht). Das Ergebnis: Insgesamt spielen acht Faktoren eine Rolle und entscheiden, ob ein Unternehmen agil oder träge ist.
Bei den Interviews fragte Gallup nicht explizit nach dem Thema Agilität oder nutzte den Begriff Agilität im Rahmen der Befragung.
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M. Nink
Acht Einflussfaktoren der Agilität
1. Kooperation, 2. Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung, 3. Fehlerkultur, 4. Empowerment, 5. Förderung neuer Technologien, 6. Simplizität, 7. Wissensaustausch und 8. Innovationsoffenheit
2.2.1 M itarbeiter von agilen Unternehmen blicken zuversichtlicher in die Zukunft Werden die Beschäftigten gefragt, wie in ihrem Unternehmen gearbeitet wird, ergibt sich ein eindeutiges Bild: Je mehr der erwähnten acht Faktoren verwirklicht sind, als desto agiler nehmen die Befragten ihr Unternehmen wahr. Sie empfinden dann, dass bei ihrem Arbeitgeber die richtige Einstellung vorherrscht und dieser über die richtigen Arbeitsmittel und Prozesse verfügt, um schnell auf Geschäftsanforderungen zu reagieren. Diese Personen stimmen jeder der drei Aussagen „Ich bin davon überzeugt, dass mein Unternehmen der Konkurrenz voraus ist“, „Ich habe Vertrauen in die fi nanzielle Zukunft meines Unternehmens“ und „Ich bin davon überzeugt, dass mein Unternehmen erfolgreich ist und wachsen wird“ deutlich häufiger vorbehaltlos zu als Befragte, die ihrem Unternehmen Agilität absprechen (siehe Abb. 2.1).
5 Ä6WLPPHYROOVWlQGLJ]X³ 63 %
62 % 53 %
48 %
44 %
42 % 31 %
30 % 21 %
Agil*
Teilweise agil*
Nicht agil*
Aussage: Ä,FK bin davon überzeugt, dass mein Unternehmen der Konkurrenz voraus ist.³ (2019)
Agil*
Teilweise agil*
Nicht agil*
Aussage: Ä,FK habe Vertrauen in die finanzielle Zukunft meines Unternehmens.³ (2019)
Agil*
Teilweise agil*
Nicht agil*
Aussage: Ä,FK bin davon überzeugt, dass mein Unternehmen erfolgreich ist und wachsen wird.³ (2019)
* Die Kategorisierung erfolgt basierend auf dem Antwortverhalten auf die beiden Aussagen Ä,Q meinem Unternehmen verfügen wir über die richtigen Arbeitsmittel und Prozesse, um schnell auf geschäftliche Anforderungen reagieren zu N|QQHQ³ und Ä,Q meinem Unternehmen haben wir die richtige Einstellung, um schnell auf geschäftliche Anforderungen reagieren zu können.³
Abb. 2.1 Agilität von hoher Relevanz für Wettbewerbsfähigkeit und Geschäftserfolg. (Quelle: © 2019, Gallup)
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steigen wird
Ja 2019
35 %
Nein 66 %
Fragestellung: Ä0DQFKPDO ändern sich die Arbeitsmittel und die Technik am Arbeitsplatz ± z. B. wenn neue Technologien, Geräte oder Arbeits- oder Produktionsprozesse eingeführt werden. Wie ist das bei Ihnen? Hat es solche Veränderungen im Jahr 2018 an Ihrem Arbeitsplatz JHJHEHQ"³
Ja
der Erfolg Ihres Unternehmens
gleich bleiben wird
48 %
Ihre Arbeitsproduktivität
46 %
die Anforderungen an Ihre Arbeitsleistung
sinken wird
38 %
59 %
die Anforderungen an Ihre Qualifikation
31
50 % 49 % 57 %
40 %
6% 4%
die Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
19 %
70 %
11 %
Ihr Gesundheitsrisiko
17 %
72 %
11 %
das Risiko, Ihre Arbeit zu verlieren 9 %
80 %
11 %
Fragestellung: Ä:LH werden diese Veränderungen Ihre Arbeit in den nächsten drei Jahren beeinflussen? Erwarten Sie, dass ..."³ [Arbeitnehmer, die angaben, dass es bei ihnen am Arbeitsplatz in den letzten 12 Monaten Veränderungen bezüglich neuer Technologien gegeben hat.] Prozentsätze können sich aufgrund von Rundungen auf 100 % +/- VXPPLHUHQ3UR]HQWZHUWHZHUGHQDXVJHZLHVHQZHQQ
Abb. 2.2 Technologie: Erfolgte Veränderungen und erwartete Auswirkungen. (Quelle: © 2019, Gallup)
In Deutschland setzen allerdings erst wenige Unternehmen die Kriterien um, die agile Unternehmen auszeichnen. Nur 3 % der befragten Arbeitskräfte stimmen mindestens sieben oder allen Agilitäts-Faktoren uneingeschränkt zu. Zum Vergleich: 31 % der Beschäftigten können keiner einzigen der acht Anforderungen ohne Wenn und Aber zustimmen.
2.2.2 M itarbeiter erwarten eher geringere persönliche Auswirkungen der Digitalisierung Die Digitalisierung hält Einzug in den beruflichen Alltag. Jeder dritte Arbeitnehmer (35 %) berichtet davon, dass sich bei ihm im Jahr 2018 Arbeitsmittel und Technik (Geräte, Arbeits- oder Produktionsprozesse) verändert haben. Das Gute: Mitarbeiter gehen selbstbewusst mit den neuen Entwicklungen in der Arbeitswelt um. Fragt man sie, inwieweit sich die Veränderungen in den nächsten drei Jahren auswirken werden, erwartet die Mehrheit der Beschäftigten, dass die Neuerungen den Erfolg ihres Arbeitgebers positiv beeinflussen werden (59 %). Bei allen anderen Auswirkungsmöglichkeiten auf das Arbeits- und Privatleben – Arbeitsplatzverlust, Arbeitsproduktivität, Anforderungen an die Arbeitsleistung, Gesundheitsrisiken, Work-Life-Balance, Qualifikationsanforderungen – erwarten die Befragten mehrheitlich keine größeren Auswirkungen (siehe Abb. 2.2). Am ehesten wird vermutet, dass durch die Veränderungen künftig die Anforderungen an die Qualifikation (48 % der von Veränderungen bei Arbeitsmitteln und Technik Betroffenen) zunehmen. Dies deutet darauf hin, dass sich Arbeitnehmer durchaus darüber
32
M. Nink Überhaupt nicht wahrscheinlich Nicht sehr wahrscheinlich
6%3%
Ziemlich wahrscheinlich Sehr wahrscheinlich
23 % 68 %
Fragestellung: Ä:LH wahrscheinlich ist es, dass die Stelle, die Sie derzeit innehaben, innerhalb der nächsten fünf Jahre aufgrund neuer Technologien, Automatisierung, Roboter oder künstlicher Intelligenz gestrichen ZLUG"³ Prozentsätze können sich aufgrund von Rundungen auf 100 % +/- 1 % summieren.
Abb. 2.3 Technologie und Arbeitsplatzverlust. (Quelle: © 2019, Gallup)
bewusst sind, dass ihre derzeitigen Skills und Erfahrungen an Bedeutung verlieren und Technologien wie Künstliche Intelligenz, Roboter, Big Data und Algorithmen vielerorts den Alltag durchdringen werden. Darüber hinaus halten es die Beschäftigten hierzulande noch für am wahrscheinlichsten, dass sich die Neuerungen positiv auf die Arbeitsproduktivität auswirken (46 %) und die Anforderungen an die Arbeitsleistung steigen werden (40 %).
2.2.3 Deutsche haben keine Angst vor dem „Kollegen Roboter“ Aber Angst vor dem „Kollegen Roboter“ hat die große Mehrheit der Arbeitnehmer nicht. Nur 9 % der Beschäftigten fürchten sich vor einem Jobverlust innerhalb der nächsten fünf Jahre durch Digitalisierung (siehe Abb. 2.3). Das steht im Widerspruch zu einigen Studien und Umfragen, die in den vergangenen Jahren vor dem Verlust von Arbeitsplätzen durch Digitalisierung und Automatisierung gewarnt haben. In den kommenden fünf Jahren könnten etwa 3,4 Millionen Stellen wegfallen, meldete die Frankfurter Allgemeine Zeitung unter Berufung auf eine Umfrage des IT-Verbands Bitkom unter 500 deutschen Unternehmen (Bitkom 2018, S. 17). Aus einer PwC-Studie geht hervor, dass bei 37 % der heutigen Arbeitsplätze ein hohes Risiko besteht, dass sie bis im Jahr 2035 durch Maschinen ersetzt werden (Hawksworth et al. 2018, S. 2). Zu einem ganz anderen Ergebnis kommt das Wirtschaftsforschungsinstitut IW: stark digitalisierte Unternehmen hätten ihre Belegschaft häufiger vergrößert als die weniger digitalisierten (Stettes 2018, S. 4). Zu dem Schluss, dass Roboter keine Arbeitsplatzkiller sind, kommt auch eine Studie des Düsseldorfer Instituts für Wettbewerbsökonomie. Analysiert wurden die Folgen der Automatisierung auf Arbeitsplätze in Deutschland zwischen den Jahren 1994 und 2014. Grundlage der Untersuchung war ein Datensatz der
2 Auf den Menschen kommt es an! – Die Bedeutung weicher Faktoren in der digitalen … Ä6WLPPHEHUKDXSWQLFKW]X³
2
3
4
33
5 Ä6WLPPHYROOVWlQGLJ]X³ 21 %
41 %
38 %
23 %
30 %
36 %
20 % 9% 7% Aussage: Ä,FK bin fest davon überzeugt, dass mein Unternehmen digitale Technologien einführen muss, um die Leistung zu verbessern.³ (2019)
24 %
21 % 13 %
8%
7%
Aussage: Ä,FK bin fest davon überzeugt, dass mein Unternehmen bereit ist, digitale Technologien einzuführen.³ (2019)
Aussage: Ä0HLQUnternehmen unterstützt mich dabei, meine Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubauen, um neue digitale Technologien effektiv zu nutzen.³(2019)
Prozentsätze können sich aufgrund von Rundungen auf 100 % +/- 1 % summieren. 3UR]HQWZHUWHZHUGHQDXVJHZLHVHQZHQQ
Abb. 2.4 Digital Readiness: Digitale Technologien ja, Skills nein. (Quelle: © 2019, Gallup)
International Federation of Robotics (IFR), der auf Befragungen führender Roboterhersteller basiert und 90 % des Weltmarkts abdeckt. Demnach kamen im Jahr 1994 in Deutschland auf 1000 Beschäftigte zwei Roboter, im Jahr 2014 waren es bereits 7,6 Roboter. Parallel dazu wurde das Beschäftigungswachstum untersucht. Die Studie kam zu dem Ergebnis, dass „Horrorszenarien einer unmittelbar bevorstehenden technologischen Arbeitslosigkeit übertrieben sind und einer soliden empirischen Grundlage entbehren“ (Dauth et al. 2018, S. 6). In Deutschland halten Arbeitnehmer neue Technologien für ihr Unternehmen durchaus für notwendig, was darauf hindeutet, dass sie ihnen aufgeschlossen gegenüber stehen. Der Aussage „Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Unternehmen digitale Technologien einführen muss, um die Leistung zu verbessern“ stimmen 41 % der Beschäftigten uneingeschränkt zu. Nahezu ebenso viele (38 %) tun dies bei der Aussage „Ich bin fest davon überzeugt, dass mein Unternehmen bereit ist, digitale Technologien einzuführen“. Dieser Aufgeschlossenheit steht jedoch gegenüber, dass sich die Beschäftigten eine bessere Unterstützung seitens ihrer Arbeitgeber wünschen würden, um besser dafür gerüstet zu sein, die digitalen Technologien bestmöglich zu nutzen. Lediglich jeder fünfte Beschäftigte (21 %) stimmt der Aussage „Mein Unternehmen unterstützt mich dabei, meine Fähigkeiten und Fertigkeiten auszubauen, um neue digitale Technologien effektiv zu nutzen“ uneingeschränkt zu (Abb. 2.4). Des Weiteren sind viele Unternehmen aus Sicht der Mitarbeiter nicht proaktiv genug, wenn es um neue Technologien geht. Die uneingeschränkte Zustimmung zu der Aussage „Mein Unternehmen führt bereitwillig neue Technologien ein, die uns dabei helfen, produktiver zu sein“ liegt nur bei 30 %. Neues scheint häufig nicht auf der Agenda zu stehen. Der Aussage „Wir sprechen oft über neue Technologien, Trends und Ideen, die für unsere Arbeit relevant sind“ stimmen lediglich 28 % der Beschäftigten ohne Wenn und Aber zu (siehe Abb. 2.5).
34
M. Nink Ä6WLPPHEHUKDXSWQLFKW]X³
2
30 %
28 %
24 %
29 %
30 %
27 %
12 % 4%
14 %
3
4
5 Ä6WLPPHYROOVWlQGLJ]X³
Aussage: Ä:LUsprechen oft über neue Technologien, Trends und Ideen, die für unsere Arbeit relevant sein könnten.³(2019)
Aussage: Ä0HLQ Unternehmen führt bereitwillig neue Technologien ein, die uns dabei helfen, produktiver zu sein.³ (2019)
Prozentsätze können sich aufgrund von Rundungen auf 100 % +/- 1 % summieren. 3UR]HQWZHUWHZHUGHQDXVJHZLHVHQZHQQ
Abb. 2.5 Technologie und Neues auf der Agenda? (Quelle: © 2019, Gallup) Ja Ja 55 %
Personen, die im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen haben, um ihre derzeitige Qualifikation zu erweitern (n=276).
42 %
Nein 45 %
21 %
Fragestellung: Ä+DEHQ Sie im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen, um Ihre derzeitigen Qualifikationen zu erweitern"³
20 %
14 % 3%
Ich selbst
Vorgesetzter
Unternehmen
Personalabteilung/ Aus- und Weiterbildungsabteilung
Andere
Fragestellung: Ä:HU hat Ihre Teilnahme an der Schulung oder Weiterbildung YHUDQODVVW"³ Ja Ja
Nein
58 %
41 % 42 %
Fragestellung: Ä+DEHQ Sie im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen, um neue Fähigkeiten zu erlernen"³
[Split-Half-Sample; jeweils n=500].
Personen, die im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen haben, um neue Fähigkeiten zu erlernen (n=292).
28 % 17 %
12 % 2%
Ich selbst
Unternehmen
Vorgesetzter
Personalabteilung/ Aus- und Weiterbildungsabteilung
Andere
Fragestellung: Ä:HU hat Ihre Teilnahme an der Schulung oder Weiterbildung YHUDQODVVW"³ Prozentsätze können sich aufgrund von Rundungen auf 100 % +/- 1 % summieren.
Abb. 2.6 Up- und Reskilling: Treiber Eigeninitiative. (Quelle: © 2019, Gallup)
Umlernen, neulernen, weiterlernen Um im Berufsleben nicht abgehängt zu werden, ist es entscheidend, dass Mitarbeiter ihre berufliche Qualifikation bewahren. Kontinuierliche Weiterbildung ist daher unerlässlich, um sich technischen Neuerungen anzupassen und die Kenntnisse sowie den Wissensstand auf einem Niveau zu halten, sodass man auch für die Arbeit der Zukunft qualifiziert ist. Lebenslanges Lernen wird somit an Bedeutung gewinnen. 55 % der Befragten haben im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen, um ihre derzeitige Qualifikation zu erweitern (Upskilling) und 58 % taten dies mit dem Ziel, neue Fähigkeiten zu erlernen (Reskilling). In beiden Fällen wurden die Schulungen oder Weiterbildungen mehrheitlich durch den Befragten selbst initiiert (42 % bzw. 41 %; siehe Abb. 2.6). Dabei zeigt sich, dass die Eigeninitiative für Schulungen oder Weiterbildungen allerdings weniger effektiv zu sein scheint, als wenn der Impuls für diese vom Vorgesetzten, der Personalabteilung oder dem Unternehmen ausgeht. Der Grund dafür dürfte darin zu suchen
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30 %
51 %
2
3
4
5 Ä6HKUJXWYRUEHUHLWHW³
25 %
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Eigeninitiative
Implus von Außen*
22 %
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Eigeninitiative Implus von Außen* Personen, die im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen haben, um neue Fähigkeiten zu erlernen.
Personen, die im Jahr 2018 an Schulungen oder Weiterbildungen teilgenommen haben, um ihre derzeitigen Qualifikationen zu erweitern.
Frage: Ä$XI einer 5-Punkte-Skala, wie gut vorbereitet fühlen Sie sich, basierend auf der von Ihnen absolvierten Schulung oder der Weiterbildung, um zukünftige Arbeitsplatzbedürfnisse zu HUIOOHQ"³ *Unternehmen insgesamt, Aus- und Weiterbildungs- oder Personalabteilung des Unternehmens oder der direkte Vorgesetzte. Prozentsätze können sich aufgrund von Rundungen auf 100 % +/- 1 % summieren. 3UR]HQWZHUWHZHUGHQDXVJHZLHVHQZHQQ
Abb. 2.7 Up- und Reskilling: Impulse von außen sind zielführender. (Quelle: © 2019, Gallup)
sein, dass die Eigeninitiative oftmals mit der Begeisterung oder dem Interesse für ein bestimmtes Thema einhergeht. Außenstehende können hingegen besser einschätzen, was für einen Mitarbeiter im Hinblick auf Personalentwicklung sinnvoll erscheint (40 % zu 30 %, wenn es bei der Maßnahme um die Erweiterung der derzeitigen Qualifikation geht; 37 % zu 25 %, wenn es bei der Maßnahme um das Erlernen neuer Fähigkeiten geht; siehe Abb. 2.7).
2.3
er Weg zum modernen Unternehmen führt über D einen Kulturwandel
Die meisten Unternehmen werden sich in den nächsten Jahren stark verändern, um in einer Welt zu bestehen, die als Folge von Globalisierung und Digitalisierung zunehmend volatiler, unsicherer, komplexer und mehrdeutiger wird. Vieles ist zurzeit im Wandel: Die deutschen Automobilhersteller bieten teilweise gemeinsam Carsharing-Dienste an (Handelsblatt 2018), Stahlproduzenten wie ThyssenKrupp werden zu Stahlhändlern im Internet (Wirtschaftswoche 2016) und der Lichthersteller Signify (ehemals Philips Lighting) sucht seine Zukunft in neuen, digitalen Beleuchtungsservices in der Stadt, in Shops oder Stadien (Handelsblatt 2019). Der von außen getriebene Wandel zieht auch Veränderungen innerhalb des Unternehmens nach sich – und zwar in Prozessen, Strukturen und Arbeitsbe ziehungen. Das weit verbreitete Verständnis ist daher, dass Unternehmen agil sein müssen, um schnell auf Veränderungen reagieren zu können. Angesichts zunehmenden Spezialwissens, das für die Bewältigung von Herausforderungen und Problemlösungen notwendig ist, sind interdisziplinäre Teams die logische Konsequenz, um die Agilität eines Unternehmens zu fördern. Dementsprechend werden in Zukunft abteilungsübergreifende Tätigkeiten zunehmen und Abteilungsgrenzen immer mehr verschwimmen. Aktuell arbeitet jeder fünfte Beschäftigte (21 %) täglich in verschiedenen Teams mit unterschiedlichen Personen zusammen. Bei einem Drittel der Arbeitnehmer (34 %) ist dies zumindest manchmal der Fall, während jeder zehnte Beschäftigte
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M. Nink
Abb. 2.8 Organisationsstruktur und Agilität (1): kein Effekt. (Quelle: © 2019 Gallup)
Abb. 2.9 Organisationsstruktur und Agilität (2): kein Effekt. (Quelle: © 2019, Gallup)
(11 %) mit Personen zusammenarbeitet, die an eine andere Führungskraft berichten als er selbst. Allerdings lag der Anteil der Beschäftigten, die ihr Unternehmen als agil wahrnehmen, lediglich bei etwa 10 % – unabhängig davon, ob die befragte Person angab, vermehrt mit den gleichen oder wechselnden Kollegen zu arbeiten (siehe Abb. 2.8 und 2.9). Die Organisationsstruktur allein ist also kein Erfolgsgarant für Agilität. Entscheidend ist vielmehr die Unternehmenskultur.
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2.3.1 T eams müssen verschieden sein und die Stärken ihrer Mitglieder kennen Mitarbeiter mit ganz unterschiedlichen Hintergründen sind der Schlüssel für neue Impulse. Unternehmen stehen Kunden gegenüber, die einer komplexen und vielseitigen Lebenswelt angehören und nur erreicht werden können, wenn Unternehmen sie verstehen und vielfältige Lösungen anbieten. Am besten funktioniert dies, wenn Teams so divers wie möglich besetzt sind (unter anderem Alter, Geschlecht, Nationalität, sexuelle Orientierung, soziale Prägung, Interessen, Qualifikationen). Um solch ein diverses Team zu etablieren, müssen Führungskräfte dem Impuls widerstehen, sich nur mit Menschen zu umgeben, die ihnen ähneln. Erfolgreiche Teams bestehen in der Regel aus Personen, die sich gut ergänzen. Allerdings kennt nicht einmal jeder dritte Arbeitnehmer (29 %) die Stärken und Talente seiner Kollegen, wie aus Daten des Jahres 2014 hervorgeht. Den Austausch hierüber gilt es zu fördern, wenn Unternehmen agil in die Zukunft schauen wollen. Denn nur, wenn Mitarbeiter Kenntnis da rüber haben, welche Stärken und Talente die Personen in ihrem Umfeld haben, wissen sie, wie diese denken und handeln. Entsprechend kommt es seltener zu Missverständnissen, die zulasten einer effektiven Zusammenarbeit gehen. Die Forschung zeigt, dass die besten Beziehungen Folgendes auszeichnet: eine gleiche Zielsetzung, Fairness, Vertrauen, Akzeptanz und kontinuierliche Kommunikation sowie Nachsicht bei Fehlern und Selbstlosigkeit (Wagner und Muller 2009). Darüber hinaus sind Zuverlässigkeit sowie Kommunikations- und Organisationsfähigkeit für das gute Funktionieren von Teams entscheidend. Diese Eigenschaften werden als deutlich wichtiger bewertet als eher moderne Qualitäten wie Kreativität, visionäres Denken oder Risikobereitschaft (Pela und Zimmermann 2019, S. 14 f.). Zentral für gute Teamarbeit ist psychologische Sicherheit, welche vor allem dann vorhanden ist, wenn Vertrauen vorherrscht. Allerdings stimmen nur vier von zehn Arbeitnehmern (42 %) der Aussage „Mein Vorgesetzter/Meine Vorgesetzte sorgt für eine vertrauensvolle und offene Atmosphäre“ uneingeschränkt zu. Je eher ein sicheres Umfeld gegeben ist, desto größer ist nicht nur das Vertrauen in den eigenen Vorgesetzten, sondern auch in die Kollegen, mit denen regelmäßig gearbeitet wird (siehe Abb. 2.10). Eine vertrauensvolle und offene Atmosphäre entsteht, wenn Führungskräfte offen für Kritik sind, sich für den Menschen hinter der Arbeitskraft interessieren und diesen mit Respekt behandeln. Vertrauen führt dazu, dass Menschen sich eher trauen querzudenken, Ideen zu artikulieren, Fehler anzusprechen und Kritik zu üben.
2.3.2 Mehr Autonomie für die Mitarbeiter Auch steigt in der heutigen Zeit der Bedarf eigenverantwortlich handelnder Mitarbeiter, da die sich ständig ändernden äußeren Rahmenbedingungen und die kontinuierliche Komplexitätszunahme es oftmals nicht erlauben, alle potenziellen Entwicklungen vorherzusehen und zu steuern. Dies hat zur Folge, dass Unternehmen nicht alles von oben nach unten durch-
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M. Nink Ich vertraue meinem Vorgesetzten/meiner Vorgesetzten. Ich vertraue meinen Kollegen und Kolleginnen, mit denen ich regelmäßig zusammenarbeite.
79 %
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Bewertung mit 1-3
Bewertung mit 4
Bewertung mit 5 (stimme vollständig zu)
Aussage: Ä0HLQ Vorgesetzter/Meine Vorgesetzte sorgt für eine vertrauensvolle und offene Atmosphäre.³
Abb. 2.10 Vertrauen am Arbeitsplatz beginnt mit dem Vorgesetzten. (Quelle: © 2019, Gallup)
deklinieren können. Sie müssen ihre Mitarbeiter dazu befähigen, selbstständig Entscheidungen zu treffen und autonom zu arbeiten. Allerdings fühlt sich nur ein kleiner Teil der Beschäftigten in Deutschland tatsächlich dazu in der Lage: Lediglich jeder vierte Arbeitnehmer (27 %) stimmt der Aussage „In meinem Unternehmen wird denjenigen vertraut, Entscheidungen zu treffen, die mit der jeweiligen Aufgabe am vertrautesten sind“ ohne Wenn und Aber zu. Dies legt den Schluss nahe, dass Führungskräfte Mitarbeitern kaum Vertrauen entgegenbringen und stattdessen weiterhin meist viele Schritte anweisen und überprüfen. Von Verantwortung und Gestaltungsspielraum kann demnach nicht die Rede sein.
2.3.3 Wissen ist das einzige Gut, das sich vermehrt, wenn man es teilt Um den heutigen Herausforderungen gerecht zu werden, müssen sich Abteilungen und Bereiche, die als Silos arbeiten, öffnen. Damit sich das im Unternehmen verteilte (Spezial-)Wissen effektiv zusammenführen lässt, sind die Bereitschaft zu (Wissens-)Austausch und schnittstellenübergreifender Kooperation unabdingbar. Allerdings berichtet ein nicht unerheblicher Teil der Arbeitnehmer hierzulande immer noch von Barrieren. Der Aussage „In meinem Unternehmen teilen wir Informationen, Wissen und Ideen offen miteinander“ stimmt jüngst nur jeder dritte Beschäftigte (35 %) uneingeschränkt zu. Und nur jeder vierte Arbeitnehmer (24 %) erklärt, dass er mit der Zusammenarbeit zwischen seiner eigenen und anderen Abteilungen vollends zufrieden ist.
2.3.4 Aus Routinen ausbrechen, Fehler zulassen Die sich aus Austausch und Kooperation ergebenden verschiedenen Perspektiven und Blickwinkel sowie die damit verbundene gegenseitige Stimulation helfen in der Regel
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Abb. 2.11 Vertrauen ist zentral für das Experimentieren. (Quelle: © 2019, Gallup)
dabei, sich gegenseitig auf neue Ideen zu bringen, aber auch, neue Ideen kritisch auf ihren Erfolg hin zu überprüfen. Verbesserungen entstehen meist nur, wenn Teams vermeintliche Gewissheiten und Routinen in Frage stellen. Dafür ist jedoch ein Umfeld entscheidend, das offen für Vorschläge ist und Mitarbeiter bestärkt, diese einzubringen. Aber nur jeder dritte Beschäftigte (34 %) fühlt sich hierzu voll und ganz ermutigt. Ferner gehört zu einer innovationsfreundlichen Kultur, wie mit Fehlern umgegangen wird. Die Fehlerkultur in Deutschland ist jedoch deutlich verbesserungswürdig. Der Aussage „Mein Unternehmen schafft ein Arbeitsumfeld, in dem sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausprobieren, scheitern und aus Fehlern lernen können“ stimmt lediglich jeder vierte Beschäftigte (24 %) ohne Vorbehalt zu. Gerade hier zeigt sich die Wichtigkeit des bereits erwähnten Vertrauens. Die uneingeschränkte Zustimmung zu der Aussage „Mein Unternehmen schafft ein Arbeitsumfeld, in dem sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen ausprobieren, scheitern und aus Fehlern lernen können“ ist unter denjenigen Befragten deutlich aus geprägter, die ihren Vorgesetzten bescheinigen, dass diese für eine vertrauensvolle und offene Atmosphäre sorgen (35 % zu 7 %; siehe Abb. 2.11). Mitarbeiter sollten idealerweise in dem Gefühl bestärkt werden, dass sie neue Ideen ohne Angst vor Misserfolgen ausprobieren können und dass Fehler Teil kreativer Entwicklungsprozesse sind. Um Innovationen hervorzubringen, sind Versuch und Irrtum unabdingbar.
2.3.5 Schnellere Entscheidungen und mehr Pragmatismus Um auf dem Markt erfolgreich zu sein, müssen Chancen und Risiken schnell erkannt und es muss auf sie ebenso zügig reagiert werden. Aber wie schnell wird beispielsweise auf digitale Herausforderungen reagiert? Mitarbeiter in Deutschland berichten vielfach von langsam ablaufenden Entscheidungsfindungsprozessen. Der Aussage „Ich bin mit der Geschwindigkeit, mit der bei uns am Arbeitsplatz Entscheidungen getroffen werden, zufrieden“ stimmen nur 18 % der Arbeitnehmer uneingeschränkt zu. An dieser Auffassung hat sich gegenüber dem Jahr 2013 (19%) nichts Wesentliches verändert. Damals wurde diese Aussage Arbeitnehmern schon einmal zur Bewertung vorgelegt. Grundsätzlich ist unter Arbeitnehmern der Eindruck weit verbreitet, dass es ihrem Arbeitgeber an Pragmatismus fehlt. Lediglich jeder vierte Beschäftigte (28 %) stimmt ohne Wenn und Aber der
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Abb. 2.12 Gerät Deutschland ins Hintertreffen? (Quelle: © 2019, Gallup)
Aussage zu: „In meinem Unternehmen suchen wir immer nach dem effizientesten Weg, Arbeit zu erledigen“.
2.3.6 Bei der Einstellung hat Deutschland Nachholbedarf Bei der Betrachtung dieser mitarbeiterseitigen Einschätzungen scheinen Unternehmen von Agilität noch weit entfernt zu sein. Und das, obwohl es kaum Unternehmensentscheider gibt, die die agile Organisation nicht als Antwort auf die Herausforderungen unserer Zeit ansehen. Allerdings ist Agilität bekanntermaßen nicht nur eine Frage von Arbeitsmitteln und Prozessen, sondern auch der Einstellung. Bei beiden Aspekten, die Hand in Hand gehen müssen, lassen sich Herausforderungen ausmachen. So stimmt der Aussage „In meinem Unternehmen verfügen wir über die richtigen Arbeitsmittel und Prozesse, um schnell auf geschäftliche Anforderungen reagieren zu können“ nur jeder fünfte Beschäftigte (20 %) vorbehaltlos zu. Das Statement „In meinem Unternehmen haben wir die richtige Einstellung, um schnell auf geschäftliche Anforderungen reagieren zu können“ erhält lediglich durch ein Viertel der Arbeitnehmer (27 %) uneingeschränkte Zustimmung. Diese Ergebnisse zeigen deutliche Defizite in puncto Agilität auf. Und tatsächlich befindet sich Deutschland im Fünf-Länder-Vergleich mit Großbritannien, Frankreich, Spanien und den Vereinigten Staaten von Amerika auf dem letzten Platz (siehe Abb. 2.12).3
Während die Daten für die europäischen Länder aus dem Jahr 2019 stammen, beziehen sich die Daten für die USA auf das jüngste verfügbare Ergebnis aus dem Jahr 2018.
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Der Mangel an wahrgenommener Agilität in Deutschland kann allerdings auch strukturelle Gründe haben. Denn die durch Produktionsunternehmen (Maschinen- und Anlagenbau, Automobilindustrie, Elektrotechnik) geprägte deutsche Wirtschaft besitzt Zeit ihres Lebens einen hohen Qualitätsfokus (Made in Germany) mit klar definierten Strukturen und Abläufen. Aus diesem Grund stehen Entscheider neuen Management-Denkweisen eher skeptisch gegenüber. Andererseits haben sich vor allem deutsche Industrie-Unternehmen bisher erfolgreich am Markt behauptet, sodass augenscheinlich keine Notwendigkeit besteht, Bisheriges zu hinterfragen. Jedes Unternehmen sollte sich jedoch heute die Frage stellen, ob sein Geschäftsmodell auch in fünf Jahren noch funktionieren wird und was getan werden muss, um auch in Zukunft erfolgreich zu sein. Zumal die erhobenen Daten mit Blick auf Produktionsunternehmen zeigen, dass Agilität und Qualität kein Widerspruch sind. So stimmen im Jahr 2018 in agilen Unternehmen zwei Drittel der Beschäftigten (64 %) uneingeschränkt der Aussage zu: „In meinem Unternehmen geben wir Qualität die gleiche Priorität wie Lieferzeit oder Kosten.“ In nicht-agilen sind es hingegen nur 29 %.
2.4
azit: Führungskräfte bleiben auch in agilen F Unternehmen Vorbilder
Für alle Unternehmen, egal an welcher Stelle sie sich im Transformationsprozess hin zu mehr Agilität befinden, gilt: Die Mitarbeiter bleiben Menschen und ihre zentralen emotionalen Bedürfnisse sind beständig – angefangen bei regelmäßigem positiven und konstruktiven Feedback über die Tatsache, dass Mitarbeitern zugehört wird und sie in Entscheidungen einbezogen werden bis zur Möglichkeit der persönlichen und fachlichen Weiterentwicklung. Daher sind auch zukünftig Führungskräfte erforderlich, die in der Lage sind, diese Aspekte zu erfüllen, und zwar mit dem Ziel, das Beste aus jeder Person herauszuholen. Dabei sollten sich Führungskräfte darüber bewusst sein, dass sie diejenigen sind, die durch ihr Verhalten einen erheblichen Einfluss auf die Unternehmenskultur haben: Ihnen kommt eine wichtige Vorbildrolle zu, indem sie die gewünschten Verhaltensweisen am Arbeitsplatz vorleben und somit die angestrebte Unternehmenskultur zum Leben erwecken. Einige Beispiele: • Fehlerkultur: Führungskräfte können diese fördern, indem sie zugeben, selbst nicht alles zu wissen, oder ihre eigene Fehlbarkeit aufzeigen, beispielsweise mit „Geschichten“ über eigene Fehlschläge. Auch können sie eine Plattform für den Austausch von „Lessons Learned“ schaffen, etwa in Form eines Agendapunktes in regelmäßig stattfindenden Teammeetings, um so den effektiven Umgang mit Fehlern zu demonstrieren. Haben Mitarbeiter das Gefühl, dass konstruktiv mit Fehlern umgegangen wird, nimmt die Angst ab, Fehler zu begehen. Dies führt wiederum dazu, dass sich Mitarbeiter (mehr) trauen und so aus der Passivität herausgeholt werden. Allerdings gilt es, klar zu definieren und zu kommunizieren, wann Fehlermachen akzeptabel ist und wann nicht.
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In der Produktion hingegen sollte eine Null-Fehler-Toleranz nach dem Prinzip „Auf Anhieb richtig“ vorherrschen. Fehler fernab von kostenlosen Apps können verheerende Folgen haben – im schlimmsten Fall können sie tödlich sein. In der App-Ökonomie gilt allgemein der Grundsatz, lieber schneller irgendetwas Unausgegorenes auf den Markt bringen, als lange an einem ausgereiften Angebot zu arbeiten. Jedes technische Produkt hingegen muss bei der Auslieferung ohne Wenn und Aber perfekt sein. Die interne Qualitätskontrolle muss vor der Auslieferung des Produkts Fehler erkennen. Rückrufaktionen sind mit hohen Kosten verbunden und schädigen den Ruf des Unternehmens. • Innovationen: Vorgesetzte können diese fördern, indem sie Mitarbeiter ermutigen, eingetretene Pfade zu hinterfragen, und zum Querdenken anregen. Dabei gehen sie am besten als gutes Beispiel voran, indem sie selbst Routinen in Frage stellen und Experimentierfreude an den Tag legen, aber auch, indem sie ihren Mitarbeitern Zeit und Raum für den Dialog mit anderen einräumen. Gespräche – insbesondere in unterschiedlichen Mitarbeiterkonstellationen – beflügeln in der Regel die eigenen Gedanken und bringen neue Perspektiven. Darüber hinaus können Führungskräfte Innovationen fördern, indem sie ihre Mitarbeiter aktiv einladen, Ideen zu entwickeln. Hierzu können sie beispielsweise grundsätzlich mehr als einen Lösungsansatz von ihren Teammitgliedern einfordern. Mitarbeiter sind dadurch „verpflichtet“, verschiedene Ideen zu entwickeln und eine Situation aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten und zu durchdenken. Führungskräfte sollten sich dabei als Sparringspartner anbieten und ganz wesentlich: Sie müssen sich ernsthaft mit den Lösungsvorschlägen ihrer Mitarbeiter auseinandersetzen und Feedback geben. • Empowerment: Da vermehrt Spezialwissen gefragt ist, wird es zunehmend wahrscheinlicher, dass Führungskräfte über bestimmtes Wissen nicht mehr selbst verfügen. Sie müssen daher Verantwortung abgeben sowie Entscheidungsgewalt übertragen und ihren Mitarbeitern Vertrauen schenken. Dazu müssen sich Führungskräfte einerseits zurücknehmen, andererseits aber auch Entscheidungen ihrer Mitarbeiter einfordern. Es ist durchaus denkbar, dass Mitarbeiter den vorhandenen Spielraum für eigenständiges Handeln nicht nutzen, weil die Führungskraft den Eindruck vermittelt, alles besser zu wissen oder nicht loslassen zu können. Diese Wahrnehmung entsteht etwa, wenn Mitarbeiter häufig korrigiert werden oder ihnen Fehler noch Monate später vorgehalten werden. Dementsprechend haben Mitarbeiter Angst, etwas falsch zu machen, und als Folge dessen ziehen sie sich in die Passivität zurück, anstatt die Initiative zu ergreifen. Auch erfordert mehr Autonomie am Arbeitsplatz ein gewisses Maß an Disziplin und Selbstorganisation – etwas, was für manche Mitarbeiter zunächst auch eine Herausforderung darstellen kann. Führungskräfte sollten Mitarbeiter daher auf dem Weg zu mehr „Freiheit“ begleiten, indem sie jeden Mitarbeiter dabei unterstützen, herauszufinden, wie er für sich am besten arbeitet und ihm oder ihr dabei mit Rat und Tat zur Seite stehen. • Kooperation: Führungskräfte können eine Aufspaltung und Abgrenzung in „wir“ gegen „die anderen“ vermeiden, indem sie als Vorbild für gelungene Zusammenarbeit fungieren. Dies erreichen sie, wenn sie sich aktiv für Zusammenarbeit anbieten, um zu verdeut-
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lichen, dass es wichtig ist, im Sinne des Unternehmenserfolgs an einem Strang zu ziehen. Auch sollten sie Multiplikatoren sein, indem sie betonen, dass die Bewältigung heutiger Herausforderungen schnittstellenübergreifender Kooperation und der Bereitschaft zum Wissensaustausch bedarf. Daneben gilt es, die übergreifende Zusammenarbeit und den Austausch, etwa durch gemeinsame Projekte, zu fördern, um Themen in gemischten Teams voranzutreiben oder Ideen zu entwickeln. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass ein Umfeld, in dem über Abteilungen und Bereiche hinweg zusammengearbeitet wird und in dem Mitarbeiter unabhängig Entscheidungen treffen, ein größeres Konfliktpotenzial birgt. Daher müssen Führungskräfte in der Lage sein, diese Konflikte konstruktiv zu lösen, aber auch „Reibungen“ vorzubeugen, in dem sie den Austausch von Informationen und die Transparenz von Entscheidungen vorleben und Vorbild für Absprachen sind (unter anderem fristgerechte Bereitstellung von Informationen und Dokumenten). Darüber hinaus gilt es, Mitarbeiter dafür zu sensibilisieren, dass sie angesichts von mehr eigener Autonomie auch Rücksicht auf die Freiheit der anderen nehmen und Kompromisse eingehen müssen (unter anderem Termine für Meetings, Telefon- und Videokonferenzen, Nutzung von Kommunikationstools), damit eine effektive Zusammenarbeit gelingt. Die Daten zeigen, dass es auf dem Weg zu einem ganzheitlichen agilen Unternehmen auf ein Zusammenspiel von Verhaltensweisen, Prozessen und Strukturen ankommt. Je besser eine Agilitätskomponente (Kooperation, Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung, Fehlerkultur, Empowerment, Förderung neuer Technologien, Simplizität, Wissensaustausch und Innovationsoffenheit) realisiert ist, desto eher wird dem Unternehmen auch Agilität bescheinigt. Und je mehr Agilitätskomponenten verwirklicht sind, als desto agiler wird das Unternehmen wahrgenommen. Arbeitnehmer, die keine der acht Agilitätskomponenten implementiert sehen, nehmen ihr Unternehmen kaum als agil wahr (4 %). Beschäftigte, die alle der insgesamt acht Agilitätskomponenten realisiert sehen, stufen ihr Unternehmen mit großer Mehrheit als agil ein (73 %). Entscheidend ist für Unternehmen daher nicht nur, an einer oder zwei Stellschrauben zu drehen, sondern ein Bündel von Maßnahmen auf den Weg zu bringen.
Handlungsempfehlungen
• Gestalten Sie jede Tätigkeit und jeden Prozess so einfach wie möglich. • Setzen Sie Technologien ein, um Mitarbeiter dabei zu unterstützen, ihre Ar beitszeit möglichst effizient und produktiv zu nutzen. • Beseitigen Sie jede Art von Bürokratie bei der Entscheidungsfindung. • Definieren Sie, welche Risiken eingegangen werden können und welche Fehler tolerierbar sind. • Fördern Sie, dass sich jeder im Unternehmen mit Ideen und Vorschlägen einbringen kann. • Beseitigen Sie Silos zwischen Teams und Abteilungen und schaffen Sie Möglichkeiten für regelmäßigen Informations-, Ideen- und Wissensaustausch.
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M. Nink
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Marco Nink ist EMEA Lead Research & Analytics bei Gallup. Der Berater verantwortet die Studie „Gallup Engagement Index“ seit dem Jahr 2001. Die Studie zählt zu den renommiertesten und umfangreichsten Erhebungen zur Arbeitsplatzqualität in Deutschland.
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Digital Mindset zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen Julian Knorr
Inhaltsverzeichnis 3.1 R elevanz des Mindsets im digitalen Zeitalter 3.2 Inhalt und Messung des digitalen Mindsets 3.2.1 Mehr als eine Einstellung oder Haltung 3.2.2 Veränderung eines Mindsets 3.2.3 Sechs zentrale Dimensionen 3.2.4 Digital Mindset Awareness – Ausgangspunkt jeder digitalen Transformation 3.3 futurefit Check – Schaffung einer Digital Mindset Awareness bei Lufthansa 3.3.1 Ausgangslage 3.3.2 Entwicklung überfachlicher Kompetenzen für das digitale Zeitalter 3.3.3 Entwicklungsteam und -vorgehen des futurefit Checks 3.3.4 Fazit futurefit Check 3.4 Projektablauf zur Schaffung einer Digital Mindset Awareness 3.5 Fazit Literatur
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J. Knorr (*) Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_3
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J. Knorr Schlüsselwörter
Digital Mindset · Digitale Kompetenzen · Learning · Mindset · Workforce Transformation cc
3.1
Lesernutzen In diesem Beitrag erfahren Sie, warum das Mindset für eine erfolgreiche Transformation und die Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen besonders relevant ist. Nach einer Begriffsklärung des Mindsets wird anhand eines Praxisbeispiels bei der Deutschen Lufthansa AG ein exemplarisches Projekt gezeigt, bei welchem mit einer Standortanalyse des Mindsets eine große Workforce-Transformation gestartet wurde. Abschließend bekommen Sie eine Checkliste mit konkreten Handlungsempfehlungen, wie Sie eine Work force-Transformation mit dem Mindset als Ausgangspunkt starten können.
Relevanz des Mindsets im digitalen Zeitalter
Das Wort „Digitalisierung“ ist mittlerweile aus den täglichen (Wirtschafts-)Nachrichten nicht mehr wegzudenken und hat Eingang in die Alltagssprache gefunden. Die ersten Schlagwörter, die einem dabei in den Kopf kommen, sind meist sehr technisch: „künstliche Intelligenz“, „Software“, „App“, „Coding“, „Blockchain“ etc. Die Digitalisierung beeinflusst stark unser berufliches wie privates Leben, sie ermöglicht Produkt-, Dienstleistungs-, Prozess- und Geschäftsmodellinnovationen. „Immer kürzere Produktlebenszyklen, sich stetig wandelnde Kundenwünsche und der Trend zur Individualisierung von Produkten und Dienstleistungen zwingen zum Umdenken.“ (Keuper et al. 2018, S. 166). Gleichzeitig wird immer wieder betont, dass man die Digitalisierung nicht verschlafen und den Anschluss nicht verlieren darf. Dies ist richtig, jedoch im direkten Kontext mit Technologien zu voreilig. Denn hierbei wird von einer Herausforderung bzw. Chance der Digitalisierung sofort auf ein mögliches Lösungsszenario (z. B. aus unserem Geschäftsmodell muss eine Plattform entstehen) gesprungen. Jedoch wird der Weg zu diesen möglichen Lösungsszenarien komplett vergessen. Denn für diese sind immer Menschen und deren sogenannte Soft Skills erforderlich (z. B. Kommunikationsfähigkeit, Teamfähigkeit), um sie zunächst zu entdecken, dann zu bewerten, zu verarbeiten und zu entwickeln oder ggf. zu verwerfen. „Der Umgang des Menschen mit dem Menschen ist geprägt von der Qualität des Verhaltens, was die Grundlage dieser Interaktion ist.“ (Hansel 2010, S. 13). Somit rücken die Hard Skills (z. B. Programmierkenntnisse) erst einmal in den Hintergrund und das Mindset (die gesammelte Ausprägung von Persönlichkeitseigenschaften) wird entscheidend. Im Zuge der Digitalisierung wird immer wieder über die exponentielle Entwicklung der Technologie als Treiber von gesellschaftlicher und unternehmerischer Veränderung gesprochen. Dabei wird auf das Mooresche Gesetz verwiesen, welches besagt, dass sich die Komplexität integrierter Schaltkreise mit minimalen Komponentenkosten alle zwölf bis 24 Mo-
3 Digital Mindset zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen
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nate Jahre verdoppelt. Dies führt dazu, dass sich digitale Technologie nicht mehr linear (1-2-3-4-5 usw.), sondern exponentiell (1-2-4-8-16 usw.) entwickelt. Früher war der technologische Fortschritt eher linear und die nächsten Entwicklungsschritte waren somit sehr gut und genau prognostizierbar (z. B. hat sich die Entwicklung der Mobilität mit dem Automobil linear entwickelt: Die PS-Anzahl ist kontinuierlich seit der Erfindung des Verbrennungsmotors gestiegen). Lineare Entwicklungen sind für Menschen normal und am leichtesten verständlich. Durch die nun digitale Entwicklung der Technologie hat sich die Entwicklungsgeschwindigkeit jedoch extrem beschleunigt und verläuft nun exponentiell. Dadurch nimmt der Innovationsdruck für Unternehmen immer weiter zu. Denn durch die gleichzeitige Globalisierung und dadurch entstehende offene Märkte ist so gut wie in jeder Branche jedes Unternehmen (und sei es noch so groß und etabliert) von Start-ups und Newcomern mit neuerer und besserer Technologie angreifbar. Durch neue Technologien können Unternehmen Kundenwünsche anders und mitunter sogar ganz neu befriedigen und dadurch bislang bestehende Wege der Bedürfnisbefriedigung aushebeln. Sobald eine Awareness für diese rasante Veränderungsgeschwindigkeit und diesen Innovationsdruck in (etablierten) Unternehmen besteht, sind Unternehmen in der Lage, sich mit relevanten neuen Themen und Technologien zu beschäftigen und entsprechendes Know-how aufzubauen. Diese exponentielle technologische Entwicklung hat erhebliche Auswirkungen auf die zukünftige Entwicklung menschlicher Kompetenzen. Waren wir es in der Vergangenheit gewohnt, unsere Kompetenzen linear zu entwickeln, so ist dies durch die technologische Entwicklung nicht mehr möglich, denn es ist nicht mehr prognostizierbar, welche fachlichen Fähigkeiten (Hard Skills) in Zukunft gebraucht werden. Früher war es nach der Ausbildung/dem Studium möglich, sich in einem Fachbereich zu spezialisieren und das Wissen in einem linearen Prozess zu vertiefen. Dies bedeutet, dass die klassische Fachfortbildung nach ein oder zwei Jahren das richtige Mittel war, um sich weiterzuentwickeln und auf dem Stand der Zeit zu bleiben. Durch diese Art der Fortbildung waren Karrierepläne auch relativ gut vorhersagbar und planbar. Doch diese Konzentration auf Hard Skills reicht nicht mehr aus, da nicht planbar ist, welche Hard Skills in zwei, fünf oder zehn Jahren gebraucht werden. Versetzen wir uns in das Jahr 2006 zurück: Damals gab es noch kein iPhone und fast keine Smartphones. Somit wurde die fachliche Fähigkeit, eine mobile Anwendung (App) zu entwickeln und zu programmieren, kaum bis gar nicht gebraucht und auf dem Arbeitsmarkt nachgefragt. Durch den Launch des iPhones und von vielen weiteren Smartphones in den Jahren ab 2007 hat sich diese Situation jedoch grundlegend geändert: Mittlerweile ist die Fähigkeit, Apps zu entwickeln, eine Kernkompetenz von Programmierern und ganze Unternehmen sind mit einem Fokus hierauf gegründet worden. Doch wer ist heute nun in der Lage, Apps zu programmieren? Sind es per se nur Menschen, die in den 1990er-Jahren eine Ausbildung zum App-Programmierer gemacht haben oder ein entsprechendes Studium erfolgreich abgeschlossen haben? Nein, es sind Menschen aus unterschiedlichen Fachrichtungen (Design, Informatik, Kundenservice etc.), die das entsprechende Mindset hatten, um sich weiterzuentwickeln, und die offen und agil auf Veränderungen am Markt reagiert haben. Dies sind elementare Dimensionen
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des digitalen Mindsets. Ein weiteres Beispiel hierzu ist die Technologie des Digital Twin (https://www.iosb.fraunhofer.de/servlet/is/81711/), welche Ende des Jahres 2017 auf den Markt gekommen ist. Mittlerweile sind Experten in diesem Bereich in vielen Branchen gefragt. Sie kommen ebenfalls nicht – aufgrund der Neuartigkeit der Technologie – aus dem Digital-Twin-Bereich, sondern aus anderen technologischen Bereichen, haben sich weitergebildet und sind so in relativ kurzer Zeit zu Experten geworden. Diese Entwicklung wird in der Zukunft noch viel häufiger und vor allem auch in kürzeren zeitlichen Abständen zu sehen sein – ganz im Sinne der Exponentialkurve. Durch die schnelle und exponentielle Entwicklung von Technologie, welche anhand zweier Beispiele gezeigt wurde, sollten Menschen im Sinne eines lebenslangen Lernens situativ immer wieder neue Hard Skills erlernen. Damit dies funktionieren kann, ist jedoch eine bestimmte Ausprägung des Mindsets elementar. Dies bedeutet nicht, dass jeder für die Zukunft die gleiche Ausprägung eines Mindsets benötigt, sondern für unterschiedliche Bereiche werden unterschiedliche Ausprägungen des digitalen Mindsets erfolgsentscheidend sein.
3.2
Inhalt und Messung des digitalen Mindsets
Über das Mindset wird gerade im Zuge der digitalen Transformation sehr viel gesprochen und das Wort wird zum Teil inflationär und ohne wirklichen fachlichen Hintergrund verwendet (z. B. ergibt die Suche nach dem Begriff „Mindset“ 151.000.000 Treffer bei Google – Stand 02.08.2019). Ist der Begriff „Mindset“ so neu wie der Begriff der Digitalisierung oder gibt es ihn schon länger? Und: Was ist ein „Mindset“ eigentlich und gibt es Möglichkeiten, dieses messbar zu machen? Diese Fragen hat sich das Beratungs-Start-up ONESTOPTRANSFORAMTION immer wieder gestellt und den Begriff „Digitales Mindset“ daraufhin genauer untersucht und unter Anwendung der klassischen Testtheorie den ersten Persönlichkeitstest für das digitale Mindset entwickelt.
3.2.1 Mehr als eine Einstellung oder Haltung Am Anfang galt es zunächst einmal zu klären, was ein „Mindset“ überhaupt ist. Mindset bedeutet auf Deutsch übersetzt „Aufstellung und Einstellung des Verstandes“. Mit dem Mindset wird also die Art und Weise beschrieben, wie Menschen denken und handeln. Hiermit ist aber nicht nur individuelles Denken gemeint, sondern auch die Denkund Handlungslogik von Unternehmen, mit der sie das Denken ihrer Mitarbeiter und deren Interaktionen prägen (Hofert 2018, S. 3). Es handelt sich hierbei nicht um eine Haltung, d. h. um eine Einstellung (Attitude) gegenüber einem Thema. Denn eine Einstellung kann sich relativ schnell verändern und eine andere Ausprägung annehmen.
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Ein Mindset verändert sich jedoch nicht so schnell, denn es handelt sich hierbei um tiefliegende Persönlichkeitseigenschaften, welche sich über eine lange Zeit (beginnend in der Kindheit) entwickelt haben. Nichtsdestotrotz sind Mindsets nicht komplett stabil, sondern verändern sich im Laufe der Zeit aufgrund neuer Beobachtungen und Erfahrungen (Dweck 2007). Somit charakterisiert das Mindset die Persönlichkeit und beeinflusst Handeln und Entscheidungen. Jedoch ist das Verhalten, welches gezeigt wurde, auch immer die Kombination aus dem Mindset (Persönlichkeitseigenschaften) und den herrschenden Umweltbedingungen (z. B. Leitlinien, Art der Kommunikation, Prozesse, Unternehmenswerte oder auch Bürolandschaften). Dies ist für Unternehmen sehr wichtig, denn häufig werden Mitarbeiter mit dem passenden Mindset für eine Position gesucht, die Umweltbedingungen in diesem Unternehmen lassen das gewünschte Mindset aber nicht zu. Das Mindset kann dem Unternehmen helfen, seinen eigenen Weg zu entwickeln, seinen eigenen einzigartigen Ansatz zur Problemlösung zu finden und Entscheidung zu treffen. Diese eigene Art und Weise schafft eine gemeinsame Identität, die kodifiziert und mit neuen Mitarbeitern geteilt werden kann (Bellin und Pham 2007).
3.2.2 Veränderung eines Mindsets Da sich Haltungen und Einstellungen schnell verändern lassen, stellt sich zwangsläufig die Frage, ob dies auch bei einem Mindset möglich ist. Die Antwort hierzu muss differenziert betrachtet werden: Ein Mindset kann entwickelt und verändert werden, um den Bedürfnissen einer Person zu dienen (Dweck 2007), jedoch geschieht dies in der Regel in einer viel geringeren Geschwindigkeit und über einen längeren Zeitraum als die Veränderung von Einstellungen oder Haltungen. Denn durch die jahrelange Entwicklung von Persönlichkeitseigenschaften und die dadurch entstandene tiefe innere Verankerung weist ein Mindset eine gewisse Stabilität auf. Dies dient der menschlichen Standhaftigkeit, welche im Alltag gebraucht wird, z. B. zur Pflege dauerhafter und vertrauensvoller sozialer Beziehungen. Allerdings kann das Mindset langfristig entwickelt und verändert werden. Hierzu wird mehr als ein Startimpuls benötigt: Ähnlich wie in einem Projekt ist ein Kick-off notwendig, welches die Vision aufzeigt, das Warum erklärt und eine Roadmap zur Vision skizziert. Dies bedeutet, dass nach einer Standortanalyse des Mindsets das persönliche Entwicklungsziel erstellt werden muss und das Delta zwischen Standort und Ziel mit genauen Handlungsschritten versehen wird. Damit die Erstellung dieses Entwicklungsziels durch eigene Motivation geschieht, ist es wichtig, dass davor ein externer Impuls die langfristigen Veränderungen durch die digitale Transformation aufzeigt. Im Anschluss daran muss tagtäglich an dieser Entwicklung aktiv gearbeitet werden Hierbei gilt es, Ausdauer und Durchhaltevermögen zu haben, um nicht in alte Muster zurückzufallen. Sichtbare Ergebnisse in der Entwicklung des Mindsets sind nach mehreren Monaten sichtbar.
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3.2.3 Sechs zentrale Dimensionen Mindset und Persönlichkeitseigenschaften gab es selbstverständlich auch schon vor der Digitalisierung und der digitalen Transformation. Doch was hat dann das „Digital“ in diesem Begriff zu suchen und was verändert dies? Durch das Führen mehrerer Hundert Interviews/Auswahlgespräche für Job-Positionen im Digital-Bereich (vom Bereich Analytics über digitales Projektmanagement bis hin zu CDO-Positionen) konnte über mehrere Jahre ein breiter Einblick in das Mindset von Mitarbeitern aus Digital-Bereichen erhalten werden und die verschiedenen Dimensionen und Kennzeichen des digitalen Mindsets konnten gezielt abgeleitet werden. Zudem konnte festgestellt werden, inwiefern sich konkrete Ausprägungen bestimmter Dimensionen des Mindsets durch den beruflichen Fokus auf Digitalisierung verändert haben. Insgesamt konnten durch die geführten Interviews sechs verschiedene Dimensionen des digitalen Mindsets identifiziert werden: 1. Offenheit und Agilität 2. Proaktivität und unternehmerische Handlungsorientierung 3. Kreativität und Gestaltungsmotivation 4. Kundenzentriertheit 5. Kritikfähigkeit 6. Offener Umgang mit Scheitern Diese Dimensionen wurden anschließend in einer groß angelegten Studie validiert und im Detail untersucht. Es wurde eine Validierung mit einer Forschungsstichprobe von 100 berufstätigen Personen empirisch durchgeführt, die eine breite Spreizung hinsichtlich beruflicher digitaler Kompetenz aufweisen. Es werden Parameterschätzungen zu allen zentralen Gütekriterien dieser Basisstichprobe berichtet. Für die Konzeption der Studie wurden zunächst für jede Dimension Verhaltensanker im digitalen beruflichen Kontext bestimmt. Darauf aufbauend wurden Persönlichkeitsbeschreibungen entwickelt, vor deren Hintergrund ca. 20 Items pro Dimension konstruiert wurden. Daraus wurde in Experteninterviews für die vorliegende Validierungsstudie eine Vorauswahl von zwölf bis 13 Items pro Dimension ausgewählt. Die Items sind insgesamt zu gleichen Teilen in die eine (positiv) sowie in die andere polare Ausrichtung (invers) der Dimensionen gerichtet. Denn die Persönlichkeit ist nicht unipolar ausgeprägt (dies würde z. B. bedeuten, dass man offen ist oder man ist nicht offen, jedoch ist dieses „Nicht-offen-Sein“ keine Persönlichkeitseigenschaft). Durch den zweiten Pol in jeder Dimension kann die Ausprägung des Mindsets in dem Spannungsfeld der beiden Pole dargestellt und charakterisiert werden.
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Reliabilität bzw. Messgenauigkeit ist gegeben, wenn die Skalen ein hohes Maß an interner Homogenität aufweisen. Alle Skalen der Studie erzielen eine hohe Reliabilität (gemessen an Cronbachs Alpha im Durchschnitt von Alpha = .80). Bei der Skalenkon struktion wurde insbesondere darauf geachtet, dass für jede Skala die inhaltliche Breite des Konstrukts nicht um den Preis einer hohen internen Homogenität verlorengeht. Alle Skalen sind vollkommen unabhängig von Alter (durchschnittl.: r = .01) und weitgehend unabhängig vom Geschlecht (durchschnittl.: r = −.12). Nur bei der Skala Konfliktfähigkeit liegt eine sehr kleine Effektstärke auf geringem Signifikanzniveau zugunsten der männlichen Population vor. Die Dimensionen des digitalen Mindsets sind daher als altersund geschlechtsunabhängig zu bewerten. Auch mit anderen berufsbiografischen Aspekten, wie Organisationszugehörigkeit oder Anzahl der Organisationswechsel, können keine Zusammenhänge beobachtet werden (Bredendiek et al. 2019). Im Folgenden werden die sechs relevanten Dimensionen des digitalen Mindsets ganz knapp in der bipolaren Ausprägung beschrieben (Pol vs. Gegenpol); im folgenden Kapitel über den futurefit Check bei Lufthansa sind weitere detaillierte Ausführungen zu den Mindset-Dimensionen zu finden.
Dimensionen des digitalen Mindsets im Detail
• Offenheit und Agilität vs. Beharrlichkeit Wie verhalten sich Menschen, wenn sie mit neuen oder ungewohnten digitalen Entwicklungsmöglichkeiten konfrontiert werden? • Proaktivität und unternehmerische Handlungsorientierung vs. Reaktivität und Lageorientierung In welchem Ausmaß sind Menschen motiviert, die Unternehmung mit Blick auf den Gesamtkontext der Organisation proaktiv voranzutreiben? • Kreativität und Gestaltungsmotivation vs. Prozesstreue Inwieweit sind Menschen in der Lage, sinnvolle Neuerungen zu schaffen und zu initiieren? • Kundenzentriertheit vs. Aufgaben- Organisationszentriertheit Inwieweit wird die Kundensicht bei der Findung einer neuen Lösung integriert? • Mitarbeiter eines Unternehmens unterscheiden sich u. a. darin, aus welcher Perspektive Projekte geplant, durchgeführt und bewertet werden. • Kritikfähigkeit vs. Harmonieorientierung Inwieweit können Menschen eigenes und fremdes Handeln kritisch betrachten, um konstruktiv Optimierungen zu initiieren? • Offener Umgang mit Scheitern vs. Vermeidung von Misserfolg Inwieweit sind Menschen bereit, mit Misserfolg und Scheitern offen umzugehen bzw. dies in Kauf zu nehmen? Menschen gehen sehr unterschiedlich mit Scheitern und persönlichen Verfehlungen im Umgang mit anderen und sich selbst um.
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3.2.4 D igital Mindset Awareness – Ausgangspunkt jeder digitalen Transformation Um ein digitales Mindset zu entwickeln, welches mit der Strategie des Unternehmens zusammenpasst und das Unternehmen zukunftsfähig macht, wird zunächst jeder Mitarbeiter dahingehend eingeschätzt, wo er/sie mit dem eigenen Mindset steht und wo Entwicklungs- und Potenzialfelder sind. Hierdurch wird eine sogenannte Digital Mindset Awareness geschaffen, welche der Ausgangspunkt für eine erfolgreiche und nachhaltige digitale Transformation eines Unternehmens oder wesentlicher Bereiche ist. Eine solche Standortanalyse sollte zum einen wissenschaftlich valide sein und zum anderen auch so gestaltet sein, dass sie von den Nutzern (z. B. Mitarbeitern) gerne durchgeführt wird. Dies bedeutet, dass eine solche Analyse weder zu viel Zeit in Anspruch nehmen noch zu schwierig in der Durchführung (niedrige Eintrittsschwelle) sein sollte. Im Detail kann eine Standortanalyse für drei Themenfelder genutzt werden: 1. Einstieg in eine Transformation: Auf Basis des Ergebnisses einer Standortanalyse können individuelle Lernpfade für jeden Mitarbeiter entwickelt werden, die es ermöglichen, Transformationsprozesse zu bewältigen (siehe hierzu im Detail das Praxisbeispiel in Abschn. 3.3, in dem Lufthansa ihre Mitarbeiter auf die Transformation vorbereitet). 2. Recruiting: Kandidaten können zielgerichteter für neue Positionen rekrutiert werden, da es nicht nur um die Hard Skills im Bewerbungsprozess geht, sondern auch um das digitale Mindset der Bewerber. Damit kann ein Benchmark mit einem gewünschten Idealprofil einer Position als Begleitung des Recruiting-Prozesses erstellt werden. 3. Projekt-Staffing: Bei der Zusammenstellung von Projektteams wird nicht mehr nur auf Hard Skills oder unternehmenspolitische Vorgänge Rücksicht genommen, sondern auch auf das digitale Mindset, welches ein Team entscheidend prägt. Durch die valide Einschätzung der Mitarbeiter können Teams in Bezug auf das Mindset gezielt heterogen zusammengestellt werden.
3.3
f uturefit Check – Schaffung einer Digital Mindset Awareness bei Lufthansa
Gastbeitrag von Gabriele Schlee Im Folgenden wird Gabriele Schlee, Leiterin Transformation Management im HR Projekt „Workforce Transformation“, beschreiben, wie die administrativen Mitarbeiter der Lufthansa AG auf die Entwicklung einer Digital Mindset Awareness (futurefit) vorbereitet werden.
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3.3.1 Ausgangslage Unternehmen müssen heutzutage die Grundlagen für eine kontinuierliche Wandelbarkeit schaffen, technologische Trends immer früher antizipieren und insgesamt flexibler, schneller und effizienter werden. Wir wollen die neuen Entwicklungen nutzen, um die Zukunft unserer Branche aktiv mitzugestalten und dem Wettbewerb voraus zu sein. Dazu müssen wir die großen Trends nicht nur frühzeitig erkennen, sondern auch nutzen – mit Blick auf unsere Kunden und Mitarbeiter, unsere Produkte, Produktionsmöglichkeiten und Vertriebskanäle. Unsere Kunden erwarten von uns, dass wir die Möglichkeiten der Automatisierung und Digitalisierung prompt und konsequent in moderne, innovative Angebote umsetzen. Schon heute finden sich in der Lufthansa Group zahlreiche Beispiele für solche Initiativen. Auch für den einzelnen Mitarbeiter ergeben sich daraus Herausforderungen und Chancen zugleich. Die neue Umwelt verändert auch die Arbeitswelt des Einzelnen. Heutige Berufsbilder und auch die Art, wie Arbeit organisiert wird, sowie notwendige Qualifikationen verändern sich durch neue Technologien zunehmend. Das sehen wir z. B. in Reisebüros oder bei der inzwischen elektronischen Passkontrolle am Flughafen, beim Self-Check-in oder auch an Bord der Flugzeuge. Digitale Skills gewinnen an Bedeutung. Damit ist einerseits das hochspezialisierte Know-how von IT-Experten gemeint: Neue Jobprofile wie die eines Data Scientists, Prozess-Automatisierers oder Social Media Communicators entstehen. Andererseits sind künftig solide digitale Grundfertigkeiten für jeden Mitarbeiter und jede Führungskraft unverzichtbar und ein Schlüssel zur beruflichen und gesellschaftlichen Teilhabe. Mit den Veränderungen im Arbeitsumfeld und an die individuellen Anforderungen umzugehen, fällt nicht immer leicht. Um die Chancen, die diese mit sich bringen, schnell und unmittelbar nutzen zu können, sind beständige Offenheit und individuelle Beweglichkeit gefordert. Mitarbeiter und Führungskräfte müssen sich heute verstärkt selbst Gedanken über ihre persönliche Beschäftigungsfähigkeit in und außerhalb des Unternehmens machen und sich selbst reflektieren: Was kann ich mit meinen Kompetenzen zum Unternehmensziel beitragen, welche neuen Jobprofile kommen für mich infrage und wo sollte ich Lücken in meinem Kompetenzprofil schließen? Wichtig ist, dass wir alle täglich dazulernen und unser neues Wissen anwenden, um es zu festigen und aus Erfahrungen zu lernen. Der Mensch bleibt einerseits unersetzlich, wo es um Skills wie Kreativität, Intuition, Empathie, Beziehungsmanagement etc. geht, also um Fähigkeiten, deren Bedeutung vor allem dort wächst, wo wir uns in die Bedürfnisse unserer Kunden hineindenken und -fühlen, um erfolgreiche Lösungen zu entwickeln. Andererseits werden menschliche Fähigkeiten weiterhin auch dort gefragt sein, wo es um Analyse und Beherrschung komplexer Strukturen und Situationen sowie die Anwendung neuer Arbeitstechniken geht. Mitarbeiter werden künftig vor allem die Fähigkeiten nutzen können, die keine Maschine ersetzen kann oder die zur Steuerung und Weiterentwicklung maschinell ausgeführter Prozesse nötig sind (z. B. in der kreativen Entwicklung von neuen Prozessen).
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Führungskräfte und Mitarbeiter müssen sich deshalb aktiv und kontinuierlich weiterentwickeln und sich offen in die Gestaltung der digitaler werdenden Arbeitswelt einbringen. Wir führen einen fortlaufenden Dialog zu den Veränderungen im Arbeitsumfeld, den daraus entstehenden Bedarfen, passen mit Blick darauf kontinuierlich unsere Lernund Entwicklungsangebote an und arbeiten darauf hin, dass unsere Mitarbeiter die Qualifikation haben, die wir brauchen, um als Unternehmen in Zukunft weiter erfolgreich zu sein. Wer diesem Wandel mit Neugier und offener Haltung begegnet und die Unterstützungsund Lernangebote innerhalb und außerhalb des Unternehmens konsequent nutzt, für den werden sich die Chancen auf dem internen und externen Arbeitsmarkt deutlich erhöhen. Vielfältige Möglichkeiten zur persönlichen und beruflichen Weiterentwicklung eröffnen sich. Wechselnde Rollen und Aufgaben, innerhalb wie außerhalb des Unternehmens, werden damit in Zukunft viel üblicher werden als heute. Diese Offenheit und die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, zunehmend als selbstverständlich zu betrachten, wird im Arbeitsleben der nächsten Jahre von grundlegender Bedeutung sein. Führungskräfte unterstützen diesen Prozess, indem sie aktiv Lernimpulse setzen und das Lernen im Arbeitsumfeld konsequent unterstützen und monitoren. Doch wie kommen wir zu einer aktiven Gestaltung dieser lebenslangen Lernkultur „open mind“ (Lufthansa-spezifische Bezeichnung)?
3.3.2 E ntwicklung überfachlicher Kompetenzen für das digitale Zeitalter In einem ersten Schritt haben wir intern ein Kompetenzmodell mit sieben überfachlichen Kompetenzen entwickelt, die für alle administrativen Mitarbeiter der Lufthansa Group unterhalb der Leitungsebene gelten. Unsere sieben futurefit competencies geben Orientierung, welche Fähigkeiten morgen erforderlich sind. Das sind insbesondere soziale und analytische Kompetenzen sowie der Umgang mit digitalen Medien und Kommunikationsformen (Abb. 3.1): • Dialog and Communication • Power to create
Abb. 3.1 Lufthansa futurefit competencies
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• • • • •
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Digital Literacy Agility Complexity Management Collaboration Customer Centricity Anschließend haben sich für uns zwei zentrale Fragestellungen ergeben:
1. Haben wir einen Impuls in die Organisation gegeben, der neugierig auf Lernen werden lässt und darauf abzielt, die Eigenverantwortung der Mitarbeiter für ihre berufliche Qualifikation zu stärken und ins „Lernenwollen“ zu kommen? Dazu haben wir gemeinsam mit ONESTOPTRANSFORMATION ein webbasiertes Self-Assessment im Sinne einer Standortbestimmung zur persönlichen Ausprägung in den sieben Zukunfts kompetenzen entwickelt und implementiert – den sogenannten futurefit Check. Der Check gibt allen Mitarbeitern die Möglichkeit, eine persönliche Standortbestimmung vorzunehmen und Hinweise zum individuellen Lernbedarf und zu Lernangeboten nach Kompetenzausprägung zu erhalten. Das Ergebnis ist ein persönlicher Ergebnisreport. Der Check kann freiwillig und innerhalb von max. 15 Minuten durchgeführt werden. 2. Unterstützen wir zielgerichtetes Lernen durch passende, moderne, leicht nutzbare Lernangebote? Im Ergebnisbericht des futurefit Checks kann man direkt auf das Konzernportal mit dem Portfolio der Lernangebote springen. Dieses reicht von eher klassischen Themen und Formaten (z. B. Präsenzworkshops für agiles Projekt management) bis hin zu Online-Lernmodulen, die leicht integrierbar in die Arbeitswelt sind (z. B. können die Module auch in kurzen Abschnitten zwischen der Arbeit durchlaufen werden). Daneben unterstützt der neue Routineprozess „futurefit“ die Führungskräfte gezielt dabei, ihren Bereich individuell auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten: Wie wird sich die Arbeit des Bereiches verändern? Welche Kompetenzen werden dafür gebraucht? Wie können diese entwickelt oder in das Team hineingeholt werden? Wie kann dies gemeinsam im Team umgesetzt werden? Die futurefit-Kompetenzen werden künftig auch in die relevanten Prozesse im Talent Life Cycle als Referenzpunkte integriert sein.
3.3.3 Entwicklungsteam und -vorgehen des futurefit Checks Die Entwicklung des futurefit Checks begann Ende November 2018. Das Projektteam bestand aus einer kleinen Arbeitsgruppe des Projektes „Workforce Transformation“ und der ONESTOPTRANSFORMATION AG. Die Ausarbeitung des futurefit Checks selbst gelang innerhalb von drei Monaten und im Rahmen von mehreren Sprints mit dem Bau von Prototypen, in welchen sowohl die inhaltliche als auch die IT-seitige Entwicklung parallelisiert wurden. Wir haben sowohl den wissenschaftlichen als auch den technischen
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Teil des futurefit Checks mit agilen Methoden entwickelt. Laufend wurden die Prototypen mit den zukünftigen Anwendern und den Mitbestimmungsgremien getestet und deren Feedback eingeholt. Auf Basis dieser inkrementellen Vorgehensweise konnten wir Fragen, Ängste und Sorgen vor einer vermeintlichen Leistungskontrolle nehmen und vielmehr Spaß an der Durchführung und Neugierde wecken. Führungskräfte und Mitbestimmungsgremien als wichtige Stakeholder erkennen an, dass Aufbau, Inhalt und Zielrichtung des futurefit Checks klar, verständlich und wertschätzend sind. Aus Anwendersicht wurde positiv bewertet, dass der futurefit Check durch sein responsives Design auch auf allen gängigen mobilen Endgeräten durchführbar war. Die Verknüpfung mit den Lernangeboten und der Launch in der Organisation sowie die Kommunikation an Führungskräfte und Mitarbeiter in einer Kampagne mit dem Titel „open mind“ erfolgten Anfang Mai 2019. Wir haben den Check wissenschaftlich fundiert nach der klassischen psychologischen Testtheorie entwickelt und dies mit einer Validierungsstudie belegt. Zuerst haben wir die Kompetenzen weiter operationalisiert und in Verhaltensanker überführt sowie darauf gemappte und auf die Arbeitswelt bezogene, praxisnahe Items entwickelt, die für den Mitarbeiter kognitiv leicht zugänglich sind. Diese sind mit futuristisch anmutenden Arbeitssituationen – new work stories – kombiniert, sodass eine psychologische Messung der Vertrautheit mit den Situationen ermöglicht wird. Die einzigartige Kombination aus klassischen Items und einer Schilderung von heutigen und wegweisenden Arbeitssituationen macht den futurefit Check auch im Sinne der Augenscheinvalidität bereits bei der Durchführung attraktiv und lädt durchgängig ein, sich mit der Lernzukunft offen auseinanderzusetzen. Der futurefit Check bietet unmittelbar nach Testabschluss individuelle Lernimpulse und Praxistipps je Kompetenz in einem Dashboard und einem Ergebnisbericht an, die dem Mitarbeiter Hilfestellungen liefern, gleich ins Handeln zu kommen und damit die persönliche Lernreise anzutreten. Mit dieser Brücke erzielt der futurefit Check seine volle Wirksamkeit. Bei den individuellen Kompetenzbeschreibungen und Lernimpulsen finden sich stets motivierende und wohlwollende Formulierungen, die Freude an der Entwicklungsgestaltung vermitteln wollen.
3.3.4 Fazit futurefit Check Erfolgreiche Organisationen werden in Zukunft getragen werden vom kollektiven Wissen ihrer Führungskräfte und Mitarbeiter. Damit auch wir dorthin kommen, muss jeder einen Beitrag leisten. Führungskräfte ermöglichen und begleiten den Wissenserwerb. Mitarbeiter müssen dabei Eigenverantwortung übernehmen, sich neues Wissen anzueignen. Der futurefit Check ist ein Puzzleteil in der Kampagne „open mind“, um diesen Weg zu ebnen. Diese Offenheit und den Mut, Neues mit zu entwickeln, einzufordern und zunehmend als selbstverständlich zu betrachten, wird auch für den wirtschaftlichen Erfolg der nächsten Jahre von grundlegender Bedeutung sein.
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3.4
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Projektablauf zur Schaffung einer Digital Mindset Awareness
Wie kann aus der erläuterten Theorie und dem Praxisbeispiel bei Lufthansa nun im eigenen Unternehmen eine Digital Mindset Awareness etabliert werden, um die Basis für eine nachhaltig erfolgreiche Transformation zu schaffen? Um langfristig eine Digital Mindset Awareness im Unternehmen zu etablieren, muss den Mitarbeitern die Gelegenheit gegeben werden, eine Standortanalyse zu durchlaufen, welche eine Aussage gibt, wo man sich persönlich in Bezug auf das digitale Mindset befindet. Mit dieser Standortanalyse hat sowohl jeder Mitarbeiter auf individueller Ebene, aber auch ganze Teams und Abteilungen einen Indikator, wie der aktuelle Stand ist. Abgeleitet hiervon können dann individuelle Roadmaps (z. B. Lernpfade) für Mitarbeiter und Teams abgeleitet werden. Projekt-Set-up Um ein solches Projekt zu starten, sollte ein Kernprojektteam gegründet werden, welches Ownership und Verantwortung übernimmt. Danach ist es erst einmal essenziell wichtig, das Commitment der Geschäftsführung zu haben (Executive Sponsorship), damit die Schaffung einer Digital Mindset Awareness nachhaltig gestartet und durchgeführt werden kann. Denn in einem solchen Projekt wird es – da es sich um Wandel handelt – auch Widerstände aus den unterschiedlichsten Bereichen und Hierarchieebenen des Unternehmens geben. Durch das Executive Sponsorship ist das Projektteam, welches für die Etablierung der Digital Mindset Awareness verantwortlich ist, entsprechend mandatiert, um mit Widerständen bewusst umzugehen. In einem nächsten Schritt sollten alle anderen relevanten Stakeholder informiert und in die Idee der Etablierung einer Digital Mindset Awareness eingeführt werden. Dies muss dringend vor dem offiziellen Projektstart geschehen, da somit die Stakeholder die Gelegenheit haben, im Projekt mitzuwirken. Zudem werden sie das Gefühl haben, dass nicht gegen sie, sondern mit ihnen gemeinsam eine Lösung entwickelt wird. Entwicklung Für die Entwicklung einer Standortanalyse zur Bestimmung der Ausprägung des Digital Mindsets im Unternehmen sollte von Anfang an darauf geachtet werden, dass die Entwicklung wissenschaftlichen Kriterien entspricht. Denn mit einem solchen Tool werden durch die Standortanalyse auch Potenzialfelder und Schwachstellen von Mitarbeitern sichtbar gemacht, wodurch als natürliche Schutzreaktion von manchen Mitarbeitern auch die Aussagekraft des Tools in Frage gestellt werden kann. Mit einer sauberen wissenschaftlichen Entwicklung und auch Dokumentation in Form einer Studie können derartige Zweifel an der Validität widerlegt werden und das Tool erhält eine besondere Güte. Zum Beispiel kann ein solches Tool mit der klassischen Testtheorie entwickelt werden. Das Tool „Digital Competence Indicator“ kann auch universell für Unternehmen eingesetzt werden, da damit schon eine Studie und wissenschaftliche Validität vorliegt. Sollten jedoch unternehmenskulturspezifische Ausprägungen der Mindset-Dimensionen berücksichtigt werden, sollte dies immer in einer separaten Studie validiert werden.
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Darüber hinaus ist es sehr wichtig, bei der Entwicklung iterativ, also in kleinen Schritten, vorzugehen und sich nach Abschluss eines jeden Schrittes zeitnah echtes Nutzerfeedback zu holen, um ggf. frühzeitig Anpassungen vorzunehmen. Dieses Vorgehen hat zwei positive Effekte: 1. Durch die ständige Einbeziehung der Nutzer entwickelt man kundenzentriert und kann somit die Wünsche und Erwartungen von zukünftigen Nutzern mit einbeziehen. Dies bringt Geschwindigkeitsvorteile durch Effizienz bei gleichzeitiger Reduktion der Fehlerquote (man kann schneller auf Fehler reagieren). 2. Nutzer werden sehr früh auf das Tool aufmerksam und können sich so schon vor Fertigstellung des Tools mit ihm identifizieren. Somit werden die Nutzer, die in die Entwicklung mit einbezogen werden, interne Promotoren für das fertig entwickelte Tool. Bei all der Wissenschaftlichkeit und Anspruch an Messgenauigkeit und Güte eines Tools für eine Standortbestimmung ist es essenziell, dass das Tool eine einladende User Experience hat und somit für Nutzer Spaß macht. Denn nur wenn dies gegeben ist, werden User das Tool gerne und auch langfristig (wiederholend) nutzen. Rollout In der Rollout-Phase der Standortbestimmung geht es darum, die Organisation auf den Einsatz und die Nutzung des Tools vorzubereiten und somit den Grundstein für eine breit angelegte Basis zur Digital Mindset Awareness zu schaffen. Hierbei ist es sehr wichtig, Führungskräfte über das neue Tool zu informieren und zu schulen. Denn Nutzer werden bei Fragen zu den Ergebnissen der eigenen Standortanalyse zunächst die eigene Führungskraft befragen. Damit der Effekt der Standortanalyse (und somit das erste Wachrütteln in Bezug auf die Digital Mindset Awareness) nicht verpufft, müssen Führungskräfte zwingend handlungsfähig in Bezug auf die Standortanalysen-Ergebnisse ihrer Mitarbeiter sein. Dies bedeutet, dass sie als Feedback-Coach für die Mitarbeiter da sind und die Ergebnisse gezielt reflektieren können. Durch die Führungskräfte-Schulung erreicht man zum einen ein Empowerment und zum anderen eine erste Awareness, im besten Falle gar eine Begeisterung bei den Führungskräften für das Thema Digital Mindset. Die Einführung eines Tools zur Standortbestimmung als ersten Schritt der Schaffung einer Digital Mindset Awareness sollte kommunikativ sehr gezielt begleitet werden. Es sollte einen unternehmensweiten gleichzeitigen Start der Kommunikation geben, welcher ein echtes Wow-Erlebnis bei den Mitarbeitern hervorruft. Dadurch bekommen Mitarbeiter Interesse und Lust, das neue Tool auszuprobieren und damit den Grundstein für eine Digital Mindset Awareness zu legen. Bei der Kommunikation ist es wichtig, das „Warum“ der Initiative sehr genau und nachhaltig zu vermitteln. Denn die Standortanalyse und die Schaffung der Digital Mindset Awareness ist kein Selbstzweck, sondern ist die
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Voraussetzung für eine langfristige Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Dies muss in der Kommunikation für die Mitarbeiter greifbar und spürbar sein. Mit dem Rollout ist das Executive Sponsorship nicht beendet, sondern dieses wird im Arbeitsalltag weiterhin wichtig bleiben. Denn in der nachhaltigen Umsetzung (die Exponentialkurve wird sich kontinuierlich weiterentwickeln) des digitalen Mindsets wird es auch immer wieder Hindernisse geben, für welche auf das Executive Sponsorship zurückgegriffen werden muss. Checkliste
• Projekt Set Up –– Executive Sponsorship –– Stakeholder vor Projektstart informieren und abholen – Betriebsrat, Gremien, Ausschüsse • Entwicklung –– Wissenschaftliche Untermauerung – damit sind die Ergebnisse nicht an zweifelbar –– Iterativ entwickeln – Nutzer in Entwicklung einbeziehen –– Einladende User Experience – Tool muss Spaß machen • Rollout –– Briefing und Schulung von Führungskräften für das neue Tool –– Kommunikation – gezielt, klar, das Warum muss vermittelt werden
3.5
Fazit
Das digitale Mindset ist in Zeiten exponentieller Entwicklungen ein Faktor, welcher Unternehmen langfristig erfolgreich machen kann bzw. auf dem Weg einer erfolgreichen Transformation die Basis bildet. Es ist essenziell, den Mitarbeitern die Wichtigkeit der Transformation und des Mindsets aufzuzeigen und sie danach individuell bei der persönlichen Entwicklung zu unterstützen. Dies kann nur erreicht werden, wenn die Mitarbeiter die Ausprägung ihres Mindsets kennen. Dies kann über diagnostische Tools geschehen (z. B. über den Digital Competence Indicator), die die Ausprägung des Mindsets in Bezug auf Transformation wissenschaftlich valide messen. Basierend auf der Ausprägungsanalyse können im nächsten Schritt individuelle Lernpfade für die Mitarbeiter angeboten werden. Hierbei ist auf eine Vielfalt des Angebots zu achten (Blended Learning mit Online- und Offline-Komponenten). Da sich ein Mindset nicht von heute auf morgen verändern kann, müssen Unternehmen den Mitarbeitern Zeit geben, sich kontinuierlich weiterzuentwickeln und zu verändern. Hierbei ist sowohl für Unternehmen als auch Mitarbeiter Geduld und Beharrlichkeit ein Erfolgsfaktor.
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Handlungsempfehlungen
• Führen Sie eine Standortanalyse des digitalen Mindsets der Mitarbeiter durch – denn: Wer nicht weiß, wo er steht, kann seine Vision nicht zielgerichtet verfolgen. • Sichern Sie die wissenschaftliche Validität der Standortanalyse. • Zeigen Sie das „Warum“ der notwendigen Veränderungen auf und geben Sie Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine Roadmap für die persönliche Entwicklung an die Hand. • Verteilen Sie Lernangebote/Entwicklungsangebote nicht „mit der Gießkanne“ im Unternehmen, sondern machen Sie maßgeschneiderte, auf das individuelle Mind set bezogene Angebote. • Nehmen Sie sich Zeit: Veränderungen des Mindsets erfordern Zeit, Beharrlichkeit und Geduld.
Literatur Bellin, J. B., & Pham, C. T. (2007). Global expansion – Balancing a uniform performance culture with local conditions, Strategy and leadership. Strategy & Leadership, 35(6), 44–50. Bredendiek, M., Knorr, J., & Knorr, R. (2019). Konzeption des Digital Competence Indicators – DCI. Unveröffentlichtes Manuskript. Dweck, C. S. (2007). Mindset – The new psychology of success. New York: Ballantine Books. Hansel, T. (2010). Soft Skills – Alternative zur Fachlichkeit oder weiche Perfomance? Herbolzheim: Centaurus Verlag & Media. Hofert, S. (2018). Das agile Mindset – Mitarbeiter entwickeln, Zukunft der Arbeit gestalten. Wiesbaden: Springer Gabler. Keuper, F., Schomann, M., Sikora, L. I., & Wassef, R. (2018). Disruption und Transformation Management – Digital Leadership – Digitales Mindset – Digitale Strategie. Wiesbaden: Springer Gabler.
Julian Knorr begleitet Unternehmen mit dem Fokus auf dem digitalen Mindset im Rahmen zukunftsgerichteter Organisations- und Personalentwicklung und innovativer Recruiting-Lösungen. Mit dem Digital Competence Indicator (DCI) entwickelte er mit seinem Unternehmen hierfür ein wichtiges Tool, um das Digital Mindset der Mitarbeiter messbar zu machen und die jeweiligen Rollen für die digitale Transformation zu erkennen. Er ist Gründer & Vorstand der ONESTOPTRANSFORMATION AG sowie Gründer & Geschäftsführer der Agile Kitchen GmbH. Zudem ist er Keynote Speaker und Business-School-Dozent.
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Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und die benötigten Soft Skills der Arbeitenden Christian Hättenschwiler
Inhaltsverzeichnis 4.1 E inleitung 4.2 Die Durchdringung der Digitalisierung im Geschäfts- und Berufsbereich 4.3 Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit 4.3.1 Veränderungen in der Arbeitswelt 4.3.2 Der Arbeitsplatz im Wandel 4.4 Erkenntnisse und Empfehlungen für künftige Kompetenzen und Soft Skills 4.4.1 Empathie und emotionale Intelligenz 4.4.2 Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeit 4.4.3 Neugierde und Interesse 4.4.4 Kreativität und Innovationskraft 4.4.5 Mut zu Neuem und Unbekanntem 4.4.6 Lösungsorientiertes Denken in Optionen 4.4.7 Mobilität, Agilität und Flexibilität 4.4.8 Eigenverantwortung, Selbstdisziplin und Vertrauen 4.4.9 Mut zu Fehlern und Misserfolgen 4.4.10 Lebenslanges Lernen und persönliche Arbeitsmarktfähigkeit 4.5 Fazit und Handlungsempfehlungen Literatur
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Schlüsselwörter
Veränderung der Arbeit · Arbeitsplatz der Zukunft · Kompetenzen · Soft Skills · Digitalisierung · Künstliche Intelligenz · Wandel der Arbeitswelt · Arbeitstätigkeiten · digitale Technologien · digitale Transformation C. Hättenschwiler (*) Open Web Technology (Swisscom Digital Technology SA), Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_4
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cc
4.1
C. Hättenschwiler Lesernutzen Der Beitrag beleuchtet die Auswirkungen der digitalen Technologien auf die Arbeitswelt und unsere Arbeit aus der Sicht des organisationellen Change-Managements. Anhand von vier Praxisbeispielen wird aufgezeigt, welche digitalen Transformationen Unternehmen durchlaufen, um für ihre Mitarbeitenden und ihre Kunden eine Wertschöpfung zu erzielen. Des Weiteren erfährt die Leserschaft, welches die in der Zukunft benötigten Soft Skills sind, damit die Arbeitenden in der Zusammenarbeit mit intelligenten Maschinen ihre Arbeitsmarktfähigkeit bewahren. Dabei werden die wichtigsten zehn weichen Kompetenzen genauer beschrieben sowie Handlungsempfehlungen für Unternehmer*innen und Arbeitnehmer*innen aufgezeigt.
Einleitung
Wohin führt uns die Reise der Digitalisierung in der Zukunft? „In den nächsten 20 Jahren wird sich die Menschheit mehr verändern als in den letzten 300“, behauptet Gerd Leonhard (2019), der als strategischer Berater, Publizist und CEO der „Futures Agency“ den technologischen Wandel beobachtet und kommentiert. Was bedeutet das für die Arbeit der Zukunft? Welche Veränderungen erzwingt die digitale Revolution in der Arbeitswelt? Welches sind die Auswirkungen auf unsere Arbeitsplätze, und inwiefern reformieren Maschinen mit künstlicher oder kognitiver Intelligenz (KI) unsere Arbeit? Welches sind die Fähigkeiten, welche im Arbeitsmarkt aufgrund der neuen digitalen Geschäfts- und Organisationsmodelle zukünftig nachgefragt werden? Was ist nebst den während der Grundausbildung und der beruflichen Karriere erworbenen Fachkenntnisse und Fähigkeiten wichtig? Welches sind die notwendigen Kompetenzen und „Soft Skills“ der Arbeitenden in der Zukunft? Auf diese Fragen geht der Autor in seinem Beitrag vertieft ein. Er befasst sich mit den Auswirkungen der Digitalisierung und der digitalen Technologien auf die Arbeit und den Arbeitsplatz, und er beleuchtet die neuen Anforderungen bezüglich der Kompetenzen und „Soft Skills“ aus Sicht des Veränderungsmanagements. Denn die Digitalisierung reformiert die Arbeit in einer so umfassenden Weise, dass sich Arbeitende und Führungskräfte bisher oft ungewohnte, neue Kompetenzen und Verhaltensweisen aneignen müssen, um in der digitalen Arbeitswelt von morgen erfolgreich sein zu können.
4.2
ie Durchdringung der Digitalisierung im GeschäftsD und Berufsbereich
Die vierte industrielle Revolution findet statt. Die Digitalisierung durchdringt unser Leben und beeinflusst die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren und zusammenarbeiten. Ausgelöst durch digitale Technologien, welche ihren Anfang in den 1970er-Jahren
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mit den im Markt frei verfügbaren Mikroprozessoren fanden und in den letzten 50 Jahren unsere mobile Lebens- und Arbeitsweise dank der internetbasierten, vernetzten Kommunikation und Kollaboration nachhaltig verändert haben, schreitet die Digitalisierung unaufhaltsam und in praktisch allen Bereichen unseres Privat- und Berufslebens voran. Kognitive Intelligenz (KI), Internet of Things (IoT), Robotik und Prozess- Auto matisierung (RPA) und soziale Netzwerke sind die prominentesten dieser disruptiven Technologien. Aktuell dominieren drei Tech-Trends die Agenda der Unternehmenswelt: digitale Realität, kognitive Technologien und Blockchain (Deloitte 2019, S. 6). Agile Start-up-Firmen nutzen sie geschickt zu ihren eigenen Vorteilen und zu denen ihrer Kunden. Diese Invasoren erschließen neue Märkte und erobern bestehende. Sie torpedieren die bestehenden Wettbewerbsstrategien und die Dominanz der etablierten Anbieter und zwingen diese dazu, ihre bisherigen Ansätze und Modelle zu hinterfragen und an die neue Umgebung sowie die veränderten Kundenbedürfnisse anzupassen. Denn eine Wahlmöglichkeit haben die bestehenden Player nicht. Wer heutzutage noch über keine digitale Strategie verfügt, begibt sich in unternehmerische Gefahr. Doch damit nicht genug. Es besteht außerdem höchste Dringlichkeit. Denn der Faktor Zeit erhöht den Druck auf etablierte Unternehmen, ihre Strategien und Organisationsmodelle möglichst rasch zu transformieren. Das mag verstörend und beängstigend sein, und in der Tat sehen sich viele alteingesessene Unternehmungen mit großen Herausforderungen konfrontiert. Es gibt genügend negative Fälle von einst dominanten Playern, die diesen Kampf verloren haben. Man denke dabei beispielsweise an die Firma Kodak, welche die Digitalisierung in der Fotobranche verschlafen hatte und deshalb aus dem Markt verschwunden und untergegangen ist. Kodak: Wie ein führendes Unternehmen die Digitalisierung verschlief
In Aus- und Weiterbildungen für Betriebswirtschaft und Management wird noch heute das berühmte Beispiel von Kodak gelehrt, welches als eine der großen Fehlentscheidungen in Sachen Digitalisierung in die Geschichte einging. Die etwas ältere Leserschaft kennt Kodak noch als einen der weltweit erfolgreichsten, innovativsten Player im Bereich Film und Fotografie. Der Astronaut Neil Armstrong schoss 1969, als er als erster Mensch die Mondoberfläche betrat, seine Fotos mit einem Kodak-Film. Nach den Schritten auf dem Mond wäre im Jahr 1975 beinahe der Schritt in die digitale Zukunft gelungen: Der Mitarbeiter Steven Sasson konstruierte bei Eastman Kodak die erste tragbare Digitalkamera, die Digitalbilder mit 100 × 100 Pixeln machen konnte. Wer sollte Kodak jetzt noch stoppen? Wenn der Gemeinplatz von der „Ironie der Geschichte“ einigermassen passt, dann hier: Niemand konnte das so gut erledigen wie Kodak selbst (Spinnler 2018). Denn das Management traf die Entscheidung, nicht weiter in die Digitalisierung zu investieren, aus Angst, andere Geschäftszweige – vor allem jenen mit den Filmen – zu gefährden. Die New York Times zitiert den Erfinder Sasson, wonach die Firmenleitung damals gesagt haben soll: „Das ist hübsch. Aber behalte es bitte für dich.“ (Spinnler 2018)
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C. Hättenschwiler
Heute wissen wir: Dies war eine fatale Fehlentscheidung. Als Kodak 1995 schließlich eine Digitalkamera auf den Markt brachte, galt es zwar noch als eines der führenden Unternehmen, hatte aber auf dem Markt mit Nikon, Olympus und anderen bereits enorme Konkurrenz. Und trotz größter Bemühungen war es zu spät. Wenige Jahre später brachten Nokia, Motorola und andere Anbieter die ersten Mobiltelefone mit integrierter Kamera auf den Markt, womit Kodak mit ihren Digitalkameras endgültig ins Abseits geriet. Nach jahrelangen Verlustgeschäften leitete das Unternehmen 2012 das Insolvenzverfahren ein. Obschon es bei der Umsetzung neuer digitaler Lösungen noch einige kollaterale He rausforderungen zu klären und zu bewältigen gibt (man denke hier beispielsweise an die haftpflichtrechtlichen und die ethischen Fragen in den Anwendungsfällen der selbstfahrenden Automobile), schreiten die positive Anwendung und die Verbreitung der digitalen Instrumente und Systeme, allen voran im Bereich der KI, in sehr großen Schritten und mit wahnsinniger Geschwindigkeit voran. Die Möglichkeiten für innovative, kundenzentrierte Lösungen in den Bereichen B2B, B2C und C2C scheinen nahezu unbegrenzt. Klaus Schwab, der Gründer und Vorsitzende des World Economic Forum, notiert in seinem Buch „The Fourth Industrial Revolution“, die digitale Revolution kreiere radikal neue Ansätze, auf welche Weise Individuen und Institutionen sich engagieren und kollaborieren (Schwab 2016, S. 19). Dabei besteht das Ziel in erster Linie nicht darin, den Menschen durch die Maschine zu ersetzen, sondern ihn durch die intelligente Maschine zu unterstützen, indem sie ihn dank ständiger Verfügbarkeit, Skalierbarkeit und anderer Vorteile von repetitiven, langweiligen und fehleranfälligen Aufgaben entlastet und bei der Analyse von sowohl strukturierten als auch unstrukturierten Daten schnell und zuverlässig unterstützt. Der Mensch und seine Menschlichkeit – Empathie, Kommunikationsfähigkeit und emotionale Intelligenz – bleiben unentbehrlich. Bereits vor ein paar Jahren haben sich erste Unternehmen an die Materie der KI herangewagt und begonnen, sogenannte „kognitive Use Cases“ zu definieren, um diese Anwendungsmöglichkeiten mittels agiler Projektmethodik zum Nutzen ihrer Mitarbeitenden und Kunden umzusetzen. Dabei haben diese Pioniere oft auf schmerzliche Art und Weise erfahren, dass dies keine triviale Angelegenheit ist. Denn um die Vorzüge von kognitiven, selbstlernenden KI-Lösungen erfolgreich zu realisieren, sind nicht nur Mut und Pioniergeist nötig, sondern auch die technischen Voraussetzungen (gute Datenverfügbarkeit und -qualität), das notwendige Fachwissen (Data Science, Programmierung von Algorithmen) sowie im Besondern die richtige Einstellung in den Köpfen der für die Umsetzung der kognitiven Lösungen verantwortlichen Personen. Dazu gehören auch das bewusste Eingehen von Risiken in Bezug auf die realisierbaren Resultate, das Vertrauen in die Daten sowie eine Kultur in Unternehmen und Organisationen, die das Fehlermachen erlaubt und sogar fördert. Denn die Gründe, warum solche Prototypen und Projekte oftmals scheitern, liegen eben meist nicht bei der Technologie oder den Prozessen, sondern bei den
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Menschen, welche die Umsetzung verstehen und begleiten sollen, respektive bei jenen Personen, die von Veränderungen betroffen sind. Nachfolgend zeigen vier Praxisbeispiele aus der Schweiz, wie Unternehmen in jüngster Vergangenheit erfolgreich Lösungen und organisatorische Maßnahmen im Bereich KI entwickelt haben, um ihre Prozesse und Geschäftsmodelle zu verbessern. Best-Practice-Beispiel kognitive Intelligenz: Internationale Universalbank, RPA (Robotics und Prozess-Automatisierung)
In diesem Digitalisierungsprogramm ging es darum, die Prozessqualität und die Kundenzufriedenheit zu verbessern. Eines der internen Projekte befasste sich mit der Reorganisation einer Abteilung, welche das Help Desk für externe Unternehmenskunden betreibt. Dazu wurden RPA-Technologien eingeführt. Dabei handelte es sich um Software-Programme zur Abwicklung von Standardprozessen, beispielsweise für Kreditprüfungen bei der Neueröffnung eines Kontos. Andererseits wurden „Chatbots“ entwickelt, welche die Kunden anstelle der Help-Desk-Mitarbeitenden unterstützen, z. B. im Falle eines Passwortverlusts im Online-Banking. Die Bank konnte dank dieser digitalen Technologien und Prozessoptimierungen die Kapazitäten verbessern sowie die Help-Desk-Mitarbeitenden von repetitiven und monotonen Arbeiten entlasten, damit diese sich um die Kundenfälle mit höherer Komplexität und Beratungsintensität kümmern konnten.
Best-Practice-Beispiel kognitive Intelligenz: Nationale Versicherungsgesellschaft, „Cognitive Competence Center“
Die Geschäftsleitung dieser Unternehmung hatte im Rahmen ihrer digitalen Strategie entschieden, ein internes Kompetenzteam aufzubauen, welches neue Lösungen und Produkte entwickelt, die auf kognitiven Technologien beruhen. In einem internen „Jam“, einem elektronischen, virtuellen Kollaborationsanlass, der von Fachpersonen moderiert wurde, partizipierten die Mitarbeitenden der Versicherungsgesellschaft an einem Brainstorming und Ideenaustausch. Aufgrund der ausgewerteten Resultate und Vorschläge wurde in einem Projekt mit agiler Umsetzungsmethodik das Konzept zur Organisationentwicklung entwickelt, welches nebst der Vision, Mission und dem Leitbild für das sogenannte „Cognitive Competence Center (CCC)“ auch die Struktur, die Positionen, die Rollen und Verantwortlichkeiten sowie die benötigen Fachkenntnisse des Personals des CCC definierte. Anschließend rekrutierte die HR-Abteilung die benötigten Ressourcen, darunter Datenwissenschaftler, Architekten und Software-Entwickler. Heute gelingt es diesem Versicherungsunternehmen dank dem CCC und dessen Kooperation mit den internen Fachabteilungen, schnell und erfolgreich neue kognitive Lösungen zu realisieren und sich damit positiv von der Konkurrenz abzuheben.
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C. Hättenschwiler Best-Practice-Beispiel kognitive Intelligenz: Globaler Konzern in der Konsumgüterindustrie, „Analytics Service Line“
Dies ist ein ähnliches Beispiel einer organisatorischen Maßnahme, welche durch die Digitalisierung getrieben wurde. Die Geschäftsleitung dieses Großkonzerns, dessen zahlreiche Tochtergesellschaften und Departemente seit Jahren Daten von Kunden, Lieferanten und Distributionspartnern sammelt, stellte sich selbst und den externen Beratern die Frage, welche organisatorische Maßnahme die Bemühungen rund um „Big Data“ verbessern könnte. Dazu wurde eine interne Fachabteilung mit der Bezeichnung „Analytics Service Line (ASL)“ geschaffen. Das ASL ist heute die zentrale Anlaufstelle und interne Beratungsabteilung für sämtliche Fachabteilungen des Konzerns rund um Themen von „Big Data“ und „Analytics“, vom Einkauf über Produkteentwicklung, Produktion und Entwicklung bis zu Marketing und Vertrieb. Auch Verwaltungsabteilungen wie Finanz, IT und HR profitieren von der Unterstützung des ASL. Dessen Mitarbeitende verfügen über das benötigte Fachwissen in Mathematik, Statistik und „Data Science“. Zudem übernimmt das ASL die wichtige Aufgabe eines internen „Übersetzers“ zwischen Business und IT.
Best-Practice-Beispiel kognitive Intelligenz: Globaler Versicherungskonzern, IBM WatsonTM für Helpdesk
Zahlreiche Unternehmen, die sich für erste Versuche und Pilotprojekte mit KI entscheiden, tun dies zunächst in Bereichen mit einem hohen Automatisierungspotenzial. Besonders beliebt sind Pilotprojekte im Bereich Support Services. So hatte sich auch diese Unternehmung für ein sogenanntes „Proof of Concept (POC)“-Projekt für das Help Desk entschieden, welches Support-Anfragen der internen Kunden, also seiner Mitarbeitenden, bearbeitet. Diese Anfragen beziehen sich auf die drei Bereiche HR, IT und Logistik (Facility und Workplace-Management). Von den im POC-Projekt realisierten Anwendungsfällen sind zwei besonders erwähnenswert: „Know Your Customer (KYC)“ und „Find the Right Solution“. Beide Lösungsansätze beruhten einerseits auf der Verknüpfung von zahlreichen verschiedenen Quellen von Daten sowie andererseits auf dem Einsatz einer kognitiven Technologie, die in der Lage ist, diese strukturierten und unstrukturierten Daten abzurufen und zu analysieren. Bei „KYC“ stellt die neue Lösung dem Mitarbeitenden des Help Desks zahlreiche nützliche Informationen zum internen Kunden zur Verfügung, und zwar bereits im Moment der Anfrage aufgrund der Inhalte einer Anfrage an das Help Desk per Ticket, E-Mail oder Telefon. Solche Informationen sind beispielsweise die Mitarbeiter-ID, die Kontaktdaten, IT-Benutzerdaten für Hardware und Software, frühere Help-Desk- Tickets und sogar Termindaten aus dem Kalender des internen Kunden. Im Anwendungsfall „Find the Right Solution“ unterstützt das neue System Mitarbeitende des Help Desks, indem es die (schriftliche oder telefonische) Anfrage des internen Kunden analysiert und mit den Daten in den verknüpften Datenbibliotheken
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vergleicht. Dazu gehören beispielsweise Arbeitsinstruktionen, Mitarbeiterhandbuch, Prozesshandbücher, ERP-Systeme, Intranet-Seiten sowie ältere Help-Desk-Tickets inklusive deren Lösungsbeschreibungen. Das System schlägt konkrete Quellen und Lösungen vor und bewertet diese mit einer Wahrscheinlichkeit in Bezug auf die Relevanz zur Anfrage. Damit kann die Agentin oder der Agent die richtige Antwort auf eine Anfrage oder die richtige Hilfestellung schneller und zuverlässiger erbringen als bisher. Die kognitive Fähigkeit der lernenden Maschine führt zudem dazu, dass sich die neue Lösung mit jeder Transaktion in der Qualität und Zuverlässigkeit der vorgeschlagenen Antworten weiter verbessert. Mit beiden beschriebenen Maßnahmen ließen sich nicht nur die Antwortzeiten des Help Desks reduzieren, sondern auch die Qualität des Supports verbessern. Beides führte zu einer höheren Effizienz und Effektivität der Dienstleistungen des Help Desks sowie einer erhöhten Zufriedenheit der internen Kunden. Mit der Realisierung solcher Lösungen machen diese Unternehmen nicht nur erste wichtige Erfahrungen mit der technischen Entwicklung und Implementierung von KI. Gleichzeitig erzielen sie den positiven Effekt, die notwendige und langwierige kulturelle Anpassung bei ihren Mitarbeitenden und ihren Kunden hinsichtlich des Vertrauens und des Verständnisses im Umgang mit den digitalen und kognitiven Lösungen zu schaffen. Das wiederum definiert die Anforderungen an die von den Arbeitenden in der Zukunft benötigten Fähigkeiten und Kompetenzen, und zwar nicht nur aus technischer oder fachlicher Sicht, sondern vor allem im Bereich der „weichen“ Faktoren. Mit den Anforderungen an die Arbeitenden hinsichtlich dieser Fähigkeiten und den Soft Skills werden wir uns in Abschn. 4.4 befassen.
4.3
Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit
4.3.1 Veränderungen in der Arbeitswelt Der Einsatz digitaler Technologien hat die Arbeitswelt in den vergangenen Jahren maßgeblich verändert. In erster Linie ist dieser Wandel auf die Vernetzung und die Anbindung mobiler Geräte an die Systeme, Daten und Prozesse des Arbeitsplatzes zurückzuführen. In einer Studie der Deloitte AG in der Schweiz, welche 2016 veröffentlicht wurde, untersuchte das Beratungsunternehmen die Trends in der Schweizer Arbeitswelt und deren Auswirkungen auf den Arbeitsplatz der Zukunft. Dazu wurden zwischen Dezember 2015 und Januar 2016 persönliche Interviews mit Experten aus 13 namhaften Unternehmen und aus dem Dachverband der Schweizer Wirtschaft, economiesuisse, durchgeführt. Darüber hinaus wurde in Zusammenarbeit mit dem Befragungsinstitut Research Now eine nach Alter, Geschlecht und Region repräsentative Umfrage unter 1000 in der Schweiz w ohnhaften Personen durchgeführt. Gemeinsam mit dem Verband Coworking Switzerland wurden zudem 38 Schweizer Coworking Spaces zum Thema befragt (Deloitte 2016, S. 2).
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C. Hättenschwiler
4.3.1.1 Veränderungen der Wirtschaftsstruktur und Sharing Economy Während vor 200 Jahren noch über 60 % der Beschäftigten in der Schweiz im primären Wirtschaftssektor (Land- und Forstwirtschaft) tätig waren, waren es 2013 gerade mal noch 3 %. Hingegen stieg die Anzahl Beschäftigter im tertiären Sektor (Dienstleistungssektor) in dieser Zeit von ca. 8 % auf 75 %. Haupttreiber dieser Entwicklung sind der technologische Fortschritt und die weltweite Arbeitsteilung. Sie haben dazu geführt, dass hunderttausende von Schweizer Arbeitsstellen im ersten und zweiten Sektor abgebaut wurden (Deloitte 2016, S. 4). Obschon neue Technologien ganze Berufszweige verschwinden ließen, gilt zu beachten, dass absolut betrachtet im tertiären Sektor bis heute viel mehr Stellen geschaffen als in den beiden anderen Sektoren abgebaut wurden. Allein in den letzten 25 Jahren entstanden in der Schweiz netto rund 800.000 Stellen, inklusive Teilzeitstellen (Deloitte 2016, S. 4). Nebst der Verschiebung der Bedeutung der Wirtschaftssektoren ergibt sich durch die Digitalisierung und die mobile Internetnutzung auch noch ein weiterer Trend in der Marktwirtschaft: die Sharing Economy. Über Onlineplattformen werden Güter und Dienstleistungen von Unternehmen oder Privatpersonen geteilt oder vermietet. Der Austausch über Onlineplattformen geht schnell und unkompliziert und führt zu einer effizienteren Nutzung der Ressourcen. Die Such- und Transaktionskosten tendieren gegen null, was den Preis der Güter und Dienstleistungen sinken lässt. Zweiseitige Bewertungssysteme sorgen darüber hinaus für Transparenz und schaffen Vertrauen (Deloitte 2016, S. 6). Diese Plattformen ermöglichen auch das Zusammenkommen von Angebot und Nachfrage nach Arbeit, denn ein physisches Zusammenkommen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber ist nicht mehr notwendig. Als Folge verändern sich die Arbeitstätigkeiten, und neue Arbeitsmodelle entstehen. 4.3.1.2 Wandel der Arbeitstätigkeiten Mit der beschriebenen Entwicklung hin zu einer Dienstleistungsgesellschaft gewinnen in der Schweiz sogenannte wissensbasierte Tätigkeiten an Bedeutung. Die Wissensarbeit steht in Kontrast zur Arbeit mit Muskelkraft. In der Schweiz ist die Anzahl der Beschäftigten in wissensintensiven Tätigkeiten seit 2008 von rund 1,7 Mio. auf 1,9 Mio. gestiegen. Gemessen an der gesamten Beschäftigung hat der Anteil wissensintensiver Tätigkeiten im selben Zeitraum von 40 % auf 43 % zugenommen. Damit weist die Schweiz im internationalen Vergleich einen der höchsten Werte aus (EU-Durchschnitt: 36 %, USA: 38 %) (Deloitte 2016, S. 5). Mit dieser Entwicklung hin zu wissensbasierten Tätigkeiten steigt auch die Bedeutung der Digitalisierung – vor allem die der mobilen Internetnutzung, dank der zu jeder Zeit und an jedem Ort auf Wissen zugegriffen und Wissen geteilt werden kann. Somit steigt der Anteil an mobilen und ortsungebundenen Tätigkeiten. Mit der Entwicklung in Richtung Sharing Economy ergibt sich eine zusätzliche Veränderung hinsichtlich der Arbeitstätigkeiten: Freelancing und Portfolio-Working gewinnen an Bedeutung. Als Freelancer bezeichnet man eine selbstständige Arbeitskraft, die eine
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69
Dienstleistung im Rahmen eines Auftrags oder Werkvertrags verrichtet, ohne beim Auftraggeber als Arbeitnehmer angestellt zu sein. Portfolio-Working ist eine Weiterentwicklung des Freelancings und beschreibt das Verrichten von Arbeitstätigkeiten in verschiedenen, meist branchenübergreifenden Bereichen für mehrere Auftraggeber und Kunden. Ein Portfolio-Worker ist also eine Person, die mehrere Jobs hat. Zum Beispiel erbringt sie vormittags telefonische Beratung für eine Anwaltskanzlei, doziert nachmittags an einer Schule und fertigt abends Portraitfotos an. Auf Onlineplattformen sind heute nicht nur Güter, sondern auch Dienstleistungen weltweit jederzeit verfügbar geworden. Die Firma Upwork beispielsweise vermittelt auf diese Weise 10 Mio. Freelancer an über 4 Mio. Nachfrager (Deloitte 2016, S. 6). Diese Trends in der Schweiz sind von Deloitte in einer weiteren, neueren Studie von 2018 mit dem Titel „Die Arbeitsplatz-Transformation im digitalen Zeitalter“ bestätigt worden: Digitale Geräte und Netzwerke sind für mehr als jeden zweiten Schweizer Beschäftigten maßgebend für die Ausübung des Berufes. Der Nutzungsanteil von PCs und Laptops an Arbeitsplätzen ist in den letzten 15 Jahren deutlich angestiegen. Im Jahr 2000 verwendeten 38 % aller Schweizer Beschäftigten einen Laptop oder PC bei der Arbeit, 2015 waren es bereits 58 %. Noch eindrücklicher ist die Entwicklung beim Internet, dessen Nutzungsquote im selben Zeitraum von 25 % auf 52 % stieg (Deloitte 2018, S. 6, Abb. 4.1). Der Trend hin zu mehr wissensbasierten Tätigkeiten und immer stärkerem Einsatz digitaler Technologien wirkt sich auch auf die geforderten Kompetenzen von Mitarbeitenden aus.
Digitale Geräte
Digitale Netzwerke
58 %
38 %
2000
52 % 25 %
2015
Beschäftigte mit Laptop/PC bei der Arbeit
2000
2015
Beschäftigte mit Internetzugang
Anmerkung: Die Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil Beschäftigter an der Gesamtbeschäftigung
Abb. 4.1 Veränderungen in der Schweizer Arbeitswelt: Technologien. (Quellen: BFS, Eurostat, SECO, Deloitte Research, in: Deloitte 2018, S. 7)
70
C. Hättenschwiler Soziale Kompetenzen
38 % 1990
Tertiäre Bildungsabschlüsse
Kreativität
58 %
46 %
67 %
40 % 24 %
2013
Beschäftigte, die hohe soziale Kompetenzen benötigen
2000
2017
Beschäftigte mit tertiärem Abschluss
1990
2013
Beschäftigte, die ausgeprägte komplexe Problemlösungsfertigkeiten benötigen
Anmerkung: Die Prozentangaben beziehen sich auf den Anteil Beschäftigter an der Gesamtbeschäftigung
Abb. 4.2 Veränderungen in der Schweizer Arbeitswelt: Kompetenzen. (Quellen: BFS, Eurostat, SECO, Deloitte Research, in: Deloitte 2018, S. 7)
Nun könnte man annehmen, dass dies vor allem erhöhte technische Fähigkeiten betrifft und andere, soziale Kompetenzen durch verstärkten Einsatz digitaler Technologien an Wichtigkeit verlieren. Dies ist jedoch nicht der Fall – im Gegenteil: Die Wichtigkeit sozialer, kommunikativer und kreativer Kompetenzen hat zugenommen und wird im Zuge wachsender Digitalisierung vermutlich noch steigen. Von 1990 bis 2013 hat sich die Anzahl der Beschäftigten, welche hohe soziale Kompetenzen benötigen, von 38 % auf 46 % erhöht. Die Anzahl der Beschäftigten, die in ihrer beruflichen Tätigkeit ausgeprägte Fertigkeiten zur Findung komplexer Problemlösungen benötigen, ist im selben Zeitraum von 58 % auf 67 % gestiegen (Deloitte 2018, S. 6, Abb. 4.2). In Abschn. 4.4 gehe ich auf die aus meiner Sicht in der Zukunft geforderten Kompetenzen näher ein.
4.3.2 Der Arbeitsplatz im Wandel Als Folge des im vorangehenden Kapitel beschriebenen Wandels in der Arbeitswelt verändert sich der Arbeitsplatz. Der moderne Arbeitsplatz soll die Bedürfnisse einer technologisierten, mobilen und digitalen Arbeitswelt hinsichtlich einer ortsunabhängigen Kommunikation und Kollaboration erfüllen, damit die Arbeitenden ihre Leistung effizient und effektiv erbringen können. Wie eine Befragung von Mitarbeitern in fünf unterschiedlichen Industrieländern zeigt, sind Mitarbeiter, die den physischen Arbeitsplatz und ihre Arbeitsumgebung als kollaborativ und flexibel wahrnehmen, engagierter und zufriedener und fühlen sich stärker mit dem Unternehmen verbunden (Deloitte 2018, S. 8). Es stehen jedoch nicht nur die Arbeitenden in der Pflicht, sich diese Fähigkeiten anzueignen, sondern auch die Unternehmen als Arbeitgeber, welche den Arbeitsplatz organisieren und den Arbeitenden zur Verfügung stellen. Der ideale Arbeitsplatz soll die Anforderungen von
4 Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und die benötigten Soft Skills … Leben in Ihrem Unternehmen Vorgesetzte flexibles Arbeiten vor?
Gibt es in Ihrem Unternehmen Richtlinien für flexibles Arbeiten?
5%
71
Unterstützt Ihr direkter Vorgesetzter flexibles Arbeiten?
12 % 24 %
14 %
39 %
10 %
36 %
20 %
28 %
6%
24 % 49 % 33 % Ja, flexiblen Arbeitsort Ja
Ja
Eher ja Eher nein Nein, gar nicht Weiß nicht
Nein
Ja, flexible Arbeitszeiten Ja, beides Nein, weder noch
Weiß nicht
Weiß nicht
Abb. 4.3 Flexibler Arbeitsplatz: Organisationskultur und -struktur. (Quelle: Deloitte 2018, S. 7)
Flexibilität und Konnektivität erfüllen. Bei der Beurteilung dieser Maturität sind zwei Aspekte wichtig: Kultur und Struktur einer Organisation. Beide müssen so gestaltet sein, dass sie den idealen Arbeitsplatz und damit das flexible Arbeiten ermöglichen. Wie Abb. 4.3 verdeutlicht, bestätigt die Mehrheit der befragten Arbeitenden, dass die Voraussetzungen für flexibles Arbeiten an ihrem Arbeitsplatz bestehen. Jedoch gaben nur gerade 39 % der Befragten an, dass es in ihrem Unternehmen überhaupt Richtlinien für flexibles Arbeiten gebe. Es gilt allerdings zu beachten, dass es bedeutende Unterschiede nach Unternehmensgröße gibt. Bei Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitenden steigt der Anteil auf 55 %. Demgegenüber liegt der Anteil bei Unternehmen mit weniger als 50 Mitarbeitenden lediglich bei 24 %. Immerhin unterstützen rund zwei Drittel der Vorgesetzten der Befragten flexibles Arbeiten, wobei 36 % flexible Zeiten, 10 % flexible Arbeitsorte und 20 % beides unterstützen. Die Arbeitsortflexibilität ist bei den Vorgesetzten also noch deutlich weniger akzeptiert als die Arbeitszeitflexibilität (Deloitte 2018, S. 12). Werte, Normen und Verhaltensmuster, also die kulturellen Aspekte einer Organisation, ermöglichen die Bereitschaft und Fähigkeit der Mitarbeitenden für ein agiles, mobiles und flexibles Arbeiten. Deshalb ist es wichtig, dass Vorgesetzte flexibles Arbeiten nicht nur unterstützen, sondern auch vorleben und so mit gutem Beispiel vorangehen (Deloitte 2018, S. 12). Mehr als die Hälfte der Befragten (57 %) sind der Meinung, dass dies bereits mehr oder weniger der Fall ist. Demgegenüber gaben 38 % an, dass ihre Vorgesetzten flexibles Arbeiten nicht vorleben. Das Vorleben dieser Führungskultur ist jedoch ein wichtiges Element, denn dies wirkt sich auf die Motivation und die Produktivität der Mitarbeitenden aus und hat damit einen direkten Einfluss auf den Erfolg eines Unternehmens. Grundsätzlich lässt sich der Arbeitsplatz in drei Hauptbereiche unterteilen: Technologie, Ort und Personen. Ich befasse mich in meinem Beitrag nicht weiter mit den ersten beiden Bereichen, sondern konzentriere mich auf den dritten Faktor, die Personen. Insbesondere soll
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C. Hättenschwiler
beleuchtet werden, welches die Anforderungen an die Personen, also die Arbeitenden, in Bezug auf die zukünftig benötigten Fähigkeiten sind. Damit soll der Anschluss an die im vorherigen Abschnitt erwähnten Kompetenzanforderungen gemacht und vertieft werden. Hierbei sollen vor allem die „weichen“ Aspekte der Kompetenzen und Fähigkeiten, also die sogenannten Soft Skills, beleuchtet werden.
4.4
rkenntnisse und Empfehlungen für künftige Kompetenzen E und Soft Skills
Ich bin aufgrund meiner Beobachtungen und Erfahrung im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit als Unternehmensberater für Veränderungsmanagement zu der Überzeugung gelangt, dass die Chancen und die Vorteile der digitalen Technologien und der kognitiven Lösungen die negativen Aspekte und Auswirkungen auf die Arbeits- und Beschäftigungsmodelle wettmachen und sogar überwiegen. In der Schweiz belegen aktuelle Zahlen, dass die Beschäftigungsquote weiter ansteigt, und zwar um 1,3 % für das erste Quartal 2019 auf 5,07 Mio. Beschäftigte (BFS 2019). Die aktuelle Situation und der aktuelle Beschäftigungstrend sind also positiv. Doch wie verändern sie unsere Arbeit und unsere Tätigkeiten? Mit jedem technologischen Wandel verändert sich unsere Arbeitswelt. Viele Jobs, die es schon vor Jahrzehnten gab, sind heute nicht mehr dieselben. Zahlreiche Jobs, die es heute gibt, existieren erst seit wenigen Jahren. Und welche Fähigkeiten, Kompetenzen und Jobs benötigen die Organisationen in fünf oder zehn Jahren? Transformationsprojekte können durch ein professionelles Change-Management erfolgreich unterstützt werden. Doch welche Aspekte im Veränderungsmanagement sind tatsächlich nützlich und führen zum gewünschten Erfolg? Ist es die langjährige Erfahrung und Kompetenz des Projekt-Managers? Das fundierte Methodenwissen der Change-Managerin, die Führungsqualität der Vorgesetzten? Oder ist es eine Kombination mehrerer der genannten Elemente? Change-Management ist keine Raketenwissenschaft. Methoden und Modelle gibt es zuhauf, und sie unterscheiden sich inhaltlich oft kaum voneinander. Beratungsunternehmen rühmen sich oft mit ihren Vorgehensweisen und versuchen, ihre Kunden davon zu überzeugen, dass ihre jeweilige Methode die beste sei. Selbstverständlich ist es sinnvoll und nützlich, in einem Veränderungsprojekt über eine bewährte und strukturierte Vorgehensmethode zu verfügen, um strategische und taktische Change-Management-Aktivitäten und Interventionen zu planen und zu entwickeln. Dazu gehören beispielsweise die Kommunikation (inklusive die Vermittlung der Vision und der Gründe einer Veränderungsinitiative), die Identifikation und Einbindung der beteiligten Personen und Gruppen (Stakeholder Engagement), die Anpassung der Organisationsstruktur und der Abläufe, die Durchführung von Change-Impact-Analysen, Schulungen und Change-Readiness-Analysen. Doch viel wichtiger und damit der entscheidende Erfolgsfaktor eines erfolgreichen Veränderungsmanagements ist die Fähigkeit zur Empathie. Versetzen Sie sich als Change-Manager, Projekt-Manager und Leader in die Lage der von einer Veränderung betroffenen Personen. Wie würden Sie empfinden, und welche Kommunikation würden Sie erwarten?
4 Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und die benötigten Soft Skills …
73
Oft liegt die Antwort, welche Aktionen und Tätigkeiten die verantwortlichen Manager planen und umsetzen sollen, dann auf der Hand. Es sind in erster Linie die Fähigkeiten der empathischen Anteilnahme und des gesunden Menschenverstandes, welche den Projektund Veränderungsverantwortlichen die richtigen Antworten und Prioritäten geben, welche Change-Management-Aufgaben geplant und umgesetzt werden sollen. Veranschaulichen wir dies an einem konkreten Beispiel: Wir nehmen an, die Geschäftsleitung eines Unternehmens hat beschlossen, die Betriebskosten zu optimieren, indem gewisse Prozesse mittels Softwareprogrammen automatisiert werden. Damit soll sowohl die Durchlaufzeit als auch die Qualität der Prozesse verbessert werden. Und schließlich resultiert daraus eine Reduktion der Beschäftigten und der Lohnkosten. Nehmen wir weiter an, dass einer dieser Mitarbeitenden, welcher in der zukünftigen Organisation keine Stelle mehr haben wird, über ein jahrelanges Fachwissen verfügt, welches für die Definition der funktionellen Anforderungen sowie die Entwicklung der Software durch einen externen Entwickler kritisch ist. Das bedeutet, der oder die Vorgesetzte soll nicht nur eine Entlassung aussprechen, sondern auch sicherstellen, dass das Expertenwissen des Mitarbeiters vor der Entlassung möglichst vollständig und reibungslos an den externen Entwickler übergeht. Wie gehen Sie als Vorgesetzter oder Vorgesetzte vor, und wie kommunizieren Sie dies gegenüber Ihrem Mitarbeiter? Versetzen Sie sich in die Lage des Mitarbeiters: Er hat über 20 Jahre für die Firma gearbeitet und macht sich Sorgen über seine Zukunft. Wird er in seinem Alter noch eine Stelle finden? Wie kann er seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommen, wenn er keine neue Arbeit findet? Warum ist gerade er betroffen, der doch all die Jahre loyal und zuverlässig seinen Arbeitsdienst verrichtet hat? Im persönlichen Gespräch mit diesem Mitarbeiter können Sie als Vorgesetzte oder Vorgesetzter nicht alle diese Fragen beantworten. Und Sie tragen auch nicht die Verantwortung für die weitere persönliche und berufliche Entwicklung dieses Mitarbeitenden. Was Sie jedoch in Ihrer Rolle als Führungsperson tun sollten, ist, sich aufgrund einer guten Planung und Verdeutlichung der Situation auf dieses schwierige Gespräch mit dem Mitarbeiter gut vorzubereiten. Und es dann auf eine professionelle und faire Art und Weise durchführen, wie Sie es erwarten würden, sollten Sie sich selbst in der beschriebenen Lage befinden und vom Stellenabbau betroffen sein. Dies könnten Sie z. B. folgendermaßen tun: Kommen Sie rasch zur Sache, indem Sie die Entscheidung der Entlassung rasch und vorerst emotionslos, also sachlich, mitteilen. Dazu ist beispielsweise eine Formulierung wie die folgende angebracht: „Aufgrund der Restrukturierung wirst du in der zukünftigen Organisation leider keine Stelle mehr haben.“ Als Nächstes ist es wichtig, Dankbarkeit und Demut zum Ausdruck zu bringen, um dem Mitarbeiter die erwartete und verdiente Wertschätzung entgegenzubringen. „Ich bedanke mich im Namen des gesamten Führungsteams für deinen Einsatz und deine Loyalität unserer Firma gegenüber in all den Jahren.“ Schließlich erklären Sie dem Mitarbeiter, dass seine Hilfe beim Wissenstransfer an den externen Outsourcing Provider für den zukünftigen Erfolg der Unternehmung wichtig ist. Bitten Sie ihn dann höflich um seine Mithilfe und unterstützen Sie dieses Vorhaben gegebenenfalls mit monetären oder nicht-monetären Anreizen.
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C. Hättenschwiler
Der empfohlene Ansatz funktioniert in der Praxis tatsächlich recht gut, indem die betroffenen Mitarbeitenden die für Sie negative Entscheidung zwar bedauern, dank der ehrlichen und transparenten Kommunikation aber gut nachvollziehen können. Auch die Bereitschaft zur Mithilfe beim Wissenstransfer ist üblicherweise vorhanden, da sich die Wissensträger geschätzt fühlen und ihnen der Erfolg „ihres“ Unternehmens wichtig ist. Was zeigt uns dieses praktische Beispiel? Um Menschen in einer Veränderung begleiten und unterstützen zu können, ist also weder ein ausgeprägtes Methodenwissen noch jahrelange Erfahrung als Change-Manager, sondern Einfühlungsvermögen und emotionale Intelligenz notwendig, um sich in die Situation der betroffenen Personen hineinzuversetzen und deren Bedürfnisse und Emotionen nachvollziehen zu können. Diese Kompetenz ist eine der Grundvoraussetzungen, um als Vorgesetzte oder Vorgesetzter in einer Zeit des raschen Wandels und zunehmender Komplexität erfolgreich Mitarbeitende zu führen und für die Betroffenen negative Entscheidungen umsetzen zu können. Nebst Empathie und emotionaler Intelligenz gibt es weitere entscheidende Kompetenzen und Soft Skills, die für uns Arbeitende in der Zukunft aufgrund des Wandels wichtig sind (Abb. 4.4). Nachfolgend sind diese aus meiner Sicht zehn wichtigsten weichen Kompetenzen, die „Soft Skills“, detaillierter beschrieben und mit einer Begründung versehen, warum sie aufgrund der durch die Digitalisierung verursachten Veränderungen und des daraus resultierenden Wandels der Arbeit für die Arbeitenden zukünftig entscheidend sind.
1. Empathie und emotionale Intelligenz 10. Lebenslanges Lernen und Arbeitsmarktfähigkeit
2. Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeit
9. Mut zu Fehlern und Misserfolgen
3. Neugierde und Interesse
8. Eigenverantwortung, Selbstdisziplin und Vertrauen
♥
7. Mobilität, Agilität und Flexibilität
4. Kreativität und Innovationskraft 5. Mut zu Neuem und Unbekanntem
6. Lösungsorientiertes Denken in Optionen
Abb. 4.4 Die zehn wichtigsten Soft Skills der Zukunft
4 Die Auswirkungen der Digitalisierung auf die Arbeit und die benötigten Soft Skills …
75
4.4.1 Empathie und emotionale Intelligenz Diese Kompetenz umfasst das persönliche Einfühlungsvermögen, um die Bedürfnisse und die Emotionen anderer zu verstehen, aber auch, um die eigenen Bedürfnisse und Emotionen zu erkennen. Empathie und emotionale Intelligenz helfen uns, persönliche Beziehungen und Vertrauensverhältnisse aufzubauen und zu pflegen. Denn um mit Menschen erfolgreich zusammenarbeiten zu können und Veränderungen erfolgreich zu realisieren, sind Einfühlungsvermögen und Vertrauen notwendig. Intelligente und kognitive Maschinen können heutzutage zwar Emotionen mittels Analyse von Gesichtsausdrücken von Personen erkennen. Doch Maschinen selbst verfügen über keine Gefühle. Mit dem zunehmenden Einsatz von Maschinen und Robotern in unserer digitalisierten Welt gewinnen die Besonderheiten und Stärken des Menschseins an Relevanz und Wichtigkeit. Auf diese Weise können sich Mensch und Maschine ideal ergänzen.
4.4.2 Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeit Nebst der Fähigkeit, die eigenen und fremden Bedürfnisse und Emotionen zu verstehen, müssen Arbeitende und Führungskräfte in der Lage sein, diese im Kontext von Verhandlungen und Zusammenarbeiten effektiv zu kommunizieren. Die eigene Kommunikationsfähigkeit ist eine wichtige Voraussetzung für zwischenmenschliche Beziehungen und für die Fähigkeit, in Teams zusammenzuarbeiten. Diese Teams sind heutzutage in der Regel interdisziplinär zusammengesetzt mit Personen aus unterschiedlichen Funktionen, Hierarchie- und Bildungsstufen sowie mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen im Rahmen der digitalisierten, globalisierten Arbeitswelt. Eine gute Kommunikationsfähigkeit zeichnet sich aber nicht nur durch überdachte und sorgfältig gewählte Formulierungen aus, sondern auch durch eine gute Fragetechnik sowie die Fähigkeit des Zuhörens. Aktives Zuhören gewinnt weiter an Wichtigkeit, denn die Anzahl der Besprechungen, an denen die Beteiligten physisch zusammenkommen, werden immer seltener. Die räumliche Distanz der Kommunikationspartner wirkt sich auf das zwischenmenschliche Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitenden aus. Bei der Verwendung digitaler Kommunikationskanäle, insbesondere in virtuellen Meetings, erhöhen sich deshalb die Anforderungen an eine starke und klare Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeit enorm.
4.4.3 Neugierde und Interesse Neugierde und Interesse sind die Motoren des Fortschritts. Sie treiben uns an, verstehen zu wollen, wie Dinge oder Menschen funktionieren. Damit können wir Bestehendes verbessern und Neues entdecken.
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Diese Soft Skills sind eine wichtige Voraussetzung, um andere Menschen und Positionen zu verstehen und damit erfolgreich mit anderen Menschen zusammenzuarbeiten. Echtes Interesse ist eine innere Grundhaltung und kann nicht vorgetäuscht oder vorgespielt werden. Eine interessierte Haltung fällt positiv auf einen zurück, denn wer interessiert ist, wirkt interessant. Da die technologischen Entwicklungen in der Digitalisierung in allen Berufs- und Lebensbereichen immer komplexer und die Zyklen immer kürzer werden, ist diese Kompetenz ebenfalls von sehr großer Wichtigkeit.
4.4.4 Kreativität und Innovationskraft Eng verbunden mit der Neugierde ist die Fähigkeit der Kreativität und damit der Kraft, Neues zu erschaffen. Neue Ansätze und Lösungen, die aus einem Kreativitätsprozess entstehen und zu einem Nutzen für die Beteiligten, z. B. für Kunden oder Mitarbeitenden, führen, bezeichnen wir als innovativ. Auch hier können sich Mensch und Maschine ergänzen. Letztere kann die Vergangenheit (Daten, Historien) analysieren, während der Mensch in der Lage ist, abstrakt, imaginär und visionär zu denken. In Zukunft werden intelligente Maschinen in der Lage sein, uns bei der Identifikation und der Kombination von Lösungskomponenten behilflich zu sein. Da die Problemstellungen in heutiger Zeit immer komplexer werden, ist die Fähigkeit und Disziplin erforderlich, übergreifend zu denken und zusammenzuarbeiten. Um komplexe Probleme analysieren und lösen zu können, ist ein interdisziplinäres und kreatives Denken unerlässlich. Veranschaulichen wir uns dies am Beispiel des Klimawandels: Diese Thematik betrifft nicht nur den Meteorologen und Klimatologen, sondern erfordert auch das Fachwissen des Biologen, Chemikers, Geologen, Physikers, Ingenieurs, Soziologen und Politologen. Kreativität und Innovationskraft sind außerdem wichtig, um kompetitiv und wettbewerbsfähig zu bleiben – dies gilt sowohl für Organisationen wie auch für Individuen.
4.4.5 Mut zu Neuem und Unbekanntem In enger Relation zu Neugierde, Interesse und Kreativität stehen der Mut, Neues und Unbekanntes kennenzulernen, und die Fähigkeit, Gegebenes kritisch zu hinterfragen. Gerade in Projekten zur Realisierung von Lösungen mit neuen, digitalen Technologien inklusive KI ist zu Beginn der Reise oft nicht eindeutig ersichtlich und planbar, wohin und zu welchem Ziel die Reise führen wird. Zum einen kennen wir die Fähigkeiten der intelligenten Maschinen zu Beginn eines Projektes noch nicht in vollständigem Ausmaß, denn diese verändern und verbessern sich während der Laufzeit eines Projektes ständig. Und zum anderen ist es wegen der rasanten Geschwindigkeit und der immer kürzeren Veränderungszyklen praktisch unmöglich geworden, Dinge vollständig zu testen, bevor sie zur
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Anwendung kommen. Eine kritische und explorative Denkhaltung ist gefragt, und die Devise lautet: „Probieren geht über Studieren.“ Aus diesem Grund sind „Proof of Concept“, Prototypen und iteratives Testen wesentliche Merkmale in agilen Transformationsprojekten und in agilen Organisationen. Zu dieser Kompetenz gehört auch der Mut, unternehmerische Risiken einzugehen, d. h. im Besonderen, mit Unsicherheiten und Unvollständigkeiten umgehen zu können und rasche Entscheidungen zu treffen – oftmals trotz unvollständiger Informationen und Entscheidungsgrundlagen.
4.4.6 Lösungsorientiertes Denken in Optionen Bei der Suche nach Problemlösungen ist es wichtig, sich in den Anspruchsteller und künftigen Nutznießer der zu findenden Lösung hineinzuversetzen. Dieser Prozess beginnt mit dem Verständnis für das eigentliche Problem sowie für die Bedürfnisse und Erwartungen der Anspruchsgruppen (z. B. des Kunden, des Mitarbeitenden im Mittelpunkt). In einer nicht-linearen, komplexen Welt wird es zunehmend schwieriger, die „eine, richtige Lösung“ zu finden. Meist gibt es mehrere mögliche Lösungsansätze. Darum ist das Denken in Optionen und Varianten eine wichtige Voraussetzung, um verschiedene Lösungsmöglichkeiten erkennen zu können. Anschließend führt eine transparente und sachliche Bewertung der verschiedenen Ansätze zur erfolgreichen Entscheidungsfindung. Das lösungsorientierte Denken in Optionen ist zudem wirkungsvoll, um Risiken erfolgreich zu behandeln. Wenn Sie einen sogenannten „Plan A“ verfolgen, dann kann es hilfreich sein, sich einen „Plan B“ als Alternative zu überlegen. Sollte der ursprüngliche Plan A nicht erfolgreich sein, kann rasch und selbstverständlich auf Plan B (oder sogar Plan C) ausgewichen werden. Eine solche Überlegung hat außerdem den psychologischen Vorteil, dass man sich flexibel und auf Eventualitäten gut vorbereitet fühlt.
4.4.7 Mobilität, Agilität und Flexibilität Die Erbringung der Arbeitsleistung ist dank der Vernetzung und dem Einsatz digitaler Arbeitsinstrumente orts- und zeitunabhängig möglich („Work anytime and anywhere“). Zunehmende Anforderungen, Geschwindigkeit und Komplexität erfordern ein agiles und flexibles Agieren und Reagieren (z. B. die Fähigkeit, rasche Entscheidungen zu treffen). Der Begriff „Agilität“ bezieht sich hier auch darauf, wie Projekte organisiert und durchgeführt werden (agiles Projekt-Management) und wie Institutionen und Unternehmen sich organisieren (agile Organisation). Aus Sicht des Individuums bedeutet dies, dass wir unsere Fähigkeit zur Anpassung an neue Situationen weiter verbessern müssen, indem wir auch die Geschwindigkeit, wie schnell wir uns verändern und anpassen können, erhöhen müssen. Dies beinhaltet auch die Fähigkeit, Veränderungen zu antizipieren.
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4.4.8 Eigenverantwortung, Selbstdisziplin und Vertrauen Agiles Führen setzt voraus, dass Führungskräfte ihren Mitarbeitenden Vertrauen und Freiheiten geben. Dies erfordert von Seiten der Vorgesetzten Kompetenzen in Coaching und Befähigung (Vertrauen statt Kontrolle). Von Seiten der ausführenden Personen setzt dies Eigenverantwortung und Selbstdisziplin voraus, um die Anstrengungen und Bemühungen aufzubringen, die gesetzten Ziele zu erreichen. Die Wichtigkeit von Vertrauen bei der Arbeit kann nicht genug betont werden. Denn ein hohes Maß an Vertrauen ermöglicht Engagement und Teamwork, und das ist besonders in der vierten industriellen Revolution wichtig, in der es im Kern um Kollaboration und Innovation geht (Schwab 2016, S. 109). Das Vertrauen gewinnt weiter an Bedeutung aufgrund der zunehmenden Mobilität und Virtualität unserer Arbeit.
4.4.9 Mut zu Fehlern und Misserfolgen Der Umgang mit Unsicherheiten und sich stetig verändernden Anforderungen und Rahmenbedingungen verlangt Mut. Dazu gehört nicht nur der Mut, Veränderungen zu akzeptieren, also Altes zu hinterfragen und Neues anzugehen, sondern auch der Mut, Fehler zu machen und mit Misserfolgen umgehen zu können („Dare to Fail“). Denn Fehler passieren, wenn Individuen oder Organisationen Neues und Unbekanntes ausprobieren – besonders in Projekten mit neuen digitalen und kognitiven Technologien, wenn die Lösung oder das Resultat zu Beginn des Projektes noch nicht vollständig ersichtlich und planbar ist. Damit verbunden sind auch eine gesunde Einstellung zu einem professionellen Pragmatismus sowie der bewusste Verzicht auf Perfektionismus im Sinne der Sache und sofern möglich. Unerlässlich allerdings sind die Bereitschaft und das Verständnis, die Ursachen allfälliger Fehler zu analysieren, um daraus zu lernen und dieselben Fehler fortan zu vermeiden.
4.4.10 Lebenslanges Lernen und persönliche Arbeitsmarktfähigkeit Aufgrund des extremen Wandels im Rahmen der Digitalisierung in Bezug auf Technologien, Arbeitsformen und Arbeitstätigkeiten ist es unerlässlich, dass Organisationen und Personen ihre Fähigkeiten und ihr Wissen ständig und unaufhörlich verbessern. Das lebenslange Lernen und das fortwährende Annehmen von Neuem sind eine wichtige Anforderung an uns Arbeitende – sonst droht der Verlust der Arbeitsmarktfähigkeit. Hinzu kommt, dass die Arbeitsmarktfähigkeit des Individuums nicht mehr wie früher in der Verantwortung des Arbeitgebers liegt, sondern in derjenigen der Arbeitskraft selbst. Auch die Verantwortung für die Karriere liegt damit bei jedem selbst (sogenannte „Prote ische Karriere“ gemäß Douglas T. Hall, d. h. eine selbstbestimmte und aufgrund der individuellen Werteveranlagung bestimmte und anpassungsfähige Karriere). Die Anbieter von
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Arbeitsleistungen und die Nachfrager nach Arbeit stellen sich zunehmend auf neue Arbeitsformen und -modelle ein wie z. B. Freelancing und Portfolio-Working. Ein lebenslanges Lernen und der ständige Gewinn neuer Fähigkeiten und Kenntnisse sind wichtig, um in einer Zeit, in welcher Komplexität und Geschwindigkeit zunehmen, die eigenen Möglichkeiten und Leistungen im Rahmen der Interdisziplinarität und im Rahmen des Gesamtkontexts verstehen und selbstkritisch bewerten zu können.
4.5
Fazit und Handlungsempfehlungen
Zusammengefasst kann man sagen, dass sämtliche dieser kritischen „Soft Skills“ sich auf die Art und Weise des Menschseins beziehen und die Kompetenzen, die notwendig sind, um komplexe Probleme im Kontext der Digitalisierung mittels sozialer Interaktionen zu lösen. Die Wichtigkeit dieser sozialen, kommunikativen und kreativen Kompetenzen wird im Rahmen der Digitalisierung in der Zukunft vermutlich zunehmen. Als Arbeitende, sei es als Angestellte, Freelancer oder Vorgesetzte, tun wir gut daran, nebst den benötigten fachlichen und technischen Fachkenntnissen diese „Soft Skills“ zu erlernen, anzuwenden und stetig weiterzuentwickeln. Auf diese Weise können wir in der digitalen Arbeitswelt der Zukunft unsere Arbeitsmarktfähigkeit bewahren und bei der Ausübung unserer Arbeit erfolgreich sein. Falls Sie dem Führungsteam einer Unternehmung angehören, dann ist es Ihre Verantwortlichkeit, die Unternehmensstrategie zu definieren, insbesondere in Bezug auf die Digitalisierung. Dabei stellen Sie die für Ihre Unternehmung maßgebenden Kundschaft ins Zentrum Ihrer Überlegungen. Kennen Sie die Bedürfnisse und Erwartungen Ihrer Kunden? Können Sie diese allenfalls mittels vorhandener Daten analysieren und bestimmen? Sobald Sie im strategischen Management die Markt- und Wettbewerbsstrategie definiert haben, gilt es, die Organisation Ihrer Unternehmung entsprechend auszurichten und zu entwickeln. Da Komplexität und Geschwindigkeit der Veränderung ständig zunehmen, ist es wichtig, dass Sie die Aufbauorganisation (die Struktur) sowie die Ablauforganisation (Prozesse) möglichst agil gestalten. Versuchen Sie, starre Organisationseinheiten, Silodenken und Inflexibilität aufzubrechen und stattdessen eine agile, adaptive Organisation zu verankern, welche in der Lage ist, rasch und flexibel auf die sich ändernden Kundenanforderungen und Marktdynamiken zu reagieren. Fördern Sie eine flache Hierarchie, welche ein agiles und eigenverantwortliches Zusammenwirken ermöglicht. Reduzieren und eliminieren Sie bürokratische Hindernisse, und stellen Sie sicher, dass Schlüsselpersonen an strategischen Entscheidungsfindungen partizipieren können. Fördern Sie Offenheit, Transparenz und Wissensaustausch, und betonen Sie die Wichtigkeit einer positiven Fehlerkultur. Verankern Sie diese Grundhaltung in Ihrer Mission und vermitteln Sie diese Ihren Kunden, Partnern und Mitarbeitenden. Seien Sie visionär, inspirierend, provozierend, um Ihre Unternehmung von Ihren Mitbewerbern abzugrenzen und erfolgreich bei Ihren Kunden im Markt zu positionieren. Hinterfragen Sie ständig, um sich zu verbessern, und gehen Sie als
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Top-Manager mit gutem Beispiel voran, um diese agile Denkhaltung in der Kultur Ihres Unternehmens und in den Köpfen und Herzen Ihrer Mitarbeitenden zu verankern. Fördern Sie zusammen mit Ihrem Managementteam ein „Wir-Gefühl“ in Ihrer Organisation, und kommunizieren Sie die Unternehmensvision als klaren Daseinszweck zum Nutzen und zum Wohl Ihrer Kunden. Überprüfen Sie regelmäßig mittels direktem Feedback Ihrer Kunden, Mitarbeitenden und Geschäftspartner, ob Ihre Bemühungen tatsächlich zielgerecht und erfolgreich sind. Die Aufgabe des mittleren und unteren Managements in der Linie und in Human Resources ist es, die agile Transformation erfolgreich umzusetzen. Dazu gehören einerseits die organisatorischen und logistischen Aufgaben. Fördern Sie das agile und mobile Arbeiten, indem sie die notwendige Infrastruktur bereitstellen, z. B. digitale Geräte und Tools zur Kollaboration. Legen Sie Wert darauf, Ihre Mitarbeitenden entsprechend zu schulen, damit diese die Tools und Technologien optimal einsetzen und nutzen. Bestimmen Sie zudem Richtlinien bezüglich Arbeitsort, Arbeitsplatz und Arbeitszeit, welche das agile, mobile und virtuelle Arbeiten in Ihrer Organisation unterstützen. Entwickeln Sie Rollen und Verantwortlichkeiten, welche die agile Transformation tragen (z. B. „Agile Coaches“, „Change Agents“, „SCRUM Masters“) und mittels agiler Techniken unterstützen (z. B. Entwicklung von „User Stories“, „TDD, Test Driven Development“). Achten Sie bei der Rekrutierung und Fachkräftesicherung nebst den „harten“ Fachkenntnissen auch auf die „weichen“ Komponenten, um die richtigen Talente anzustellen, welche zur Kultur und zu den Werten Ihrer agilen Unternehmung passen. Denn um die Veränderungen in der vierten industriellen Revolution erfolgreich meistern zu können, benötigen Sie ein Team von Mitarbeitern, welche nicht nur mit den technologischen, sondern auch mit den sozialen Kompetenzen ausgestattet sind. Berücksichtigen Sie dabei die demografischen Veränderungen. Denn ab 2025 bilden die Millennials weltweit 75 % der Arbeitskräfte (EY 2015, S. 1). Legen Sie bei der Rekrutierung neuer Mitarbeitenden Wert auf gute interpersonelle und interkulturelle Fähigkeiten. Fördern und stärken Sie die Moderations- und Vermittlungskompetenzen Ihrer Kolleginnen, Kollegen und Mitarbeitenden sowie deren Fähigkeiten, Interessenskonflikte zu lösen. Überlegen und entscheiden Sie, inwiefern die digitalen Technologien, insbesondere kognitive Lösungen, Ihre Arbeitsabläufe unterstützen oder übernehmen können. Welche Arbeiten können von einer Maschine und welche von Menschen erledigt werden? Machen Sie sich mit neuen Kommunikations- und Führungsphilosophien vertraut, z. B. GFK (Gewaltfreie Kommunikation) oder „Servant Leadership“, und nutzen Sie die positiven Aspekte dieser Methoden, um sich als Führungsperson vom (Mikro-)Manager zum Coach und Leader zu entwickeln. Befähigen Sie Ihre Mitarbeitenden als Coach und helfen Sie ihnen bei der Entwicklung ihrer Karriere. Führen Sie mit Empathie und emotionaler Intelligenz, und seien Sie ein „Role Model“, welches mit gutem Beispiel, Geradlinigkeit und tadellosem Verhalten vorausgeht und seinen Mitarbeitenden Sinnhaftigkeit vermittelt.
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Generell gilt für uns alle: Seien wir offen für und neugierig auf Neues, und betrachten wir Veränderungen als Chancen. Denn im Rahmen der Digitalisierung und der vierten industriellen Revolution sind es nicht nur die Technologien und Organisationen, welche sich verändern. Sondern vor allem wir Menschen. Handlungsempfehlungen
• Für Unternehmer: –– Richten Sie die Wertschöpfungskette und die Organisation Ihrer Unternehmung konsequent auf die Bedürfnisse Ihrer Kunden aus. –– Nutzen Sie die Möglichkeiten digitaler Technologien, indem Sie Prozesse automatisieren, und setzen Sie Ihr Humankapital dort ein, wo Ihre Mitarbeitenden Maschinen ergänzen. –– Fordern und fördern Sie bei Ihren Mitarbeitenden nicht nur die „Hard Skills“ (fachliche und technische Fähigkeiten), sondern insbesondere deren „Soft Skills“ (z. B. innovatives Denken in Lösungsoptionen). • Für Arbeitnehmer: –– Seien Sie neugierig auf und offen für neue digitale Technologien sowie flexibel für Veränderungen. –– Überprüfen und entwickeln Sie Ihre persönliche Arbeitsmarktfähigkeit, indem Sie sich fachlich und technisch weiterbilden. –– Arbeiten Sie an der Weiterentwicklung Ihrer Soft Skills und schärfen Sie Ihr Profil bezüglich Kommunikation, Kollaboration und Interaktion mit anderen Menschen.
Literatur BFS. (2019). Beschäftigungsstatistik. https://www.bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/industriedienstleistungen/unternehmen-beschaeftigte/beschaeftigungsstatistik.html. Zugegriffen am 17.07.2019. Deloitte. (2016). Der Arbeitsplatz der Zukunft. Wie digitale Technologie und Sharing Economy die Schweizer Arbeitswelt verändern. https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ch/Documents/consumer-business/ch-cb-de-der-arbeitsplatz-der-zukunft.pdf. Zugegriffen am 22.02.2019. Deloitte. (2018). Die Arbeitsplatz-Transformation im digitalen Zeitalter. Herausforderungen und Erfolgsfaktoren. https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/ch/Documents/innovation/chde-workplace-of-the-future.pdf. Zugegriffen am 22.02.2019. Deloitte. (2019). Tech Trends 2019: Beyond the digital frontier. Deloitte Insights, 10th Anniversary Edition. https://www2.deloitte.com/content/dam/Deloitte/br/Documents/technology/DI_TechTrends2019.pdf. Zugegriffen am 22.02.2019. EY. (2015). Global generations. A global study on work-life challenges across generations. https:// www.ey.com/Publication/vwLUAssets/Global_generations_study/$FILE/EY-global-generations-a-global-study-on-work-life-challenges-across-generations.pdf. Zugegriffen am 08.08.2019.
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Leonhard, G. (2019). Technologie ist cool. Aber Menschein ist cooler. Land der Gesundheit. https:// www.landdergesundheit.de/fortschritt/technologie-cool-menschsein-cooler. Zugegriffen am 15.07.2019. Schwab, K. (2016). The fourth industrial revolution (S. 19). Cologny/Genf: World Economic Forum. Spinnler, T. (2018). Börse ARD. https://boerse.ard.de/boersenwissen/boersengeschichte-n/kodakselfmade-ins-digitale-abseits100.html. Zugegriffen am 20.07.2019.
Christian Hättenschwiler (Dipl.-Betriebsökonom) verfügt über eine 25-jährige Berufserfahrung im Verkauf und in der Unternehmensberatung. Als Business Consultant, Projektleiter und Coach unterstützt er nationale und internationale Unternehmungen in strategischen Transformationen. Die Kernkompetenz seiner Beratungstätigkeit bildet das organisations- und technologiegetriebene Veränderungsmanagement. Als Change Management Consultant und Mitglied des Managements bei Deloitte Consulting und IBM Schweiz, Global Business Services, begleitete er in den vergangenen 13 Jahren die Mitarbeitenden von Unternehmen in verschiedenen Branchen in Kommunikation, Stakeholder Engagement, Organisationsdesign, Kultur, Leadership sowie Knowledge Management und Training im Rahmen digitaler und organisatorischer Veränderungsinitiativen. Christian Hättenschwiler ist zurzeit als Freelancer und selbstständiger Change Manager, Coach und Trainer tätig.
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Künstliche Intelligenz im TalentManagement – die richtigen Hebel zur Chancenrealisierung Sonja Hollerbach und Clemens Kreimeier
Inhaltsverzeichnis 5.1 E inleitung 5.2 Was genau ist künstliche Intelligenz eigentlich? 5.3 In welchen Bereichen des Talent-Managements ist die Anwendung von künstlicher Intelligenz sinnvoll? 5.4 Wie künstliche Intelligenz in der Praxis aussehen kann 5.5 Anregungen zur Umsetzung von künstlicher Intelligenz in der Unternehmenspraxis 5.5.1 Die Technologie verstehen 5.5.2 Anwendungsbereiche der KI im Unternehmen identifizieren 5.5.3 Eine digitale Infrastruktur errichten 5.5.4 KI in einer sicheren Umgebung testen – und im Zweifelsfall justieren 5.5.5 KI langsam, aber sicher in tägliche Unternehmensprozesse integrieren 5.6 Fazit und Ausblick Literatur
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Schlüsselwörter
Künstliche Intelligenz · Machine Learning · People Analytics · Talent-Management · War for Talent · Mitarbeiter Performance
S. Hollerbach (*) EBS Universität für Wirtschaft und Recht, Frankfurt am Main, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Kreimeier EBS Universität für Wirtschaft und Recht, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_5
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S. Hollerbach und C. Kreimeier Lesernutzen Das Ziel des Beitrages ist es, das hochaktuelle und vielfach umstrittene Phänomen der künstlichen Intelligenz (KI) unkompliziert und leicht greifbar darzustellen. Besonderer Fokus der Anwendung von KI liegt hierbei auf dem unternehmenserfolgskritischen Bereich Talent-Management in Deutschland. Diese geografische Spezialisierung hängt mit der strengen DSGVO-Gesetzgebung zusammen, welche nur bestimmte KI-Anwendungen legalisiert. Eine verständliche Skizzierung der heute vorhandenen KI sowie gezielte Praxisbeispiele im Talent-Management inklusive Inspirationen ermöglichen ein auf Umsetzung programmiertes Verständnis dieser hochrelevanten Thematik für Unternehmenseigner sowie Manager im deutschen Kontext. Dieses Ziel wird anhand folgender Gesichtspunkte betrachtet:
• Was genau ist künstliche Intelligenz – eine verständliche Herleitung. Wo kann künstliche Intelligenz im Talent-Management sinnvoll einge• setzt werden? • Wie sieht die Anwendung bzw. die Implementierung von künstlicher Intelligenz in der Praxis aus? • Wie kann künstliche Intelligenz im Talent-Management schrittweise im Unternehmen integriert werden – und welche Schritte sind dafür notwendig?
5.1
Einleitung
Spätestens seit 1997, als der Schachcomputer „Deep Blue“ den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow besiegte, ist der Begriff „künstliche Intelligenz“ in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Auf das Grundlegendste heruntergebrochen, ist die Funktion dieser Technologie einfach zu verstehen. Im Wesentlichen imitiert KI menschliche Intelligenz. Dabei ermöglicht der Zugriff auf umfangreiche bereits bestehende Datenmengen es dieser Technologie, mit den kognitiven Fähigkeiten eines Menschen gleichzuziehen. Zudem hat sich das Einsatzspektrum der KI zum heutigen Zeitpunkt von der ursprünglichen Datenanalyse zum ei genständigem Treffen von Entscheidungen ausgedehnt. Die Möglichkeiten, welche das Konzept des eigenständigen Lernens eines Computers bietet, haben zu dem rasanten Bedeutungsanstieg in unserer Gesellschaft beigetragen. Applikationen wie Apples Siri und Amazons Alexa haben diese Technologie salonfähig gemacht. Jedoch wird KI längst nicht mehr nur im privaten Bereich eingesetzt. Auch die Wirtschaft bedient sich ihrer Vorteile. So werden unter anderem inzwischen KI-basierte Übersetzungsdienste wie DeepL dazu benutzt, sprachliche Barrieren zu überwinden.
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Ergänzend zu ihrer Funktion in der Kommunikation kann KI auch im Talent-Management eingesetzt werden, wie z. B. LinkedIn erfolgreich unter Beweis stellt. Auch deutsche Unternehmen haben diesen Einsatzbereich erkannt und sogenannte Chatbots im Recruitment implementiert. Als Beispiel kann hier der Chatbot Allie der Allianz herangezogen werden, welcher den Konzern bei dem Erstkontakt mit Bewerbern via Facebook unterstützt. In Zeiten des „War for Talent“ ist der Einfluss des Talent-Managements auf den langfristigen Erfolg eines Unternehmens unbestreitbar geworden. Gleichzeitig wächst die Nachfrage nach intelligenten Applikationen, die einen effizienten und effektiven Umgang mit Bewerbern und die Unterstützung von bestehenden Mitarbeitern ermöglichen. Daher besteht gerade an diesem Punkt großes Potenzial für Schnittstellen zwischen Talent-Management und künstlicher Intelligenz. Wie eingangs erwähnt, entwickeln sich Technologie und Einsatzrahmen von KI kontinuierlich weiter. Zukunftsorientierte Unternehmen dürfen diese Entwicklung nicht unterschätzen und sollten sich frühestmöglich mit dem Thema auseinandersetzen. Trotz ihrer wachsenden Bedeutung und der vielseitigen Einsetzbarkeit verwenden gerade einmal 20 % aller deutschen Unternehmen diese Technologie (Handelsblatt 2018). Während große deutsche Konzerne, wie z. B. Allianz oder Bosch bereits KI-basierte Technologien in ihre Prozesse implementiert haben, ist die breite Unternehmenslandschaft in Deutschland noch im Hintertreffen. Dieser Beitrag dient dazu, das Konzept der KI deutschen Unternehmern näherzubringen und mögliche Einsätze im Talent-Management zu beleuchten.
5.2
Was genau ist künstliche Intelligenz eigentlich?
Was ist künstliche Intelligenz? Die wohl einfachste Antwort auf diese Frage lautet: künstlich geschaffene, d. h. simulierte Intelligenz. Im Gegensatz zu der Einfachheit dieser Antwort stellt die Entwicklung dieser Technologie Forscher seit Jahren vor Herausforderungen – denn es besteht Unklarheit bezüglich eines Schlüsselelements der eben genannten Definition: der Intelligenz. Diese Unklarheit resultiert vor allem aus der Vielzahl an Attributen, welche Forscher auf Intelligenz zurückführen, wie z. B. Kreativität und logisches Denken (Tegmark 2017). Dieser philosophisch angehauchte Exkurs zeigt, dass eine allgemeingültige Definition der KI nach dem jetzigen Stand der Forschung noch nicht existiert. Dessen ungeachtet existieren bereits Technologien, welche als künstlich intelligent klassifiziert werden. Ein Beispiel, das die praktische Anwendung von KI dominiert, sind regelbasierte Systeme (Sallaba und Esser 2019). Regelbasierte Systeme sind ein erster Versuch, menschliche Intelligenz mithilfe von expliziten Regeln zu programmieren. Lassen Sie uns an dieser Stelle ein gemeinsames grundlegendes Verständnis der Funktionalität dieser Technologie schaffen. Stellen Sie sich bitte folgendes Szenario vor: Sie erklären Ihrem Kind, dass ein Tier, das ein gelbes Fell mit braunen Punkten und einen
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besonders langen Hals hat, „Giraffe“ genannt wird. Als Nächstes gehen Sie mit Ihrem Kind in den Zoo, in dem es, basierend auf Ihrer Beschreibung, problemlos dazu in der Lage sein wird, Giraffen von den anderen Tieren zu unterscheiden. Was passiert aber, wenn Sie ein Element Ihrer Beschreibung auslassen? Beispielsweise, indem Sie Ihrem Kind lediglich ein Bild mit dem Kopf einer Giraffe zeigen, wodurch der lange Hals außer Acht gelassen wird? Höchstwahrscheinlich wird Ihr Kind immer noch eine Giraffe auf dem Bild erkennen. Stellen Sie sich nun bitte vor, dass Sie folgende Bedingung in ein System eingeben: „WENN das Objekt gelb mit braunen Punkten ist UND einen langen Hals hat, DANN ist es als „Giraffe“ zu klassifizieren.“ Nun beauftragen Sie das System, aus 100 Tierbildern Bilder mit Giraffen zu filtern. Das System wird daraufhin die 100 Tierbilder analysieren und jene Bilder als „Giraffe“ identifizieren, auf denen ein gelbes Objekt mit braunen Punkten und einem langen Hals abgebildet ist. Bis zu diesem Punkt ist dieser Vorgang identisch mit dem Lernvorgang Ihres Kindes. Was passiert jedoch auf der Systemseite, wenn Sie hier ebenfalls ein Element der Beschreibung entfernen? Das System wird nicht mehr in der Lage sein, eine Giraffe zu erkennen. Woran das liegt? Das System benötigt eine hundertprozentige Übereinstimmung zwischen vorgegebenen Bedingungen und analysiertem Bildobjekt. Aus Gründen dieser mangelnden Systemeffizienz und -effektivität arbeiten Wissenschaftler an einer Weiterentwicklung von regelbasierten Systemen, welche volkstümlich „Machine Learning“ (ML) genannt werden. Dieser neuartige Prozess soll dazu in der Lage sein, den menschlichen Lernprozess zu simulieren, wodurch die Abhängigkeit von einer expliziten Programmierung entfallen würde. Der ML-Prozess lässt sich in vereinfachter Form in etwa so skizzieren: Das System versucht, einen gewissen Ausgabewert basierend auf gegebenen Eingabewerten zu prognostizieren. Um diese Prognose zu verbessern, wendet die Software kontinuierlich Lernalgorithmen auf zuvor durchgeführte Versuche an. Durch die kontinuierliche Überprüfung auf Richtigkeit der Versuche werden die Parameter für spätere Prognosen entsprechend justiert und präzisiert (Mueller und Massaron 2016). Unter anderem lernt die Software durch diesen Vorgang, dass das Erscheinungsbild einer Giraffe mehrschichtiger ist, als nur der lange Hals und das markante Fell. Wenn bei zukünftigen Durchläufen eines dieser beiden Elemente fehlt, kann das System diese durch andere Attribute kompensieren. Entsprechend wird es immer noch eine Giraffe auf dem Foto erkennen. Das Potenzial dieser Technologie begrenzt sich selbstverständlich nicht nur auf die Analyse von Bildinhalten. Beispielsweise kann ML, basierend auf historischen Verhaltensdaten von Mitarbeitern, zukünftige Verhaltensmuster antizipieren, was u. a. das unternehmenseigene HR-Management in seiner Zielorientierung unterstützt. Zudem kann die Technologie z. B. interne Kompetenzlücken feststellen und analysieren und entsprechende Empfehlungen für die Mitarbeiterentwicklung aussprechen. Die vielseitige Einsetzbarkeit ist einer der Gründe dafür, dass ca. 20 % aller deutschen Unternehmen bereits damit begonnen haben, ML-Applikationen in der Praxis zu implementieren (Böttcher et al. 2018).
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5.3
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I n welchen Bereichen des Talent-Managements ist die Anwendung von künstlicher Intelligenz sinnvoll?
Nachdem wir nun ein Verständnis der grundlegendsten Komponenten der KI geschaffen haben, lassen Sie uns im folgenden Abschnitt die Anwendungsmöglichkeiten dieser mächtigen Technologie eruieren. Hierfür unterteilen die Autoren die Leistung Ihrer Mitarbeiter in zwei Kategorien: 1) Low Performer und 2) High Performer. Als Grundlage hierfür dient die vereinfachte Formel „Performance = Fähigkeit x Motivation“ (Anderson und Butzin 1974). Ein Low Performer beschreibt eine Person, deren Leistungsergebnis unter dem Durchschnitt liegt. Gemäß der Formel gehen die Autoren davon aus, dass dieser Fall entweder durch eine verhältnismäßig niedrige Fähigkeit oder fehlende Motivation ausgelöst wird. Im Gegensatz dazu erreicht der High Performer ein sehr hohes Ergebnis bei der Leistungsrechnung, indem er eine relativ hohe Fähigkeit und/oder eine erhöhte Motivation im Vergleich zu seinen Kollegen besitzt. An dieser Stelle kann z. B. People Analytics – die Analyse von Mitarbeiterdaten in Verbindung mit anderen Unternehmensdaten – einen großen Mehrwert für Ihr Unternehmen bieten. Statt mühevoller manueller Analyse erstellt People Analytics autonom eine Übersicht der individuellen Leistungen Ihrer Mitarbeiter. Abschn. 5.4 setzt an dem Punkt an, an welchem Sie, entweder mittels manueller Arbeit oder durch People Analytics, Ihre Belegschaft in Low und High Performer klassifiziert haben und nun der Frage nachgehen, wie Sie diese Daten bestmöglich für das Management Ihrer Mitarbeiter nutzen können. Wie bereits eingangs erwähnt, zeichnen sich Low Performer durch eine von zwei relativen Charakteristiken aus: entweder durch eine niedrige Fähigkeit oder durch mangelnde Motivation. Eine niedrige Fähigkeit des Arbeitnehmers lässt sich typischerweise durch entsprechendes Training ausmerzen, während ein Unternehmen im Falle von mangelnder Motivation alias konstanter Lustlosigkeit im Regelfall mit einer überlegten Umorientierung des Mitarbeiters gut beraten ist. Wie kann also KI die beiden genannten Gegenmaßnahmen – Training und Umorientierung – verbessern? Beginnen wir mit dem Fall einer mangelnden Fähigkeit. Durch umfassende Analysen, basierend auf den Gesamtunternehmensdaten, kann KI individuelle Trainingsempfehlungen aussprechen (Bokelberg et al. 2017). Anhand dieser Analysen vergleicht die Software selbstständig eine Vielzahl von Lehrinhalten mit Mitarbeiterdaten und passt Lehrplattformen individuell sowie kontinuierlich an. Das Ergebnis ist ein auf das Individuum persönlich angepasster Lehransatz. Dieses sogenannte adaptive Lernen ermöglicht eine personalisierte, ermutigende und langanhaltende Lernerfahrung (Rio 2017). Darüber hinaus können genauere Entwicklungsdaten zu Talenten gesammelt werden, was Coaches in Unternehmen die Durchführung von laufenden und relevanten Feedback-Sitzungen ermöglicht. Die Kombination dieser Anwendungen zeigt, dass KI als wertvoller Unterstützer zur Identifikation und zum gezielten Management von Low Performern eingesetzt werden kann. Lassen Sie uns im nächsten Schritt das Bild eines demotivierten Mitarbeiters genauer betrachten. In den meisten Fällen resultiert ein Mangel an Motivation aus einer Diskrepanz
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zwischen persönlichen Stärken, Interessen und zugeteiltem Arbeitspaket (Herzberg 1959). In solchen Situationen gestaltet sich eine themen- oder bereichsbezogene Umorientierung meist erfolgversprechend. Hier kann der Einsatz von People Analytics zum kontinuierlichen Abgleich von Mitarbeiterentwicklung, Stellenbeschreibungen oder vordefinierten Fähigkeiten sinnvoll zur Einschätzung bezüglich der Eignung eines Mitarbeiters für un terschiedliche Positionen eingesetzt werden. Diese Integration ermöglicht es Ihren HR-Fachkräften, eine passendere Position für Low Performer zu finden. Hierdurch und durch die Passgenauigkeit zwischen persönlicher Motivation und Aufgabengebiet verbessert sich deren Leistungsergebnis deutlich (Herzberg 1959). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass KI ungeahnte Möglichkeiten im Umgang mit Low Performern eröffnet. Adaptives Lernen, welches durch den Abgleich von Mitarbeiter- und Unternehmensdaten ermöglicht wird, steigert die Qualifikation Ihrer Belegschaft, während eine passendere Positionierung den leistungsschwächeren Mitarbeitern den gewünschten Elan einhaucht. Das Ergebnis der Anwendung von KI ist somit eine beidseitige Wertschöpfung zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Lassen Sie uns nun den Fall des High Performers und die entsprechende technische Anwendung behandeln. Wie zuvor beim Low Performer gelten auch hier die Hebel Fähigkeit und Motivation. Besonders im Falle des High Performers ist es wichtig, die Stärken durch KI zu identifizieren und gezielt zu fördern. Auf diesen Einblicken baut im Anschluss eine maßgeschneiderte Retentionsstrategie auf, die den Erhalt der Leistungsträger sichert. Durch eine kontinuierliche Analyse interner Jobbeschreibungen können Positionen identifiziert werden, welche die Stärken der jeweiligen Person maximal ausschöpfen (Gementi 2018). Dadurch ließe sich das Motivationslevel von High Performern konstant hoch halten, was schlussendlich zu einer erhöhten Treue von vielversprechenden Mitarbeitern führt. Generell sollte der Fokus im Management dieser Mitarbeitergruppe vermehrt auf effektiven Strategien zur Retention liegen. In diesem Zusammenhang haben Allen et al. (2010) mehrere Faktoren identifiziert, welche einen direkten Einfluss auf die Mitarbeiterfluktuation in Unternehmen haben. Dazu zählen unter anderem: 1. Sozialisation 2. Training und Weiterentwicklung 3. Vergütung und Belohnung 4. Supervision/Betreuung 5. Einsatz/Engagement Wie KI jeden dieser Aspekte positiv beeinflussen kann, wird im Folgenden erklärt: 1. Sozialisation: Das Steigern von Sozialisation ist eine der größten Stärken der KI. Durch die autonome Bearbeitung von beispielsweise administrativen Aufgaben ist mehr Zeit für zwischenmenschliche Beziehungen, was die Sozialisation und damit die soziale Bindung von Angestellten an Ihr Unternehmen fördert.
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2. Training und Weiterentwicklung: Wie bereits erwähnt, kann KI Ihre Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen individueller, langanhaltender und somit erfolgreicher machen. Darüber hinaus ermöglichen präzise Mitarbeiterdaten ein relevantes und fortlaufendes Feedback an die Belegschaft (Bokelberg et al. 2017). 3. Vergütung und Belohnung: Die Verwendung KI-basierter Analysetools kann Sie dabei unterstützen, eine angemessene und ausschließlich auf Leistung basierende Vergütung für Ihre Angestellten zu kalkulieren. Da das System anstelle von subjektiver Einschätzung zuvor definierte und objektivere Leistungsindikatoren verwendet, ist die durch die Software berechnete Belohnung fairer als das manuell erstellte Gegenstück (Dishman 2018). 4. Supervision/Betreuung: Insbesondere die Behandlung von Beschwerden und die Art der Beziehung zwischen Führungskraft und Mitglied beeinflussen die wahrgenommene Qualität der Supervision der Arbeitnehmer (Suikkanen 2010). Chatbots können Beschwerden von Mitarbeitern autonom erfassen und bieten auf der einen Seite den Mitarbeitern eine Plattform, auf der Kommentare, Anregungen und Beschwerden jederzeit erfasst werden (Telang et al. 2018) und auf der anderen Seite Unternehmen ein System, das aktuelle Probleme der Belegschaft verfolgt. Darüber hinaus erlaubt die zumindest teilweise Automatisierung der Verwaltungsaufgaben, in Ergänzung zur Bearbeitung von Beschwerden der Belegschaft, mehr Zeit in zwischenmenschliches Engagement zu investieren, was den Austausch zwischen Führungskräften und Mitarbeitern fördert. 5. Einsatz/Engagement: Künstlich intelligente Analysetools, die auf die Mitarbeiterdaten angewendet werden, können wichtige Daten zum Engagement der Mitarbeiter identifizieren (Harris et al. 2011), wodurch es Ihrem Unternehmen ermöglicht wird, ausgefeilte Retentionsstrategien umzusetzen. Die dargestellten Anwendungen von KI im Umgang mit Low und High Performern belegt das bedeutende Potenzial von People Analytics im Talent-Management. Low Performer können durch computergenerierte Umorientierung neuen Elan entwickeln, während adaptives Lernen die Mitarbeiter für weitere Stellen in Ihrem Unternehmen qualifiziert. Diese beiden Funktionen eines kognitiven Systems lassen sich so auch auf High Performer anwenden, jedoch sollte nach Meinung der Autoren bei dem Management der Leistungsträger der Fokus von KI-Anwendungen auf der Entwicklung attraktiver Retentionsstrategien liegen. Die fünf eben genannten Faktoren (Allen et al. 2010) der Mitarbeiterfluktuation haben gezeigt, dass KI dazu in der Lage ist, den Erhalt einer motivierten und leistungsstarken Mitarbeiterschaft gezielt und effektiv zu unterstützen.
5.4
Wie künstliche Intelligenz in der Praxis aussehen kann
In welchem Bereich des Talent-Managements kann der Einsatz von KI bzw. ML bereits heute – auf unkomplizierte Art und Weise mit geringem KI-Know-how – einen bedeutenden Mehrwert für Ihr Unternehmen bieten?
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Eine fortlaufende Herausforderung im Hinblick auf den vorherrschenden Fachkräftemangel ist die Identifizierung von geeigneten Kandidaten. Studien im Bereich Employer Branding (z. B. Stotz und Wedel-Klein 2013) betonen, dass vor allem KMUs sowie Unternehmen im B2B-Bereich bei der Besetzung von Vakanzen aufgrund der mangelnden Bekanntheit an ihre Grenzen stoßen. An dieser Stelle ist es also sinnvoll, eine intelligente Unterstützung in Form von KI-Technologie in Betracht zu ziehen. „inga.“ – Love for Talent1 dient in diesem Zusammenhang als treffendes Praxisbeispiel. inga. basiert auf Social-Media-Recruiting sowie einem Chatbot zur automatisierten Interaktion mit Kandidaten. Das Gründungsziel ist, insbesondere Hidden Champions – in Regionen fernab von Ballungszentren – bei der Identifikation und Auswahl von Fachkräften gezielt unter die Arme zu greifen. Das Prinzip dahinter baut auf der Antwort auf folgende Frage auf: „Wo halten sich Fachkräfte unabhängig von Beschäftigungssituation, Branche, Lokation und Kenntnissen auf?“ „Social Media“, lautet die klare Antwort. Selbst das – vielleicht noch vor einigen Jahren gültige – Argument des jüngeren Nutzungspublikums von Facebook und Co. wurde 2018 durch die ARD/ZDF-Onlinestudie zur Social-Media-Nutzung in Deutschland entkräftet. Vielmehr bestärkt die gestiegene Social-Media- Nutzung der 30- bis 49-Jährigen diese Herangehensweise. Das Interessante an der Einbindung von Social Media in das Recruiting ist vor allem die vom Arbeitskontext losgelöste Interaktion der Nutzer. Anhand des Surfverhaltens (Beitrags-Likes, Kommentare, Interessensseiten) lassen sich automatisch direkte Rückschlüsse auf Persönlichkeit, Interessen, Kompetenzen, Leidenschaften und Bedürfnisse der Nutzer ziehen. So werden von Suchanfragen in Social Media zu den beispielhaften Themen „Wie führe ich kritische Verkaufsgespräche?“ oder „Wie lerne ich, erfolgreich zu verhandeln?“ Verknüpfungen mit dem Attribut „Vertriebsaffinität“ abgeleitet. Da heutzutage die Passgenauigkeit auf menschlicher Ebene zwischen Unternehmen und Mitarbeitern – auch durch die zunehmende Geschwindigkeit des Unternehmenswechsels – immer wichtiger wird, bieten diese Rückschlüsse fernab der im Lebenslauf stehenden Kompetenzen einen wertvollen zusätzlichen Einblick für HRler. Wie genau funktioniert das Social Media Sourcing via inga.? Der Prozess gestaltet sich zweistufig: Kandidatenidentifikation und Kandidatenvorqualifizierung. So findet das auf ML basierende Programm zunächst wechselwillige Kandidaten über gezielte, auf den idealen Bewerber zugeschnittene Recruiting-Kampagnen über Social Media und Onlinekanäle. Diese Kampagnen rücken die Passgenauigkeit von Kompetenzen in den Vordergrund, anstatt Stellenanforderungen abzuklappern oder auf die eigene Arbeitgebermarke als Magnet zu setzen. Die rundum durchdachten Recruiting-Kampagnen werden unter anderem unter der Bezeichnung „Traumberuf Technik“ veröffentlicht und Das Praxisbeispiel wurde anhand von umfassender Recherche in der HR-Tech-Start-up-Szene aufgrund seiner hohen Relevanz seitens des bestehenden Fachkräftemangels ausgewählt. Es besteht weder eine entgeltliche Kooperation noch eine anderweitige Bevorteilung der Autoren durch die Firmennennung. Das Praxisbeispiel im Original finden Sie hier: https://inga-gmbh.de/.
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ausgewählten Social-Media-Nutzern angezeigt. Die anschließende Kommunikation zum Abgleich der Kompetenzen und Jobvoraussetzungen mit geeigneten Kandidaten findet im Anschluss über einen Chatbot statt. Am Ende erhält die HR-Abteilung eine Liste der vielversprechendsten Kandidaten samt Kontaktdaten zur persönlichen Ansprache. Der konkrete Ablauf wird in Abb. 5.1 und 5.2 Detail erläutert. Welchen messbaren Mehrwert bietet die Einbindung von intelligenten Chatbots? Das Hinzuziehen von inga. entlastet Unternehmen in Bezug auf zwei Aspekte: Zum einen wird nur geringes technisches Know-how auf Arbeitgeberseite – und vor allem keine Social-Media-Präsenz – vorausgesetzt. In Bezug auf einen DSGVO-konformen Umgang mit jeglichen personenbezogenen Daten übernehmen beide Parteien – inga. sowie das rekrutierende Unternehmen – gleichermaßen die Verantwortung. Denn sowohl in Bezug auf unternehmenseigene als auch auf inga.s DSGVO wird das Einverständnis des Bewerbers transparent abgefragt. Ebenfalls entfällt die Notwendigkeit der Involvierung der internen IT-Abteilung, da inga. eigenständig und cloudbasiert agiert und somit keine Integration in die eigene IT stattfindet. Des Weiteren wird weder zusätzliche Marketing- noch Rechtsexpertise benötigt, da das Kryptonym „Traumberuf Technik“ das Employer Branding entlastet und die DSGVO des Unternehmens durch die DSGVO-Verantwortung von inga. ergänzt wird. inga. unterstützt außerdem durch eine umfassende Einführung in die Nutzung der Plattform und gibt Hilfestellung bei der Kontaktaufnahme zu den Kandidaten und der weiterführenden Qualifizierung.
Wunschkandidat
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7 6 5 4 3 2 1
Interview mit Wunschkandidaten durch HR
Liste geeigneter Kandidaten an HR
Identifikation von & Interaktion mit geeigneten Kandidaten
Start der Kampagne
Chatbot-Programmierung
Chatbot-Entwurf (inhaltliche Freigabe durch den Auftraggeber) Entwicklung des genauen Targetings der Anzeige
Briefing zur Parameter-Definition der idealen Social-Media-Anzeige in Zusammenarbeit mit dem Auftraggeber
Abb. 5.1 Ablauf der Integration von inga. ins Recruiting
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S. Hollerbach und C. Kreimeier 7R'R
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Abb. 5.2 Genaue Erläuterung der einzelnen Schritte und deren Verantwortungsträger
Auch wenn KI bzw. ML die Basis von Chatbots bildet, richtet sich der Fokus auf den Praxisnutzen statt auf komplizierte Buzzwords. Denn um das Wie kümmert sich ausschließlich der Tool-Anbieter inga. Dadurch werden zwei bedeutende Freiräume für das eigene Unternehmen geschaffen: 1. Freiräume im Sinne von Zeit für wertvolle menschliche Personalarbeit jenseits der Administrative, 2. Freiräume im Fachbereich durch schnell und passend besetzte Vakanzen. Die Richtungsweiser in der neuen Personalarbeit – Menschlichkeit und strategische Entscheidungsfindung (Hahn 2018) – können durch diese neue Herangehensweise vielversprechend verankert werden. Denn dank der durch den Chatbot vorgenommenen Kandidatenvorselektion wird dem Personaler die Zeit eingeräumt, die nötig ist, um einen Kandidaten auf menschlicher und qualitativer Ebene kennenzulernen. Gerade die „Passgenauigkeit“ auf menschlicher Ebene wird letztendlich darüber entscheiden, wie der neue
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Mitarbeiter mittel- und langfristig im Unternehmen verweilen wird – unter der Prämisse, dass die unternehmens- und stellenspezifischen Anforderungen erfüllt werden. Da – wie der Name bereits andeutet – ML-basierte Tools an sich (noch) nicht intelligent sind, bedarf es auf Auftraggeberseite noch einiges an Vorbereitung. Als Grundvoraussetzung müssen Auftraggeber generell offen für neue Rekrutierungsansätze sein. Zudem wird selbst ein intelligentes Tool auf Schwierigkeiten stoßen, einen sich selbst als unattraktiv darstellenden Arbeitgeber glaubwürdig als attraktiv zu vermarkten. Entsprechend müssen Arbeitgeber sich bereits ihrer positiven Alleinstellungs- und Attraktivitätsmerkmale im Klaren sein. Hierzu zählt unter anderem auch die Definition von zielgruppenzugeschnittenen Corporate Benefits eines Hidden Champions. Des Weiteren wird eine aktuelle Eigenanalyse des Unternehmens bezüglich der vakanten Position (Rolle, Hauptaufgaben, Verantwortlichkeiten, benötigte Hard und Soft Skills) benötigt. Denn die Stellenbeschreibung von vor fünf Jahren deckt mit großer Sicherheit kaum mehr die aktuell benötigten Skills ab. Zusammenfassend gesagt, ermöglicht die Automatisierung und Einbindung von ML im Recruiting eine zeitgemäße und effiziente Identifizierung, Ansprache und Vorqualifikation von nicht aktiv suchenden Kandidaten und schafft damit wieder mehr Zeit für qualitative Personalarbeit.
5.5
nregungen zur Umsetzung von künstlicher Intelligenz A in der Unternehmenspraxis
Sollten die vorangegangenen Abschnitte Sie von dem Potenzial von KI in Ihrem Unternehmen überzeugt haben, möchten wir Sie nun, zum Ende des Beitrags, nochmals um Ihre ungeteilte Aufmerksamkeit bitten. Was nun folgt, ist der spannendste, aber auch komplizierteste Schritt. „Wieso der spannendste?“, fragen Sie sich nun vielleicht. Die Antwort darauf lautet, dass Sie im Anschluss an seine Implementierung, nach Wochen oder vielleicht Monaten der Planung und Umsetzung, endlich das System in seiner vollen Raffinesse verwenden und die Vorteile realisieren können. „Und warum ist es der komplizierteste Schritt?“ Wie Ihnen wahrscheinlich bereits aufgefallen ist, beschreibt KI eine enorm mächtige, aber auch überaus komplexe Technologie. Basierend auf den persönlichen Erfahrungen der Autoren, können wir Ihnen aber guten Gewissens mitteilen, dass der Respekt gegenüber dieser Technologie in den meisten Fällen hausgemacht ist. Viele Unternehmen haben nämlich ein verklärtes Bild von KI. Anstatt eines einfachen digitalen Assistenten stellen sich Menschen im Regelfall einen überentwickelten Roboter, ein fehlerfreies und überlegenes System oder sonstige Science-Fiction-bezogene Utopie vor. Die Unantastbarkeit, welche diesen Fiktionen zugrunde liegt, führt dazu, dass Entscheidungsträger entweder das ganze Thema von vornherein als unrealistisch abstempeln oder auf Biegen und Brechen versuchen, die besagte Utopie zu realisieren. Über kurz oder lang kann dieses Denken in Extremen jedoch nur zu Misserfolg führen. Rom wurde nicht an einem Tag erbaut, und genauso
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können Sie nicht von heute auf morgen eine Superintelligenz in der Wirtschaft erwarten. Stattdessen sind es kleine Veränderungen, die kontinuierlich stattfinden, bis KI ihr volles Potenzial erreicht haben wird. Genau deshalb ist eine heutige Beschäftigung mit dem Thema so wichtig. Denn solange der KI-Zug noch vergleichsweise langsam anfährt, gestaltet sich der Aufsprung deutlich angenehmer als der Versuch, verspätet auf eine KI in ICE-Schnellstreckengeschwindigkeit aufzuspringen. Sie sehen also, dass ein frühes, jedoch schrittweises Herantreten an diese Technologie die Integration in den Arbeitsalltag kalkulierbarer und damit sicherer in der Implementierung macht. Deshalb möchten wir Ihnen im folgenden Kapitel Ideen für fünf chronologische Implementierungsschritte an die Hand geben:
5.5.1 Die Technologie verstehen Die Wichtigkeit eines umfassenden Verständnisses der Technologie wurde bereits erwähnt. Tun Sie sich selbst den Gefallen und bilden Sie sich zum Thema ML und KI weiter, um zu vermeiden, dass Sie anstelle der Realität an ein Märchen, wie z. B. die Implementierung einer Superintelligenz in absehbarer Zeit, glauben. Es existiert eine umfassende Literatur zu der Technologie (z. B. „Artificial Intelligence: A Modern Approach“ von Russel und Norvig oder „Life 3.0: Being Human in the Age of Artificial Intelligence“ von Tegmark), die nur darauf wartet, von Ihnen gelesen zu werden. Außerdem bieten TechBlogs (z. B. „Machine Learning Mastery“ oder „AI Trends“) eine wunderbare Möglichkeit, technisches Wissen auszutauschen. Um auf dem aktuellsten Stand der Technik zu sein und sich gleichzeitig von Praxisbeispielen inspirieren zu lassen, ist sicherlich auch der Besuch einer KI-Messe ratsam. Diese drei Informationsquellen dienen lediglich als Anhaltspunkte. Wissen lässt sich aus vielen Quellen beziehen. Die individuell für Sie geeigneten sollten Sie identifizieren und nutzen.
5.5.2 Anwendungsbereiche der KI im Unternehmen identifizieren Ähnlich wie die Funktion der People Analytics bei der Remotivation von Mitarbeitern müssen Sie die Fähigkeiten der KI mit den zukünftigen Anforderungen und Tätigkeiten Ihres Talent-Managements vergleichen. Stellen Sie sich die Fragen: „An welcher Stelle wäre eine Implementierung wertschöpfend?“ und „Wann sollte besagte Implementierung vorgenommen werden?“,2 unter der Voraussetzung, dass Ihre Kalkulationen eine Überschneidung ergeben haben. In manchen Fällen sind Sie auch mit Expertenmeinungen gut beraten. Bedenken Sie jedoch, dass niemand Ihr Unternehmen, Ihre Ambitionen und Ihr
Die Autoren lassen die dritte wichtige Frage: „Wie implementieren wir die KI in das Unternehmen?“ explizit hier aus, da das Kapitel sich mit dessen Beantwortung beschäftigt.
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dementsprechend ausgerichtetes Talent-Management so gut kennt wie Sie selbst. Aus diesem Grund sollten Sie bei Fragen der Implementierung von KI immer die letzte Instanz sein. Umso wichtiger ist das erwähnte Wissen in Schritt 1.
5.5.3 Eine digitale Infrastruktur errichten Wir sind nun an dem Punkt angekommen, an welchem Sie mit Ihrem Unternehmen die Planungsphase verlassen und mit der eigentlichen Implementierung beginnen. So wie ein Computer eine Stromanbindung braucht oder ein Mitarbeiter einen Arbeitsplatz, benötigt auch die KI eine entsprechende Infrastruktur. Hierfür stehen Ihnen prinzipiell zwei Wege zur Verfügung: 1. Sie bauen die KI und damit die Infrastruktur intern auf. Hierbei gehen Sie initial ein höheres finanzielles Risiko ein,3 sind danach aber auch unabhängiger und individueller in Ihrer KI-Anwendung. 2. Sie erwerben beides extern durch Dienstleister (z. B. inga.). Dies hat den gegenteiligen Effekt zu der internen Variante. Der Aufbau der Technologie ist sicherer und unkomplizierter, Sie büßen dafür jedoch auch Teile Ihrer Individualität und Unabhängigkeit ein. Was ist hierbei also die richtige Entscheidung? Das hängt ganz von Ihnen und Ihrem Unternehmen ab. Evaluieren Sie hierbei für sich, wie spezifisch Ihre Anforderungen und Verwendungszwecke der KI im Talent-Management sind. Unterscheidet sich beispielsweise die Supervision Ihrer Mitarbeiter maßgeblich von der Industrienorm? Sie können als Alternative zu einer allumfassenden internen oder externen KI auch Teile, wie z. B. die Weiterentwicklung der Fähigkeiten Ihrer vorhandenen Belegschaft via adaptiven Lernens, intern und andere Aspekte, z. B. das Screening des Arbeitsmarkts nach vielversprechenden Kandidaten, extern betreiben. Ein wichtiger Faktor für Ihre Entscheidung sollte dabei die in Ihrer Firma vorhandene Datenqualität und -quantität sein, da KI mit zunehmender Anzahl an Daten an Komplexität gewinnt. Sind Ihre internen Daten ausreichend für die avisierten Zwecke? Dann besitzen Sie ein starkes Argument für die interne Entwicklung der Technologie. Wie Sie sehen können, gibt es keinen Königsweg für das Errichten einer digitalen In frastruktur. Vielmehr ist es an Ihnen, basierend auf Ihren Kapazitäten eine Entscheidung für eine interne oder externe KI zu treffen.
Das Ausmaß an Risiko, das Sie eingehen, wird unter anderem von Ihren Kenntnissen der Technologie beeinflusst.
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5.5.4 K I in einer sicheren Umgebung testen – und im Zweifelsfall justieren Lassen Sie uns kurz das bisher Gesagte zusammenfassen: Ihre Arbeit beginnt mit dem Aufbau von Wissen bezüglich der Technologie. Je umfangreicher Ihr Wissen in diesem Bereich ist, desto effektiver und effizienter werden Sie die späteren Schritte umsetzen können. In dieser Hinsicht ist Ihr Wissen über KI mit der Funktion des Herzens für den menschlichen Körper zu vergleichen. Ohne geht es einfach nicht! Nachdem Sie nun also ein überdurchschnittliches Verständnis von KI haben, sollten Sie potenzielle Einsätze der Technologie in Ihrem Talent-Management überprüfen. Für den Fall, dass Sie sich zur Implementierung von KI entscheiden, gilt es als Nächstes, entweder intern eine Infrastruktur aufzubauen oder auf externe Quellen zurückzugreifen. Auch Kombinationen aus beidem sind möglich. Beachten Sie hierbei Ihre Kapazitäten und evaluieren Sie den Mehrwert, den eine Kooperation schaffen könnte. Nach all diesen Schritten sollten Sie nun eine digitale Infrastruktur und eine „vorläufige“ KI besitzen. Im nächsten Abschnitt möchten wir das Szenario des initialen Einsatzes genauer betrachten. Initial ist hierbei das Schlüsselwort, denn Sie sollten keinesfalls den Fehler begehen, KI einfach in Ihrem Talent-Management direkt in der Operative einzusetzen. Stattdessen empfehlen wir Ihnen, die Technologie in einer sicheren Umgebung zu testen, um Verhaltensweisen und Fehler zu erkennen. Eine sichere Umgebung könnte beispielsweise eine von Ihnen fiktiv erstellte Situation sein (z. B. die KI analysiert von Ihnen erfundene Lebensläufe und spricht eine Rekrutierungsempfehlung aus), in welche Sie das System bringen. Nutzen Sie diese Zwischenstufe der Implementierung, um die Prozesse des Systems im Detail zu observieren und entsprechend anzupassen (z. B., wenn die Technologie unerwartet einen unqualifizierten Kandidaten bestimmt, sollten Sie versuchen, die Prozesse soweit es geht zurückzuverfolgen und die Herkunft des Problems zu bestimmen. Anschließend können Sie dann den Problemherd berichtigen).
5.5.5 K I langsam, aber sicher in tägliche Unternehmensprozesse integrieren Sie haben es geschafft, eine KI entweder selbst oder fremd zu entwickeln, und haben diese in einer sicheren Umgebung getestet und an die Bedürfnisse Ihres Talent-Managements adaptiert. Herzlichen Glückwunsch! Lassen Sie uns nun in dem finalen Schritt die Inte gration des Systems in seine eigentliche Umgebung analysieren. Im Idealfall haben Sie in Schritt 4 die Technologie so weit optimiert, dass Sie nun das KI-Endergebnis nach Belieben einsetzen können. Dies entspricht jedoch nicht dem Regelfall, weshalb auch bei der eigentlichen Implementierung Vorsicht geboten ist. Haben Sie ruhig den Mut, die KI in einzelne Prozesse zu integrieren, beobachten Sie aber die Entwicklung kritisch und genau. Das Ziel ist es, die KI so sicher wie möglich stetig in Ihren Unternehmensalltag zu integrieren.
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Wir wünschen viel Erfolg bei diesem Unterfangen und viel Spaß mit Ihrem neuen „Leistungsträger“.
5.6
Fazit und Ausblick
Auf den vorherigen Seiten haben wir das Phänomen der künstlichen Intelligenz auf seine Essenz heruntergebrochen. Mit Sicherheit wird sich das Nutzungspotenzial von KI im Talent-Management in Deutschland in den nächsten Jahren bedeutend erweitern. Gerade deswegen ist es wichtig, sein Unternehmen bereits heute in kleinen Schritten an KI-Anwendungen heranzuführen. Besonders der Bereich des Talent-Managements bietet sehr viel Potenzial für einen gezielten Einsatz von KI, da das Management von Low und High Performern zu einer der schwierigsten – und dennoch erfolgsentscheidendsten – Aufgaben zählt. Ein grundlegendes Verständnis für die Funktionsweise von KI ist daher zwingend nötig, um vielversprechende Einsatzgebiete im eigenen Unternehmen zu identifizieren. Übertragen Sie diese strategische Aufgabe nicht an externe Dritte. Sie und vor allem Ihre Mitarbeiter kennen die spezifischen Stärken und Schwachstellen Ihres Unternehmens am besten. Nutzen Sie dieses Wissen, um sich gezielt an KI heranzutasten. Heute ist der geeignete Zeitpunkt, um damit zu beginnen, denn solange KI (vor allem in Deutschland) noch in den Kinderschuhen steckt, besteht die Möglichkeit, gemeinsam mit KI zu wachsen, anstatt sich in einigen Jahren als „Late Adopter“ – wie es im Technologiebereich so schön heißt – die Expertise mühsam erarbeiten zu müssen. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Disruption des Handymarktes durch das Smartphone. Zu Beginn zweifelten wir noch gerne an dem zusätzlichen Nutzen, den eine überteuerte mobile Abfrage des Wetters oder seiner E-Mails in Form des ersten iPhones im Jahr 2007 brachte. Nur knapp 13 Jahre später sind Smartphones sowie darauf aufbauende Technologien ein nicht wegzudenkender, integraler Bestandteil unseres beruflichen und privaten Alltags. Ob KI die nächste Disruption darstellt, werden wir erst in einigen Jahren beurteilen können. Da es leider keine Glaskugel gibt, die die Entwicklung der KI voraussagen kann, ist ein schrittweises Mitwachsen die für Sie deutlich bessere Option. Handlungsempfehlungen
• Nutzen Sie zur Verfügung stehende Quellen, um Ihr Wissen bzgl. Künstlicher Intelligenz zu vertiefen. • Evaluieren Sie, in welchen Bereichen Ihres Talent-Managements eine KI wertschöpfend wirken könnte. • Wägen Sie die für Sie individuellen Vor- und Nachteile von interner KI-Expertise und externem Einkauf anhand von externen Anbietern ab. • Überprüfen Sie mögliche Anbieter der von Ihnen gewünschten KI-Leistung. • Testen Sie den möglichen Einsatz von KI zunächst ausgiebig. • Bauen Sie Schritt für Schritt interne KI-Expertise auf.
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Sonja Hollerbach ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Verhaltenswissenschaften und Human Resources der EBS Universität für Wirtschaft und Recht, außerdem ist sie erfolgreich als selbstständige Beraterin, Hochschuldozentin und Rednerin tätig. Nach mehreren Jahren Berufserfahrung in der Top-Management- Beratung entschloss sich Sonja Hollerbach, im Rahmen ihrer Promotion aktuelle Herausforderungen in der Unternehmenspraxis wissenschaftlich zu hinterfragen. Ihre Forschungsgebiete umfassen hierbei die Themen Mitarbeiter Feedback sowie der Einfluss der Digitalisierung im HR-Kontext. Durch ihre Arbeit strebt sie an, wertvolle Erkenntnisse aus der Forschung praxisrelevant darzustellen und ausgewählte Unternehmen bei der Umsetzung von innovativen Konzepten zu begleiten. Clemens Kreimeier schloss im Juli 2019 erfolgreich das Bachelorstudium an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht ab. Nun möchte er im Bereich disruptive Technologien im Talent-Management arbeiten. Im Zuge eines Praktikums in Vietnam 2016 kam Clemens Kreimeier das erste Mal in Kontakt mit Talent-Management. Während er die Trends des Fachbereichs kontinuierlich verfolgte, wurde er auf das Thema „künstliche Intelligenz im Talent-Management“ aufmerksam und entschloss sich, seine Bachelorarbeit der Erforschung dieser Thematik zu widmen.
Teil II Leadership und Kultur
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Digital-Leadership-Index – Führung im digitalen Umfeld anschaulich und messbar machen Helen Dombrowski und Nicolas Bogs
Inhaltsverzeichnis 6.1 N eues Umfeld braucht neue Führung 6.1.1 Digital Leadership: Wie sich Führung verändert 6.1.2 Kompetenzfelder des Digital Leaderships 6.2 Notwendigkeit zur Orientierungshilfe 6.3 Mehrdimensionales Kompetenzprofil 6.3.1 Individuelle Dimension 6.3.2 Organisatorisch-kulturelle Dimension 6.4 Praxistransfer des Digital-Leadership-Index 6.4.1 Ausprägungen der Kompetenzfelder 6.4.2 Typologie: Digital-Leadership-Persönlichkeiten 6.5 Fazit Literatur
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H. Dombrowski AlphaSights, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] N. Bogs (*) Hochschule Fresenius, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_6
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H. Dombrowski und N. Bogs
Schlüsselwörter
Digital Leadership · Führung · Digitales Umfeld · Messbarkeit · Typologie cc
6.1
Lesernutzen Digital Leadership ist in aller Munde – in Unternehmen ebenso wie in der Wissenschaft. Was bedeutet der Begriff? Welche Kompetenzen braucht ein Digital Leader? Welche Typen von Digital Leadern gibt es überhaupt? Als Antwort auf diese Fragen lichtet dieser Beitrag nicht nur den begrifflichen Kompetenz-Dschungel, sondern bietet mit dem „Digital-Leadership-Index“ einen Ansatz für ein innovatives Tool, das den abstrakten Begriff Digital Leadership für die Praxis anschaulich und anwendbar macht. Das Index-Profil kann Verantwortliche z. B. bei der Auswahl, aber auch bei der Entwicklung von Führungspersönlichkeiten unterstützen. Die aus dem Ansatz abgeleiteten vier unterschiedlichen digitalen Führungspersönlichkeiten (Typologie) ermöglichen dem Unternehmen bzw. der Führungskraft eine nützliche Standortbestimmung.
Neues Umfeld braucht neue Führung
Schon immer waren Unternehmen mit sich ändernden Umfeldbedingungen konfrontiert. Das wird auch zukünftig so sein; jedoch werden Geschwindigkeit und Komplexität des Wandels zunehmen. Die folgenden Schlagworte mögen einige Felder skizzieren: Demografie, Globalisierung, Technologie, Märkte/Kunden, Ökologie und eben auch die Digitalisierung. Herausforderungen der digitalen Transformation sind vor allem die veränderten, komplexeren und unberechenbareren Umweltbedingungen. Etablierte Geschäftsmodelle und Managementansätze befinden sich in einem volatilen, unsicheren und komplexen Marktumfeld, in dem langfristige Planungen bis zum Eintritt der Ergebnisse oftmals mehrfach verworfen werden. Dies resultiert aus für Unternehmen schwierigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, die in der aktuellen Diskussion mit dem Begriff VUCA beschrieben werden: Volatilität (V) im Markt erfordert schnelle Veränderungsprozesse, Unsicherheit (U) über Trends und Marktdynamiken verhindert die genaue Vorhersagbarkeit von Erfolgszielen, Komplexität (C) in vernetzten Wirtschaftssystemen erschwert die langfristige Entscheidungsfindung und Ambiguität (A) in der Bedeutung von Ereignissen verkompliziert die Erstellung von Prognosen. Daraus resultieren sich stark verändernde Anforderungen an Führungskräfte und es ist eine moderne und mit neuen Kompetenzen ausgestattete Führung erforderlich: Digital Leadership (hierzu auch Probst und Bassi 2017, S. 2).
6.1.1 Digital Leadership: Wie sich Führung verändert Die sich ändernden Rahmenbedingungen im digitalen Zeitalter beschleunigen die Entwicklung hin zu Digital Leadership als einem Führungsverständnis. Dies geht einher mit einer kulturellen Veränderung von Arbeit. Organisationszentrierte, hierar-
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chische Beziehungen werden von wechselseitigen, netzwerkartigen Führungskulturen mit individuellen und partizipativen Beziehungen abgelöst. Führung durch ein Netzwerk von Individuen, wie es in einer digitalen Unternehmenskultur notwendig und üblich ist, wird erfolgreich, wenn folgende Faktoren das Netzwerk unterstützen: offene Informationsflüsse, flexible Hierarchien, verteilte Ressourcen sowie aufgelockerte dezentralisierte Entscheidungsprozesse und Kontrollsysteme. Digital Leader ship als Führung zwischen Maschine und Mensch zu bezeichnen, ist daher zu kurz gegriffen. Ein Digital Leader steht in der Verantwortung, eine Vision für die digitale Zukunft des Unternehmens zu schaffen, ein „Digital Mindset“ zu prägen (siehe hierzu auch den Beitrag von Knorr in diesem Sammelband), Anregungen für Innovationen zu geben und für den Fortschritt der digitalen Transformation neue Wege zu gehen. „Digital leadership means doing the right things for the strategic success of digitalization for the enterprise and its business ecosystem. It means thinking differently about the six fundamental building blocks of digital leadership – business strategy, business models, enterprise platforms, mindsets and skill sets, the IT function and the workplace“ (El Sawy et al. 2016, S. 1).
Digital Leadership ist eine Führung, die die klassischen Management-Methoden und Führungsstile beherrscht und zusätzlich in der Lage ist, die Muster der Digitalisierung in vorhandene Führungskonzepte zu integrieren, um aus beiden Konzepten eine erfolgreiche Synthese zu bilden. Doch welche Kompetenzen benötigt ein Digital Leader, um im digitalen Wandel erfolgreich zu führen?
6.1.2 Kompetenzfelder des Digital Leaderships Die Herausforderungen der VUCA-Welt sind durch klassische Management-Methoden und Kompetenzen allein nicht lösbar. Darüber hinaus wird von Führungskräften gefordert, Veränderungen schnell zu adaptieren, kooperativ und transformational zu führen sowie situativ und partizipativ zu entscheiden. Als Netzwerker gilt es, Synergien zu optimieren, als Coach gilt es, Feedback zu geben, und als zukunftsorientierter Manager gilt es, lernfähig für neue Technologien zu sein. Einen Lösungsansatz für Herausforderungen wie diese bietet das VOPA-Plus Modell von Buhse. Die neue Handlungsmaxime für digitale Führung besteht aus den Determinanten Vernetzung (V), Offenheit (O), Partizipation (P), Agilität (A) plus Vertrauen (Buhse 2014, S. 24). Daraus folgt: Um als Unternehmen agil auf Herausforderungen reagieren zu können, müssen Führungskräfte ihren Mitarbeitern und Geschäftsbeziehungen vor allem vertrauen, Vernetzung schaffen, offen für neue Ideen und Innovationen sein und Mitarbeiter an der Führung partizipieren lassen. Die Frage, welche Kompetenzen genau für erfolgreiche Führung im Sinne von VOPA-Plus benötigt werden, ist schwer zu beantworten. Der Kompetenz-Dschungel ist groß. Eine Hilfestellung soll das in diesem Beitrag aufgezeigte mehrdimensionale Kompetenzprofil geben.
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Notwendigkeit zur Orientierungshilfe
Der Wandel hin zu einer digitalen Unternehmenskultur bedingt einen Wandel in der Führungskultur hin zu mehr Vernetzung, Offenheit, Partizipation, Agilität und Vertrauen. Viele Arbeiten und Studien versuchen, eine Antwort auf die Frage zu geben, welche Kompetenzen für Digital Leadership benötigt werden (Dörr et al. 2018, S. 46). Einen Überblick über den Stand des Diskurses in Deutschland bietet dabei eine Meta-Studie1 des Institutes für Führungsforschung im digitalen Zeitalter (IFIDZ). Sie fasst die Ergebnisse von 30 Primärstudien zusammen und zeigt auf, dass ein erfolgreicher Digital Leader über knapp 71 relevante Kompetenzen verfügt. Die mit Abstand wichtigste Kompetenz einer Führungskraft, so ein Ergebnis der Untersuchung, ist die Kommunikationsfähigkeit. 70 % der Primärstudien bezeichnen diese Kompetenz als relevant, sodass die Kommunikationsfähigkeit auch als Meta-Kompetenz des digitalen Zeitalters erachtet werden kann. Hierzu gehören die Kompetenzen Feedback geben, Zuhören und Transparenz fördern. Darüber hinaus stehen besonders Methodenund Sozialkompetenzen im Fokus. Mit 50 % ist die Menschenorientierung des Digital Leaders die zweitwichtigste Kompetenz der Meta-Studie. In Verbindung mit Menschenorientierung stehen die Wertschätzung von Mitarbeitern und Kunden sowie die Mitarbeiterorientierung, die durch einen respektvollen Umgang, eine Zugewandtheit und das Verständnis für Belange der Mitarbeiter geprägt ist (IFIDZ 2016, S. 4). Die Schlussfolgerung hieraus ist, dass für einen Digital Leader trotz vielfältiger und vor allem digitaler Kommunikation das Einbeziehen von Menschen als Nutzer, Kunden und Mitarbeiter unerlässlich ist. Kompetenzen, die bereits im analogen Zeitalter als wichtig galten, wie Kooperationsfähigkeit, Innovationsfreude und Teamfähigkeit, dominieren im Kompetenz-Dschungel. Jedoch kommen im digitalen Zeitalter auch neue Kompetenzen ergänzend hinzu: z. B. Vernetzungsfähigkeit, Transparenz, Hierarchien verlernen und digitale Methodenkompetenzen. Als Kompetenzen des digitalen Zeitalters werden Fähigkeiten bezeichnet, die zum einen erst durch die umfassende Digitalisierung entstanden oder notwendig geworden sind (z. B. Datenverständnis und Medienkompetenz) und die zum anderen bereits in der Führungspraxis etabliert sind, jedoch ihre Qualität und Relevanz durch die digitale Transformation verändert haben (z. B. Vernetzungsfähigkeit und Agilität). Schließlich hat Führung zum Ziel, einen Rahmen für eine hohe Transparenz und Verfügbarkeit von Informationen zu schaffen und als notwendige Grundlage für eine virtuelle Zusammenarbeit zu dienen sowie ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis zu fördern (Dörr et al. 2018, S. 43–45). Doch wie kann sich eine Führungskraft im derzeitigen Kompetenz-Dschungel orientieren? Der Digital-Leadership-Index liefert eine Orientierungshilfe, um einen ersten Ansatz
Die Meta-Studie analysiert 30 Primärstudien, die im Zeitraum 2012 bis 2016 publiziert wurden und sich mit den Fähigkeiten und Kompetenzen von Digital Leadern beschäftigen. In Summe wurden in den Primärstudien insgesamt 18.274 Personen (davon 54 % Führungskräfte) befragt (IFIDZ 2016, S. 19).
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zur Umsetzung und Qualitätssicherung von Digital Leadership zu schaffen. Die Ergebnisse der IFIDZ-Meta-Studie bilden dabei die Grundlage der Gewichtung und Analyse des Digital-Leadership-Index.
6.3
Mehrdimensionales Kompetenzprofil
Der Digital-Leadership-Index ist ein Denkanstoß für ein ganzheitliches Kompetenzprofil. Der Begriff Index betont, dass die Ausprägungen bestimmter Kompetenzfelder als Indikator bzw. Gradmesser für Digital-Leadership-Fähigkeiten interpretiert werden. Wie in Abb. 6.1 dargestellt, werden zwei Dimensionen berücksichtigt und integriert: zum einen die individuellen Kompetenzen des Digital Leaders, zum anderen die digitalen Leadership-Fähigkeiten, die der Digital Leader im organisatorisch-kulturellen Umfeld, also im jeweiligen Unternehmen, entfaltet. Durch diese zwei Dimensionen wird die Vielfalt an Kompetenzen systematisch strukturiert. Die Zweidimensionalität ist dahingehend begründet, dass eine Führungskraft verschiedene individuelle Kompetenzen und Verhaltensweisen benötigt, um den Voraussetzungen eines Digital Leaders zu entsprechen. Das organisatorisch-kulturelle Umfeld muss jedoch die Grundlage zur Entfaltung digitaler Fähigkeiten und Verhaltensweisen schaffen, fördern und leben. Der Digital Leader wiederum fördert durch bestimmte Verhaltensweisen und Kompetenzen die digitale Unternehmenskultur, sodass eine wechselseitige Beeinflussung und ein Abhängigkeitsverhältnis entstehen. Die Mehrdimensionalität bezieht sich damit auf die Fähigkeit und Motivation der einzelnen Person und den Einfluss dieser auf die Organisation. Nicht zuletzt diese Mehrdimensionalität macht den Digital-Leadership-Index zu einem innovativen, praxisnahen und hier erstmalig vor gestellten Ansatz.
Abb. 6.1 Das mehrdimensionale Kompetenzprofil
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cc Kompetenzprofil Umfasst die individuelle und organisatorisch-kulturelle Dimension des Digital-Leadership-Index und bildet das Modell des Index, anhand dessen die Reifegradmessung eines Digital Leaders erfolgen kann.
6.3.1 Individuelle Dimension Jede der beiden Dimensionen enthält vier unterschiedliche Kompetenzfelder, die durch Indikatoren charakterisiert und messbar gemacht werden können. Wie in Abb. 6.2 dargestellt, umfasst die individuelle Dimension persönliche Fähigkeiten sowie die Motivation der einzelnen Person: Kommunikation, digitale Kompetenzen, digitales Mindset und Mitarbeiterorientierung. Als Basis dienen hierbei die digitalen Kompetenzen, welche für den Einsatz digitaler Technologien notwendig sind. Diese werden durch den Digital Leader unterstützend zur effizienteren Gestaltung der Kommunikation und Mitarbeiterführung eingesetzt. Das Digital Mindset, also die Haltung und Denkweise eines Digital Leaders, beeinflusst seine Kommunikation und Mitarbeiterorientierung. Klar ist, dass nicht jede Führungskraft alle Fähigkeiten in der vollen Ausprägung benötigt oder vereinen kann. Im Folgenden werden für jedes der vier Kompetenzfelder der individuellen Dimension wichtige Kompetenzen und Indikatoren vorgestellt, anhand derer Digital Leadership bewertet werden kann.
Abb. 6.2 Die individuelle Dimension
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cc Kompetenzfelder Die individuelle und die organisatorisch-kulturelle Dimension setzen sich aus jeweils vier Kompetenzfeldern zusammen. Der Grad der Ausprägung der einzelnen Kompetenzen im jeweiligen Kompetenzfeld erfolgt durch spezifische Indikatoren.
6.3.1.1 Digitale Kompetenzen Digitale Kompetenzen als Basisfähigkeit bedeuten ein technisch fundiertes Verständnis über den Umgang mit neuen digitalen Entwicklungen, Social Media, Big Data und digitalisierten Prozessen. Ein solches Verständnis erfordert entsprechendes Know-how und Technikaffinität. Hierbei geht es weniger um die detaillierte Handhabung von IT-Systemen als vielmehr um den zielgerichteten Einsatz dieser zu Analysezwecken und zur Ableitung von Maßnahmen. Ebenfalls muss eine Führungskraft den Umgang mit Social Media verstehen und die Mechanismen der Teilnahme, Mitsprache, Weitergabe, Beurteilung und Vernetzung beherrschen, um z. B. Kundenbedürfnisse abzuleiten. Im Zeitalter von Big Data nimmt die Bedeutung von datenbasierter Entscheidungsfindung zu. Führungskräfte müssen daher in der Lage sein, große Datenmengen schnell zu erfassen und zielorientiert zu analysieren. Digitale Kompetenzen sind als Hygienefaktoren und Basisfähigkeit eines Digital Leaders anzusehen: Sie müssen auf einem ausreichenden Niveau vorhanden sein, sind jedoch für eine gute Führung im digitalen Wandel nicht prägend (Wagner 2018, S. 67 ff.). Mögliche Indikatoren digitaler Kompetenz
• Setzt sich die Führungskraft eigenständig mit neuen Technologien und deren Funktionsweisen auseinander? • Nutzt die Führungskraft soziale Netzwerke, um Marktentwicklungen zu beobachten und Kundenbedürfnisse abzuleiten? • Ist die Führungskraft fähig, große Datenmengen zielorientiert zu analysieren, aufzubereiten und Handlungsempfehlungen abzuleiten?
6.3.1.2 Kommunikation Je virtueller und vernetzter Teamarbeit wird, desto wichtiger ist eine zielgruppenspezifische Kommunikation, die auf das Wesentliche reduziert ist. Die Vielzahl technologischer Kommunikationsmittel (wie E-Mails, Tweets und Blogs) erleichtert zwar das raum- und zeitübergreifende Kommunizieren, jedoch sind sie kein Garant für den Erfolg von Kommunikation. Eine der wichtigsten Kompetenzen der digitalen Führung ist die Kompetenz, aufgabenspezifisch und zielgruppenbezogen Informationen zu teilen und im Gegenzug als Empfänger Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Das Geben von konstruktivem Feedback sowie das Annehmen von Feedback der Mitarbeiter, Kollegen, Kunden und Zulieferern erhöht den Erfolg und die Anpassungsfähigkeit der Organisation an VUCA- Bedingungen. Dabei steht das Geben von Feedback in einem engen Zusammenhang mit
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Coaching-Kompetenzen, dem Zulassen von Fehlern und der Förderung der Lernbereitschaft. Zusätzlich gewinnen Netz-inhärente Werte wie Offenheit, Transparenz, Dialogbereitschaft und der vorbehaltlose Austausch von Informationen in der digitalen Kommunikation an Bedeutung. Führungskräfte, die einen hohen transparenten Informationsaustausch sowohl intern als auch extern pflegen, fördern eine Organisation, die schneller lern- und anpassungsfähig und damit langfristiger wettbewerbsfähiger ist. Die Messbarkeit der Kommunikationsfähigkeit kann durch eine Analyse des Führungsverhaltens, eine Befragung von Mitarbeiter und Führungskraft sowie eine Analyse der am häufigsten genutzten Kommunikationsinstrumente erfolgen und Aufschluss über die Effizienz und Reichweite der Kommunikation geben.
Mögliche Indikatoren kommunikativer Kompetenz
• Kann die Führungskraft Informationen zielgruppen- und aufgabenspezifisch kommunizieren? • In welchem Maß führt die Führungskraft offene Feedbackgespräche mit Mitarbeitern, Kollegen und Vorgesetzten? • In welchem Maß gibt die Führungskraft in der Organisation Informationen sowohl auf dem digitalen als auch persönlichen Wege weiter?
6.3.1.3 Mitarbeiterorientierung In der digitalen Transformation spielt der Grundgedanke des Servant Leadership von Greenleaf (1977, S. 21 ff.) eine tragende Rolle. Die zentrale Frage ist dabei, welche Grundbedürfnisse des Mitarbeiters in den Fokus der Führung gestellt werden, um Höchstleistung zu fördern (Krost und Kaehler 2010, S. 54). So sind die meisten im Digital-Leadership-Index aufgenommenen Kompetenzen eng mit der Mitarbeiterorientierung verbunden. Für eine erfolgreiche Mitarbeiterorientierung sind Kompetenzen wie z. B. Digital Mindset, strategisches Denken, digitale Vision, Kundenorientierung und Kommunikation notwendig. Mitarbeiter bilden das tragende Element, um die digitale Transformation erfolgreich umzusetzen. Sie sind die entscheidende Ressource zum Wettbewerbsvorteil im Zeitalter von Robotik und künstlicher Intelligenz. Der erfolgreiche Digital Leader strebt ein Gleichgewicht zwischen dem „Ich“ als Einzelperson und dem „Wir“ als Gemeinschaft an. Die Kompetenz der Teamfähigkeit beinhaltet Kooperationsbereitschaft, Strukturfähigkeit, Kommunikation, Reflexionsfähigkeit, die Fähigkeit zur Motivation anderer sowie die Überzeugung, als Team erfolgreich Ziele zu erreichen. Um zukünftig konkurrenzfähig zu bleiben, ist es die Aufgabe der Führungskraft, Lernbereitschaft zu ermöglichen, zu fördern und durch die Anerkennung von Leistung zum Erfolg zu bringen. Ein Digital Leader tritt als Coach und Mentor auf und unterstützt die Mitarbeiter dabei, eigenständige Lösungen zu entwickeln (Berninger-Schäfer 2019, S. 80 ff.).
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Mit der steigenden Anzahl virtueller Teams gewinnt die Führung auf Distanz eine höhere Relevanz, da eine engmaschige Kontrolle weder möglich noch zielführend ist. Hierbei sind Kompetenzen wie ein interkulturelles Verständnis, Organisationstalent, Em powerment und Vertrauen notwendig. Zusätzlich erfordert die Führung auf Distanz eine hohe Delegationsfähigkeit und die Bereitschaft, Aufgaben und Verantwortungsbereiche abzugeben, ohne dabei die Kontrolle zu verlieren (Wagner 2018, S. 44 ff.). Mögliche Indikatoren von Mitarbeiterorientierung
• Stellt die Führungskraft die Ziele des Teams über die eigenen persönlichen Ziele und schätzt Teamarbeit? • Kann die Führungskraft spezifische Aktivitäten aufzählen, bei denen sie z. B. in den letzten 30 Tagen/letzten zwei Monaten/letzten drei Monaten als Coach eingetreten ist? • In welchem Maß wissen die einzelnen Teammitglieder über die Verantwortlichkeiten und Aufgaben der anderen Bescheid?
6.3.1.4 Digital Mindset Digital Leadership erfordert eine neue Denkweise, eine neue Haltung und einen neuen Wertekanon. Als Führungskraft und Organisation gilt es, eine vernetzte Denkweise zu erlernen, Wissen zu teilen und Veränderungen zu verinnerlichen. Als Grundlage kann dabei das VOPA-Plus-Konzept dienen. Unternehmensintern ist es Aufgabe der Führungskräfte, Netzwerke bereichs- und hierarchieübergreifend mit unterstützenden digitalen Plattformen aufzubauen, sodass sich Mitarbeiter austauschen und voneinander lernen können. Unternehmensextern ist der Kontakt zu Kunden, Partnern und Meinungsführern der Industrie durch vernetzte digitale Systeme wichtig, um Informationen über Nutzerverhalten, Markttrends und Kundenanforderungen zu erhalten. Hierbei muss ein Umdenken erfolgen: weniger „Silodenken“ und kein Zurückhalten von Informationen zum eigenen Wettbewerbsvorteil. Darüber hinaus gilt es als Digital Leader, Offenheit zu leben und Partizipation zu ermöglichen. Offenheit findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt: Offenheit für kulturelle Diversität, für neue Ideen, Erfahrungen und Kritik, Offenheit für Neues und Unbekanntes sowie Offenheit in der Kommunikation. Partizipation auf Kunden- und Mitarbeiterebene fördert ein Digital Leader auf zwei Ebenen: zum einen bereits in den Phasen der Entscheidungsvorbereitung, -findung, und -umsetzung (z. B. bei Produktentwicklungen) und zum anderen als direkte Partizipation (z. B. Entscheidungsumsetzung) und indirekte Partizipation (z. B. Empfehlung/Meinungsäußerung). Die Motivation, Maßnahmen umzusetzen, ist bei selbstgetroffenen Entscheidungen am höchsten. Um Agilität zu fördern, muss ein Digital Leader das Team und die Organisation anpassungsfähig und reaktionsschnell werden lassen. Hierfür gilt es, Werte wie Einfachheit, Selbstverpflichtung, Offenheit und Feedback zu etablieren. Mit Agilität fördert ein Digital Leader eine Führungskultur, in
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der Individuen und Interaktionen einen höheren Stellenwert als Standardprozesse haben. Das Ergebnis zählt mehr als der Weg dorthin, und die Veränderungsfähigkeit ist wichtiger als das Einhalten von Projektplänen. Veränderungen rufen bei Menschen einen natürlichen Widerstand gegen Neues und Unbekanntes hervor. Vertrauen aufzubauen, ist deshalb eine Grundbedingung, denn ohne Vertrauen sind auch keine Vernetzung, Offenheit, Agilität und Partizipation möglich (Petry 2019, S. 187 ff.). Für einen Digital Leader steht das Vertrauen in sich selbst, in die Mitarbeiter- und Kundenbeziehung, in die Organisation und in die digitalen Technologien im Fokus. Führungskräfte, denen vertraut wird, führen wertschätzend, ermutigen andere, sprechen offen über Gedanken und sind zuverlässig sowie verlässlich. Vertrauen aufzubauen ist nicht nur die grundsätzliche Basis von VOPA, sondern des gesamten kulturellen Wandels einer Organisation. Mögliche Indikatoren eines Digital Mindsets
• Fördert die Führungskraft die Vernetzung der Mitarbeiter durch interdisziplinäre Projektzusammenarbeit? • In welchem Maß ist die Führungskraft offen für geäußerte Kritik und Meinungsverschiedenheiten bei Mitarbeitern, Kunden und anderen Führungskräften? • In welchem Maß bezieht die Führungskraft ihre Mitarbeiter in strategische Entscheidungen ein? • Reagiert die Führungskraft eher auf Veränderungen als auf das Befolgen eines Projektplans? • In welchem Maß ist die Führungskraft verlässlich und hält ihre Versprechen?
6.3.2 Organisatorisch-kulturelle Dimension Wie auch die individuelle Dimension ist die organisatorisch-kulturelle Dimension in vier unterschiedliche Kompetenzfelder unterteilt, die durch Indikatoren charakterisiert und messbar gemacht werden können. Wie in Abb. 6.3 dargestellt, umfasst die organisatorisch- kulturelle Dimension Handlungen und Verhaltensweisen der einzelnen Person in der Organisation. Dies umfasst die Kompetenzen des strategischen Denkens und Handelns, das Change-Management sowie die Kundenorientierung. Hierbei bilden das strategische Denken und Handeln die Grundlagen, welche die Anwendung der Kompetenzen Kundenorientierung und Change-Management unterstützen und fördern. Als Pendant zu den Kompetenzfeldern Kommunikation und Mitarbeiterorientierung der individuellen Dimension stehen die Kompetenzfelder Kundenorientierung und Change-Management auf der organisatorisch-kulturellen Dimension. Durch sie lässt sich Digital Leadership im Unternehmen und im kulturellen Umfeld operationalisieren. So, wie das digitale Mindset das Fundament der individuellen Dimension darstellt, ist die digitale Vision als digitales Zukunftsbild der Organisation die Basis für alle
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Abb. 6.3 Die organisatorisch-kulturelle Dimension
Kompetenzen auf der organisatorisch-kulturellen Dimension. Die digitale Vision beeinflusst das strategische Denken und Handeln und steuert die Kompetenzfelder Kundenorientierung und Change-Management. Folgend werden für jedes der vier Kompetenzfelder der organisatorisch-kulturellen Dimension wichtige Kompetenzen und Indikatoren vorgestellt, anhand derer Digital Leadership bewertet werden kann.
6.3.2.1 Strategisch denken und handeln Als Digital Leader gilt es, ein übergreifendes Verständnis für Geschäftsprozesse zu entwickeln und über den eigenen Verantwortungsbereich hinaus zu blicken. Hierfür bedarf es einerseits einer strategisch-holistischen und analytischen Denkweise, um Entscheidungen trotz Ambiguität und Volatilität zu treffen und andererseits der Fähigkeit, disruptiv und agil zu denken. Disruptives Denken bedeutet zunächst, in Umbrüchen und nichtlinearen Entwicklungen denken zu können sowie mit den in der digitalen Transformation oft auftretenden tiefgreifenden Brüchen und Widersprüchen kreativ und produktiv umzugehen. Auch bedeutet disruptiv zu denken, sich von seinem Standpunkt, seinen Einstellungen und Entscheidungen kognitiv und affektiv zu lösen, um Themen und Situationen urteilsfrei aus anderen Perspektiven zu betrachten. Dies erfordert nicht nur eine ausgeprägte kritische Analysefähigkeit und das Beherrschen von Komplexität, sondern auch eine hohe Ambiguitätstoleranz, um auf Unvorhergesehenes entsprechend reagieren zu können.
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Als Digital Leader bedeutet dies, in einem komplexen Umfeld und unter Zeitdruck aus einer Vielzahl an Handlungsalternativen auszuwählen und eine zielorientierte Entscheidung zu treffen. Die Entscheidungskompetenz setzt nicht nur eine gründliche Analyse voraus, sondern auch die Fähigkeit, visionär und zukunftsorientiert zu denken. Mögliche Indikatoren strategischen Denkens und Handelns
• In welchem Maß kann sich die Führungskraft von ihrem eigenen Standpunkt lösen und einen Perspektivwechsel zur Beurteilung von Themen und Situationen vornehmen? • In welchem Maß sehen Führungskräfte Hindernisse und Widerstände vorher und befassen sich bereits im Vorfeld mit der Problemlösung? • Gibt es einen Entscheidungsrahmen, welcher die erforderlichen Entscheidungen zur Strategieumsetzung aufzeigt?
6.3.2.2 Change-Management Der Umgang mit dem digitalen Wandel erfordert eine Vielzahl an Kompetenzen der individuellen und organisatorisch-kulturellen Dimension wie z. B. Kommunikationsfähigkeit, Offenheit, Vertrauen und Lernbereitschaft. Ein Digital Leader ist auch ein Change-Manager, der die Rahmenbedingungen für einen digitalen Wandel schafft. Dies erfordert eine Kultur des Probierens, der Freiräume und der Diversität. Zusätzlich gilt es, Hierarchien zu reduzieren, die eine bereichs-, hierarchie- und unternehmensübergreifende Zusammenarbeit verlangsamen und den Informationsaustausch erschweren. Ein Digital Leader fördert die Erweiterung des Handlungsspielraums von Mitarbeitern durch selbstorganisierte und vernetzte Teams. Maßnahmen, wie z. B. eine „Vorschlagskultur“ zu etablieren und Einzelentscheidungen auf Gruppenentscheidungen zu übertragen, schaffen Synergieeffekte, indem sie das Wissen von Vielen nutzen. Infolgedessen ist die Kompetenz Empowerment eng mit den Kompetenzen der Engagement- und Partizipationsförderung, also den Fähigkeiten, Veränderungen voranzutreiben und Mitarbeiter zu beteiligen, verbunden. Das Ausweiten des Handlungsspielraums geht jedoch mit zusätzlicher Verantwortung einher. Hier ist es Aufgabe der Führungskraft, Anreize zur intrinsischen Motivationsförderung zu schaffen, um die Mitarbeiter zu bestärken, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen. Mögliche Indikatoren einer Change-Management-Kompetenz
• In welchem Maß fördert die Führungskraft eine vielfältige Teamzusammenstellung von Mitarbeitern mit unterschiedlichsten Kompetenzen und soziokulturellen Hintergründen? • In welchem Maß schafft die Führungskraft Hierarchien ab und fördert die Bildung selbstorganisierter Netzwerke? • In welchem Maß hat die Führungskraft gemeinsam mit den Teammitgliedern deren Handlungs- und Entscheidungsräume definiert?
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6.3.2.3 Kundenorientierung Die Digitalisierung bietet Führungskräften zahlreiche neue Chancen der individuellen Kundenansprache und des engen Kundenaustausches. Dabei ist die Kundenorientierung eng mit der Mitarbeiterorientierung der individuellen Dimension verbunden. Nur durch motivierte und engagierte Mitarbeiter gelingt eine langfristige Kundenbeziehung. Als Digital Leader gilt es, Bedürfnisse, Ansprüche und Probleme der Kunden genau zu analysieren, um deren Erfüllung und die Entwicklung eines Mehrwerts für Kunden in die Zielvereinbarung für Mitarbeiter und Führungskräfte zu integrieren. Um Kundennähe zu schaffen, bindet der Digital Leader die Kunden bereits in der Entwicklungsphase von Innovationen ein. Das schafft nicht nur Vertrauen, sondern gewährt dem Digital Leader auch einen vertieften Einblick in Bedürfnisse, Denkweisen und Verhaltensweisen der Kunden. Dieses Wissen kann zusätzlich für innovative Produkte und Dienstleistungen sowie Prozessoptimierungen genutzt werden (Kreutzer et al. 2018, S. 129 ff.). Die Förderung von Kreativität und Innovationen ist im digitalen Zeitalter eine der wichtigen Kompetenzen zur langfristigen Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit. Deshalb sind Kompetenzen wie Querdenken, Risikobereitschaft, Infragestellen etablierter Ansätze und Experimentierfreude zentrale Fähigkeiten, welche die Kreativität fördern. Zusätzlich wird in Zeiten der schnelllebigen digitalen Transformation Perfektionismus in den Hintergrund gedrängt. Vielmehr gilt das „Trial and Error“-Prinzip der schnellen Fehlererkennung und Fehlerbeseitigung anstelle einer Fehlervermeidung (Ciesielski und Schutz 2016, S. 168; Buhse 2014, S. 145). Als Digital Leader gilt es also, die Risikobereitschaft von Mitarbeitern und der Organisation zu fördern. Fehler müssen als Teil des Entwicklungsprozesses angesehen und Scheitern als wichtige Lernerfahrung akzeptiert werden. Eine offene Fehlerkultur fördert den Lern- und Verbesserungsprozess einer Organisation sowie die Kreativität und Experimentierfreude der Mitarbeiter.
Mögliche Indikatoren einer Kundenorientierung
• In welchem Maß werden die Kunden in wichtige Aktivitäten involviert, um gemeinsam etwas Neues zu schaffen bzw. Bestehendes zu verbessern? • In welchem Maß unterstützt die Führungskraft Mitarbeiter bei der Entwicklung neuer Ideen und Umsetzung (risikoreicher) Projekte, auch wenn diese noch nicht ganz ausgereift sind? • In welchem Maß ist die Führungskraft bereit, ihre Fehler zu veröffentlichen und zu erklären, was sie zukünftig anders machen würde?
6.3.2.4 Digitale Vision Die digitale Vision erweitert die Unternehmensvision um das Zukunftsbild eines Unternehmens, das für die Digitalisierung gerüstet ist. Die Entwicklung einer digitalen Vision und einer digitalen Unternehmenskultur ist für viele Unternehmen ein ebenso langwieriger wie aufwendiger Weg. Denn neue Werte wie Transparenz, Offenheit und das Teilen von Wissen ersetzen alte, fast komplementäre Werte wie Tradition, Perfektion und Sicherheit.
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So, wie das digitale Mindset die grundsätzlichen Denk- und Verhaltensmuster eines Digital Leaders vereint, ist die digitale Vision das Zukunftsbild der Organisation und gleichzeitig die Ausgangsbasis für jegliches unternehmerisches Denken und Handeln. Als Digital Leader gilt es, die Vision zu leben und auf dieser Grundlage den Mitarbeitern, Kunden und Investoren im digitalen Wandel Orientierung zu geben. So ist es Aufgabe der Führungskraft, durch Kommunikation der digitalen Vision einen Handlungsrahmen vorzugeben und einen unternehmerischen Auftrag zu formulieren, um der unternehmerischen Tätigkeit im digitalen Zeitalter einen Sinn zu geben. Auch ist es die Aufgabe des Digital Leaders, den Teammitgliedern Orientierung zu geben, indem ihre Arbeit in den Kontext der digitalen Strategie gesetzt wird. Um jedoch Orientierung geben zu können, muss die Führungskraft eine Vorbildfunktion einnehmen und die neuen Werte des digitalen Mindsets wie Offenheit, Transparenz und Partizipation (vor)leben. Hinreichende Bedingungen für eine Verhaltensweise als Vorbild sind dabei Authentizität, Offenheit, Lernbereitschaft, Veränderungsfreude und visionäres Denken. Infolgedessen sind die digitale Vision und das Digital Mindset der Kompass und die Antriebsquelle für ein erfolgreiches Digital Leadership. Eine der größten Herausforderungen für den Digital Leader ist dabei oft die zielgerichtete und planvolle Transformation der klassischen Unternehmenswerte hin zu den neuen digitalen Werten.
Mögliche Indikatoren einer digitalen Vision
• In welchem Maß ist die Führungskraft ein Vorbild und lebt die Denk- und Verhaltensmuster der digitalen Vision? • In welchem Maß fördert die Führungskraft die Umsetzung der digitalen Vision bei den Teammitgliedern und Kunden? • In welchem Maß setzt die Führungskraft die Ziele der Mitarbeiter in den Kontext der digitalen Strategie und Vision?
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Praxistransfer des Digital-Leadership-Index
Wie lassen sich die abgeleiteten und dargestellten Erkenntnisse in die Unternehmenspraxis überführen? Zwei Aspekte, das wurde bei ersten Anwendungen und Gesprächen mit Praktikern deutlich, stehen dabei im Vordergrund. Zum einen ist es wichtig, das Konzept als solches sowie die damit erzielten Messergebnisse so darzustellen, dass sie leicht verständlich und in reduzierter Komplexität präsentiert werden. Zum anderen hilft bei der Anwendung eine erste, aus dem Konzept abgeleitete Typologie. Vier Arten von Digital- Leadership-Persönlichkeiten veranschaulichen somit unterschiedliche Ausprägungen der Kompetenzfelder des Digital-Leadership-Index.
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6.4.1 Ausprägungen der Kompetenzfelder Die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellte individuelle und organisatorisch- kulturelle Dimension sind der Ausgangspunkt, um Digital Leadership greifbar und mit den zugrunde liegenden Kompetenzen messbar zu machen. Die Ausprägungen der einzelnen Kompetenzen sind durch verschiedene Indikatoren bestimmbar. Im Ergebnis lässt sich darstellen, wie stark (oder weniger stark) die verschiedenen Kompetenzfelder einer Führungspersönlichkeit im Bereich Digital Leadership ausgeprägt sind. Das heißt, die in den zwei Dimensionen enthaltenen insgesamt acht Kompetenzfelder können – je nach Person – unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Der Grad der Ausprägung wird auch als Reifegrad bezeichnet (siehe Abb. 6.4). Er wird hier – daher der Begriff des Ansatzes – als ein Index visualisiert und in den folgenden Abbildungen, je nach Grad der Ausprägung, durch unterschiedlich stark ausgefüllte Felder dargestellt. Der Begriff Index fungiert dabei im Sinne einer Kennzahl, welche die Ausprägung des jeweiligen Kompetenzfeldes beschreibt. Je nach Einsatzbereich und Verwendung des Modells wird ein Maximalwert2 (100 %) für jedes Kompetenzfeld als Referenz definiert. Die ermittelte Ausprägung des jeweiligen Kompetenzfeldes der betrachteten Führungspersönlichkeit wird mit dem Maximalwert (100 %) verglichen. Durch diese Darstellung wird, so wie oben gefordert, die Komplexität der Darstellung reduziert.
Abb. 6.4 Reifegrad eines Digital Leaders
Der Maximalwert kann sowohl branchen- als auch unternehmensbezogen ermittelt bzw. festgelegt werden.
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6.4.1.1 Visualisierung: Reifegrad eines Digital Leaders Die in Abb. 6.4 dargestellte Übersicht der Reifegrade eines Digital Leaders verdeutlicht das Kompetenzprofil der betrachteten Führungspersönlichkeit. Ausgehend von dem Maximalwert (100 %) kann nun die ermittelte Ausprägung der Kompetenz der Führungspersönlichkeit in das Gesamtbild des Digital-Leadership-Index eingeordnet werden. Der Index visualisiert damit, wie stark die prozentuale Ausprägung, also der Reifegrad der jeweiligen Kompetenzen, im Vergleich zur maximalen Idealausprägung ist. Die Tatsache, dass es Führungspersönlichkeiten mit unterschiedlich ausgeprägten Kompetenzfeldern gibt, findet auch in diesem Ansatz ihren Niederschlag. Ein Digital Leader, der in der Darstellung des Digital-Leadership-Index nicht in allen Kompetenzfeldern die 100 %-Marke erreicht, ist nicht zwangsläufig eine weniger gute Führungspersönlichkeit. Je nach Unternehmen und Situation sind durchaus unterschiedliche Führungspersönlichkeiten gefragt; das gilt in gleichem Maße für Digital Leader. Perfektion in allen Kompetenzbereichen ist in der Praxis unrealistisch, wenngleich wünschenswert. Hinzu kommt, dass der Digital-Leadership-Index ein Instrument ist, das gerade im Bereich der Personalentwicklung von Führungskräften eingesetzt werden kann. Konkret geht es hier insbesondere darum, Entwicklungs- und Förderpotenziale der Führungskraft zu identifizieren und mit entsprechenden Maßnahmen auf diese zu reagieren. Die Stärke des Ansatzes liegt also vor allem darin, vergleichbar mit einer Training Need Analysis (TNA) auf bestehenden oder sich abzeichnenden Weiterbildungsbedarf bei einer Führungskraft hinzuweisen. 6.4.1.2 Messbarkeit und Einsatzbereiche Um dem Index auch außerhalb seines in diesem Beitrag präsentierten ersten Einsatzes in der Praxis eine stärkere wissenschaftliche Verankerung zu geben, sind die dargestellten Indikatoren als Merkmale zur Messbarkeit der Kompetenzausprägung zu interpretieren. Ausgehend von der psychologischen Diagnostik, sind für jedes Merkmal verschiedene Items zu entwickeln; diese Items sind Fragen oder Aussagen, die beantwortet werden müssen bzw. zu denen Stellung bezogen wird. Damit verfügt jedes Merkmal über heruntergebrochene Items, welche die Messbarkeit des Merkmals sicherstellen. Nun kann z. B. aus den Ergebnissen einer Befragung die Ausprägung des jeweiligen Merkmals abgeleitet werden. Ein so durchgeführtes psychodiagnostisches Verfahren verfolgt das Ziel, die Hauptgütekriterien der psychologischen Diagnostik (Objektivität, Reliabilität und Validität) zu erfüllen. Je nach Einsatzbereich und Fortschritt der digitalen Transformation im Unternehmen kann die Reihenfolge der Kompetenzevaluation wie in Abb. 6.5 dargestellt vorgenommen werden. Ausgehend von der Bewertung der Basisfähigkeiten für Digital Leadership (digitale Kompetenzen, strategisches Denken und Handeln) erfolgt die Reifegradmessung der Menschenorientierung (Mitarbeiter- & Kundenorientierung) und der Fähigkeiten (Kommunikation, Change-Management) bis hin zur ganzheitlichen Analyse der digitalen Denkweise und Werteorientierung (Digital Mindset, Digitale Vision).
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Abb. 6.5 Ansatz zu Messbarkeit des Digital-Leadership-Index
Infolgedessen kann der Digital-Leadership-Index mit entsprechender Anpassung an die jeweilige Zielgruppe durch unterschiedlichste Formen der Befragung ( 360-Grad-Feedback, Selbst- und Fremdeinschätzung) fundierte Erkenntnisse über den Ausprägungsgrad einer digitalen Unternehmenskultur und den Erfolg eines Digital Leaders bieten. Ein Aspekt, der an dieser Stelle angeführt, aber nicht vertieft wird, ist weniger die Frage, wie die Ausprägungen ermittelt, sondern vielmehr, durch wen die Beurteilung bezüglich der Ausprägung der Indikatoren vorgenommen wird. Der Index kann sowohl zur Selbsteinschätzung als auch (oder ausschließlich) zur Einschätzung anderer Personen (Selbstbild/Fremdbild) eingesetzt werden.
6.4.2 Typologie: Digital-Leadership-Persönlichkeiten Wie bereits ausgeführt, haben Anwendungen in der Praxis und Diskussionen im Rahmen der Entwicklung des Modells verdeutlicht, dass Kompetenzfelder von Führungspersönlichkeiten im Bereich Digital Leadership durchaus unterschiedlich stark ausgeprägt sein können. Die vielfach möglichen Ausprägungen der hier entwickelten Leadership- Dimensionen bei Führungspersönlichkeiten rufen nach einer weitergehenden strukturierten Verdichtung. Diese erleichtert auch die Anwendbarkeit des Digital-Leadership-Index in der Unternehmenspraxis.
6.4.2.1 Dimensionen: Areas of Competence Der folgende Ansatz stellt die Ergebnisse des Digital-Leadership-Index-Profils so dar, dass sich daraus vereinfachend vier unterschiedliche Typen von Digital Leadern ableiten lassen.
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Abb. 6.6 Areas of Competence: People & Change
Die individuelle und die organisatorisch-kulturelle Dimension mit ihren jeweils vier Kompetenzen ergeben insgesamt acht verschiedene Kompetenzen. Diese lassen sich ihrem Charakter in der unternehmerischen Praxis nach in zwei Gruppen bzw. Cluster unterteilen. Die sich dabei ergebenden Cluster werden hier „Areas of Competence“ genannt. Durch die bereits angedeutete Verdichtung der acht Kompetenzfelder zu zwei Dimensionen ergibt sich die Möglichkeit, vereinfachend vier Typologien von Führungspersönlichkeiten abzuleiten. Hauptgrund für diesen komplexitätsreduzierenden Schritt ist die damit verbundene Chance, mit „Digital Leadership Personas“ zu arbeiten. Dieser Wunsch der Praxis wurde bei der Entwicklung des Index in Diskussionsrunden immer wieder geäußert. cc Areas of Competence Dies sind zwei von den bisher dargestellten Dimensionen unabhängige Kompetenzbereiche. Sie ergeben sich aus einer praxisorientierten und inhaltlich orientierten Kombination von jeweils vier der acht Kompetenzfelder. Auf Basis ihrer Ausprägungen lässt sich eine kompakte Digital-Leader-Typologie entwickeln. Das erste Cluster, „People & Change“, subsumiert Kompetenzen in den Bereichen Kommunikation, Mitarbeiterorientierung, Change-Management und Kundenorientierung (siehe Abb. 6.6). Das zweite Cluster, „Digital & Strategy“, umfasst die Kompetenzfelder digitale Kompetenzen, strategisches Denken und Handeln, digitales Mindset und digitale Vision (siehe Abb. 6.7). Damit verdeutlichen die Areas of Competence die inhaltliche Verbindung der individuellen Dimension mit der organisatorisch-kulturellen Dimension. Durch diese Zusammenfassung der Kompetenzfelder lassen sich im nächsten Schritt Typologien für einen Digital Leader ableiten.
6 Digital-Leadership-Index – Führung im digitalen Umfeld anschaulich und messbar …
121
Abb. 6.7 Areas of Competence: Digital & Strategy
6.4.2.2 Typologie: Vier Führungspersönlichkeiten Aus der dargestellten Systematisierung lassen sich im nächsten Schritt vier unterschiedliche Arten einer Führungspersönlichkeit (Digital Leadership Personality) ableiten. Die jeweiligen Persönlichkeiten ergeben sich aus der Ausprägung der angeführten Areas of Competence. Der Prozentsatz für die jeweilige Area of Competence ergibt sich aus dem durchschnittlichen Prozentsatz der Einzelkompetenzen im jeweiligen Cluster. Die Ableitung der vier Digital-Leadership-Persönlichkeiten erfolgt über eine zweidimensionale Matrix. Die jeweilige Dimension beschreibt die Area of Competence, also „People & Change“ und „Digital & Strategy“. In der Matrix wird der jeweilige Grad der Ausprägung dargestellt. Die vier generischen Persönlichkeiten ergeben sich, indem vereinfachend unterschieden wird, ob die Ausprägung in der jeweiligen Dimension über oder unter 50 % liegt. Die sich daraus ergebenden Führungspersönlichkeiten sind im Folgenden dem Charakter nach kurz dargestellt (siehe Abb. 6.8). • Der Technik-Experte (People & Change unterdurchschnittlich, Digital & Strategy unterdurchschnittlich ausgeprägt) weist unterdurchschnittliche Fähigkeiten in allen acht Kompetenzbereichen von Digital Leadership auf und hat noch keine ausgeprägte digitale Denkweise. Ebenfalls ist er nur in wenigen oder gar keinen Projekten der digitalen Transformation eingebunden und zeigt überhaupt nur wenige Berührungspunkte zur digitalen Transformation. Auch sind seine Fähigkeiten im Bereich des Gewinnens und Mitnehmens von Mitarbeitern und Kunden im Rahmen von Change-Projekten beschränkt. • Ein digitaler Beginner (People & Change überdurchschnittlich, Digital & Strategy unterdurchschnittlich ausgeprägt) hat zwar eine überdurchschnittliche Mitarbeiterund Kundenorientierung. Auch Kommunikation und Change-Management fallen
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H. Dombrowski und N. Bogs
meist in die Komfortzone dieser Persönlichkeit. Jedoch sind ihre Fähigkeiten in den Bereichen Digital und Strategie unterdurchschnittlich ausgeprägt. Digitale Kompetenzen sind meist nicht oder nur schwach ausgeprägt, eine digitale Vision ist nicht oder nur in Ansätzen erkennbar. Sein Mindset kann nicht als digital angesehen werden und es fehlt eine generelle Strategie, die digitale Vision Mitarbeitern und Kunden näherzubringen. • Ein digitaler Visionär (People & Change unterdurchschnittlich, Digital & Strategy überdurchschnittlich ausgeprägt) verfügt über ein ausgeprägtes offenes, visionäres digitales Mindset sowie über digitale Kompetenzen und ein Verständnis des strategischen Denkens und Handelns als Grundlage zur Umsetzung einer digitalen Vision. Ein digitaler Visionär ist dabei oder hat bereits eine digitale Vision definiert und Indikatoren zur Umsetzung formuliert. Allerdings fehlen ihm noch wichtige Kompetenzen zur Implementierung der digitalen Vision wie z. B. Kompetenzen der Mitarbeiter- und Kundenorientierung und der richtigen Kommunikation, sodass die Fähigkeit zur Umsetzung der digitalen Transformation noch nicht ganz ausgeprägt ist. • Der Digital Leader (People & Change überdurchschnittlich, Digital & Strategy überdurchschnittlich ausgeprägt) weist in allen Kompetenzbereichen eine überdurchschnittliche Ausprägung auf. Diese Führungspersönlichkeit verfügt über die nötigen Digital-Leadership-Kompetenzen, um einen digitalen Wandel sowohl bei den Mitarbeitern als auch in der Unternehmenskultur zu initiieren und voranzutreiben (Abb. 6.8). Diese Typologisierung ermöglicht also nicht nur eine vereinfachte, ebenso qualifizierte wie intuitiv nachvollziehbare Zuordnung von Führungspersönlichkeiten zu einem Führungstypus, sondern sie zeigt auch Entwicklungsmöglichkeiten der Führungskraft auf. Dabei dienen die zwei Dimensionen (Areas of Competence) „People & Change“ und „Digital & Strategy“ als praktischer Rahmen. Ein genaueres Verständnis der jeweiligen Dimension ermöglicht im Umkehrschluss wieder die Betrachtung der zugrunde liegenden Kompetenzen mit den diese bestimmenden Indikatoren.
Abb. 6.8 Mögliche Digital-Leadership-Persönlichkeiten
6 Digital-Leadership-Index – Führung im digitalen Umfeld anschaulich und messbar …
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Aspekte des Praxistransfers
• Umsetzung –– Zielgruppe: Mitarbeiter & Führungskräfte –– Standardisierte (Online-)Befragungen –– Selbst- & Fremdeinschätzung • Bereiche –– Leadership-Audit → Personalentwicklung –– Entwicklung von (Ziel-)Profilen –– Talent-Akquisition/Recruiting
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Fazit
Ein durch Digitalisierung und VUCA deutlich geprägtes Marktumfeld braucht ein neues Führungsverständnis in Verbindung mit ausgeprägten VOPA-Plus-Kompetenzen. Einen Ansatz bietet der Digital-Leadership-Index. Zwei übergeordnete Dimensionen mit jeweils vier konkreten Kompetenzfeldern und entsprechenden Indikatoren helfen in einem ersten Schritt, den in der wissenschaftlichen Literatur und unternehmerischen Praxis bestehenden Kompetenz-Dschungel im Bereich Digital Leadership zu lichten. Die Ausprägung der Kompetenzfelder – daher auch der Begriff Index – lassen sich durch Befragungen ermitteln. Um die insgesamt acht Kompetenzfelder mit ihren einzelnen Ausprägungen in eine für die Praxis leichter einsetzbare und besser verständliche Typologie zu überführen, werden in diesem Beitrag zwei neue Dimensionen (Areas of Competence) eingeführt, anhand derer schließlich vier unterschiedliche Führungspersönlichkeiten abgeleitet werden können (Typologie). Handlungsempfehlungen
• Anerkennen, dass in einem VUCA-Umfeld neue und heterogene Führungsprinzipien erforderlich sind (VOPA+). • Digital Leadership als Kombination neuer, teilweise noch nicht bekannter Führungskompetenzen und alter etablierter Fähigkeiten in einem digital geprägten Marktumfeld interpretieren. • Vielfalt akzeptieren, d. h. anerkennen, dass Führungspersönlichkeiten unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen haben können und, dass dies für die jeweilige Organisation bzw. Situation durchaus sinnvoll sein kann. • Das ganzheitliche Kompetenzprofil des Digital Leaderships in zwei Dimensionen interpretieren: a. individuelle und b. organisatorisch-kulturelle Dimension, um messbare Kompetenzen zu definieren.
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H. Dombrowski und N. Bogs
• Jede der beiden Dimensionen mit ihren vier Kompetenzfeldern um aussagestarke und messbare Indikatoren erweitern (Beispiele siehe Beitrag). • Ausprägungen („Reifegrad“) der einzelnen Kompetenzen als Index (Maximalwert 100 %) visualisieren. • Die Stärken des Instruments Digital-Leadership-Index unter anderem im Bereich Management Audit (Personalentwicklung) sowie im Bereich Recruiting (Selektion) von Führungskräften nutzen. • Die im Rahmen der vereinfachenden Typologisierung abgeleiteten vier Führungspersönlichkeiten zur Konzept-Illustration sowie Ergebniskommunikation nutzen.
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Helen Dombrowski ist Beraterin bei AlphaSights in Hamburg, einer international führenden englischen Beratung im Bereich „Knowledge Search“. Das global tätige U nternehmen hilft Organisationen durch die Vernetzung von Meinungsführern aus sämtlichen Regionen und Branchen, zentrale Entscheidungen schnell und effizient zu treffen. Nach dem Studium der Wirtschaftspsychologie absolvierte sie ein Masterstudium (Sustainable Marketing & Leadership) an der Hochschule Fresenius. Während des Studiums war sie unter anderem bei Philips, Airbus und Coloplast tätig. Ihr aktueller Forschungsschwerpunkt liegt in den Bereichen Führung, Digitalisierung und Strategie.
Nicolas Bogs ist Studiendekan an der Hochschule Fresenius in Hamburg. Er hat dort die Professur für Strategische Führung inne und ist unter anderem zuständig für den Master-Studiengang Human Resources Management, den er mitentwickelt hat. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in den Bereichen Strategie, Führung und Personal. Da rüber hinaus ist er Managing Partner und Geschäftsführer der TANGRON Talent & Insight, einer auf Executive und Professional Search spezialisierten Personalberatung mit Sitz in Hamburg. Zuvor war er in mehreren Unternehmensgruppen als Führungskraft tätig, zuletzt als Vorstandsmitglied einer international tätigen Mediengruppe mit Sitz in London. Der promovierte Volkswirt hat an der Universität Hamburg studiert.
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Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus Ein Konzept zur strukturierten und zielgerichteten Kulturtransformation für deutsche Traditionsunternehmen Markus H. Dahm, Clemens Holst und Lisa-Marie Schmitz
Inhaltsverzeichnis 7.1 E inleitung 7.2 Unternehmenskultur 7.2.1 Definition von Kultur und Unternehmenskultur 7.2.2 Das Drei-Ebenen-Modell nach Schein 7.2.3 Digitalisierung als entscheidender externer Einflussfaktor 7.2.4 Ökonomische Bedeutung von Unternehmenskultur 7.3 Transformationsprozesse 7.3.1 Veränderungsmanagement 7.3.2 Drei-Phasen-Modell nach Lewin 7.3.3 8-Stufen-Modell nach Kotter 7.4 Konzept zur zielgerichteten Kulturtransformation für deutsche Traditionsunternehmen 7.4.1 Entwicklung des Konzeptes 7.4.2 Aufbau des Konzeptes 7.4.3 Hauptinstrument des Konzeptes: Kulturbild 7.4.4 Phase 0: Preparation 7.4.5 Phase 1: Today
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M. H. Dahm (*) · C. Holst IBM Deutschland GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] L.-M. Schmitz Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_7
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M. H. Dahm et al.
7.4.6 Phase 2.1: Tomorrow 7.4.7 Phase 2.2: Change 7.4.8 Iterative Prozessgestaltung 7.4.9 Zeitdauer der Konzeptdurchführung und Erfolgssichtbarkeit 7.5 Schlussbetrachtung Literatur
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Schlüsselwörter
Kulturtransformation · Unternehmenskultur · Transformationsprozess · Digitale Transformation · Change-Management · Leadership · Veränderungsfähigkeit · Veränderungsbereitschaft cc
Lesernutzen Der vorliegende Beitrag fokussiert die wichtige, aber häufig ver-
nachlässigte Thematik der Unternehmenskultur im Zusammenhang mit dem Erfolg der digitalen Transformation von Unternehmen. Die Erfassung und Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden kulturellen Charakter des eigenen Unternehmens und die kontinuierliche Entwicklung in Richtung des zukünftigen, angestrebten Kulturbildes ist zur Sicherung der Zukunftsfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit unabdingbar. Das in diesem Beitrag vorgestellte Konzept für die strukturierte und zielgerichtete Kulturtransformation von deutschen Traditionsunternehmen dient als Leitfaden und Orientierung bei der Umsetzung des Veränderungsprozesses für diese oft schwierig greifbare Thematik.
7.1
Einleitung
Unternehmen in einer freien Marktwirtschaft befinden sich kontinuierlich im Konkurrenzkampf mit anderen Anbietern. Es geht um Technologieführerschaft, Innovationsvorsprünge, Marktzugänge und Beherrschung von aktuellen und künftigen digitalen Absatzmärkten. Dieser Konkurrenzkampf führt zu einem intensiven, beständigen Transformationsdruck auf Unternehmen, der einen permanenten Wandelprozess fordert. Zusätzlich zu dieser Herausforderung müssen sich Unternehmen mit der zunehmenden Digitalisierung beschäftigen. Naturgemäß führt die erhöhte Geschwindigkeit der digitalen Transformation von Unternehmen zu disruptiven Veränderungen (Lepping und Palzkill 2016, S. 18). Die digitale Transformation eines Unternehmens bedeutet an dieser Stelle den Wandlungsprozess eines Unternehmens, den es im Zuge der Digitalisierung zu bewältigen hat, um im Wettbewerb bestehen zu können (Laudon 2017, S. 65). Dieser Wandlungsprozess zielt in erheblichem Maße auf die Kultur eines Unternehmens ab.
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
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Den Begriff Unternehmenskultur zu definieren ist schwer, da er viele weiche Faktoren, die zum Teil einen impliziten Charakter haben, umfasst. Dennoch nimmt die Unternehmenskultur beträchtlichen Einfluss auf den Erfolg des gesamten Unternehmens. Wie muss vorgegangen werden, um eine marktgerechte, wettbewerbsfähige Zielkultur im Unternehmen zu erreichen? Vor einer Neuausrichtung der Unternehmenskultur ist zunächst die vorherrschende Kultur zu erfassen. Wie können die Aspekte einer Unternehmenskultur erkannt, beschrieben und bewertet werden? Auch die darauffolgende Bestimmung einer zukünftigen Zielkultur birgt Herausforderungen. Wie sieht eine bessere Version der gegenwärtigen Unternehmenskultur aus und welche Werte und Ziele sollten etabliert werden? Um dies beantworten zu können, gilt es, weitere, tieferliegende Fragen zu beleuchten. Welche Inhalte umfasst der diffuse Komplex „Unternehmenskultur“? Welche Inhalte sollten im darauffolgenden Schritt für eine direkte oder indirekte Beeinflussung betrachten werden (Strobl 2018, S. 126)? Die größte Herausforderung, die sich an die beiden zuvor beschriebenen anschließt, äußert sich wohl darin, wie diese Transformation von der gegenwärtigen zur zukünftigen Unternehmenskultur bestmöglich realisiert werden kann. Das Ziel dieses Beitrags ist, ein Konzept zur Transformation von Unternehmenskultur zu entwickeln. Hierbei fokussiert sich das Konzept auf die Idee, dass es spezifisch bei traditionell deutschen Unternehmen wie z. B. Siemens, Deutsche Bank, Allianz und Bosch angewendet werden kann. Für Traditionsunternehmen gilt im Rahmen des vorliegenden Beitrags das definitorische Verständnis, dass es sich um Unternehmen handelt, egal ob Automobilhersteller, Bank, Versicherung oder andere, die über Jahrzehnte ihr Kerngeschäft in Deutschland aufgebaut und profitabel abgesichert haben und deren Unternehmenskultur diese Arbeit widerspiegelt.
7.2
Unternehmenskultur
7.2.1 Definition von Kultur und Unternehmenskultur Um das Phänomen Kultur greifbar zu machen, werden nachfolgend zwei Definitionen von Kultur diskutiert, bevor der Begriff anschließend in einen Zusammenhang mit Unternehmen gebracht wird. Tylor stellt bei der Definition von Kultur die von den Menschen als Mitglieder einer Gruppe oder Gesellschaft geteilten, immateriellen Werte wie beispielsweise Wissen als zentrale Elemente heraus (Rieger 2018, S. 7). Eine deutlich differenziertere Definition des Kulturbegriffs wirft Thomas (1993, S. 380 f.) einige Jahre zuvor auf, indem er den Begriff wie folgt ausführt: „Kultur ist ein universelles, für eine Gesellschaft, Organisation und Gruppe aber sehr typisches Orientierungssystem. Dieses Orientierungssystem wird aus spezifischen Symbolen gebildet und in der jeweiligen Gesellschaft usw. tradiert. Es beeinflußt das Wahrnehmen,
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Denken, Werten und Handeln aller ihrer Mitglieder und definiert somit deren Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Kultur als Orientierungssystem strukturiert ein für die sich der Gesellschaft zugehörig fühlenden Individuen spezifisches Handlungsfeld und schafft damit die Voraussetzungen zur Entwicklung eigenständiger Formen der Umweltbewältigung.“
Im Kontext eines Unternehmens betrachtet verbirgt sich hierbei der Gedanke, dass in gewisser Weise jedes Unternehmen eine eigene, spezifische Kultur entwickelt und somit eine eigene Kulturgemeinschaft bildet (Steinmann et al. 2013, S. 652). Thommen (2008, S. 669) beschreibt Unternehmenskultur als „die Gesamtheit aller Normen, Wertvorstellungen und Denkhaltungen, welche als kollektives Orientierungsmuster das Verhalten der Mitarbeitenden und des Unternehmens bestimmen“. Edgar Schein (2004, S. 87) versteht Unternehmenskultur als ein Muster von Annahmen, welches durch eine Gruppe, bestehend aus Individuen, bzw. durch ein Unternehmen entwickelt und aufgesetzt wird. Dieses Muster hilft der Gruppe, die beiden folgenden grundlegenden Herausforderungen zu meistern: das Überleben in und die Anpassung an die sich stetig ändernde Umwelt (externe Adaptation) und die Sicherung der internen Prozesse und des Zusammenhalts (interne Integration) (Schein 2004, S. 87). Der Entstehungsprozess von Unternehmenskultur wird als langfristiger Lernprozess angesehen, welcher Flexibilität und Ausdauer erfordert. Eine wichtige Erkenntnis an dieser Stelle ist die folgende: Da Unternehmenskultur in einem Entwicklungsprozess entsteht, der sich sowohl bewusst als auch unbewusst vollzieht, impliziert dies, dass die Unternehmenskultur generell veränderbar und anpassbar ist. Die konkrete Ausgestaltung der Unternehmenskultur wird hierbei von den Mitarbeitenden eines Unternehmens geprägt. Somit lässt sich sagen, dass Unternehmenskultur durch die soziale Validierung von erfolgreichen Hypothesen bzw. Konzepten sowie durch die sozialen Interaktionen und Überzeugungen der Unternehmensmitglieder entsteht (Homma und Bauschke 2014, S. 9 f.). Die Unternehmenskultur beeinflusst das Funktionieren eines Unternehmens grundlegend. Hierbei lassen sich vier zentrale Primärfunktionen herausstellen: Ordnungsfunktion, Orientierungsfunktion, Stabilisierungsfunktion und Sinnvermittlungsfunktion (Sackmann 2017, S. 59 ff.). Diese vier Primärfunktionen resultieren in weiteren Sekundärfunktionen wie Komplexitätsreduktion, Anpassungsfunktion des Unternehmens, interne Koordinationsfunktion sowie Motivations- bzw. Identifikationsfunktion (Sackmann 2017, S. 61 f.).
7.2.2 Das Drei-Ebenen-Modell nach Schein Das in der Literatur bekannteste Modell, welches die verschiedenen Dimensionen einer Kultur abbildet und ordnet und zudem ihre Beziehung zueinander aufzeigt, ist von Edgar Schein entwickelt worden. Das Modell ist unterteilt in drei Ebenen, fortschreitend von der sichtbaren, bewussten Welt zur unsichtbaren, unbewussten Welt, weshalb es als „Drei-EbenenModell“ bekannt wurde (Steinmann et al. 2013, S. 654 ff.), (Abb. 7.1).
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
131
sichtbar, bewusst
Symbole und Zeichen Sprache, Rituale, Kleidung, Umgangsformen
Normen und Standards Wertvorstellungen, Verhaltensstandards
Basisannahmen Selbstverständliche Orientierungslinien, tiefgründige Überzeugungsmuster
unsichtbar, unbewusst
Abb. 7.1 Das Drei-Ebenen-Modell nach Schein. (Quelle: In Anlehnung an Schein 1984, S. 4)
Der sichtbare Teil einer Unternehmenskultur und somit die oberste Ebene in Scheins Modell stellen die Symbole und Zeichen dar. Sie sind der am einfachsten zugängliche Teil einer Unternehmenskultur. Die mittlere Kulturebene zeigt sich als halb sichtbarer, halb unsichtbarer Teil der Unternehmenskultur und repräsentiert die Normen und Standards. Der unterste Teil der Basisannahmen in Scheins Modell erfasst den unsichtbaren und meist unbewussten Teil der Unternehmenskultur. Hier ist eine Vielzahl an tiefgründigen Orientierungs- und Überzeugungsmustern verankert. Diese Ebenen sind nicht isoliert zu betrachten, sondern bilden gemeinsam ein Muster bzw. eine Gestalt. Um die Kultur eines Unternehmens ganzheitlich zu erfassen, muss die Gesamtgestalt betrachtet werden, d. h., man muss über die Basisannahmen (dritte Ebene) hinweg auch die Normen und Standards (zweite Ebene) sowie die Symbole und Zeichen (erste Ebene) miteinbeziehen. Hierbei sollte nicht außer Acht gelassen werden, dass zwischen den drei Ebenen enge wechselseitige Beziehungen bestehen. Weitere Modellansätze Verschiedene Forscher haben weitere, ebenfalls anerkannte Modellansätze zur Unternehmenskultur entwickelt. Nachfolgend werden zwei davon kurz angerissen: Hatch hat im Jahr 1997 eine Weiterentwicklung des Drei-Ebenen-Modells von Schein vorgenommen und publiziert. In Hatchs Modell werden vor allem die kulturelle Dynamik und die verbindenden Prozesse in den Vordergrund gestellt. Durch die detaillierte und schrittweise Beschreibung der Entstehung von Symbolen und Zeichen eignet sich dieses Modell in der Anwendung gut als Interventions- sowie Analyseinstrument (Ettl 2018, S. 52). Hofstede betrachtet Kultur in seinem Modell im Jahr 2001 aus der Perspektive, dass immer mehrere Menschen mit ihren verschiedenen Persönlichkeiten, Erfahrungen und Werten an einer Kulturentwicklung beteiligt sind. So sieht er den gemeinschaftlichen
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M. H. Dahm et al.
Prozess als ständig fortschreitend und sich weiter transformierend an. Er stellt die Kultur verbildlicht durch eine Zwiebel mit vier Schichten dar, die Werte, Rituale, Helden und Symbole repräsentieren (Ettl 2018, S. 52).
7.2.3 Digitalisierung als entscheidender externer Einflussfaktor Das Thema Digitalisierung erlangt bereits seit einigen Jahren große Aufmerksamkeit von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Die digitale Transformation von Unternehmen hält nicht nur Einzug in Unternehmensbereiche mit hohem Maschinenanteil, sondern erfasst Unternehmen in Gänze. Wertschöpfungsketten, Organisationsstrukturen, operative Prozesse und Geschäftsmodelle werden grundlegend durch digitale Technologien verändert (Dahm und Holst 2019, S. 101). Somit lässt sich die Digitalisierung als ein erheblicher Einflussfaktor für die Unternehmenskultur bezeichnen. Die Hierarchien in Unternehmen sind mit der Zeit flacher geworden und die Arbeit in Projekten findet vermehrt interdisziplinär statt. Die Kommunikation innerhalb des Unternehmens wird über digitale Kanäle abgewickelt und auch mit externen Geschäftspartnern oder Kunden wird vermehrt digital zusammengearbeitet. Feste Berufsbilder und Karrierewege lösen sich auf und langfristige Bindungen an einen Arbeitgeber nehmen ab und machen befristeten Arbeitsverträgen Platz. Kontinuierliche Weiterbildung und das sogenannte lebenslange Lernen sind unumgänglich und Mitarbeitende müssen selbst ihre eigene Beschäftigungsfähigkeit und ihre Qualifikationen sicherstellen. So wird die frühere Sicherheit im Arbeitsverhältnis abgelöst von der zunehmenden Unsicherheit, was in einer geringeren Planbarkeit des Berufslebens gründet. Hinzu kommt das Aufeinandertreffen von zwei unterschiedlichen Arbeitsgenerationen: den „Digital Immigrants“, d. h. den älteren Unternehmensmitgliedern, geboren um die Babyboomer-Jahre, und den „Digital Natives“, den sogenannten Millennials. Hier zeigen sich grundlegende Kompetenzunterschiede und unterschiedliche Arbeitsweisen auf, inbesondere hinsichtlich des unterschiedlichen Grads an Affinität und Vertrautheit im Umgang mit digitalen Technologien (Herget 2018, S. 419). Insbesondere die Art und Weise der Zusammenarbeit wird sich zukünftig in erfolgreichen Teams ändern. Ideen werden nicht mehr von einzelnen Spezialisten generiert, sondern von einem sogenannten lebendigen Wissenskollektiv verfolgt. Hierbei nimmt die Bedeutung von Flexibilität und Freiräumen zu, um Innovationen zu ermöglichen. Dies macht sich auch auf der Führungsebene in Unternehmen bemerkbar: Hohe Beweglichkeit, sinnvoll ausgerichtete Vernetzung und ganzheitliche Partizipation stellen neue Anforderungen an Führungskräfte dar. So werden die Grenzen zwischen der Führungsebene und den darunter liegenden Ebenen unschärfer und fließender (Dahm und Walther 2019, S. 6). In der Folge stößt ein Unternehmen in der Praxis auf eine unternehmensintern ambivalente Einstellung. Zum einen erfordert der digitale Markt eine Anpassung zur Sicherstellung der Zukunftsfähigkeit des Unternehmens. Zum anderen wird eine mögliche Verunsicherung bei einem Teil der Mitarbeitenden hinsichtlich Rationalisierung und Kompetenzentwertung
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
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gesehen. Dieses Spannungsfeld verdeutlicht klar, dass die digitale Veränderung eines Unternehmens keinesfalls nur ein technologisches Thema darstellt, sondern vor allem als kulturelles und soziales Thema im Unternehmen auftaucht (Herget 2018, S. 419).
7.2.4 Ökonomische Bedeutung von Unternehmenskultur Um die Bedeutung der vorherrschenden Kultur auf die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens deutlich zu machen, wird nachfolgend dargestellt, wie sich eine starke und schwache Kultur auf ein Unternehmen auswirkt und welche Effekte dies auf den Erfolg eines Unternehmens hat.
7.2.4.1 Bewertung einer starken und schwachen Unternehmenskultur Bestimmte Kulturelemente beeinflussen das Handeln eines Unternehmens in besonders eindringlicher Weise. In bestimmten Fällen kann die Kultur die eigentliche Kraft sein, die ein Unternehmen zu hervorragenden, überdurchschnittlichen Leistungen antreibt. Diese positive Kraft ist besonders bei sogenannten starken Kulturen zu sehen (Steinmann et al. 2013, S. 664). Für die Bewertung der vorhandenen Unternehmenskultur ist es zunächst notwendig, eine „schwache“ Kultur von einer „starken“ zu unterscheiden. In der Literatur werden zu diesem Zweck unterschiedliche Dimensionen herangezogen. Als eine Dimension lässt sich das Ausmaß der Prägnanz betrachten. Hierbei wird die Unternehmenskultur danach bewertet, wie verständlich und offensichtlich Orientierungsmuster und Werte sind. Starke Unternehmenskulturen zeichnen sich durch klare Signale zum Anleiten eines eindeutigen Handelns aus. Sie vermitteln klare Vorstellungen, was erwünscht ist und was nicht. Eine weitere Dimension als Unterscheidungskriterium stellt der Verbreitungsgrad dar. Dieser bezeichnet das Ausmaß, in dem die Mitglieder des Unternehmens die vermittelte Kultur teilen. Stimmt das Handeln sehr vieler Mitarbeitenden, im Idealfall aller, mit den Orientierungsmustern und Werten des Unternehmens überein, kann man von einer starken Unternehmenskultur sprechen. An diesen starken Unternehmenskulturen wird ihr Funktionsbeitrag abgeleitet. Ein einfacher Wirkungszusammenhang zwischen dem Leistungsniveau eines Unternehmens und der Stärke seiner Unternehmenskultur wird zwar von Forschern, wie z. B. Peters und Waterman im Jahr 1984, angenommen (Ettl 2018, S. 52), kann allerdings nicht eindeutig belegt werden, da in der Praxis mehr verzweigte Wirkungen und ambivalentere, funktionale Bezüge als in der Theorie bestehen. Die wichtigsten Leistungsbezüge, sowohl positive als auch negative, werden in Abschn. 7.2.4.2 und 7.2.4.3 zusammengefasst dargestellt (Steinmann et al. 2013, S. 668). 7.2.4.2 Positive Effekte einer starken Unternehmenskultur Die im Folgenden vorgestellten positiven Aspekte lassen sich zu der These zusammenführen, dass Unternehmen mit einer starken Unternehmenskultur effizienter arbeiten und
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M. H. Dahm et al.
bei einem marktgerechten Geschäftsmodell eine höhere Rentabilität erzielen (Steinmann et al. 2013, S. 669). Es haben sich hierbei vor allem die folgenden fünf Komponenten als positiv herausgestellt (Steinmann et al. 2013, S. 668 f.): 1. Handlungsorientierung: Durch eine starke Kultur wird den einzelnen Mitarbeitenden ein klar definiertes Weltbild mitgegeben, wodurch die Unternehmensumgebung verständlicher und überschaubarer wird. Die Kultur erfüllt hier für das tägliche Handeln des Mitarbeitenden eine Art Orientierungsfunktion. 2. Barrierefreie Kommunikation: Durch eine einheitliche Orientierung im Unternehmen vereinfachen sich Abstimmungsprozesse zwischen Mitarbeitenden und können ohne konkreten Mehraufwand oder zusätzliche Prozessschritte auf direktem Weg abgewickelt werden. Es existiert ein eingespieltes, bekanntes Kommunikationsnetzwerk, welches sich auf homogene Orientierungsmuster stützt. Dadurch werden ein schnellerer Transport und eine zuverlässigere Interpretation der Kommunikationssignale er möglicht. 3. Schnelle Entscheidungsfindung: Durch eine gemeinsame Unternehmenssprache, ein konsistentes Präferenzsystem und eine allseits akzeptierte Unternehmensvision wird eine Vereinfachung im Entscheidungs- und Problemlösungsprozess herbeigeführt, da relativ schnell Einigungen oder zumindest mehrheitlich akzeptierte Entscheidungen erzielt werden können. 4. Niedriger Kontrollaufwand: Da die Kontrolle größtenteils auf indirektem Weg über die „soziale Kontrolle“ stattfindet, hält sich der Kontrollaufwand gering. Die Mitar beitenden haben die Orientierungsmuster angenommen und verinnerlicht. Somit ist wenig Notwendigkeit zur regelmäßigen Überprüfung ihrer Einhaltung vorhanden. 5. Motivation und Teamgeist: Die starke Unternehmenskultur besitzt eine orientierungsstiftende Kraft und erzielt eine gewisse Verpflichtung der Mitarbeitenden auf die zentralen Werte des Unternehmens, die sogenannte Vision. Der Effekt hieraus zeigt sich in einer hohen Mitarbeiterbereitschaft, sich für das eigene Unternehmen einzusetzen und zu engagieren sowie dies auch nach außen hin zu verkörpern. Dieses Verhaltensmuster lässt sich als intrinsische Motivation bezeichnen.
7.2.4.3 Negative Effekte einer starken Unternehmenskultur Die zuvor erläuterten positiven Aspekte einer starken Unternehmenskultur sind jedoch nicht alleinstehend zu betrachten. Daher lassen sich die folgenden drei Aspekte als negative Auswirkungen einer starken Kultur anführen (Steinmann et al. 2013, S. 670 f.): 1. Tendenz zur Abschließung: Werden Wertesysteme und die dazugehörigen Orientie rungsrahmen von Mitarbeitenden tief internalisiert, können diese leicht zu einer alles einnehmenden und beherrschenden Kraft werden. Die Mitarbeitenden können Immunität gegen Kritik und Warnsignale, die konträr zu ihrem Wertesystem stehen, zeigen und diese Gegenströme verdrängen. Daher besteht die Gefahr, dass eine starke Kultur in einem „geschlossenen System“ resultiert.
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
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2. Orientierungsblockaden: Diese Immunität zeigt sich auch gegenüber Veränderungen oder Umorientierungen, denen Mitarbeitende suspekt begegnen. Wenn sie sich in ihrer Unternehmensidentität angegriffen fühlen, lehnen sie jegliche Veränderungsansätze vehement ab. So setzt bei den Mitarbeitenden eine Veränderungsblockade ein. 3. Implementationsbarrieren: Soll eine neue Idee ins Unternehmen eingeführt werden, bildet eine starke Unternehmenskultur bei der Realisierung stets eine Barriere. Wird bei der Realisierung eine mit der bisherigen Geschäftsstrategie verbundene, die etablierte Unternehmenskultur unterstützende Idee verfolgt, zeigen die Mitarbeitenden Offenheit und Akzeptanz. Steht jedoch eine von den Unternehmensprinzipien abweichende Idee, verbunden mit einem grundsätzlichen Wandel des Unternehmens an, stellen stark verankerte Kulturvorstellungen ein Problem dar. Das Problem entsteht durch die in der neuen Idee verborgene Gefahr, die das Sicherheitsgefühl der Mitarbeitenden negativ beeinflusst und zu Angst- und Abwehrreaktionen führt. Thematisch lassen sich die drei zuvor beschriebenen Aspekte zusammenführen, indem in Unternehmen mit starken Kulturen eine kollektive Vermeidungshaltung gegenüber Veränderungen identifiziert wird. Die Mitarbeitenden verharren in ihrem eigenen „Kulturdenken“ und verschließen sich konträren Ideen. So resultieren aus diesen Effekten eine Starrheit und mangelnde Anpassungsfähigkeit im Unternehmen (Steinmann et al. 2013, S. 671).
7.3
Transformationsprozesse
7.3.1 Veränderungsmanagement Veränderungsmanagement dient dem ganzheitlichen und systematischen Planen, Initiieren, Realisieren, Reflektieren und Stabilisieren von Veränderungsprozessen in Unternehmen. Die Veränderungsinhalte umfassen dabei sowohl die strategische Ausrichtung und die kontinuierliche Prozessoptimierung als auch die Persönlichkeitsentwicklung jedes einzelnen Unternehmensmitglieds. Es gilt, einen lebenslangen Entwicklungsprozess eines sich ständig verändernden und lernenden Unternehmens mitzugestalten (Kostka 2016, S. 8). Veränderungsmanagement wird in der heutigen Zeit als ein grundlegender Bestandteil eines erfolgreichen unternehmerischen Handelns angesehen (Kostka 2016, S. 8). Verschiedene Modellansätze dienen dazu, die Gestaltung von Veränderungsprozessen phasenartig aufzugliedern und anwendbar zu machen. Die Modelle von Lewin und Kotter werden im Folgenden kurz erläutert. Voraussetzungen für den Erfolg von Veränderungen Damit Veränderungsprozesse erfolgreich ablaufen, müssen grundsätzlich drei Voraussetzungen erfüllt sein. In dem 3W-Modell der strategischen Erneuerung nach Wilfried Krüger (2014, S. 14) werden diese drei Voraussetzungen als der Wandlungsbedarf, die Wandlungsbereitschaft und die Wandlungsfähigkeit benannt, wie auch in Abb. 7.2 ersichtlich.
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M. H. Dahm et al.
Reformstau
Wandlungsbedarf Willensbarrieren
Fähigkeitsdefizite
Wandlungsfähigkeit
Wandlungsbereitschaft
Ungenutztes Fähigkeitspotenzial
Unbefriedigter Veränderungsdrang Fehlgeleitete Aktivitäten
Abb. 7.2 Das 3W-Modell nach Krüger. (Quelle: In Anlehnung an Krüger 2014, S. 14; Lippold 2013, S. 559)
Nach dem 3W-Modell sind nur wandlungsfähige Unternehmen auch zukunftsfähig und haben eine Chance, ihre Position auf dem Markt langfristig zu halten (Krüger 2014, S. 14 ff.). Nur wenn alle drei Voraussetzungen zusammenkommen (in Abb. 7.2 die Schnittmenge der drei Kreise), kann das Veränderungsmanagement erfolgreich sein. Somit gilt es für Unternehmen, die Voraussetzungen in bestmöglichem Maße sicherzustellen. In der Abbildung sind zudem die Beziehungszusammenhänge zwischen den drei Voraussetzungen dargestellt.
7.3.2 Drei-Phasen-Modell nach Lewin Eines der grundlegendsten Modelle ist das sogenannte Drei-Phasen-Modell, welches von Kurt Lewin im Jahre 1947 entwickelt wurde. Das Modell dient insbesondere als Grundlage für die empirische Aufarbeitung von Veränderungsprozessen, um den organisationalen Wandel zu erforschen. Folglich bauen viele Konzepte anderer Wissenschaftler auf Lewins Modell auf. So auch das im Abschn. 7.3.3 vorgestellte 8-Stufen-Modell nach Kotter (Klaffl 2018, S. 153). Lewin hat in seinem Modell charakteristische Phasen eines erfolgreichen Veränderungsprozesses aufgezeigt, aber auch typische emotionale Reaktionen und Effizienzentwicklungen identifiziert (Bornemann 2014). Die drei Phasen sind der Abb. 7.3 zu entnehmen und werden im Folgenden kurz beschrieben.
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
137
DŽĚĞůůǀŽŶ>ĞǁŝŶ
Betriebsleistung restraining forces/ entgegenwirkende Kräfte
driving forces/ antreibende Kräfte
unfreezing Gleichgewichtszustand vor der Veränderung
changing Veränderungsprozess
refreezing Gleichgewichtszustand nach der Veränderung
Zeit
Abb. 7.3 Das Drei-Phasen-Modell nach Lewin. (Quelle: In Anlehnung an Bornemann 2014)
Das Modell basiert auf der sogenannten Feldtheorie (Zelesnick und Grolman o. J.), nach der in jedem Unternehmen grundsätzlich zwei Kräfte wirken: die sogenannten „driving forces“, zu Deutsch antreibende Kräfte, und die „restraining forces“, zu Deutsch entgegenwirkende Kräfte. Somit existieren in einem Unternehmen Kräfte, die den Wandel antreiben, und Kräfte, die dem Wandel entgegenwirken (Bornemann 2014). Wenn ein Wandel erfolgreich erzielt werden soll, muss das Gleichgewicht vorübergehend zu Gunsten der antreibenden Kräfte verschoben werden. In der ersten Phase des „unfreezing“, zu Deutsch des Auftauens, wird das derzeitige Gleichgewicht der antreibenden und entgegenwirkenden Kräfte bestimmt (Klaffl 2018, S. 153). Das Kräftegleichgewicht muss nun durch eine Destabilisierung verlagert werden, sodass die antreibenden Kräfte überhand nehmen (Bornemann 2014). Hier findet die Vorbereitung auf die Veränderung statt, indem durch Analyse, Diskussion und Motivation ein Veränderungsbewusstsein bei den Betroffenen initiiert werden soll (Zelesnick und Grolman o. J.). Die Bereitschaft für einen Wandel soll insbesondere durch einen offenen Kommunikationsansatz geschaffen werden (Bornemann 2014). Nach Lewin können diese aufrüttelnden Affekte sowohl von intern als auch von extern gesetzt werden (Klaffl 2018, S. 153). Daraufhin folgt die zweite Phase, die Lewin „moving/changing“, zu Deutsch bewegen/ verändern, nennt. Hier liegt der Fokus auf der Umsetzung der Veränderungen (Bornemann 2014). Neue Prozesse, die die Änderung unterstützen, sollen die bisherigen antreibenden Kräfte stärken und bereits vorherrschende, nicht stringente Denk- und Handlungsmuster
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M. H. Dahm et al.
umlenken und in die neue Richtung leiten (Radel 2011, S. 38). Hier helfen gezielte Veränderungsmaßnahmen, um Betroffene mit den neuen Gegebenheiten vertraut zu machen und ihnen das gewünschte Verhalten schnell näherbringen zu können. Durch das Generieren neuer Lösungen, das einfache Ausprobieren von Neuem und das Herausbilden von neuen Reaktionsweisen wird das derzeitige Gleichgewicht verschoben (Zelesnick und Grolman o. J.). Auch sind Transparenz und Kommunikation von hoher Relevanz, damit die neuen Gegebenheiten schnell angenommen und anerkannt werden. Denn je besser die Betroffenen über den Veränderungsprozess informiert werden, desto schneller vollzieht sich dieser. In der letzten Phase mit der Bezeichnung „refreezing“, zu Deutsch Einfrieren, muss das neue Gleichgewicht in dem veränderten Umfeld abgesichert werden und eine neue Balance der antreibenden und entgegenwirkenden Kräfte wiederhergestellt werden (Klaffl 2018, S. 155). Dadurch soll verhindert werden, dass die Betroffenen auf den Stand des alten Gleichgewichts zurückfallen und stattdessen ihr neu gewonnenes Potenzial ausschöpfen und sich im neuen Gleichgewicht zurechtfinden (Lauer 2014, S. 58). Um den Rückfall zu vermeiden und das neue Gleichgewicht zu festigen, sind kontinuierliche Reflexionen über Erfolge bzw. Misserfolge der etablierten Veränderungen sowie unterstützende Aktivitäten sinnvoll (Pescher 2010, S. 106). Letztendlich sind die Veränderungen und somit das neue Gleichgewicht erst stabil, wenn sie auch im Unterbewusstsein der Betroffenen ankommen und akzeptiert werden (Bornemann 2014). Hier zeigt sich die Natur des Menschen innerhalb des Veränderungsprozesses, der vom Wandel tiefgehend überzeugt werden muss, um selbst zur antreibenden Kraft zu werden (Bornemann 2014). Der letzte Aspekt leitet auf die praktische Anwendung des Konzepts über. Die dem Wandel entgegenwirkenden Kräfte können mit den Widerständen der Mitarbeitenden verglichen werden. Mitarbeitende treten Veränderungen zunächst kritisch und skeptisch gegenüber und leisten im Extremfall oft Widerstand. Dem Unternehmen muss es daher innerhalb des Veränderungsprozesses gelingen, den Mitarbeitenden diese Skepsis und Unsicherheit zu nehmen und sie positiv auf die angestrebten Veränderungen stimulieren. Im „unfreezing“ kann die Ausgangssituation des Unternehmens gesehen werden. Hier existieren diverse Ursachen, die den Wandel hemmen und somit kritische Erfolgsfaktoren darstellen. Das „moving/changing“ ist der Veränderungsprozess an sich. Hier steht die Überwindung von Widerständen gegen genau diesen Wandel im Vordergrund. Das „refreezing“ lässt sich als das angestrebte Ziel ansehen, d. h. als den Zustand, in dem die Widerstände erfolgreich überwunden wurden und sich eine Veränderung vollzogen hat. In dieser praktischen Einordnung zeigt sich einer der Verdienste der Theorie von Lewin, und zwar das Aufdecken des Prinzips der Minimierung von Widerständen (Zelesnick und Grolman o. J.). Aber müssen wir an der Stelle nicht auch die Frage stellen, ob das Modell von Lewin in unserer heutigen schnelllebigen und von dauerhaften multiplen Veränderungen geprägten Zeit überhaupt noch Bedeutung hat? Ist die Change-Kurve nicht schon längst tot (Joergens und Dahm 2019, S. 65)?
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus Abb. 7.4 Das 8-Phasen-Modell nach Kotter. (Quelle: In Anlehnung an Kotter 2007, S. 4)
1 2 3 4 5 6 7 8
139
Gefühl der Dringlichkeit schaffen Führungskoalition aufbauen Vision und Strategie entwickeln Veränderungsvision kommunizieren Hindernisse für Veränderung beseitigen Kurzfristige Erfolge herbeiführen und sichtbar machen Veränderungen weiter ausbauen Veränderungen in der (Unternehmens-) Kultur verankern
7.3.3 8-Stufen-Modell nach Kotter Das 8-Stufen-Modell von John Kotter basiert auf Lewins Überlegungen. Nach Kotter (2007, S. 1) dauert der stufenweise Weg hin zur Veränderung Jahre. Kotter strebt mit seinem Modell eine Verständnisvermittlung über die einzelnen Phasen des Wandels an und zeigt die Fallstricke auf, die es auf dem Weg zur Veränderung zu beachten gibt. Abb. 7.4 zeigt die acht Stufen von Kotters Modell auf, die für eine erfolgreiche Veränderung notwendig sind.
7.4
onzept zur zielgerichteten Kulturtransformation für K deutsche Traditionsunternehmen
7.4.1 Entwicklung des Konzeptes Nachdem die theoriegeleitete Betrachtung von Unternehmenskultur und Transformationsprozessen dargestellt wurde, wird nun ein Konzept vorgestellt, mit dem ein Unternehmen bei der Transformation seiner Kultur strategisch sinnvoll und zielgerichtet begleitet werden kann. Im Rahmen der durchgeführten empirischen Erhebung galt es hierfür insbesondere zu ermitteln, wie sich die gegenwärtige Kultur eines Unternehmens erfassen lässt und welche Methoden hierbei Anwendung finden können. Darüber hinaus sollte herausgefunden werden, wie darauf aufbauend die Bestimmung einer zukünftigen Unternehmenskultur vorgenommen werden kann und auf welche Methoden hierfür zurückgegriffen werden sollte. Zuletzt sollte aufgedeckt werden, wie die Veränderung von einer Ist-Kultur hin zu einer Soll-Kultur innerhalb eines Unternehmens unter Verwendung bestimmter Methoden
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M. H. Dahm et al.
Phase 0: Preparation Auseinandersetzung mit Unternehmenskontext und Standortermittlung
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Phase 1: Today Erfassung der gegenwärtigen Unternehmenskultur (Ist-Kultur)
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Iteratives Vorgehen Phase 2.1: Tomorrow
Phase 2.1: Tomorrow
Phase 2.1: Tomorrow
Bestimmung der zukünftigen Unternehmenskultur (Soll1-Kultur)
Veränderungsüberprüfung und Weiterentwicklung des Zielbildes (Soll2-Kultur)
Veränderungsüberprüfung und Weiterentwicklung des Zielbildes (Soll3-Kultur)
Phase 2.2: Change
Phase 2.2: Change
Phase 2.2: Change
Veränderung der Unternehmenskultur zur Soll1-Kultur
Veränderung der Unternehmenskultur zur Soll2-Kultur
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Abb. 7.5 Konzeptaufbau und -ablauf
fokussiert und vollzogen werden kann. Hierzu wurde auf die qualitative Datenerhebung der Primärforschung zurückgegriffen, um neues Wissen zu dem Forschungsfeld zu generieren. Es wurden die folgenden drei Forschungskategorien gebildet: Kulturerfassung, Kulturbestimmung, Kulturveränderung. Das Konzept basiert auf einem Zusammenführen verschiedener wissenschaftlicher und praktischer Ansätze. Als zweite Quelle diente die qualitative Erhebung anhand von Experteninterviews mit Unternehmensvertretern, die jeweils Fachkenntnisse zum Thema Kulturtransformation vorweisen konnten. Hierüber wurden aktuelle, praktische Erfahrungen und Expertise sichergestellt.
7.4.2 Aufbau des Konzeptes Das Konzept stellt grundlegend einen dreiphasigen Prozess mit Phase 0, Phase 1 und Phase 2 dar, wobei sich letztere in Unterphase 2.1 und Unterphase 2.2 aufgliedert, welche abwechselnd iterierend durchlaufen werden. Somit finden sich in dem Konzept mehrere Durchlaufschleifen der Zielbestimmung und Veränderungsumsetzung wieder. Der Aufbau und Ablauf des Konzepts lässt sich grob aus Abb. 7.5 entnehmen und wird im Folgenden in seinen Grundzügen vorgestellt. Bevor die tatsächliche Erfassung der Unternehmenskultur, die erste Phase, beginnen kann, ist es notwendig, das Unternehmen zu verstehen. Dafür muss eine Art Standortermittlung im Unternehmen durchgeführt werden. Um dies sicherzustellen, wird dem Konzept eine Phase 0 vorgeschaltet, die als Preparation bezeichnet wird. Darauffolgend setzt die Phase 1 an, welche die Erfassung der Ist-Kultur im Unternehmen beinhaltet und in dem Konzept als Today betitelt wird. Hier gilt es, die verschiedenen Aspekte der Kultur zu betrachten und zu erfassen, um ein gegenwärtiges Kulturbild des Unternehmens erstellen
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
141
zu können. Phase 2 ist in zwei iterierende Unterphasen eingeteilt. Phase 2.1 thematisiert hierbei die Bestimmung und Festlegung einer Ziel-Kultur im Unternehmen und wird in dem Konzept mit Tomorrow bezeichnet. Hierbei werden Themen wie die Notwendigkeit zum Kulturwandel, das zu lösende Problem sowie das zu fokussierende Ziel und Bestimmung von zukünftigen Kulturwerten behandelt. Ein zukünftiges Kulturbild stellt das Ergebnis dieser Phase dar. Konkrete Ziele für den ersten Durchlauf der Veränderungsphase werden gesetzt und festgehalten. Daran schließt sich die Phase 2.2 (Change benannt) an, welche die Veränderung des Unternehmens hin zum zukünftigen Kulturbild darstellt. Hier steht die Umsetzung der Veränderung im Vordergrund, bei der das Unternehmen eine Bewegung vollzieht. Daran schließt sich wiederkehrend Phase 2.1 an und die zweite Durchlaufschleife beginnt. Der veränderte Kulturzustand im Unternehmen wird betrachtet und mit dem ursprünglich bestimmten Zielbild abgeglichen. Das Zielbild wird einer Überprüfung unterzogen und gegebenenfalls an neue Zukunftsvorstellungen angepasst. Ziele werden weiterentwickelt und gefestigt, um diese als Basis für die nächste Veränderungsumsetzung zu platzieren. Dann beginnt erneut Phase 2.2 und das Unternehmen setzt bestenfalls die Veränderungen um und orientiert sich an den neu festgelegten Zielen. Diese abwechselnde Iteration der beiden Unterphasen 2.1 und 2.2 setzt sich kontinuierlich fort. Dabei wird eine Orientierung an einer zeitlichen Dauer von drei Monaten empfohlen, die die Phase 2 für eine Durchlaufschleife benötigt. Durch dieses iterative Vorgehen mit mehreren Durchlaufschleifen der Zielbestimmung und Veränderungsumsetzung wird eine kontinuierliche Reflexion ermöglicht. Außerdem kann die Entwicklung der Veränderung verfolgt, gemessen und dokumentiert werden. Dieses Vorgehen lehnt sich an das bekannte Prinzip des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses (KVP) an. Des Weiteren wird das Modell dadurch den schnelllebigen Bewegungen der Gesellschaft und des Marktes gerecht, da durch die Zielbildabgleichung sowie -neuausrichtung auf neue Gegebenheiten flexibel reagiert werden kann.
7.4.3 Hauptinstrument des Konzeptes: Kulturbild Das Kulturbild bereitet die Inhalte der Kulturerfassung bzw. Kulturbestimmung in einer Darstellung auf, in der sowohl die expliziten/sichtbaren Aspekte (oberer Bereich) als auch die impliziten/unsichtbaren Aspekte (unterer Bereich) berücksichtigt werden, wie in Abb. 7.6 ersichtlich. Somit werden die Ergebnisse von den in der jeweiligen Phase durchgeführten Methoden an dieser Stelle als Grundlage genutzt und in einem Gesamtbild konsolidiert. Das Kulturbild gliedert sich in vier unterschiedliche Bereiche auf, welche zusammengefügt die ganzheitliche Unternehmenskultur darstellen sollen. So werden die Ergebnisse der sichtbaren Aspekte in dem ersten Bereich Materielles und dem zweiten Bereich Verhalten zusammengestellt. Richtet man den Blick auf den unteren Bereich unter der Wasseroberfläche, um zu den unsichtbaren Aspekten zu gelangen, lässt sich hier eine Gliederung in Einstellung und Werte vornehmen.
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M. H. Dahm et al.
Materielles Wasseroberfläche
Was Mitarbeitende sehen Was Mitarbeitende denken
Verhalten
Explizite/ sichtbare Aspekte
Was Mitarbeitende tun
Gegenwärtiges Kulturbild Was Mitarbeitende fühlen
Einstellung
Werte
Implizite/ unsichtbare Aspekte
Abb. 7.6 Kulturbild als Hauptinstrument
Die Darstellung dieses Kulturbildes lehnt sich an das Instrument der „Empathy Map“ aus der Enterprise-Design-Thinking-Methodologie an, bei der ebenso eine Erfassung von vier Quadranten im Vordergrund steht, welche aus dem Englischen übersetzt mit Sagen, Tun, Denken und Fühlen betitelt werden. Im Zentrum dieser „Map“ steht eine sogenannte Persona, die eine bestimmte Rolle in der Organisation innehat (IBM Corporation 2016, S. 30 f.).
7.4.4 Phase 0: Preparation Zu Beginn findet eine sogenannte Phase 0 statt, die als Vorbereitungsphase für die eigentliche Konzeptdurchführung dient. In dieser Phase Preparation soll ein tieferes Verständnis für das Unternehmen und seine Mitarbeiter gewonnen werden. Ziel ist es, die Historie des Unternehmens aufzunehmen und sich in die derzeitige Situation einzuarbeiten. Zudem gilt es, die spezifische Industrie, die Marktgegebenheiten und die grundlegenden digitalen Trends in dem thematischen Umfeld des Unternehmens zu sichten. Dieses Geschehen wird unter Aufarbeitung des Unternehmenskontexts und der Standortermittlung gefasst. Für diese Phase ist eine Zeitdauer von ca. zwei Wochen zu empfehlen, um in den Unternehmenskontext einzusteigen und den Blick auf das Unternehmen zu schärfen und gleichzeitig zu festigen. Alle in dieser Phase bei der Datensichtung und -analyse erlangten Erkenntnisse und Ergebnisse sollten mit Erklärungen dokumentiert werden. Basierend auf den in der Phase gesammelten Erfahrungen kann eine Einschätzung und Empfehlung für die Durchführung der nächsten Phase vorgenommen werden, insbesondere bei der folgenden Methodenauswahl zur Erfassung der Unternehmenskultur.
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
143
=XJDQJ« 1. über die reine Kulturanalyse
2. über die Problemstellung
Generische Kulturanalyse
3. über die Zielsetzung
Fokussierte Kulturanalyse
Jeweils unter Anwendung ausgewählter Methoden aus dem Baukasten Erfassung der expliziten Aspekte
+
Erfassung der impliziten Aspekte
Aufbereitung des gegenwärtigen Kulturbildes als Ergebnis
+
Phase 1: Today Aufbau
Bild des Managements
=
Bild der Bild des Mitarbeitenden Unternehmens intern
+
= Bild der Stakeholder extern
Gegenwärtiges Kulturbild
Abb. 7.7 Aufbau der Phase 1
7.4.5 Phase 1: Today An die zuvor beschriebene Phase 0, Preparation, schließt sich die erste Phase des Konzepts an, die Phase Today. Ziel ist es, den richtigen Zugang zur Kulturanalyse zu finden, um dann anhand einer generischen oder fokussierten Kulturanalyse die impliziten und expliziten Aspekte der gegenwärtigen Kultur im Unternehmen zu erfassen. Das Ergebnis soll nach einem Abgleich von unterschiedlichen Kulturbildern aus der Sicht des Managements, der Mitarbeitenden und der Stakeholder in einem sogenannten gegenwärtigen Kulturbild (Hauptinstrument des Konzepts) festgehalten werden. Das gesamte Vorgehen zur Kulturerfassung lässt sich auch in Abb. 7.7 ersehen. Es lassen sich drei Wege nennen, um Zugang zu der gegenwärtigen Kultur zu finden: • Zugang über die reine Kulturanalyse • Zugang über die Problemstellung des Unternehmens • Zugang über die Zielsetzung des Unternehmens Es wird im Folgenden eine generische oder fokussierte Kulturanalyse unter Anwendung der im Nachgang vorgestellten Methoden durchgeführt. Zur Erfassung der gegenwärtigen Unternehmenskultur wird innerhalb der Kulturanalyse ein breitgefächertes Methodenset als Werkzeugkasten angeboten. Dies ermöglicht eine individuelle Auswahl
144
M. H. Dahm et al.
und Zusammenstellung von einzelnen Methoden auf Basis des konkreten Projektumfangs. Dadurch gewinnt die Kulturanalyse an Skalierbarkeit. Die in dieser Phase zur Verfügung stehenden Methoden sind folgende: • Selbstbild-Fremdbild: Erfassung und Vergleich des internen und externen Blicks auf die Unternehmenskultur • Tiefeninterviews: tiefgehende Interviews mit verschiedenen Mitarbeitenden im Unternehmen und im Idealfall mit Personen aus allen Stakeholdergruppen zur Abde ckung von verschiedenen Blickwinkeln (360-Grad-Blick aufs Unternehmen) • Befragung: Erfassung durch eine direkte Mitarbeiterrückmeldung über persönliche oder online/technische Befragung • Shadowing (Beobachtung und Unterhaltung) sowie Gemba Walks: Miterleben des Arbeitsalltags und Verhalten der Mitarbeitenden auf verschiedenen Ebenen des Un ternehmens • technologisch gestützte Analysen (Sentiment-, Kommunikations- und Inhaltsanaly sen): Auswertung von digitaler Kommunikation und Aktivitäten der Mitarbeitenden in sozialen Netzen wie Intranet oder Kollaborationstools wie z. B. IBM Connections oder auch Slack An dieser Stelle ist herauszustellen, dass der Inhalt der Analyse und die Ergebnisse aus der Methodenanwendung sowohl die expliziten, auch formellen, sichtbaren, Aspekte als auch die impliziten, auch informellen, unsichtbaren, Aspekte umfassen. Bei der Anwendung der Methoden darf der Kreis der beteiligten Personen nicht außer Acht gelassen werden. Mitarbeitende aller Ebenen müssen in die Erfassung der gegenwärtigen Kultur einbezogen werden. Vom Management bis zur Mitarbeiterebene über verschiedene Abteilungen und Funktionsbereiche hinweg sollten Mitarbeitende aktiv adressiert werden, ihre Meinung zu der Unternehmenskultur zu vermitteln. Das Ergebnis dieser Phase stellt das gegenwärtige Kulturbild dar, welches die Basis für die darauffolgende Phase ist.
7.4.6 Phase 2.1: Tomorrow Im Anschluss beginnt die Phase 2 mit ihrer Unterphase Phase 2.1 Tomorrow, welche auf die Bestimmung des zukünftigen Kulturbildes abzielt. Um dieses zu entwickeln, sollten Workshops durchgeführt werden, in denen inhaltlich folgende fünf Punkte ausgearbeitet werden. Es gilt, . zuerst die Notwendigkeit für die Kulturveränderung klar herauszustellen, 1 2. daraufhin in die Erarbeitung des zukünftigen Kulturbildes (Hauptinstrument des Konzepts) einzusteigen,
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
145
8QWHU$QZHQGXQJGHU0HWKRGHÄ'XUFKIKUXQJYRQ:RUNVKRSV³ 1.
Notwendigkeit für Kulturveränderung herausstellen
2.
Zukünftiges Kulturbild entwickeln
3.
Key Values als Zusammenfassung der priorisierten Kulturwerte aufstellen
4.
Key Performance Indicators zur Erfolgsmessung der Veränderung aufstellen
5.
Befähigung sicherstellen
Phase 2.1: Tomorrow Aufbau
Aufbereitung des zukünftigen Kulturbildes und den anderen Inhalten als Ergebnis
Abb. 7.8 Aufbau der Phase 2.1
3. die Ausarbeitung von Key Values und Key Performance Indicators (KPIs) vorzu nehmen und 4. abschließend die Befähigung des Unternehmens, sicherzustellen. 5. Am Ende des Workshops müssen die Ergebnisse in einer publizierbaren Version ausgearbeitet und in einer vollständigen Dokumentation festgehalten werden. Das gesamte Vorgehen zur Bestimmung der Zielkultur ist als Überblick in Abb. 7.8 ersichtlich. Das Zielbild einer Unternehmenskultur lässt sich am besten durch einen Workshop erarbeiten. Der Inhalt lässt sich aus den fünf aufgeführten Punkten in Abb. 7.8 ableiten. Zum Ende des Workshops werden die Ergebnisse in einer finalen Version ausgearbeitet und innerhalb des Unternehmens schriftlich verteilt. Die Workshop-Teilnehmer sollten sich aus allen Ebenen des Unternehmens zusammensetzen, d. h. sowohl aus dem Top-Management, dem Mittelmanagement als auch aus Mitarbeitenden. Außerdem sollten die Beteiligten strukturübergreifend aus unterschiedlichen Bereichen und Themenfeldern kommen. So kann sichergestellt werden, dass verschiedene Blickwinkel generiert und das Unternehmen ganzheitlich mit Vertretern aus allen Ebenen bei der Zielbildbestimmung repräsentiert wird. Nach der Bestimmung des Zielbildes sollte dieses wasserfallartig von dem Management herunter kaskadiert werden (Orientierung am Topdown-Ansatz), indem die Ergebnisse an die Team- und Bereichsleiter weitergegeben werden. Diese machen sich mit dem neuen Kulturbild vertraut und erarbeiten eigenständig mit ihrem Team, was die neuen expliziten und impliziten Aspekte für sie selbst und ihr Team bedeuten.
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7.4.7 Phase 2.2: Change An die Unterphase 2.1, in der das Zielbild der Kultur festgelegt wird, schließt sich zur Komplettierung die Unterphase 2.2 an, die die Umsetzung der Veränderung von der gegenwärtigen Ist-Kultur hin zur Ziel-Kultur umfasst. Daher ist in der Phase Change die tatsächliche Veränderung im Unternehmen zu leben und zu verankern. Um dies zu erreichen, gilt es im ersten Schritt, die in der vorherigen Phase erarbeiteten Inhalte zur Zielkultur, d. h. Veränderungsnotwendigkeit, zukünftiges Zielbild, Key Values und KPIs, über die verschiedenen Kommunikationskanäle im Unternehmen zu verbreiten. Daneben müssen die Befähiger in zuvor bestimmtem Umfang angepasst bzw. geändert werden. Anschließend liegt die Hauptaufgabe darin, den Mitarbeitenden den benötigten Freiraum zur Veränderung der Kultur zu gewähren. Das Vorgehen in dieser Phase lässt sich grob Abb. 7.9 entnehmen. Damit es in der Phase nun zu einer Veränderung im Verhalten der Mitarbeitenden kommen kann, muss zuerst eine Kommunikation über die in der vorherigen Phase ausgearbeiteten Inhalte innerhalb des Unternehmens über die verschiedenen Kommunikationskanäle transparent erfolgen. Die Notwendigkeit zur Veränderung muss den Mitareitenden aufgezeigt werden, damit eine Veränderung nicht von Anfang an abgelehnt wird. Damit sich bei der Veränderung zur Zielkultur keine Barrieren auftun, sollten die in der vorherigen Phase betrachteten Befähiger realisiert werden. Grundsätzlich bedeutet dies, die Veränderung in z. B. der Struktur durch eine strukturelle Ausrichtung auf die Zielkultur umzusetzen. Kommunikation der ausgearbeiteten Inhalte zur Zielkultur
Notwendigkeit zur Veränderung
Zukünftiges Kulturbild
Key Values
Key Performance Indicators
Realisierung der Befähiger Mitarbeitende zusammenbringen und Freiraum für Kulturentwicklung schaffen - Walk the Talk Management und Bereichs-/Abteilungs-/Teamleitende als Vorbilder - Kommunikationsplan umsetzen und leben Phase 2.2: Change Aufbau
- Anwendung ausgewählter Methoden aus Baukasten, um Impulse zu setzen
Abb. 7.9 Aufbau der Phase 2.2
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
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Nun gilt es, das Grundprinzip einer Veränderung zu leben: Walk the Talk. Die formellen Dinge wurden bereits in der Phase Tomorrow definiert, schriftlich festgehalten und den Mitarbeitenden von der oberen Ebene (top-down) an die Hand gegeben. Im Folgenden müssen diese mit Leben gefüllt werden. Insbesondere das Management und die Team-, Abteilungs- und Bereichsleiter müssen als Vorbilder für ihre jeweiligen Mitarbeitenden agieren und mit gutem Beispiel vorangehen. An dieser Stelle lässt sich die Empfehlung aussprechen, einen Kommunikationsplan mit inhaltlicher Einbindung von Management und Mitarbeitenden aufzustellen, sodass eine kontinuierliche, wiederkehrende Kommunikation sichergestellt werden kann. Um die Veränderung der Unternehmenskultur hin zum zukünftigen Kulturbild voranzutreiben, steht auch in dieser Phase ein breitgefächertes Methodenset als Baukasten zur Verfügung. Dadurch wird eine individuelle Umsetzung der Phase Change ermöglicht und die Methodenauswahl kann auf die Präferenzen des Unternehmens abgestimmt werden. Dies hat zur Folge, dass auch die Phase 2.2 an Skalierbarkeit gewinnt. Die empfohlenen Methoden, die Anwendung finden können, sind die Folgenden: • Trainings bzw. Workshops: persönliche oder Online-Trainings mit inhaltlicher Ausrichtung an neuen Verhaltensweisen, Feedbackkultur, agiles Arbeiten (Design Thinking), neue Kooperations- und Kommunikationstools • Interne Werbekampagnen: Verbreitung von interner Werbung für die eigene Kulturveränderung und emotionale Aufladung der Kultur für Mitarbeitende durch Poster, Fotos, Gegenstände • Entwicklung und Verbreitung von Videos: emotionale Videos zur Abbildung der Veränderungsziele • Culture Challenge (in Anlehnung an die bekannte „Ice Bucket Challenge“): Verbrei tung und Teilung von Geste, Tätigkeit oder Aufgabe mit inhaltlicher Verbindung zur Zielkultur innerhalb des Unternehmens • Veranstaltungen: Zusammenbringen von Mitarbeitenden zum Austausch über die Zielkultur durch beispielsweise Zusammentreffen mit Impulsvorträgen, Moderationen und Reflexionen • Stimulation durch Gegenstände: punktuelle Anreize zur Aufmerksamkeitsgewinnung für die Zielkultur durch einfache, alltägliche Gegenstände im Kulturdesign • „Kochbuch“-Methode: Übermittlung von Kulturwerten und insbesondere von Verhaltensaufgaben an Mitarbeitende mithilfe eines unternehmensspezifischen Koch buchs mit „Rezepten“, „Zubereitungsempfehlungen“ und Ähnlichem • Ambassador-Netzwerk: Gruppe von repräsentierenden Mitarbeitenden zur Bewerbung der Zielkultur Zu der Beteiligung der Unternehmensmitglieder in der Phase 2.2 Change lässt sich hervorheben, dass jedes Unternehmensmitglied, vom Top-Management bis zu dem einzelnen Mitarbeitenden, bei der Ausgestaltung der Veränderung und dem tatsächlichen Leben der Zielkultur beteiligt sein sollte. Es ist erfolgsentscheidend, dass jeder Einzelne im
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Unternehmen ein Teil der Veränderung ist und sich selbst hin zur Zielkultur entwickelt sowie andere dazu motiviert, sich den neu bestimmten Werten anzunehmen und diese zu verkörpern. Nur so kann eine ganzheitliche Veränderung im gesamten Unternehmen erreicht werden.
7.4.8 Iterative Prozessgestaltung Der Veränderungsprozess lässt sich nicht konkret kontrollieren. Jedoch ist es durch eine kontinuierliche Messung zu Beginn festgelegter KPIs möglich, ihn im Unternehmen zu analysieren. Dabei wird auch das Ziel verfolgt, das zukünftige Kulturbild zu überprüfen und bei Bedarf Anpassungen vorzunehmen. Damit die Veränderung iterativ passieren kann, wird diese nun in kurzen Zyklen (in einer Zeitdauer von drei Monaten) immer wieder in Phase 2.1 Tomorrow einer Prüfung unterzogen, um eine derzeitige Standortermittlung der Veränderung vorzunehmen. Hier werden Reflexionszyklen sowohl im Management als auch in den einzelnen Bereichen, Abteilungen und Teams angesetzt, um sich selbst und die anderen hinsichtlich der Zielkultur zu reflektieren. Zudem sollte auch inhaltlich überprüft werden, ob stets das richtige Zielbild der Kultur angestrebt wird oder ob bestimmte Kulturaspekte verändert werden müssen. Indem hier eine individuelle Messung und Neuausrichtung der Ziele vorgenommen wird, lässt sich der Gedanke des kontinuierlichen Verbesserungsprozesses verfolgen.
7.4.9 Zeitdauer der Konzeptdurchführung und Erfolgssichtbarkeit Die erfolgreiche Umsetzung einer Kulturveränderung nimmt viel Zeit in Anspruch. Hierbei handelt es sich um einen mehrjährigen Prozess. Die Kulturveränderung wird als eine Daueraufgabe ohne bestimmtes Enddatum gesehen. Man sollte sich von dem Bild verabschieden, dass eine Kulturveränderung nach dem klassischen Ansatz durch Planung, Steuerung und Kontrolle zum Projektabschluss gebracht werden kann. Nicht nebensächlich ist die Tatsache, dass sich das Zielbild der Kultur mit der Zeit kontinuierlich verschiebt.
7.5
Schlussbetrachtung
Während Unternehmen aller Branchen mit Hochdruck an der eigenen digitalen Transformation arbeiten, wird häufig deutlich, dass eine Vielzahl von Unternehmen dabei dem Erfolgsfaktor Kultur keinen oder keinen ausreichenden Stellenwert beimisst. Doch für eine nachhaltige Veränderung benötigen Unternehmen den entsprechenden kulturellen Charakter, um kommende Herausforderung meistern zu können. Der Einfluss der Unternehmenskultur auf die eigene erfolgreiche digitale Transformation und somit auch auf die Zukunftsfähigkeit eines Unternehmens wird stetig zunehmen. Aufgrund dieser Entwick-
7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
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lung werden sich Unternehmen zukünftig noch intensiver mit ihrer Unternehmenskultur auseinandersetzen. Dabei geht es darum, die im Unternehmen vorherrschende Kultur zunächst zu erfassen, anschließend die angestrebte Zielkultur zu definieren und schlussendlich die erfolgreiche Neuausrichtung auch in den Unternehmensstrukturen und im Arbeitsalltag der Mitarbeitenden vorzunehmen. Dafür ist ein strukturiertes Vorgehen unter Anwendung von passend abgestimmten Methoden unerlässlich. Ein solches strukturiertes Vorgehen im Zusammenhang mit der schwer greifbaren Thematik der Unternehmenskultur fehlt den meisten Unternehmen bisher. Das vorgestellte Konzept zielt darauf ab, Unternehmen im Zuge der Digitalisierung bei der Kulturveränderung zu unterstützen und sie strukturiert und methodenbasiert durch das diffuse Thema zu leiten. Handlungsempfehlungen – die fünf goldenen Regeln
• Die Auseinandersetzung mit und die kontinuierliche Weiterentwicklung der eigenen Unternehmenskultur sind notwendig, um im Zuge der Digitalisierung den Markt- und Kundenanforderungen gerecht werden zu können. • Die zunehmende Digitalisierung der Arbeitswelt erfordert die stetige Anpassung von Organisationsstrukturen und Arbeitsprozessen im Unternehmen. • Bei der Planung sollte beachtet werden, dass die Neuausrichtung von Unterneh menskultur ein langfristiges, anstrengendes, mühsames, und z. T. sehr komplexes Thema ohne klar definiertes Ende ist. • Zur Erleichterung des Einstiegs in die Thematik kann bei der Veränderung einzelner Kulturaspekte eines Unternehmens angesetzt werden. • Dennoch gilt: Die Kulturveränderung muss ganzheitlich auf allen Ebenen des Unternehmens etabliert und verankert werden.
Literatur Bornemann, S. (2014). Auftauen, ändern, stabilisieren: Change Management nach Kurt Lewin. https://lead-conduct.de/2014/05/25/change-management-kurt-lewin/. Zugegriffen am 01.04.2019. Dahm, M. H., & Holst, C. (2019). Digitale Transformation im B2B-Umfeld: Was verbirgt sich wirklich dahinter? (Mai/Juni 2019). KSI – Krisen-, Sanierungs- und Insolvenzberatung, 101–108. Dahm, M. H., & Walther, E. (2019). Digitale Transformation. In M. Dahm & S. Thode (Hrsg.), Strategie und Transformation im digitalen Zeitalter. Inspiration für Management und Leadership (S. 3–22). Wiesbaden: Springer Gabler. Ettl, C. (2018). Organisationskultur – Aufbau, Modelle und Messbarkeit. In J. Herget & H. Strobl (Hrsg.), Unternehmenskultur in der Praxis. Grundlagen – Methoden – Best Practices (S. 39–59). Wiesbaden: Springer Gaber. Herget, J. (2018). Die Rolle der Unternehmenskultur in digitalen Transformationsprozessen. Strategie, Konzeption, Methodik und praktisches Vorgehen. In J. Herget & H. Strobl (Hrsg.), Unternehmenskultur in der Praxis. Grundlagen – Methoden – Best Practices (S. 417–425). Wiesbaden: Springer Gabler.
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M. H. Dahm et al.
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7 Die digitale Transformation von Unternehmen – Unternehmenskultur im Fokus
151
Prof. Dr. Markus H. Dahm (MBA) ist Organisationsentwicklungsexperte und Führungskraft im Bereich „Digital Change & Transformation“ bei der IBM Deutschland GmbH. Ferner lehrt und forscht er als Honorarprofessor an der FOM Hochschule für Oekonomie & Management in den Themenfeldern Digital Management, Business Consulting und agile Organisationsgestaltung. Er publiziert regelmäßig zu aktuellen Management- und Leadership-Fragestellungen in wissenschaftlichen Fachmagazinen, Blogs und Online-Magazinen sowie der Wirtschaftspresse. Als Digital Transformation Thought Leader ist er auf Konferenzen und Symposien als Speaker gefragt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher. Clemens Holst (MA) ist Seniorstrategieberater in der Digital Change & Transformation Practice von IBM Services in Deutschland, Österreich und Schweiz, zu dem er seit dem erfolgreichen Abschluss seines Masterstudiums an der European Business School Reutlingen im Jahr 2017 gehört. Clemens Holst fokussiert sich seitdem auf Kundenprojekte zu den Themen Organisationsentwicklung und digitale Transformation von Großunternehmen. Ein weiterer thematischer Schwerpunkt ist die Transformation von Unternehmenskultur. Dies geht von der Erfassung der aktuell im Unternehmen vorherrschenden Kultur über die Erarbeitung einer Zielkultur bis hin zur Begleitung der tatsächlichen Kulturtransformation. Lisa-Marie Schmitz (BA) war vier Jahre bei der IBM Deutschland GmbH tätig. Ihr akademischer Hintergrund ist in der Betriebswirtschaftslehre im Bereich Dienstleistungsmanagement verankert, wobei sie während ihres Bachelorstudiums einer Vertiefung im Bereich Consulting nachging. In der Beratung bei IBM sammelte sie Erfahrung in Projekten zu den Themen Change-Management, Strategieentwicklung und digitale Transformation.
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Designtransformation trifft Realität Der herausfordernde Weg zu einem designorientierten Unternehmen Jens Heuer
Inhaltsverzeichnis 8.1 E inleitung 8.2 User Experience in Unternehmen 8.2.1 UX-Maturity-Modelle 8.2.2 Verschiedene typische Varianten für UX im Unternehmen 8.2.3 Changing for Design: Das IBM Design Adoption Framework 8.3 UX-Change am Beispiel eines IT-Dienstleisters 8.3.1 Ausgangslage 8.3.2 Baukästen, Schulungen und Projekte 8.3.3 UX im Jahr vier nach Beginn der Transformation 8.3.4 Herausforderungen 8.4 Zusammenfassung und Fazit Literatur
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Schlüsselwörter
Design · Transformation · Designsysteme · Unternehmensanwendungen · User Expereince, Vorgehensmodelle
8.1
Einleitung
An enterprise application is a computer software used to satisfy the needs of an organization rather than those of individual users. (Wikipedia 2019)
J. Heuer (*) IBM Deutschland GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_8
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J. Heuer
Unternehmensinterne IT-Dienstleister haben typischerweise die Aufgabe, die gesamte IT-Landschaft des Konzerns zu betreuen. Ein erheblicher Teil davon entfällt auf die Entwicklung von Anwendungen, mit denen Mitarbeiter eine Vielfalt von Geschäftsprozessen durchführen – sogenannte Enterprise Software. Die Entwicklung orientiert sich an spezifischen fachlichen oder technischen Anforderungen und nicht vorrangig an der positiven Nutzererfahrung (User Experience) der Endanwender. Projekte sind dann erfolgreich, wenn die Anforderungen des Auftraggebers (des „Kunden“) in einem gegebenen Zeitraum zu einem vereinbarten Preis mit möglichst wenig Fehlern umgesetzt wurden. In diesem Produktentwicklungszyklus werden neue „Releases“ basierend auf weiteren Anforderungen oder erforderlichen technischen Modernisierungen geplant und umgesetzt. Die Endnutzer und deren konkrete Bedürfnisse kommen in diesem Modell nur am Rande vor, nämlich häufig erst bei Akzeptanztests, Schulungen oder späteren Supportanfragen. Eine systematische Messung der mittel- und langfristigen Nutzerakzeptanz und Zufriedenheit ist kein Bestandteil des Projekterfolgs. Die Anwender müssen die Software verwenden, eine Wahl gibt es nicht – also ist das Thema Nutzerzufriedenheit von eher sekundärem, wenn nicht tertiärem Interesse. Dieses jahrzehntelang praktizierte Vorgehen funktioniert heute nicht mehr. Verschiedene Trends führen zu einer Verlagerung in den Machtverhältnissen zwischen rein anforderungsgetriebener Entwicklung und den Erwartungen der Nutzer. • Die Ansprüche gerade der jüngeren Nutzer steigen. Diese sind moderne Apps mit einfachen Nutzungskonzepten und eleganten Oberflächen gewohnt. Ihre Erfahrungen übertragen sie auch unmittelbar auf Unternehmenssoftware als täglichem Arbeitsmittel. • Strategien, Technologien und Produkte ändern sich in immer kürzeren Zyklen. Eine schnellere Innovation erfordert auch die beschleunigte und flexiblere Anpassung der unterstützenden Software. Release-Zyklen von einem Jahr oder mehr sind nicht mehr ausreichend, vielmehr ist ein agiles, kurzzyklisches Arbeiten erforderlich. • Für die unternehmensinternen IT-Dienstleister gibt es zunehmend Konkurrenz von außen: Internetagenturen und externe Dienstleister bieten neben der Entwicklungs- und Designkompetenz und versprechen, Projekte flexibel, agil und mit Fokus auf die User Experience umzusetzen. Diese Trends bedeuten, dass sich unternehmensinterne IT-Dienstleister wandeln müssen. Agilität und User Experience werden Maßstäbe, die mittelfristig den Erfolg eines Unternehmens bestimmen werden.
8.2
User Experience in Unternehmen
With less than a fifth of B2B organisations achieving a CX that’s on par with the best B2C experiences, it seems very likely B2B CX is being systematically neglected by clients and agencies. (Soisalo 2018)
8 Designtransformation trifft Realität
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User Experience ist seit vielen Jahren ein anerkannter und differenzierender Faktor bei Webseiten und Anwendungen für Endkunden. Verstärkt wurde diese Ausrichtung vor allem auch durch die Vielzahl an mobilen Anwendungen, die Nutzern eine einfache Handhabung ohne nennenswerte Lernkurve erlauben. Doch was im Business-to-Consumer (B2C) Umfeld selbstverständlich ist, hat sich für weder für Geschäftskunden-Anwendungen (B2B) noch im Umfeld der Anwendungen für die eigenen Mitarbeiter (Business to Employee, B2E) etablieren können. Gerade bei intern genutzter Software steht die Umsetzung von Anforderungen im Rahmen eines gegebenen Budgets und Zeitrahmens im Vordergrund. Ob die Nutzer letztendlich effizient und fehlerfrei mit dem System umgehen können und sich eine zumindest grundlegende Zufriedenheit einstellt, ist dabei eher nebensächlich. Doch was sind die Gründe für diesen Zustand? Zumindest einige Ursachen lassen sich identifizieren (siehe auch Horodezky 2018): • Der unmittelbare Return on Investment (ROI) ist bei B2E-Software schwer abzuschätzen. Im Gegensatz zu Anwendungen im B2C-Bereich fehlen oft Metriken, die die Effizienz der Arbeit und die Verluste durch schlechte Software messen. Damit ist es schwierig, Budgets für die Verbesserung der User Experience zu begründen. • Die Bereitschaft zur Veränderung ist auch bei Endnutzern wenig ausgeprägt. Obwohl Nutzer sich seit Jahren über die umständliche Software beschweren, stehen Fachbereiche (und nicht notwendigerweise die betroffenen Nutzer) einem Wechsel skeptisch gegenüber. Argumente lauten dann: „Unsere Nutzer haben das so gelernt“, oder: „Wenn mal erst mal weiß, wie es geht, kann man damit arbeiten.“ • Große Teile der eingesetzten Software sind relativ alt. Oft findet man host-basierte Systeme oder eine technische Basis, die grundlegende Änderungen schwierig macht. Software wurde oftmals kontinuierlich um Features erweitert, sodass die Programme teilweise sehr komplex sind. Eine komplette Überarbeitung erfolgt nur dann, wenn sich ein Programm aus technischen Gründen nicht mehr warten lässt, eine Überarbeitung „nur“ zur Verbesserung der User Experience scheitert am vermeintlich geringen Kosten-Nutzen-Verhältnis. Unternehmen erkennen jedoch zunehmend die Vorteile, die eine hohe User Experience in Bezug auf die Arbeitsqualität haben kann. Sie fragen sich, wie man User Experience im Unternehmen etablieren kann, d. h., welche personellen und organisatorischen Änderungen eigentlich erforderlich sind. Um dieses Thema besser zu verstehen, lohnt sich ein Blick auf Modelle für den Reifegrad von Unternehmen in Bezug auf User Experience.
8.2.1 UX-Maturity-Modelle Sogenannte Reifegradmodelle der User Experience (UX-Maturity-Modelle) existieren bereits seit den frühen 2000er-Jahren (vgl. Hanson 2017) in vielen Variationen. Ziel dieser Modelle ist die Identifikation von Faktoren, die eine erfolgreiche Umsetzung von Projek-
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ten in Bezug auf die User Experience ermöglichen. Gleichzeitig soll mit diesen Modellen ein Weg aufgezeigt werden, wie das Ziel einer Integration von UX in die Unternehmensprozesse erreicht werden kann. Die Modelle unterscheiden sich in den Details ihrer Beschreibungen, Zielsetzungen und Stufen. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sich das Thema UX und die damit verbundenen Ziele in einem Kontinuum von „wird überhaupt nicht beachtet“ bis hin zu „ist vollkommen in jeder Entwicklung integriert“ bewegen (einen guten Überblick verschiedener Modelle gibt z. B. Hanson 2017). Wichtig ist, dass „UX“ nicht einfach eine Methode ist, die man auf ein Produkt oder Projekt anwendet: Eine gute User Experience ist das Ergebnis einer im Unternehmen fest verankerten Art, sich Problemstellungen zu nähern und gemeinsam diese Probleme zu lösen. Der Reifegrad eines Unternehmens in Bezug auf diese Denk- und Herangehensweise lässt sich gut an den folgenden Punkten nach Plewes und Fraser (2015) erkennen. • Der Zeitpunkt, zu dem UX in den Entwurfs- und Entwicklungsprozess einbezogen wird. Je früher UX involviert ist, desto besser ist die Denkweise im Unternehmen verankert. • Das UX-Know-how und die internen Ressourcen und/oder die Fähigkeit, UX-Know- how bei Bedarf schnell einzubringen. • Die Verwendung geeigneter Methoden und Dokumentationen, um Nutzerbedürfnisse zu erfassen, zu verstehen und in das UX-Design einfließen zu lassen. • Die Führung und Kultur im Unternehmen. Wie wertvoll schätzen Führungskräfte, die Mitarbeiter und andere Stakeholder den Wert und die Notwendigkeit von UX-Design aus geschäftlicher Sicht ein? • Der Grad, in dem UX-Prozesse mit anderen Unternehmensprozessen verbunden und integriert, sind und disziplinübergreifend die Benutzerfreundlichkeit der Produkte verbessern können. • Design Thinking wird in größtmöglichem Umfang angewendet, um ein konsistentes positives Nutzererlebnis zu erzielen. Legt man diese Kriterien zugrunde, lässt ich der Reifegrad einer Organisation grob in fünf Stufen gliedern (Abb. 8.1). Wie bei Reifegradmodellen aus anderen Bereichen handelt es sich hier um ein langfristig angelegtes Programm, das in signifikantem Maße Ressourcen benötigt, herausfordernde Änderungen in der Art des Arbeitens erfordert und deshalb Teil einer vom Vorstand unterstützten Strategie sein muss. Eine UX-Maturity auf Ebene 4 oder 5 lässt sich nicht in einem Jahr etablieren. Die Nielsen-Norman-Group rechnet für ihr eigenes Modell mit einem Zeithorizont von zwei bis drei Jahren für die ersten Ebenen, fünf bis sechs für die Weiterentwicklung und zwischen 13 und 20 Jahren für die vollständige Integration von User Experience im Unternehmen. Trotz dieses langen Zeithorizontes ist es sinnvoll, mit der Entwicklung einer nutzerorientierten Entwicklungskultur zu beginnen. Wie im folgenden Beispiel gezeigt wird,
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Abb. 8.1 Stufen eines UX-Reifegradmodells für Unternehmen. (Quelle: Nach Plewes und Fraser 2015)
sind die Erfolge bereits auf den ersten Reifegrad-Ebenen schnell zu erkennen und es lohnt sich, den Prozess gegen alle Widerstände voranzutreiben.
8.2.2 Verschiedene typische Varianten für UX im Unternehmen So many companies cordon off their designers as if they’re in an agency and they „design“, then hand over to be developed. And inevitably they fail. You have to be in the process to be in the process. (Phil Gilbert, General Manager, IBM Design)
Wenn Unternehmen beginnen, den Wert von User Experience für ihre Kunden und ihre eigenen Mitarbeiter zu erkennen, werden einzelne Maßnahmen eingeleitet, um die User Experience zu verbessern. Oft fehlt ein Gesamtkonzept, um UX nachhaltig im Unternehmen zu etablieren. Stattdessen findet man typische Muster, von denen die häufigsten wie folgt aussehen: Externe Dienstleister In einem ersten Schritt holen sich Unternehmen die Expertise durch externe Dienstleister, die entweder komplette Projekte nutzerzentriert umsetzen sollen oder die hauseigene Entwicklungsteams dabei unterstützen, ein Produkt nutzerfreundlicher zu machen. Ein implizites Ziel ist, einen Wissenstransfer zu erzeugen, sodass die hausinternen Teams selbst Produkte mit guter User Experience umsetzen können. Bei diesem Modell wird nicht berücksichtigt, dass die Erfahrung im Bereich User Experience ein Erfolgsfaktor ist, aber allein nicht ausreicht, um nachhaltig gute Produkte zu erstellen.
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Abb. 8.2 Rollen im Technologiesektor mit den höchsten Wechselraten beim Jobwechsel. (Quelle: Nach Booz 2018)
Die Einzelkämpferin Unternehmen beginnen den Wandel zu mehr Nutzerzentrierung häufig durch das Einstellen eines oder mehrerer Designer. Diese werden einer zentralen Stelle der Organisation zugeordnet, beispielsweise im IT-Bereich, um die User Experience der Produkte zu verbessern. Design wird als eine Art von Governance-Funktion gesehen: Die Designer entwickeln Vorgaben, die dann von der Entwicklung umgesetzt werden sollen. Zusätzlich können die Designer in speziellen Situationen „coachen“, ein Einsatz als Mitglied in den Projektteams ist nicht vorgesehen. Der Erfolg solcher Maßnahmen ist überschaubar. Die Vorgaben sind, wenn sie denn umgesetzt werden, nur ein kleiner Baustein der User Experience. Es fehlen geeignete Vorgehensmodelle und die Designer haben keine Möglichkeit, als Teammitglieder in Projekten mitzuarbeiten. Häufig sind die Designer nach kurzer Zeit frustriert, da sie in ihren isolierten Silos wenig Einfluss auf die eigentliche Entwicklung haben, und verlassen das Unternehmen nach kurzer Zeit. Dass dieses Szenario häufig vorkommt, zeigt eindrucksvoll eine Untersuchung, die das soziale Netzwerk LinkedIn durchgeführt hat (Abb. 8.2). Demnach gehören UX-Designer zu den gefragtesten Positionen am Markt, die gleichzeitig die höchste Wechselrate aufweisen. Wenn Unternehmen nicht geeignete Rahmenbedingungen schaffen, werden UX-Designer den Arbeitgeber wechseln. Garagen und Innovations-Hubs Ein vergleichsweise neuer Trend sind so genannte „Garagen“ oder „Hubs“ innerhalb eines Unternehmens, die für den gewünschten, nutzerzentrierten Innovationsschub sorgen sollen. Es werden eigene Teams gegründet, die nach Methoden des Lean Startups und Lean UX neue, innovative und nutzerzentrierte Geschäftsideen erzeugen, deren Umsetzung dann durch UX-Designer begleitet wird. Die „UX-Kompetenz“ eines Unternehmens wird dann in diesen neuen Organisationseinheiten gebündelt, um frei von den Zwängen des großen Unternehmens kreativ sein zu können. Dieses Modell hat allerdings durchaus Herausforderungen, wenn nicht auf eine enge Verzahnung der Ergebnisse mit der Gesamtorganisation in Bezug auf Geschäftsideen, aber auch auf die neuen Arbeitsweisen geachtet wird.
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Jared Spool (2019) beschreibt diese Herausforderungen in einem Artikel: • Die Innovationen erfolgen häufig getrennt von dem bestehenden Kerngeschäft, wodurch die Kenntnisse über Kunden nur wenig berücksichtigt werden. • Die tatsächliche Umsetzung von in den Hubs entwickelten Ideen gestaltet sich oft schwierig, da auch hier die Integration in die „normale“ Produktentwicklung fehlt. • Der Rest der Organisation ändert sich zunächst nicht. Die Etablierung eines eigenen UX- und Innovationsbereichs sendet dagegen eher das Signal, dass alle anderen Bereiche eben keine Innovation oder Nutzerzentrierung brauchen. Damit stagniert auch die Etablierung eines nutzerzentrierten Vorgehens in der gesamten Organisation. Sein Fazit lautet daher: „Make every product team an innovation team.“ Jedes Entwicklungsteam sollte Teammitglieder aus den verschiedenen Disziplinen haben und in die Lage versetzt werden, eigenverantwortlich Innovationen voranzubringen. Damit wird vermieden, dass Stabsfunktionen geschaffen werden, die nicht nachhaltig in die Entwicklung eingebunden werden, denen die kritische Masse an UX-Designern fehlt und die möglicherweise scheitern, weil dem Veränderungsprozess nicht ausreichend Zeit eingeräumt wird. Lean Startup und Lean UX Lean Startup beschreibt ein Konzept, um Geschäftskonzepte, aber auch Produkte in einer radikal verkürzten Zeit zu entwickeln. Das Ziel ist, in wenigen Wochen herauszufinden, ob eine Geschäftsoder Produktidee tragfähig ist. Dies wird durch schnelle Entwicklungs-, Test- und Rückmeldungszyklen erreicht: Ideen werden als Hypothesen entworfen, auf ihre Gültigkeit überprüft und dann entweder verworfen oder weiterentwickelt (z. B. Ries 2017; Blank 2013). Lean UX macht sich diese hypothesenbasierten, schnellen Innovationszyklen zunutze, um die Nutzererfahrung (User Experience) eines Produktes, eines Service oder einer Anwendung zu verbessern (Gotthelf und Seiden 2016).
8.2.3 Changing for Design: Das IBM Design Adoption Framework Betrachtet man die dargestellten Muster, zeigt sich, dass es sich um isolierte Maßnahmen handelt, die ein Unternehmen nicht grundlegend in Bezug auf die Ausrichtung auf User Experience ändern. Damit es nicht bei Einzelmaßnahmen mit überschaubarem Effekt bleibt, braucht man einen Plan, wie UX auf allen Ebenen integriert werden kann und so auf Dauer eine nachhaltige Designkultur entsteht (analog zu einer hohen Stufe der „UX-Maturity“). IBM als Unternehmen hat diesen Prozess der Veränderung vor einigen Jahren angestoßen und konsequent über die letzten Jahre im Unternehmen etabliert. Kap. 9 von Kruse- Schomaker und Huber-Saffer in diesem Band beschreibt die Herausforderungen und Erkenntnisse, die auf diesem Weg gewonnen wurden.
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Zentral für den Erfolg des Programms sind drei Säulen der organisatorischen Veränderung, konkret sind dies: Menschen, Orte und ein Vorgehensmodell. Alle drei zusammengenommen unterstützen eine effektive, auf Nutzererfahrung und Innovation ausgerichtete Designkultur. Menschen Es muss eine ausreichend hohe Anzahl an Mitarbeitern mit den relevanten Fertigkeiten vorhanden sein. Einen oder zwei vorher nicht mit dem Thema befasste Mitarbeiter in einem einwöchigen Kurs zu schulen, ist nicht ausreichend – Mensch-Maschine-Interaktion und User-Interface-Design sind mittlerweile etablierte Studiengänge. Bei der Etablierung der neuen Rolle handelt es sich um eine Verpflichtung vor allem auch seitens der Unternehmensleitung, um neue Arbeitsweisen angemessen umsetzen zu können. Orte Nutzerzentriertes und designorientiertes Arbeiten bedeutet enge Zusammenarbeit in Teams. Hierfür braucht man inspirierende Räume, die kreatives Arbeiten in gemischten Teams unterstützen. Klassische Büroräume stellen diese Möglichkeiten nicht zur Verfügung. Die flexible Gestaltung der Arbeitsmittel und Räumlichkeiten ist wichtig, sodass sich Teams spontan und in wechselnder Besetzung zusammenfinden können. Dazu kommt die entsprechende Ausstattung mit freien Wandflächen, Whiteboards und verschiedenen Rückzugsbereichen. Vorgehen Das Vorgehensmodell ist entscheidend, damit Teams zu nutzerzentrierten und innovativen Lösungen kommen. Neben agilen Ansätzen ist ein Vorgehen nach dem Design-Thinking- Rahmenwerk eine gute Voraussetzung. Für eine erfolgreiche Unternehmenstransformation müssen also verschiedene Grundvoraussetzungen geschaffen werden, die sich organisatorisch auf allen Ebenen manifestieren: von der Geschäftsführung, die Design als wertschöpfenden Faktor konsequent unterstützt, über sogenannte „Design Advocates“, die für Entwicklungsteams den Raum zu eigenständigem, designorientierten Arbeiten schaffen, bis hin zur interdisziplinären Besetzung der einzelnen Teams, in denen Design als gleichberechtige Rolle etabliert ist.
8.3
UX-Change am Beispiel eines IT-Dienstleisters
Als IT ist es unsere Aufgabe, eine möglichst einfach zu bedienende Anwendung zu entwickeln und die Komplexität in unseren Systemen so zu managen, dass sie den Anwender nicht belastet. (IT-Strategie 2017 des IT-Dienstleisters)
Im Jahre 2015 traf der IT-Dienstleister eines großen deutschen Unternehmens eine Entscheidung: Zukünftig sollte die Nutzererfahrung der Produkte im Fokus stehen und die Neu- und Weiterentwicklung der hausinternen Produkte bestimmen. Diese bilden quasi
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das Rückgrat fast aller elektronischen Geschäftsprozesse des Handelsunternehmens und werden von tausenden Mitarbeitern täglich genutzt. Der IT-Dienstleister selbst hat eine Größe von 1000 Mitarbeitern, die Rolle des UX-Designers war zu diesem Zeitpunkt nicht vorhanden. Je mehr diese Nutzer aber von ihren Erfahrungen mit modernen Webseiten, mobilen Endgeräten und den immer schnelleren Neuerungen im IT-Sektor geprägt waren, desto mehr zeigte sich, dass das traditionelle Vorgehensmodell zur Entwicklung von Unternehmenssoftware zu Produkten mit mangelnder Effizienz und vor allem geringer Akzeptanz führte. Gleichzeitig drängten andere Anbieter in den Markt: Agenturen versprachen eine bessere Nutzererfahrung, direkte Kommunikation mit dem Kunden und eine unkomplizierte, agile Projektgestaltung. 2015 begann die Reise mit dem Ziel, eine Nutzerfahrung vergleichbar mit der eines iPhones zu schaffen. 2017 wurde User Experience offiziell in der Unternehmensstrategie verankert und heute, im Jahr 2019, wird User Experience zunehmend zu einem selbstverständlichen Bestandteil in Projekten und Programmen. Bis dorthin war es allerdings auch ein Weg mit vielen Herausforderungen.
8.3.1 Ausgangslage Es begann alles wie so oft in der unternehmensinternen Softwareentwicklung: Nach Jahren der Entwicklung, Überarbeitung, Feature-Releases1 und Umsetzung neuer Anforderungen aus den Fachbereichen stellte man fest, dass die Anwendungen nicht mehr zeitgemäß und die Nutzerakzeptanz gering war. Nutzerfreundlichkeit war ein Thema, dass man am Ende eines Projektes „einbaute“, wenn noch Budget vorhanden war. Regeln oder Vorgaben, wie User Interfaces gestaltet werden sollten, waren Mangelware. Die Entwicklungsprozesse liefen im Wesentlichen ohne Nutzerbeteiligung, als Wasserfallmodell mit Pflichtenheft, Lastenheft und anschließender Umsetzung. Dementsprechend gab es auch keine Mitarbeiter, die sich mit dem Thema User Experience auseinandergesetzt hätten. Insgesamt lag das Unternehmen damit in puncto „UX-Maturity“ irgendwo zwischen Stufe 1 und 2. Die Zufriedenheit der Anwender mit den Programmen lag daher im Bereich von gefühlter Resignation („Dann kommt eine neue Programmversion und wir müssen halt damit arbeiten.“) und lang und hart erarbeiteter Produktivität mit vielen Workarounds. Papierbasierte Prozesse und parallele Nutzung von Excel-Listen waren an der Tagesordnung. Gleichzeitig entstanden im Unternehmen selbst Konkurrenzsituationen bei der Umsetzung neuer Projekte. Eine eigene digitale Unternehmenseinheit und externe Anbieter versprachen hier eine schnellere und modernere Umsetzung von Themen. Aufgrund dieser Situation wurde das Thema User Experience von Vorstandsseite hoch priorisiert und zu einem strategischen Unternehmensaspekt für die kommenden Jahre er1
Eine neue Version, die auf die Umsetzung neuer Funktionen fokussiert ist.
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klärt. Die Frage war nur: Was ist eigentlich UX und wie können wir dieses Thema umsetzen? Die Unterstützung durch IBM iX sollte diese Fragen beantworten und helfen, das Unternehmen einige Stufen im UX-Reifegrad weiterzuentwickeln.
8.3.2 Baukästen, Schulungen und Projekte Der erste Schritt zur Verbesserung der User Experience sollte durch die Einführung eines sogenannten User Interface Baukastens ermöglicht werden, der das User Interface aller Anwendungen mit dem Einsatz von vorgegebenen Komponenten verbessert. Es wurde hierbei aber schnell deutlich, dass ein Baukasten immer nur ein Element bei dem Entwurf von Produkten und Programmen sein kann. Gemeinsam wurden deshalb verschiedene Themenbereiche als Bestandteil einer größeren Strategie entwickelt. • Zum einen wurde ein Designsystem entwickelt, das als Grundbaukasten jeder neuen Entwicklung dient und ein zeitgemäßes Look & Feel, eine Konsistenz der Anwendungen und eine grundlegend positive Nutzererfahrung ermöglicht. • Gleichzeitig wurde erkannt, dass sich der Entwicklungsprozess per se ändern muss: Die traditionelle Art der Anforderungsaufnahme durch Business Analysten und Vertre ter der Endnutzer und die Dokumentation in Pflichten- und Lastenheften führte oft zu einer hohen Komplexität und mangelnden Benutzbarkeit des Endergebnisses. • Die Designkompetenz im Unternehmen sollte aufgebaut werden. Ziel war, Designer einzustellen, die eine aktive Community etablieren, deren Aufgabe es ist, die Methodik weiterzuentwickeln, in die Projekte zu tragen und dort auch in den jeweiligen Teams das Thema UX aufzubauen • Neben der Nutzung agiler Vorgehensweisen wurde für das Unternehmen eine vom Enterprise Design Thinking abgeleitete Methodik entwickelt. Diese sollte die Modernisierung und Neuentwicklung von Anwendungen grundlegend verändern. Für die Einführung der Methodik wurde ein Schulungskonzept entwickelt und als dreitägige Schulung für Entwickler, Business-Analysten und Designer sowie als Überblicks schulung für Manager und Entscheider angeboten. Im Folgenden werden diese Aktivitäten im Detail betrachtet.
8.3.2.1 Designsysteme Der Startpunkt der Transformation war – wie in vielen ähnlich gelagerten Fällen – ein eher technischer: Die Anwendungen sollten an der Oberfläche modernisiert werden. Ein moderner Look und eine Verbesserung der Usability der einzelnen Komponenten sollten zu einer höheren Nutzerakzeptanz verhelfen. Diese ursprüngliche Idee eines User Interface Baukastens entwickelte sich in kurzer Zeit zu einem vollwertigen Designsystem. Designsysteme helfen Entwicklern und Designern, Produkte und Services in einer konsistenten Weise und mit hohen qualitativen Ansprüchen zu erstellen. Ein Designsystem
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bietet eine gemeinsame Sprache für Entwickler und Designer und stellt Leitlinien für die Gestaltung und Entwicklung von Produkten bereit. Damit bildet ein Designsystem im Unternehmen einen zentralen Punkt bei jeder Produktentwicklung. Die grafischen Richtlinien ermöglichen ein gemeinsames Branding aller Anwendungen und sind damit gegenüber den Endnutzern der Ausdruck einer einheitlichen, visuellen Sprache des Unternehmens. Darüber hinaus ermöglichen die Regeln über den Einsatz aller Komponenten eine funktional konsistente Gestaltung: Bei der Entwicklung muss sich nicht jedes Team individuell Gedanken machen, wie eine Suche oder eine Tabelle gestaltet werden soll, sondern Designer und Entwickler können auf die Standardkomponenten zurückgreifen. Typischerweise sind die Komponenten in einem Designsystem nicht nur beschrieben und grafisch gestaltet, sondern auch im Rahmen des jeweiligen Entwicklungsframeworks als fertig programmierte Komponenten hinterlegt. Dies steigert die Effizienz der Umsetzung und ermöglicht eine unmittelbare Verbindung der Leitlinien und Umsetzung. Abb. 8.3 zeigt die Struktur eines Designsystems. Die Vorteile eines Designsystems erzeugen gleichzeitig neue Herausforderungen, die sich bei der Einführung durch unser Beispielunternehmen zeigten. • Der Einsatz eines Designsystems allein gewährleistet nicht automatisch eine Anwen dung mit positiver Nutzererfahrung. Wenn die eigentliche Problemstellung der Nutzer nicht erkannt wurde, Prozesse umständlich sind oder Dinge zu kompliziert gedacht werden, kann auch der Einsatz des Designsystems nicht helfen. • Ein Designsystem muss als ein lebendiges System betrachtet werden. Dies erfordert den Einsatz von Ressourcen zur Erweiterung und Pflege der Elemente, Prinzipien, Design und Code-Basis. Insbesondere muss ein Prozess etabliert werden, der neue Ideen und Verbesserungen in das Designsystem einbringt. Da typischerweise neue Anforderungen aus Projekten entstehen, müssen diese Anforderungen über eine Gruppe
Abb. 8.3 Struktur eines Designsystems. (Quelle: Nach Rutherford 2017)
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von UX- und UI-Experten, Entwicklern und Anwendern bewertet werden. Das Ergebnis dieser Bewertung kann sein, dass alternative, bereits im Designsystem vorhandene Gestaltungslösungen für eine Anforderung gefunden werden – dann sollten diese Komponenten verwendet werden. Wenn aber die Anforderung einen Verwendungszweck auch für andere Anwendungen enthält, dann wird die neue Komponente in das Designsystem aufgenommen und steht damit auch allen anderen Anwendungen zur Verfügung. Gibt es diesen etablierten Prozess nicht, kann ein Designsystem innerhalb kurzer Zeit zu einer unverbindlichen Empfehlung verkommen und verschiedene Anwendungspro jekte werden ihre jeweils eigenen Interpretationen und Anforderungen umsetzen. Damit gehen die Einheitlichkeit und die gemeinsame Sprache mit der Zeit verloren. Dieser Prozess kann sehr schnell einsetzen: In verschiedenen Projekten ließ sich beobachten, dass Anwendungen das Designsystem selbst erweiterten oder eigenwillig interpretierten. Diese individuellen Lösungen fielen oft eher zufällig und während der Testphase auf, sodass man vor dem Dilemma stand, die Anwendung umgestalten zu müssen, die Lösung in das Designsystem zu integrieren oder diesen „Sonderfall“ zu ignorieren. • Ein Designsystem – so umfangreich es auch dokumentiert sein mag – wird niemals mit der Kreativität der technischen Umsetzung mithalten können. Oft entstehen Lösungen, die sich zwar der Komponenten des Systems bedienen, diese aber in nicht vorab definierter Art und Weise zu einem nicht immer optimalen Ergebnis kombinieren. Auch deshalb ist es wichtig, bei der Produktentwicklung UX-Experten hinzuzuziehen, die die Expertise in Bezug auf die Interface-Gestaltung mitbringen und das Gesamtbild einer Anwendung beeinflussen. Das Designsystem bildet eine gemeinsame Grundlage für Design und Entwicklung. Richtig eingesetzt, hilft es bei der Gestaltung konsistenter, nutzerfreundlicher Anwendungen. Es muss darauf geachtet werden, dass sich das System mit den Anforderungen weiterentwickelt.
8.3.2.2 UX als zentrale Unternehmensfunktion Ein weiterer entscheidender Aspekt war die Gründung eines UX-Teams mit dedizierten Designern, die verschiedene Aufgaben im Unternehmen unterstützen sollten. Deshalb wurden in unserem Beispiel parallel verschiedene Handlungsfelder adressiert. • Die Entwicklung von Schulungen für Entwickler, Business-Analysten, Führungskräfte und Stakeholder in anderen Bereichen: Für die verschiedenen Zielgruppen sollten unterschiedliche Schulungsformate zur Verfügung stehen, die von kurzen, einstündigen Informationsveranstaltungen bis hin zu dreitägigen Schulungen für Projektmitarbeiter reichten. • Unterstützung in Projekten: Da fast alle Projektteams zu Beginn des UX-Programms nur wenig Erfahrung mit designorientiertem Vorgehen hatten, sollte das UX-Team diesen Projekten unterstützend zur Seite stehen. Diese Unterstützung erwies sich als große
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Herausforderung, da sich verschiedene Zielsetzungen und Interpretationen des Auftra ges seitens des UX-Managements und der Anforderungen der Projekte ergaben. • Einbeziehung des Fachbereichs und der Endnutzer in Projekten: Ziel war es, Hürden und Ängste auf allen Seiten abzubauen. Das Projektmanagement hatte die Befürchtung, dass UX als eigenes Thema im Projekt die Aufwände erhöhen und alles komplizierter machen würde. Gleichzeitig war der direkte Kontakt mit Endnutzern ein Wechsel des Paradigmas, hatte man typischerweise eher mit dem Fachbereich oder dem Kunden Anforderungen abgestimmt, als konkret mit Nutzern deren Herausforderungen, Erfah rungen und Zielsetzungen erfasst. • Etablierung einer unternehmensinternen Community, die das Thema User Experience aktiv vorantreiben sollte. Diese Gruppe sollte allen interessierten Mitarbeitern ein Forum bieten, um konkrete Themen einzubringen, zu diskutieren und Lösungen zu finden. Eine besondere Herausforderung hierbei ist die Unterstützung durch das UX-Team in einzelnen Projekten. Durch den bisherigen „traditionellen“ Ansatz nach dem V-Modell2 waren die Rollen sehr klar verteilt: Business-Analysten definieren gemeinsam mit dem Kunden (d. h. einer beauftragenden Fachabteilung) die Anforderungen, erstellen ein Pflichtenheft und unterstützen die Entwicklung bei der Umsetzung dieses Pflichtenheftes. Dass dieses Vorgehen bei der Entwicklung von Produkten zu vielen Reibungsverlusten und falschen Interpretationen von Anforderungen führt, beschrieb bereits Jeff Patton mit dem Satz: Shared Documents aren’t shared understanding. (Patton 2014)
Der nutzerzentrierte Ansatz sieht vor, dass es die Rolle des „Designers“ gibt, der in enger Abstimmung mit den Endnutzern die Nutzerbedürfnisse erfasst, sie in entsprechende Konzepte übersetzt und diese in kurzen Zyklen mit Endnutzern, Fachbereich und Entwicklungsteam abstimmt. Wie man leicht erkennen kann, ergeben sich hieraus große Überscheidungen zwischen der Rolle des eher technisch ausgerichteten Business-Analysten und der des UX-Desi gners (siehe Abb. 1.5).
8.3.2.3 Nutzerzentriertes Vorgehen Die Arbeit mit einem Designsystem und die Etablierung der Rolle des UX-Designers im Unternehmen sind wichtige Aspekte für eine verbesserte User Experience der Anwendung. Entscheidend sind aber vor allem die personelle Besetzung und die methodische Herangehensweise in den einzelnen Projekten, d. h., wie man am besten zu einer optimier „Das V-Modell ist eine grafische Darstellung eines Systementwicklungszyklus. […] Das V-Modell fasst die wichtigsten Schritte zusammen, die im Zusammenhang mit den entsprechenden Leistungen im Rahmen der […] Entwicklung des Projektlebenszyklus durchgeführt werden müssen. Es beschreibt die durchzuführenden Aktivitäten und die Ergebnisse, die während der Produktentwicklung erzielt werden müssen.“ (Wikipedia o. J.).
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ten User Experience gelangt. Dazu gibt es verschiedene Ansätze, wie nutzerzentriertes Design, Lean UX (Gotthelf und Seiden 2016) und seit einigen Jahren Design Thinking (z. B. Neilson et al. 2008) oder Enterprise Design Thinking (IBM 2018). Die Methoden- Frameworks haben gemeinsam, dass nicht mehr die Anforderungen eines abstrakten Kunden im Mittelpunkt stehen, sondern die konkreten Bedürfnisse eines Nutzers. Dazu w erden die Endnutzer möglichst häufig und unmittelbar in den Entwicklungsprozess eingebunden. Dies geschieht mit Beobachtungen und Befragungen während der ersten Analyse, häufigen „Playbacks“, bei denen Ideen und Entwürfe gespiegelt und validiert werden können, Akzeptanztests und vor allem auch kontinuierlichen Optimierungen während der Nutzungsphase eines Produktes. Um dieses Vorgehen sinnvoll umsetzen zu können, sind drei Voraussetzungen wichtig: 1. Ein agiles, auf kleinen und mit Nutzern testbaren Inkrementen aufsetzendes Vorgehen während der Analyse und Entwicklung 2. Ein gemeinsam arbeitendes Team mit den entsprechenden Fertigkeiten 3. Eine Fachabteilung, die bereit ist, das Entwicklungsteam mit dem Zugang zu Endnut zern und zeitlichen Ressourcen zu unterstützen Diese Arbeitsweise stellte in unserem Beispiel auf vielen Seiten einen Paradigmenwechsel der Entwicklung dar: Statt klarer Trennung zwischen Projektauftrag, Anforderungsdefinition und Entwicklung entlang der Anforderungen werden alle Parteien einbezogen und definieren gemeinsam den optimalen Mehrwert in geschäftlicher Hinsicht und für die Endnutzer. Dadurch kommt es auch zu einer Verlagerung der Kompetenzen und der Deutungshoheit, welche Themen in welcher Reihenfolge bearbeitet werden. Anforderungen sind nicht mehr Verhandlungsmasse von Projektauftraggeber und Ansprechpartner in der Fachabteilung. Vielmehr werden die Entscheidungen über das Vorgehen im Team getroffen und gemeinsam mit Nutzern ausgearbeitet.
8.3.2.4 Teams Eine entscheidende Bedeutung bei der Umsetzung von nutzerzentriertem Design kommt den Teams zu, die die Lösungen entwickeln sollen. Ein Vorgehen im Sinn von Design Thinking in Projekten erfordert dedizierte Rollen, die alle Fertigkeiten in puncto Technik, Business-Analyse und UX-Design abdecken. Je nach Spezialisierung kann dabei durchaus eine Person in verschiedenen Rollen agieren. Abb. 8.4 zeigt exemplarisch die Zusammensetzung eines Entwicklungsteams in Bezug auf die Rollen und die Fertigkeiten (hierbei sind nur die „entwicklungslastigen“ Rollen berücksichtigt, hinzu kommen beispielsweise Product Owner, Scrum Master und natürlich die Ansprechpartner in den Fachbereichen sowie die Endnutzer). Bei der Zusammenstellung eines Projektteams müssen der Projektleiter bzw. der Product Owner darauf achten, dass in einem agilen Team die jeweiligen Fertigkeiten entsprechend repräsentiert sind. Hierbei können Business-Analysten – mit entsprechender Ausbildung und partieller Unterstützung durch das UX-Team – durchaus die Rolle eines
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Abb. 8.4 Beispielhafte Teamstruktur in einem Entwicklungsprojekt
UX-Designers ausfüllen. In diesem Falle würden Business-Analysten beispielsweise die Interviews mit den Nutzern durchführen und auswerten, Workshops leiten und die entsprechenden Erkenntnisse in Entwürfe der Benutzeroberflächen umsetzen. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass gerade die gestalterischen Tätigkeiten viel Erfahrung erfordern und nicht einfach „nebenbei“ erledigt werden können. Umgekehrt ist es durchaus denkbar, dass UX-Designer teilweise die Rolle eines Business-Analysten übernehmen. […] great products require an intense collaboration with design an engineering to solve real problems for your users and customers, in ways that meet the needs of your business (Cagan 2018, Kindle Edition, Location 1390)
Schwierig wird es, wenn, wie in diesem Beispiel, die Rollen unterschiedlichen Unternehmensbereichen zugeordnet sind. So waren beispielsweise die Business-Analysten in einem fachlich orientierten Bereich angesiedelt, die UX-Designer aber in der Entwicklungsabteilung. Daraus ergaben sich oft Zielkonflikte in Bezug auf die Einsatzzeiten oder die Verfügbarkeit für andere Tätigkeiten. Auch hier erkennt man die Notwendigkeit einer Unternehmenstransformation: Die neue Rolle des UX-Designers muss organisatorisch so eingebettet werden, dass Konflikte mit bestehenden Rollen minimal ausfallen. Das Ziel muss sein, Themen in gemeinsamen (agilen) Teams anzugehen, in denen die Fertigkeiten der Mitarbeiter für ein selbstbestimmtes Arbeiten optimal repräsentiert sind. Der im Unternehmen aus unserem Beispiel eingeschlagene Weg versucht, die verschiedenen Interessen miteinander in Einklang zu bringen. So werden die UX-Designer (das Kernteam, das für die Umsetzung von UX im Unternehmen verantwortlich ist) in den einzelnen Projekten vorwiegend als Coaches eingesetzt. Sie tragen dafür Verantwortung, dass die Projektteams passend organisiert sind und im Rahmen der agilen Entwicklung das richtige Vorgehen wählen. Gleichzeitig sollen die Business-Analysten in den Projekten mehr in die Rolle der UX-Designer hineinwachsen. Dies geschieht zum einen durch dedizierte Schulungen zum Thema UX durch das zentrale Design-Team. Zum anderen werden die Business-Analysten mit dem Coaching-Ansatz in ihren konkreten Projekten mit dem Vorgehensmodell vertraut gemacht. Das Ziel des Unternehmens ist, dass die Business- Analysten zunehmend die Rolle des UX-Designers übernehmen. Dies hat mehr organisatorische als fachliche Hintergründe, da die Rolle des UX-Designers als festes Mitglied des Entwicklungsteams noch nicht gesehen wird, die des Business-Analysten hingegen seit vielen Jahren etabliert ist. So gesehen könnte man sagen, dass Mitarbeiter mit dem Titel
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„Business-Analyst“ (und der Spezialisierung User Experience) in Projekten als „trojanisches Pferd“ eingesetzt werden können, um das Thema UX auch in der Projektstruktur zu etablieren. Ob dieses Modell in jedem Projekt erfolgreich umgesetzt werden kann, muss sich zeigen. Zum einen wird nicht jeder Business-Analyst – dessen Rolle häufig eher technisch orientiert ist – zwangsläufig ein guter UX-Designer werden. Zum anderen haben die Business-Analysten in den Projekten bereits heute viele Aufgaben, sodass die zusätzlichen Tätigkeiten, die sich speziell auf UX beziehen (User Research, Entwurf der Oberflächen oder Tests mit Anwendern) möglicherweise in den Ressourcenplanungen für Projekte nicht abbildbar sind.
8.3.2.5 Räumlichkeiten Wenn die Teams gemeinsam mit Frameworks wie Design Thinking an der Lösung von Problemen arbeiten, ist ein räumlicher Zusammenhalt des Teams wichtig. Dabei ist es nicht zwingend erforderlich, besonders kreative Räume zur Verfügung zu stellen, sondern vor allem dafür zu sorgen, dass die Teammitglieder gemeinsam arbeiten können. Oder, um es mit Acar (2019) auszudrücken: Unfortunately, a space is not creative. People are.
In diesem Beispiel war dies eine besondere Herausforderung, da das Unternehmen auf verschiedene Standorte aufgeteilt ist und die Teams traditionell eher nach Organisationsstruktur und nicht nach Projektteams zusammengestellt sind. Hinzu kommen Engpässe in den verfügbaren Büros und die Herausforderung, für ein größeres Team einen zusammenhängenden Bereich zu organisieren. So begann das Team in der klassischen Aufteilung: Die Entwicklung saß in Vier-Personen-Büros an einem Standort zusammen, während die Business-Analysten, Designer und Product Owner sich zwischen zwei Standorten aufteilten. Außer Telefonkonferenzen und gelegentlichen Meetings sowie den Scrum-Aktivitäten gab es wenig Gelegenheit, gemeinsam an einer Vision für die zukünftige Software zu arbeiten. Insgesamt waren viel Überzeugungsarbeit und kreative Organisation seitens der Projektleitung, des Product Owners und des Teams erforderlich, um einen gemeinsamen Bereich zum Arbeiten zu finden. Die Ergebnisse zeigen aber, wie wertvoll die unmittelbare Zusammenarbeit zwischen allen Rollen ist, um sich kurzfristig abstimmen zu können und Ideen auszutauschen. Transparenz ist hier – wie auch im agilen Arbeiten – extrem wichtig. Gemeinsame Räumlichkeiten erlauben das dauerhafte Platzieren von wichtigen Teamdokumenten wie Roadmaps, Personas oder Design-Skizzen, sodass das gesamte Team jederzeit den aktuellen Stand der Arbeiten vor Augen hat. Herausforderungen bleiben dennoch. Durch die organisatorische Aufteilung der Entwickler und des „Business“ gibt es nach wie vor den Wunsch, dass die Entwickler des Teams näher an der Entwicklungsorganisation an dem ersten Standort sitzen. Gleiches gilt für die Business-Analysten und Product Owner, die an ihre Organisationseinheit an einem
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anderen Standort eingebunden sind. Hier ist es nicht immer einfach, die Balance zwischen Teamzugehörigkeit und organisatorischen Zuordnung zu finden.
8.3.3 UX im Jahr vier nach Beginn der Transformation Das zugrunde liegende Beispiel zeigt, wie man im Rahmen der Designtransformation die Veränderung in einem Projekt als Berater (in diesem Fall in der Rolle des User Experience Designers) unterstützen kann, um dann die Organisation zu befähigen, zunehmend selbstständig weiterzuarbeiten. Dies wird im Folgenden skizziert. Zu Beginn unterstützte ein größeres Team von IBM das Unternehmen bei der Entwicklung und Umsetzung des Designsystems, der Konzeption und Durchführung von Schulungen und der intensiven Betreuung von Projekten. Im Laufe der Zeit baute das Unternehmen ein eigenes UX-Team auf, das mittlerweile aus fünf UX-Designern besteht. Darüber hinaus wurde ein Arbeitskreis UX etabliert, der interessierten Entwicklern, Business-Analysten und anderen Mitarbeitern die Gelegenheit gibt, sich mit dem Thema näher zu beschäftigen. Die Design-Thinking-Schulungen werden mittlerweile von diesem Team weiterentwickelt und gehalten und auch die Betreuung von Projekten wird von hier aus gesteuert. Externe UX-Berater treten zunehmen in den Hintergrund und werden für spezielle Themen oder bei Ressourcenengpässen im Unternehmen eingesetzt. Über die Jahre ist die strategische Unterstützung durch den Vorstand ein wichtiger Faktor geworden, um auch ambitionierte Projekte wie den Umbau von klassischen Schulungsräumen in kreative Workshopräume zu ermöglichen. Hier können Projektteams Design-Thinking-Workshops gemeinsam mit Endnutzern durchführen. Neben all diesen Erfolgen gibt es nach wie vor verschiedene Herausforderungen für das Unternehmen.
8.3.4 Herausforderungen A lot of agencies, coaches and practitioners of design thinking say that leadership support is the key to success. In my experience, it’s not the C-level or the leadership support that is the problem. After all, without those, you can’t establish a design thinking practice in the first place. No, the problem is middle management. (Acar 2019)
Die Einführung eines designorientierten Vorgehens zieht immer organisatorische Änderungen im Unternehmen nach sich. Was als Initiative zur Modernisierung von Benutzeroberflächen beginnt, wird schnell zu einer Änderung der gesamten Vorgehensweise in Projekten. Zusammen mit agilem Arbeiten bedeutet nutzerzentriertes Vorgehen ein selbstgesteuertes Arbeiten in Teams. Der Mehrwert für den Nutzer überlagert das klassische Anforderungsmanagement, schnelle und häufige Feedbackschleifen mit Anwendern das Abarbeiten von Featurelisten.
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In unserem Beispiel hat das mittlere Management des Unternehmens gelernt, sich auf eine neue Arbeitsweise einzustellen. Die Arbeit in selbstgesteuerten Teams bedeutet auch Kontrollverlust. Nicht das Management gibt die umzusetzenden Funktionalitäten und die dazugehörigen Projektpläne vor, sondern die Teams verhandeln die Fahrpläne für ein Projekt mit dem Product Owner und den Anwendern. Das Management wurde mit Veränderungen konfrontiert, die sich mit dem Schlagwort VUCA (volatility, uncertainty, complexity and ambiguity) beschreiben lassen. Die Anforderungen an die Softwareentwicklung werden immer kurzfristiger, komplexer und insgesamt weniger beherrschbar. In dieser Situation ist es zunehmend schwierig, die Kontrolle über Entwicklungsteams abzugeben und diesen ein selbstständiges Arbeiten zu ermöglichen. Allerdings scheint gerade das geschilderte agile, nutzerzentrierte Arbeiten ein Schlüssel zur Anpassung an die neuen Anforderungen zu sein. So schreibt Giles (2018, Übersetzung des Autors): Hier sind einige Dinge, die jede Organisation angehen kann, um die Transformation zu beginnen. ∗ Bewegen Sie sich von der Hierarchie zur Selbstorganisation. Verlagern Sie Entscheidungen an den Rand ihrer Organisation, wo die Informationen am aktuellsten und augenfälligsten sind: an der Kasse, der Produktionslinie, im Callcenter und bei den Vertriebsmitarbeitern. ∗ Bewegen Sie sich weg vom Beschützen von Information hin zu der Demokratisierung von Informationen. Um Mitarbeiter in die Lage zu versetzen, selbstständig Entscheidungen zu treffen, muss Kommunikation reibungslos verlaufen. ∗ Beschleunigen Sie jede Art von Interaktionen soweit wie möglich. Im Zeitalter von VUCA zählt Geschwindigkeit mehr als Perfektion. So kann man die Erwartung an Antwortzeiten für E-Mails von einigen Stunden für eine schnelle Reaktion und bis Ende des Arbeitstages für ausführliche Antworten setzen. ∗ Nutzen Sie einfache Regeln für schnelle Entscheidungen, anstatt die perfekte Analyse anzustreben.
Das Programm läuft mittlerweile in seinem vierten Jahr und trotz vieler Erfolge zeigen sich nach wie vor verschiedene Herausforderungen: • Die Integration von Design-Thinking-basierten Methoden mit den lange etablierten Vorgehensweisen erzeugt Reibungsverluste. Ein Beispiel ist hier die Abstimmung des Bereiches „Anforderungsmanagement“ mit den User-Experience-Ansätzen. • Die nach wie vor häufig verwendeten V-Modell Ansätze der Entwicklung erschweren das agile, auf häufige Iterationen ausgelegte Design-Thinking-Vorgehen. • Das Organisationsmodell des Unternehmens sieht für Entwicklungsteams keine Rolle des „Designers“ vor. Alle Tätigkeiten, von User Research bis zur Gestaltung und Verprobung von Prototypen sollen von den bisherigen Teammitgliedern (Business- Analysten, Entwickler, Tester) abgedeckt werden. • Es gibt nach wie vor Unklarheiten, wer mit dem Kunden reden darf, d. h. dem Bereich, für den die Anwendung entwickelt wird. Es gibt weiterhin Diskussionen um die
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„Deutungshoheit“ in Bezug auf die Anforderungen und wie diese erhoben und dokumentiert werden. • Design als Disziplin wird eher als Stabsfunktion gesehen, bei der Designer einzelne Projekte bei Bedarf beraten, aber nicht als vollwertiges Teammitglied mit einer dezidierten Rolle mitarbeiten. Stattdessen wird die Hauptaufgabe des Designs in der Richtlinienkompetenz gesehen. Es entwickelt das Designsystem weiter, erstellt Vorga ben für das Vorgehensmodell und organisiert und hält die Schulungen. Die Herausforderungen zeigen, dass eine Designtransformation einen langen Atem erfordert. Bis alle Widerstände überwunden sind und das Vorgehen zu einem neuen Selbstverständnis führt, dauert es einige Jahre – wenn auch hoffentlich nicht 20 Jahre, wie es Nielsen (2006) beschreibt.
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Zusammenfassung und Fazit
During the past 30 years, we’ve tried many approaches to increase the executives’ and stakeholders’ understanding. Most approaches have failed. While they’ll often nod their head knowingly, nothing will change in the organization. They proceed to do what they’ve always done and get the same results they’ve always gotten. (Spool 2018)
Jede Organisation und jeder Kunde ist individuell unterschiedlich. Dennoch illustriert dieses Beispiel, dass die Designtransformation einem typischen Ablauf folgt. Durch diese Erfahrung können sich Unternehmen nachhaltig wandeln und ihre Transformation sorgfältig planen und erfolgreich durchführen. Thema 1 – Rollen im Team und Unterstützung durch das Management Eine Designtransformation ist ein längerer Veränderungsprozess mit verschiedenen Phasen (z. B. Strategie, Leuchtturmprojekte, Etablierung und Wachstum). Erfordern die ersten Schritte wenige Monate, so nimmt die Transformation der Organisation insgesamt Jahre in Anspruch. Die Transformation erfordert Unterstützung der obersten Managementebenen (CxO, Vorstand) sowie des unmittelbar vom Wandel betroffenen mittleren Managements. Ohne ein Bekenntnis der Führungsebene zum Thema UX ist es schwierig, eine Legitimation gegenüber Projekten für das Vorgehen und die Ressourcen zu bekommen. Im Enterprise Design Thinking Framework ist die Rolle eines „Advocates“ vorgesehen. Diese Person kommt typischerweise aus dem höheren oder mittleren Management und agiert als Vorkämpfer für Produktteams. Advocates sorgen dafür, dass das Team nach Design Thinking arbeiten kann, räumen organisatorische Widerstände aus dem Weg und sind Sponsor für das Produkt- oder Projektteam. Weitere unterstützende Personen sind die Product Owner (PO) als zentrale Schnittstelle zwischen den Fachbereichen und der Entwicklung. Wenn Product Owner das nutzerzentrierte Vorgehen befürworten, erhält das Team die Möglich-
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keit, entsprechend zu arbeiten und Entscheidungen über die Produktentwicklung auf einer gemeinsamen Basis aus Nutzer- und Geschäftszielen zu treffen. Product Owner können dabei auch durchaus die Rolle des bereits beschriebenen Advocates mit übernehmen, um die Interessen des Teams gegenüber der Organisation zu vertreten. Interdisziplinäre Teams, die gemeinsam an einer selbst definierten Zielsetzung arbeiten, sind entscheidend für ein effizientes und nutzerzentriertes Vorgehen. Fachliche Entscheidungen werden nicht nur von Designern, Product Ownern oder Business- Analysten getroffen, sondern zusammen mit den Entwicklern im Team erarbeitet. Endnutzer einzubeziehen, ist einer der Schlüssel zum Erfolg. Hier ist es wichtig, Berührungsängste auszuräumen und direkten Zugang zu Endnutzern zu bekommen (und nicht nur zu Vertretern des Fachbereichs). Die oftmals lange etablierten Beziehungsund Kommunikationsstrukturen aufzubrechen, kann eine der größten Herausforderungen der Transformation werden. Thema 2: Leuchtturmprojekte und Wahl des Projektumfangs Es ist sinnvoll, neue Vorgehensweisen in ausgewählten Projekten auszuprobieren. Diese Projekte sollten die Möglichkeit zur Neuentwicklung bieten (also keine reinen technischen Modernisierungsprojekte sein) und sollten mit einem interdisziplinären Team starten. Gute Kontakte zu Fachbereichen und Endnutzern sind entscheidend. Besonders wichtig für solche Projekte ist, einen MVP-Gedanken3 zu verfolgen: Womit kann man bereits zu Beginn den maximalen Nutzen aus Endnutzer-, aber auch aus Business-Sicht schaffen? Sowohl aus Endnutzer- als auch aus Managementsicht sind frühzeitig sichtbare, wertschöpfende Ergebnisse wichtig, auch um den Erfolg des neuen Vorgehens sichtbar zu machen. Dies ist oft eine große Änderung des bisherigen Entwicklungsparadigmas. „Outcomes over Output“ (Seiden 2019), d. h. die Konzentration auf den Wert für Nutzer statt der bloßen Umsetzung von möglichst vielen Features rückt in den Mittelpunkt. Thema 3: Produkte, nicht Projekte Letztlich gilt: Auch B2E-Software sollte als Produkt gedacht werden, nicht als Projekt. Projekte dienen oft der Weiterentwicklung einer Funktionalität oder der Umsetzung neuer geschäftlicher Anforderungen. Ist die Umsetzung beendet, wechseln Entwicklungsteams in andere Projekte. Eine längerfristige Strategie der Produktentwicklung ermöglicht den Einsatz dedizierter, dem Produkt verpflichteter Teams. A product team is a group of people who bring together different specialized skills and res ponsibilities and feel real ownership for a product or at least a substantial piece of a larger product. (Cagan 2018)
MVP: Das „Minimal Viable Product“ beschreibt die kleinste Produkteinheit, die man an einen Nutzer ausliefern kann und die trotzdem aus Sicht des Nutzers einen sinnvollen Mehrwert schafft.
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Handlungsempfehlungen
Es gibt einige Schritte, die sich bewährt haben, wenn Unternehmen eine Designtransformation anstreben. Diese Auflistung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern ist eher eine Sammlung von Methoden, die jedes Unternehmen an seine eigenen Bedürfnisse anpassen sollte. • Eine Strategie entwickeln Überlegen Sie sich, was Sie mit der Designtransformation erreichen wollen. Geht es um die Verbesserung von Services für Endkunden? Sollen die eigenen Mitarbeiter effizienter arbeiten können? Welche Erfahrungen und Ressourcen hat mein Unternehmen jetzt schon? Wie ist der Zeithorizont? Wichtig ist es, diese Fragestellungen von vornherein zu beantworten. Nur dann kann ein Zielbild erstellt werden, das man Stakeholdern klar vermitteln kann und an dem sich alle anderen Beteiligten zukünftig orientieren können. • Einen Sponsor aus dem höheren Management suchen Um dem Programm die nötigen Ressourcen und vor allem die Legitimation geben zu können, braucht man einen „Executive Sponsor“, der von der Thematik und der Strategie überzeugt ist. Im Laufe der Transformation werden Sie immer wieder mit Skepsis konfrontiert werden oder die Frage seitens der Entwicklung beantworten, ob man denn jetzt tatsächlich offiziell nach der neuen Methodik arbeiten darf. Die Rolle des Advocates ist hierbei sehr hilfreich, um Projektteams zu unterstützen und den nötigen Rückhalt zu geben. • Leuchtturmprojekte aussuchen Die Designtransformation ist dann am erfolgreichsten, wenn sich ‚Top-down- und Bottom-up‘ -Ansätze ergänzen. Die Vermittlung der Strategie durch das höhere Management ist das Eine, aber gleichzeitig muss der Wert der Transformation bewiesen werden. Dies funktioniert am besten über sogenannte Leuchtturmprojekte. Dies sind Projekte, die einen besonders hohen Wert sowohl aus Unternehmens- als auch aus Nutzersicht haben. In diesen Projekten können motivierte Teams das neue Vorgehen ausprobieren und in kurzer Zeit erfolgreich arbeiten. Hierbei werden Erfahrungen gesammelt, die Vorgehensweise angepasst und verfeinert und erste Produktinkremente erstellt. Wichtig: Diese Projekte sollen als Beispiel und Vorbild dienen, und deshalb sollten das Vorgehen, die Erfolge aber durchaus auch die Herausforderungen offen in die gesamte Organisation kommuniziert werden. • Unterstützung holen – Wissenstransfer starten Zu Beginn der Designtransformation sind im Unternehmen meist noch keine ausreichenden eigenen Designressourcen vorhanden. Hier sollte man sich Unterstützung durch Beratungsunternehmen hinzunehmen, die sich auf diese Themen spezialisiert haben. Die Unternehmen können gemeinsam mit den eigenen Mitarbeitern in Leuchtturmprojekten arbeiten, um einen möglichst effizienten Wissenstransfer zu ge-
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währleisten. Gleichzeitig können Schulungen erarbeitet und angeboten sowie eigene Designer eingearbeitet werden. Der Einsatz der externen Designer bzw. Berater sollte dabei immer mit dem Ziel erfolgen, das Unternehmen bei dem ersten Abschnitt der Transformation zu begleiten und die Verantwortung schrittweise an die Organisation zu übertragen. Beispielhaft wird dieser Prozess in Abb. 8.5 gezeigt. Auch bei optimalen Voraussetzungen dauert es – wie bei allen Verände rungsprozessen – eine Zeit, bis sich die neuen Arbeitsweisen durchgesetzt haben. Der Erfolg und die überaus positiven Rückmeldungen der Endanwender zeigen, dass sich dieser Weg auszahlt.
Abb. 8.5 Unterstützung und Eigenverantwortung im Laufe der Zeit. (Quelle: IBM o. J.)
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Jens Heuer arbeitet seit vielen Jahren im Bereich der User Experience im IBM Design Studio Hamburg. In seiner Rolle berät er Kunden aus verschiedensten Industrien bei dem Entwurf und der Umsetzung digitaler Produkte, aber vor allem auch bei der Einführung neuer Arbeitsweisen zur anwenderorientierten Gestaltung. Er ist Autor von Fachpublikationen und Sprecher auf verschiedenen Veranstaltungen.
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Running up the Hills – Die Designtransformation der IBM Wie ein Großunternehmen mit mehr als 350.000 Mitarbeitenden den Nutzer wieder in den Mittelpunkt stellt Antje Kruse-Schomaker und Wibke Huber-Saffer
Inhaltsverzeichnis 9.1 A usgangssituation 9.2 Das IBM-Designprogramm 9.2.1 People 9.2.2 Places 9.2.3 Practices 9.2.4 Erfolgskriterien 9.3 Skalierung 9.3.1 Human Resources (HR) 9.3.2 CIO Office 9.3.3 IBM Global Business Services & IBM iX 9.4 Fazit 9.4.1 Was haben wir erreicht? 9.4.2 Erfolgsfaktoren 9.4.3 Manöverkritik und Ausblick Literatur
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Die in diesem Beitrag verarbeiteten Informationen stammen – soweit nicht anders gekennzeichnet – zum Großteil aus der persönlichen Erfahrung der Autorinnen im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit bei IBM sowie aus persönlichen Interviews mit einigen der Akteure im IBM-Designprogramm. Namentlich danken die Autorinnen ihren Kolleginnen und Kollegen Adam Cutler, Charlie Hill, Damon Deaner, Doug Powell, Fahad Osmani, Gerhard Pfau und Kristin Wisnewski für ihre wertvolle Unterstützung. A. Kruse-Schomaker (*) · W. Huber-Saffer IBM Deutschland GmbH, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected]; [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_9
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A. Kruse-Schomaker und W. Huber-Saffer
Schlüsselwörter
Design Transformation · Design Thinking · Nutzerzentriert · Nutzererfahrung · IBM cc Lesernutzen In Studien und persönlichen Gesprächen mit Führungskräften und Innovationsmanagern anderer Unternehmen zeigt sich den Autorinnen regelmäßig, dass viele Unternehmen vor ähnlichen Herausforderungen stehen wie IBM im Jahre 2012. Gelungene Transformationsbeispiele aus der Praxis können in dieser Situation sehr hilfreich sein, um Inspirationen für den eigenen Weg zu bekommen. Hier setzt dieser Beitrag zur Designtransformation der IBM an. Die Leser lernen, was nutzerzentriertes Arbeiten ist und warum eine Designtransformation sinnvoll sein kann. Sie bekommen außerdem die Chance, einen Blick hinter die Kulissen zu werfen, sich über das Transformationskonzept der IBM sowie die wichtigsten Erfolgsfaktoren zu informieren. Was ist Design? Design ist entscheidend … und zwar über das hinaus, was ästhetisch ansprechend ist und funktioniert … Design bedeutet Verständnis. Verstehen der Situation und der beteiligten Personen. Design geht auf menschliche Bedürfnisse ein, denn Menschen werden durch Emotionen angetrieben, nicht durch Verstand. Es geht darum, Probleme in einen neuen Kontext zu stellen, um neue Lösungsansätze für Menschen zu finden und diese mit der höchstmöglichen Simplizität und ästhetischem Anspruch umzusetzen. Damit ist Design die Intention, die hinter einem Ergebnis steht – egal ob es sich um einen Prozess oder ein Produkt handelt.
9.1
Ausgangssituation
Schon 1954 entschied der damalige IBM-Chef Thomas Watson Jr., dass Design einen großen Stellenwert im Unternehmen einnehmen sollte. Er stellte Eliot Noyes als Designprogramm-Manager ein und erreichte so eine Vorreiterstellung im Bereich Produktdesign, Corporate Design und Identity. Eliot Noyes engagierte namhafte Designer, wie Charles und Ray Eames oder Paul Rand, um die Marke IBM und das Unternehmensbild modern zu gestalten. Für Produktdesign übernahm Noyes selbst die Verantwortung: Die IBM-Produkte der 1960er-Jahre (wie z. B. System/360 oder der Selectric Typewriter) standen für modernes und zeitloses Design. Mit der Veränderung des Marktes und auch der Unternehmensführung geriet der Fokus auf Design zunehmend in den Hintergrund. In den 1990er-Jahren konzentrierte sich IBM auf Software und legte den Schwerpunkt auf Technologieführerschaft. Die Produkte wurden eher von IT-Spezialisten für IT-Spezialisten entwickelt, der Nutzer in der Fachabteilung musste für die Bedienung der Software oft zum Spezialisten werden. In den 2000er-Jahren begannen viele Firmenkunden, ihre IT auszulagern. Die Budgets und die Auswahl für den Kauf von Software gingen in diesem Zuge auf die Fachabteilun-
9 Running up the Hills – Die Designtransformation der IBM
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gen über, in denen Leute arbeiteten, die einen starken Fokus auf Geschäftsprozesse hatten – aber keine IT-Spezialisierung. Spätestens mit der Einführung des iPhones wehte ein anderer Wind in den Chef-Etagen der großen IBM-Kunden: In mehr und mehr Unternehmen wurde die Nutzererfahrung als wichtiges Unterscheidungsmerkmal für Produkte, Services und ganze Unternehmen wahrgenommen. Die Verlagerung von lokalen IT-Infrastrukturen hin zur Cloud bedingte außerdem den Wandel zu ganz neuen Geschäftsmodellen in der Unternehmenssoftware. Dieser zeitgleiche Wandel im IT-Markt führte dazu, dass IBM bereit zu einer radikalen Veränderung war.
9.2
Das IBM-Designprogramm
Als Virginia „Ginni“ Rometty im Oktober 2012 die Führung bei IBM übernahm, war klar: Mit einem globalen Designprogramm sollte massiv in die Neukonzeption und Überarbeitung der IBM-Software investiert werden. Kundenerfahrung und Nutzererfahrung sollten dabei wieder in den Mittelpunkt gestellt werden. Einer der ersten Leitsätze in diesem Kontext lautete: „Create a sustainable culture of design and Design Thinking at IBM.“ Damit unterschied sich die Mission wesentlich von der glorreichen Designhistorie der 1960er-Jahre: Ein Umschwung der Kultur und der Denkweise konnte nur erreicht werden, indem sich das Unternehmen von innen heraus wandelt. Die Mitarbeitenden mussten in den Designprozess einbezogen werden – das Engagieren berühmter Designer würde in diesem Kontext nicht ausreichen. Ein neues Programm wurde geschaffen: Das IBM-Designprogramm. Als General Manager dieser Mission wurde Phil Gilbert nominiert, ehemaliger CEO der Geschäfts prozessmanagement-Software-Firma Lombardi, die 2010 von IBM akquiriert worden war. Phil hatte mit seiner Software und seiner Firmenkultur bewiesen, wie man erfolgreich mit einer nutzerzentrierten und designfokussierten Denkweise B2B-Software1 konzipieren und verkaufen kann. In Charlie Hill fand Gilbert sehr schnell einen langjährigen IBM-Mitarbeiter mit Design-Hintergrund als Mitstreiter, der bereits seit Längerem eine ähnliche Agenda verfolgte. Das IBM-Designteam startete 2013 mit ca. zehn Personen. Sehr schnell wurden mehrere Schwachpunkte ausgemacht: • Die Talent-Lücke: Es gab zu wenige Designer im Unternehmen. Das Verhältnis Designer zu Entwickler lag 2012 bei etwa 1:70. • Es mangelte in den IBM-Lokationen an Arbeitsflächen, die so ausgestattet sind, dass sie kreatives Arbeiten im Team befördern. • Es gab keine gemeinsame Arbeits- und Denkweise (Design Practice). B2B-Software steht für Business-to-Business-Software, d. h. Anwendungen für Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen.
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Um diese Schwachpunkte zu adressieren, fußt das IBM-Designprogramm auf drei Säulen: People + Places + Practices = Outcome. Phil Gilbert erklärte in einem Interview mit Brian O’Keefe (2017) von Fortune, das Ziel solcher Designprogramme sei es, IBM zu helfen, Kunden besser bedienen zu können und damit sowohl die Kunden als auch IBM zu stärken. Phil Gilbert betont: „Businesses don’t care about design thinking, per se (…) Businesses care about outcomes.“ (O’Keefe 2017). Die drei Säulen des IBM-Designprogramms werden in den folgenden Abschnitten ausführlich vorgestellt.
9.2.1 People Es war klar, dass das Verhältnis zwischen Designern und Entwicklern in der Softwareentwicklung drastisch verändert werden musste. Um von 1:70 kommend eine Ratio von 1:15 oder sogar 1:8 zu erreichen, mussten 2000 bis 3000 neue Designer eingestellt werden.2 IBMs Ziel für das erste Jahr war es, 100 Designer einzustellen. Innerhalb der nächsten vier Jahre sollten 1000 Designer neu an Bord kommen. Ein solches Vorhaben war etwas wirklich Besonderes und durchaus ambitioniert. Dieses war z. B. bei der AIGA-Konferenz3 im Oktober 2014 zu spüren, wo Phil Gilbert von der Bühne bekannt gab, dass IBM 1000 Designer einstellen wird.4 Auf die versammelte Design Community wirkte dies wie ein Paukenschlag. Van Tyne (2017) beschreibt einige Jahre später, dass IBM mit diesem Bestreben einen Trend setzte. Er stellt die Entwicklung der Designer/Entwickler-Ratio von IBM und fünf weiteren Technologieunternehmen gegenüber: Auch Uber und LinkedIn streben ein Verhältnis von 1:8 an, Dropbox sogar 1:6, wobei IBM zum Erreichen dieses Ziels den größten Schritt gegangen ist. Nach einer ersten Sichtung des Marktes zeichnete sich ab, dass die ersten 1000 Desi gner vorwiegend direkt von der Hochschule kommen mussten. Das bedeutete gleichzeitig, dass IBM Design für diese Hochschulabsolventen ein eigenes Schulungsprogramm konzipierte, um die jungen Designer fit für die Designaufgaben im IT Konzern zu machen. Mitte Juli 2013 kamen die ersten 60 Junior-Designer an Bord. Um die Junior-Designer zu begleiten, bedurfte es aber auch erfahrener Kollegen: Eingestellt wurden hochkarätige Designer, explizite Teamplayer sowie Designer mit Führungspotenzial, um die benötigten Designmanagementstrukturen aufzubauen und damit einhergehend auch das Führungsteam der IBM zu diversifizieren.
Eine Ratio von 1:15 erschien dem IBM-Design-Team realistisch. Das American Institute of Graphic Arts (AIGA) ist der US-amerikanische Berufsverband für Designer. 4 Eine Aufzeichnung des Auftritts von Phil Gilbert ist zu finden unter https://www.aiga.org/videogain-2014-gilbert. 2 3
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Abb. 9.1 Karrierepfade für Designer bei IBM. (Quelle: © IBM)
Das Talentteam innerhalb von IBM Design war in den ersten Jahren nicht nur für das Einstellen und die Einarbeitung der Designer zuständig, sondern auch für die Karriereentwicklung. Karrierepfade für Designer waren dem Technologiekonzern bis dahin fremd. Analog zu den bestehenden Experten-Karrierepfaden für technische Berufe erarbeitete das Talentteam ein Karrieremodel für Designer, welches im Expertenpfad Weiterentwicklungsmöglichkeiten zum Distinguished Designer (parallel zum sogenannten Distinguished Engineer5 für den technischen Karrierepfad) oder die Managementlaufbahn vom Designmanager bis hin zum Vice President ermöglichte (siehe Abb. 9.1). Das globale IBM-Design-Leadership-Team besteht im Sommer 2019 aus etwas mehr als 100 Design Thought Leadern und Designmanagern aus allen Geschäftsbereichen. Das Talentteam agierte – wie auch das IBM-Designprogramm – zentral aus Austin, Texas. Organisatorisch fungierte das Team sozusagen als Schattenorganisation parallel zur zentralen Personalabteilung, was aufgrund des fachlichen Hintergrunds (Beurteilung der Designbewerber durch Designer) und des Umfangs des Vorhabens sinnvoll war. Mittlerweile wurde das IBM-Design-Talentteam jedoch in den HR-Bereich integriert. Heute arbeiten ca. 3000 studierte Designer verschiedener Disziplinen bei IBM. Für IBM war es wichtig, dass durch die neuen Designer nicht nur Design-Fähigkeiten ins Unternehmen eingebracht wurden, sondern dass IBM durch sie auch kulturell beeinflusst wird. Wie im Leitsatz formuliert, sollte eine nachhaltige Designkultur etabliert werden. Diese kulturelle Veränderung sollte gleichzeitig dazu beitragen, die Designer längerfristig im Unternehmen zu halten. Zur Fluktuationsrate unter den Designern bei IBM liegen Distinguished Engineer ist nach dem IBM Fellow die zweithöchste Karrierestufe für die technische Laufbahn. Ein Distinguished Engineer (DE) verbindet strategische und taktische Verantwortung mit Vordenken und Führen im technologischen Umfeld. Ein DE repräsentiert IBM in Verbänden und Institutionen und ist gleichzeitig Vorbild und Mentor für andere IBMer der technischen Laufbahn.
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keine öffentlichen Informationen vor. Es wird jedoch kommuniziert, dass die Fluktuation geringer sei als im Markt üblich, was in diesem Kontext als Erfolg der neu aufgesetzten Designkultur gewertet werden kann.
9.2.2 Places Die IBM-Lokationen bestanden 2012 zumeist aus schlichten Großraumbüros mit festen Raumteilern und sogenannten Desk-Sharing-Arbeitsplätzen, die sich viele Mitarbeitende teilen. Ausgelegt waren diese Arbeitsplätze für individuelles Arbeiten – passend für Mitarbeitende, die nur selten in den IBM-Lokationen arbeiten, sondern Großteils bei den Kunden vor Ort. Es fehlte an Arbeitsplätzen, an denen kreativ und kollaborativ zusammengearbeitet werden konnte. Das IBM-Designteam setzte daher ein eigenes Programm auf, das den weltweiten Aufbau von Studios und Studiokultur unterstützte. Hier wurde von drei Leitprinzipien ausgegangen: • Freiheit und Flexibilität, so zu arbeiten, wie es gerade gebraucht wird Studios sind Orte, an denen verschiedene Disziplinen zusammenkommen, um gemeinsam zu arbeiten, und an denen die Einrichtung den Anforderungen entsprechend angepasst werden kann. • Gegenseitige Anregung und Kritik Die Arbeit in den Studios bietet die Möglichkeit, mit Kollegen und Ideen zu interagieren, selbst wenn in unterschiedlichen Teams gearbeitet wird. • Kreative Führung und Förderung kreativer Kultur In den Studios sitzen Designer, die eine fachliche Führung übernehmen und die Zusammenarbeit fördern. Kreative Projekte, die über die Arbeit hinausgehen, werden in der Studioumgebung unterstützt und gefördert. Es wurde bewusst entschieden, die Studios in bestehende IBM-Lokationen zu integrieren. Damit ging man einen anderen Weg als die meisten Unternehmen, die zur selben Zeit anfingen, Innovations-Einheiten an „hippen“ Standorten zu gründen, um den Innovationsfluss nicht durch eingefahrene Gebäude, Traditionen und Mitarbeitende zu behindern. Eine solche Entscheidung wäre kontraproduktiv zum Transformationsgedanken des IBMDesignprogramms gewesen. Die meisten IBM-Studios wurden innerhalb bestehender IBM-Lokationen eingerichtet, indem ein Teil der Fläche entkernt, neugestaltet und mit modernem Mobiliar wie z. B. flexiblen Büromöbeln, Whiteboards und anderen beweglichen Elementen ausgestattet wurde. Auch hier wurde nach dem Motto gearbeitet: Everything is a prototype. Das erste Studio in Austin wurde maßgeblich von den dort arbeitenden Designern selbst
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Abb. 9.2 Impressionen aus IBM Studios. (Quelle: © IBM)
immer wieder umgestaltet, bis man einige Grundsätze für die allgemeine Studioeinrichtung etabliert hatte. Abb. 9.2 zeigt Impressionen aus verschiedenen IBM-Studios. Nur wenige Studios, die in Kombination mit Kunden-Briefing-Centern geplant wurden, wurden in architektonisch herausragenden Gebäuden errichtet – wie zuletzt das IBM- Studio in Mailand.6 Die Studios brachten eine haptische Komponente in die Designtransformation ein. In den IBM-Studios wird die neue IBM für Mitarbeitende und Kunden sichtbar und erlebbar. Studios sind ein Symbol für agiles Arbeiten und das Investment der Firma in den neuen Transformationsgedanken. Um den weltweiten Ausbau der Studios zu unterstützen, wurde von IBM Design ein zentrales Studioprogramm-Management aufgesetzt, das Kriterien für die Studios festlegte, die in das Netzwerk aufgenommen werden sollten. Das Programm bot auch einen Austausch für Studioleiter sowie Hilfestellungen im Aufbau von Studios und Studiokultur. Das Studionetzwerk umfasst heute über 50 Studios weltweit, von denen ca. zwei Drittel zur internen Produktentwicklung gehören und ein Drittel zu IBM iX, einer der weltweit größten Digitalagenturen. Nachdem eine kritische Masse von ca. 30 Studios weltweit aufgebaut und eröffnet war, wurde das zentrale Studioprogramm 2018 eingestellt. Das Studiomanagement erfolgt dezentral in den Studios selbst, der Austausch zwischen den Studios läuft erfolgreich selbstorganisiert.
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Zur Eröffnung des IBM-Studios in Mailand siehe z. B. Dini (2019).
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9.2.3 Practices Eine einheitliche Arbeits- und Denkweise sowie eine einheitliche Designsprache bilden die dritte Säule Practices im IBM-Designprogramm. Practices ermöglichen es, mit hoher Geschwindigkeit qualitativ hochwertige Arbeitsergebnisse zu erschaffen.
9.2.3.1 Enterprise Design Thinking „IBM’s Design Thinking practice transforms how our employees work and engage. We train them to work in an empathetic, client-centric way.“ SVP von IBM GTS (Forrester 2018, S. 29)
Die Konzentration auf neue, nutzerzentrierte Arbeitsweisen erforderte ein gemeinsames Framework. Dieses zu etablieren, war für einen Konzern wie IBM eine große Herausforderung, bedeutete es doch, dass es unternehmensweit für die unterschiedlichen Geschäftsbereiche und Aufgabenstellungen relevant sein musste, für lokale wie für global verteilt arbeitende Teams funktionieren und in allen Ländern weltweit akzeptiert werden sollte. User Centric Design wurde von den Designern bei IBM bereits seit den 1990er-Jahren eingesetzt, hatte vor 2012 jedoch keine ausreichende Reichweite im Unternehmen. Der neue Ansatz sollte explizit für jedermann anwendbar sein, nicht nur für Designer. Das IBM-Designteam hat in diesem Zusammenhang auf eine bewährte Vorgehensweise zurückgegriffen: Design Thinking, ein Ansatz, der von Design-Firmen seit Jahrzehnten praktiziert und von führenden Hochschulen gelehrt wird. Das Team ließ sich extern inspirieren, es arbeitete mit David Kelley, IDEO und der d.school zusammen. Schnell wurde klar, dass die Besonderheiten eines großen IT-Konzerns wie IBM ein eigenes, Enterprise-spezifisches Design-Thinking-Modell benötigten. Die Grundelemente des ursprünglichen Design Thinkings bleiben jedoch in der IBM-spezifischen Variante bestehen: Die Nutzer sind die Fixpunkte für alles, was im Rahmen eines Projekts entwickelt wird: Was sind Schmerzpunkte und Bedürfnisse der Menschen im bestehenden Geschäftskontext und darüber hinaus? Welche verschiedenen Bedürfnisse und Anforderungen der Beteiligten gibt es? Was sind die Geschäftsziele des Unternehmens? Was bringt eine Wertschöpfung für beide Seiten? Was ist technisch machbar? Anhand dieser Erkenntnisse werden neue Lösungen konzipiert. Dabei ist es wichtig, dass in multidisziplinären Teams gearbeitet wird: Entwickler, Mitarbeitende verschiedener Fachbereiche und Designer erarbeiten gemeinsam die Basis der Lösung, um sich iterativ durch Beobachten, Verstehen, Reflektieren, Ideenentwicklung, Umsetzen und Testen der am besten passenden Lösung zu nähern. Kurz: Eine sich immer wiederholende Folge von Observe, Reflect und Make. Dieser iterative Ansatz, im Englischen schlicht „The Loop“ genannt, wurde zum Symbol des Enterprise Design Thinkings von IBM.7 Umfassende Informationen zu Enterprise Design Thinking sind auf der öffentlichen IBM-Website zu finden, siehe IBM (o. J. a).
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Um Design Thinking für komplexe Projekte mit großen, weltumspannenden Teams so skalierbar zu machen, dass die gewünschten Ergebnisse nach den Prinzipien des Design Thinkings schnell erzielt werden können, erweiterte IBM den bekannten Ansatz um die drei Schlüsselelemente Hills, Playbacks und Sponsor Users: • Hills sind Aussagen zum Mehrwert für den Nutzer. Über Hills wird für jeden Lösungs abschnitt ein am Nutzer ausgerichtetes Zielbild definiert, das dem Projektteam eine gemeinsame Richtung vorgibt. • Playbacks sind ein Präsentationsformat, das durch Storytelling dabei unterstützt, die gemeinsame Richtung beizubehalten und das gesamte Team und die Stakeholder auf den gleichen Stand zu bringen. • Sponsor Users sind reale Anwender, die in das Innovationsprojekt integriert werden und die dafür sorgen, dass im Sinne der Nutzer entschieden wird. Die erste Version von IBM Design Thinking wurde 2013 veröffentlicht. Dieser „Prototyp“ wurde mehrfach auf neue Anforderungen zugeschnitten. Das heutige Enterprise Design Thinking wurde 2018 lanciert.8 Um die Nachhaltigkeit der methodischen Neuausrichtung zu unterstützen, bedarf es neben Trainingsformaten für unterschiedliche Zielgruppen auch der Begleitung der Mitarbeitenden in der täglichen Arbeit. IBM hat dazu verschiedene Maßnahmen aufgesetzt, die nachfolgend kurz beschrieben werden. Enterprise Design Thinking Education „I’m a big believer that you don’t train people in design thinking. It’s a doing thing (…) A lot of it is common sense. But you put a framework, a language around it so you can scale out.“ sagte Phil Gilbert in einem Interview mit Meixler (2018) für Fortune. Das IBM-Designteam etablierte sogenannte Bootcamps, also mehrtägige Klassenraum- Schulungen mit Fokus auf praktischen Übungen, als zentrales Lernformat für Enterprise Design Thinking. Über dieses intensive Trainingsformat bekamen die Mitarbeitenden die Chance, die neue Denk- und Arbeitsweise mithilfe von geeigneten Praxisfällen persönlich zu erfahren und besser zu verinnerlichen. Fester Bestandteil jedes Enterprise-Design-Thinking-Trainings ist unter anderem das Feedback der Teilnehmer zum Kursformat, welches dem IBM-Designteam ermöglicht, aus den Trainingserfahrungen zu lernen und die Trainingsformate zu optimieren. So wurden die Bootcamps frühzeitig für unterschiedliche Zielgruppen differenziert. Um sicherzustellen, dass das höhere IBM-Management die Bedeutung der Designtransformation versteht, unterstützt und weiterträgt, wurde für sie ein eigenes, gekürztes Trainingsformat entwickelt. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die Teilnehmer zum Executive Die erste Version von 2013 basierte auf einem Wabenmodell, ähnlich wie die Version der d.school (o. J.). Später wurde das Wabenmodell durch den Loop abgelöst, um das iterative Vorgehen in den Fokus zu stellen. Mit der heutigen Version wurde unter anderem der Name Enterprise Design Thinking eingeführt.
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Sponsor – einem sogenannten Advocate – für die Design-Thinking-Aktivitäten ihrer Teams werden. Neben den Klassenraum-Trainings wurde die sogenannte Enterprise Design Thinking University als digitale Lernplattform9 aufgesetzt. Die Lernplattform ist zentrales Element zur Skalierung auf Unternehmensebene und über das Unternehmen IBM hinaus. Sie steht nicht nur IBM-Mitarbeitenden zur Verfügung, sondern auch externen Interessierten. Über die Lernplattform können sie sich unter anderem thematisch informieren oder einen ca. vierstündigen Online-Einführungskurs absolvieren. Die Enterprise Design Thinking University beinhaltet darüber hinaus ein Akkreditierungsprogramm für digitale Badges. Enterprise Design Thinking Badging In den letzten Jahren sind digitale Badging-Systeme zu einem ernstzunehmenden Konzept geworden, mit dem Lernende sich ein Portfolio aufbauen und Wissen und Fähigkeiten sowohl für den akademischen als auch für den beruflichen Bereich darstellen können. Die plattformübergreifende Darstellung ermöglicht, dass Mitarbeitende ihre Zertifizierungen mitnehmen können, wenn sie ein Unternehmen verlassen.10 IBM verwendet seit einigen Jahren digitale Badges, die die erworbenen Fähigkeiten der Mitarbeitenden aus unterschiedlichen Trainingsformaten repräsentieren. Die Badges werden auf der Acclaim-Plattform11 verwaltet und können nach Erwerb auch auf jobrelevanten sozialen Netzwerken wie LinkedIn veröffentlicht werden. Auch für Enterprise Design Thinking wurden mehrere Badgestufen konzipiert, von der Eingangsstufe Practitioner bis zum Leader,12 siehe auch Abb. 9.3. • Ein Enterprise Design Thinking Practitioner erkennt den Mehrwert einer nutzerzen trierten Vorgehensweise. Ein Practitioner nimmt an Enterprise-Design-Thinking- Übungen teil und teilt seine Erfahrungen mit anderen. • Ein Enterprise Design Thinking Co-Creator kennt die Bedürfnisse der Nutzer und erschafft gemeinsam mit dem Team innovative Mehrwerte für sie. Ein Co-Creator visualisiert und präsentiert seine Erkenntnisse und Ideen vor unterschiedlichen Stakeholdern. • Ein Enterprise Design Thinking Coach konzipiert und leitet Design-Thinking-Akti vitäten und hilft bei der nutzerzentrierten Entscheidungsfindung. Ein Coach bildet Teammitglieder methodisch aus und hilft ihnen bei der persönlichen Weiterentwicklung. • Ein Enterprise Design Thinking Advocate setzt Design-Thinking-Initiativen für seine Organisation auf und stellt deren Umsetzung sicher. Ein Advocate überzeugt andere Stakeholder und Mitarbeitende in seiner Organisation vom Mehrwert von Design Thinking und kommuniziert die erzielten Erfolge. https://www.ibm.com/design/thinking/. Vgl. die umfassende Einordnung bei Muilenburg und Berge (2016). 11 Siehe https://www.youracclaim.com/. 12 Nähere Informationen sind unter https://www.ibm.com/design/thinking/page/badges/core-skills zu finden. 9
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Abb. 9.3 Enterprise Design Thinking Badges. (Quelle: © IBM)
• Ein Enterprise Design Thinking Leader hilft Teams auf strategischer Ebene, nutzerzentrierter zu arbeiten. Ein Leader erschafft den Rahmen zum Aufbau einer DesignThinking-Kultur im Unternehmen und entwickelt Programme zum Auf- und Ausbau der Design-Thinking-Fähigkeiten der Mitarbeitenden. Für jede Stufe wurde sowohl ein Trainingscurriculum als auch ein Zertifizierungsprozess ausgearbeitet. Die Badges sind für IBM ein wichtiges Instrument, um die Enterprise- Design-Thinking-Kenntnisse der Mitarbeitenden quantitativ und qualitativ zu messen. Enterprise Design Thinking Chapter Die Pflege und Weiterentwicklung der Enterprise-Design-Thinking-Kenntnisse ist über lokale Chapterarbeit organisiert. Ein Enterprise Design Thinking Chapter ist eine Arbeitsgemeinschaft interessierter Design Thinker. Chapter sind zumeist lokal aufgesetzt – z. B. leiten die Autorinnen zusammen das Enterprise Design Thinking Chapter in Hamburg – darüber hinaus gibt es virtuelle Chapter für Mitarbeitende ohne eigenes, lokales Chapter am Standort. Die Chapter treffen sich regelmäßig zum Erfahrungsaustausch, zur Klärung von Fragestellungen für den praktischen Einsatz im Projekt und zur fachlichen Weiterentwicklung. Mitarbeitende, die eine höhere Badgestufe anstreben, werden im Chapter durch fachliche Mentoren bei ihrer persönlichen Weiterentwicklung begleitet.
9.2.3.2 IBM-Design-Sprache und -System Neben einer einheitlichen, menschenzentrierten Vorgehensweise für alle Produkte und Services war es wichtig, auch die Designsprache des Unternehmens zu vereinheitlichen.13
13 Die Philosophie der neuen IBM-Designsprache und weitere Informationen sind auf der IBM-Website zu finden, siehe IBM (o. J. e).
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Design mit Fokus auf Nutzererfahrung bedeutet, sich nicht nur auf ein einziges Produkt zu konzentrieren, wie z. B. Software, Event Branding oder Corporate Websites. Stattdessen muss das gesamte End-to-End-Erlebnis für alle Berührungspunkte und Interaktionen der Kunden berücksichtigt werden, vom Gespräch mit Kundendienstmitarbeitenden bis hin zur Nutzung einer mobilen App. Dabei lag die Kunst in der Formel „Unity not uniformity“ (IBM 2014), also Einheitlichkeit, aber keine Vereinheitlichung. IBM sollte mit seiner neuen Designsprache auf allen Ebenen wiedererkannt werden können. Die ausgewählte Farbskala ging wieder zurück zu den Wurzeln von Big Blue – Blau, Schwarz, Weiß und Grau waren das dominierende Farbspektrum. Mike Abbink, Distinguished Designer bei IBM, entwickelte mit seinem Team von IBM Brand & Experience einen eigenen IBM Font: die IBM Plex™ (IBM o. J. b). Die Plex ist eine internationale Schriftfamilie, die den Markengeist und die Geschichte von IBM festhalten und die einzigartige Beziehung zwischen Mensch und Maschine veranschaulichen soll. Dabei bewegt sich der neue Font typografisch auf hohem Niveau und genießt die Anerkennung renommierter Schriftdesigner wie Erik Spiekermann14 sowie die offizielle Anerkennung des Type Directors Club für Schriftdesign (tdc o. J.). Mit der neuen Hausschrift verfolgt IBM zwei Ziele. Zum einen entfallen mit der Umstellung weltweit die Lizenzgebühren der bisher eingesetzten neuen Helvetica, zum anderen setzt das Unternehmen ein klares Zeichen in Richtung offener Technologien. Die Plex ist eine Open-Source-Schrift, die frei heruntergeladen und genutzt werden kann. Entsprechend dieser Philosophie wurde auch das neue Open-Source-Design-System der IBM „Carbon“ entwickelt (vgl. IBM o. J. c). Carbon ist ein umfangreicher Baukasten für das Design von Web- und Mobile-Anwendungen. Auf Basis der IBM-Designsprache besteht das System aus funktionierendem Code, Design-Tools und -Ressourcen, Richtlinien für die Benutzeroberfläche und einer lebendigen Gemeinschaft von Beitragenden. Auch dieses System steht allen Internetnutzern frei zur Verfügung. Damit hat IBM ein Designsystem erstellt, das sich auf der gleichen Ebene wie die Designsysteme von Technologiefirmen wie Google mit Material Design und Apple mit seiner Apple Design Language bewegt.
9.2.4 Erfolgskriterien Um den Erfolg des IBM-Designprogramms zu messen, wurden unterschiedliche Leistungsindikatoren verwendet. In den ersten Jahren standen quantitative Messgrößen im Vordergrund, wie z. B.
Nachzulesen z. B. in den Twitter-Nachrichten von @espiekermann vom 15. März 2018.
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• • • •
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die Anzahl eingestellten Designer, das Verhältnis der Anzahl Designer zu Entwicklern, die Anzahl der IBM Studios weltweit und die Anzahl der aktivierten Design Thinker, gemessen z. B. am Badgelevel.
Zudem wurde Feedback der Mitarbeitenden und Kunden ausgewertet – qualitativ sowie über den sogenannten Net Promoter Score (NPS) – und in die kontinuierliche Programmoptimierung einbezogen. Wirtschaftlicher Erfolg Implizit wurde davon ausgegangen, dass sich über ein Mehr an Designern und Design Thinkern im Unternehmen die Produkt- und Servicequalität automatisch erhöhen und damit einhergehend auch die Geschäftsergebnisse positiv entwickeln würden. Mehrere Studien verifizieren mittlerweile diesen Grundgedanken: Eine aktuelle Studie von McKinsey (vgl. Sheppard et al. 2018), die 300 Unternehmen weltweit untersuchte, bestätigt, dass die Designstärke eines Unternehmens sich positiv auf dessen finanzielle Ergebnisse auswirkt. Der wirtschaftliche Erfolg von Enterprise Design Thinking wurde von Forrester (2018) wissenschaftlich untersucht. Die wichtigsten Erkenntnisse lassen sich wie folgt zusammenfassen: • Durch den Einsatz von Enterprise Design Thinking kann das Projektrisiko reduziert und die Portfolio-Profitabilität erhöht werden. • Beim Einsatz von Enterprise Design Thinking kann die Entwicklungszeit um rund 33 % reduziert werden, die Design- und Spezifikationsphase um 75 %. Damit einhergehend kann die Zeit für die Markteinführung insgesamt halbiert werden. • Der Return on Investment (ROI) kann beim Einsatz von Enterprise Design Thinking im Vergleich zu Projekten mit anderem Vorgehensmodell über drei Jahre um ca. 300 % gesteigert werden. • Als qualitativer Nutzen wurden von vielen der untersuchten Unternehmen zudem interne Prozessverbesserungen und motiviertere Teams genannt. Phil Gilbert sagte in einem Interview mit Fortune (vgl. Meixler 2018), diese Ergebnisse zeigten, dass Designprinzipien zu effizienteren und schnelleren Ergebnissen führten, die besser auf den Markt kämen und die Mitarbeitenden glücklicher und engagierter machten. Außenwirkung Die Maßnahmen, die IBM im Rahmen der Designtransformation ergreift, wirken auch nach außen. Ihre hohe Bedeutung innerhalb der Design Community zeigt z. B. die Erwähnung im Design in Tech Report von Maeda (2018, S. 15). In Abb. 9.4 werden Meilensteine für die Evolution von Design in Unternehmen über die letzten Jahrzehnte dargestellt – IBM wird mehrfach erwähnt.
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Abb. 9.4 The Evolution of Design in the Enterprise. (Quelle: In Anlehnung an Maeda 2018, S. 15)
Nachhaltigkeit Das IBM-Designprogramm wurde mit langfristiger Perspektive aufgesetzt, um eine nachhaltige Veränderung bewirken zu können. Die Finanzierung erfolgte jedoch im jährlichen Rhythmus. Das Team arbeitet agil, setzt mit jedem Budget-Zyklus neue Prioritäten und passt sich organisatorisch an. Was sich als nicht brauchbar erwies, wurde eingestellt, neue Themen wurden hinzugenommen. Das IBM-Designprogramm ist in dem Sinne – dem Design-Thinking-Ansatz folgend – ein Prototyp, der kontinuierlich auf Basis neuer Erkenntnisse angepasst wird. Von vornherein war geplant, das IBM-Designprogramm langfristig nicht als zentrales Innovations Hub zu betreiben, sondern mehr und mehr Aufgaben dezentral in die Studios und Geschäftsbereiche zu verlagern. Nach einer größeren Umstrukturierung im Jahr 2017 wurde das IBM-Designteam umbenannt in Design Program Office. Die ca. 60
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Mitarbeitenden im Design Program Office treiben derzeit neben der Weiterentwicklung der Practices vor allem die Themen Design für künstliche Intelligenz, Karriereentwicklung für Designer, Barrierefreiheit15 und die Zusammenarbeit mit Universitäten für IBM voran.
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Skalierung
„It’s all about setting up the initial conditions to let people find themselves in it and to make it something that they wanted. And by doing that, the culture spreads on its own.“ Adam Cutler, IBM Distinguished Designer
Zum Start des IBM-Designprogramms war klar, dass das Vorhaben sehr schnell skalieren musste, um ausreichenden Einfluss in einem Konzern wie IBM zu bekommen. Die Option, mit einem kleinen Team bis zur Perfektion an Strukturen, Qualitätskriterien, Skills und Methoden zu arbeiten, um diese anschließend geplant auszurollen, kam deshalb nicht in Frage. Es wurde vielmehr darauf fokussiert, exzellente Design Leader einzustellen und darauf zu vertrauen, dass diese Leute durch ihren persönlichen Anspruch, ihre Erfahrung und ihre Führungskompetenzen IBM Design schnell zu einem einflussreichen Faktor in der gesamten Produktentwicklung führen würden.16 Die interne Produktentwicklung stand von Beginn an im Mittelpunkt der Designtransformation. Die Herausforderungen im Softwareportfolio der IBM anzugehen, hatte höchste Priorität, gleichzeitig sollte auch die Transformation der Hardwaresparte angegangen werden. Im ersten Schritt wurde dazu das Hallmark-Programm17 aufgesetzt. Ziel des Hallmark- Programms war es, innerhalb von drei Jahren insgesamt 100 Projekte aus der Produktentwicklung zu betreuen. Zwei der ersten und bedeutendsten Innovationen, die auf Basis der neuen Vorgehensweise erarbeitet wurden, waren IBM Bluemix18 – heute IBM Cloud – und IBM Verse, eine Cloud-basierte E-Mail-Lösung für Unternehmen. Ein Produktteam besteht in der Regel aus 50 bis 100 Mitarbeitenden, die – zumeist verteilt über den Globus – zusammenarbeiten. Ausgewählt wurden zunächst ausschließlich Projekte mit unmittelbarer Marktrelevanz. Projektteams bekamen die Chance, sich freiwillig
15 Barrierefreiheit bedeutet in diesem Kontext, (digitale) Produkte und Services so zu gestalten, dass die Nutzung auch für Personen mit körperlichen Einschränkungen (z. B. Rot-Grün-Schwäche, Gehörlos usw.) uneingeschränkt möglich ist. 16 Das Vorhaben und seine Größenordnung in dem globalen Unternehmen IBM machten es für externe Designleader attraktiv, zu IBM an Bord zu kommen. 17 Vormals „Signature Projects Program“. 18 Über dieses Platform-as-a-Service-Modell können Entwickler auf eine Vielzahl von Cloud-Services zugreifen, um mobile Apps und Webanwendungen zu entwickeln.
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am Programm zu beteiligen. Wie das Zitat von Adam Cutler zeigt, ging man davon aus, dass mit dem Erfolg auch das Interesse bzw. die Nachfrage steigt. In die Hallmark-Projekte wurden Designer integriert, die Teams bekamen geeignete Räumlichkeiten (Studios) für ihre Arbeit zur Verfügung gestellt sowie ein mehrtägiges Enterprise Design Thinking Bootcamp. Dem Hallmark-Programm kommt eine Schlüsselrolle innerhalb der Designtransformation der IBM zu. Es war eines der zentralen Elemente, um das IBM-Designprogramm innerhalb der IBM bekannt zu machen und voranzutreiben. Mit der Etablierung von Designmanagementstrukturen in allen Geschäftsbereichen der IBM konnte das Hallmark-Programm mittlerweile erfolgreich abgeschlossen werden. Nachdem es sich im Produktbereich etabliert hatte, wurde das IBM-Designprogramm 2014 auf weitere Geschäftsbereiche ausgerollt. Für ausgewählte Geschäftsbereiche wird dies nachfolgend beschrieben.
9.3.1 Human Resources (HR) Nach ersten sichtbaren Erfolgen der Designtransformation in Bereichen mit Kundenkontakt gab es auch in der zentralen Personalabteilung erste Überlegungen zum Einbeziehen von Design Thinking in die Personalarbeit.19 In Zusammenarbeit mit dem IBM-Designteam wurde zunächst die Career Conversation Experience, d. h. die Karrieregespräche bzw. die Karriereplanung der IBMer wurden nutzerzentriert völlig neugestaltet. Um die Bedürfnisse von Mitarbeitenden und Management zu identifizieren, wurden Interviews durchgeführt, außerdem wirkten einige Führungskräfte und Mitarbeitende als Sponsor User im Projekt mit. Zentrales Element der neuen Career Conversation Experience ist der regelmäßige, quartalsweise Austausch zwischen Mitarbeitenden und direkten Führungskräften im Gegensatz zu den vorher üblichen einmaligen Jahresgesprächen. Eine weitere wichtige Veränderung ist der Coaching-Ansatz: Alle Führungskräfte wurden in Coachingtechniken geschult – sie agieren nun als Career Coaches, um ihre Mitarbeitenden bestmöglich betreuen und weiterentwickeln zu können. Dabei werden alle Beteiligten durch aktuelle, gut aufbereitete Informationen im Intranet unterstützt. Aufgrund des Erfolgs dieser ersten Schritte und der umfassenden weiteren Gestaltungsaufgaben wurde 2017 das Employee Experience Team innerhalb der zentralen Personalabteilung geschaffen. Das Team, das vorwiegend aus Designern besteht, ist dafür zuständig, die HR-Mitarbeitenden methodisch in Enterprise Design Thinking zu schulen sowie ihnen zu helfen, neue nutzerzentrierte Personal-Services und -Produkte zu kreieren. So wurden beispielsweise die Onboarding Experience und die Manager Experience unternehmensweit nutzerzentriert neugestaltet.
Vgl. für den gesamten Abschnitt z. B. den Artikel auf Medium von IBM (2019).
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9.3.2 CIO Office „Every minute spent struggling with an IT system is a minute of time not spent on delivering value for IBM and our clients.“ Fletcher Previn CIO, IBM
Im Zuge der Designtransformation hat sich auch der zentrale IT-Bereich der IBM stark verändert. Mit Fletcher Previn ist 2017 erstmals ein Designer zum globalen Chief Information Officer (CIO) ernannt worden. Er hatte zuvor die CIO-Designorganisation aufgebaut, deren Mission lautet „Make work better’“ d. h. die IT-technischen Rahmenbedingungen für IBMer so zu gestalten, dass die IBMer bei der Erledigung ihrer Aufgaben bestmöglich unterstützt werden. Das Zitat von Fletcher Previn unterstreicht die hohe unternehmensweite Bedeutung dieser Mission. Etwa die Hälfte der CIO-Design-Initiativen sind Langzeitprojekte, wie etwa Mac@ IBM und [email protected] Diese auf Simplizität ausgelegten Tools helfen IBMern dabei, mit ihrer täglichen IT-Umgebung gut zurechtzukommen. Unterstützt werden hier z. B. das automatisierte Aufsetzen eines Macs als Arbeitsrechner sowie die Installation benötigter Softwaretools und Hilfe bei Problemen. Auch das interaktive Mitarbeitendenverzeichnis „Blue Pages“ wurde vom CIO- Designteam grundlegend überarbeitet. Das Team setzt hier vor allem auf das Einbeziehen von Sponsor Users – hier: IBMern aus anderen Abteilungen oder Bereichen – und die Durchführung von qualitativem Research, um eine hohe Qualität der Projektergebnisse sicherzustellen. Der Erfolg des CIO-Designteams wird z. B. anhand des Mitarbeitenden-Feedbacks, über Nutzerraten und Usability Surveys gemessen. „We’re not saving lives with the work we do. But we are taking friction out of user interactions all day long, which helps people have better experiences at work and maybe even better experiences outside of work, at home or with their families.“ Kristin Wisnewski, Vice President, CIO Design
9.3.3 IBM Global Business Services & IBM iX IBM Global Business Services (GBS) ist die Dienstleistungs- und Consultingsparte der IBM, die Strategie- und Innovationsberatung zu digitalen Geschäftsmodellen, KI-basierte Prozesstransformation bis hin zu Cloud-Lösungen anbietet.
20 Help@IBM bietet IBMern kanalübergreifend Hilfestellung zu allen Fragen rund um die beruflich von ihnen genutzte Hardware und Software – früher klassischerweise IT-Support genannt.
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GBS hatte mit IBM Interactive Experience 2014 zwar eine Einheit, die sich dem nutzerzentrierten Design von Anwendungen widmete, allerdings hatte diese Einheit wenig Durchschlagskraft auf den Rest von GBS. Der Wandel in diesem Geschäftsbereich wurde sehr stark durch externe Impulse und Akquisitionen von Digitalagenturen wie Resource Amirati, Aperto oder ecx.io beflügelt: Aufgrund der starken Veränderung im Markt – bezogen auf die Nachfrage nach neuen, agilen Arbeitsweisen und einen stärkeren Fokus auf das Nutzererlebnis – wurde die Designfokussierung auch bei GBS adaptiert. Inzwischen ist die Digitalagentur IBM iX – als Nachfolgeorganisation von IBM Interactive Experience – mit weltweit ca. 17.000 Mitarbeitenden und dem Slogan „We do Business by Design“ – führender Treiber in der Transformation von IBM GBS. Die menschenzentrierte Vorgehensweise gepaart mit Kompetenzen in Research, Geschäftsmodellierung, User Experience und Interface Design sowie die Implementierungskompetenz machen das IBM-iX-Team zu einem führenden Akteur im digitalen Designgeschäft. Durch die unmittelbare Nähe zum IBM-Designprogramm und die persönliche Erfahrung im eigenen Unternehmen konnte ein Framework entwickelt werden, mit dem auch anderen großen Unternehmen beim Wandel zu einer designorientierten Organisation geholfen wird: das Design Adoption Framework. Design Adoption ist ein Framework zur unternehmensweiten und skalierbaren Einführung der Praxis des Enterprise Design Thinkings in großem Maßstab. Die Umsetzung dieses Frameworks gliedert sich grob in drei Punkte: • Strategie Die Entwicklung eines Betriebsmodells, das die Stärken des Unternehmens in Kombi nation mit den Best Practices der IBM Designorganisation optimal bündelt. • Aktivierung Hier werden im Unternehmen praktische Erfahrungen gesammelt und Mitarbeiter, Teams und Führungskräfte in Enterprise Design Thinking ausgebildet und zertifiziert. • Umsetzung Identifizierung und Durchführung wichtiger Pilotprojekte zur Etablierung der neuen Designpraktiken und gleichzeitiger Erreichung realer Geschäftsergebnisse. Für eine große nordamerikanische Bank läuft beispielsweise das Programm zur Einführung einer durchdringenden Designkultur bereits seit 2016. Im Zeitraum von zwei Kalenderjahren wurden hier über 1000 Mitarbeiter in Enterprise Design Thinking ausgebildet, mehr als 17 Geschäftsbereiche involviert, mehr als zehn innovative Projekte angestoßen und umgesetzt sowie über 40 auf User Experience spezialisierte Designer aktiviert und eingestellt. Ähnliche Projekte wurden weltweit in Unternehmen verschiedener Branchen und unterschiedlicher Größe umgesetzt. Ein Beispiel aus dem deutschen Markt enthält der Beitrag von Dr. Jens Heuer in diesem Buch.
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9.4
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Fazit
9.4.1 Was haben wir erreicht? Nach mittlerweile sieben Jahren ist die Designtransformation der IBM nicht abgeschlossen, aber die großen Weichen wurden gestellt und viele Meilensteine erreicht. IBM hat ein starkes Senior-Design-Leadership-Team etabliert, das Stand Juni 2019 weltweit aus zwölf Distinguished Designern und über 40 Design Principals besteht. Charlie Hill wurde 2018 zum ersten IBM Fellow21 mit Designhintergrund ernannt. Das IBM-Studionetzwerk umfasst mehr als 50 Design-Studios rund um den Globus, in 37 Städten und 22 Ländern. Über 100 IBM-Produkte wurden durch das Hallmark- Programm nutzerzentriert erschaffen oder optimiert. Enterprise Design Thinking ist bei IBM der unternehmensweite Standard in der Zusammenarbeit interdisziplinärer Teams. Weit über 1000 Beratungsprojekte wurden bereits mit Enterprise Design Thinking unterstützt, davon mehr als 100 Beratungsprojekte in deutscher Sprache. Stand Juni 2019 gibt es weltweit über 160.000 Enterprise Design Thinking Practitioner und mehr als 500 Enterprise Design Thinking Coaches.22 Dass eine Designtransformation auch zu wirtschaftlichem Erfolg führt, wurde mittlerweile in mehreren Studien belegt (z. B. Sheppard et al. 2018; Forrester 2018) und bestärkt IBM, hier auf dem richtigen Weg zu sein.
9.4.2 Erfolgsfaktoren „It can’t be overstated how essential our executive support has been.“ Adam Cutler, IBM Distinguished Designer
Zum Gelingen der IBM Designtransformation trugen insbesondere folgende Erfolgsfaktoren bei: • Unterstützung durch die Unternehmensleitung Die Unterstützung durch das höhere Management und insbesondere die globale CEO und Präsidentin Ginni Rometty war und ist im Unternehmen und extern jederzeit deutlich sichtbar. Das mittlere Management zu überzeugen und mitzunehmen, war u. a. aufgrund des Volumens aufwändig, aber ebenfalls sehr wichtig für das Gelingen. IBM Fellow ist die höchste technische Auszeichnung, die man in der IBM erhalten kann. Zur Abgrenzung der Begrifflichkeiten vgl. Abschn. 9.2.3.1.
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A. Kruse-Schomaker und W. Huber-Saffer
• Design Leadership im Transformationsteam Die IBM-Designtransformation wurde von Beginn an in die Hände von Designern gegeben, die gleichzeitig über eine hohe Führungskompetenz verfügen. Das Einbeziehen von Designleadern zur Skalierung von Design im Unternehmen wird auch von Maeda (2018, S. 47) als wichtiger Erfolgsfaktor genannt. • Langfristige Perspektive Veränderungen in einem Unternehmen der Größenordnung von IBM brauchen ihre Zeit. Diese langfristige Perspektive wird z. B. beim Fokus auf die Talentlücke klar: Hier ist kurzfristig keine umfassende Lösung möglich. Wichtig ist, dass alle Beteiligten sich dessen bewusst sind und die entsprechende Ausdauer mitbringen. Inkrementelle Fortschritte wurden sichtbar gemacht und konnten den Transformationserfolg unterstützen. • Ganzheitliches Vorgehen Die Umsetzung von reinen Einzelmaßnahmen – z. B. nur Designer einzustellen oder nur Räumlichkeiten kreativ zu gestalten – hätte nicht den gewünschten Fortschritt gebracht. Erst das Zusammenspiel von People, Places und Practices als ganzheitliches Designtransformationsprogramm ermöglicht es IBM, eine nachhaltige Designkultur zu etablieren und damit den wirtschaftlichen Erfolg sicherzustellen. • Skalierbarkeit Alle Transformationsinitiativen wurden danach beurteilt, ob sie skalierbar sind und damit den nachhaltigen Erfolg für IBM und die Kunden unterstützen. • Agilität Das Setup des IBM-Designprogramms außerhalb der traditionellen Organisationsstrukturen ermöglichte es dem Team, so agil wie ein Start-up zu arbeiten, um sich flexibel und schnell an neue Bedürfnisse anzupassen.
9.4.3 Manöverkritik und Ausblick Aus der bisherigen Erfahrung lassen sich einige Themen erkennen, die für die Gestaltung der nächsten Schritte der Designtransformation von besonderer Bedeutung sein werden: • Der Wandel im Zuge einer Designtransformation umfasst das gesamte Unternehmen, nicht nur einzelne Bereiche. Um Veränderungen im Bewusstsein des gesamten Unter nehmens zu verankern, muss das Transformationsteam daher in der Konsequenz wirklich alle Mitarbeitenden ansprechen, trainieren, überzeugen und begleiten. Aufgrund der Unternehmensgröße ist dies für IBM weiterhin im Fokus. • Design soll alle Managementebenen durchdringen, insbesondere auch die höheren Managementebenen der IBM. Eine Studie von McKinsey (Sheppard et al. 2018) bestätigt die Bedeutung dieses Ziels: „(…) the companies with the best financial returns have combined design and business leadership through a bold, design-centric vision clearly embedded in the deliberations of their top teams.“ (Sheppard et al. 2018). IBM befindet sich hier auf einem guten Weg und setzt das Vorhaben weiter Schritt für Schritt um.
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• Von Anfang an sollte der Nutzer im Zentrum jeder Entscheidung stehen und alles sollte am Mehrwert für den Nutzer gemessen werden. Um die Beziehung zum Nutzer zu betonen, sollten Sponsor User nicht wie heute optional, sondern verpflichtend in Projekte einbezogen werden. • Oft wird Enterprise Design Thinking auf einen Workshop reduziert, statt Projekte im Sinne einer Arbeits- und Denkweise über die gesamte Laufzeit zu begleiten und zu prägen. Über eine Betreuung der Projekte durch ausgebildete Enterprise Design Thinking Coaches sollte sichergestellt werden, dass das Vorgehen passgenau so eingesetzt wird, dass der Fokus auf den Nutzer erhalten bleibt und damit eine hohe Ergebnisgüte befördert wird. Nutzer erwarten jeden Tag bessere Nutzererfahrungen. Eine designbasierte Kultur und Arbeitsweise erlaubt es Organisationen, in einem umkämpften Marktumfeld zu bestehen – durch Resultate, die begeistern. Die Erfahrung von IBM zeigt, dass eine Designtransformation in diesem Ausmaß möglich ist.
Handlungsempfehlungen
• Scheuen Sie sich nicht, eine nutzerzentrierte Arbeitsweise anzuwenden. Suchen Sie sich einen Anwendungsfall bzw. eine Problemstellung heraus, stellen Sie ein Team zusammen und lassen Sie Ihr Projekt von einem Design Thinking Coach begleiten. Der Design Thinking Coach hilft Ihnen, die Nutzerperspektive einzunehmen und lösungsorientiert greifbare Ergebnisse zu erzielen. • Egal, ob Sie verstärkt nutzerzentriert arbeiten möchten oder gleich eine umfassende Designtransformation in Ihrem Unternehmen planen: Nehmen Sie die Mitarbeitenden von Beginn an mit auf die Reise. Geben Sie ihnen die Freiräume, erste praktische Erfahrungen zu sammeln, und lassen Sie Erfolge sichtbar werden. • Setzen Sie eine Design-Transformation in Ihrem Unternehmen als strategische Initiative des Top-Managements auf und stellen Sie deren sichtbare Unter stützung sicher. • Lassen Sie sich durch ausgewiesene Experten (z. B. Designer mit Führungserfahrung, Methodencoaches oder Changemanager) begleiten. • Nutzerzentrierung ist immer die richtige Richtung. Gehen Sie Ihr Vorhaben agil und mit gesundem Pragmatismus an, getreu dem Motto: Einfach ausprobieren und bei Bedarf Kurs korrigieren! Observe – Reflect – Make
Literatur Dini, A. (2019). Ibm apre nel centro di Milano un laboratorio dell’innovazione. 19. Februar 2019. https://www.wired.it/economia/business/2019/02/19/ibm-studios-milano/?refresh_ce=. Zugegriffen am 24.06.2019. d.school (Hasso Plattner Institute of Design at Stanford). (o. J.). An introduction to design thinking – PROCESS GUIDE. https://dschool-old.stanford.edu/sandbox/groups/designresources/wiki/36873/ attachments/74b3d/ModeGuideBOOTCAMP2010L.pdf. Zugegriffen am 24.06.2019.
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A. Kruse-Schomaker und W. Huber-Saffer
Forrester. (2018). Forrester total economic impact™ study of IBM’s design thinking practice. (Fe bruar 2018). https://www.ibm.com/design/thinking/static/media/Enterprise-Design-Thinking-Report.8ab1e9e1.pdf. Zugegriffen am 20.06.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (2014). Unity not uniformity (12. Dezember 2014). https://dribbble.com/shots/1845081-Unity-not-uniformity. Zugegriffen am 27.06.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (2019). How a small design team made a big impact on employee experience. 26. April 2019. https://medium.com/enterprise-design-thinking/ employee-experience-design-a623a751f2ee. Zugegriffen am 20.06.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (o. J. a). Enterprise design thinking. https:// www.ibm.com/design/thinking/. Zugegriffen am 20.06.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (o. J. b). IBM Plex. https://www.ibm.com/plex/. Zugegriffen am 27.05.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (o. J. c). Carbon Design System. https://www. carbondesignsystem.com/. Zugegriffen am 27.06.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (o. J. d). Good design is good business. https:// www.ibm.com/ibm/history/ibm100/us/en/icons/gooddesign/. Zugegriffen am 05.06.2019. IBM (International Business Machines Corporation). (o. J. e). IBM design language. https://www. ibm.com/design/language/. Zugegriffen am 09.09.2019. Maeda, J. (2018). Design in tech report 2018. https://designintech.report/wp-content/uploads/2019/01/ dit2018as_pdf.pdf. Zugegriffen am 03.06.2019. Meixler, E. (2018). IBM is making its design thinking available to clients, says its design chief (7. März 2018). https://fortune.com/2018/03/07/ibm-enterprise-design-thinking/. Zugegriffen am 02.06.2019. Muilenburg, L. Y., & Berge, Z. L. (2016). Digital badges in education: Trends, issues, and cases. London: Routledge. O’Keefe, B. (2017). How IBM is training its workforce to think like designers (22. Dezember 2017). https://fortune.com/2017/12/22/ibm-design-thinking/. Zugegriffen am 02.06.2019. Sheppard, B., Sarrazin, H., Kouyoumjian, G., & Dore, F. (2018). The business value of design. https://www.mckinsey.com/business-functions/mckinsey-design/our-insights/the-business-value-of-design. Zugegriffen am 03.06.2019. tdc. (o. J.). 2018 Typeface design competition Judge’s choice: IBM Plex. http://archive.tdc.org/ news/2018-typeface-design-competition-judges-choice-ibm-plex/. Zugegriffen am 09.09.2019. Van Tyne, S. (2017). 2017 Designer to developer ratios trends (3. Dezember 2017). https://seanvantyne.com/2017/12/03/2017-designer-developer-ratios-trends/. Zugegriffen am 03.06.2019.
Antje Kruse-Schomaker ist studierte Designerin, gelernte Unternehmensberaterin und Teil des globalen IBM-Design-Leadership-Teams. Schon seit den frühen 1990er-Jahren beschäftigt sie das Zusammenspiel von Design, Technologie und (betriebs-)wirtschaftlichen Herausforderungen. 2015 gründete sie das Hamburger Studio von IBM iX, der globalen Digitalagentur der IBM, und leitet hier ein Team von über 50 Designern. An den neuen Karrierepfaden für Desi gner bei IBM hat Antje Kruse-Schomaker als Sponsor User mitgearbeitet. Sie arbeitet mit Kunden aus verschiedenen Branchen zusammen und leitet multidisziplinäre Teams bei der Entwicklung innovativer Lösungen. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach mit internationalen Designpreisen ausgezeichnet. Sie nutzt, facilitiert und unterrichtet seit 2014 Enterprise Design Thinking. Als Design Thinking Leader hilft sie Unternehmen dabei, ihre Organisation und Arbeitsweise nutzerzentriert zu transformieren.
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Wibke Huber-Saffer ist Diplom-Kauffrau und seit 1999 als Unternehmensberaterin bei der IBM Deutschland GmbH tätig. Sie ist Abteilungsleiterin in den IBM Studios Hamburg, die zu IBM iX gehören, einer der weltweit größten Digitalagenturen. Als Enterprise Design Thinking Coach begleitet sie ihre Kunden nutzerzentriert auf ihrem individuellen Weg durch digitale Transformationen. Sie liebt das Arbeiten in multidisziplinären Teams, weil es die Chance bietet, Herausforderungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu beleuchten und diese in ein gemeinsames Zielbild zu integrieren. Wibke Huber-Saffer ist außerdem Trainerin für IBMs strategische Lerninitiativen zu den Themenfeldern künstliche Intelligenz, digitale Transformation und agile Vorgehensweisen.
Die Interdependenz von Digitalisierung und Nachhaltigkeit als Chance der unternehmerischen Transformation
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Michael von Kutzschenbach
Inhaltsverzeichnis 10.1 A usgangssituation 10.2 Die Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit transformieren Gesellschaft und Wirtschaft 10.3 Wie Unternehmen den Wandel zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft mitgestalten können 10.3.1 Transformationen stellen Änderungen ganzer Systeme dar 10.3.2 Die besondere Dynamik von Transformationen 10.4 Aktive Gestaltung der digitalen Transformation durch einen offenen Such- und Lernprozess 10.5 Fallbeispiele für die aktive Gestaltung von digitalen Transformationen als offene Such- und Lernprozesse 10.5.1 Online-Plattform Madaster 10.5.2 VAUDE – nachhaltiger, innovativer Outdoor-Ausrüster 10.6 Fazit Literatur
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Schlüsselwörter
Nachhaltigkeit · Digitale Transformation · Such- und Lernprozess · Unternehmerisches Ökosystem · Unternehmensführung · Denkweise cc
Lesernutzen Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden die zwei großen
Veränderungsbeschleuniger der kommenden Jahre sein. In Anbetracht des Umfangs und der Geschwindigkeit, in der sich die Rahmenbedingungen für M. von Kutzschenbach (*) Institut für Unternehmensführung, Fachhochschule Nordwestschweiz, Basel, Schweiz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. H. Dahm, S. Thode (Hrsg.), Digitale Transformation in der Unternehmenspraxis, https://doi.org/10.1007/978-3-658-28557-9_10
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M. von Kutzschenbach
Unternehmen ändern, wird es in Zukunft nicht mehr ausreichen, dass Unternehmen im Rahmen der digitalen Transformation nur die Effizienz ihrer bestehenden Prozesse verbessern. Stattdessen müssen sie kontinuierlich hinterfragen, wie sie weiterhin für ihre Kunden Probleme lösen und gleichzeitig einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten können. Dies macht die aktive Gestaltung der digitalen Transformation als offenen Such- und Lernprozess notwendig. Eine zentrale Voraussetzung hierfür ist der Mut zur Zusammenarbeit mit verschiedensten Akteuren und Anspruchsgruppen sowie die Bereitschaft, mit Unsicherheit zu experimentieren. Erste Beispiele zeigen, wie Digitalisierung und Nachhaltigkeit für zukunftsfähige Geschäftsmodelle erfolgreich genutzt werden.
10.1 Ausgangssituation Jedes Unternehmen, das vor dem Aufkommen des Internets gegründet wurde, steht heute vor derselben Herausforderung: Wie lässt sich das bisherige Geschäftsmodell so trans formieren, dass das Unternehmen in einer „digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft“ (WBGU 2019) zukunftsfähig bleibt? Damit Unternehmen weiterhin zukunftsfähig bleiben, müssen sie sich fragen, ob ihre Produkte und Dienstleistungen in einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft weiterhin benötigt werden und ob ihr Geschäftsmodell unter den Gesichtspunkten der Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit überlebensfähig ist. Strategien zu entwickeln und notwendige Veränderungen und Innovationen einzuleiten, welche die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens sicherstellen, hat oberste Priorität. Eine zentrale Erkenntnis von Rogers (2017, S. 8) ist, dass es bei der digitalen Transformation nicht um Technologie geht, „sondern um Strategie und neue Denkweisen“. So stellt Rogers fest, dass bestehende Unternehmen gezwungen sind, ihre strategische Einstellung viel stärker zu hinterfragen und „umzurüsten“ als ihre IT-Infrastrukturen. Digitalisierung und Nachhaltigkeit zu verstehen und gemeinsam mit einer Vielzahl von Anspruchsgruppen Visionen und Strategie für ein erfolgreiches Geschäftsmodell zu entwickeln, sind somit die entscheidenden Impulse. Neben vielen Herausforderungen beinhaltet die Entwicklung zu einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft aber auch eine Vielzahl an Chancen für Unternehmen, ihre Zukunft aktiv zu gestalten. In einer Welt, in der sich Technologien und Kundenbedürfnisse rasch ändern, reicht es nicht mehr aus, wenn ein Unternehmen sich auf den Erfolg seines Geschäftsmodells beruft, mit dem es in der Vergangenheit erfolgreich war. Die Neigung, „weiter wie bisher“ zu wirtschaften, ist zwar weit verbreitet, sie ist aber nicht mehr erfolgversprechend. In Anbetracht des Umfangs und der Geschwindigkeit, in der sich die Rahmenbedingungen für wirtschaftliches Handeln verändern, wird es zukünftig nicht mehr ausreichen, dass Unternehmen die Effizienz ihrer bestehenden Geschäftsmodelle und -prozesse verbessern. Stattdessen müssen Unternehmen kontinuierlich hinterfragen, wie
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sie weiterhin für ihre Kunden am besten Probleme lösen und gleichzeitig einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten können (Hoffmann 2018). Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden die zwei großen Veränderungsbeschleuniger der kommenden Jahre sein und dazu führen, dass sich die Regeln für die Unternehmenswelt ändern. Somit ist digitale Transformation weit mehr als die Digitalisierung von bestehenden Prozessen in einem Unternehmen (Staudt 2019). Digitale Transformation bedeutet, dass Unternehmen ihre Unternehmensstrategie und Denkweise hinterfragen und ggf. neu ausrichten müssen. Dies hat zur Folge, dass zukunftsfähige Unternehmen digitale Technologien und Fähigkeiten sowie nachhaltigkeitsorientierte Praktiken in innovativen Geschäftsmodellen zusammenführen müssen, um den Herausforderungen und Chancen einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft gerecht zu werden. Technologie stellt hierbei nur einen „Enabler“ dar.
10.2 D ie Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit transformieren Gesellschaft und Wirtschaft Digitalisierung und Nachhaltigkeit stellen die zwei wesentlichen Megatrends der heutigen Zeit für die Wirtschaft dar. Beiden gemeinsam ist ihre transformative Wirkung auf Gesellschaft, Märkte und Unternehmen – also in Summe auf die Art und Weise wie wir arbeiten und leben. Dass sich unsere Erde in einem langfristig nicht nachhaltigen Zustand befindet, ist nicht neu. Als „nachhaltig“ wird eine Entwicklung bezeichnet, „die den Bedürfnissen der heutigen Generation entspricht, ohne die Möglichkeiten künftiger Generationen zu gefährden, ihre eigenen Bedürfnisse zu befriedigen und ihren Lebensstil zu wählen“ (Hauff 1987, S. 46; Originaldefinition in WCED 1987, S. 43). So ist eingetreten, was der „Club of Rome“ bereits 1972 in der Studie „Die Grenzen des Wachstums“ voraussagte. Damals schon warnten die beteiligten Wissenschaftler davor, dass die absoluten Wachstumsgrenzen der Erde im Laufe der nächsten Jahrzehnte erreicht werden, wenn die gegenwärtige Zunahme der Weltbevölkerung, der Industrialisierung, der Umweltverschmutzung, der Nahrungsmittelproduktion und der Ausbeutung von natürlichen Rohstoffen unverändert anhält (Meadows et al. 1972, 2009). Somit befinden sich Gesellschaft und Wirtschaft auf einem Kollisionskurs mit den Vorstellungen einer nachhaltigen Entwicklung. Bereits heute sind erste Auswirkungen wie Klimawandel und Biodiversitätsverlust auf der ökologischen Seite oder die Zunahme von Armut und Spannungen auf der sozialen Seite deutlich erkennbar. Um diesen Herausforderungen erfolgreich zu begegnen, wurde am 25. September 2015 beim UNO Nachhaltigkeitsgipfel der Staats- und Regierungschefs in New York ein Katalog mit 17 Nachhaltigkeitszielen („Sustainable Development Goals“, SDGs) verabschiedet (UN 2018). Leider ist festzustellen, dass die Weltgemeinschaft aktuell ungefähr drei Planeten bräuchte, würden alle Menschen so viel konsumieren, wie es die Menschen in Deutschland tun. Eine nachhaltige Entwicklung scheint damit in unerreichbare Ferne zu rücken. Die Auswirkungen dieser
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(Fehl-)Entwicklung werden von vielen Unternehmen bereits heute zunehmend als Risikofaktoren wahrgenommen. Ist diese (Fehl-)Entwicklung unumkehrbar? Kiron und Unruh (2018) erwarten, dass durch das Zusammenkommen der beiden Megatrends Digitalisierung und Nachhaltigkeit ein transformativer Wandel ausgelöst wird. Digitalisierung verändert schon heute für viele Menschen radikal die Art und Weise, wie sie arbeiten und leben – viele sprechen deshalb auch von einer „digitalen (R)Evolution“. Es entstehen neue, digitale Infrastrukturen, welche datenbasierte, automatisierte und KI-gesteuerte Prozesse und Dienstleistungen ermöglichen. Diese erlauben es, Produkte in Services und Software zu verwandeln, wodurch die dazugehörigen Fabriken und Maschinen verschwinden. Mitte der 1990er-Jahre traf die Digitalisierung zunächst nur informationsintensive Produkte wie Zeitungen, Bücher, Fotografien, Musikstücke und andere Medien. Heute dehnt sich die Digitalisierung zunehmend auch auf andere Bereiche aus. Vieles spricht dafür, dass die sich gerade entfaltenden digitalen Technologien und daraus resultierenden Innovationen Wirtschaft und Gesellschaft in Zukunft noch tiefgreifender verändern werden: So wird das „Internet der Dinge“ zunehmend die analoge mit der digitalen Welt verbinden, Plattformen werden verstärkt den Austausch von Gütern, Informationen und Dienstleistungen regeln, und mithilfe von künstlicher Intelligenz (KI) und Algorithmen werden analysierte Daten als Treibstoff für innovative, digitale Geschäftsmodelle zur Verfügung gestellt. Es kann davon ausgegangen werden, dass alles, was digitalisiert werden kann, auch digitalisiert wird. Diese Entwicklung führt dazu, dass die „Software die Welt verspeist“ (Andreessen 2011). Hierbei werden physische Produkte zunehmend durch digitale Lösungen ersetzt. Diese Entwicklung beschreiben Kreutzer und Land (2015) mit dem Begriff der Dematerialisierung. Die Reduktion von Stoffkreisläufen durch Dematerialisierung (von analog zu digital) geht jedoch noch weiter: Werden z. B. zukünftig alle Autos elektronisch betrieben und über Apps statt mit einem Schlüssel geöffnet, verschwinden die traditionellen Tankstellen sowie die für die Schlüsselherstellung notwendigen Fabriken und Maschinen. Die Entwicklung verläuft oft disruptiv und hat tiefgreifende Veränderungen zur Folge, d. h., Innovationen brechen die Entwicklungslinien auf, verändern die Spielregeln und ersetzen bestehende Geschäftsmodelle und Wertschöpfungsketten. In vielen Branchen ist dies bereits geschehen. Diese Effekte werden durch den Trend zur Sharing oder auch Commons Economy, in der das Teilen und gemeinsame Benutzen höher bewertet werden als Besitzen, noch verstärkt. Experten sprechen in diesem Zusammenhang von einem Paradigmenwechsel zur Informationsökonomie. Boes und Kollegen betonen, dass „[d]ie Etablierung eines weltweiten Informationsraums […] zu einem grundlegenden Wandel der Dienstleistungswirtschaft insgesamt [führt]. Unternehmen aus den verschiedensten Bereichen stehen vor der Herausforderung, ihre Geschäftsmodelle mit Blick auf den Informationsraum neu aufzustellen und innovative Dienstleistungen zu entwickeln“ (Boes et al. 2013, S. 54). Durch die Entwicklung und Anwendung innovativer digitaler Technologien und den damit einhergehenden Wandel zu einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft geraten
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etablierte Strukturen, Denkmuster und Routinen in Unternehmen und ihren Wertschöpfungsnetzwerken unter Veränderungsdruck. Angesichts der Tragweite und des Einflusses, den diese Entwicklung auf das Management von Unternehmen hat, gilt es, die bestehenden Strategien und Denkweisen zu hinterfragen. Gesellschaft und Märkte werden sich aller Voraussicht nach viel drastischer verändern, als viele Führungskräfte dies heute für vorstellbar halten. Um die Zukunftsfähigkeit der Unternehmen sicherzustellen, muss die Zusammenführung von digitalen Fähigkeiten und nachhaltigen Praktiken an der Spitze des strategischen Denkens von Unternehmen stehen. Aber auch strategisches Management muss sich den Gegebenheiten entsprechend verändern. Digitalisierung ist also nicht nur ein Enabler für Nachhaltigkeit, sondern Nachhaltigkeit ist insbesondere der Enabler für eine gelingende zukunftsfähige Digitalisierung. Mit Blick auf die digitale Transformation von Unternehmen gilt es, die Möglichkeiten und Herausforderungen einer wirtschaftlich, sozial und ökologisch tragfähigen Digitalisierung im Rahmen des strategischen Managements zu eruieren und gezielt zu gestalten und zu nutzen.
10.3 W ie Unternehmen den Wandel zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft mitgestalten können Von Transformationen wird im Allgemeinen dann gesprochen, wenn Veränderungen im Wertekanon, in den sozialen Praktiken und/oder in der Nutzung von Technologien inei nandergreifen und sich wechselseitig verstärken. Diese Entwicklungen verdichten sich oft im Laufe der Zeit und können zu weitreichenden, oft unumkehrbaren Änderungen der gesellschaftlichen Ordnung und wirtschaftlichen Spielregeln führen. Normalerweise führen Transformationen dazu, dass gesellschaftliche Bedürfnisse anders als zuvor erfüllt werden. So führt die Informatisierung der Gesellschaft mit ihrer Schaffung eines weltweiten Informationsraums zu neuen Formen der Produktion und zu neuen Dienstleistungen. Die hiermit verbundenen sozialen und ökologischen Herausforderungen und Chancen treiben ihrerseits wiederum die Transformation an. So geht es bei der digitalen Transformation von Unternehmen nicht um die Frage, ob ein Prozess in einem Unternehmen automatisiert werden kann, sondern darum, ob das aktuelle Geschäftsmodell unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung zu einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft überhaupt noch Bestand hat – oder wie Unternehmen ihr Geschäftsmodell umbauen müssen, um weiterhin zukunftsfähig zu belieben. Damit Unternehmen die Transformation zu einer digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft aktiv mitgestalten können, ist es wichtig, zwei zentrale Eigenschaften von Transformationen zu verstehen: . Transformationen stellen Änderungen ganzer Systeme dar und 1 2. weisen eine besondere Dynamik auf.
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10.3.1 Transformationen stellen Änderungen ganzer Systeme dar Transformationen finden in Bereichen statt, die sich als Systeme verstehen. „Ein System ist eine Menge von miteinander verknüpften Einzelteilen, deren Zusammenspiel so organisiert ist, dass damit etwas Bestimmtes erreicht wird“ (Meadows 2010, S. 26). Digitale Transformation führt zu Veränderungen innerhalb von sozio-technischen Systemen. Moore (2006) spricht auch von unternehmerischen Ökosystemen, die sich herausbilden bzw. verändern. Innerhalb des betrachteten Systems hängen unterschiedliche Einzelteile (auch Systemelemente genannt) miteinander zusammen und beeinflussen sich wechselseitig. Gleichzeitig existieren innerhalb eines Systems unterschiedliche Sub-Systeme. So sind die technischen Systeme in ein soziales System (Unternehmen und Gesellschaft) eingebettet, welches wiederum in ein ökologisches System (Umwelt) integriert ist, dessen Ressourcen und Ökosystemleistungen (Input) sie nutzen und welches es mit Abfällen und Immissionen (Output) belastet und von dessen Dynamiken es beeinflusst wird (siehe Abb. 10.1). Digitale Transformation kann somit nur bedingt auf der Prozessebene (technisches System) betrachtet werden. Eine digitale Transformation stellt immer auch einen Wandel des gesamten sozialen Systems dar (Unternehmen und Gesellschaft) und beinhaltet Rückkopplungen mit dem ökologischen System und unserer Umwelt. Die Veränderung eines „einzelnen“ Elementes (die Digitalisierung eines Prozesses) hat somit immer auch Auswirkungen auf das Gesamtsystem. So ist es z. B. mithilfe digitaler Technologien auf der einen Seite möglich, selbstfahrende Autos zu entwickeln, auf der anderen Seite verändern diese aber auch radikal die Autoindustrie (Entstehung neuer Unternehmen, z. B. Tesla) und Gesellschaft (Kunden möchten per App Autos buchen und Zugang zum Auto erhalten) sowie die Auswirkungen von Mobilität auf unsere Umwelt (im besten Fall wird in Zukunft das einzelne Auto intensiver genutzt und über erneuerbare Energie angetrieben). Unternehmen müssen deswegen verstehen, was die Transformation zu einer digitalisierten Abb. 10.1 Einbettung des technischen und sozialen Sub-Systems in das ökologische System
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Nachhaltigkeitsgesellschaft für ihr eigenes aktuelles Geschäftsmodell bedeutet und wie sie die digitale Transformation ihres Unternehmens erfolgreich managen. Die meisten Unternehmen versuchen bisher nur, die Effizienz ihrer bestehenden Prozesse im Rahmen der Digitalisierung zu optimieren und hierbei geltendes Recht einzuhalten und ggf. ihre Umweltleistung zu verbessern, indem sie ihre Produkte mit Nachhaltigkeitskriterien ausstatten. Digitalisierung und Nachhaltigkeit werden hierbei getrennt und oft auch als gegensätzlich gedacht. Zukünftig gilt es jedoch, die Wertschöpfung von Informationen her zu denken und zu ermessen, welchen Mehrwert das hieraus resultierende (digitale) Geschäftsmodell zur Nachhaltigkeit beiträgt.
10.3.2 Die besondere Dynamik von Transformationen Der idealtypische Transformationsprozess kann in drei Phasen unterschieden werden und wird als Übergang von einem stabilen Systemzustand zu einem anderen Gleichgewicht verstanden (siehe Abb. 10.2). Ausgangspunkt für den transformativen Wandel sind sogenannte Nischen, die als zunächst begrenzte Anwendungsdomänen und Innovationen vorteilhafte Rahmenbedingungen für die Entwicklung von Neuerungen bieten. In diesen noch sehr instabilen Nischen entwickeln sich Ideen und Neuerungen. Zu diesem frühen Zeitpunkt ist die Entwicklung
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Abb. 10.2 Dynamik von Transformationen. (Quelle: Vereinfacht nach Geels 2011, S. 28; Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Elsevier)
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weitgehend losgelöst von den bestehenden Marktmechanismen und etablierten Strukturen und wird getrieben von innovationsoffenen Akteuren. Diese Akteure können verschiedensten Anspruchsgruppen angehören und sind häufig in Form von offenen Netzwerken organisiert, die die Entwicklung der Innovationen in einem Such- und Erprobungsprozesse unterstützen. Im Fall von digitalen Innovationen können die Netzwerke beispielsweise aus entsprechend interessierten Unternehmen, Start-ups und technikaffinen Frühanwendern bestehen, die eine ähnliche Vision oder Erwartungshaltung antreibt, die zum aktuellen Zeitpunkt außerhalb der Nische nicht erfüllt wird. Dementsprechend können Innovationen übergreifend auch später noch scheitern, wenn sich eine spezifische Lösung in der Nische durchgesetzt hat, sie aber nicht anschlussfähig ist an das vorherrschende System (englischer Fachbegriff: Regime) der Problemlösung in einem gesellschaftlichen Teilbereich (z. B. Mobilität oder Stromversorgung). Von Beginn an werden die Dynamiken in diesen Nischen durch die strukturellen Rahmenbedingungen und die technologischen Möglichkeiten des bestehenden Systems geprägt. Oft ist die Rede von sozio-technischen Regimen, da diese die sozialen und technischen Strukturen miteinander verknüpfen. Die Verknüpfungen der verschiedenen Strukturen in Regimen können einerseits für Stabilität und Erwartungssicherheit über lange Zeiträume sorgen, führen andererseits aber auch zu rigiden Pfadabhängigkeiten. Transformativer Wandel erfolgt hierbei als ein Ergebnis einer ko-evolutionären und sich gegenseitig verstärkenden strukturellen Dynamik auf verschiedenen Ebenen. So entstehen in den verschiedenen Nischen fortlaufend Variationen, die oft in verschiedene Richtungen streben und teilweise wieder verschwinden. Sie können sich aber auch verdichten und zu einem Wandel bei instabilen bestehenden Regime-Strukturen führen. Im idealtypischen Transformationsprozess lässt sich diese Dynamik in drei verschiedene Phasen unterteilen: 1. Frühphase, 2. Beschleunigungsphase und 3. Stabilisierungsphase. In der Frühphase finden zahlreiche Such- und Experimentieraktivitäten statt. Dies führt zu einer hohen Veränderungsdichte in den Nischen, jedoch finden die Innovationen noch wenig Unterstützung durch die Akteure des bestehenden Systems. Diese sind oftmals mit der schrittweisen Verbesserung des aktuellen Systems beschäftigt. So waren es z. B. nicht die bestehenden Taxiunternehmen, die die Möglichkeiten der digitalen Technologien nutzten, um ihren Kunden einen besseren Service zu bieten und ihr Unternehmen zukunftsfähiger zu machen, sondern Uber. In der Beschleunigungsphase gewinnt der Wandel an Dynamik. Nischen-Innovationen fordern vorherrschende Technologien, Vorgehensweisen und Rahmenbedingungen heraus und werden zunehmend von den zentralen Akteuren des bestehenden Systems aufgegriffen.
10 Die Interdependenz von Digitalisierung und Nachhaltigkeit als Chance der …
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Es kommt zu Konflikten zwischen Altem und Neuem sowie zwischen unterschiedlichen Innovationen (vgl. die aktuelle Diskussion in Deutschland zur Entwicklung der Autoindus trie, aber auch die Entstehung von Initiativen wie „Fridays For Future“). Zugleich beginnen aber auch verschiedene Innovationen, ineinanderzugreifen und sich gegenseitig zu unterstützen. Ein Beispiel ist die Entwicklung von Smartphones und deren Auswirkungen auf andere Bereiche wie Mobilität (Uber) oder Wohnen (Smart Home) sowie die wiederum hieraus resultierenden Entwicklungsschübe für die jeweils einzelnen Entwicklungen (Smartphone, Uber und Smart Home). Die synergistische Vernetzung der verschiedenen Entwicklungen führt wiederum zu Kopplungseffekten. In der Stabilisierungsphase setzen sich bestimmte Innovationen gegenüber ihren Alternativen durch. Das alte bestehende System wird durch ein neues Gleichgewicht abgelöst. Aufgrund der Beschaffenheit von Systemen lässt sich nicht vorhersagen, welche Innovation sich jeweils durchsetzen wird und wie schnell. Transformationen verlaufen nicht entlang linearer Phasen wie fast alle Transformations- und Change-Modelle suggerieren. Auch in der Abbildung handelt es sich um die Beschreibung eines idealtypischen Transformationsprozesses, der sich so in der Wirklichkeit nur sehr selten findet.
10.4 A ktive Gestaltung der digitalen Transformation durch einen offenen Such- und Lernprozess Die Transformation zur digitalisierten Nachhaltigkeitsgesellschaft bringt grundlegende Veränderungen für Wirtschaft und Unternehmen mit sich. Gesellschaft, Wirtschaft und Unternehmen stehen vor tiefgreifenden Herausforderungen, aber auch vor Chancen zur Erneuerung. Alte Paradigmen und vorherrschende Systeme verlieren an Bedeutung, während neue Ideen und Denk- und Handlungsweisen an Zugkraft gewinnen. Um auf die resultierenden Chancen und Herausforderungen reagieren zu können, bedarf es eines Managementansatzes, der im Gegensatz zum herkömmlichen strategischen Planungsdenken auf experimentelle und iterative Vorgehensweisen setzt. Rogers zentrale Erkenntnis, dass es bei der digitalen Transformation nicht um Technologie geht, sondern um Strategie und neue Denkweisen (Rogers 2017), macht organisationales Lernen (Senge 2006) im Rahmen eines dynamischen Effectuation-Prozesses (Sarasvathy und Dew 2005) zur wichtigsten Voraussetzung von Unternehmen, um in turbulenten und unsicheren Zeiten erfolgreich zu agieren. Mit der Digitalisierung steigen die Komplexität und Dynamik und damit die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung. Dies macht fundierte Prognosen über die Zukunft und erfolgreiche Strategien nahezu unmöglich. In diesem Kontext erweist sich die aktive Gestaltung der digitalen Transformation als bewusster Such- und Lernprozess unter Einbindung verschiedenster interessierter Akteure zur schrittweisen Reduktion von Ungewissheit und gemeinsamen Gestaltung einer digitalen Zukunft als unerlässlich (siehe Abb. 10.3).
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