Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen [1 ed.] 9783428478750, 9783428078752


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German Pages 525 Year 1994

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Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen [1 ed.]
 9783428478750, 9783428078752

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Beiträge zum Parlamentsrecht

Band 27

Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen Von

Wolfgang Demmler

Duncker & Humblot · Berlin

WOLFGANG DEMMLER

Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen

Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von

Werner Kaltefleiter, U1rich Karpen, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen

Band 27

Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen

Von

Wolfgang Demmler

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Demmler, Wolfgang: Der Abgeordnete im Parlament der Fraktionen / von Wolfgang Demmler. Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 27) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1993 ISBN 3-428-07875-6 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten

© 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin

Fotoprint: Wemer Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-07875-6

Vorwort Die vorliegende Arbeit greift die alte Frage nach der Bedeutung des freien Mandats des einzelnen Abgeordneten in einer neuen Akzentuierung auf. Die Untersuchung bewegt sich jenseits der herkömmlichen Gegenüberstellung von Art. 38 GG und Art. 21 GG und beschäftigt sich statt dessen mit der weitgehenden Bindung innerparlamentarischer Mitwirkungsrechte an die Fraktionen. Sie will dazu beitragen, den Stellenwert zu klären, welcher dem einzelnen Abgeordneten in einem Bundestag zukommt, der ganz auf die Fraktionen als wesentlichen Faktoren der parlamentarischen Willensbildung ausgerichtet ist. Die Arbeit wurde im Sommersemester 1993 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen und im Oktober 1993 auf Vorschlag der Fakultät mit dem Carl-von-Rotteck-Preis 1993 ausgezeichnet. Für die Veröffentlichung wurden Rechtsprechung und Literatur bis Juli 1993 ausgewertet. Mein herzlicher Dank gilt zunächst Herrn Prof. Dr. Rainer Wahl, der die Arbeit betreut hat. Als sein Mitarbeiter habe ich über Jahre stetige Förderung und vielfältige Anregungen erfahren. Herrn Prof. Dr. Dres. h.c. Konrad Hesse danke ich für die Erstellung des Zweitgutachtens. Von großem Wert waren die Einblicke in die parlamentarische Praxis, die ich anläßlich eines Informationspraktikums beim Sekretariat des Ausschusses für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages gewinnen konnte. Hierfür gebührt dem damaligen Vorsitzenden des Ausschusses, Herrn Konrad Porzner, sowie dem Sekretär des Ausschusses, Herrn Ministerialrat Dr. Gerald Kretschmer, und seinen Mitarbeitern mein besonderer Dank. Viele Freunde und Kollegen haben die Entstehung der Arbeit mit konstruktiver Kritik und ermutigendem Zuspruch begleitet. Auch ihnen sei an dieser Stelle gedankt. Den Herren Dr. Hansjörg Mclchinger und Johannes Dreier ist namentlich für ihre Hilfe bei der Bewältigung der Probleme elektronischer Textverarbeitung zu danken. Schließlich danke ich den Herausgebern der "Beiträge zum Parlamentsrecht" für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Ich widme die Abhandlung meinen Eltern. Freiburg, im November 1993

Wolfgang Demmler

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

1. Der Untersuchungsgegenstand ................................................................ 2. Der historische Bezug und die Aktualität der Problemstellung ............ a) Der Streit um die fortbestehende Bedeutung des freien Mandats. b) Der aktuelle Anlaß ........................... ...................................... ....... ...... 3. Abgeordneter und Fraktion in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .......................................................................................... a) Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Kompetenzen des Abgeordneten und der Fraktion im parlamentarischen Prozeß ............................. ...... .............................................. ... .... b) Die weiteren inhaltlichen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts ........................................................................................ c) Die Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung ........................................................................... 4. Der Gang der Darstellung ........................................................................

23 27 27 29 31

32 35 37 39

1. Kapitel

Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

§1

Der Abgeordnete als Amtsträger ................................................................... 1. Die Unterscheidung von Mandatsfreiheit und Grundrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ................................... 2. Die Parallelen zum Grundrechtsdenken im Schrifttum.......................... a) Das "Diätenurteil" als vermeintliche Bestätigung des Grundrechtscharakters der Abgeordnetenstellung ....................................

41 42 43 44

8

Inhaltsverzeichnis

b) Die Bedenken gegen die Eingliederung des Abgeordneten in die institutionalisierte Staatlichkeit ......................................................... aa) Begriffliche Einwände ............................................................... bb) Verfassungstheoretische Einwände ......................................... 3. Die Konsequenzen aus dem Amtscharakter des Mandats ................... a) Die Amtswalterrechte als Kompetenzen .......................................... b) Das freie Mandat als Umschreibung der PflichtensteIlung des Abgeordneten ...................................................................................... aa) Die ausdrückliche Normierung von Pflichten in den Landesverfassungen .......................................................................... bb) Die Pflichten als Inhalt der Verbürgung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Bundesebene ..................................................... 4. Die Notwendigkeit des Festhaltens am Amtsgedanken zur Begründung der Gemeinwohlbindung des Abgeordneten ................................

§2

Die Bedeutung des freien Mandats in einer von Parteien geprägten Demokratie ................... ....... ................................................... ........................... 1. Die Relevanz der Fragestellung ............................................................... 2. Die Theorie des Parteienstaats von Gerhard Leibholz ........................ a) Darstellung ........................................................................................... b) Kritik ..................................................................................................... aa) Die Verengung des Begriffs der Repräsentation ................... bb) Der angeblich identitäre Charakter des Parteienstaats........... cc) Die einseitige Sicht des Abgeordneten als bloßem Parteivertreter .... ................ ........... .... .................. .................................. dd) Die Überbewertung des plebiszitären Elements der Wahl

46 46 47 50 50 51 51 52 54

55 55 56 56 58 58 59 60 61

3. Der Vorrang des Art. 38 GG? .................................................................. 63 a) Art. 21 GG als ausschließlich auf den gesellschaftlichen Bereich bezogene Norm .................................................................................... 63 b) Art. 38 GG als lex specialis zu Art. 21 GG ...................................... 64 4. Die aktuelle Bedeutung des freien Mandats .......................................... a) Praktische Konkordanz von Art. 21 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ............................................................................................. b) Das freie Mandat als Garant innerparteilicher Demokratie ......... c) Das freie Mandat als Sicherung parlamentarischer Flexibilität ....... d) Das freie Mandat als Grundlage persönlicher Verantwortung.......

66 66 67 68 69

Inhaltsverzeichnis

§3

§4

Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes ................................. 1. Repräsentation als zentraler Begriff ......................... ......... ...................... a) Der Wille des Parlaments als hypothetischer Volkswille? .............. b) Repräsentation als formale und inhaltliche Kategorie ................... c) Die inhaltliche Repräsentation als Hauptaufgabe des einzelnen Abgeordneten ............................... .... .................... ............ ................... d) Repräsentation in Abgrenzung zur Vertretung ........... .................... 2. Kollektivrepräsentation oder Individualrepräsentation ........................ a) Die Kollektivrepräsentation in der Literatur .................................. aa) Verfassungsrechtliche Begründung und Konsequenzen ....... bb) Kritik ............ ....... ............ ......................................... .................... b) Die Kollektivrepräsentation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts .............................................................................. aa) Die bisherigen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts ............................................................................................. bb) Die Kollektivrepräsentation als angemessene Form der formalen Repräsentation ...........................................................

An Aufträge und Weisungen nicht gebunden .............................................. 1. Aufträge und Weisungen .......................................................................... 2. Die rechtliche Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen ........

a) Die Bewahrung der Unverbindlichkeit als Gebot an die Rechtsordnung ................................................................................................. b) Die Konsequenzen für die Ausgestaltung der Geschäftsordnung des Bundestages ................................................................................... 3. Die rechtliche Unzulässigkeit von Aufträgen und Weisungen ............. a) Aufträge und Weisungen als Aufforderung zu verfassungswidrigem Verhalten ..................................................................................... b) Das Streben nach Geschlossenheit als funktionell notwendiges Anliegen der Fraktionen .................................................................... c) Das Verbot mißbräuchlicher Einflußnahme ................................... d) Die Androhung von Sanktionen als Merkmal unzulässigen Fraktionszwangs ............................................... ...... ...................................... e) Die Anforderungen an die Fraktionsgeschäftsordnungen .............

§5

9

72 72 72 73 77 80 81 82 82 84 89 89 92

96 96 97 98 99 102 102 105 108 111 116

Und nur ihrem Gewissen unterworfen .......................................................... 122 1. Der Gewissensbegriff des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ............................. 122

10

Inhaltsveneichnis

2. Die GewissensunteIWorfenheit als Richtschnur parlamentarischen Verhaltens ................................................................................................... 3. Die Subjektivierung der Entscheidung ................................................... a) Die Unüberprüfbarkeit nach objektiven Kriterien ......................... b) Die Vereinbarkeit der Fraktionsdisziplin mit der GewissensunteIWorfenheit ........................................................................................

§6

Die Gleichheit der Abgeordneten .................................................................. 1. Die verfassungsrechtIiche Grundlage ...................................................... a) Die Anwendung des allgemeinen Gleichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG) .............................................................................. b) Die Anwendung der WahlrechtsgIeichheit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG) ................................................................. c) Die Anwendung des Prinzips der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG) ............................................................................ 2. Die inhaltliche Bedeutung der Gleichheit .............................................. a) Die Gleichheit als Gewährleistung von Freiheit ............................. b) Die Gleichheit als Begrenzung von Freiheit ....................................

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134 134 134 136 141 144 144 147

2. Kapitel

Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

§7

Die Vormachtstellung der Fraktionen im historischen Überblick .............. 1. Die Fraktionen in der Frankfurter Nationalversammlung ................... 2. Die Fraktionen im Preußischen Abgeordnetenhaus ............................. 3. Die Fraktionen im Reichstag ................................................................... 4. Fazit .............................................................................................................

149 150 152 154 155

§8

Die Fraktion als Instrument zur effektiven Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten ...................................................................................................... 156 1. Die Funktionen der Fraktion in bezug auf den einzelnen Abgeordneten ............................................................................................................ 156 a) Die technischen Hilfen ....................................................................... 156

Inhallsveneichnis

b) Die Bereitstellung politisch aulbereiteter Informationen und Entscheidungshilfen .................................................. .......................... c) Die Potenzierung der Mitwirkungsmöglichkeiten durch ein System wechselseitiger Beeinflussung ............................................... 2. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ................................................................................................. a) Das Koalitionsrecht als Element des Abgeordnetenstatus ............ b) Die Anerkennung der Fraktion in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ........ 3. Die Konsequenzen aus der Verankerung der Fraktionen in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ........................................................................................ a) Die Freiheit der Fraktionen ............................................................... b) Die Gleichheit der Fraktionen ..........................................................

§9

§ 10

Die Fraktion als Einrichtung zur Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Parlaments .................................................................................................. 1. Die Bedeutung der Fraktion für den äußeren Ablauf der Parlamentsarbeit ............................................................................................................ a) Die Notwendigkeit einer Auswahl der vom Parlament zu behandelnden Themen .................................................................................. b) Die Bindung von Befugnissen an die Fraktion als Auswahlkriterium von hoher Rationalität .............................................................. 2. Die Bedeutung der Fraktion für die inhaltliche Güte der Parlamentsarbeit ............................................................................................................ a) Der gestufte Prozeß der Mehrheitsbildung ..................................... b) Die Klammerfunktion der Fraktion .................................................. 3. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG? ...............................................................................................

Die Fraktion als parlamentarische Vertretung einer politischen Partei ....... 1. Die enge Verbindung zwischen den Fraktionen und den politischen Parteien .......................................................... ............................................. a) Die gleiche Parteizugehörigkeit als ausschlaggebender Faktor der Fraktionsbildung ........................................................................... b) Die Fraktion als Instrument zur Durchsetzung parteipolitischer Zielsetzungen ....................................................................................... c) Weitere Berührungspunkte ................................................................

11

157 158 160 160 162 163 163 165

166 166 166 169 171 171 173 176

179 180 180 181 183

12

Inhaltsverzeichnis

2. Die Eigenständigkeit der Fraktionen gegenüber den politischen Parteien .............. ................. .... ..................................... .......... ..................... 184 a) Die Einfügung der Fraktionen in den staatsorganschaftlichen Bereich ....................................................................................................... 184 b) Der mangelnde Einfluß der Parteien auf das Zustandekommen der Fraktionen ..................................................................................... 185 c) Die fehlende Übereinstimmung von Partei- und Fraktionsmitgliedschaft in der Praxis des Bundestages ......................................... 186 d) Die Möglichkeit parteiübergreifender Fraktionsbildungen ............ 188 e) Die rechtliche Freiheit der Fraktion bei der Umsetzung parteipolitischer Zielsetzungen .................................................................... 190 3. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 21 GG? 192

§ 11

§ 12

Die Rechtsnatur der Fraktionen .................................................................... 1. Die Bedeutung der Fragestellung ............................................................ a) Keine Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Stellung der Fraktionen ............................................................................................ b) Die Relevanz für die Teilnahme der Fraktionen am allgemeinen Rechtsverkehr ...................................................................................... 2. Stellungnahme zu den in der Literatur entwickelten Modellen ........... a) Die Fraktionen als Organe der Parteien .......................................... b) Die Fraktionen als Organe des Parlaments ..................................... aa) Die fehlende Zurechnung der Tätigkeit der Fraktionen ........ bb) Der Vergleich mit den Ausschüssen ........................................ cc) Keine Stütze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ............................................................................... c) Die Fraktionen als Staatsorgane sui generis .................................... d) Die Fraktionen als Vereinigungen von Abgeordneten .................. aa) Auf der Grundlage des Bürgerlichen Rechts ......................... bb) Auf der Grundlage des Öffentlichen Rechts .......................... (1) Körperschaften des Öffentlichen Rechts ....................... (2) Vereine des Öffentlichen Rechts .................................... 3. Die mangelnde Notwendigkeit einer Bestimmung der Rechtsnatur ..

195 195 195 196 197 197 198 198 199 201 202 202 203 205 205 206 206

Die Zugehörigkeit zu der gleichen politischen Partei ................................. 210 1. Der Maßstab einer verfassungsrechtlichen Beurteilung ....................... 210 2. Die politische Homogenität als Wesensmerkmal der Fraktion ............ 211

Inhaltsverzeichnis

13

3. Die Vermutung politischer Homogenität bei gleicher Parteizugehörigkeit ................. ... ...................................... ... .................................. ............ 213 4. Das Zustimmungserfordernis als Vorkehrung zur Verhinderung mißbräuchlicher Fraktionszusammenschlüsse .............................................. 214 5. Die Konsequenzen für die Geschäftsordnungen der Länderparlamente ........................................................................................................... 216

§ 13

Die Fraktionsmindeststärke ............................................................................ 219 1. Die Mindeststärke als durchgängige Voraussetzung jeder Fraktions-

2. 3. 4.

5.

6.

§ 14

bildung ......................................................................................................... a) Historische Betrachtung ..................................................................... b) Der Vergleich mit den Regelungen in den Länderparlamenten Die Mindeststärke als notwendige Voraussetzung jeder Fraktionsbildung ..... .............. .................................. ..................... ...... ..... .................... Die praktische Relevanz der Problematik .............................................. Die Festlegung der Mindeststärke als Gegenstand der Geschäftsordnungsautonomie ......................................................................................... a) Der Gestaltungsspielraum des Parlaments ...................................... b) Die Ableitung einer Obergrenze aus Art. 53 a GG? ...................... Die Grenzen der Geschäftsordnungsautonomie: Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs ............................................... a) Kein Ausschluß der Autonomie durch die Fraktion als "Partei im Parlament" ............................................................................................ b) Vier verfassungsrechtliche Vorgaben ............................................... aa) Der Kernbereich des Mandats ................................................. bb) Das Übermaßverbot .................................................................. cc) Oppositionsfreiheit und Minderheitenschutz ......................... dd) Die Gleichheit der Abgeordneten ........................................... Der formalisierte Gleichheitssatz als zutreffender Prüfungsmaßstab . a) Die Gleichheit der Abgeordneten als Anknüpfungspunkt ............ b) Die Bedeutung der wahlrecht lichen Sperrklausel für die Fraktionsmindeststärke .......................................................... .................... c) Schlußfolgerungen für die konkrete Festsetzung der Mindeststärke durch das Parlament ............................ .............. .......... ...........

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Der Fraktionsausschluß ................................................................................... 245 1. Die verfassungsrechtliche Relevanz der Problemstellung .................... 245

14

Inhaltsverzeichnis 2. Der Fraktionsausschluß als Pendant des Fraktionsaustritts ................. a) Freiwilligkeit des Fraktionsbeitritts und Möglichkeit des Fraktionsaustritts ......................................................................................... b) Freiwilligkeit der Aufnahme in die Fraktion und Möglichkeit des Fraktionsausschlusses ......................................................................... 3. Die materiellen Anforderungen an den Fraktionsausschluß ............... a) Der Fraktionsausschluß nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes .......................................................................................................... aa) Die Notwendigkeit einer Rechtfertigung vor Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG .................................................................................... bb) Die gerichtliche Kontrolldichte ................................................ b) Die konkreten Folgerungen aus der Annahme eines Beurteilungsspielraums ......................................................... ........................... aa) Keine Akzessorietät zum Parteiausschluß .............................. bb) Jedes Verhalten des Abgeordneten als möglicher Anknüpfungspunkt für den Ausschluß .................................................. 4. Die Kontrollmöglichkeiten durch die Gerichte ..................................... a) Die verfahrensrechtlichen Anforderungen ...................................... b) Der zutreffende Sachverhalt .............................................................. c) Der Ausschluß sachfremder Motive ................................................. 5. Fazit .............................................................................................................

246 246 247 249 249 249 251 252 252 254 255 256 257 257 257

3. Kapitel Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse zwischen Abgeordnetem und Fraktion

§ 15

§ 16

Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen ........................ 1. Eigene Rechte der Fraktionen nach der Geschäftsordnung ................ 2. Die Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Begründung von Fraktionsrechten ........................................................................................ 3. Die drei Begründungsmöglichkeiten im einzelnen ................................ a) Originäre Rechte der Fraktionen nach dem Grundgesetz ............. b) Den Fraktionen zugewiesene Rechte des Bundestages ................. c) Den Abgeordneten entzogene Rechte ............................................. Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats als Mindestbestand an Befugnissen ............................................................................................................

259 259 261 263 263 266 269 273

Inhaltsveneichnis 1. Die Anerkennung des Kembereichs in der Rechtsprechung ............... 2. Das Problem der Begrenzung des Kernbereichs ................................... 3. Der Auftrag zur inhaltlichen Repräsentation als Begründung des Kembereichs ..................................... ......... .... .......................... ..... .............. 4. Die generelle Zuständigkeit des Abgeordneten beim Fehlen einer besonderen Zuweisung ..................................... ... ....................... ............... 5. Der Kembereich des Mandats als Gewährleistung eines Anteils an allen Funktionen des Parlaments .............................................................

15

273 275 278 279 282

§ 17

Die Kompetenzverteilung zwischen Abgeordnetem und Fraktion außerhalb des Kernbereichs ...... .... .... ...... .............. ........................... ....... ... ............... 286 1. Das Gebot der Abwägung bei der Verteilung der Zuständigkeiten......... 286 a) Keine Festlegung auf eine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle durch den Eingriffscharakter von Fraktionsrechten ....................... 286 b) Das Abwägungsgebot als sachgerechte Schranke der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie .............................................. 287 c) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ..................... 290 2. Das Gewicht der Freiheit des Abgeordneten in der Abwägung ............ 293 a) Die Abhängigkeit von der jeweiligen Funktion des Bundestages .........293 aa) Die Gegenüberstellung von Staatsleitung und Kontrolle ....... 294 bb) Die vier Grundfunktionen des Parlaments ............................. 295 b) Die Folgerungen aus der Rückführung der Mitwirkungsbefugnisse auf die zugehörigen Parlamentsfunktionen ................................. 297

§ 18

Das Verhältnis von Fraktions- und Quorumsrechten ................................. 1. Die Forderung nach einem Quorumsrecht in Höhe der Fraktionsmindeststärke neben dem Fraktionsrecht ............................................... a) Die Ableitung aus dem formalisierten Gleichheitssatz .................. b) Die Ableitung aus der Abgeordnetenfreiheit .................................. 2. Die Situation im Bundestag ...................................................................... 3. Die Situation in den Länderparlamenten ............................................... 4. Ein Rechtfertigungsversuch in der Literatur ..........................................

§ 19

300 300 300 301 303 305 311

Die prozessualen Konsequenzen des Modells der Zuständigkeitsverteilung ..................................................................................................................... 314

16

Inhaltsverzeichnis 1. Die Geltendmachung von Rechten des Bundestages durch den ein-

zelnen Abgeordneten ................................................................................ a) Der Blick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts anhand der einschlägigen Normen des Verfassungsprozeßrechts ..................................................................................................... b) Kritische Würdigung der Rechtsprechung ....................................... c) Die Antragsbefugnis des Abgeordneten als notwendige Konsequenz der Zuständigkeitsverteilung .................................................. 2. Die Antragsbefugnis der Fraktionen ....................................................... 3. Die Geltendmachung der Rechte der Fraktion durch den fraktionsangehörigen Abgeordneten ....................................... .................. .............

314

314 317 319 321 325

4. Kapitel

Die Konsequenzen aus der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Abgeordnetem und Fraktion für die einzelnen Parlaments funktionen

I.

Die Gesetzgebungsfunktion ............................................................................ 329

§ 20

Das Recht zur Gesetzesinitiative .................................................................... 1. Das Initiativrecht als Bestandteil des Kernbereichs? ............................ 2. Art. 76 Abs. 1 GG als Ausschluß eines Initiativrechts des einzelnen Abgeordneten? ........................................................................................... 3. Das kollektive Initiativrecht als angemessene Entscheidung der Geschäftsordnung .................. ..................................... ......... ... ........... .......... ....

329 329

Die Besetzung der Bundestagsausschüsse ..................................................... 1. Die Problemstellung .................................................................................. 2. Die Benennung der Ausschußmitglieder durch die Fraktionen als eine dem Bundestag zurechenbare Besetzung der Ausschüsse? ......... 3. Die verfassungsrechtliche Forderung nach einer Wahl der Ausschußmitglieder? .............. ...... ........................................ ............. ................... ...... a) Der Gedanke der notwendigen demokratischen Legitimation .......

337 337

§ 21

331 333

339 340 341

Inhaltsverzeichnis

b) Der Vergleich mit anderen Personalentscheidungen des Parlaments ..................................................................................................... 4. Die Vereinbarkeit des Benennungsrechts mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ............................................................................................................... a) Ein Recht auf Mitwirkung an der Ausschußbesetzung als Kernbereichsrecht? ...................................................................................... b) Der Stellenwert des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG in der Abwägung ....................................................................................................... c) Die Bedenken gegen die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Ausgestaltung von Ausschußwahlen ................................................. d) Die sonstigen Probleme bei der praktischen Durchführung einer Wahl ...................................................................................................... e) Die Benennung der Ausschußmitglieder durch die Leitungsorgane des Parlaments? ...................................................................... § 22

§ 23

17

343 345 345 346 347 350 352

Das Recht auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß ....................................... l. Die Mitgliedschaft in einem Ausschuß als Teil des Kernbereichs? 2. Der Anspruch auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß als Ergebnis der Abwägung ............................................................................................. 3. Die Besonderheiten für fraktionslose Abgeordnete ............................. a) Der Anspruch auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß .................... b) Der Ausschluß fraktionsloser Abgeordneter vom Ausschußstimmrecht ............................................................................................ aa) Die Umkehr der Rechtfertigungslast durch die Senatsmehrheit ................................................................................................ bb) Die spiegelbildliche Zusammensetzung der Ausschüsse als Rechtfertigungsgrund? .............................................................. cc) Die Sicherstellung der Mehrheitsfähigkeit als Rechtfertigungsgrund? ................................................................................ dd) Die Stellung des Ausschußstimmrechts im gestuften Entscheidungsprozeß ....................................................................... c) Die Bestimmung des Ausschusses für fraktionslose Abgeordnete ........................................................................................................ 4. Der Ausschußrückruf ................................................................................

353 353

Das Stellen von Änderungsanträgen .............................................................. l. Die Situation im Bundestag ...................................................................... 2. Das Recht zu Änderungsanträgen als Bestandteil des Kernbereichs a) Der Meinungsstand in Rechtsprechung und Literatur ..................

376 376 377 377

2 Demmler

356 359 359 362 362 363 365 366 368 370

18

Inhaltsverzeichnis

b) Stellungnahme ..................................................................................... 380 3. Der Vergleich zwischen dem Recht zur Gesetzesinitiative und dem Recht zu Änderungsanträgen ................................................................... 383 4. Die Konsequenzen für die Geschäftsordnung ....................................... 384

§ 24

Die Einführung geheimer Sachabstimmungen als Mittel zur Sicherung des freien Mandats? ......................................................................................... 1. Die Lage im Bundestag und die Forderung nach mehr geheimen Abstimmungen ........................................................................................... 2. Die verfassungsrechtlichen Bedenken gegen die Einführung geheimer Sachabstimmungen ............................................................................ a) Der Grundsatz der Öffentlichkeit (Art. 42 Abs. 1 GG) ................. b) Das Demokratieprinzip (Art. 20 Abs. 2 GG) .................................. 3. Die Einführung geheimer Sachabstimmungen als Abwägungsentscheidung ..................................................................................................... a) Die Schwierigkeiten bei der praktischen Handhabung einer geheimen Sachabstimmung .................................................................... b) Die schwerwiegenden Nachteile geheimer Sachabstimmungen

385 385 387 387 388 390 391 392

11.

Die Wahlfunktion ............................................................................................. 394

§ 25

Das Recht zu Wahlvorschlägen ...................................................................... 1. Die Situation im Bundestag ...................................................................... 2. Das Wahlvorschlagsrecht als Bestandteil des Kernbereichs? .............. 3. Das Wahlvorschlagsrecht als Gegenstand der Abwägung .................... 4. Die Kriterien des Bundesverfassungsgerichts ........................................ 5. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Unterschriftenquorum ......................................................................................... 6. Die Besonderheiten bei der Wahl des Bundeskanzlers in der 3. Wahlphase gemäß Art. 63 Abs. 4 GG .....................................................

§ 26

394 394 396 397 399 402 403

Die Beteiligung aller Fraktionen an den vom Bundestag zu wählenden Gremien ....................... .................... ............................ ............. ......... .......... ...... 406 1. Die praktische Relevanz der Problemstellung ....................................... 406 2. Die Präzisierung der Frage .................................................................... 408

Inhaltsveneichnis 3. Das verfassungsrechtlich geforderte Wahlsystem .................................. 4. Die hinreichende Größe des Gremiums ................................................. a) Das Erfordernis einer alle Fraktionen berücksichtigenden Mitgliederzahl ................................................................. .................. ......... b) Die Ausnahmen nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts ...................................................................................................... aa) Die Arbeitsfähigkeit des Parlaments ....................................... bb) Die Belange des Geheimschutzes ............................................ c) Die Übertragung des Ergebnisses auf andere Ausschüsse ............

§ 27

Die Vertretung aller Fraktionen im Präsidium des Bundestages ............... 1. Die Lage im Bundestag ............................................................................. a) Das Wahlverfahren ............................................................................. b) Die Anzahl der Vizepräsidenten ....................................................... 2. Die Auseinandersetzung in der 10. und 11. Wahlperiode .................... a) Die Bemühungen der Fraktion DIE GRÜNEN um den Sitz eines Stellvertreters des Präsidenten ................................................... b) Die Argumentation der Befürworter einer Erweiterung des Präsidiums .................................................................................................. 3. Stellungnahme ............................................................................................

19

409 413 413 415 416 417 419

422 422 422 424 425 425 426 428

III.

Die Kontrollfunktion ....................................................................................... 432

§ 28

Das parlamentarische Fragerecht .................................................................. 1. Die verfassungsrechtliche Grundlage ...................................................... a) Die Ableitung aus dem Zitierrecht des Art. 43 Abs. 1 GG ............. b) Die Kritik an dieser Ableitung .......................................................... c) Stellungnahme ..................................................................................... aa) Die Kontrollfunktion des Bundestages als verfassungsrechtliche Grundlage der Fragerechte ............................................. bb) Das Verhältnis der im Grundgesetz ausdrücklich benannten Kontrollmittel zu den Fragerechten ........................................ cc) Die grundsätzliche Antwortpflicht der Bundesregierung ....... 2. Das Fragerecht des einzelnen Abgeordneten als Bestandteil des Kernbereichs ...... ..... .......... ............. .................. ........... ............ ............. ....... 3. Die Lage im Bundestag .............................................................................

432 432 432 433 435 435 437 438 440 442

20

Inhaltsverzeichnis

§ 29

Die Kontrollinstrumente der Großen und Kleinen Anfrage ...................... 1. Die Ausgangslage im Bundestag ....................... ....... ....... ........ .......... ....... 2. Die Große Anfrage .................................................................................... 3. Die Kleine Anfrage ....................................................................................

445 445 447 448

§ 30

Die im Grundgesetz ausdrücklich benannten Kontrollmittel ..................... 1. Das Zitierrecht ........................................................................................... 2. Die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen .................................... 3. Das Mißtrauensvotum ...............................................................................

453 454 456 458

IV.

Die Öffentlichkeitsfunktion ............................................................................ 461

§ 31

Der Einfluß des Abgeordneten auf die Tagesordnung des Plenums ........ 461 1. Das Plenum als zentraler Schauplatz der öffentlichen Auseinandersetzung ................................................................................................... a) Die Diskussion um öffentliche Ausschußsitzungen ........................ b) Das Plenum als Forum der Nation ................................................... 2. Die Aufstellung der Tagesordnung ......................................................... a) Die entscheidende Rolle des Ältestenrats .......................................

461 461 463 465 465 b) Das Verfahren bei Fehlen einer interfraktionellen Vereinbarung 467 3. Die Mitwirkungsmöglichkeit des einzelnen Abgeordneten bei der Aufstellung der Tagesordnung ................................................................. 468 a) Die Mitwirkung als Element des Kernbereichs? ............................. 468 b) Das individuelle Antragsrecht als angemessenes Ergebnis der Abwägung ............................................................................................. 469

§ 32

Das Rederecht des Abgeordneten und seine Begrenzungen ..................... 1. Das Rederecht als Bestandteil des Kernbereichs .................................. a) Die Ableitung der Redebefugnis aus der Öffentlichkeitsfunktion b) Die Konsequenzen der Zugehörigkeit zum Kernbereich .............. 2. Die Begrenzungen bei der Ausübung des Rederechts .......................... a) Die Festlegung einer Gesamtdauer der Aussprache ...................... aa) Die grundsätzliche Unbedenklichkeit einer Festlegung der Gesamtdauer ...............................................................................

471 471 471 472 474 475 475

Inhaltsveneichnis

bb) Die Unantastbarkeit des Rederechts durch die Festlegung einer Gesamtdauer der Aussprache ......................................... cc) Die Verteilung der Redezeit auf die Fraktionen ................... (1) Die grundsätzliche Zu lässigkeit der Festsetzung von Fraktionsredezeiten .......................................................... (2) Proportionale oder paritätische Bemessung der Fraktionsredezeiten .................................................................. (3) Die Behandlung fraktionsloser und abweichender Abgeordneter .......................................................................... b) Der Schluß der Debatte ..................................................................... c) Die individuelle Beschränkung der Redezeit .................................. aa) Die Notwendigkeit der Gewährleistung einer Mindestrededauer ............................................................................................ bb) Die Beachtung der Mindestredezeit in der parlamentarischen Praxis ............. ........... .................... ..................... ....... ......... cc) Die Bedeutung der Gleichheit der Abgeordneten für die Bemessung der Redezeit ...........................................................

21

476 478 478 479 482 484 486 486 487 489

Wesentliche Arbeitsergebnisse .................................................................................... 492

Literaturverzeichnis ....................................................................................................... 511

Einleitung

1. Der Untersuchungsgegenstand Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, die Beziehung, die besteht zwischen dem Deutschen Bundestag, seinen einzelnen Mitgliedern und den Bundestagsfraktionen, einer verfassungsrechtlichen Untersuchung zuzuführen, insbesondere im Hinblick auf die Verteilung der parlamentarischen BefugDlsse. In der heutigen Staatspraxis sind die in § 10 Abs. 1 GOBT definierten Fraktionen die ganz beherrschenden Faktoren bei der parlamentarischen Willensbildung. Die Geschäftsordnung des Bundestages bindet parlamentarische Mitwirkungsrechte in weitem Umfang an das Erfordernis, daß sie von einer Fraktion (oder doch zumindest von einer der Fraktionsmindeststärke entsprechenden Anzahl von Abgeordneten) wahrgenommen werden. So müssen etwa, um es an dieser Stelle nur an wenigen Beispielen zu verdeutlichen, sämtliche Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages (wie Gesetzentwürfe, Anträge, Große und Kleine Anfragen) nach § 76 Abs. 1 GOBT von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sein. Weiter benennen die Fraktionen nach § 57 Abs. 2 GOBT die Ausschußmitglieder und ihre Stellvertreter, gleiches gilt gemäß § 6 Abs. 1 GOBT für die aus den Reihen der Abgeordneten zu bestimmenden Mitglieder des Ältestenrates. Auch über den geschriebenen Text der Geschäftsordnung hinaus haben die Fraktionen in hohem Maße Einfluß auf den Ablauf des parlamentarischen Geschehens. Dies gilt vor allem für die Verteilung von Redezeiten im Plenum auf die einzelnen Abgeordneten. Hier wird die insgesamt für einen Verhandlungsgegenstand zur Verfügung stehende Zeit in je nach Art der Aussprache differierender Weise zunächst an die Fraktionen verteilt, die ihrerseits die ih-

24

Einleitung

ren Rednern danach zustehende Zeit an einzelne Abgeordnete vergeben l . Die Vormachtstellung der Fraktionen ist so stark, daß der Bundestag verschiedentlich als "Fraktions-" oder "Fraktionen parlament" bezeichnet wurde 2 • Als Konsequenz dieser Umstände ist der Abgeordnete, um seine politischen Vorstellungen umzusetzen, weitgehend angewiesen auf die Mitgliedschaft in einer Fraktion und deren Unterstützung bei der Verfolgung einzelner Vorhaben. Die konkrete Fragestellung der Arbeit lautet daher, ob dieser Zustand vor der Verfassung Bestand haben kann oder ob hiergegen Bedenken bestehen. Zur Beantwortung dieser Frage ist zu klären, welche Vorgaben das Grundgesetz für die Ausgestaltung der parlamentarischen Praxis hinsichtlich der Einflußmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten enthält. Beurteilungsmaßstab wird dabei im wesentlichen die Gewährleistung des freien Mandats in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG sein, die jedem Abgeordneten nach der Rechtsprechung des BVerfG einen eigenen verfassungsrechtlichen Status und damit das Recht verleiht, unmittelbar am Verfassungsleben teilzuhaben 3• Eine Beschränkung auf die Auslegung dieser Vorschrift würde die Thematik jedoch einseitig verkürzen. So ist etwa, um die Problemstellung voll zu erfassen, vor allem auch die Frage nach einer etwaigen verfassungsrechtlichen Verankerung der Fraktionen aufzuwerfen. Sollte sich erweisen, daß auch für diese eine Grundlage in der Verfassung angelegt ist, müßte eine Zuordnung der unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Positionen erfolgen. Primärer Gegenstand der Betrachtungen ist dabei die Situation im Bundestag, doch wird die Lage der Länderparlamente immer wieder zu Vergleichszwecken herangezogen. Auch die Verfassungen der Bundesländer enthalten nämlich Bestimmungen über das freie Mandat4. Dabei ist der 1 Zeh, Parlamentarisches Verfahren, in: IsenseejKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 11, 1987, § 43, Rdnr. 30. Vom BVerfG wurde diese Verteilung der Redezeit schon in einer sehr frühen Entscheidung (BVerfGE 10, 4 ff.) ausdrücklich gebilligt. 2 Troßmann, JöR N.F. 28 (1979), 1, 155; Steffani, ZPar11981, 591. 3 So schon BVerfGE 4, 144, 149. 4 Art. 27 Abs. 3 LV Baden-Württemberg, Art. 13 Abs. 2 LV Bayern, Art. 56 Abs. 1 LV Brandenburg, Art. 83 Abs. 1 LV Bremen, Art. 7 LV Hamburg, Art. 77 LV Hessen, Art. 22 Abs.l LV Mecklenburg-Vorpommmern, Art. 12 LV Niedersachsen, Art. 30 Abs. 2 LV Nordrhein-Westfalen, Art. 79 Satz 2 LV Rheinland-Pfalz, Art. 66 Abs. 2 Satz 1 LV Saarland, Art. 29 Abs. 3 LV Sachsen, Art. 41 Abs. 2 LV Sachsen-Anhalt, Art. 11 Abs. 1 LV Schieswig-Holstein, Art. 53 Abs. 1 LV-Entwurf Thüringen.

1. Der Unte~uchungsgegenstand

25

Wortlaut der jeweiligen Verfassungsnormen zwar etwas unterschiedlich, in ihrem Gehalt stimmen die Garantien jedoch überein. Unbestrittenermaßen kann daher im deutschen Verfassungsrecht von einer einheitlichen Gewährleistung des freien Mandats gesprochen werden5 . Nur eine scheinbare Ausnahme stellt in diesem Zusammenhang die Verfassung von Berlin dar, welche das Abgeordnetenmandat nicht ausdrücklich anspricht. Jedoch ist hier die bundesverfassungsrechtIiche Vorgabe des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG zu beachten, wonach das Volk in den Ländern, Kreisen und Gemeinden eine Vertretung haben muß, die aus allgemeinen, unmittelbaren, freien, gleichen und geheimen Wahlen hervorgegangen ist. Den Ländern ist damit das Repräsentationsprinzip bindend vorgegeben und infolgedessen auch die Geltung des freien Mandats, welches insbesondere mit der Charakterisierung der Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, verfassungsrechtlicher Ausdruck des Repräsentationsgedankens ist6• Zwar gilt Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG nach herrschender Meinung nicht unmittelbar in den Ländern, sondern begründet nur eine Pflicht der Länder zu einer bestimmten Gestaltung ihrer Verfassung? Es ist aber davon auszugehen, daß der Verfassunggeber von Berlin seiner Verpflichtung nachkommen wollte und daher mit den Bestimmungen über die Volksvertretung (Art. 25 - 39 Verfassung von Berlin) zugleich konkludent auch das freie Mandat der Abgeordneten aufgenommen hat. Dementsprechend war auch nie zweifelhaft, daß auch die Mitglieder des Berliner Abgeordnetenhauses über eine sich inhaltlich mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG deckende Position verfügen, dies erschien vielmehr stets als so selbstverständlich, daß sich Rechtsprechung und Literatur über die genaue dogmatische Begründung regelmäßig kaum Gedanken machten 8 •

5 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 22. 6 Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Demokratie), Rdnr. 3,4; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. A., 1984, § 24 IV 2. Eine davon zu unte~cheidende Frage ist es, daß Art. 28 Abs. 1 GG den Ländern die Möglichkeit beläßt, das System der repräsentativen Demokratie durch plebiszitäre Elemente wie Volksbegehren und Volksentscheid aufzulockern. Dies vermag aber an dem Gebot des Art. 28 Abs. 1 GG an die Länder, eine Volksvertretung zu haben, also ihrer grundsätzlichen Verpflichtung auf die repräsentative Demokratie und damit auf das freie Mandat, nichts zu ändern. ? BVerfGE 1, 208, 236; 22, 180,204. 8 So ging das FDP-Landesschiedsgericht Berlin, NVwZ 1983, 439, auf Einwände ein, die sogar unmittelbar auf Art. 38 GG gestützt wurden, ohne Zweifel an der Geltung des freien Mandats zu haben. Für Sendler, NJW 1985, 1425, 1426 FN 8, beruht die Geltung des freien Mandats in Berlin auf dem Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG.

26

Einleitung

Auch der Gemeinderat ist Repräsentationsorgan der Gemeinde im Sinne von Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG. Das bedeutet, daß die vielfach einfachgesetzlich angeordnete Geltung des freien Mandats9 als Befugnis der Mitglieder der Vertretungskörperschaft zur Wahrnehmung des Repräsentationsauftrages und - damit einhergehend - die Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen (etwa von seiten der Wähler oder der Partei) bei Gemeinderäten in gleicher Weise gegeben ist wie bei Abgeordneten 1o• Indem Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG wie für die Länder, so auch für die Kreise und Gemeinden grundsätzlich die Existenz einer Volksvertretung und damit die repräsentative Demokratie vorschreibt, ist insoweit auch das freie Mandat der Gemeindevertreter letztlich bundesverfassungsrechtlich verankert, es hat also Verfassungsrang ll . Dennoch verfügen die Mitglieder der Gemeindevertretungen nicht über ein parlamentarisches Mandat. Der Gemeinderat ist nach ganz herrschender Auffassung kein Parlament, sondern ein Verwaltungsorgan l2 • Angesichts dieses tiefgreifenden Unterschiedes kann das Parlamentsrecht nicht unbesehen auf die Gemeindeebene übertragen werden, vielmehr ist jeweils zu prüfen, ob nicht die spezifisch kommunalrechtlichen Gegebenheiten einer Anwendung parlamentarischer Grundsätze entgegenstehen 13 . Auch in den Kommunalvertretungen stehen aber mittlerweile die Fraktionen in ihrer Bedeutung ganz im Vordergrund. Dies läßt sich nicht zuletzt daran ersehen, daß Inhaber kommunaler Mandate immer wieder gegen den Gemeinderat auf Anerkennung als Fraktion klagen oder aber gegen ihren

9 §§ 32 Abs. 3 GemO Baden-Württemberg, 35 Abs. 1 GemO Hessen, 39 GemO Niedersachsen, 30 Abs. 1 GemO Nordrhein-Westfalen, 30 Abs. 1 GemO Rheinland-Pfalz, 28 Abs. 1 KSVG Saarland, 32 Abs. 1 GemO Schleswig-Holstein, 22 Abs. 3 KommVerf der neuen Bundesländer. 10 M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 381; Kasten, Ausschußorganisation und Ausschußrückruf, 1983, S. 209; Kleffmann, Die RechtssteIlung parteiloser Kandidaten und Mandatsträger, 1982, S. 201 ff. 11 Ausführlich hierzu Frowein, DÖV 1976, 44, 45, mit der zutreffenden Beobachtung, daß es sich, wenn Art. 28 Abs., 1 GG die Volksvertretung in Ländern und Gemeinden für den Regelfall fordert, nur um dieselbe Kategorie von Vertretung handeln kann. Zwar läßt Art. 28 Abs. 1 Satz 3 GG es auch zu, daß in den Gemeinden an die Stelle der gewählten Körperschaft die Gemeindeversammlung tritt. Anders als in den Ländern kann also auf Gemeindeebene vollkommen von der Existenz eines Repräsentationsorgans abgesehen werden, eine Möglichkeit, von der regelmäßig nur in sehr kleinen Gemeinden Gebrauch gemacht wird. S0weit jedoch eine Volksvertretung eingerichtet wird, muß auch sie den Anforderungen des Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG entsprechen. 12 BVerfGE 65, 283, 289; WolffjBachof, Verwaltungsrecht 11, 4. A., 1976, § 87 11 a. 13 Umfassend dazu M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979.

2. Historischer Bezug und Aktualität der Problemstellung

27

Ausschluß aus der Fraktion gerichtlich vorgehen l4 • Insbesondere zu Fragen, die mit dem Status der Fraktionen zusammenhängen, können daher auch Aussagen aus Rechtsprechung und Literatur verwertet werden, die sich mit den Fraktionen auf gemeindlicher Ebene auseinandersetzen, ohne daß jedoch die Situation in den kommunalen Vertretungskörperschaften als solche Gegenstand der Untersuchung werden soll.

2. Der historische Bezug und die Aktualität der Problemstellung a) Der Streit um die fortbestehende Bedeutung des freien Mandats

Die Diskussion um das freie Mandat der Parlamentsabgeordneten, gerade auch in der hier interessierenden Frage des Verhältnisses zur Fraktion, ist keineswegs neu. Sein verfassungspolitischer Sinn wurde vielmehr schon von Teilen der Staatsrechtslehre der Weimarer Republik bestritten l5 . Begründet wurde diese kritische Haltung insbesondere damit, daß man das freie Mandat ausschließlich dem klassisch-liberalen Repräsentationsmodell des 19. Jahrhunderts zuschrieb und dieses mit den realen Gegebenheiten der parteienstaatlichen Demokratie konfrontierte. Die Demokratisierung des Wahlrechts und das damit zwangsläufig einhergehende Aufkommen des Parteienstaates hätten der liberalen Vorstellung von einem Honoratiorenparlament, in dem einzelne unabhängige Abgeordnete in rational geführter Diskussion das politisch Richtige erkennen, endgültig den Boden entzogen. Zugleich mit diesem Phänomen, so diese Position, hätte auch das freie Mandat seine Daseinsberechtigung verloren. Infolgedessen könnten die Abgeordneten auch nicht mehr verstanden werden als unabhängige Repräsentanten des ganzen Volkes, sondern seien zu abhängigen Exponenten ihrer jeweiligen Partei und Fraktion geworden. Berühmt geworden ist die Formulierung von Fritz Morstein Marx, der das freie Mandat ein "fossiles Requisit aus der verfassungsgeschichtlichen Steinzeit"16 nannte.

14 Vergi, nur aus jüngster Zeit zur Anerkennung als Fraktion: OVG Rheinland-Pfalz, DVBI. 1988, 798; VGH Baden-Württemberg, VBIBW 1989, 178; und zum Fraktionsausschluß: Hessischer VGH HSGZ 1987, 209; OVG Nordrhein-Westfalen, DÖV 1989, 592. 15 So vor allem von C. Schmitt, VerCassungslehre, 1928, S. 206 C.; Wittmayer, Die Weimarer Reichsverfassung, 1922, S. 66; Morstein Marx, AöR 50 (1926), 430, 442. 16 Morstein Marx, AöR 50 (1926), 430, 439.

28

Einleitung

In den Beratungen des Parlamentarischen Rates gab es dementsprechend auch Bestrebungen, die Bestimmung über die Unabhängigkeit und Gewissensfreiheit, die dem jetzigen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG entsprach (Art. 46 Herrenchiemsee-Entwurt), zu streichen l7 • Dieser Vorschlag konnte sich aber nicht durchsetzen, für seine Zurückweisung wurde insbesondere die Schutzfunktion des freien Mandats gerade gegen die Herrschaft des Parteiapparates angeführt l8 • In der Frühzeit der Bundesrepublik wurde die Problematik erneut aufgegriffen, wenn sich auch unter der Geltung des Grundgesetzes die Vorzeichen entscheidend geändert hatten. Während wegen der Ignorierung der Parteien durch die Weimarer Reichsverfassung zur damaligen Zeit ein Auseinanderklaffen von verfassungsrechtlichem Anspruch und Verfassungswirklichkeit verzeichnet wurde, waren die Parteien nunmehr in Art. 21 GG ausdrücklich anerkannt. Die Fragestellung wandelte sich dadurch zu der rein staatsrechtlichen des Verhältnisses von Art. 21 GG zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GGI9. Wesentlich bestimmt wurde die Auseinandersetzung von der Theorie des Parteienstaates von Gerhard Leibholz, welcher im Anschluß an die frühere Diskussion einen Gegensatz sah zwischen dem diskutierenden Parlamentarismus der liberalen Epoche und der modernen parteienstaatlichen Massendemokratie, bei der sich das Volk in der Wahl für die Sachprogramme bestimmter Parteien entscheidet (weshalb Leibholz die Parlamentswahl auch als ein realplebiszitäres Element begrift). Auf der Ebene des Verfassungsrechts erwachse aus diesem Gegensatz die Unvereinbarkeit zwischen dem der Sphäre des Liberalismus zuzurechnenden Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und dem umfassenden Auftrag an die Parteien in Art. 21 GG20. Bei der Auflösung dieses Gegensatzes will Leibholz es zwar auf den Einzel17 So die Abgeordneten Strauß (CDU) und Frau Seibert (SPD) in der zweiten Sitzung des Organisationsausschusses vom 16.9.1948 (Stenoprot. S. 49, 54). In der gleichen Sitzung (Stenoprot. S. 60) trat auch der Abgeordnete Heiland (SPD) für die Weglassung der Vorschrift ein, allerdings mit der Begründung, daß sie etwas ohnehin Selbstverständliches aussage. 18 Besonders deutlich die Einlassung des Abgeordneten Löwenthai (SPD) in der zweiten Sitzung des Organisationsaussschusses (Stenoprot. S. 62), ähnlich Schwalbe (CDU) in der sechsten Sitzung des Organisationsausschusses vom 24.9.1948 (Stenoprot. S. 14). Ebenfalls für eine Beibehaltung der Vorschrift sprachen sich die Abgeordneten Lehr (CDU) und Dehler (FDP) aus (Organisationsausschuß 2. Sitzung, Stenoprot. S. 51, 57, sowie 6. Sitzung, Stenoprot. S. 17). 19 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 65. 20 Leibholz, DVBI. 1951, 1 ff.; ders., Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. A., 1966, S. 235 ff.; ders., Der Strukturwandel der modemen Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modemen Demokratie, 3. A., 1967, S. 78 ff.

2. Historischer Bezug und Aktualität der Problemstellung

29

fall ankommen lassen, welches Prinzip bei der Entscheidung das höhere Gewicht hat. Gleichwohl läßt er erkennen, daß er Art. 21 GG regelmäßig Vorrang einräumen will, die Funktion des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erschöpfe sich darin, gewisse äußerste Konsequenzen des Parteienstaates abzuwenden 21 • Insbesondere die Rechtsprechung des BVerfG, dem Leibholz von 1951 bis 1971 angehörte, wurde von den Grundgedanken dieser Lehre beeinflußt, die Figur des Spannungsverhältnisses zwischen Art. 21 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG fand Eingang in mehrere Entscheidungen 22 • Erst allmählich konnten sich Wissenschaft und Rechtsprechung von der Vorstellung freimachen, der Verfassunggeber habe das freie Mandat lediglich aus traditionellen Erwägungen statuiert. Heute ist demgegenüber weitgehend anerkannt, daß auch unter den Gegebenheiten der parteienstaatIichen Demokratie das freie Mandat seine spezifische Funktion gerade gegenüber den Parteien und Fraktionen hat. Insbesondere wird die dem einzelnen Abgeordneten eingeräumte Unabhängigkeit als Mittel zur Förderung innerparteilicher Demokratie bewertet23 • Im Laufe der Untersuchung wird sich zeigen, daß gerade für die Verteilung der parlamentarischen Mitwirkungsbefugnisse der Art. 21 GG keine Rolle spielt, mehr noch, daß es dem Bundestag sogar verwehrt ist, Fraktionsrechte, die er in seiner Geschäftsordung vorsieht, auf Art. 21 GG zu stützen. Entscheidendes Kriterium für die kollektive Ausgestaltung von Befugnissen muß es vielmehr sein, die Funktionsfähigkeit des Gesamtparlaments zu gewährleisten oder zu verbessern. Nur zu diesem Zweck ist dem Bundestag in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG für die Regelung seines Geschäftsgangs Geschäftsordnungsautonomie eingeräumt.

b) Der aktuelle Anlaß

Gerade in jüngerer Zeit ist die Debatte um das freie Mandat und das Verhältnis des einzelnen Abgeordneten zur Fraktion wieder neu belebt 21 Leibholz, Wesen, S. 238 f.; ders., StruktuIWandel, S. 78,117. 22 BVerfGE 2, 1,72 ff.; 5, 85, 233. 23 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 72; Enquete-Kommission Verfassungs-

reform, Abschlußbericht, Teil I Kapitel 2, 3.3; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. A., 1991, Rdnr. 602.

30

Einleitung

worden. Erneut ist dabei eine Wende in der Auseinandersetzung festzustellen. Während sich das freie Mandat bislang überwiegend in einer Position der Defensive befand und seine Existenzberechtigung in der Parteiendemokratie in Frage gestellt wurde, wurde die aktuelle Diskussion vorangetrieben von Kräften, die unter Berufung auf das freie Mandat eine Änderung der parlamentarischen Praxis forderten. Noch in einem weiteren Punkt ist eine Änderung eingetreten. Interessanterweise erfolgte das neuerliche Aufgreifen der Thematik nämlich nicht von seiten der Wissenschaft vor dem Hintergrund einer theoretischen Konzeption, sondern aus dem Parlament selbst. Zu erklären ist dies zumindest teilweise dadurch, daß die Geschäftsordnungsreform von 1980 zu einer wesentlichen Ausweitung der Stellung der Fraktion zu Ungunsten der Position des einzelnen Abgeordneten geführt hat 24 • Auf der Ebene des Bundestages sind dabei zwei Ansätze zu unterscheiden, die beide von einem Bedürfnis nach stärkeren Möglichkeiten des einzelnen Abgeordneten ausgehen. Einmal hat sich bereits in der 10. Wahlperiode des Deutschen Bundestages eine überfraktionelle Abgeordneteninitiative zur Respektierung des freien Mandats und zur Wahrung des Parlamentsansehens unter Führung der Abgeordneten Hildegard Hamm-Brücher (FDP) gebildet, der sich zunächst 106 Mitglieder des Deutschen Bundestages angeschlossen haben25 • Im Anschluß an eine erste Selbstverständnisdebatte des Deutschen Bundestages am 20. September 1984 stimmte dieser einstimmig einem Entschließungsantrag zur Einsetzung einer Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform zu, deren Auftrag es unter anderem war, Vorschläge zur Verbesserung der Arbeitsmöglichkeiten der einzelnen Abgeordneten zu unterbreiten26 • Diese Kommission legte am 1. Juli 1985 ihren Bericht vor27 , welcher jedoch in der 10. Wahlperiode nicht mehr abschließend beraten werden konnte. In der 11. Wahlperiode kam es am 18. September 1987 zu einer weiteren großen Selbstverständnisdebatte des Bundestages. Die Anträge und Empfehlungen zur Änderung der Geschäftsordnung des Bundestages wurden in dieser Legislaturperiode unmittelbar vom zuständigen Ausschuß für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung behandelt, ein Antrag auf Wiedereinsetzung der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreform 28 fand demgeRoll/Rüttger ZParl1980, 484, 491; Roll, NJW 1981, 23. 25 Zu den Zielen und den Gründungsmitgliedern der Abgeordneteninitiative vergl. ZPari 1984,171 ff. 26 BT-Drs.10/1983. 27 BT-Drs. 10/3600. 28 BT-Drs. 11/245. 24

3. Abgeordneter und Fraktion in der Rechtsp7echung

31

gen über keine Mehrheit. Die Beratungen des Geschäftsordnungsausschusses führten im Herbst 1990 zu einigen Änderungen der Geschäftsordnung, von einer grundlegenden Parlamentsreform wurde jedoch Abstand genommen. Der zweite Versuch, der Mediatisierung des einzelnen Abgeordneten durch die Fraktionen entgegenzutreten, kann im Organstreit vor dem BVerfG gesehen werden, den der von der Fraktion DIE GRÜNEN ausgeschlossene und somit fraktionslos gewordene Bundestagsabgeordnete Thomas Wüppesahl im Jahre 1988 unter anderem gegen den Deutschen Bundestag und seine frühere Fraktion angestrengt hat. In diesem Verfahren stellte er eine Reihe von Anträgen, die seine Stellung als Mitglied des Bundestages betrafen. Das BVerfG erhielt dadurch erstmals Gelegenheit, sich mit der Stellung fraktionsloser Abgeordneter auseinanderzusetzen. Im Urteil vom 13. Juni 198929 entschied es, der Deutsche Bundestag verletze den Antragsteller in seinen Rechten aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dadurch, daß er ihm keine Möglichkeit einräume, in einem Ausschuß als Mitglied mit Rede- und Antragsrecht mitzuwirken. Das gleichfalls beantragte Stimmrecht im Ausschuß wurde hingegen ebenso wie die übrigen Anträge zurückgewiesen.

3. Abgeordneter und Fraktion in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Angesichts des hohen Rangs, den die Rechtsprechung des BVerfG für die Auslegung der Verfassung hat, soll schon hier ein erster Überblick über diese Judikatur gegeben werden, soweit sie für die ThemensteIlung von Bedeutung ist. Dabei können Urteile, die sich inhaltlich zumindest auch mit der Rechtsstellung des Abgeordneten oder der Fraktion beschäftigen, von solchen unterschieden werden, bei denen sich lediglich anläßlich der Prüfung der Zulässigkeit bestimmte Aussagen über deren Rechte ergeben. Dementsprechend stellt ein erster Abschnitt Urteile vor, die die Befugnisse von Abgeordneten und Fraktionen im parlamentarischen Verfahren behandeln. Ein zweiter Abschnitt schließt sich an, der darüber hinaus auch Entscheidungen einbezieht, welche an sich zu anderen Themen ergangen sind, 29 BVerfGE 80,188 ff.

32

Einleitung

jedoch inhaltliche Stellungnahmen auch für die hier interessierenden Fragen enthalten. In einem dritten und letzten Schritt schließlich wird darlegt, welche Schlußfolgerungen sich aus Aussagen ziehen lassen, die das BVerfG im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung in bestimmten Verfahren getroffen hat.

a) Die Entscheidungen des Bundesvetj"assungsgerichts zu den Kompetenzen des Abgeordneten und der Fraktion im parlamentarischen Prozeß

Untersucht man die einschlägige Rechtsprechung des BVerfG, stellt man zunächst fest, daß es nur sehr wenige Entscheidungen gibt, die sich mit den konkreten Befugnissen des einzelnen Abgeordneten im Ablauf des parlamentarischen Geschehens befassen. Im wesentlichen handelt es sich dabei um vier Urteile in Organstreitverfahren, eines vom 14. Juli 1959 zum Rederecht des Abgeordneten 30 , ein weiteres vom 14. Januar 1986 zur Frage des unbeschränkten Zugangs zu Ausschüssen des Parlaments (im zu beurteilenden Fall handelte es sich um das Gremium zur Genehmigung der Wirtschaftspläne der Geheimdienste)31, um das Urteil vom 13. Juni 1989 zur Rechtsstellung des fraktionslosen Abgeordneten32 sowie schließlich um das Urteil über die Rechtsstellung parlamentarischer Gruppierungen ohne Fraktionsstatus auf Antrag der Gruppe der PDS/LU3 vom 16. Juli 1991. Eine denkbare Erklärung für diese außerordentliche Seltenheit verfassungsgerichtlicher Entscheidungen könnte darin zu sehen sein, daß der Themenkomplex des freien Mandats keine praktischen Konfliktsituationen hervorbringt. Dem widerspricht jedoch die Tatsache, daß sich Erörterungen im Schrifttum in diesem Zusammenhang gerade an Vorkommnissen aus der Staatspraxis entzündet haben 34 . Weit näher liegt daher die Vermutung, daß derartige Konfliktfälle in der Praxis auf politischem Wege und ohne Ein30 BVerfGE 10, 4 ff.

31 BVerfGE 70, 324 ff. 32 BVerfGE 80,188 ff. 33 BVerfGE 84, 304 ff.

34 Erinnert sei hier nur an die lebhafte Kontroverse, die während der 6. Wahlperiode des Bundestages über die Frage eines möglichen Mandatsverlustes bei Fraktionswechsel geführt wurde. Hintergrund waren die bei einer äußerst knappen Regierungsmehrheit erfolgten Fraktionsübertritte von mehreren Angehörigen der Regierungsfraktionen zur Opposition. Vergl. dazu u.a. Adam, PVS 1972,300 ff.; Krie1e, ZRP 1969, 241 f.; ders., ZRP 1971, 99 ff.; Loewenstein, JZ 1972, 352 f.; Säcker, DVBI. 1970, 567 ff.; ders., ZParl 1972, 347 ff.; H.-J. Schröder, ZRP 1971, 97 ff.; ders., DVBl. 1971, 132 ff.; Siegfried, ZRP 1971, 9 ff.; Trautmann, JZ 1970, 405 ff.; Tsatsos, DÖV 1971, 253 ff.

3. Abgeordneter und Fraktion in der Rechtsprechung

33

schaltung juristischer Instanzen geregelt werden. Bereits bei diesem ersten Zugriff wird also deutlich, daß die rein verfassungsrechtliche Beurteilung in der Realität nur dann zum Tragen kommt, wenn politische Lösungswege versagen. Angelegt ist dieser Vorrang der politischen Dimension schon in der bewußten Beschränkung des Grundgesetzes auf einen rechtlichen Rahmen, den die politisch Handelnden ausfüllen sollen. Das Verhalten der am politischen Prozeß Beteiligten ist durch verfassungsrechtliche Vorgaben nicht bis in die Einzelheiten determiniert und daher auch nur bedingt justitiabel35 • Schon in der ersten der angesprochenen Entscheidungen entwickelte das BVerfG ein Modell für die Verteilung der Aufgaben zwischen Abgeordneten und Fraktion am Beispiel des Rederechts im Plenum36 • Es sieht die Redebefugnis des Abgeordneten im Bundestag als zu seinem in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG umrissenen verfassungsmäßigen Status gehörig an. Die Aufteilung der insgesamt zur Verfügung stehenden Redezeit auf die Fraktionen bedeutet danach eine Beschränkung seiner Redefreiheit. Soweit diese Bindung des einzelnen Abgeordneten aber nicht über das hinaus geht, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist, sei sie verfassungsrechtlich unbedenklich. Dies wird so dann für die Verteilung von Fraktionsredezeiten durch den Bundestag bejaht. Das auf Antrag eines Abgeordneten und seiner Fraktion hin ergangene Urteil zur wirtschaftlichen Kontrolle der Geheimdienste greift dieses Modell auf. Allerdings ging es in diesem Fall nicht um die Bindung des Abgeordneten an die Fraktion, sondern um die gesetzliche Übertragung der Beratung bestimmter Haushaltstitel von einem Unterausschuß des Haushaltsausschusses auf ein vom Bundestag mit Mehrheitswahlrecht gewähltes Gremium von fünf Abgeordneten, was zur Folge hatte, daß die Fraktion DIE GRÜNEN an dieser Beratung nicht mehr beteiligt war. Das BVerfG führte aus 37 , zwar habe der Abgeordnete aus seinem Status das Recht, daß ihm diejenigen Informationen nicht vorenthalten würden, die ihm eine sachverständige Beurteilung des Haushaltsplans ermöglichten. Doch sei der Status des Abgeordneten eingebunden in die vom Parlament im Interesse seiner Arbeitsfähigkeit wie auch im Interesse der zur Verhandlung stehenden Gegenstände gesetzten Schranken. Aus Gründen des Geheimschutzes wurde vom Senat dann eine zulässige Beschränkung der AbgeordnetenHesse, Grundzüge, Rdnr. 600; Degenhart, Staatsrecht 1,8. A., 1992, Rdnr. 406. BVerfGE 10,4, 12 ff. 37 BVerfGE 70, 324, 355 ff.

35 36

3 Demmler

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Einleitung

rechte angenommen. Ferner sei es auch nicht von der Verfassung geboten, daß alle Fraktionen in dem neugebildeten Gremium vertreten sein müßten. Weder die Größe des Gremiums noch das Wahlsystem werden von der Senatsmehrheit beanstandet38 • Die Sondervoten der Bundesverfassungsrichter Mahrenholz und Böckenförde39 stellten neben Bedenken gegen die vom Parlament gewählte Gesetzesform vor allem die Nichteinbeziehung einer Fraktion in den Mittelpunkt ihrer Kritik. Ansatzpunkt ist dabei der Gedanke der Repräsentation, der es gebiete, alle Abgeordneten an den Beratungen des Bundestages in gleicher Weise zu beteiligen. Indem man eine Fraktion von bestimmten Aufgaben ausschließe, würden zugleich die ihr angehörenden Abgeordneten in ihrem Beteiligungsrecht beeinträchtigt. Anders als die Senatsmehrheit sehen die Sondervoten in der Fraktion also viel stärker die Vereinigung von individuellen Abgeordneten. Schwerpunkt der Entscheidung im Fall Wüppesahl40 ist die Reichweite von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Der Senat folgerte angesichts der Bedeutung der Ausschußarbeit aus dieser Vorschrift einen Anspruch des einzelnen auf Mitgliedschaft in einem Ausschuß mit Rede- und Antragsrecht. Das Stimmrecht im Ausschuß stehe dem Fraktionslosen hingegen nicht zu. Seine Stimmabgabe bei der Beschlußempfehlung würde überproportional wirken, weil er nur für sich, nicht auch für die Mitglieder einer Fraktion sprechen könne. Deutlich wird an dieser Argumentation, wie sehr das BVerfG davon ausgeht, daß der fraktionsangehörige Abgeordnete im Ausschuß jedenfalls bei der Stimmabgabe Vertreter seiner Fraktion ist und eine einheitliche Fraktionslinie verfolgt. Wichtigster Anhaltspunkt für diese Position ist das nicht in Frage gestellte Modell der Ausschußbesetzung, daß nämlich die Fraktionen die Ausschußmitglieder nach § 57 Abs. 2 GOBT benennen41 . Noch stärker kommt diese Tendenz in dem Sondervotum des Bundesverfassungsrichters Kruis42 zum Ausdruck. Dieser bewertete den Abgeordneten38 BVerfGE 70,324,362 ff. 39 BVerfGE 70, 324, 366 ff. (SondeIVotum Mahrenholz), 380 ff. (SondeIVotum Böckenförde). 40 BVerfGE 80,188 ff. 41 Die Benennung der Ausschußmitglieder durch die Fraktionen wurde auch schon in der Entscheidung BVerfGE 77,1,39 ff., für die Untersuchungsausschüsse ausdrücklich für verfassungsgemäß erklärt. Für die Bestellung der Magistrate in schleswig-holsteinischen Kommunen hat das BVerfG hingegen in dem Urteil BVerfGE 38, 258 ff. ein Benennungsrecht ~er Fraktionen für nicht ausreichend erachtet, eine demokratische Legitimation zu vermitteln, die sich auf die Gesamtheit der Bürger als dem Volk zurückführen läßt, von dem alle Gewalt ausgeht. Hier hat das BVerfG vielmehr eine Wahl durch die Stadtvertretung als Repräsentationsorgan für erforderlich erklärt. 42 BVerfGE 80,188,241 ff. (SondeIVotum Kruis).

3. Abgeordneter und Fraktion in der Rechtsprechung

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status als von Anfang an durch die Gliederung des Parlaments in Fraktionen inhaltlich bestimmt. Infolgedessen sprach er sich gegen jede Ausschußmitgliedschaft fraktionsloser Abgeordneter aus. Einzig das Sondervotum des Richters Mahrenholz43 zählte auch das Stimmrecht im Ausschuß zum Status jedes Abgeordneten mit der Folge, daß ihm dieses nicht entzogen werden könne. Außerdem spreche dafür auch die prinzipielle Gleichheit aller Abgeordneten. Diese Haltung begründet somit aus Art. 38 GG ein von der Fraktion unabhängiges Recht des einzelnen Abgeordneten auf VolImitgliedschaft in einem Ausschuß. Die bisher letzte Entscheidung zum Thema ist das PDS-Urteil44 • Der Antrag der Gruppe auf Anerkennung als Fraktion wurde vom BVerfG zurückgewiesen. Auch die hilfsweise gestellten Anträge auf Zuerkennung weiterer Rechte blieben weitgehend ohne Erfolg, vor allem weil der Bundestag zu Beginn der 12. Wahlperiode den Gruppenstatus wesentlich aufgewertet und den Gruppen von PDS/LL und Bündnis 90/DIE GRÜNEN Befugnisse zugestanden hatte, die sonst Fraktionen vorbehalten sind45 •

b) Die weiteren inhaltlichen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts

Die Bedeutung der Tätigkeit im Ausschuß war vom BVerfG bereits in einer früheren Entscheidung46 hervorgehoben worden, deren eigentliches Thema nicht in der Rechtsstellung des Abgeordneten bestand. Im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde war über die Verfassungsmäßigkeit von § 46 Abs. 2 GOBT zu befinden, wonach der Bundestag als beschlußfähig gilt, sofern die Beschlußfähigkeit nicht in einem näher bezeichneten Verfahren bezweifelt wird. Der Beschwerdeführer hatte geltend gemacht, das Prinzip der repräsentativen Demokratie gebiete eine Beteiligung einer Mindestzahl von Abgeordneten an der Schlußabstimmung über ein Gesetz. Das BVerfG entnahm dem Grundsatz der repräsentativen Demokratie die Forderung, daß alle Abgeordneten bei der Willensbildung des Parlaments mitwirken müßten, doch müsse dies nicht notwendigerweise in der Schlußabstimmung geschehen. Dadurch, daß in der Staatspraxis ein wesentlicher Teil der Sach43 DVerfGE 80,188,235 ff. (SondeIVotum Mahrenholz). 44

DVerfGE 84,304 ff.

45 DT-Drs. 12/149, DT-Drs. 12/150.

46 BVerfGE 44, 308 ff.

Einleitung

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arbeit des Bundestages sich in den Ausschüssen und Fraktionen vollziehe und hier auch in der Sache die Entscheidungen fielen, sei die Repräsentation gleichsam in diese Gremien vorverlagerr'7. Eine weitere in diesem Urteil erstmals geäußerte Auffassung des BVerfG besteht darin, daß zwar jeder einzelne Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes sei, aber nur die Gesamtheit der Abgeordneten das Volk angemessen repräsentieren könne, weil nur der Bundestag selbst Organ im Sinne von Art. 20 Abs. 2 GG sei, das die Staatsgewalt für das Volk ausüben könne48 . Gerade daraus leitet der Senat das Erfordernis der grundsätzlichen Mitwirkung aller Abgeordneten ab. In späteren Entscheidungen wird dieser Gedanke wieder aufgegriffen49 . Ferner ist in diesem Zusammenhang das Diätenurteil zu nennen. Das BVerfG führt hier aus, der Typus des unabhängigen, als Einzelpersönlichkeit gewählten Honoratioren-Abgeordneten, dessen wirtschaftliche Existenz nicht mit dem Mandat verbunden sei, sei immer seltenen er geworden. Aus der Entschädigung für einen besonderen mit dem Mandat verbundenen Aufwand sei eine Alimentation des Abgeordneten und seiner Familie aus der Staatskasse geworden als Entgelt für die Inanspruchnahme des Abgeordneten durch sein zur Hauptbeschäftigung gewordenes Mandat 50 • Wenn auch unmittelbar anschließend hervorgehoben wird, der Abgeordnete sei nach wie vor Träger des freien Mandats und Vertreter des ganzen Volkes geblieben, so ist doch die Anlehnung an die Parteienstaatslehre von Gerhard Leibholz nicht zu verkennen, die dem repräsentativen Status jedes Abgeordneten nur noch eine sehr geringe Bedeutung beimißt. Die Diätenrechtsprechung ist aber darüber hinaus auch bedeutsam geworden für die Betonung der Gleichheit aller Abgeordneten. Hier ist insofern eine Entwicklung in der Judikatur des BVerfG eingetreten, als dieses zunächst den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG als Maßstab heranzog, so daß bei Vorliegen sachlicher Gründe eine Differenzierung möglich war51 • In der Entscheidung vom 5. November 197552 betont das Gericht dann den engen Bezug zwischen den Diäten der Abgeordneten und dem gleichen passiven Wahlrecht, das Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistet, ohne ganz deutlich zu machen, ob Art. 3 GG oder Art. 38 Abs. 1 GG die Vorschrift ist, an der die beanstandete Regelung gemessen wird. Jedenfalls 47 48 49 50 51 52

BVerfGE 44, 308, 315 ff. BVerfGE 44,308, 316. BVerfGE 56, 396, 405; 80, 188,217 f. BVerfGE 40,296,312 ff. BVerfGE 4,144,155; 32, 157, 167. BVerfGE 40,296 ff.

3. Abgeordneter und Fraktion in der Rechtsprechung

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beurteilt das BVerfG den Sachverhalt an den von ihm zur Wahlrechtsgleichheit aufgestellten Grundsätzen, wonach eine Ungleichbehandlung nur beim Vorliegen zwingender Gründe möglich ist. Nicht nur über den Status des Abgeordneten, sondern auch über die Stellung und die Funktionen der Fraktionen unter dem Grundgesetz hat sich das BVerfG aber immer wieder geäußert. Zunächst sieht das Gericht ihre Aufgaben in ständiger Rechtsprechung darin, den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grade zu steuern und damit zu erleichtern53 • Damit ist die Rolle der Fraktionen für die Effektivität parlamentarischer Aufgabenerfüllung angesprochen. Daneben hat das Gericht aber auch in der Entscheidung über die Beschlußfähigkeit des Bundestages die Bedeutung der Fraktionen für die einzelnen Abgeordneten hervorgehoben. Sie eröffne durch die parallele Beratung aller Vorlagen in den Arbeitskreisen und in der Vollversammlung der Fraktion auch den Abgeordneten eine indirekte Mitwirkungsmöglichkeit, die an den Beratungen im Plenum und in den Ausschüssen des Bundestages nicht teilnehmen könnten. Damit diene die Fraktion auch der repräsentativen Funktion des Abgeordneten 54 . Schließlich stellt das BVerfG aber auch immer wieder die enge Verflechtung zwischen Partei und Fraktion heraus, indem es erklärt, mit der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG erkenne das Grundgesetz auch die Fraktionen an 55 • Damit sind die entscheidenden Bezugsgrößen für die verfassungsrechtliche Einordnung der Fraktion genannt. Ihre Stellung ist in einem Kräftefeld zu bestimmen, dessen Eckpunkte das Gesamtparlament, der einzelne Abgeordnete und die politische Partei bilden.

c) Die Äußenmgen des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen der Zulässigkeitspriiftmg

Im letzten Abschnitt ist auf eine Reihe von Entscheidungen hinzuweisen, die bei der Prüfung der Zulässigkeit verfassungsrechtliche Aussagen über die Stellung der Abgeordneten und Fraktionen treffen. Zunächst ist schon lange anerkannt, daß Fraktionen als ständige Gliederungen des Parlaments in Prozeßstandschaft die Rechte des Gesamtparlaments geltend machen 53 BVerfGE 10, 4,14; 20,56,104; 38, 258, 273 f.; 43,142,147; 62, 194, 202.

54 BVerfGE 44,308,318. 55 BVerfGE 10, 4,14; 43, 142, 147; 70, 324, 350.

38

Einleitung

können 56 • Anderen Gruppen von Abgeordneten, die sich nur von Zeit zu Zeit zur Geltendmachung konkreter Befugnisse zusammenfinden, wurde dies ebenso wie dem einzelnen Abgeordneten jedoch schon sehr früh verwehrt 57 . Der einzelne ist nur dann antragsbefugt im Organstreitverfahren, wenn mit der möglichen Verletzung von Rechten des Bundestages zugleich eine Beeinträchtigung seiner verfassungsmäßig gesicherten Rechtsstellung als Abgeordneter in Betracht kommt. Dies wurde etwa bei den Organstreitverfahren von vier Bundestagsabgeordneten gegen die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages durch den Bundespräsidenten bejaht58 . Die Antragsbefugnis des Abgeordneten wurde der vierjährigen Dauer der Wahlperiode nach Art. 39 Abs. 1 GG entnommen. Jeder einzelne Abgeordnete habe damit ein zu seinem verfassungsmäßigen Status gehöriges Recht auf eine vierjährige Amtsdauer59 . Aus einer Verfassungsvorschrift, die sich zunächst auf das Gesamtparlament bezieht, wurde hier also ein konkretes Einzelrecht des Abgeordneten abgeleitet. Aus dieser Rechtsprechung läßt sich aber ersehen, daß das BVerfG die Befugnisse des Bundestages weiter zieht als die Rechte des einzelnen, so daß einer Kompetenz des Bundestages keineswegs notwendigerweise eine in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verfassungsrechtlich geschützte Mitwirkungsbefugnis des einzelnen Abgeordneten entsprechen muß. In einer neueren Entscheidung60 ist dies sowohl für den Abgeordneten als auch für die Gruppe, also für einen Zusammenschluß von Abgeordneten, der nicht die Fraktionsmindeststärke erreicht, bestätigt worden. Inzwischen hat sich die Rechtsprechung des BVerfG im Hinblick auf die Antragsbefugnis der Fraktionen weiterentwickelt. In dem schon angesprochenen Urteil über die Haushaltskontrolle der Geheimdienste wurde erstmals ausdrücklich festgehalten, daß Fraktionen nicht auf die Geltendmachung von Rechten des Gesamtparlaments beschränkt sind, sondern vielmehr eigene Rechte mit Verfassungsrang haben, die sie im Wege des Organstreits verteidigen können61 . Im konkreten Fall wurde dies für den aus Art. 20 Abs. 2 G folgenden Minderheitenschutz angenommen. Ist somit verfassungsgerichtlich anerkannt, daß Fraktionen auch eigene Rechte aus 56 BVerfGE 1, 351, 359; 1,372,378; 2, 143, 160. 57 Für die lose Gruppe von Abgeordneten BVerfGE 2, 143, 165, für den einzelnen Abgeordneten 2, 143, 166. 58 BVerfGE 62, 1 ff. 59 BVerfGE 62, 1,32. 60 BVerfGE 60, 319, 327 f. 61 BVerfGE 70,324,351.

4. Der Gang der Darstellung

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der Verfassung herleiten können, so wird dem einzelnen Abgeordneten in dieser Entscheidung - ebenso wie schon früher für die Rechte des Gesamtparlaments - die Befugnis abgesprochen, die Rechte seiner Fraktion in eigenem Namen gelten zu machen. Die Möglichkeit einer gleichzeitigen Verletzung in eigenen Abgeordnetenrechten dadurch, daß kein Mitglied der Fraktion des Antragstellers dem fraglichen Gremium angehörte, wurde von der Senatsmehrheit abgelehnt62 • Dies folge insbesondere aus dem Vergleich zu fraktionslosen Abgeordneten, die keine mindere Rechtsstellung hätten als fraktionsangehörige und deren Abgeordnetenstatus durch Nichtvertretung in dem Gremium auch nicht beeinträchtigt werde. Insgesamt trennt das BVerfG also auch prozessual sehr genau die Rechte des Bundestages, die von Fraktionen und schließlich die der einzelnen Abgeordneten. Indem der Abgeordnete schließlich zur prozessualen Wahrnehmung der aus dem Abgeordnetenstatus entspringenden Einzelrechte auf das Verfahren des Organstreits verwiesen und ihm die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde nicht eröffnet wird, gibt das BVerfG zu erkennen, daß es zwischen der Freiheit des Mandates in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und der grundrechtlichen Freiheit des Bürgers einen deutlichen Unterschied sieht63 • Damit im Einklang steht auch, daß in einem neueren Beschluß die Redefreiheit des Abgeordneten im Parlament ausschließlich in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankert wird; der Abgeordneten könne sich darüber hinaus nicht auch auf Art. 5 oder Art. 2 GG berufen64 .

4. Der Gang der Darstellung In einem ersten Kapitel wird die Untersuchung sich der Frage zuwenden, inwieweit die Rechtsstellung des Abgeordneten von der Verfassung unmittelbar bestimmt wird. Ausgangspunkt wird dabei die Überlegung sein, wie der Status des Abgeordneten generell umschrieben werden kann, ob insbesondere Parallelen zu der Stellung des Grundrechtsträgers möglich erscheinen und ob die Gewährleistung des freien Mandats durch die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG eine Einschränkung 62 BVerfGE 70, 324, 354.Vergl. aber demgegenüber das Sondervotum Mahrenholz BVerfGE 70, 324, 355. 63 BVerfGE43, 142 ff. 64 BVerfGE 60, 374, 380.

40

Einleitung

erfahren hat. Auf diesem Hintergrund werden so dann die beiden Elemente entwickelt, die den Abgeordnetenstatus ausmachen, Freiheit und Gleichheit. Vor allem bei der Freiheit des Abgeordneten und damit der Auslegung der Vorschrift über das freie Mandat (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) wird - entsprechend der zugrundeliegenden Fragestellung - eine Beschränkung auf die Problemfelder erfolgen, die sich mit der Unabhängigkeit des Abgeordneten von der Fraktion befassen. Andere Bedrohungen seiner Unabhängigkeit, wie sie etwa von Verbänden oder sonstigen Interessengruppen ausgehen können, liegen hingegen außerhalb des Untersuchungsrahmens. Das folgende zweite Kapitel stellt dieser Betrachtung über den Status des Abgeordneten die andere Seite des hier zu beleuchtenden Verhältnisses gegenüber, beschäftigt sich also mit der verfassungsrechtlichen Stellung der Fraktionen. Eine große Rolle wird dabei die Frage ihrer zutreffenden Herleitung aus dem Grundgesetz spielen, weil hier eine bedeutsame Vorentscheidung fällt über die mögliche Zuweisung von parlamentarischen Befugnissen an die Fraktionen. Im Anschluß daran ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Fraktionsbildung, wie sie § 10 Abs. 1 GOBT normiert, vor dieser verfassungsrechtlichen Herleitung Bestand haben können. Nachdem die Arbeit sich in den beiden Eingangskapiteln der verfassungsrechtlichen Grundlagen von Abgeordnetem und Fraktion vergewissert hat, kann das dritte Kapitel durch konkrete Zuordnung dieser Positionen den Versuch unternehmen, ein Modell für die Verteilung parlamentarischer Befugnisse zwischen bei den zu entwerfen. Im abschließenden vierten Kapitel wird die entwickelte Lösung für die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Abgeordneten und Fraktionen dann übertragen auf ausgewählte Befugnisse. Die betreffenden Geschäftsordnungsbestimmungen und die parlamentarische Praxis werden dabei überprüft auf ihre Vereinbarkeit mit dem aus der Verfassung gewonnenen Maßstab. Die Konsequenzen, die sich hier ergeben, mögen ihrerseits als Plausibilitätskontrolle für das Grundmodell herangezogen werden.

1. Kapitel

Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

§ 1: Der Abgeordnete als Amtsträger Die Rechtsstellung des Abgeordneten ist, was die Ausübung seines Mandats anbelangt, in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG begründet. Der Inhalt dieser Bestimmung, die in Deutschland auf eine lange verfassungsgeschichtliche Tradition zurückgeht 1, wird gemeinhin so umschrieben, daß darin die Freiheit des Mandats verbürgt werde 2•

1 So finden sich entsprechende Bestimmungen bereits in den Verfassungen des deutschen Frühkonstitutionalismus (vergl. § 48 Verfassung für das Großhenogtum Baden 1818; § 155 Verfassung für das Königreich Württemberg 1819; § 73 Verfassung für das Kurfürstentum Hessen 1831; § 81 Verfassung für das Königreich Sachsen 1831). Die Paulskirchenverfassung vom 28.3.1848 bestimmte in § 96: "Die Mitglieder beider Häuser können durch Instruktionen nicht gebunden werden." Ausführlicher und dem heutigen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG schon sehr ähnlich statuierte Art. 83 der Verfassung für das Königreich Preußen vom 31.1.1850 : "Die Mitglieder beider Kammern sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie stimmen nach ihrer freien Übeneugung und sind an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden." Die Entwicklung verlief sodann über Art. 29 der Reichsverfassung von 1871 ("Die Mitglieder des Reichstages sind Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden.") zu dem unmittelbaren Vorbild der grundgesetzlichen Regelung in Art. 21 der Weimarer Reichsverfassung ("Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht gebunden."). 2 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 1; H. H. Klein, Status des Abgeordneten, in: IsenseejKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 11, 1987, § 41, Rdnr. 2; von Münch, Grundbegriffe des Staatsrechts, Band 11, 4. A., 1987, Rdnr. 384; Degenhart, Staatsrecht I, 8. A., 1992, Rdnr. 402; J. Ipsen, Staatsorganisationsrecht, 4. A., 1992, Rdnr. 237. Bedenken gegen diesen Begriff wegen der vielfältigen Bindungen des Abgeordneten und der Vorschlag, stattdessen lediglich vom parlamentarischen Mandat zu sprechen, finden sich bei H.-P. Schneider, Das parlamentarische System, in: BendajMaihoferjVogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S. 239, 254.

1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

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1. Die Unterscheidung von Mandatsfreiheit und Grundrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die Verwendung des Begriffs "Freiheit" läßt unwillkürlich Assoziationen an grundrechtIiche Freiheiten aufkommen, wie sie dem Bürger gegen den Staat zustehen. Sollte der Status des Abgeordneten der Situation des Grundrechtsträgers entsprechen, so hätte dies auch unmittelbar Auswirkungen für die Verteilung der Kompetenzen zwischen Abgeordnetem und Fraktion, die hier untersucht werden soll. Wäre Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG eine Art Grundrecht, so stünden die parlamentarischen Befugnisse - soweit sie vom Schutzbereich der Vorschrift umfaßt sind - zunächst dem einzelnen Abgeordneten als Träger dieses Rechts zu. Jede Bindung an die Fraktion, welche die Geschäftsordnung des Bundestages vorsieht, würde dann einen Eingriff in diesen Schutzbereich bedeuten und müßte infolgedessen durch eine Schranke der Mandatsfreiheit gerechtfertigt sein. Es ist aber zweifelhaft, ob dieses Grundrechtsmodell auf die Rechtssteilung des Abgeordneten übertragen werden kann. Einen gewissen Anhaltspunkt dafür scheint zwar Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a GG zu liefern, der die Verfassungsbeschwerde als das Instrument der gerichtlichen Durchsetzung von Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten auch für die behauptete Verletzung des Art. 38 GG eröffnet. Das BVerfG hat jedoch mehrfach entschieden, Abgeordnete könnten zur Verteidigung von Rechten, die mit ihrem verfassungsrechtlichen Status verbunden sind, nicht Verfassungsbeschwerde erheben, sondern nur einen Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG anstrengen 3 • Da es sich in beiden zu entscheidenden Fällen um Abgeordnete aus Länderparlamenten handelte (im ersten Urteil um ehemalige Abgeordnete der bremischen Bürgerschaft, die gegen den Verlust ihrer Mandate aufgrund des Verbots der KPD vorgehen wollten, im zweiten um Mitglieder des bayerischen Landtages, die sich gegen eine in der Geschäftsordnung festgelegte Fraktionsmindeststärke wandten), waren sie für einen Organstreit vor dem BVerfG nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG nicht parteifähig. Weil andererseits auch die Voraussetzungen für eine subsidiäre Zuständigkeit des BVerfG nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG nicht vorlagen, da das Landesrecht einen Rechtsweg zu den jeweiligen Landesverfassungsgerichten bereitstellte (den die Abgeordneten im übrigen auch erfolglos beschritten hatten), wies das BVerfG die Verfassungsbeschwerden in beiden 3

BVerCGE 6, 445 Cf.; 43, 142 Cf.

§ 1: Der Abgeordnete als Amtsträger

43

Fällen als unzulässig zurück. Insbesondere die frühere der beiden Entscheidungen bezieht ausdrücklich auch zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Stellung4, obwohl, da diese Vorschrift nur für die Abgeordneten des Deutschen Bundestages gilt, die Mitglieder der Landesparlamente sich darauf ohnehin nicht berufen konnten. Die Bestimmung begründe, so das BVerfG, kein Individualrecht des Abgeordneten, sondern umschreibe seine organschaftliche Stellung und erlege ihm Pflichten als Mitglied des Parlaments auf.

2. Die Parallelen zum Grundrechtsdenken im Schrifttum Diese Rechtsprechung ist in der Literatur jedoch auch kritisiert worden, gerade in dem Bestreben, Bezüge zu grundrechtlichem Denken herzustellen s. Die Eingliederung der Parlamentsabgeordneten in die institutionalisierte Staatlichkeit sei sowohl begrifflich als auch verfassungstheoretisch verfehlt. Mit der Definition der Statusrechte als staatsorganschaftliche Rechte sei die Möglichkeit verschlossen worden, den Abgeordnetenstatus als eigene staatsabwehrende Grundrechtsposition gegenüber dem Staatsorgan Parlament zu qualifizieren. Andere Stimmen im Schrifttum gehen weniger weit, glauben aber immerhin, eine Beziehung herstellen zu können zwischen der Gewährleistung des freien Mandats einerseits und dem grundrechtlichen Abwehranspruch des Bürgers gegen den Staat auf der anderen Seite6 •

4 BVerfGE 6, 445, 447 f. S Strunk DVBI. 1977, 615, 616. 6 Oppermann VVDStRL 33 (1975), 7, 43 f., beschreibt das freie Mandat etwa als "Ausformung der Individualität, Personalität und politischen Meinungs- und Handlungsfreiheit seines Trägers im Sinne der Art. 1, 2 und 5 GG." An späterer Stelle (S. 150) charakterisiert er Art. 38 GG als 'organisatorisch besonders gewendete Ausformung derselben Grundgedanken wie Art. 5." Unklar ist die Position von Abmeier, Die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten des Deutschen Bundestages nach dem Grundgesetz, 1984, der auf S. 67 f. eine VelWandtschaft zum grundrechtlichen status negativus und deutliche Parallelen der Konstellation einzelner Abgeordneter - Bundestag zum Verhältnis Bürger - Staat verzeichnet, gleichwohl aber auf auf S. 41 ausdrücklich eine Grundrechtslösung verwirft und die parlamentarischen Befugnisse des Abgeordneten als Kompetenzen des Amtes verstanden wissen will.

1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

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a) Das "Diäten urteil" als venneintliche Bestätigung des Gnmdrechtscharakters der AbgeordnetensteIlung Als Beleg für die Auffassung, der Status des Abgeordneten sei grundrechtlicher Natur, wird das sogenannte Diätenurteil des BVerfG7 angeführt 8 • In dieser Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde sei der Geltungsbereich des egalitären Gleichheitssatzes von Art. 3 Abs. 1 GG auch auf die Ausübung des Mandats bezogen worden. Dazu ist zunächst zu bemerken, daß der allgemeine Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG in der Entscheidungsformel des Urteils gerade nicht auftaucht, was auch in dem Sondervotum des Richters Vizepräsident Seuffert beanstandet wird9 • Auch in den Urteilsgründen wird Art. 3 Abs. 1 GG auffälligerweise nicht ausdrücklich genannt, die genaue Verortung des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs bleibt vielmehr unklar. Ausgangspunkt für die Herleitung der formalen Gleichheit aller Abgeordneten ist für den Senat der Grundsatz der privilegienfeindlichen Demokratie to . Unmittelbar anschließend folgen allerdings Ausführungen zum Gleichheitssatz. Die Zulässigkeit von Differenzierungen durch den Gesetzgeber richte sich nach der Natur des Sachbereichs, für den Sachbereich der Wahlen sei in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG für die Bundestagswahlen und in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG für die Wahlen in den Ländern, Kreisen und Gemeinden verbindlich festgelegt, daß jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise ausüben können soll. Dies wird sodann auch auf die Ausübung des Mandats erstreckt mit der Folge, daß alle Mitglieder des Parlaments einander formal gleichgestellt sind und Ausnahmen von diesem formalisierten Gleichheitssatz nur beim Vorliegen zwingender Gründe möglich sind. Die Aussage, das Prinzip der formalen Gleichbehandlung sei verfassungsrechtlich im egalitären Gleichheitssatz ausgeprägt 11 , spricht aber dafür, daß das Gericht den ihm unterbreiteten Fall doch an Art. 3 Abs. 1 GG mißt. Ganz deutlich wird Art. 3 Abs. 1 GG jedenfalls im Sondervotum Seuffert als Grundlage genommen 12 • Eine unmittelbare Heranziehung der Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG, dessen Verletzung auch im Wege der VerfasBVerfGE40, 296 ff. Strunk DVBI. 1977, 615, 616. 9 BVerfGE 40, 296, 330 ff. (SondelVotum Seuffert). Kritisch insofern auch E. Klein, AöR 108 (1983), 561, 597. 10 BVerfGE 40, 296, 317. 11 BVerfGE 40,296,318. 12 BVerfGE 40,296,333 (SondelVotum Seuffert). 7

8

§ 1: Der Abgeordnete als Amtsträger

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sungsbeschwerde gerügt werden kann, kam jedenfalls nicht in Betracht, da es sich nicht um die Diäten von Bundestagsabgeordneten, sondern von Abgeordneten des saarländischen Landtages handelte. Auf eine Verletzung von Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG aber kann die Verfassungsbeschwerde ebensowenig gestützt werden wie auf eine Verletzung des Demokratieprinzips l3. Es bleibt daher nur übrig, Art. 3 Abs. 1 GG als die vom BVerfG herangezogene Verfassungsnorm anzunehmen. Insofern ist es also zutreffend, daß das BVerfG im Diätenurteil eme grundrechtliche Begründung der Gleichheit der Abgeordneten gewählt und die Verfassungsbeschwerde zugelassen hat. Der Versuch, daraus einen Widerspruch zu der angegriffenene Rechtsprechung zu konstruieren, wclche eine grundrechtliche Ausgestaltung des Abgeordnetenstatus und damit die Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde ablehnt, muß aber fehlgehen, wenn man sich die besondere Situation des Beschwerdeführers im Diätenfall vergegenwärtigt l4 . Dieser war zwar bei Einlegung der Verfassungsbeschwerde Abgeordneter, wandte sich aber gegen gesetzliche Bestimmungen, die für ihn nur dann maßgebend geworden wären, wenn er auch für den nächsten Landtag kandidiert hätte und gewählt worden wäre. Es ging also nicht um Rechte aus seinem aktuellen Abgeordnetenstatus, sondern um seine Stellung als potentieller Bewerber um ein Mandat. Daher wirkte es sich auf die Beurteilung des Sachverhalts gar nicht aus, daß er bereits Abgeordneter war, er hätte die gesetzliche Regelung in der gleichen Weise angreifen können, wenn er dem Landtag noch nicht angehört hätte. Dem Bewerber um ein Abgeordnetenmandat stehen die Rechte aus dem Abgeordnetenstatus aber nach einhelliger Auffassung nicht zu l5 . Die im Schrifttum gelegentlich geäußerte Meinung, es sei inkonsequent, daß die gleichen Rechte, die vor der Wahl im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden könnten, von dem Abgeordneten nur noch im Organstreit zu verfolgen seien l6 , vermag nicht zu überzeugen. Die verfassungsprozessuale Durchset13 BVerfGE 47,253,270. 14 VergI. dazu BVerfGE 40,296,308 f. 15 BVerfGE 7, 63, 73; Achterberg, Parlamentsrecht, 1984, S. 218 FN 12. 16 Häberle, NJW 1976,537,540. In diese Richtung auch Umbach, Der "eigentliche" Verfassungsstreit vor dem Bundesverfassungsgericht, FS Zeidler, 1987, S. 1235, 1250 f., mit dem Vorschlag, Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG neu zu interpretieren und für Angriffe gegen Diäten- und Altersversorgungsregelungen für Abgeordnete stets den Organstreit zuzulassen, indem man auf die Rechtsqualität der geltend gemachten Rechtspositionen und nicht auf die der Streitparteien abstellt. Umbach räumt jedoch ein, daß man damit eine Ausnahme von der klassischen Konstellation des Organstreits schaffen müßte, wie auch er selbst sie auf S. 1237 f. herausgearbeitet hat.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

zung vollzieht lediglich die materiell rechtliche Unterscheidung nach, die zu machen ist zwischen Abgeordneten und denjenigen, die sich mangels parlamentarischen Mandats (noch) nicht auf Statusrechte berufen können. Bereits in einer früheren Entscheidung17 hatte das BVerfG die Verfassungsbeschwerde eines ehemaligen Abgeordneten zugelassen, welcher eine gleichheitswidrige Regelung hinsichtlich der Altersversorgung von Abgeordneten gerügt hatte. Auch dieser konnte, da er nicht mehr Abgeordneter war, nicht auf den Organstreit verwiesen werden l8 • Dem Diätenurteil kann daher nicht entnommen werden, daß die Rechtsstellung des Abgeordneten eine staatsabwehrende grundrechtliche Position sei.

b) Die Bedenken gegen die Eingliederung des Abgeordneten in die institutionalisierte Staatlichkeit aa) Begriffliche Einwände Was zunächst die begrifflichen Bedenken anbelangt, so stoßen sich die Kritiker im wesentlichen an den Äußerungen des BVerfG, die den Status des Abgeordneten als "organschaftliche Stellung" kennzeichnen l9 • Während in der älteren Rechtsprechung allgemein von der organschaft lichen Stellung der Abgeordneten als Mitglieder des Bundestages die Rede ist20, was auch die Deutung zuläßt, sie seien Organe des Bundestages, lassen Formulierungen in der Entscheidung zum Recht auf Fraktionsbildung, die den konkreten Anlaß der Kritik bildete, erkennen, daß dem Abgeordneten sogar die Stellung eines Staatsorgans der Bundesrepublik Deutschland zugeschrieben wird 21 . Auch von Teilen der Literatur wird er zumindest als Organ des Parlaments gesehen 22 . 17 BVerfGE 32, 157, 162. 18 Vergl. andererseits auch die umgekehrte Fallgestaltung in BVerfGE 64, 301 ff., wo die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde verneint wurde, weil der Beschwerdeführer, ein Mitglied des Landtages von Baden-Württemberg, von der beanstandeten Diätenregelung nicht nur - wie im Diätenfall - zukünftig als Bewerber um ein Mandat, sondern auch und sogar in erster Linie aktuell in seinem Abgeordnetenstatus betroffen war. Er war demzufolge auf ein Organstreitverfahren vor dem Staatsgerichtshof zu verweisen. 19 Strunk DVBI. 1977,615 f. 20 BVerfGE 6, 445, 448: ·organschaftliche Stellung des Abgeordneten"; 10,4, 11: "Die Antragsteller verfolgen Rechte aus ihrer OrgansteIlung als Mitglieder des Bundestages'. 21 So findet sich in BVerfGE 43,142, 148 die Formulierungen, die Verfassungsbeschwerde sei "kein Mittel zur Austragung von Meinungsverschiedenheiten zwischen Staatsorganen" so-

§ 1: Der Abgeordnete als Amtsträger

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Das Wesen des Organs besteht nach herrschender Ansicht darin, daß sein Handeln derjenigen juristischen Person zugerechnet wird, für die er tätig wird23 • Legt man diese Definition zugrunde, so ist zwar der Bundestag Organ des Bundes. Der einzelne Abgeordnete selbst aber ist weder Organ der Bundesrepublik noch des Bundestages. Er handelt zunächst nur für sich selbst, ein Handeln des Gesamtparlaments für die Bundesrepublik wird daraus erst durch das Zusammenwirken aller Abgeordneten. Ganz überwiegend wird daher in der Literatur abgelehnt, den Abgeordneten als Organ des Bundestages zu qualifizieren 24 • Insofern ist zuzugeben, daß die Wortwahl des BVerfG nicht immer ganz präzise war. Daraus folgt jedoch noch nicht, daß die Eingliederung des Abgeordneten in die institutionalisierte Staatlichkeit als solche zu verwerfen sei. Wenn er auch nicht Organ des Parlaments ist, so ist der Abgeordnete doch Teil dieses obersten Staatsorgans, das Grundgesetz selbst nennt seine Rechtsstellung in Art. 48 Abs. 2 ein Amt.

bb) Verfassungstheoretische Einwände Wenn hiergegen gleichwohl verfassungstheoretisch argumentiert wird, so geschieht dies mit der Behauptung, die Einbeziehung des Abgeordneten in den staatsorganschaftlichen Bereich gehe aus von dem spätliberalen Modell strikter Trennung zwischen staatsorganschaftlicher und gesellschaftlich-politischer Willensbildung25 • Dieser Dualismus aber lasse sich in der heutigen Zeit nicht mehr aufrechterhalten, da er dem komplexen Integrationsprozeß, der zur Bildung der öffentlichen Meinung und zur politischen Willensbildung des Volkes führe, nicht gerecht werde. Der Abgeordnete als Repräsentant des Volkes sei in dem Kommunikationsprozeß Subjekt der öffentlichen WilIensbildung, indem er diese durch sein Verhalten beeinflusse, aber wie, "daß dann, wenn der Abgeordnete ... um die ihm als Abgeordneten verfassungsrechtlich zukommenden Rechte mit einem anderen Staatsorgan" streitet, der Organstreit die richtige Verfahrensart sei. 22 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 33; Hamann/Lenz, GG, Art. 38, Anm. B 8; von Mangoldt/K1ein, GG, Art. 38 Anm. IV 1. 23 Wolff/BachofVerwaltungsrecht 11, 4. A., 1976, § 74 I f. 24 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 215; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 40, Rdnr. 14 f.; Steiger, Organisatorische Grundlagen des parlamentarischen Regierungssystems, 1973, S. 81; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band 11, 1980, § 26 11 1 b. 25 Strunk, DVBI. 1977, 615, 616.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

auch deren Objekt wegen der ständigen Kontrolle und Einwirkung durch die Öffentlichkeit, der er unterworfen sei. Zutreffend ist, daß die strenge Trennung zwischen Staat und Gesellschaft heute nicht mehr der Realität entspricht. Sie war kennzeichnend für die konstitutionelle Monarchie in Deutschland, wo das Parlament als Volksvertretung ganz auf der gesellschaftlich-politischen Seite im Gegensatz zum vom Monarchen bestimmten Staat stand26• Das Parlament war zu dieser Zeit kein eigentliches Staatsorgan. Es hatte bei der Gesetzgebung lediglich ein Zustimmungsrecht und auf die Exekutive so gut wie keinen Einfluß. Noch im Kaiserreich wurden die Abgeordneten dementsprechend außer halb der Staatsorganisation im engeren Sinne angesiedelt. Besonders deutlich wird das dar an, daß die Reichsverfassung von 1871 in ihrem Art. 32 vorsah, daß der Abgeordnete keine Besoldung oder Entschädigung beziehen durfte. Erst im Jahre 1906 wurde Art. 32 der Reichsverfassung dahingehend abgeändert, daß die Mitglieder des Reichstages eine Entschädigung nach Maßgabe der Gesetze erhielten27 • Konsequenterweise herrschte die Auffassung vor, der Abgeordnete sei dem Staate juristisch zu nichts verpflichtet 28 • Mit dem Ende der konstitutionellen Monarchie war diesem dualistischen Staatsverständnis der verfassungsrechtliche Boden entzogen, die Aufwertung des Parlaments zu einem wirklichen Staatsorgan mußte auch Auswirkungen auf die Stellung der Abgeordneten haben. So ist denn auch in Art. 39 Abs. 1 der Weimarer Reichsverfassung (im Gegensatz zur Reichsverfassung von 1871) vom Amt der Mitglieder des Reichstages oder eines Landtags die Rede. Die völlige Lösung von dem dualistischen Denken gelang allerdings nicht, noch am Ende der Weimarer Republik fmdet sich im Schrifttum der Hinweis, der Abgeordnete nehme eine Art gesellschaftliches Ehrenamt wahr 29 • 26 Magiera, Parlament und Staatsleitung in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, 1979, S. 109; Henke, Das Recht der politischen Parteien, 2. A., 1972, S.121. Zutreffend kennzeichnet H. Meyer, Die Stellung der Parlamente in der Verfassungsordnung des Grundgesetzes, in: H.-P. SChneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 4, Rdnr. 4, den Weg des Parlaments von der konstitutionellen Monarchie zur Demokratie als die Verwandlung eines bloßen Vertretungsorgans in ein Organ auch der Herrschaft. 27 Allerdings bedeutete die Bestimmung in der Reichsverfassung von 1871 einen Rückschritt im Vergleich zu vorher ergangenen Regelungen. So sah schon § 95 der Paulskirchenverfassung ein Tagegeld vor, auch in Art. 85 der Preußischen Verfassung von 1850 waren Diäten normiert. 28 Laband, Staatsrecht, Band 1,5. A., 1911, S. 241. 29 Tatarin-Tarnheyden, Die RechtsteIlung der Abgeordneten; ihre Pflichten und Rechte, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Band, 1930, S. 413,

§ 1: Der Abgeordnete als Amtsträger

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Unter dem Grundgesetz ist im Vergleich zu Weimar die Rolle des Parlaments noch weiter verstärkt worden, das Parlament steht nunmehr als einziges unmittelbar demokratisch legitimiertes Staatsorgan überhaupt im Mittelpunkt des staatlichen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesses3o . Dementsprechend ist die Amtsstellung des Abgeordneten von der Literatur ebenso akzeptiert worden wie von der Rechtsprechung des BVerfG31. Die Anerkennung des Abgeordneten als Teil der organisierten Staatlichkeit erweist sich daher bei verfassungsgeschichtlicher Betrachtung - ganz im Gegensatz zur vorgetragenen Kritik - gerade als die Überwindung der Trennung von Staat und Gesellschaft. Begreift man den Abgeordneten als Amtsträger, ist aber jede Parallele zur grundrechtlichen Abwehrposition des Bürgers gegen den Staat ausgeschlossen. Eine Gleichsetzung des freien Mandats mit Grundrechten ist darüber hinaus auch schon deshalb als verfehlt anzusehen, weil sie die Schutzrichtung des Art. 38 GG verengen würde auf die Abwehr staatlichen Verhaltens. Zwar ist unbestritten, daß auch der Staat (etwa bei der Ausgestaltung der Geschäftsordnung des Parlaments) die Garantie des freien Mandats beachten muß32, unzweifelhaft ist aber auch, daß noch eine andere Schutzrichtung wichtig ist. Historischer Ausgangspunkt des freien Mandats im Gegensatz zu einem imperativen Mandat war zunächst die Unabhängigkeit des Abgeordneten von seinen Wählern und damit die Wirkung gegenüber Privaten. Wenn auch nicht völlig außer Streit steht, daß den Grundrechten keine unmittelbare Drittwirkung zukommt33, so besteht doch jedenfalls deren primäre Wirkungsdimension in der Abwehr staatlicher Machtentfaltung. Gerade dies ist aber bei der Garantie des freien Mandats anders, schon deshalb wird man eine Vergleichbarkeit verneinen müssen. 415. Eine ähnliche Formulierung findet sich noch bei R. Jaeger, Art. Abgeordneter, StL, 6. A., 1957, Sp. 8, 11. 30 Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 15 ff.; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 159 ff.; Herzog in: MaunzjDürig, GG, Art. 20 (Demokratie), Rdnr. 76 f. 31 Hennis, Amtsgedanke und Demokratiebegriff, FG Smend, 1962, S. 51, 65; H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 1; von MangoldtjKlein, GG, Art. 38, Anm. IV 2, Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 2. A., 1984, § 24 I 3; Maunz in: MaunzjDürig, GG, Art. 38, Rdnr. 8; HamannjLenz, GG, Art. 38, Anm. B 8 a; Hesse, EvStL, Art. Abgeordneter, 3. A., 1987, Sp. 11, 15; WolffjBachof, Verwaltungsrecht 11 ,§ 73 I c 3; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 69 ff.; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 110; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 37; Henke DVBI. 1973,553, 558 ff.; Wiese, AöR 101 (1976), 548; aus der Rechtsprechung des BVerfG etwa BVerfGE 20,56, 103; 40, 296, 314; 44, 308, 315; 56, 396,405;80,188,218. 32 Vergl. nur von MangoldtjKlein, GG, Art. 38, Anm. IV 1 c). 33 Eine unmittelbare Drittwirkung der Grundrechte wird insbesondere vom BAG seit BAGE 1,185,193 f., in ständiger Rechtsprechung vertreten. 4 Demmler

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

3. Die Konsequenzen aus dem Amtscharakter des Mandats a) Die Amtswalte"echte als Kompetenzen

Die Charakterisierung der Rechtsstellung des Abgeordneten als Amt bringt zwei wesentliche Elemente seines Status zum Ausdruck. Zum einen bedeutet sie, daß das Amt selbst unabhängig von der Person des jeweiligen Amtsinhabers besteht34 • Ist daher von parlamentarischen Rechten des Abgeordneten die Rede, so sind damit zunächst die Kompetenzen des Amtes gemeint, der jeweilige Mandatsträger ist als Amtswalter lediglich für die Dauer der Wahlperiode (im Bundestag also regelmäßig vier Jahre) für ihre Wahrnehmung zuständig. Es handelt sich also nicht um subjektive öffentliche Rechte des einzelnen Abgeordneten. In seiner Person hat der einzelne Abgeordnete nur ein subjektives Recht auf Wahrnehmung der Kompetenzen, das er notfalls im Wege des Verfassungsstreits vor dem BVerfG verfolgen kann, die Amtswalterrechte selbst werden dabei jedoch nicht zu subjektiven Rechten des Mandatsinhabers umgewandelt35 . Von diesen Amtswalterrechten werden gewöhnlich die Statusrechte im eigentlichen Sinn unterschieden, die dem Abgeordneten persönlich zustehen 36 . Dazu zählen etwa das Recht des Art. 48 Abs. 2 GG auf eine Entschädigung, das Recht auf Indemnität (Art. 46 Abs. 1 GG) und Immunität (Art. 46 Abs. 2 - 4 GG) sowie das Zeugnisverweigerungsrecht (Art. 47 GG). Auch diese Rechte des Abgeordneten haben zwar einen Bezug zu seiner Amtsstellung, indem sie ihm dabei helfen sollen, die ihm zugewiesenen Kompetenzen angemessen auszuüben. Da sie jedoch nicht selbst Befugnisse im Parlament begründen, sind sie von den Amtswalterrechten zu trennen.

34 H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 1. 35 WOlff/Bachof, Verwaltungsrecht 11, § 73 III c 3; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 76; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 41; wohl auch Stern, Staatsrecht Band 11, § 26 11 1 b. 36 Die Terminologie und teilweise auch die Zuordnung einzelner Rechte schwanken dabei bei den verschiedenen Autoren. So unterscheidet H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 30 ff., die persönlichen Rechte von den Amtsträgerrechten; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 43 f., unterteilt in die außerorganisatorische und die innerorganisatorische Rechtsstellung; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 259, unterteilt in Rechte außerhalb und innerhalb der parlamentarischen Tätigkeit.

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b) Das freie Mandat als Umschreibung der PJlichtenstellung des Abgeordneten

Die andere bedeutsame Konsequenz aus der Amtsstellung besteht darin, daß der Abgeordnete die ihm zugewiesenen Zuständigkeiten nicht nach seinem Belieben ausüben kann, sondern damit einen Dienst am Gemeinwohl zu erbringen hat 37 . Während es dem Grundrechtsberechtigten überlassen bleibt, ob und wie er von seinem Recht Gebrauch macht, hat der Abgeordnete diese grundsätzliche Freiheit nicht. Dadurch, daß allen einzelnen Abgeordneten eigene Zuständigkeiten zur Wahrnehmung übertragen sind, sollen zugleich die Aufgaben des Parlaments als dem Staatsorgan, dem sie angehören, erfüllt werden. Insofern wohnt den Kompetenzzuweisungen, die überwiegend als Berechtigungen aufgefaßt werden, doch auch zugleich ein Element der Verpflichtung bei. Die Verfassung ist darauf angelegt, daß der Abgeordnete seine parlamentarischen Befugnisse tatsächlich wahrnimmt38 , und sie gibt ihm auch das Ziel vor, wie er sie wahrzunehmen hat. Die Freiheit des Mandats - und hier insbesondere der Aspekt der ausschließlichen Gewissensunterworfenheit - bedeutet allerdings eine weitreichende Subjektivierung, der Abgeordnete soll in eigener Verantwortung entscheiden, was die öffentlichen Interessen sind und wie er ihnen am besten durch seine parlamentarische Tätigkeit dient. An der grundsätzlichen Orientierung am Gemeinwohl bei der Ausübung des Mandats vermag sie aber nichts zu ändern. Der Abgeordnete ist also nur frei in der Wahl, wie er der Ziclvorgabe nachkommt, nicht jedoch in der Wahl der Zielvorgabe selbst.

aa) Die ausdrückliche Normierung von Pflichten in den Landesverfassungen Die Pflichtenstellung des Abgeordneten wird auf der Ebene der Bundesländer auch im Text der Verfassung sehr viel deutlicher akzentuiert. So bestimmt Art. 30 Abs. 2 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung ausdrücklich die Rücksicht auf das Volkswohl als Maßstab für die Ausübung des Mandats, in Bremen unterwirft Art. 83 Abs. 1 Satz 2 der Landesverfassung die Abgeordneten den Gesetzen und einer besonderen Treuepflicht gegenüber der Freien Hansestadt. Besonders plastisch wird die Verpflichtung des Abgeordneten zur gemeinwohlorientierten Ausübung der Befug37 H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. l. 38 Dies wird vor allem in der Entscheidung BVerfGE 56,396,405, betont.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

nisse in den Verfassungsnormen einer Reihe von Ländern, die bei Pflichtverletzungen die Möglichkeit der Mandatsaberkennung entweder durch ein Verfahren vor dem Staatsgerichtshof (Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Niedersachsen, Saarland) oder sogar durch das Landesparlament selbst (Hamburg, Bremen) vorsehen. Aus den Gründen, die zur Aberkennung des Mandats führen können, ergeben sich zugleich die Pflichten, die dem Abgeordneten von Verfassungs wegen auferlegt sind. Neben der Pflicht zur Verschwiegenheit (Art. 61 Abs. 3 Landesverfassung Bayern, Art. 85 Landesverfassung Bremen, Art. 13 Abs. 2 Nr. 3 Landesverfassung Hamburg, Art. 85 Landesverfassung Saarland) ist dies in allen Ländern, die diese Möglichkeit überhaupt vorsehen, das Verbot, das Mandat zu eigennützigen Zwecken zu mißbrauchen (Art. 42 Landesverfassung Baden-Württemberg, Art. 61 Abs. 3 Landesverfassung Bayern, Art. 61 Landesverfassung Brandenburg, Art. 17 Landesverfassung Niedersachsen, Art. 85 Landesverfassung Saarland, Art. 85 Landesverfassung Bremen, Art. 13 Abs. 2 Nr. 1 und 2 Landesverfassung Hamburg). Aus der Untersagung eigennütziger Zielsetzung folgt aber zwingend die Verpflichtung auf die Zwecke des Gemeinwohls. Zu erwähnen ist hier noch die Besonderheit des Art. 85 Landesverfassung Bremen, der auch die beharrliche Weigerung, die dem Abgeordneten als Bürgerschaftsmitglied obliegenden Geschäfte zu erfüllen, mit der Möglichkeit des Ausschlusses sanktioniert. Neben der Vorgabe des Ziels bei der Ausübung des Mandats wird hier somit die Verpflichtung ausgesprochen, die parlamentarischen Befugnisse überhaupt wahrzunehmen.

bb) Die Pflichten als Inhalt der Verbürgung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf Bundesebene Auf der Ebene des Bundestages bestehen Sanktionsmöglichkeiten wie die Aberkennung des Mandats nicht39 . Auch sind die Pflichten des Abgeordneten im Grundgesetz nicht ausdrücklich geregelt. Konkrete Einzelbestimmungen finden sich lediglich unterhalb der verfassungsrechtlichen Ebene, vor allem in der Geschäftsordnung des Bundestages. So ist die Pflicht zur Teilnahme an den Arbeiten des Bundestages und im Zusammenhang damit die Pflicht zur Eintragung in Anwesenheitslisten in § 13 GOBT normiert. Durch Kürzungen der Kostenpauschale nach § 14 AbgeordnetenG ist diese 39 Für ihre Einführung spricht sich Wiese, AöR 101 (1976),548,561, aus.

§ 1: Der Abgeordnete als Amtsträger

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Verpflichtung auch in gewisser Hinsicht sanktionsbewehrt. Die Pflicht, bei der Ausübung des Mandats ausschließlich Gemeinwohlbelange zu verfolgen und nicht eigene oder fremde persönliche Interessen, äußert sich in den Verhaltensregeln, die in Ausführung des § 44 a AbgeordnetenG ergangen und als Anlage 1 der Geschäftsordnung des Bundestages beigefügt sind. Die darin vorgesehenen Anzeigepflichten für manche Tätigkeiten und Verträge sind dazu bestimmt, Konflikte mit persönlichen Interessen bei der Ausübung des Mandats durch deren weitgehende Offenlegung einer Kontrolle durch die Öffentlichkeit zuzuführen40 • Ein Verstoß gegen die Anzeigepflicht wird insofern geahndet, als der Präsident des Bundestages ihn als Drucksache veröffentlicht. In der Literatur wird häufig auch die Unterstellung des Abgeordneten unter die Ordnungsgewalt des Präsidenten (§§ 27, 35 - 38 GOBT) als Pflicht bezeichner 1• Jedoch hat diese eine andere Qualität als die bislang aufgeführten Verpflichtungen, da sie keine selbständige Anforderung an den Abgeordneten stellt, sondern die Ausübung der parlamentarischen Befugnisse regelt. Wenn die PflichtensteIlung des Bundestagsabgeordneten auch im wesentlichen durch die Geschäftsordnung bestimmt wird, so bedeutet dies nicht, daß sie keinerlei verfassungsrechtlichen Bezug habe. Ebenso wie für die einzelnen Rechte der Parlamentsmitglieder anerkannt ist, daß sie von der Geschäftsordnung nicht erst begründet, sondern nur ausgestaltet werden, ihre Grundlage aber im verfassungsmäßigen Status des Abgeordneten finden 42 , muß es auch für die Pflichten gelten. Daher normiert schon Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG mit den Einzelaussagen, daß die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen seien, in erster Linie Pflichten des Abgeordneten bei der Ausübung seines Mandats. Letzten Endes wurzeln diese darin, daß seine Rechtsstellung vom Grundgesetz als Amt angelegt ist.

40 Roll, Verhaltensregeln, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentspraxis und Parlamentsrecht, 1989, § 19, Rdnr. 1. 41 H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 24; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 262. 42 BVerfGE 80,188,219.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

4. Die Notwendigkeit des Festhaltens am Amtsgedanken zur Begründung der Gemeinwohlbindung des Abgeordneten Noch immer aber werden von Teilen der Rechtslehre Bedenken gegen das Amtsprinzip erhoben43 • Der Abgeordnete unterscheide sich vom Amtswalter im herkömmlichen Sinne wegen der Subjektivierung seiner Pflichten durch die Geltung des freien Mandats so gravierend, daß eine Bezeichnung der Abgeordnetentätigkeit als Amt nicht hilfreich sei. Dieser Ansicht ist aber entgegenzuhalten, daß sie - wie sie selbst einräumtM - den Amtsbegriff stark an der Exekutive, am Beamten als Prototyp des Amtsträgers, ausrichtet. Der Amtsbegriff ist jedoch nach der gängigen Definition nur ein allgemein-organisatorischer, der nicht notwendigerweise eine Weisungsgebundenheit voraussetzt45• Zu erinnern ist hier daran, daß auch Richter trotz ihrer von der Verfassung in Art. 97 GG garantierten Unabhängigkeit unbestrittenermaßen ein Amt ausüben46 . Wenn demgegenüber geltend gemacht wird, die Bezeichnung als Amt gestatte angesichts der weitgehenden Besonderheiten des Mandats keine Schlußfolgerungen, weshalb sie entbehrlich sei47 , so kann dem nicht zugestimmt werden. Denn die Charakterisierung des Abgeordnetenstatus als Amt hat zur Folge, daß er bei der Ausübung seiner Pflichten ausschließlich öffentlichen Interessen zu dienen hat (was im übrigen auch von den Autoren, die sich gegen das Amtsprinzip wenden, nicht angezweifelt wird). An der Klassifizierung des Abgeordneten als Amtsträger ist daher festzuhalten und diese Entscheidung der Verfassung bei der Interpretation von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG immer zu berücksichtigen.

43 M. Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich des Parlamentsrechts, 1979, S. 280 ff., Achterberg, Parlamentsrecht, S. 216; Kasten, Ausschußorganisation und Ausschußrückruf, 1983, S. 99 f. 44 M. Schröder, Grundlagen, S. 300. 45 Wolff, EvStL, 2. A., 1975, Art. Amt, Sp. 31. 46 Die Parallelen zwischen der Unabhängigkeit des Abgeordneten und der des Richters werden von Sendler, NlW 1985,1425 ff., herausgearbeitet. 47 M. Schröder, Grundlagen, S. 302.

§ 2: Die Bedeutung des freien Mandats

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§ 2: Die Bedeutung des freien Mandats in einer

von Parteien geprägten Demokratie 1. Die Relevanz der Fragestellung

Schon kurz nach Inkrafttreten des Grundgesetzes wurde über das Verhältnis zwischen der Verbürgung des freien Mandats in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und der erstmals in der deutschen Verfassungsgeschichte in Art. 21 GG erfolgten verfassungsrechtlichen Anerkennung der politischen Parteien lebhaft diskutiert. Die Kontroverse wurde zunächst wesentlich bestimmt von der insbesondere von Gerhard Leibholz vertretenen Theorie des Parteienstaates, nach der das freie Mandat des Abgeordneten eine Institution ist, die unter den modernen Bedingungen einer parteienstaatlichen Demokratie ihre Existenzberechtigung im Grunde verloren hat l . Die These von Leibholz ist somit gewissermaßen der entgegengesetzte Pol zu der Auffassung, nach der Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ein Individualrecht des einzelnen Abgeordneten darstellen soll. Für die Frage der Kompetenzverteilung zwischen Abgeordnetem und Fraktion hat diese Debatte weichenstellenden Charakter. Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT sind Fraktionen Vereinigungen von Abgeordneten derselben Partei oder von Parteien, die auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander in Wettbewerb stehen. Damit knüpft der Begriff der Fraktion an die Parteienbindung der Abgeordneten unmittelbar an, die gleiche Parteizugehörigkeit ist regelmäßig Voraussetzung der Fraktionsbildung. Insofern ist zumindest eine enge Verbindung zwischen Partei und Fraktion nicht zu übersehen. Das BVerfG geht sogar so weit zu sagen, daß das Grundgesetz mit der Anerkennung der Parteien in Art. 21 zugleich die Fraktionen anerkenne 2• Vom Standpunkt der Parteienstaatslehre ist daher die Aufgabenverteilung - der Tendenz nach - vorgegeben. Alle Versuche, die Position des einzelnen Abgeordneten gegenüber den Fraktionen zu stärken, sind von vornherein zum Scheitern verurteilt, weil Art. 38 GG und die weiteren Verfassungsbe1 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation und der Gestaltwandel der Demokratie im 20. Jahrhundert, 3. A., 1966, S. 225 ff., 228 f.; ders., DVBI. 1951, 1, 3; ders., Volk und Partei im neuen deutschen Verfassungsrecht, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. A., 1967, S. 71, 73. 2 BVerfGE 10, 4, 14; 70, 324, 350.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

stimmungen über die repräsentative Demokratie dann nur noch im Sinne eines Rückzugsgefechts verstanden werden können3 • Die weitgehende Herrschaft der Fraktionen, die die Geschäftsordnung des Bundestages etabliert, erscheint dann als folgerichtig, wenn nicht gar verfassungsrechtlich geboten. Sollte sich andererseits eine gegenteilige Auffassung als richtig erweisen, die dem Art. 21 GG für die Arbeit des Parlament jede Bedeutung abspricht oder doch zumindest einen Vorrang des Art. 38 GG annimmt\ so würde sich gleichfalls, wenn auch mit umgekehrten Vorzeichen, ein Ergebnis der Untersuchung schon abzeichnen. Die Vormachtstellung von Fraktionen in der parlamentarischen Praxis könnte dann jedenfalls nicht als durch Art. 21 GG legitimiert erscheinen und das weitgehende Fehlen von Rechten, die der Abgeordnete als einzelner ausüben kann, müßte Bedenken erwecken. Inwieweit derart extremen Positionen gefolgt werden kann, muß daher schon hier geprüft werden.

2. Die Theorie des Parteienstaates von Gerhard Leibholz a) Darstellung

Leibholz geht bei der Entwicklung seiner Theorie davon aus, der Parlamentarische Rat habe sich, ohne sich dessen voll bewußt gewesen zu sein, in Art. 21 einerseits und in Art. 38 andererseits zu zwei im Grunde unvereinbaren Strukturtypen der Demokratie bekannts. Das freie Mandat sei Ausdruck des klassisch-repräsentativen Parlamentarismus, der im 18. und 19. Jahrhundert vorgeherrscht habe. In diesem Typus müsse der Abgeordnete, um das ganze Volk als politische Einheit repräsentieren zu können, Träger eines bestimmten personalen Eigenwertes sein. Jede Form von Abhängigkeit des Abgeordneten müsse dann ausgeschlossen sein, weil sie ihn dieses Eigenwertes berauben würdc6 • Hintergrund dieses 3 Leibholz, DVBI. 1951, 1, 7, wo er lediglich in der Belebung des Fragerechts des einzelnen Abgeordneten eine Möglichkeit sieht, den Grundsätzen des repräsentativen Parlamentarismus unter den heutigen Umständen eine gewisse Lebendigkeit zu vermitteln. 4 Vergl. etwa Jerusalem, Die Zersetzung im Rechtsdenken, 1968, S. 140 f., für die erstgenannte Auffassung und Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 20 f., für die zuletzt genannte Position. S Leibholz, Wesen, S. 235. 6 Leibholz, Wesen, S. 213 ff.

§ 2: Die Bedeutung des freien Mandats

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Modells ist die Vorstellung, daß nur Werte, nicht aber wirtschaftliche Interessen repräsentiert werden könnten? Mit der fortschreitenden politischen Demokratisierung und dem damit notwendig einhergehenden Aufkommen politischer Parteien sei der repräsentative Parlamentarismus aber bereits vor dem 2. Weltkrieg zu einem Klischee geworden. An seine Stelle sei in der politischen Wirklichkeit der demokratische Parteienstaat getreten, der mit jenem nichts mehr gemein habe. Es handle sich vielmehr um eine rationalisierte Form der plebiszitären Demokratie, um ein Surrogat der direkten Demokratie im modernen Flächenstaat8 • Die Parteien seien das "Sprachrohr"9 des Volkes, dessen sich dieses bediene, um politische Entscheidungen zu fällen. Der Gemeinwille werde nicht mehr mit Hilfe des Prinzips der Repräsentation, sondern der Identität gebildet, indem, wie bei plebiszitären Entscheidungen der Wille der Abstimmungsmehrheit, nunmehr der Wille der Parteienmehrheit mit dem Willen der Aktivbürgerschaft identifiziert werde 10. Die Parteien seien danach geradezu das Volk. Aufgrund dieser Entwicklung, die das Grundgesetz im Art. 21 verfassungsrechtlich anerkannt habe, fehle dem Abgeordneten im modernen Parteienstaat die Legitimität, eine von der Partei und Fraktion grundsätzlich abweichende Linie zu verfolgen. Im Parteienstaat würde der einzelne Abgeordnete nicht mehr auf Grund seiner persönlichen Verdienste oder Fähigkeiten gewählt, sondern ausschließlich als Exponent seiner Partei. Damit habe sich auch der Charakter der Wahlen gewandelt, diese seien mehr und mehr zu plebiszitären Akten geworden, in denen die Aktivbürgerschaft den politischen Kurs für die nächste Legislaturperiode festlege I I. Indem das Grundgesetz sowohl Art. 21 als auch Art. 38 aufgenommen habe, stelle es also zwei strukturell gegensätzliche Typen der Demokratie nebeneinander, die nicht miteinander zu kombinieren seien. Bei der Verfassungsauslegung müsse daher gefragt werden, welchem Typus in der konkret zu beantwortenden Einzelfrage der Vorrang gebühre. Wie Leibholz diese Frage für den Regelfall beantwortet sehen will, wird dabei allerdings hinreiSo Leibholz, Wesen, S. 32, im Anschluß an C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 209 f. Leibholz, Wesen, S. 226; ders. DVBI. 1951, 1,3 f.; ders., Der StruktulWandel der modernen Demokratie, in: ders., Strukturprobleme der modernen Demokratie, 3. A., 1967, S.78, 93 f. 9 Leibholz, DVBI. 1951, 1, 3. Das BVerfG hat diesen Begriff aufgenommen und in einer Reihe von Entscheidungen velWendet. Vergl. etwa BVerfGE 1, 208, 224; 20, 56, 10l. 10 Leibholz, Wesen, S. 226, ders., DVBI. 1951, 1,4; ders., StruktuIWandel, S. 78, 94. 11 Leibholz, Wesen, S. 231; ders., DVBI. 1951, 1,4; ders., StruktuIWandel, S. 78, 104. ?

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

chend deutlich. Art. 38 Abs. 1 GG reduziere sich im wesentlichen auf die Funktion, gewisse äußerste Konsequenzen des Parteienstaates, den Art. 21 GG im übrigen legalisiere, abzuwenden l2 •

b) Kritik

Diese Auffassung von Gerhard Leibholz ist in der Literatur schon früh auf Widerspruch gestoßen 13. Sie kann inzwischen als überholt gelten, hat aber doch noch bis in jüngere Zeit Anhänger gefunden l4 • Es erscheint daher angezeigt, einige wesentliche Kritikpunkte an dieser Stelle aufzuzeigen.

aa) Die Verengung des Begriffs der Repräsentation So bedeutet schon das wertbezogene, vermeintlich interessenfreie Verständnis von Repräsentation die Festlegung auf einen Idealtyp, den es in dieser Form nie gegeben hat. Selbst das Honoratiorenparlament des 19. Jahrhunderts kannte die Auseinandersetzung zwischen agrarischen Interessen und denen der beginnenden Industrialisierung l5 • Die qualitative Besetzung verengt den Begriff der Repräsentation, diese ist zunächst wertfrei als rechtstechnisches Verfahren der Zurechnung von Herrschaftsausübung aufzufassen, bei der die Repräsentanten Entscheidungen für die Repräsentierten treffen l6 •

12 Leibholz, DVBI. 1951,6.

13 Unter anderem Friesenhahn, Parlament und Regierung im modemen Staat, VVDStRL 16 (1958), 9, 22; C. Müller, Das imperative und freie Mandat, 1966, S.45 ff; Haungs, ZParl 1973, 502 ff.; Hennis, Die Rolle des Parlaments und die Parteiendemokratie, in: Löwenthal/ Schwarz (Hrsg.), Die zweite Republik, 1974, S. 203, 212 f.; Fraenkel, Strukturdefekte der Demokratie und deren Überwindung, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 7. A, 1979, S. 48, 62 ff. 14 Röhrich, NJW 1981, 2674 ff.; Hesselberger, GG, Art. 38, Rdnr. 13. 15 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 12. 16 Scheuner, Das repräsentative Prinzip in der modemen Demokratie, FS Hans Huber, 1961, S. 222, 239; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 28 f.; Böckenförde, Mittelbare/repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie, FS Eichenberger, 1982, S. 301, 318.

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Verfehlt ist auch die Überlegung, der repräsentative Parlamentarismus beruhe darauf, daß das zu repräsentierende Volk politisch gesehen eine Einheit sei. Nur so sei es zu erklären, daß der Abgeordnete "Vertreter des ganzen Volkes" sein solle 17 • Ganz entgegen Leibholz ist die Grundlage eines repräsentativen Systems die Einsicht in die Differenzierung des Staatsvolks l8 , die politische Einheit herzustellen ist erst Aufgabe des Parlaments in einem Prozeß, der unter Einbeziehung der divergierenden Meinungen dann zu für alle verbindlichen Entscheidungen führt. Die Kennzeichnung der Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes fingiert also keine vorgegebene politische Einheit des Volkes, sondern bringt lediglich ihre Amtspflicht zum Ausdruck, ihre parlamentarische Tätigkeit am Gemeinwohl auszurichten.

bb) Der angeblich identitäre Charakter des Parteien staats Angreifbar ist aber auch die zentrale These von Leibholz, der moderne Parteienstaat sei eine Form der identitären Demokratie. Einer Identifikation der Parteien mit dem Volk läßt sich schon entgegenhalten, daß nur ein relativ geringer Teil der Aktivbürgerschaft einer politischen Partei angehört l9 • Wenn Leibholz die Notwendigkeit der Zwischenschaltung von Parteien betont, damit sich das Volk politisch artikulieren könne, so wird überdies deutlich, daß er sich letzten Endes gleichwohl mit einer Vermittlung des Volkswillens über die Parteien begnügt. Damit ist sein Parteienstaat aber gerade nicht identitär, sondern auch eine Form der mittelbaren Demokratie 20 •

17 Leibholz, DVBI. 1951, 1 18 Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, in: ders., Deutschland und die westlichen Demokratien, 7. A., 1979, S. 113. Früher als in der europäischen Entwicklung ist der Interessenpluralismus als Ausgangspunkt der Repräsentation bereits 1787/88 von Madison, Hamilton und Jay in den Federalist Papers erkannt worden, Dokumenten, die im Vorfeld der amerikanischen Unionsverfassung entstanden. Vergl. dazu Dreier, AöR 113 (1988), 450, 458 ff. 19 Nach Grimm, Parlament und Parteien, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 6, Rdnr. 20, sind etwa 5 % der Aktivbürger in Parteien organisiert. Von diesem beteiligt sich wiederum nur ein geringer Prozentsatz tatsächlich an den parteiinternen Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen. 20 Haungs, ZParl1973, 502, 507.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

cc) Die einseitige Sicht des Abgeordneten als bloßem Parteivertreter Zu kritisieren ist auch seine Vorstellung vom Abgeordneten, den er nur noch als Exponenten seiner Partei sieht, auf dessen persönliche Qualifikation es aber für den Wähler nicht mehr ankomme. Diese Aussage erfreut sich im Schrifttum großer Beliebtheit21 • Richtig ist, daß die Wahl in erster Linie eine Entscheidung über die politische Zusammensetzung des Parlaments darstellt. Trotzdem tritt die Wahl von Personen nicht als völlig nebensächlich gegenüber dem Votum für eine Partei zurück. Für den Bundestag kommt das bereits im System der personalisierten Verhältniswahl zum Ausdruck, bei dem die Hälfte der Abgeordneten mit Mehrheitswahlrecht in Wahlkreisen gewählt wird. Zwar sind seit 1949 in den Wahlkreisen nur Bewerber erfolgreich gewesen, die von einer Partei unterstützt worden sind. Auch bei der Nominierung der Wahlkreisbewerber kann daher von einem - jedenfalls faktischen - Parteienmonopol gesprochen werden22 • Sicher orientieren sich die Wähler auch bei der Vergabe der Erststimme an der Parteizugehörigkeit des Bewerbers. Gleichwohl zeigt dieses Wahlsystem, daß es auch um die Bestimmung von einzelnen Personen geht. Schließlich kann auch umgekehrt die Entscheidung des Wählers für eine bestimmte Partei gerade dadurch motiviert sein, daß er glaubt, diese verfüge über die qualifIZierteren Bewerber für die zu besetzenden öffentlichen Ämter23 . Die Tatsache, daß die Verteilung der Mandate an einzelne Abgeordnete entscheidend ist, läßt sich aber auch aus dem Verfassungsrecht selbst ersehen, nämlich aus dem Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl. Danach darf sich kein fremder Wille zwischen den Wähler und die Bestimmung der Abgeordneten schieben24 • Für die Listenwahl bedeutet dies, daß nach der 21 Trautmann, JZ 1970, 405, 406; H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), 69, 93; Achterberg, Das rahmengebundene Mandat, 1975, S. 12 f. 22 Kasten, Ausschußorganisation, S. 139. 1949 wurden die Abgeordneten Eduard Edert, Richard Freudenberg und Franz Ott in den ersten Deutschen Bundestag gewählt, ohne von politischen Parteien vorgeschlagen worden zu sein. Betrachtet man die näheren Umstände ihrer Wahl, wird jedoch deutlich, daß es sich dabei keineswegs um unabhängige Kandidaten handelte. Vergl. dazu Schindler, Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages, Band I, 3. A., 1984, S. 291 f. 23 Nach Hennis, FG Smend, 1962, S. 51, 68, ist dies sogar für die überwiegende Mehrheit der Bürger Motiv ihrer Entscheidung für eine bestimmte Partei. Auch Kasten, Auschußorganisation, S. 104, betont den personalplebiszitären Charakter der Wahl. 24 BVerfGE 7,63,68; 7, 77, 84; 47, 253, 279 f.

§ 2: Die Bedeutung des freien Mandats

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Aufstellung der Listen die Bewerber für Dritte (also auch für die Parteien) unabänderlich festgelegt sind. Beim späteren Ausscheiden von Abgeordneten sind die Parteien für die Nachfolge ebenfalls an die Liste gebunden, sie können keine Änderungen an der Reihenfolge der Listenanwärter vornehmen oder bei Listenerschöpfung von sich aus Ersatzbewerber nachschieben25 • Hätte die Verfassung aber ein Bild der Wahl vor Augen, bei der es lediglich um die konkurrierenden Parteien geht, wären diese Anforderungen unverständlich. Weit stärker noch als im Bund wird die Benennung von einzelnen Personen für Parlamentsmandate in den Bundesländern betont, in denen die Wähler die Reihenfolge der Listenkandidaten ändern oder Kandidaten ganz von der Liste streichen können 26 •

dd) Die Überbewertung des plebiszitären Elements der Wahl Damit ist auch schon die andere Schlußfolgerung von Leibholz widerlegt, die Wahl sei im Grunde eine plebiszitäre Entscheidung für die von den Parteien vorgelegten Sachprogramme. Dagegen spricht schon, daß die Parteiprogramme und Wahlkampfaussagen der Parteien hierfür in der Regel zu allgemein gehalten sind27 • Im Laufe der Wahlperiode stellen sich immer wieder Probleme, die bei der Wahl nicht bekannt waren. Begreift man den Wahlakt plebiszitär, so wäre es systemgerecht, in solchen Fällen dem Wähler erneut das Wort zu erteilen und das Parlament aufzulösen. Gerade diesen Weg hat aber der Parlamentarische Rat nicht beschritten, ganz im Gegenteil ist die Parla-

Die Bedeutung dieses Wahlrechtsgrundsatzes für den Charakter der Wahl als Personenwahl wird von H.-J. Schröder, ZRP 1971, 97, 98 zutreffend erkannt. 25 BVerfGE 3, 45, 49 ff.; 7, 63, 72; 47, 253, 280. 26 So etwa bei den bayerischen Landtagswahlen mit dem System der begrenzt-offenen Listen. 27 Hinzu kommt noch, daß der Wähler nur eine Stimme abgeben kann (auch bei der Bundestagswahl hat die Erststimme auf die Sitzverteilung im Parlament nur im Falle von Überhangmandaten Einfluß). Das Programm der Partei wird ihm also nur als Paket und ohne jede Differenzierungsmöglichkeit vorgelegt. Dann erscheint die Vorstellung aber abwegig, er habe dem Programm der von ihm präferierten Partei im Wahlakt zur Gänze seine Zustimmung erteilen wollen.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

mentsauflösung bewußt an enge Voraussetzungen geknüpft worden 28 • Wie das BVerfG in der Entscheidung zur Bundestagsauflösung ausgeführt hat, rechtfertigen besondere Schwierigkeiten der sich dem Bundestag stellenden Aufgaben eine Auflösung nicht. Das Gericht hat damit klargestellt, daß der Bundestag umfassend legitimiert ist, alle auftretenden Fragen verbindlich zu entscheiden, ohne daß zuvor Neuwahlen stattfinden müßten29 • Die Parteienstaatslehre von Leibholz ist daher abzulehnen. Ihre Schwäche beruht vor allem darauf, daß sich der Parteienstaat ausschließlich als Umkehrschluß aus einem Repräsentationsmodell definiert, das seinerseits keinen historischen Realitätsbezug besitzt30 • Parteienstaat und klassischer Parlamentarismus sind einander entgegengesetzte Idealtypen, die so weder je existiert haben noch jetzt existieren. Es handelt sich dabei vielmehr um modellhafte Vereinfachungen einer komplexen Wirklichkeit. Der methodische Fehler der ParteienstaatsIchre besteht jedoch darin, daß sie aus diesen Modellen normative Folgerungen ableiten wilJ31.

28 Nach BVerfGE 62, 1, 41, schließt das Grundgesetz ein freies Auflösungsrecht aus. Im übrigen ist das Parlament selbst überhaupt nicht in der Lage, vorzeitige Wahlen herbeizuführen, es gibt nur ein Auflösungsrecht des Bundespräsidenten. Auch dieses besteht aber nur in den Fällen des Art. 63 Abs. 4 Satz 3 und Art. 68 GG, wenn sich entweder keine Mehrheit zur Wahl eines Bundeskanzlers findet oder dieser nicht mehr über eine regierungsfähige Mehrheit im Parlament verfügt. In beiden Fällen ist also eine Krise im Verhältnis zur Bundesregierung vorausgesetzt, was auch die Einordnung der beiden Vorschriften in den Abschnitt über die Bundesregierung verdeutlicht. 29 BVerfGE 62,1,43. Aus diesem Grund kommt auch eine Übernahme der im englischen Verfassungsrecht gewohnheitsrechtlich anerkannten Theorie vom generellen Mandat, wie sie Oppermann, VVDStRL 33 (1975), 7, 51 ff., angeregt hat, nicht in Betracht. Nach dieser Theorie ist die Parlamentsmehrheit nicht befugt, einen politischen Kurs einzuschlagen, der wesentlich von dem Programm abweicht, welches den Wählern unterbreitet wurde. Auch hier ist also der realplebiszitäre Charakter der Wahl in den Blickpunkt gerückt. Ein solches System setzt, wie Oppermann, S. 54 f., selbst einräumt, zwingend voraus, daß das Parlament über ein Selbstauflösungsrecht verfügt, um für neu aufgetretene Fragen einen Auftrag des Wählers einzuholen. Dies ist aber unter dem Grundgesetz nicht der Fall. 30 So Haungs, ZPar11973, 502, 505. 31 Abelein, Die Rechtsstellung des Abgeordneten in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, FS von der Heydte, 1977, S. 777, 786.

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3. Der Vorrang des Art. 38 GG? a) Art. 21 GG als ausschließlich auf den gesellschaftlichen Bereich bezogene Nonn

Gelegentlich wurde auch die umgekehrte These vertreten, nach der Art. 21 GG für die Frage des parlamentarischen Mandats gar nicht herangezogen werden könne, weil er sich nur auf die Parteien als gesellschaftliche Organisationen beziehe32 . Diese Auffassung geht von einer strikten Trennbarkeit von staatlicher und gesellschaftlich-politischer Sphäre aus, wobei die Parteien ausschließlich bei der politischen Willensbildung zur Mitwirkung berufen seien, nicht aber bei der staatlichen Willensbildung. Für den parlamentarischen Bereich soll daher Art. 38 GG uneingeschränkt gelten. Diese sehr formalistische Auffassung verkennt, daß sie den vielfältigen Verschränkungen bei der Bereiche nicht hinreichend Rechnung trägt. Der vorausgesetzte Dualismus beruht letztlich auf den Vorstellungen der konstitutionellen Monarchie, wo auch das Parlament noch außerhalb des Staates angesiedelt wurde und als Volksvertretung die Belange der Gesellschaft gegenüber dem durch die Exekutive verkörperten Staat geltend machen sollte. Wird jedoch, wie im parlamentarischen Regierungssystem des Grundgesetzes, das Parlament zum zentralen Staatsorgan, sind alle Vorstellungen vom Staat als einer vorgegebenen, über und außerhalb der Gesellschaft stehenden Einheit nicht mehr zeitgemäß33. Auch das Wirken der Parteien läßt sich dann aber nicht länger auf eine vom Staat unterschiedene, rein gesellschaftliche Sphäre verweisen 34 • Zwar wurzeln die Parteien, wie das BVerfG im Urteil über die Parteienfinanzierung ausgeführt hat 35 , im gesellschaftlich-politischen Bereich, weshalb der Staat sie nicht in ihrer gesamten Tätigkeit finanzieren darf. Das Gericht fährt aber unmittelbar anschließend fort, die Parteien seien berufen, in den Bereich der institutionalisierten Staatlichkeit hineinzuwirken. Durch dieses 32 Jerusalem, Zersetzung, S. 140 f. 33 Hesse, DÖV 1979,437,439; H. Hofmann/Dreier, Repräsentation, Mehrheitsprinzip und

Minderheitenschutz, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 5, Rdnr. 24. 34 Dementsprechend zählt § 1 Abs. 2 PartG, der den Verfassungsauftrag des Art. 21 GG einfachgesetzlich konkretisiert, zur Mitwirkung an der politischen Willensbildung des Volkes unter anderem auch die Einflußnahme auf die politische Entwicklung in Parlament und Regierung. 35 BVerfGE 20, 56, 101.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

Hineinwirken beeinflußten sie die Bildung des Staatswillens, insbesondere die Beschlüsse und Maßnahmen von Parlament und Regierung. Die Parteien übernehmen damit eine vermittelnde Funktion zwischen Volk und Staat, sie reichen aus dem gesellschaftlich-politischen Sektor hinüber in den Bereich organisierter Staatlichkeit, ohne jedoch selbst in diesen Bereich eingefügt zu werden. Die grundsätzliche Unterscheidung von Staat und Gesellschaft hat also nach wie vor ihre Berechtigung insofern, als sie deutlich macht, daß nicht die Parteien selbst den Staatswillen bilden. Im Parlament ist dies vielmehr die Aufgabe der Abgeordneten, die Parteien können nur indirekt durch Einwirkung auf die ihnen angehörenden Abgeordneten Einfluß nehmen. Zu dieser mittelbaren Mitwirkung allerdings sind sie nach Art. 21 GG berechtigt, gerade um ihrer Aufgabe nachkommen zu können, die Verbindung zwischen den bei den zu unterscheidenden, aber nicht strikt zu trennenden Bereichen Staat und Gesellschaft zu leisten. In diesem Sinne wird die Vorschrift im übrigen auch ganz überwiegend interpretiert36 . Daraus folgt aber, daß Art. 21 GG für die Rechtsstellung der Parlamentsmitglieder nicht völlig ausgeblendet werden kann.

b) Art. 38 GG als lex specialis zu Art. 21 GG

Weniger weit geht eine Literaturmeinung, die Art. 38 GG immerhin als lex specialis zu Art. 21 GG begreift, woraus im Konfliktfall gleichfalls ein Vorrang dieser Vorschrift abgeleitet wird37 . Sie muß sich aber entgegenhalten lassen, daß die Bezeichnung einer Vorschrift als Spezialnorm im Verhältnis zu einer generellen Bestimmung allenfalls die Summe der Argu36 von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 21, Rdnr. 33; Seifert in: Seifert/Hömig (IIrsg.), GG, Art. 21, Rdnr. 7. Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 6, wi\1 a\1erdings Art. 21 GG gleichfa\1s nicht als verfassungsrechtlichen Auftrag an die Parteien verstanden wissen, auf die staatliche Willensbildung Einfluß zu nehmen, sondern meint, für die unausweichliche Präsenz der Parteien in den gewählten Staatsorganen fehle es an grundgesetzlichen Bestimmungen. Er zieht daraus a\1erdings nicht den Schluß, der Einfluß der Parteien auf das Parlament sei verfassungsrechtlich bedenklich, es geht vielmehr nur darum, Grenzen des Parteieneinflusses aus dem vorhandenen Normenmaterial zu bestimmen. 37 Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 21, 27; Hamann/Lenz, GG, Art. 38, Anm. B 8 b; Schiedermair, BayVBI. 1970, 310, 311; Seifert in: Seifert/Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr.1O.

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mentation bilden kann, die Argumentation aber nicht ersetzt38 . Als einzigen Anhaltspunkt für ein Spezialitätsverhältnis führen dessen Befürworter aber die Systematik des Grundgesetzes an, wonach Art. 38 GG im Abschnitt über den Bundestag steht, Art. 21 GG hingegen dem weiteren Regelungsbereich "Bund und Länder" zugeordnet ist39• Noch der Herrenchiemseer Entwurf enthielt nämlich eine dem heutigen Art. 21 GG entsprechende Vorschrift im Abschnitt über den Bundestalt°. Die Umstellung erfolgte lediglich, um die Vorschriften über das Parteienwesen wegen ihrer generellen Bedeutung im Anschluß an die Bestimmungen über die Ausübung der Staatsgewalt aufzuführen41 . Die Intention war also keineswegs, ihre Geltung für das Parlament auszuschließen, sondern, eher umgekehrt, sie nicht darauf zu beschränken. In der systematischen Stellung von Art. 21 GG kann daher sogar eine Aufwertung erblickt werden42 Die Vorstellung von einem Vorrang des Art. 38 GG vor Art. 21 GG beruht letzten Endes, wenn auch mit entgegengesetzten Schlußfolgerungen, auf dem gleichen Irrtum wie die Lehre vom Parteien staat, nämlich der grundsätzlichen Unvereinbarkeit beider Bestimmungen43 . Damit wird aber dem Prinzip der Einheit der Verfassung44 nicht hinreichend Rechnung getragen.

38 Stuby, Der Staat 8 (1969), 303, 308. 39 Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 18 ff. Gleichfalls auf die systematische Stellung stützt sich die Argumentation von Troßmann, JÖR N.F. 28 (1979), 1, 277, wonach auf den Bundestag als Teil der organisierten Staatlichkeit nur die für dieses Verfassungorgan geltenden Verfassungsbestimmungen Anwendung finden könnten, weshalb er eine Heranziehung von Art. 21 GG ablehnt. 40 Art. 47 Herrenchiemseer Entwurf. 41 Allgemeiner Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates, Drs. 267, Anmerkung zu Art. 46, zitiert nach von Doemming/Füßlein/Matz, Entstehungsgeschichte der Artikel des Grundgesetzes, JÖR N.F. 1 (1951), 1, 205. 42 In diesem Sinne Leibholz, Repräsentativer Parlamentarismus und parteienstaatliche Demokratie, in: KIuxen (Hrsg.), Parlamentarismus, 5. A, 1980, S. 349, 357. 43 So zutreffend Toews, AöR 96 (1971), 354, 362. 44 Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 , Rdnr. 37; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 18. A, 1991, Rdnr. 71. 5 Demmler

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordnett.n nach dem Grundgesetz

4. Die aktuelle Bedeutung des freien Mandats a) Praktische Konkordanz vonArl. 21 GG undArl. 38Abs. 1 Satz 2 GG Eine zutreffende Beurteilung des Verhältnisses von Art. 38 und Art. 21 GG muß von der Verfassung als Einheit ausgehen. Damit ist es nicht zu vereinbaren, der einen Bestimmung einen Vorrang zuzugestehen, mit der Folge, daß die andere völlig oder doch in weitem Umfang verdrängt wird45 . Gerade die kontroversen Beratungen im Parlamentarischen Rat46 zeigen, daß sich der Verfassunggeber sehr wohl bewußt war, daß eine starke Stellung der politischen Parteien nicht ohne Einfluß auf die Position des Abgeordneten bleiben kann. In Kenntnis der vorgebrachten Bedenken hat er sich trotzdem für die Aufnahme der Bestimmung über das freie Mandat entschieden47 • Offenbar sollen also beide Rechtssätze ihren spezifischen Gehalt einbringen können, im Wege praktischer Konkordanz4 8 ist jedem von ihnen die größtmögliche Wirksamkeit zu verschaffen. Dies bedeutet, daß zwar Art. 38 GG nicht isoliert von der Mitwirkung der Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes gesehen werden kann. Die liberale Vorstellung vom Abgeordneten als völlig ungebundenem Einzelwesen zu sehen, das nur seiner Überzeugung folgt und in rational geführter Debatte mit den anderen Volksvertretern, bei der sich die besseren Argumente durchsetzen, den politisch richtigen Weg sucht, entspricht nicht dem Grundgesetz. Die Interpretation des freien Mandats muß sich vielmehr stets bewußt bleiben, daß es sich um Mandatsträger handelt, die von der Verfassung gewollt - Parteien angehören und von daher gewissen Bindungen unterliegen. Andererseits bildet Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG mit der Garantie einer gewissen Eigenständigkeit jedes Abgeordneten aber ein wichtiges Gegengewicht zum Einfluß der Parteien auf die staatliche Willensbildung. Sollte das 45 Kasten, Ausschußorganisation, S. 115; C. Arndt, Fraktion und Abgeordneter, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 21, Rdnr. 18. 46 Vor allem 2. und 6. Sitzung des Organisationsausschusses. 47 Unzutreffend ist daher die Ansicht von Leibholz, Strukturwandel, S. 78, 112 f., der Parlamentarische Rat sei sich nicht darüber klar gewesen, daß das Bekenntnis zum modemen Parteienstaat das gleichzeitige Bekenntnis zu den Grundsätzen der liberalen Demokratie ausschließt. Ähnlich BVerfGE 2, I, 72, wonach der Verfassungsgesetzgeber unbedenklich Art. 38 GG übernommen habe, ohne daß ihm die prinzipielle Unvereinbarkeit mit Art. 21 GG voll deutlich geworden sei, sowie Adam, PVS 1972, 300, 306. 48 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72; Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 , Rdnr. 36 f.

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freie Mandat zunächst die Unabhängigkeit des Abgeordneten vom eigenen Wähler sicherstellen, so ist es mit dem zunehmenden Einfluß der Parteien zu einer Sicherung gegen jede absolute Herrschaft der Parteiapparate geworden. Damit haben sich seine Funktionen durch die verfassungsrechtliche Anerkennung der Parteien in gewissem Umfang gewandelt, ohne daß jedoch die Gewährleistung als solche angetastet worden wäre49 . Badura, der einer solchen Sichtweise den Weg gewiesen hat, spricht dabei sehr anschaulich vom "freien Mandat des parteigebundenen Abgeordneten"50. Mit der heute ganz herrschenden Meinung kann daher festgehalten werden, daß Art. 21 und Art. 38 GG nicht etwa unversöhnliche Gegensätze darstellen, sondern im Gegenteil die Gewährleistung einer gewissen Unabhängigkeit des Abgeordneten auch von seiner Partei gerade dann notwendig ist, wenn die Parteien den Prozeß der politischen Willensbildung stark bestimmen 51 . Angebracht ist also eine funktionale Betrachtung des freien Mandats, um seinen Stellenwert und seine fortdauernde Bedeutung ermessen zu können.

b) Das freie Mandat als Garant innerparteilicher Demokratie

An erster Stelle ist hier die Bedeutung des freien Mandats für die Sicherung von innerparteilicher und innerfraktioneller Demokratie hervorzuheben52 . Indem der Abgeordnete rechtlich nicht gezwungen werden kann, eine 49 H. 1I.K1ein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 5. Bedenken sind daher gegen die Ansicht des BVerfG im Diätenurteil (BVerfGE 40, 296, 310 ff.) angebracht, die Aufwandsentschädigung des Abgeordneten könne ihre ursprüngliche Funktion, seine Unabhängigkeit auch materiell abzusichern, heute nicht mehr erfüllen, sondern sei mehr und mehr zu einem Entgelt für die im Parlament geleisteten Dienste geworden. Da die Unabhängigkeit selbst in ihrer Geltung nicht gemindert ist, besteht auch die Bedeutung des Art. 48 Abs. 3 GG, diese Unabhängigkeit zu gewährleisten, unverändert fort. Im übrigen kann man für die Beurteilung des konkret zu entscheidenden Falles zu den gleichen Ergebnissen gelangen, wie das BVerfG (Verstoß gegen den formal zu verstehenden Gleichheitssatz), auch wenn man die herkömmliche Funktion der Diätenregelung zugrundelegt. 50 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr 70 f. Ihm folgen etwa Säcker, DVBI. 1970, 567,570; Tsatsos, DÖV 1971, 253, 254; Kasten, Außschußorganisation, S. 121. Im Gegensatz zu der bisweilen auch gebrauchten Formulierung vom "parteigebundenen freien Mandat" verdeutlicht diese Terminologie stärker, daß der Gehalt von Art. 38 GG dadurch keine Einschränkung erfahren hat. 51 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 69; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 602; Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 18. 52 Friesenhahn, VVDStRL 16 (1958), 9, 22; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 72; Säcker, DVBI. 1970,567,50; Toews, AöR 96 (1971), 354, 363; Tsatsos, DÖV 1971, 253, 256; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 602; ders., Art. Abgeordneter, EvStL, Sp. 11, 14; Bericht der

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

von seiner Partei verfolgte Politik mitzuvollziehen, erhält er dieser gegenüber eine zumindest temporär unangreifbare Position53 . Da die Parteien stets bestrebt sind, ein geschlossenes Auftreten ihrer Abgeordneten im Parlament zu erreichen, werden sie gezwungen, sich mit der Haltung des abweichenden Abgeordneten auseinanderzusetzen. Dadurch wird ein Diskussionsprozeß in Gang gesetzt, der Vorbedingung dafür ist, daß auch Minderheitspositionen nicht völlig untergehen. Wenn auch die Existenz des freien Mandats allein innerparteiliche Demokratie nicht zu gewährleisten vermag, so wirkt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG doch Oligarchisierungstendenzen in den politischen Parteien entgegen.

c) Das freie Mandat als Sichernng parlamentarischer Flexibilität Eine weitere Funktion ist bereits angeklungen. Im Laufe einer Wahlperiode ergeben sich immer wieder völlig neue Fragen, die bei der Verabschiedung der Parteiprogramme nicht bedacht werden konnten und auf die das Parlament angemessen reagieren muß. Um politisch handlungsfähig zu bleiben, bedürfen das Parlament und seine Mitglieder daher der Flexibilität. Damit ist aber nicht nur die Bindung der Abgeordneten an einen angeblichen Auftrag der Wähler, sondern zugleich auch ein unbedingtes Festhalten an den von ihrer Partei entwickelten und in Parteitagsbeschlüssen festgehaltenen Standpunkten ausgeschlossen. Das freie Mandat dient somit auch dazu, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß staatliche Willensbildung hinreichend offen ist, sich veränderten Gegebenheiten anpassen zu können 54 • Die Funktion des freien Mandats besteht insoweit nicht so sehr in der negativen Abwehr von Instruktionen als vielmehr in der positiven Wahrung von Entscheidungsmöglichkeiten55 .

Enquetekommission Verfassungsreform, S.78; Grimm, Die politischen Parteien, in: Benda/ Maihofer/Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 1983, S.317, 352; R. Hofmann, ZfP 1978, 32,49; Stolleis, VVDStRL 44 (1986), 8, 16; H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr. 85. 53 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 72. Die Position ist nur temporär unangreifbar, weil es den Parteien freisteht, einen abweichenden Abgeordneten nicht erneut aufzustellen. 54 H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 4; H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr. 43; Tsatsos, DÖV 1971, 253, 256. 55 Kasten, Ausschußorganisation, S. 103.

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Eine strikte Bindung der Abgeordneten an eine Parteilinie verbietet sich aber auch deshalb, weil ein funktionsfähiges Parlament Kompromißfähigkeit erfordert56 . Besonders deutlich ist dies bei den für die Bundesrepublik typischen Koalitionen, wo die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen, um zusammen eine Mehrheit im Parlament bilden zu können, sich in Einzelfragen aufeinander zu bewegen müssen. Das Bedürfnis nach der Fähigkeit zum Kompromiß gilt aber, wenn auch in eingeschränkter Form, auch für das Verhältnis von Regierungsfraktionen und Opposition.

d) Das freie Mandat als Grundlage persönlicher Verantwortung

Neben den beiden Aufgaben, innerparteiliche Demokratie zu fördern und staatliche Willensbildung hinreichend flexibel zu halten, ist noch eine weitere Funktion des freien Mandats zu verzeichnen, die eng mit dem noch zu erörternden Wesen der demokratischen Repräsentation zusammenhängt. Wenn Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG den Abgeordneten freistellt von bindenden Aufträgen, so wird ihm dadurch auch die persönliche Verantwortung für seine Mitwirkung an den Entscheidungen des Parlaments aufgegeben 57 • Der einzelne Abgeordnete kann sich nicht darauf berufen, nur eine von seiner Partei beschlossene Politik ausgeführt zu haben, sondern muß für sein Verhalten im Parlament auch selbst vor der Öffentlichkeit einstehen58 . Es ist also unzutreffend, wenn Leibholz aus der Gewissensunterworfenheit des Abgeordneten folgern will, dieser sei den Wählern auch politisch nicht verantwortlich59 . Das freie Mandat zwingt ihm diese politische Verantwortlichkeit sogar auf. Wie noch zu zeigen sein wird, handelt es sich dabei sogar um eine nicht nur politische, sondern auch rechtliche Verantwortlichkeit. Der Abgeordnete kann lediglich von den Wählern nicht im Wege einer Abberu56 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S.50; Edinger, Wahl und Besetzung parlamentarischer Gremien, 1992, S. 149; Toews, AöR 96 (1971), 354, 363. 57 Wie H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr.44, zutreffend ausführen, setzt nur eine rechtliche freie Entscheidung "Rechtfertigungszwang" und schafft damit Verantwortlichkeit. Auf diese Funktion des freien Mandats weisen auch schon Siegfried, ZRP 1971, 9, 11, und Grimm, HdbVerfR, S. 317, 334 f., hin. 58 Besonders deutlich kommt dies im Deutschen Bundestag in der Möglichkeit der namentlichen Abstimmung (§ 52 GOBT) zum Ausdruck. Das Abstimmverhalten der einzelnen Abgeordneten wird in diesem Fall im Anhang zum Protokoll der jeweiligen Plenarsitzung festgehalten. 59 Leibholz, DVB\. 1951, 1, 2.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

fung zur Verantwortung gezogen werden. Die einzige Sanktionsmöglichkeit für den Wähler besteht darin, den Abgeordneten bei der nächsten Wahl nicht wiederzuwählen (wobei die starren Listen auf Bundesebene es allerdings außerordentlich erschweren, die Wiederwahl eines bestimmten Abgeordneten zu verhindern). Daß der Abgeordnete aufgrund des freien Mandats vor den Wählern die Verantwortung übernimmt, eröffnet den Dialog zwischen ihm und der Öffentlichkeit. Da er sich - beispielsweise in seinem Wahlkreis - für sein Verhalten rechtfertigen und etwaiger Kritik stellen muß, beginnt er, sich mit den Wählern auseinanderzusetzen. Damit aber sind die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß demokratische Repräsentation kein unbewegliches Verhältnis bedeutet, bei dem sich der Einfluß des Volkes auf die staatliche Willensbildung im einmaligen Wahlakt erschöpft, sondern als dynamischer Prozeß verstanden werden kann, in dem sich auch im Laufe der Wahlperiode ein ständiger Austausch zwischen Repräsentanten und Repräsentierten vollzieht. Ein solches dynamisches Verständnis von Repräsentation wird im neue ren Schrifttum zunehmend anerkannt6O • Die Wahl gibt nur eine Momentaufnahme vom Willen des Volkes, der sich im Laufe der Wahlperiode vielfach wandelt. Das freie Mandat erlaubt es den Abgeordneten, diese Veränderungen aufzugreifen und bei ihrer Tätigkeit zu berücksichtigen. Letztlich trägt neben der demokratischen Legitimation, die durch die Wahl vermittelt wird, erst dieser integrative Charakter von Repräsentation dazu bei, daß die staatlichen Entscheidungen in einem parlamentarisch-repräsentativen System nicht nur in einem formellen Sinn, sondern auch real dem Volk als Souverän zugerechnet werden können61 . Aufbauend auf den vorangegangenen Abschnitten, die zum einen den Charakter des parlamentarischen Mandats in Abgrenzung zur grundrechtlichen Berechtigung, zum anderen seine gewandelten Aufgaben unter den Bedingungen einer von Parteien geprägten Demokratie herausgearbeitet haben, kann nunmehr eine Auslegung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erfolgen. Ausgangspunkt ist dabei die in der Vorschrift selbst angelegte Gliederung in drei Aussagen: "(1) Sie (die Abgeordneten) sind Vertreter des ganzen Volkes, (2) an Aufträge und Weisungen nicht gebunden (3) und nur ihrem Gewissen unterworfen." Diese drei Bestandteile stehen sicherlich nicht 60 Böckenförde, Demokratische Willensbildung und Repräsentation, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 11,1987, § 30, Rdnr. 20 ff.; Kimme, Das Repräsentativsystem, 1988, S. 144; Morlok, JZ 1989, 1035, 1036; Wahl, Art. Repräsentation, rAR 5/640, S.l. 61 Dazu Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 120 f.

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völlig losgelöst nebeneinander, sondern in engem Zusammenhang62 und begründen gemeinsam die einheitliche Stellung des Abgeordneten im parlamentarischen Geschehen. Dennoch kommt jedem Element eine eigenständige Bedeutung zu, je nach der sich konkret stellenden Sachfrage ist der eine oder der andere Aspekt für deren Beantwortung ausschlaggebend. Im folgenden soll nun die spezifische Aussage jedes dieser drei Bestandteile für das Verhältnis des Abgeordneten zu seiner Fraktion bestimmt werden, in der Gesamtschau lassen sich daraus erste Ergebnisse auch für die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse gewinnen.

62 Achterberg, Rahmengebundenes Mandat, S. 20; Kasten, Ausschußorganisation, S. 83. Aus diesem Grund erscheint es auch wenig ergiebig, der Frage nachzugehen, welcher Halbsatz des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die Rechte des Abgeordneten nun im einzelnen begründet; so aber Ziekow, JuS 1991, 28 f.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

§ 3: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes 1. Repräsentation als zentraler Begriff Herkömmlicherweise wird diese Formulierung als verfassungsrechtlicher Ausdruck des Repräsentationsprinzips verstanden 1, wonach die Abgeordneten als Repräsentanten des Gesamtvolks an seiner Stelle handeln.

a) Der Wille des Parlaments als hypothetischer Volkswille?

Nun ist allerdings zuzugeben, daß der Begriff der Repräsentation alles andere als klar und eindeutig ist 2 • Zu welchen Fehldeutungen er verleiten kann, wurde bereits bei der Erörterung der Parteienstaatslehre deutlich. Aus diesem Grund wird im neueren Schrifttum immer wieder die Forderung erhoben, ganz auf den Gedanken der Repräsentation zu verzichten3 • Eine Gefahr wird insbesondere darin gesehen, daß anstelle des empirischen Willens des Volkes im Modell der Repräsentation ein "hypothetischer Volkswille" für maßgeblich erklärt wird, der gerichtet sein soll auf ein vorgegebenes und objektiv feststellbares Gesamtinteresse4 • Dies könne dazu führen, daß sich die Abgeordneten nach der Wahl um den wirklichen Willen des Volkes nicht mehr kümmern müßten, diesem vielmehr einen allein vom Parlament bestimmten hypothetischen Volkswillen als eigenen entgegenhalten könnten. Letzten Endes bedeute dies eine Entmündigung des Volkes5 .

1 Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20 (Demokratie), Rdnr. 3, 4; von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 57. 2 Nach Stern, Staatsrecht Band 11, § 26 I 1, gehört die Repräsentation des Verfassungsrechts zu den schwer erklärbaren Techniken der Struktur des demokratischen Verfassungsstaates. H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr. 1, räumen ein, daß der Terminus in vielen Bedeutungsvarianten schillert. 3 H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 9; Henke, DVBI. 1973,553, 557 f; zurückhaltend auch Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 59 FN 55. 4 So insbesondere Fraenkel, Repräsentative Komponente, S. 113. Mit dem Terminus des hypothetischen VolkswilIens wird der Wille des Parlaments auch von Stern, Staatsrecht Band II, § 26 I 1 b, sowie von H. H. Klein, Aufgaben des Bundestages, HdbStR II, § 40, Rdnr. 1 gekennzeichnet. 5 So der Vorwurf von H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 9.

§ 3: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes

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Diese Kritik ist berechtigt, soweit sie sich gegen die Annahme eines vorgegebenen Gemeinwohls richtet. Dann ist in der Tat die Möglichkeit eröffnet, dem Volk als eigenen Willen unterzuschieben, was in Wahrheit nur von den Abgeordneten festgelegt wird, die mit letzter Verbindlichkeit entscheiden, wie dieses Gemeinwohl zu definieren und was zu seiner Erlangung erforderlich ist. Eine solche Sicht von Repräsentation wird jedoch den Anforderungen, die sich aus dem Demokratieprinzip ergeben, nicht in hinreichendem Maße gerecht. Das Gemeinwohl kann im demokratischen Staat keine inhaltlich vorgegebene Größe sein, sondern ergibt sich erst als Resultante einer ständigen öffentlichen Auseinandersetzung, in der sich die unterschiedlichsten Interessen und Standpunkte artikulieren und um Zustimmung werben können 6 • Die Mehrheit der Bevölkerung entscheidet dann bei der Wahl und die Mehrheit der Abgeordneten bei den anstehenden Entscheidungen, was im Einzelfall als das Gemeinwohl anzusehen ist. Die Verkürzung der Parteienstaatslehre bestand gerade darin, daß sie Repräsentation einseitig auf die Darstellung vorgegebener Werte unter Ausschluß von bloßen Interessen festlegen wollte. Diese Vorstellung brachte die Repräsentation notwendig in Gegensatz zum Demokratiegedanken, woraus gefolgert wurde, daß in einem demokratisch verfaßten Staat repräsentative Elemente wie das freie Mandat antiquiert seien. Tatsächlich aber bedeutet demokratische Repräsentation, daß diese nicht losgelöst von den wirklichen Vorstellungen des Volkes, seinen Bedürfnissen und Interessen, stattfinden kann.

b) Repräsentation als jonnale und inhaltliche Kategorie

Diesem Erfordernis kann Rechnung getragen werden, wenn man im Anschluß an Ernst-Wolfgang Böckenförde eine zweifache Verwendung des Begriffs "Repräsentation" unterscheidet? Zunächst ist mit Repräsentation jenes Verfahren der Zurechnung zwischen Parlament und Volk gemeint,

6 Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 8; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 18. 7 Böckenförde, FS Eichenberger, 1982, S. 318 f.; ders., HdbStR 11, § 30, Rdnr. 17 f.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

das 1m demokratischen StaatS auf der Ermächtigung beruht, welche die Aktivbürgerschaft im Wahlakt erteilt hat. Auf dieser Grundlage ist das Parlament berechtigt, durch sein Handeln das Volk zu verpflichten, Entscheidungen des Parlaments sind für das Volk verbindlich. Repräsentation wird hier also in einem rein formalen Sinne verstanden, über die inhaltliche Seite wird damit nichts ausgesagt. Unter Geltung des Demokratieprinzips ist diese auf die Wahl gestützte Autorisierung des Parlaments zwar notwendig, aber nicht ausreichend. Die Vorstellung, das Volk entäußere sich mit der Wahl jeder Einflußmöglichkeit und entließe das Parlament für die Dauer der Wahlperiode zur beliebigen Entscheidungsfindung, ist mit dem Gedanken der Volkssouveränität, nach dem alle Staatsgewalt vom Volk ausgeht (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG), nicht zu vereinbaren. Das Volk übt diese Staatsgewalt vielmehr nur dann wirklich durch das besondere Organ der gesetzgebenden Gewalt aus, wenn dieses auch inhaltlich den tatsächlichen Willen des Volkes beachtet9• Neben der formalen ist also auch eine inhaltliche Repräsentation des Volkes gefordert. Dies bedeutet nun nicht, daß das Parlament bei seinen Entscheidungen inhaltlich gebunden wäre an Meinungen, die in der Bevölkerung vorherrschen. Das freie Mandat in seiner ursprünglichen Zielrichtung gegen Weisungen der Wähler will dies gerade verhindern. Es sind vielfältige Gesichtspunkte vorstellbar, die eine Verwirklichung dessen, was eine Mehrheit in der Bevölkerung wünscht, als nicht angezeigt erscheinen lassen 10. Die inhaltliche Anknüpfung an Positionen und Interessen, die im Volk vorhanden sind, kann dann nur so aussehen, daß diese in den Prozeß der parlamentarischen Willensbildung eingebracht und bei der Entscheidungsfindung zumindest einbezogen werden müssen. Dies setzt zunächst voraus, daß sich die Repräsentanten überhaupt nach den Meinungen unter den Repräsentierten erkundigen. Eine wichtige Aufgabe des Parlaments ist es daher, sich im Vorfeld politischer Entscheidungen um Stellungnahmen aus der Bevölkerung zu bemühen.

S Tatsächlich ist die Repräsentationsidee aber sehr viel älter und keineswegs auf demokratische Staatsformen beschränkt. Vergl. zur Geschichte umfassend H. Hofmann, Repräsentation, 1974. 9 Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: IsenseejKirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 1987, § 22, Rdnr. 11. 10 Etwa die erforderliche Setzung von sachlichen und zeitlichen Prioritäten, der Gedanke eines möglichst gerechten Ausgleichs der divergierenden Interessen in der Bevölkerung, außenpolitische Rücksichtnahmen.

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Die inhaltliche Seite der Repräsentation erschöpft sich aber nicht darin, Meinungen aus dem Volke aufzunehmen und in die Erwägungen einzubeziehen. Ebenso bedeutsam ist es, im Anschluß an die einmal getroffene Entscheidung diese vor der Bevölkerung zu erläutern und die Verantwortung dafür zu übernehmenIl. Auch wenn deren Auffassung sich letztendlich nicht in den Beschlüssen des Parlaments widerspiegelt, weil andere Belange als vorrangig angesehen wurden, kann also dennoch inhaltliche Repräsentation hergestellt werden, wenn die Abgeordneten ihre abweichende Entscheidung vor der Öffentlichkeit begründen, sich Kritik und Kontrolle stellen und um Akzeptanz für ihr Verhalten werben. Inhaltliche Repräsentation ist somit gewährleistet, wenn ein ständiger Dialog zwischen Repräsentanten und Repräsentierten stattfindet, der Begriff der Repräsentation ist nicht statisch sondern dynamisch zu verstehen. Sie wird bewirkt durch die Einbringung der verschiedenen Interessen und Bedürfnisse in das Handeln und Entscheiden der Repräsentanten, zugleich aber durch die Darstellung und Aktualisierung dessen, was von den Bürgern als verbindend Gemeinsames der Ordnung ihres Zusammenlebens gewußt und empfunden wird l2 • Sehr zu Recht ist in der Literatur zur Erklärung dieses Repräsentationsmodells auch das angelsächsische Verständnis des trust, also einer auf Vertrauen begründeteten Treuhand, herangezogen worden 13 . In der Tat basiert demokratische Repräsentation auf dem Vertrauen, das die Repräsentierten den Repräsentanten entgegenbringen. Dieses Vertrauen äußert sich erstmals bei der Berufung der Abgeordneten in ihr Amt durch die Wahl. Damit das Volk die Staatsgewalt durch das Parlament ausübt, muß die Vertrauensbeziehung aber über diesen Zeitpunkt hinaus während der gesamten Wahlperiode vorliegen. Um das Vertrauen der Repräsentierten zu erhalten, 11 Schon der klassische Funktionenkatalog für das Parlament von Walter Bagehot aus dem Jahre 1867 berücksichtigt diese Unterscheidung, indem er die expressive function von der teaching und der informing function abhebt. Expressive function bedeutet danach, daß das Parlament die Gedanken des Volkes zu allen Angelegenheiten, mit denen es konfrontiert wird, zum Ausdruck bringen soll. Die teaching function meint demgegenüber, daß das Gemeinwesen vom Parlament zum besseren verändert werden soll, die Nation soll vom Parlament lernen, was sie nicht weiß. Eng damit zusammen hängt die informing function als Pflicht, der Öffentlichkeit alle Argumente des Für und Wider einer pOlitischen Entscheidung darzulegen, damit die Gesellschaft diese Entscheidungen nachvollziehen und billigen kann (vergi. Bagehot, The English Constitution, London 1867, in deutscher Übersetzung, Die englische Verfassung, 1971, S. 136 ff.). 12 Böckenförde, HdbSR 11, § 30, Rdnr. 22. 13 Hennis, FG Smend, S. 51, 54 ff.; Scheuner, DÖV 1957, 633, 634; Wahl, Art. Repräsentation, LdR 5/640, S. 1.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

haben die Abgeordneten daher deren tatsächliche Interessen für diese wahrzunehmen und sich hierfür vor ihnen zu verantworten. Dem Vertrauen der Repräsentierten korrespondiert demnach die Verantwortung der Repräsentanten l4 • Bei der nächsten Wahl kann das Vertrauen dann entweder bekräftigt oder aber entzogen werden. Die zunächst rein persönlichen Anliegen, welche die Repräsentierten an ihre Treuhänder herantragen, erfahren im Laufe des Repräsentationsprozesses eine wesentliche Wandlung. Dadurch daß sie von den Abgeordneten - und damit nicht von den unmittelbar Interessierten - in einen kommunikativen Entscheidungsprozeß eingebracht werden, in dem sie mit anderen Positionen zu einem Ausgleich gebracht werden müssen, verlieren die einzelnen Interessen mehr und mehr ihren egoistischen Charakter und werden allgemeiner. Das Ergebnis dieses Vorgangs kann dann für sich in Anspruch nehmen, dem Gemeinwohl zu entsprechen, und bleibt gleichwohl auf die konkreten Positionen in der Bevölkerung gestützt l5 • Wenn das Grundgesetz in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes beschreibt, wird ihnen damit die Aufgabe zugewiesen, reale Interessen aus dem Volk aufzunehmen, sie jedoch in einer Weise wahrzunehmen, die den Belangen des gesamten Volkes dient. Eine entscheidende Funktion des freien Mandats ist gerade darin zu sehen, daß der Abgeordnete, indem er von Bindungen jeder Art freigestellt ist, zur Mitwirkung an diesem Prozeß erst befähigt wird. Die aus seiner Amtsstellung resultierende Gemeinwohlorientierung aber bedeutet die rechtliche Verpflichtung zur Teilnahme daran, seine Aufgabe ist es, das Gemeinwohl im offenen Austausch mit den Repräsentierten eigenständig zu ermitteln und sodann in parlamentarisches Handeln umzusetzen l6 • 14 Dementsprechend definieren H. HOfmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr. 23, demokratische Repräsentation als die durch Wahlen nach demokratischen Grundsätzen begründete und ständig erneuerte Beziehung der Autorisierung und Anerkennung sowie der Kontrolle und der Kritik zwischen dem Staatsvolk und den Volksvertretung. Das BVerfG hat in ähnlicher Weise von einem "Verantwortungs- und Vertrauenszusammenhang" gesprochen (BVerfGE 42,125,142). 15 Diese Vorstellung ist im übrigen keineswegs neu. Sie findet sich vielmehr schon in den als publizistische Wegbereitung der amerikanischen Unionsverfassung 1788/89 verfaßten Federalist Papers. Danach bilden die partikularen Interessen der Bürger gleichsam das Rohmaterial, welches im Verlauf des Repräsentaionsverfahrens veredelt wird. VergI. dazu Dreier, AöR 113 (1988), 450, 461 f. 16 Für eine Verpflichtung des Abgeordneten, auf die an ihn herangetragenen Vorstellungen und Meinungen einzugehen, auch Kissler, Parlamentsöffentlichkeit: Transparenz und Artikulation, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 36, Rdnr.17.

§ 3: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes

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c) Die inhaltliche Repräsentation als Hauptaufgabe des einzelnen Abgeordneten

Erweist sich die inhaltliche Seite der Repräsentation im demokratischen Staat als ebenso notwendig wie die formale Legitimation für das Handeln des Parlaments, so ist festzustellen, daß der Dialog mit der Öffentlichkeit weniger vom Parlament als Ganzem geführt wird, sondern im wesentlichen die Aufgabe der einzelnen Abgeordneten ist 17 • Die öffentliche Plenardebatte leistet nur noch den zweiten Schritt der inhaltlichen Repräsentation, nämlich die Darstellung und Begründung dessen, was die einzelnen politischen Richtungen im Parlament als Gemeinwohl erkannt haben. Die Kommunikation läuft hier aber einseitig von den Repräsentanten zu den Repräsentierten. Die Aufnahme von Informationen aus der Bevölkerung vermag die Plenardebatte hingegen nicht zu bewirken. Zwar kommt das Parlament als Ganzes auch mit der Öffentlichkeit in Kontakt, um Anregungen für seine Tätigkeit zu gewinnen. Zu denken ist hier einmal an die öffenlichen Anhörungen und Enquetekommissionen, bei denen gewöhnlich neben Sachverständigen aus der Wissenschaft auch Verbandsvertreter teilnehmen. Diese Form des Kontakts erlaubt jedoch nur organisierten Interessen, Einfluß auf die Willensbildung des Parlaments zu nehmen. Die Bedürfnisse all derer, die über keine institutionalisierte Vertretung verfügen, können über diese Instrumente hingegen nicht einbezogen werden 18 • Sie werden vom Parlament als Ganzem noch am ehesten im Wege von Petitionen und ihrer Bescheidung erfaßt. Auch diese Form des Dialogs ist aber weder vom Umfang noch von der Intensität her vergleichbar mit den vielfältigen Kontakten, die die Abgeordneten in ihren Wahlkreisen unterhalten, angefangen von der Abhaltung von Sprechstunden bis zur Teilnahme an Veranstaltungen aller Art, die es ihnen ermöglichen, sich mit den Einzelnen aus dem Volk unmittelbar auszutauschen. Nur diese spezifische Aufgabe der einzelnen Abgeordneten rechtfertigt im übrigen die zahlenmäßige Größe des Bundestages, alle anderen Aufgaben könnte ein kleineres Parlament unter Umständen 17 H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 11. Meyer arbeitet allerdings nicht mit dem Begriff der Repräsentation, sondern zieht den Ausdruck "Vertretungsfunktion" vor, um die erforderliche Orientierung des Parlaments am tatsächlichen Willen des Volkes stärker hervorzuheben. Vergl. ferner Kissler, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 36, Rdnr. 16, wonach die Kommunikationsaufgabe dem Abgeordneten unmittelbar aus seinem Repräsentationsstatus zuwächst. 18 Vergl. hierzu auch den Vorschlag der Ad-hoc-Kommission Parlamentsreforrn, interessierte und sachkundige Bürger an den Anhörungen der Fachausschüsse zu beteiligen (BTDrs. 10/3600, S. 14).

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

effektiver erfüllen l9 • Durch eine so große Anzahl von Abgeordneten und die so erzielte Vervielfachung der Kontakte aber soll sichergestellt werden, daß auch die Standpunkte der Repräsentierten in möglichst großem Umfang einfließen können 2o • Für die Frage der parlamentarischen Befugnisse folgt hieraus, daß sie dem einzelnen Abgeordneten jedenfalls nicht völlig entzogen werden können. Nehmen im wesentlichen die Abgeordneten die Anregungen und Wünsche aus dem Volk entgegen, so müssen sie, wenn sie die Überzeugung gewinnen, daß diese Positionen im parlamentarischen Prozeß zur Geltung gebracht werden sollen, auch bis zu einem gewissen Grad die verfahrensmäßigen Möglichkeiten haben, dies zu tun. Akzeptanz dadurch zu erreichen, daß auch diejenigen, deren Interessen sich in der vom Parlament getroffenen Entscheidung nicht durchgesetzt haben, sich gleichwohl darin wiederfinden können, weil ihre Standpunkte in dem vorangehenden Verfahren der parlamentarischen Willensbildung berücksichtigt wurden, ist nur möglich, wenn die Abgeordneten, die diese Auffassungen in ihren Gesprächen unmittelbar erfahren, überhaupt Gelegenheit haben, sie in das Verfahren einzubringen. Die Funktion des freien Mandats, inhaltliche Repräsentation durch Freistellung von Bindungen zu ermöglichen muß dann auf der geschäftsordnungsrechtlichen Ebene ihre Fortsetzung darin haben, Ergebnisse aus dem Repräsentationsdialog umzusetzen in parlamentarische Mitwirkungsrechte. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG als kompetenzbegründende Norm 21 erfährt somit erst seine innere Berechtigung.

19 So zu Recht H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 12. 20 Gerade unter einer Verfassung, die, wie das Grundgesetz, bewußt völlig auf plebiszitäre

Elemente verzichtet, ist es von entscheidender Bedeutung, daß die Standpunkte der Bürger im Rahmen der parlamentarischen Repräsentation in möglichst weitem Umfang erfaßt und einbezogen werden. 21 Daß Art. 38 GG, obwohl er keine Einzelbefugnisse aufführt, nicht nur eine Aussage trifft über die Art der Wahrnehmung von Kompetenzen, sondern unmittelbar Kompetenzen verleiht, kann heute als allgemein anerkannt gelten. Schon nach BVerfGE 10, 4, 12, verleiht Art. 38 GG jedem Bundestagsabgeordneten eine gewisse Eigenständigkeit innerhalb des Bundestages, woraus im konkreten Fall sein Rederecht entnommen wurde. Im Fall Wüppesahl, BVerfGE 80, 188,217 Cf., sieht das BVerfG Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG als alleinige Grundlage für die den einzelnen Abgeordneten aus ihrem verfassungsrechtlichen Status zufließenden Rechte. Aus der Literatur etwa Kisker, JuS 1980, 284, 287; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 23; Schreiner, Geschäftsordnungsrechtliche Befugnisse des Abgeordneten, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 18, Rdnr. 2; zurückhaltend Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 60 f.

§ 3: Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes

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Die weitgehende Einrichtung von Fraktionsrechten hingegen verweist den Abgeordneten darauf, die von ihm aus dem Repräsentationsvorgang gewonnenen Einsichten zunächst in die fraktionsinterne Diskussion einzubringen und sich um Unterstützung zu bemühen. Dadurch wird die Geltendmachung von Interessen der Repräsentierten aber nicht nur zeitlich verzögert, sondern es tritt auch unvermeidlich eine inhaltliche Reduzierung ein. Da die Fraktion mit Mehrheit entscheidet, ob ein bestimmtes Recht geltend gemacht wird (etwa ein Gesetzentwurf eingebracht wird), können alle Standpunkte, die sich in der Fraktion als nicht mehrheitsfähig erweisen, von vornherein auch nicht über diese in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß eingeführt werden 22 • Da die Fraktionen in aller Regel unter Ausschluß der Öffentlichkeit tagen, kann eine Diskussion allein in der Fraktion aber nicht ausreichen, um den Repräsentierten den Eindruck zu vermitteln, ihre Anliegen würden in den parlamentarischen Prozeß einbezogen. Dem einzelnen Abgeordneten bleibt dann allenfalls die Möglichkeit, in der Fraktion oder fraktionsübergreifend Rückhalt von so vielen Abgeordneten zu erlangen, daß das Quorum von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages erreicht wird, welches im Bundestag die gleichen Befugnisse wie eine Fraktion hat. Abgesehen davon, daß einige Fraktionsgeschäftsordnungen die Einbringung von Vorlagen durch einzelne Abgeordnete einer Vorlagepflicht gegenüber dem Fraktionsvorstand unterwerfen 23 , bewirkt aber auch diese Art der Einbringung, daß manche Standpunkte nicht in den parlamentarischen Willensbildungsprozeß einfließen. Daraus kann nun keineswegs geschlossen werden, daß die kollektive Ausgestaltung von Rechten schlechthin unzulässig wäre; schon die Verfassung selbst sieht ja Quoren vor 24 . Aus übergeordneten Gründen, vor allem dem Erfordernis, das Parlament funktionsfähig zu halten, ist eine Begrenzung der Rechte einzelner Abgeordneter vielmehr zwingend geboten. In jedem Einzelfall muß man sich jedoch bewußt sein, daß damit die Chancen, Repräsentation Wirklichkeit werden zu lassen, vermindert werden.

22 Dabei soll keineswegs verkannt werden, daß die Einbringung einer bestimmten Position durch eine Fraktion diesem Standpunkt eine ungleich höhere Bedeutung zukommen läßt. Gleichwohl vermag dies wegen der damit notwendigerweise verbundenen Verringerung der Anzahl von einzelnen einzubeziehenden Auffassungen die Geltendmachung durch einzelne Abgeordnete nicht zu ersetzen. 23 §§ 6 Abs. 2, 7 GO SPD-Fraktion, 12 Abs. 3 GO FDP-Fraktion. 24 Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG für den Antrag auf Ausschluß der Öffentlichkeit; Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG für das Verlangen auf Einsetzung eines Untersuchungsausschusses.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

d) Repräsentation in Abgrenzung zur Vertretung Bei einem solchen Verständnis von Repräsentation bestehen die geschilderten Bedenken einer Entmündigung des Volkes nicht. Daraus folgt aber noch nicht, daß ein Festhalten an dem überkommenen Begriff der Repräsentation auch erforderlich ist. Hans Meyer, der der Sache nach eine ähnliche Position wie die hier vertretene einnimmt25, schlägt statt dessen die Verwendung des Ausdrucks "Vertretung" vor, der nicht nur sehr viel realistischer sei, sondern zudem den Wortlaut des Grundgesetzes allein ernst nehme. Vertretung sei danach ein allgemeines rechtliches Prinzip, das sich durch verbindliches Handeln für einen anderen, Verantwortlichkeit ihm gegenüber und oft, aber nicht immer, Abhängigkeit von den Weisungen des Vertretenen auszeichne. Die parlamentarische Vertretung sei nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bestimmt durch Unabhängigkeit von Weisungen. Dies sei jedoch ebenso in den Fällen der gesetzlichen Vertretung, so daß daraus allein nicht geschlossen werden könne, man müsse vom Begriff der Vertretung abgehen. Entscheidend gegen seine Verwendung spricht aber ein anderer Gesichtspunkt. Im Falle der Vertretung wird das Verhalten des Vertreters dem Vertretenen auch rechtlich zugerechnet. Dies ist hier anders. Weder das Verhalten des Gesamtparlaments noch gar das des einzelnen Abgeordneten werden dem Volk selbst rechtlich zugerechnet, eine Zurechnung erfolgt vielmehr ausschließlich im Verhältnis des Parlaments zum Staat. Handeln des Parlaments ist damit in rechtlicher Hinsicht staatliches Handeln, die Verbindung zum Volk ist hingegen nur eine politisch-ideologische26 . Der Wille des Volkes kann daher auch nur auf politischem Wege, nämlich entweder durch die Wahlen oder durch die öffentliche Meinung im Sinne des beschriebenen Prozesses, nicht aber rechtlich, auf das Verhalten der Abgeordneten einwirken. Infolgedessen ist der Begriff der Vertretung für eine zutreffende Umschreibung dieses Phänomens nicht geeignet, es muß mit der Idee der Repräsentation gearbeitet werden. Gleichwohl muß von einer auch rechtlichen Verpflichtung des Abgeordneten ausgegangen werden 27 , den Kontakt mit dem Volk zu suchen und seine Meinungsäußerungen zumindest zur Kenntnis zu nehmen. Diese er25 H. Mcyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 9 ff. 26 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 33. 27 AA Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, 31, der jedes rechtliche Band zwischen Wählern und Gewählten ablehnt.

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gibt sich aus der Stellung des Abgeordneten als Amtsträger. Anders als es bei der Erklärung der Rechtspflicht über ein Vertretungsmodell jedenfalls denkbar wäre 28 , korrespondiert dieser Pflicht des Abgeordneten jedoch kein Anspruch der Repräsentierten darauf, daß sich der Abgeordnete mit ihren Anliegen befaßt. Deshalb kann seine Teilnahme an dem öffentlichen Meinungsbildungsprozeß auch nicht erzwungen werden, inwieweit er sich auf die Diskussion einläßt, ist seiner Entscheidung überlassen und weitgehend subjektiviert. Eine Sanktion für eine Vernachlässigung der Kommunikationspflicht ist wiederum nur auf politischem Wege möglich, indem der betreffende Abgeordnete von der Partei nicht wieder aufgestellt oder von den Wählern nicht wiedergewählt wird. Regelmäßig wird diese Aussicht den Abgeordneten aber dazu bestimmen, seiner Amtspflicht in hinreichendem Maße nachzukommen. Eine rechtliche Durchsetzbarkeit ist angesichts der wirksamen politischen Sanktionen entbehrlich.

2. Kollektivrepräsentation oder Individualrepräsentation Hält man also am Begriff der Repräsentation fest, so fragt sich vor allem, ob die Repräsentation des Gesamtvolkes jedem einzelnen Abgeordneten oder nur dem Parlament als Ganzem zukommt. Wurde diese Frage herkömmlicherweise 29 dahingehend beantwortet, daß jeder Abgeordnete in seiner Person das ganze Volk vertrete (Individualrepräsentation), mehren sich in jüngerer Zeit die Stimmen im Schrifttum, die sich dafür aussprechen, daß dies nur die Gesamtheit der Abgeordneten vermöge (Kollektivrepräsentation30). Auch das BVerfG hat sich in neueren Urteilen dieser Sicht-

28 H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 10, nimmt dazu nicht ausdrücklich Stellung. 29 BVerfGE 2, 1, 74; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 49; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 11; Schäfer, Der Bundestag, 4. A, 1982, S. 161; R Jaeger, Art. Abgeordneter, StL, 6. A, 1957, Sp. 8, 9; Bruha/Möllers, JA 1985,13,16; Bethge, Art. Abgeordneter, StL, 7. A, 1985, Sp. 9, 10; Wahl, Art. Repräsentation, LdR 5/640, S. 2; für Weimar Tatarin-Tarnheyden, HdbDStR I, S. 413, 414. 30 So die Terminologie von Achterberg, Rahmengebundenes Mandat, S. 26; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 145. Bisweilen wird auch begrifflich nicht auf das Volk, sondern auf den einzelnen Abgeordneten abgestellt und je nachdem, ob er in seiner Person das ganze Volk (nach der hier zugrundegelegten Terminologie Individualrepräsentation) oder nur Teile des Volkes vertritt, während erst die Gesamtheit der Abgeordneten das ganze Volk repräsentiert (hier als Kollektivrepräsentation bezeichnet), die Gesamtrepräsentation der Teil6 Demmler

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

weise im Ergebnis angeschlossen. Gleichwohl gehen Literatur und Rechtsprechung hier getrennte Wege, sowohl was die Begründung des Gedankens der Kollektivrepräsentation als auch was die daraus zu ziehenden Konsequenzen anbelangt. Es ist daher geboten, beide Modelle einer gesonderten Betrachtung zu unterziehen.

a) Die Kollektivrepräsentation in der Literatur

aa) Verfassungsrechtliche Begründung und Konsequenzen Kennzeichnend für die Vertreter der Kollektivrepräsentation im Schrifttum ist, daß sie die Aufgabe des Abgeordneten nicht darin sehen, die Interessen des Gemeinwohls zu verfolgen, vielmehr solle er lediglich die politische Richtung vertreten, für die er gewählt worden sei3 !. Ansatzpunkt dafür ist die Formulierung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, wonach die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes sind. Die Verwendung des Plurals wird dabei so verstanden, daß nur die Abgeordneten zusammen das ganze Volk vertreten. Der einzelne Abgeordnete aber vertritt nach dieser Auffassung nur einen Teil des Volkes, nämlich die Wähler der jeweiligen Partei. In der Konsequenz liegt daher regelmäßig auch eine stärkere Anbindung des Abgeordneten an seine Partei. Am weitesten in diese Richtung geht dabei Preuß, der die in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG festgehaltene Unabhängigkeit von Aufträgen und Weisungen nur auf Druck von außen beziehen will und nicht auf Verlangen, die von der Partei oder Fraktion an den Abgeordneten gerichtet werden 32 • Die von der herrschenden Meinung befürwortete Ausdehnung der Schutzrichtung des freien Mandats über die Freiheit von Wei-

repräsentation gegenübergestellt Vergl. dazu etwa Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr.70. 3! H. Meyer, WDStRL 33(1975),69,93; Preuß in: Alternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 56 f.; Dreier, AöR 113 (1988), 450, 465; H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, 27; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982, S. 266 FN 308. Anders nur H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 18, der zwar auch das Modell der Kollektivrepräsentation vertritt, aber ausdrücklich an der Gemeinwohlverpnichtung festhalten will. 32 Preuß in: Alternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 56 ff. Eine Ausnahme sei nur für Einzelweisungen zu machen, weil diese den parlamentarischen Prozeß paralysieren könnten, und in eng begrenzten Fällen, bei denen der Abgeordnete es mit seinem Gewissen nicht vereinbaren könne, dem Verlangen der Partei zu folgen.

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sungen der Wähler hinaus auch auf Freiheit von Weisungen der ParteP3 wird von ihm also nicht mitvollzogen. Auch bei anderen Autoren, die von der Kollektivrepräsentation ausgehen34, ist, wenn auch weniger drastisch, die Tendenz unverkennbar, die Unabhängigkeit des Abgeordneten von Partei und Fraktion zu begrenzen. So führt Hans Meyer aus, jede an Art. 38 GG orientierte Überhöhung des Abgeordnetenmandats sei peinlich, der Abgeordnete sei Abgeordneter von Parteignaden und werde um ihretwillen gewählt35 • Borchert benutzt den Gedanken, um seine Auffassung, die Fraktion verfüge über eine eigenständige demokratische Legitimation, vor Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu rechtfertigen36 . Auch hier ist also das Bestreben deutlich, den Abgeordneten stärker an seine Fraktion anzubinden. Für Meyn schließlich ist der Abgeordnete nicht als einzelner repräsentativ, sondern fast ausschließlich als Partei- und Fraktionsmitglied37 • Später führt er die von Achterberg entwickelte Idee des rahmengebundenen Mandats weiter, indem er aus der Verfassungsordnung den Auftrag an den Abgeordneten ableitet, den durch das Wahlprogramm seiner Partei gesetzten Rahmen so weit wie möglich zu beachten 38 • Folgt man diesem Ansatz, der den Abgeordneten nur als Repräsentanten seiner Wähler ansicht, so erhält das schon angesprochene Argument, er werde ausschließlich als Exponent seiner Partei gewählt, zusätzliche verfassungsrechtliche Relevanz. Während es sich sonst lediglich auf die Fortwirkung der Wahlentscheidung zugunsten einer Partei stützt, könnte es dann 33 Seifert in: Seifert/Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 9; Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 16; Badura, Die Stellung des Abgeordneten nach dem Grundgesetz und den Abgeordnetengesetzen in Bund und Ländern, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 15, Rdnr. 15; Stern, Staatsrecht Band I, § 24 IV 2 a; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 11; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 49. 34 Neben den schon genannten Autoren ist noch Borchert, AöR 102 (1977), 210, 224, zu erwähnen. In der Weimarer Republik wurde die Kollektivrepräsentation bereits von Morstein Marx, AöR 50 (1926), 430, 434 f., zur Rechtfertigung eines imperativen Mandats erwogen. 35 H. Meyer, VVDStRL 33 (1975), 69, 93. 36 Borchert, AöR 102 (1977), 210, 224. 37 Meyn, Kontrolle, S. 266. 38 Meyn, Kontrolle, S. 293 f. in Fortführung der Theorie von Achterberg, Rahmengebundenes Mandat, 1975. Achterberg hatte sich allerdings nur de lege ferenda für die Einführung eines rahmengebundenen Mandats ausgesprochen, die er dann mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für vereinbar ansehen würde. Zutreffend gegen die Vereinbarkeit einer rechtlichen Rahmenbindung an das Parteiprogramm mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hingegen Maunz in: Maunz/ Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 70; Stern, Staatsrecht Band I, § 24 IV 4 c; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 56 f. Gegen die Zulässigkeit einer Rahmenbindung sprechen nicht zuletzt die praktischen Abgrenzungsschwierigkeiten, wie weit diese reichen soll.

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auch einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt im verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten selbst für sich in Anspruch nehmen. Eine Bindung des Abgeordneten an seine Partei und an die Fraktion als die Vereinigung von Abgeordneten dieser Partei läge dann nicht nur in der Konsequenz der Art. 20 Abs. 2, 21 GG, sondern würde bereits den Inhalt von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG selbst ausmachen. Damit aber erhielte die Grundnorm des parlamentarischen Mandats eine völlig andere Qualität. Eine solche Auslegung, die die Bedeutung von Art. 38 GG relativierte, hätte nicht nur Konsequenzen für die Frage der inhaltlichen Bindung des Abgeordneten an eine von seiner Partei vertretene Politik, sondern auch für die Kompetenzverteilung im Parlament. Repräsentiert der Abgeordnete nur die Wähler seiner Partei, so ist seine Aufgabe bei der inhaltlichen Repräsentation auf die Einbringung von deren Interessen beschränkt. Für diejenigen Standpunkte, die der Abgeordnete dem Dialog mit den Wählern seiner Partei - nicht mehr mit der Öffentlichkeit insgesamt - entnimmt, bestehen aber beste Voraussetzungen, daß sie auch in der Fraktion mehrheitsfähig sind, da auch diese naturgemäß aufgeschlossen sein wird, die Interessen ihrer Wähler zu vertreten. Die Gefahr, daß durch das Erfordernis von Quoren einzelne Positionen nicht zur Repräsentation gelangen, wird also dadurch gemindert, daß diese schon auf der vorgelagerten Stufe der Aufnahme durch den einzelnen Abgeordneten ausgeschieden werden. Eine Begründung dafür, der Verlagerung von Kompetenzen auf die Fraktionen entgegenzutreten, ließe sich aus einem solchen Verständnis der Repräsentationsaufgabe jedenfalls kaum noch ableiten.

bb) Kritik

In der Hauptsache stützen die Vertreter einer Kollektivrepräsentation ihre Ansicht auf die Verwendung des Plurals in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ("Sie sind Vertreter des ganzen Volkes")39. Doch bedeutet diese Formulierung nicht unbedingt, daß nur die Gesamtheit aller Abgeordneten das ganze Volk vertritt, ebensogut kann gemeint sein, daß die einzelnen Abgeordneten (im Sinne von jeder Abgeordnete) Vertreter des ganzen Volkes sind. Andererseits ergibt sich das Gegenmodell einer Individualrepräsentation durch 39 So ausdrücklich H.-P. Schneider in: Altemativkommentar, Art. 38, Rdnr. 18; Borchert, AöR 102 (1977), 210, 224 FN 54.

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jeden einzelnen Abgeordneten auch nicht zwingend aus dem Wortlaut der V orschrift40 • Dies gilt auch für das gelegentlich von der Gegenmeinung vorgebrachte Argument, die im selben Satz angeordnete Gewissensunterworfenheit mache deutlich, daß es auf den Einzelnen ankomme, weil das Parlament als Organ nicht Gewissensträger sein könne41 • Doch wird etwa von Preuß gerade eine Aufspaltung innerhalb des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vorgenommen. Daß das Gewissen in Zwangssituationen vom einzelnen Abgeordneten gegen die Fraktion eingewandt werden kann, wird auch von ihm nicht bestritten. Gerade aus der Gewissensunterworfenheit wird vielmehr im Umkehrschluß gefolgert, daß die beiden vorausgehenden Aussagen nicht für das Verhältnis des einzelnen Abgeordneten zu Partei und Fraktion gelten42 • Ein solches unterschiedliches Verständnis der Bezeichnung "Sie" innerhalb eines Satzes, einmal bezogen auf die Abgeordneten in ihrer Gesamtheit, zum anderen auf alle einzelnen Abgeordneten, mag sich nicht aufdrängen, sprachlich ausgeschlossen ist es aber nicht. Der Wortlaut ist also offen. Schwerwiegender sind systematisch-teleologische Bedenken. Wie sich Art. 48 Abs. 2 GG entnehmen läßt, ist jeder Abgeordnete Inhaber eines Amtes. Das Wesen des Amtes besteht aber gerade darin, daß der Amtswalter bei der Ausübung des Amtes das Wohl der Öffentlichkeit verfolgen soll und nicht die Interessen einzelner, er ist auf das Gemeinwohl verpflichtet, nicht auf das Wohl einer bestimmten Klientel43 • Unabhängig von Art. 38 GG läßt sich die Gemeinwohlverpflichtung also schon aus dem Amtsgedanken entnehmen. Die Parteien hingegen haben ihre Wurzeln im gesellschaftlichen Bereich, sie sind nicht Teil der staatlichen Organisation44 • Zwar haben sie nach Art. 21 GG auch den Auftrag, auf die staatliche Willensbildung im Parlament einzuwirken, sie werden dadurch aber nicht zu Staatsorganen. Aus diesem Grund besteht für die politischen Parteien auch nicht die verfassungsrechtliche Verpflichtung, das Gemeinwohl zu fördern 45 , wenn auch die modernen Bruha/Möllers, JA 1985, 13, 16. Bruha/Möllers, JA 1985, 13, 16. 42 Preuß in: Aiternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 57. 43 Kriele, Einführung in die Staatslehre, 4. A, 1990, S. 241 f.; Hennis, FG Smend, 1962, S. 51,54. 44 BVerfGE 20, 56, 101. 45 von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 21, Rdnr. 15; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 21, Rdnr. 11; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 58; Henke, DVBI. 1973,553,556. a.A Henke in: Bonner Kommentar, Art.21, Rdnr. 27 ff.; Benda, Art. Demokratie, StL, 7. A, 1985, 40 41

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Volksparteien dies selbstverständlich für sich in Anspruch nehmen. Vielmehr sind die Parteien in der Wahl ihrer Ziele frei, solange diese nicht verfassungswidrig sind. Parteien können daher zulässigerweise ausschließlich Sonderinteressen, insbesondere diejenigen ihrer Wähler, vertreten. Soll sich der einzelne Abgeordnete bei seiner Tätigkeit also am Wohl des ganzen Volkes orientieren, so geht es nicht an, ihn nur als Vertreter einer politischen Richtung zu sehen und deshalb auf den politischen Kurs seiner Partei festzulegen. Seiner Amtsstellung wird er nur gerecht, wenn er sich auch und vor allem als Repräsentant des ganzen Volkes begreift. Eben dies ist in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zum Ausdruck gebracht. Die dagegen von Vertretern der Kollektivrepräsentation vorgebrachten Einwände vermögen nicht zu überzeugen. Sie machen insbesondere geltend, die Vorstellung der Vertretung des ganzen Volkes durch den einzelnen Abgeordneten sei realitätsfern. Man könne vom einzelnen nicht verlangen, in seiner Person die gesellschaftlichen Interessenkonflikte auszutragen, ausreichend sei, wenn dies durch die Auseinandersetzung im Gesamtparlament erfolge46 • Dem läßt sich aber entgegenhalten, daß auch das Parlament nur zu leisten vermag, wozu seine Mitglieder in der Lage sind. Sich allein darauf zu verlassen, daß beim ungezügelten Aufeinandertreffen der divergierenden Interessen im parlamentarischen Verfahren letzten Endes schon ein gemeinwohladäquates Ergebnis herauskommen werde, erscheint ebenso wirklichkeitsfern wie die Vorstellung des Honoratiorenparlaments, daß der Austausch von Argumenten eine politisch richtige Entscheidung hervorbringt47 • Erforderlich ist vielmehr, daß die Abgeordneten - auch jeder einzelne - bereits bei der Wahrnehmung von Interessen bestimmter Repräsentierter die Belange des Gemeinwohls nicht aus den Augen verlieren, damit ein gerechter Ausgleich der gegensätzlichen Interessen möglich wird48 •

Sp. 1192, 1194. Zutreffend dürfte indessen die Beobachtung von Stern, Staatsrecht Band I, § 24 1 1, sein, daß es gerade Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist, der auch die Parteien zwingt, das Gemeinwohl im Auge zu behalten. 46 H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr. 27; Dreier, AöR 113 (1988), 450, 464 f. Nach Meyn, S. 266 FN 308, heißt es, die mit der Repräsentation notwendig verbundene Fiktion unnötig auf die Spitze treiben, wenn man davon ausgeht, daß jeder einzelne Abgeordnete für sich das ganze Volk repräsentiert. 47 Dieser Einwand wird immerhin erkannt von Dreier, Aör 113 (1988), 450, 466, kann von ihm jedoch nicht entkräftet werden. 48 Dreier, AöR 113 (1988), 450, 465, geht demgegenüber davon aus, daß die Notwendigkeit, die dezidierten Interessenstandpunkte öffentlich zu vermitteln, sie legitimierungsbedürftig werden läßt, so daß sie allein von daher ein Stück ihrer Subjektivität und Punktualität verlieren.

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Nichts anderes aber bedeutet die Verpflichtung des Abgeordneten, Vertreter des ganzen Volkes zu sein. Ganz offensichtlich werden die Bedenken dagegen, auch den einzelnen Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes anzusehen, von der Befürchtung genährt, dieses Gemeinwohl werde von irgendeiner Instanz vorgegeben und könne somit den realen Interessen der Bevölkerung entgegengesetzt werden49 • Daß dies nicht in Betracht kommt, wurde schon erörtert. Auch steht, wie noch darzulegen sein wird, aufgrund der Subjektivierung des Gemeinwohlbegriffs, welche die ausschließliche Gewissensunterworfenheit bedeutet, die Verpflichtung auf das Gemeinwohl einer besonderen Vertretung partikularer Interessen gar nicht notwendig entgegen, so daß die Einwendungen auch insofern unbegründet sind. Darüber hinaus sieht sich die Auffassung, der einzelne repräsentiere nur seine Wähler, erst die Gesamtheit der Abgeordneten das ganze Volk, sofort dem Einwand ausgesetzt, daß selbst wenn jeder Abgeordnete seine Wähler vertritt, die Gesamtheit dennoch nicht das ganze Volk vertreten könnte, weil dieses sehr viel größer sei als die Summe der Wähler50• Unrepräsentiert wären danach nicht nur alle die, die nicht wahlberechtigt sind, sondern auch die, die sich nicht an der Wahl beteiligt haben. Schließlich wären auch diejenigen nicht vertreten, die eine ungültige Stimme abgegeben oder aber eine Partei gewählt haben, die an der Sperr klausel gescheitert ist. Diesem Argument begegnen die betreffenden Autoren damit, daß das Grundgesetz mit dem Ausdruck "Vertreter des ganzen Volkes" anordne, daß auch derjenige Teil des Volkes, der nicht im Parlament vertreten sei, dessen Entscheidungen trotzdem gegen sich gelten lassen müsse. Das Parlament sei, obwohl nur von einem Teil des Volkes legitimiert, zur Herrschaftsausübung über alle Angehörigen des Volkes berufen51 . Diese Sichtweise beschränkt die Repräsentation des Gesamtvolkes einseitig auf ihre formale Seite. Inhaltliche Repräsentation aber wird - selbst für die Gesamtheit der Abgeordneten - auf die Wahrnehmung von Interessen der jeweiligen Wählerschaft begrenzt. Es ist aber besonders wichtig, sich um Akzeptanz gerade bei denjenigen zu bemühen, die die im Parlament tätigen 49 Deutlich wird diese Befürchtung etwa bei H. Hofmann/Dreier, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 5, Rdnr. 27; Dreier AöR 113 (1988), 450, 466 f. 50 Scheuner, FS Huber, 1961, S. 222, 244; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 145; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 59. 51 Preuß in: Alternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 56; H. Meyer VVDStRL 33 (1975), 69, 94.

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Abgeordneten nicht gewählt haben. Die Auseinandersetzung auch mit ihren Standpunkten ist Voraussetzung dafür, daß das Parlament seine integrierende Aufgabe erfüllen kann. Der bereits erhobene Vorwurf, die Summe aller Wähler der Abgeordneten sei nicht identisch mit dem ganzen Volk, ist deshalb nicht so leicht zu entkräften, wie es die Vertreter der Kollektivrepräsentation annehmen. Schließlich müssen aber auch die Wünsche der Partei nicht immer identisch sein mit denen ihrer Wähler52 . Selbst wenn man den Abgeordneten nur als Vertreter seiner Wähler versteht, wäre es daher näherliegend, ihn unmittelbar an deren Auffassung statt an die der Partei zu binden. Daß sich dies nicht durchführen läßt, hat, ganz abgesehen von Art. 38 GG, vor allem den praktischen Grund, daß der Abgeordnete unter der verfassungsrechtlichen Anordnung eines geheimen Wahlrechts diejenigen, die ihn gewählt haben, nicht ausmachen kann. Dies zwingt dazu, den Willen der Wähler auf das Votum für eine Partei zu reduzieren, deren Programm dann gleichsam stellvertretend für den an sich maßgeblichen Wählerwillen steht. Trotzdem lehnt Preuß jedoch eine Bindung an Weisungen der Wähler, gesetzt den Fall, diese wären praktisch durchführbar, ausdrücklich ab, weil dies mit der Verbindlichkeit der Entscheidung auch für das übrige Volk unvereinbar wäre 53 . Es ist aber inkonsequent, den Abgeordneten zwar nicht unmittelbar abhängig von den Weisungen seiner Wähler zu stellen, ihn aber indirekt über die Bindung an die Partei doch an deren vermeintlichem Willen festzuhalten. Da auch das Programm der Partei nur durch das Votum eines Teils der Wahlberechtigten legitimiert ist, müßte die Bindung des Abgeordneten daran ebenso unvereinbar mit der Erstreckung der Entscheidung auf das gesamte Volk sein wie die unmittelbare Bindung an die Vorstellungen der Wähler. Ist das Modell der Kollektivrepräsentation also bei systematisch-teleologischer Betrachtung nicht zu halten, so wird dieses Ergebnis bestätigt durch die historische Interpretation. Die verfassungsgeschichtlichen Vorläufer des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wurden stets so verstanden, daß der einzelne Abgeordnete das Gesamtvolk repräsentiert 54 . Die Entstehungsgeschichte des 52 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 89; von Mangoldt/K1ein/Achterberg/Schulte, GG, Band 6, 3. A, 1991, Art. 38, Rdnr. 38. 53 Preuß in: Alternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 56. 54 Für das Kaiserreich E. R Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band IU, 3. A, 1988, S. 889. Für die Weimarer Reichsverfassung Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches, 14. A, 1933, Art. 21, Anm. 1; Tatarin-Tamheyden, HdbDStR I, S. 413,414.

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Grundgesetzes belegt eindeutig, daß auch der Parlamentarische Rat dieses Verständnis zugrunde gelegt hat. In der 2. Lesung des Organisationsausschusses beantragte der Abgeordnete Schwalber (CDU), das Wort "ganzen" zu streichen, weil die Abgeordneten nur insoweit Vertreter sein könnten, als sie von einem bestimmten Teil des Volkes eingesetzt seien55 . Gleichfalls für eine Vertretung nur einzelner Teile des Volkes sprach sich der Abgeordnete Heiland (SPD) aus56 . Diese Vorschläge hatten jedoch im Ergebnis keinen Erfolg. Gegen sie wurde insbesondere eingewandt, daß sich die Abgeordneten ohnehin häufig als Vertreter bestimmter Interessengruppen fühlten, dem sollte die Verfassung entgegensteuern57 . Damit hat sich der Parlamentarische Rat aber eindeutig gegen die Kollektivrepräsentation und für die Individualrepräsentation durch jeden Abgeordneten entschieden. Einer verfassungsrechtlichen Verankerung der Parteibindung in Art. 38 GG selbst ist damit der Weg versperrt, das Grundgesetz geht davon aus, daß jeder einzelne Abgeordnete das ganze Volk repräsentieren solle.

b) Die Ko/lektivrepräsentation in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts

aa) Die bisherigen Stellungnahmen des Bundesverfassungsgerichts Auch in die Rechtsprechung des BVerfG hat der Gedanke der Kollektivrepräsentation Eingang gefunden. Während zunächst klar die Auffassung vertreten wurde, jeder einzelne Abgeordneten sei Vertreter des ganzen Volkes 58 , findet sich die Vorstellung, nur die Abgeordneten insgesamt könnten das Volk angemessen vertreten, erstmals in der Entscheidung zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung über die Beschlußfähigkeit des Bundestages in § 45 GOBT. Dort führt das BVerfG aus59, zwar bezeichne das Grundgesetz den einzelnen Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes, 55 Parlamentarischer Rat, Organisationsausschuß, 2. Sitzung, S. 58. 56 Parlamentarischer Rat, Organisationsausschuß, 2. Sitzung, S. 52. 57 So der Abgeordnete Wirmer, Parlamentarischer Rat, Organisationsausschuß, 2. Sitzung, S. 51. In ähnlicher Weise sprach der Abgeordnete Dehler von der Forderung, daß der Mann, der oben steht, die Interessen des ganzen Volkes im Auge haben soll (Organisationsausschuß, 2. Sitzung, S. 57). 58 BVerfGE 2, 1,72. 59 BVerfGE 44, 308, 316.

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jedoch könne er dieses nur gemeinsam mit den anderen Parlamentsmitgliedern repräsentieren, weil nicht er, sondern das Parlament als Ganzes im Sinne der Gesamtheit seiner Mitglieder jenes besondere Organ der Gesetzgebung sei, das nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ausübe. Daher sei das Volk nur angemessen repräsentiert, wenn das Parlament als Ganzes an der staatlichen Willensbildung beteiligt werde. Daraus wird dann gefolgert, daß für alle Abgeordneten die Mitwirkung an parlamentarischen Entscheidungen nach Möglichkeit sichergestellt sein müsse. Diese Mitwirkung müsse aber nicht unbedingt bei der Schlußabstimmung geschehen. Vielmehr vollziehe sich Repräsentation dort, wo der Sache nach die Entscheidungen fallen. Dies geschehe aus verschiedenen Gründen vor allem in den Ausschüssen und Fraktionen mit der Folge, daß die Repräsentation in diese Institutionen "vorverlagert" sei60 . Daher könnten die Abgeordneten ihre repräsentative Funktion in den Ausschüssen und Fraktionen und somit außerhalb des Plenums erfüllen, weshalb die Regelung der Geschäftsordnung, wonach der Bundestag als beschlußfähig gilt, sofern dies nicht bezweifelt wird, verfassungsgemäß sei. Anders als den Stimmen in der Literatur geht es dem BVerfG also nicht darum, die Wirkung des freien Mandats gegenüber Partei und Fraktion zu begrenzen. Mit der Betonung der grundsätzlichen Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten wird sogar ein für den einzelnen Abgeordneten zunächst günstiger Schluß gezogen. Auch in der Begründung besteht ein wesentlicher Unterschied, es wird nicht mit dem Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG argumentiert, sondern mit Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG. Vor allem mit der zurückhaltenden Formulierung, das Grundgesetz "bezeichne" den Abgeordneten lediglich als Vertreter des ganzen Volkes, scheint sich das BVerfG aber dem Modell der Kollektivrepräsentation anzuschließen. Diese Aussage wurde zunächst beinahe wortgleich in einem einstweiligen Anordnungsverfahren aufgegriffen 61 • Ein bayerischer Landtagsabgeordneter wandte sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen die Aberkennung seiner Wahlfähigkeit und den damit eintretenden Verlust seines Mandats durch ein strafrechtliches Urteil. Er beantragte, die Vollziehung dieses Urteils bis zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen, hilfsweise mit der Maßgabe, daß er das Mandat nicht ausüben dürfe. Das BVerfG folgerte jedoch aus der Überlegung, daß nur die Gesamtheit der Mitglieder das Volk angemessen repräsentiere, es entspreche dem Prinzip 60 BVerfGE 44,308,319. 61 BVerfGE 56,396,405.

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der repräsentativen Demokratie und den konkreten Interessen des einzelnen Wählers und der Bevölkerung insgesamt, daß der Abgeordnete sein Amt tatsächlich ausübe. Der Erlaß der einstweiligen Anordnung wurde daher abgelehnt. In jüngster Zeit ist die Aussage von der Repräsentation nur durch das Parlament als Ganzes im Fall Wüppesahl angesprochen worden 62 , auch hier, um die gleichen Rechte aller Mitglieder zu begründen. Indem somit der mitgliedschaftliche Charakter der Rechte betont wurde, wurden aber erstmals auch die Grenzen für die Mitwirkungsmöglichkeiten des Abgeordneten im parlamentarischen Prozeß aufgezeigt. Die Geschäftsordnung setze die Bedingungen fest für die geordnete Wahrnehmung der Rechte der Abgeordneten, die nur als Mitgliedschaftsrechte bestünden und verwirklicht werden könnten und daher einander zugeordnet und aufeinander abgestimmt werden müßten. Dies bedinge zugleich auch Beschränkungen der Rechte des einzelnen Abgeordneten, weil sie sich - als Mitgliedschaftsrechte - in deren notwendig gemeinschaftliche Ausübung einfügen müßten 63 . Zwar wird anschließend festgehalten, dem einzelnen Abgeordneten könnten seine Mitwirkungsrechte nicht völlig entzogen werden. Es entsteht aber der Eindruck, daß unterhalb dieses Extremfalls Einschränkungen, wie sie mit der Bindung von Rechten an die Fraktion einhergehen, sich gleichsam aus der Natur der Sache ergeben und daher keiner weiteren Begründung bedürfen. Fraktionsvorrechte erscheinen unbedenklich, weil ohnehin nur das Parlament als Ganzes zur Repräsentation in der Lage ist, so daß die Frage, ob innerhalb des Parlaments der Abgeordnete oder die Fraktion bestimmte Rechte wahrnimmt, zweitrangig ist. Dem Status des Abgeordneten wird also nicht, wie in der Literatur, die Stellung seiner Partei gegenübergestellt, sondern die des Gesamtparlaments. In diesem Sinne räumt das BVerfG dem Bundestag daher auch weitgehenden Gestaltungsspielraum ein, auf welche Weise er die Mitwirkung der Mitglieder an der Willensbildung gewährleistet und welche Befugnisse er den Fraktionen zuweist, sofern nur die prinzipielle Beteiligung aller Abgeordneten sichergestellt ist64 •

62 BVerfGE 80, 188, 218 Das Gericht geht hier sogar noch etwas weiter, weil im Unterschied zu den früheren Urteilen selbst der Hinweis fehlt, daß das Grundgesetz den Abgeordneten als Vertreter des ganzen Volkes bezeichne. Ebenso jetzt BVerfGE 84,304,321. 63 BVerfGE 80,188,219. 64 BVerfGE 80, 188,220.

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bb) Die Kollektivrepräsentation als angemessene Form der formalen Repräsentation Wenn auch nach hier vertretener Auffassung schon der einzelne Abgeordnete Repräsentant des ganzen Volkes ist, so ist diese Rechtsprechung doch nicht völlig abzulehnen. Was zunächst die Entscheidung zur Beschlußfähigkeit anbelangt, so ist die scheinbar widersprüchliche Aussage, das Grundgesetz bezeichne den Abgeordneten zwar als Vertreter des ganzen Volkes, er könne das Volk aber nur gemeinsam mit den anderen Abgeordneten angemessen repräsentieren, trotzdem zutreffend. Der Akzent ist auf das Wort "angemessen" zu setzen, woraus zu schließen ist, daß es nach Ansicht des BVerfG offenbar auch eine nicht angemessene Form der Repräsentation geben muß, eben die durch einzelne Abgeordnete oder Gruppen von Abgeordneten, die aber dennoch Repräsentation ist65 . Daraus wird ersichtlich, daß das BVerfG den repräsentativen Status jedes einzelnen Abgeordneten gar nicht antasten will, die Aufgabe, das gesamte Volk zu repräsentieren, soll ihm nicht abgesprochen werden. Auch im Fall Wüppesahl ist, freilich noch weniger deutlich, vom eigenen verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten die Rede 66 . Die Formulierung des BVerfG ist nur deshalb mißverständlich, weil sie die in jeden Abgeordneten gesetzte Erwartung, das gesamte Volk zu repräsentieren und damit offen zu sein, die Belange zu berücksichtigen, nicht hinreichend deutlich trennt von der formalen Befugnis, verbindliche Entscheidungen für das Volk zu treffen67 . Die Normsetzung als wesentliche Aufgabe des Parlaments steht nur diesem als Ganzem zu, der einzelne Abgeordnete ist dazu nicht berechtigt. Er kann sich aufgrund des inhaltlichen Repräsentationsprozesses nur eine subjektive Meinung bilden, was dem Gemeinwohl in einer bestimmten Situation entspricht68 . Dadurch, daß die Gesamtheit der Abgeordneten die Entscheidung trifft, bietet diese aber eine größere Gewähr dafür, daß sie sich dem tatsächlichen Gemeinwohl annähert 69 . Deshalb wäre eine für alle verbindliche Entscheidung, die sich auf den Willen eines oder weniger Abgeordneter stützt, in der Terminologie des BVerfG nicht angemessen. Die Kollektiv65 Kimme, Repräsentativsystem. S. 175. 66 BVerfGE 80, 188, 221. 67 Kimme, Repräsentativsystem, S. 175. 68 Wie noch auszuführen sein wird, will die Verfassung, indem sie den Abgeordneten ausschließlich seinem Gewissen unterwirft, sogar seine subjektive Entscheidung. 69 Ähnlich, aber auf den Begriff des VolkswilIens bezogen, Kimme, Repräsentativsystem, S. 141 f.

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repräsentation erweist sich daher als die zutreffende Charakterisierung der formalen Repräsentation, die inhaltliche Seite der Repräsentation hingegen stellt Anforderungen auch an den einzelnen Abgeordneten. Sich ganz auf den formalen Aspekt, die Ermächtigung zu Entscheidungen, die für alle verbindlich sind, zu beschränken, war im Ausgangsfa1l70 auch sachgerecht. Dies wird deutlich, wenn man sich die Fallgestaltung vor Augen führt, vor die das BVerfG gestellt war. Es sollte in einer Verfassungsbeschwerde über die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes befinden, bei dessen Schlußabstimmung nach dem Vortrag des Beschwerdeführers nur eine geringe Anzahl von Abgeordneten mitgewirkt hatten. Für das Gericht bestand also überhaupt nur Anlaß, sich mit der konkreten Frage der Verbindlichkeit parlamentarischer Entscheidungen zu befassen, alle Ausführungen sind unter diesem Blickwinkel zu sehen. Dies wird im Urteil auch an verschiedenen Stellen erkennbar. Dafür spricht vor allem die verfassungsrechtliche Begründung der Kollektivrepräsentation. Das BVerfG beruft sich nämlich darauf, daß nur durch das Parlament als Ganzes die vom Volk ausgehende Staatsgewalt ausgeübt werde. Weit stärker als bei der von der Literatur verwandten Argumentation mit dem Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wird dadurch der Blick auf den Zurechungszusammenhang zwischen Volk und Parlament gelenkt, der es rechtfertigt, daß das Parlament anstelle des Volkes verbindliche Entscheidungen fällt. Auch die Vorverlagerung der Repräsentation in Ausschüsse und Fraktionen wird wesentlich darauf gestützt, daß die dort fallenden Entscheidungen den abschließenden außenwirksamen Beschluß, der als solcher dem Plenum vorbehalten ist, weitgehend vorbestimmen71. Für den parlamentarischen Prozeß, der zu diesen Entscheidungen führt, folgt daraus jedoch nur, wie das BVerfG zutreffend feststellt, daß alle Abgeordneten in gleicher Weise befugt sind, diese Entscheidungen zu beeinflussen, daß sie alle gleiche Rechte und Pflichten haben. Für die Frage hingegen, ob diese Rechte von einzelnen Abgeordneten oder von Abgeordnetengruppen wie den Fraktionen ausgeübt werden sollen, ist mit der Aussage, daß nur durch das Parlament als Ganzes die Staatsgewalt ausgeübt wird,

BVerfGE 44,308 Cf. 71 BVerfGE 44,308,318. 70

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schon deshalb nichts gewonnen, weil ja auch diese Gruppen das Volk in dem formalen Sinne nicht angemessen zu repräsentieren vermögen72. War also in der ersten Entscheidung die Bezugnahme auf die Repräsentation nur durch das Parlament als Ganzes völlig einleuchtend, so ist sie schon im Fall des bayerischen Landtagsabgeordneten73 zumindest entbehrlich. Das überwiegende Interesse daran, daß ein Abgeordneter sein Mandat auch tatsächlich wahrnimmt, hätte man ebensogut seiner Amtsträgereigenschaft und der daraus folgenden Verpflichtung zur Wahrnehmung der Aufgaben entnehmen können, ohne den umständlichen Weg über die formale Repräsentation zu gehen. Nicht ausreichend ist die Beschränkung auf den formalen Aspekt der Repräsentation aber jedenfalls im Fall WüppesahF4, wo es gar nicht um die Frage der Verbindlichkeit parlamentarischer Entscheidungen ging, sondern vor allem darum, ob die parlamentarischen Mitwirkungsrechte im Vorfeld dieser Entscheidungen nach der Verfassung auch von einzelnen Abgeordneten zustehen. Wie schon ausgeführt, steht gerade die Reichweite dieser Befugnisse in unmittelbarer Wechselwirkung zum Funktionieren der inhaltlichen Seite der Repräsentation, die basiert auf der zumindest verfahrensmäßigen Einbeziehung der divergierenden Standpunkte unter den Repräsentierten. Das BVerfG hätte daher diesen Faktor, der nach einer möglichst weitgehenden Partizipation für den einzelnen Abgeordneten tendiert, stärker in seine Betrachtungen einbeziehen sollen, als es offenbar geschehen ist15 • Diese einseitige Sichtweise führt dazu, daß auf den Umfang der vom einzelnen Abgeordneten wahrzunehmenden Kompetenzen gar nicht mehr eingegangen, sondern als verfassungsrechtliche Anforderung nur noch die gleiche Befugnis aller Abgeordneten zur Mitwirkung an den Aufgaben des Parlaments gesehen wird. Die Freiheit, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auch für den einzelnen Repräsentanten bedeutet, wird zugunsten einer aus der Repräsentation der Gesamtheit folgenden Gleichheit zurückgestellt. Zwar ist richtig, daß es um Mitgliedschaftsrechte geht, dies heißt aber nur, daß sie darauf angelegt sind, auf den Willensbildungsprozeß des Kollegialorgans Bundestag einzuwirken. Daraus folgt lediglich, daß die Rechte der Abgeordneten durch die Geschäftsordnung so einander zugeordnet und aufein72 So jetzt auch BVerfGE 80,188,218. 73 BVerfGE56, 396 ff. 74 InteressanteIWeise fehlt in diesem Urteil sogar der Zusatz, daß nur das Parlament als Ganzes das Volk "angemessen" zu repräsentieren vermöge, vielmehr wird hier erstmals die Repräsentation insgesamt nur dem Gesamtparlament zugeschrieben (BVerfGE SO, 188,218). 75 In diesem Sinne auch Morlok, JZ 1989, 1035, 1036.

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an der abgestimmt werden müssen, daß das Parlament als Ganzes seine Aufgaben noch sachgerecht erfüllen kann76 . Möglicher Grund von Beschränkungen ist somit letztlich die Funktionsfähigkeit des Gesamtparlaments. In diesem Zusammenhang kann es dann auch geboten sein, die Geltendmachung von Rechten von einem Fraktionsquorum abhängig zu machen. Dies muß aber für jeden Einzelfall gesondert und unter Einbeziehung des Interesses an einer möglichst weitgehenden inhaltlichen Repräsentation durch den einzelnen Abgeordneten geprüft werden. Hierbei mag der Gestaltungsspielraum, der dem Bundestag bei der Ausgestaltung der Geschäftsordnung nach Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG zukommt, weit sein, grenzenlos ist er keineswegs. Jeder einzelne Abgeordnete ist demnach gemäß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Vertreter des ganzen Volkes, mit dem Gedanken der Kollektivrepräsentation läßt sich weder eine stärkere Bindung an seine Partei noch die grundsätzliche Unbedenklichkeit von Fraktionsrechten begründen.

76 Wie Ziekow, JuS 1991, 28, 30, zutreffend formuliert, muß die Position des Abgeordneten in eine geordnete Beziehung zu den Mitgliedschaftsrechten der übrigen Parlamentsmitglieder gesetzt werden.

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§ 4: An Aufträge und Weisungen nicht gebunden 1. Aufträge und Weisungen Die zweite Aussage des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hat im Laufe der Beratungen des Parlamentarischen Rats lediglich eine geringfügige Änderung in der Formulierung erfahren. Art. 46 des Entwurfs von Herrenchiemsee hatte wortgleich mit Art. 21 der Weimarer Reichsverfassung gelautet, die Abgeordneten seien an Aufträge nicht gebunden. Der Organisationsausschuß des Parlamentarischen Rates fügte den Zusatz "und Weisungen" ein. Die Vorschrift lehnt sich damit an ältere Vorbilder an, welche von Aufträgen und Instruktionen sprachen (Art. 83 Preuß. Verfassung von 1850, Art. 29 Reichsverfassung 1871). Als unmittelbarer Anlaß für diese Erweiterung werden die Bestrebungen der amerikanischen Besatzungsmacht gesehen, den Abgeordneten des bayerischen Landtages Weisungen zu erteilen 1. Angesichts der gleichen Rechtsfolge erübrigt sich eine genaue Abgrenzung zwischen Aufträgen und Weisungen. Der Stellenwert der Unabhängigkeit des Abgeordneten wird jedenfalls durch die Erweiterung des Wortlauts noch verstärkt, in der Literatur herrscht daher auch die Ansicht vor, die Verfassung wolle hier offenbar einen möglichst umfassenden Bereich der Fremdbestimmung ausschließen. Soweit auf die Bedeutung der Unterteilung in Aufträge und Weisungen überhaupt eingegangen wird, werden beide Begriffe als Tautologie bezeichnet2 • Eines aber macht die Erwähnung der Aufträge und Weisungen deutlich. Es geht der Vorschrift nicht darum, den Abgeordneten in jeder Hinsicht abzuschirmen vor Maßnahmen, die ihn möglicherweise nachteilig betreffen, sondern auschließlich darum, Druck von ihm abzuwehren, der im Vorfeld parlamentarischen Verhaltens auf ihn ausgeübt wird, um sein Verhalten zu beeinllußen. Die Entscheidungen in Ausübung seines parlamentarischen Mandats soll der Abgeordnete unabhängig treffen können, dies bedeutet jedoch nicht, daß er nicht später hierfür zur Verantwortung gezogen werden 1 Diese Deutung gibt Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 51. Von der ElWartung der Besatzungsmacht, daß sich die bayerischen Abgeordneten in einer bestimmten Weise verhielten, berichtet der Abgeordnete Dehler in der 6. Sitzung des Organisationsausschusses des Parlamentarischen Rates, S. 17. 2 von Münch, in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 61 ff.; H.-P. Schneider in: Altemativkommentar, Art. 38, Rdnr. 29; Hamm-Brücher, Abgeordneter und Fraktion, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 22, Rdnr. 32.

§ 4: An Aufträge und Weisungen nicht gebunden

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kann. Schon aus dem Wortlaut ergibt sich also für das Verhältnis des Abgeordneten zu seiner Fraktion und Partei eine wichtige Unterscheidung, auf die noch ausführlicher einzugehen sein wird, nämlich die in die nachträgliche Ausübung von Sanktionen für ein bestimmtes Verhalten des Abgeordneten, wie etwa Fraktionsausschluß oder Verweigerung einer erneuten Aufstellung als Kandidat, und die vor diesem Verhalten liegende Androhung dieser Sanktionen. Unter dem Gesichtspunkt der Freiheit von Aufträgen und Weisungen kann allenfalls letztere Bedenken erwecken, über die Zulässigkeit der Ausübung nachträglicher Sanktionen hingegen trifft Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG keine Aussage.

2. Die rechtliche Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen Die umstrittenste Frage im Hinblick auf dieses zweite Element geht dahin, ob sich sein Regelungsgehalt darin erschöpft, daß Aufträge und Weisungen für den Abgeordneten rechtlich unverbindlich sind, daß es ihm also freigestellt bleibt, den an sich zulässigen Aufträgen und Weisungen nachzukommen oder nicht3, oder ob darüber hinaus, wie es die heute herrschende Meinung annimmt, die Erteilung von Aufträgen und Weisungen schlechthin verboten ist4. Hier soll zunächst geprüft werden, welche Schlußfolgerungen für das Verhältnis des Abgeordneten zu seiner Fraktion bereits aus der Annahme (nur) rechtlicher Unverbindlichkeit zu ziehen sind. Erst im Anschluß daran kann beurteilt werden, ob die Entscheidung der Streitfrage erforderlich ist, um ZU einer weiteren Klärung des Untersuchungsgegenstandes beizutragen.

3 Bruha/Möllers, JA 1985, 13, 17; HOhm/Rautenberg, NJW 1984, 1657, 1660; Hase, ZRP 1984,86,90; Kasten, Ausschußorganisation, S. 84. 4 Badura in: Banner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 51; von Mangoldt/KIein, Art. 38, Anm. IV 4 a; von Münch in: ders. (Hrsg.) GG, Art. 38, Rdnr. 62; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar. Art. 38, Rdnr. 19; Seifert, Bundeswahlrecht, 3. A., 1976, Art. 38 GG, Rdnr. 41; Dreher NJW 1950, 661 ff.; Vonderbeck, ZParl 1979, 213 ff.; Achterberg, JA 1983, 303, 304; Jung DÖV 1984, 197, 199. 7 Demrnler

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

a) Die Bewahrung der Unverbindlichkeit als Gebot an die Rechtsordnung Die rechtliche Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen, die sich unmittelbar aus dem Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ergibt, entfaltet Wirkungen in zweierlei Richtungen. Zunächst betrifft sie den Abgeordneten selbst, er ist rechtlich nicht verpflichtet, einem an ihn gerichteten Verlangen Folge zu leisten, sondern kann ohne weiteres eine andere Entscheidung treffen. Daneben hat die Unverbindlichkeit aber auch eine weitere Dimension, welche in der Diskussion häufig nicht hinreichend beachtet wird. Sie richtet sich nämlich auch an die staatliche Rechtsordnung, diese ist gehindert, Aufträge und Weisungen mit rechtlicher Bindungswirkung auszustatten 5 • So könnte der Gesetzgeber also etwa nicht anordnen, daß die Abgeordneten Weisungen ihrer Parteien oder Fraktionen befolgen müßten, eine derartige Regelung wäre wegen Verstosses gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nichtig. Art. 38 GG steht aber nicht nur solchen eher theoretisch denkbaren Gesetzen entgegen, sondern verwehrt dem Staat schon jede Art von Regelung, die den einzelnen Abgeordneten in seiner Freiheit einschränkt, selbst über die Ausübung seines Mandats zu entscheiden6 . Der Staat darf also nicht bei der Durchsetzung von Aufträgen und Weisungen Hilfestellung leisten, er darf die Rahmenbedingungen nicht so setzen, daß der Abgeordnete sich Aufträgen und Weisungen im Ergebnis nicht entziehen kann. Solche eher mittelbar wirkenden gesetzlichen Festlegungen sind aber schon bei weitem realitätsnäher. So wäre es verfassungswidrig, würde der Gesetzgeber, wie früher verschiedentlich gefordert?, den Mandatsverlust bei Partei- oder Fraktionsaustritt vorsehen, weil er damit den dissentierenden Abgeordneten einem besonders wirksamen Druck seiner Fraktion aussetzen WÜrdes. Diesem würde vom Staat verwehrt, sich der Beeinflussung seitens seiner Frak5 Die Unzulässigkeit jeder unmittelbaren rechtlichen Anbindung des Abgeordneten an die Willensbildung anderer Instanzen wird bei Bethge, Art. Abgeordneter, StL, 7. A, 1985, Sp. 9, 10, heIVorgehoben. Jarass/Pieroth, GG, Art. 38, Rdnr. 27, sehen die Schutzrichtung der Freiheit gegen alle staatlichen Maßnahmen gerichtet, die inhaltliche Bindungen der Mandatsausübung herbeiführen oder sanktionieren. 6 Nach Badura, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15, Rdnr. 24, sind Regelungen verfassungswidrig, die den Abgeordneten hinsichtlich der Ausübung des Mandats einem unzulässigen Druck aussetzen oder eine derartige Beeinträchtigung zulassen. 7 Kriete, ZRP 1969, 241 f.; ders., ZRP 1971, 99 f.; Siegfried, ZRP 1971, 9 ff. S Daß Art. 38 GG verbietet, an den Austritt aus der Fraktion den Mandatsverlust zu knüpfen, kann heute als unstreitig gelten. Vergl. nur BVerfGE 2, 1, 74; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 80.

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tion durch Austritt zu entziehen, weil dies den Verlust seines Mandats zur Folge hätte. Damit wird er zwar nicht rechtlich zum Nachgeben verpflichtet, der Gesetzgeber würde aber in die politische Auseinandersetzung zwischen dem Abgeordneten und seiner Fraktion, ob er bei einem Dissens dem Verlangen der Fraktion nachkommt oder nicht, einseitig zugunsten der Fraktion eingreifen und Druck von ihrer Seite begünstigen. Gerade dies ist ihm durch die verfassungsrechtliche Vorgabe, daß der Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist, verwehrt9• Für die staatliche Rechtsordnung bedeutet diese Anforderung im hier interessierenden Zusammenhang, daß sie in einem möglichen Konflikt zwischen Abgeordnetem und Fraktion nicht zu Lasten der Entscheidungsfreiheit des Abgeordneten Stellung beziehen darf. Dieses Ergebnis paßt sich auch ohne weiteres ein in den Charakter des Grundgesetzes als einer rechtlichen Rahmenordnung, innerhalb derer die konkret Handelnden zu politischen Lösungen finden sollen lO • Dies setzt voraus, daß sich das Spiel der politischen Kräfte frei entfalten kann und nicht von der Rechtsordnung in eine Richtung gelenkt wird.

b) Die Konsequenzen für die Ausgestaltung der Geschäftsordnung des Bundestages

Was nun die Geschäftsordnung des Bundestages anbelangt, so trifft dieser dort verbindliche Festlegungen für den Ablauf des parlamentarischen Geschehens, wozu er in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG ausdrücklich ermächtigt ist. Dennoch können Geschäftsordnungsregeln nicht als von vornherein unbedenklich angesehen werden. Die Zuweisung von Kompetenzen an die Fraktionen steht in gewissem Sinne einer inhaltlichen Bindung des fraktionsangehörigen Abgeordneten gleich, weil es aus seiner Sicht keinen Unterschied macht, ob ihm inhaltlich untersagt wird, eine andere Postion als seine Fraktion zu vertreten, oder ob er auf der Ebene der verfahrensrechtlichen Befugnisse gar keine Möglichkeit hat, einen von der Auffassung seiner Fraktion abweichenden Standpunkt einzubringen, weil die Geschäftsordnung 9 So ist wohl auch die Auffassung von Trautmann, JZ 1970, 405, 407, zu verstehen, das Vorsehen des Mandatsverlusts bei Ausscheiden aus der Partei würde die faktische Einführung des imperativen Mandats bedeuten. 10 Der fragmentarische Charakter des Staatsrechts wird etwa betont bei Böckenförde, FS für Scupin, 1983, S. 317, 321 f.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 19 ff.

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ihm die Wahrnehmung der meisten Rechte vorenthält. Auch die Geschäftsordnungsregeln sind deshalb an Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu messen!!. Im einzelnen lassen sich aus der Pflicht des Staates zur Beachtung der Weisungsungebundenheit drei Schlußfolgerungen für die Ausgestaltung der Geschäftsordnung ziehen. Zum einen ist festzuhalten, daß der Abgeordnete jedenfalls nicht für alle verfahrensrechtlichen Befugnisse auf seine Fraktion verwiesen werden darf. Eine Geschäftsordnung, die sämtliche Rechte den Fraktionen zuweisen und dem einzelnen Abgeordneten keine Einflußmöglichkeiten belassen würde, käme in ihren Auswirkungen einer Regelung gleich, die den Abgeordneten in inhaltlicher Hinsicht verbindlich auf die Linie seiner Fraktion festlegt. Ein gewisser Bestand von Rechten, die er unabhängig von der Fraktion ausüben kann, ist daher nicht nur verfassungsrechtlich geboten, um die inhaltliche Repräsentation zu gewährleisten, sondern wird auch durch die Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen gefordert. Anders als bei der inhaltlichen Repräsentation läßt sich aus dem Gedanken der Unabhängigkeit aber nicht begründen, daß der einzelne diese Rechte auch immer allein ausüben können muß. Dadurch, daß die Geschäftsordnung des Bundestages durchgängig die Möglichkeit eröffnet, ein Anliegen mit der Unterstützung von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages einzubringen, wird er inhaltlich nicht auf den Kurs der Fraktion festgelegt. Bedenken bestehen hier also nicht gegen das Quorum überhaupt, sondern allenfalls gegen Fraktionsmonopole, wie sie im Bundestag vor allem für die Besetzung der Ausschüsse bestehen 12 • Zum zweiten läßt sich nun aber auch erstmals eine Feststellung treffen über die generelle Verteilung von Kompetenzen zwischen Abgeordneten und Fraktionen. Die Pflicht des Bundestages, die Weisungsungebundenheit der Abgeordneten nicht anzutasten, erlaubt eine erste, freilich noch negative Aussage über die Beweggründe, die den Bundestag dazu veranlassen dürfen, dem einzelnen Abgeordneten ein bestimmtes Recht zu versagen. Ausgeschlossen sein müssen nämlich solche Motive, die gerade darauf zielen, 11 Dies ist im übrigen unbestritten. Vergl. zuletzt Pietzcker, Schichten des Parlamentsrechts: Verfassung, Gesetze und Geschäftsordnung, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 10, Rdnr. 7. 12 Nach § 57 Abs. 2 GOBT werden die Mitglieder der Ausschüsse von den Fraktionen benannt. Lediglich fraktionslose Abgeordnete erhalten einen Ausschußsitz vom Präsidenten zugewiesen. Fraktionsangehörige Abgeordnete sind also auf ihre Fraktion angewiesen, um in einen Ausschuß zu gelangen.

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einen möglichen Konflikt zwischen Abgeordnetem und Fraktion zugunsten der Fraktion zu entscheiden. Konkret bedeutet dies, daß sich die weitgehende Existenz von Fraktionsrechten trotz der engen Beziehung zwischen Partei und Fraktion nicht schon mit dem Hinweis auf Art. 21 GG rechtfertigen läßt. Indem die Verfassung das freie Mandat des parteigebundenen Abgeordneten statuiert, überläßt sie den Ausgleich zwischen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und Art. 21 GG für jeden Einzelfall dem andauernden politischen Prozeß. Damit sind Regeln unvereinbar, die diese freie politische Auseinandersetzung durch einseitige Festlegung unterbinden. Die zweite Schlußfolgerung, die sich aus der Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen ziehen läßt, besteht also darin, daß Art. 21 GG keine Rolle spielen kann für die Entscheidung, eine konkrete parlamentarische Befugnis dem einzelnen Abgeordneten zu versagen. Die Rechtfertigung hierfür muß sich vielmehr anders begründen, insbesondere kann sie aus dem Bemühen resultieren, die Funktionsfähigkeit des Gesamtparlaments sicherzustellen. Eine andere Beurteilung könnte sich nur dann ergeben, wenn es möglich wäre, originäre Befugnisse der Fraktion aus der Verfassung - etwa aus Art. 21 GG - herzuleiten 13 . In diesem Fall würde die Geschäftsordnung lediglich ohnehin bestehende Fraktionsrechte feststellen. Dies könnte ihr auch durch die Verpflichtung, die Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen zu beachten, nicht verwehrt sein. Schließlich kann noch eine dritte Konsequenz darin erblickt werden, daß das Gesamtparlament - etwa im Wege der Geschäftsordnung - keine verbindlichen Regelungen festsetzen darf für die Stellung des Abgeordneten als Fraktionsmitglied. Die Art und Weise, wie die Fraktionen ihre Auffassung bilden, ob es ihnen gelingt, ein einheitliches Auftreten ihrer Mitglieder zu erreichen, oder ob Minderheiten innerhalb der Fraktionen ihren Standpunkt auch nach außen vertreten können, ist dem Dialog zwischen den einzelnen Abgeordneten und ihren Fraktionen überantwortet und damit dem Zugriff der staatlichen Rechtsordnung entzogen. Dies gilt nicht nur für die inhaltliche Seite, sondern in gleicher Weise auch für die verfahrensrechtliche. So könnte die Geschäftsordnung nicht vorsehen, daß der Abgeordnete Befugnisse nur in Übereinstimmung mit seiner Fraktion ausüben darf. Konsequenterweise enthalten daher auch weder die Geschäftsordnung des Bundestages noch die der Länderparlamente überhaupt Bestimmungen 13 Originäre Rechte der Fraktion sind vor allem von Borchert, AöR 102 (1977), 210, 232, befürwortet worden und werden von Morlok, JZ 1989, 1035, 1039, immerhin für möglich gehalten.

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über die Stellung des Abgeordneten in der Fraktion. Derartige Regelungen finden sich, wenn es sie überhaupt gibt, nur in den Geschäftsordnungen der einzelnen Fraktionen. Vielfach wird aber auch auf eine ausdrückliche Fixierung verzichtet und die Lösung der Praxis überlassen l4 •

3. Die rechtliche Unzulässigkeit von Aufträgen und Weisungen Durch die Vorstellung von der rechtlichen Unverbindlichkeit von Aufträgen und Weisungen wird die Fraktion selbst noch in keiner Weise eingeschränkt. Würde sich der Regelungsgehalt hierauf beschränken, wäre sie nicht gehindert, Weisungen zu erteilen, die den Abgeordneten binden sollen. Diesem bliebe lediglich rechtlich freigestellt, ob er ihnen folgen oder sie ignorieren will, die Fraktionen könnten ihre Weisungen also nicht rechtlich durchsetzen. Nur wenn sich darüber hinaus erweisen sollte, daß schon das Erteilen von Aufträgen und Weisungen verfassungswidrig ist, könnten sich auch für das Verhalten der Fraktionen rechtliche Maßstäbe ergeben. Infolgedessen bedarf diese im Schrifttum umstrittene Frage hier einer Entscheidung.

a) Aufträge und Weisungen als Aufforderung zu verfassungswidrigem Verhalten Die heute ganz überwiegende Meinung legt Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dahin aus, daß bereits das Erteilen von Aufträgen und Weisungen verboten ist l5 • Eine nähere Begründung wird allerdings meist nicht gegeben, man begnügt sich mit dem Hinweis, die Gegenmeinung, wie sie zu Art. 21 der Weimarer Reichsverfassung vorgeherrscht hatte, setze sich mit sich selbst in 14 So finden sich etwa ausdrückliche Regeln über die Bestimmung der Redner, die die Fraktionsauffassung im Plenum darstellen sollen, lediglich in den Geschäftsordnungen der SPD-Fraktion (§§ 3,4) und der Fraktion DIE GRÜNEN im Bundestag (§ 4 Abs. 2 a), während die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP diese Materien nicht in ihrer Arbeits- bzw. Fraktionsgeschäftsordnung aufgenommen haben. 15 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 51; von Mangoldt/K1ein, GG, Art. 38, Anm. IV 4 a; von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 62; H.-P. Schneider in: Altemativkommentar. Art. 38, Rdnr. 19; Seifert, Bundeswahlrecht, Art. 38 GG, Rdnr. 41; Dreher NJW 1950, 661 ff.; Vonderbeck, ZParI1979, 213 ff.; Achterberg, JA 1983, 303, 304; Jung DÖV 1984,197,199.

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Widerspruch, wenn sie die Unverbindlichkeit von Abmachungen über die Mandatsausübung dem § 134 BGB entnehme. § 134 BGB setze aber den Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot voraus, woraus gefolgert werden müsse, daß die Vorschrift über das freie Mandat ein solches Verbot von Aufträgen darstelle l6 • Wie dieser Argumentation aber zu Recht entgegengehalten wurde l7, ist ein Rekurs auf § 134 BGB gar nicht notwendig, um die rechtliche Unverbindlichkeit zu begründen, weil sich dies unmittelbar aus der Verfassung selbst ergibt. Von daher ist ein Verbot von Aufträgen und Weisungen so nicht zu begründen. Entscheidend ist ein anderer Gedanken. Auch hier gilt es wieder, sich auf die Amtsträgereigenschaft des Abgeordneten und seine daraus folgende PflichtensteIlung zu besinnen. Wenn Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG feststellt, daß der Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist, bedeutet dies zugleich, daß er sich auch nicht binden lassen darf, weil er allein auf das Gemeinwohl verpflichtet ist l8 • Bei Aufträgen und Weisungen, die an ihn herangetragen werden, kann aber nie ausgeschlossen werden, daß sie nur Eigeninteressen verfolgen. Als Vertreter des ganzen Volkes ist es, wie gesehen, eine Hauptaufgabe des Abgeordneten, den Dialog mit der Öffentlichkeit zu führen. Läßt er sich aber strikt an Weisungen binden, ist er nicht mehr hinreichend offen, dieser Aufgabe nachzukommen. Er verfehlt in diesem Fall die von der Verfassung an ihn gerichtete Anforderung, handelt mithin verfassungswidrig. Aufträge und Weisungen, die mit dem Anspruch rechtlicher Bindung an den Abgeordneten herangetragen werden, stellen daher die Aufforderung an einen Amtsträger dar, sich verfassungswidrig zu verhalten. Eine derartige Aufforderung zum Verfassungsbruch muß aber dann ihrerseits als verfassungswidrig und somit verboten angesehen werden l9 • 16 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rndr. 51; Jung DÖV 1984, 197,200. 17 Bruha/Möllers, JA 1985, 13, 17 FN 85. 18 Für Krause, DÖV 1974, 325, 327, folgt daraus die Rechtspflicht des Abgeordneten, sich von Bindungen freizuhalten und freizumachen, die ihn befangen werden lassen könnten. 19 Dieser Gedanke der Aufforderung zu verfassungswidrigem Verhalten hat bereits Dreher, NJW 1950, 661, 663, veranlaßt, ein Verlangen der Partei an den Abgeordneten nicht nur als unverbindlich, sondern als verfassungswidrig anzusehen. Dreher glaubte allerdings, die Verfassungswidrigkeit auf die Fälle begrenzen zu können, in denen vom Abgeordneten verlangt wird, seine Stimme entgegen dem Interesse des Volkes nur in dem der Partei abzugeben. Eine solche Trennung wird in der Praxis aber wohl nicht durchzuhalten sein, da die Parteien immer zumindest den Anspruch erheben werden, auch im Interesse des Volkes zu handeln. Ein Abstellen auf den Inhalt des Verlangens könnte daher nur in Ausnahmefällen die Unzulässigkeit einer Weisung begründen. Auch wenn die Weisung aber vielleicht wirklich mit Rücksicht auf das Gemeinwohl ergeht, kann sie doch den Dialog des Abgeordneten mit

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Die gegen dieses Ergebnis vorgebrachten Argumente sind demgegenüber nicht durchschlagend. So wird angeführt, der Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG spreche nur von der Ungebundenheit des Abgeordneten, hätte der Verfassunggeber ein weiterreichendes Verbot von Aufträgen und Weisungen anordnen wollen, so hätte es dies deutlicher machen können2o • Diese Kritik beachtet zu wenig, daß der Parlamentarische Rat mit dieser sprachlichen Fassung an eine historisch überkommene Formulierung anknüpfte, von der er nicht ohne Not abweichen mußte. Auch die Auffassung, nach der schon das Ergehen von Aufträgen und Weisungen nicht gestattet ist, ist aber vom Wortlaut der verfassungsrechtlichen Norm gedeckt. Weiterhin wird geltend gemacht, daß die nur rechtliche Unverbindlichkeit bereits herrschende Meinung zu Art. 21 WRV war 21 , und den Materialien zur Entstehung des Grundgesetzes nicht entnommen werden könne, daß von dieser Auslegung abgewichen werden sollte22 • Tatsächlich hat der Parlamentarische Rat diese Frage aber gar nicht diskutiert, so daß aus der Entstehungsgeschichte auch nicht gefolgert werden kann, er habe diese Literaturmeinung aus der Weimarer Zeit seiner Entscheidung zugrundegelegt. In eine ähnliche Richtung zielt das Argument, das den unterschiedlichen Wortlaut von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG einerseits und Art. 48 Abs. 2 GG andererseits einwendet. In der Tat stellen die Formulierungen in Art. 48 Abs. 2 GG eindeutig klar, daß schon das Ausüben von Behinderungen nicht zulässig ist ("Niemand darf gehindert werden", "ist unzulässig"). Auch dem läßt sich aber entgegenhalten, daß der Parlamentarische Rat in Art. 38 GG eine tradierte Formel übernahm, so daß der Unterschied in der Ausdrucksweise nicht überbewertet werden sollte. Schließlich wird noch angeführt, gerade im Unterschied zu Art. 48 Abs. 2 GG, wo existentielle, insbesondere berufliche Behinderungen des Abgeordneten ohne weiteres beeinträchtigend wirkten und von daher als unzulässig abgewehrt werden müßten, reiche bei Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG aus, daß er Weisungen als unverbindlich ignorieren könne. Diese Sichtweise geht zu die Unzulässigkeit einer Weisung begründen. Auch wenn die Weisung aber vielleicht wirklich mit Rücksicht auf das Gemeinwohl ergeht, kann sie doch den Dialog des Abgeordneten mit dem Volk verhindern. Letztlich liegt dieser Unterscheidung somit die überholte Vorstellung zugrunde, es gebe ein feststehendes und vom Willen der Repräsentierten unabhängiges Gemeinwohl. 20 Hohm/Rautenberg NJW 1984, 1657, 1660. 21 So für Art. 21 WRV Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 21, Anm. 2 FN 2; Morstein Marx, AöR 11 (1926),430,436 ff; Tatarin -Tarnheyden, HdbDStR I, S. 413, 419. 22 Dieses und die folgenden Argumente bei Bruha/Möllers, JA 1985, 13, 17.

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einseitig vom Recht des Abgeordneten aus, übersieht dabei aber, daß es sich auch und in erster Linie um eine Pflicht handelt. Dadurch, daß die politischen Parteien in Folge des Nominierungsmonopols über die Wiederwahl eines Abgeordneten entscheiden, kann nicht davon ausgegangen werden, daß dieser sich über Aufträge und Weisungen seiner Partei stets hinwegsetzen wird, wenn sie erst einmal an ihn gerichtet werden. Es reicht von daher nicht aus, daß ihm durch bloßes Ignorieren die Möglichkeit bleibt, sich verfassungsgemäß zu verhalten, vielmehr muß möglichst ausgeschlossen werden, daß er verfassungswidrig handelt. Deshalb bleibt gar nichts anderes übrig, als bereits das Erteilen von Aufträgen und Weisungen für verboten zu halten.

b) Das Streben nach Geschlossenheit als funktionell notwendiges Anliegen der Fraktionen

Dies kann freilich nicht bedeuten, daß damit jede Form versuchter Einflußnahme von der Fraktion auf die Abgeordneten untersagt wäre. Eine solche Interpretation würde Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG aus dem systematischen Gesamtzusammenhang des Grundgesetzes herausreißen und ihm einen absoluten Vorrang einräumen, dies würde aber dem Grundsatz der Einheit der Verfassung nicht gerecht. Ebensowenig wie Art. 38 GG durch die Einführung des Art. 21 GG obsolet geworden ist, kann umgekehrt der Stellenwert des Art. 21 GG unter Berufung auf Art. 38 GG völlig negiert werden. Da die Parteien auch den verfassungsmäßigen Auftrag haben, an der staatlichen Willensbildung mitzuwirken, müssen sie grundsätzlich bis zu einem gewissen Grade über die Fraktionen Einfluß auf die ihnen angehörenden Abgeordneten nehmen können. Auch aus der Sicht des Wählers müssen die Fraktionen eine hinreichend klare Linie verfolgen, damit er sich bei seiner Wahlentscheidung daran orientieren kann 23 • Weichen viele Abgeordnete vom Kurs ihrer Fraktionen ab, muß dies den Wähler zwangsläufig verunsichern. So wirkt sich denn auch kaum etwas ungünstiger auf die Wahl aussichten aus als der Eindruck mangelnder Geschlossenheit. Soll also eine Wahl, die sich überwiegend an der Parteizugehörigkeit ausrichtet, sinnvoll bleiben, muß dem Wähler der Standpunkt der Partei im parlamentarischen Verhalten ihrer Fraktion erkennbar sein. Schon dies spricht für die Zuläs23

Kasten, ZParl1985, 475, 478.

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sigkeit eines gewissen Drucks auf einheitliches Auftreten aller Abgeordneten einer Fraktion. Bei näherer Betrachtung lassen sich aber auch gewichtige Gründe für das Bestreben der Fraktionen nach einem möglichst geschlossenen Auftreten anführen, die völlig unabhängig von Art. 21 GG sind und allein aus den Funktionsbedingungen des parlamentarischen Systems resultieren. Zum einen liegt die Einmütigkeit ihrer Abgeordneten naturgemäß im Interesse der Fraktion selbst. Das Durchsetzen ihrer politischen Ziele im parlamentarischen Prozeß erfordert nämlich, daß hinter ihren Forderungen die ganze Kraft ihrer zahlenmäßigen Stärke steht24 • Dies gilt besonders für die Mehrheitsfraktionen, vor allem bei knapper Mehrheit. Kann hier nicht erreicht werden, daß die Fraktionsmitglieder ihre oft vielfach schattierten Einzelmeinungen zurückstellen und aufgrund ihrer gemeinsamen politischen Grundeinstellung einen einheitlichen Kurs vertreten, besteht die Gefahr, daß die Mehrheit verlorengeht und die Fraktion ihre Vorhaben nicht verwirklichen kann. Stimmen etwa Abgeordnete der Mehrheit einer Oppositionsvorlage zu, werden die Mehrheitsverhältnisse unter Umständen umgekehrt. Auf längere Sicht kann dies bedeuten, daß bei ständig wechselnden Mehrheiten die Verfolgung eines zusammenhängenden politischen Kurses nicht mehr gewährleistet ist, sondern einzelne, eher zufällige Entscheidungen zustande kommen25 • Dies kann dann, weil die Regierung sich nicht mehr auf den Rückhalt der Mehrheitsfraktionen verlassen kann, zu einer dauernden Regierungskrise und damit einer Destabilisierung des parlamentarischen Regierungssystems insgesamt führen 26 • Für eine weitgehende Geschlossenheit sprechen so gesehen nicht nur die egoistischen Interessen der Fraktionen, sondern auch Belange des Allgemeinwohls. Auch die Oppositionsfraktionen aber sind, wenn sie die Mehrheit zu Kompromissen bewegen wollen, darauf angewiesen, eine einheitliche Linie zu verfolgen, um so ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen 27 • Insgesamt kann man daher sagen, daß die Abgeordneten einer Fraktion dann eine um so höhere Chance haben, ihre im Grundsatz gleiche Vorstellung vom Ge24 So schon von Mangoldt, SJZ 25 Dach, RiA 1981, 212, 213.

1950, 337, 338.

26 Kasten ZParl 1985, 475, 478. Die Gefährdung der Regierung durch ein Abweichen von Abgeordneten der Mehrheitsfraktion betonen auch Friesenhahn VVDStRL 16 (1958), 9, 24; Dichgans ZParl1976, 127, 128. 27 Auf die Notwendigkeit der Geschlossenheit auch für das Verfolgen einer konstruktiven Oppositionspolitik weisen Dach, RiA 1981, 212, 213, und Kasten, Außschußorganisation, S. 156, hin.

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meinwohl ZU realisieren, wenn sie zugunsten der gemeinsamen politischen Überzeugung bereit sind, in Einzelfragen nicht auf ihrer persönlichen Meinung zu beharren. Damit ist auch schon angedeutet, daß geschlossenes Auftreten nicht nur ein Bedürfnis der Fraktion ist, sondern das Interesse der einzelnen fraktionsangehörigen Abgeordneten damit untrennbar verknüpft ist 28 . Die Bedeutung, die ein einheitliches Verhalten seiner Fraktion auch für ihn hat, wird durch die arbeitsteilige Organisation des Parlaments noch gesteigert. Die Vielfalt der Aufgaben und die Komplexität der dabei auftretenden Probleme haben dazu geführt, daß sich die Arbeit des Parlaments zunehmend in die Ausschüsse verlagert hat. Die Spezialisierung findet auch innerhalb der Fraktionen ihre Entsprechung, diese sind nach fachpolitischen Gesichtspunkten in Arbeitskreise und -gruppen gegliedert. Das führt dazu, daß ein bestimmtes Politikfeld in der Fraktion von einer überschaubaren Anzahl von Abgeordneten bearbeitet wird, die den Fraktionskurs auf diesem Gebiet maßgeblich bestimmen. Insofern muß auch der einzelne, wenn er auf dem Sektor, dem sein besonderer Einsatz gilt, die von ihm mitentwickelten Vorstellungen verwirklicht sehen will, darauf bedacht sein, daß seine Fraktionskollegen diese möglichst geschlossen unterstützen29. Gelingt es der Fraktion nicht, eine einheitliche Auffassung zu erreichen, vermindern sich damit stets auch die politischen Gestaltungsmöglichkeiten für das einzelne Mitglied, in dessen Tätigkeitsbereich die konkrete Sachfrage fällt. Schließlich entspricht die Geschlossenheit der Fraktion aber auch den Bedürfnissen des Gesamtparlaments. Wie auch vom BVerfG immer wieder hervorgehoben wird30 , haben die Fraktionen vor allem die Aufgabe, den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit zu steuern und zu erleichtern. Dadurch, daß in den Fraktionen vorab eine Willensbildung stattfindet, sollen das Plenum und die Ausschüsse davor bewahrt werden, mit einer Vielzahl von divergierenden Einzelmeinungen konfrontiert zu werden. Die Auffassungen der einzelnen Abgeordneten sollen in den Fraktionen gesammelt 28 Kasten ZParl 1985, 475, 476 f., und Hamm-Brücher, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 22, Rdnr. 72, heben daher diesen Aspekt der Geschlossenheit der Fraktion zu Recht hervor und betonen, daß sich die Abgeordneten schon wegen des Bekenntnisses zu gemeinsamen politischen Zielen, regelmäßig durch die gleiche Parteizugehörigkeit vermittelt, auch generell zur Loyalität verpflichtet fühlen. 29 Sehr häufig wird angesichts der Schwierigkeit der Materien in den einzelnen Fachbereichen den darauf nicht spezialisierten Fraktionsmitgliedem auch schon aus mangelnder Kompetenz nichts anderes übrig bleiben, als sich auf die Haltung ihrer dafür zuständigen Fraktionskollegen zu verlassen (Dach, RiA 1981, 212, 213; Kasten, Ausschußorganisation, S. 155). 30 BVerfGE 1, 208, 229; 2, 143, 160; 10,4, 14; 43, 142, 147.

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und zusammengefaßt werden, so daß sich die eigentliche parlamentarische Auseinandersetzung auf die Entscheidung zwischen wenigen Alternativen beschränken kann31 . Würde die Verfassung jede Einflußnahme auf den Abgeordneten verbieten, müßte eine solche fraktionsinterne Willensbildung vor parlamentarischen Entscheidungen überhaupt bedenklich erscheinen. In letzter Konsequenz würde somit ein Parlament von 662 Einzelkämpfern liegen, die dann zwar vollkommen unabhängig, jedoch zur Bewältigung der dem Bundestag obliegenden Aufgaben schwerlich in der Lage wären. Die Funktionsfähigkeit des Bundestages erfordert daher das Bemühen der Fraktionen um eine gewisse Geschlossenheit. Daß der Druck, dem sich der Abgeordnete damit in der Fraktion notwendigerweise ausgesetzt sieht, aber in der Regel keinen Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG darstellt, liegt in erster Linie dar an, daß die Fraktion ein Zusammenschluß ist, der ausschließlich auf der Basis der Freiwilligkeit erfolgt 32 . Es bleibt jedem Abgeordneten überlassen, ob er der Fraktion beitreten und an den im einzelnen noch zu schildernden Vorteilen, die mit der Fraktionszugehärigkeit verbunden sind, partizipieren will, sich zugleich und damit untrennbar verbunden, aber auch einem gewissen Druck auszusetzen bereit ist, oder ob er es vorzieht, auf diese Vorzüge zu verzichten und dafür ungebunden zu bleiben. Erst die Tatsache, daß der Abgeordneten selbst frei entscheiden kann, ob er der Fraktion beitritt und ob er in ihr verbleibt, macht den Druck, den die Fraktionsmitgliedschaft unausweichlich bedeutet, im Grundsatz mit Art. 38 Abs.l Satz 2 GG vereinbar.

c) Das Verbot mißbräuchlicher Einflußnahme Kann es also nicht darum gehen, jeden Druck von Fraktionen auf ihre Abgeordneten auszuschließen, stellt sich das Problem, zulässige von unzu31 In diesem Sinn spricht auch die Enquetekommission Verfassungsreform in ihrem Abschlußbericht (S. 77) davon, die Funktionsfähigkeit des Bundestages hänge letztlich davon ab, daß Regierungs- und Oppositionsfraktionen einander organisiert gegenüberstehen und die parlamentarische Willensbildung in ihren Gremien vorbereiten. 32 StGH Bremen, StGHE 2, 19,24; Hauenschild, Wesen und Rechtsnatur der parlamentarischen Fraktion, S. 110; Tschermak von Seysenegg, Die Fraktionen im Deutschen Bundestag und ihre verfassungsrechtliche Stellung, 1971, S. 216; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 231; Bick, Die Ratsfraktion, 1989, S. 50.; RitzeljBücker, Handbuch für die parlamtarische Praxis, Vorbemerkung zu § 10 GOBT, Anm. III 2; Badura, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15, Rdnr. 50; Arndt/Schweitzer, ZParl 1976, 71, 78; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 108; H. J. Schröder, ZRP 1971, 97, 99.

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lässiger Einflußnahme zu unterscheiden. Unzulässig ist nur die Einflußnahme, die mißbräuchlich ausgeübt wird. Von daher sind also die Gebote, die Art. 38 GG an die parlamentarische Praxis richtet, unterschiedlich, je nachdem, ob es sich um die Beziehung zwischen dem Abgeordneten und seiner Fraktion selbst handelt oder um die Frage, wie das Gesamtparlament zu dieser Beziehung steht. Die Anforderungen an das Parlament sind dabei höher, dieses muß sich beim Erlaß der Geschäftsordnung völlig neutral gegenüber dieser Auseinandersetzung verhalten, der Fraktion hingegen ist lediglich mißbräuchliches Verhalten verwehrt bei ihrem grundsätzlich legitimen Bemühen, den einzelnen Abgeordneten zur Einhaltung des von der Mehrheit getragenen Kurses zu bewegen33 . Diese grundsätzliche Unterscheidung wird auch bereits in der frühen Entscheidung des BVerfG zur Redezeit des Abgeordneten angesprochen. Dort wird ausgeführt34, daß die Mediatisierung der Abgeordneten, die durch die vom Bundestag beschlossene Verteilung der Gesamtredezeit auf die Fraktionen naturgemäß entstehe, verfassungsrechtlich zulässig se~ wenn sie nicht über das hinausgehe, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten sei. Die Fraktionen hingegen handelten verfassungswidrig, wenn sie ihre Fraktionsmacht mißbrauchten, indem sie etwa einem ihrer Mitglieder bei Strafe des Ausschlusses verbieten, eine Rede im Bundestagsplenum zu halten, die nicht völlig mit der von der Fraktion vertretenen Auffassung übereinstimmt 35 . Diese Differenzierung ist auch sachgerecht, wenn man bedenkt, daß Regelungen des Bundestages jeden Abgeordneten verpflichten, gleichgültig, ob er mit ihnen einverstanden ist oder nicht. Bestimmungen, die die Fraktionen etwa in ihren Geschäftsordnungen treffen, binden hingegen nur die Abgeordneten, die dieser Fraktion angehören. Mit seinem Fraktionsbeitritt geht der Abgeordnete diese Bindungen freiwillig ein, will er sie nicht akzeptieren, kann er die Fraktion verlassen und als Fraktionsloser im Parlament verbleiben. Auch der fraktionslose Abgeordnete aber bleibt den Regelungen un33 Zu erinnern ist aber daran, daß auch zulässige Einwirkungsversuche der Fraktion auf den Abgeordneten diesen in rechtlicher Hinsicht nicht zu binden vennögen, die Geschlossenheit der Fraktion ist in erster Linie eine Sache freiwilliger Zustimmung (Hesse, Grundzüge, Rdnr. 6(0). 34 BVerfGE 10, 4,14 f. 35 Wie den vorangehenden Ausführungen des BVerfG zur Zulässigkeit der Begrenzung einer Bundestagsdebatte auf eine bestimmte Zeitspanne (BVerfGE 10, 4, 13) zu entnehmen ist, ist es auch für das Gesamtparlament vorstellbar, daß es eine an sich legitime Maßnahme im Einzelfall in mißbräuchlicher Weise einsetzt. Auch hier wird die grundsätzliche verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit aber zunächst nach dem Kriterium der Arbeitsfähigkeit des Parlaments überprüft. Anders als die Fraktionen unterwirft das BVerfG den Bundestag also nicht nur der Mißbrauchskontrolle.

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terworfen, die der Bundestag trifft, ihnen kann er sich überhaupt nicht entziehen, ohne sein Mandat zu verlieren. Zum Fixieren der Mißbrauchsgrenze ist früher eine materielle Abgrenzung nach dem Inhalt der Beeinflussung befürwortet worden. So soll es verboten sein, wenn die Fraktion ausschließlich deshalb Druck auf den Abgeordneten ausübt, um ihre Machtposition zu stärken36 bzw. wenn sie von ihm verlangt, daß er das Gemeinwohl zugunsten von Parteiinteressen opfert37 . Wie aber diese Autoren selbst einräumen38 , stößt die theoretische Unterscheidung in der Praxis auf Schwierigkeiten. Das liegt zum einen dar an, daß die Fraktionen immer für sich in Anspruch nehmen werden, der Druck, den sie ausübten, diene letztlich dem Wohl der Allgemeinheit. Andererseits wird häufig keine eindimensionale Intention vorliegen, Motive der Befestigung von Partei- und Fraktionsmacht können untrennbar verbunden sein mit solchen, die das Gemeinwohl verfolgen. Bildet also das Ziel der Einflußnahme keinen zuverlässigen Maßstab, so kann ein Mißbrauch nur nach der Art und Weise der Beeinflussung beurteilt werden. Entscheidend ist dabei die Formulierung des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Aufträge und Weisungen zeichnen sich dadurch aus, daß sie eine Verpflichtung des Beauftragten und Angewiesenen bewirken sollen, wenn diese daher nicht nur ohne rechtliche Bindungkraft, sondern auch verboten sind, bedeutet dies zunächst, daß Verpflichtungen des Abgeordneten nicht ausgesprochen werden dürfen 39 . Die angestrebte Geschlossenheit der Fraktion soll sich in einer offenen Diskussion herausbilden, nicht aber autoritär verfügt werden. Hieran knüpft auch die von der herrschenden Meinung gemachte Unterscheidung in unzulässigen Fraktionszwang und zulässige Fraktionsdisziplin an40 . Als Fraktionszwang wird dabei gemeinhin die dem Abgeordneten von der Fraktion mit Bindungsanspruch auferlegte Verpflichtung zu einer bestimmten Ausübung des Mandats definiert, Fraktionsdisziplin soll das Bestreben einer Fraktion sein, durch innerfraktionelle WiIIensbildung im Vorfeld parlamentarischer Entscheidungen ein 36 von Mangoldt, SJZ 1950, 337, 338. 37 Dreher, NJW 1950, 661, 663. 38 von Mangoldt, SJZ 1950, 337, 338; Dreher, NJW 1950, 661, 663. 39 In diesem Sinne wendet sich C. Arndt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 23, gegen alle Formen und Verfahren, in denen mit dem Anspruch rechtlicher Relevanz auf den Abgeordneten eingewirkt wird oder eingewirkt werden soll. 40 Erstmals ist diese Unterscheidung, soweit ersichtlich, von von Mangoldt, SJZ 1950, 336 ff. gemacht worden. Heute ist sie ganz herrschend, vergl. nur Stern, Staatsrecht Band I, § 24 IV 3 d; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 77 f.; von Münch in: ders (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 64.

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einheitliches Auftreten - insbesondere eine einheitliche Stimmabgabe herbeizuführen, wobei sich dann der einzelne Abgeordnete freiwilllig dem gemeinsamen Kurs unterstellt4 1• Konkret heißt das, daß sowohl verbindliche Anordnungen der Fraktionsführung zu einem bestimmten Verhalten ausgeschlossen sind als auch Beschlüsse der Gesamtfraktion, wonach diejenigen Abgeordneten, die bei der fraktionsinternen Abstimmung in der Minderheit geblieben sind, verpflichtet sind, nach außen die Mehrheitsmeinung zu vertreten42 • Daß solche Verfahrensweisen unzulässig wären, wird auch von den Fraktionen selbst nicht in Abrede gestellt. § 16 Abs. 1 der Arbeitsordnung der CDU /CSU-Fraktion hält dementsprechend fest, es gebe keinen Fraktionszwang43.

d) Die Androhung von Sanktionen als Merkmal unzulässigen Fraktionszwangs

Fraglich ist aber, ob man Fraktionszwang wirklich begrenzen kann auf die Konstellationen, wo ausdrücklich der Anspruch erhoben wird, die Abgeordneten zu verpflichten. Fälle dieser Art werden in der Praxis ohnehin kaum vorkommen44 • Stellt man auf die Freiwilligkeit als entscheidendes Kriterium ab, so muß jedes Vorgehen verboten sein, das dem Abgeordneten nur faktisch die Entscheidungsfreiheit nimmt, auch ohne daß der verpflichtende Charakter des Verlangens eindeutig ausgesprochen wird. Jede Androhung von Sanktionen durch die Fraktionen muß daher unzulässig sein, weil dadurch die freiwillige Willensentschließung des Abgeordneten beeinträchtigt werden kann. Entscheidend für das Vorliegen von Fraktionszwang ist also weniger, ob die Fraktion formell den Anspruch erhebt, den Abgeordneten zu verpflichten - was häufig ohnehin nur eine Sache der Formulierung ist -, als vielmehr, ob sie durch konkrete Androhungen ihrem Verlangen solchen 41 von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 64. 42 Gleichfalls unzulässig ist die in den Geschäftsordnungen kommunaler Ratsfraktionen

bisweilen vorgesehene Möglichkeit, einem dissentierenden Fraktionsmitglied die Verpflichtung aufzuerlegen, sich in der betreffenden Sitzung vertreten zu lassen (vergI. dazu Bick, Ratsfraktion, S. 162). 43 Angesichts des bereits aus der Verfassung abzuleitenden Verbots von Fraktionszwang hat die Vorschrift lediglich deklaratorischen Charakter bzw. läuft leer (Achterberg, Parlamentsrecht, S. 290). So ist es auch zu erklären, daß die übrigen Bundestagsfraktionen auf eine ausdrückliche Normierung in ihrer Fraktionsgeschäftsordnung verzichtet haben. Ein ausdrückliches verfassungsrechtliches Verbot des Fraktionszwangs enthält jetzt erstmals Art. 67 Abs. 2 LV Brandenburg. 44 So zutreffend Sendler, NJW 1985, 1425, 1427.

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Nachdruck verleiht, daß er die an ihn gerichtete Forderung als bindend empfinden muß45. Erst dann erweist sich auch das praktische Bedürfnis danach, über die rechtliche Unverbindlichkeit hinaus ein Verbot von Aufträgen und Weisungen anzunehmen, um schon den Einsatz derartiger Sanktionsdrohungen für unzulässig zu erklären. Den Fraktionen stehen insoweit vielfältige Möglichkeiten zur Verfügung. Zu erinnern ist etwa daran, daß sie nach § 57 Abs. 2 GOBT die Mitglieder der Ausschüsse benennen, woraus die ganz herrschende Meinung folgert4 6 , daß sie als actus contrarius auch das Recht haben, Ausschußmitglieder im Laufe der Wahlperiode abzulösen. Weiterhin besteht nicht nur die Möglichkeit, Abgeordnete von Funktionen abzulösen, die sie in der Fraktion innehaben (beispielsweise der Mitgliedschaft im Fraktionsvorstand oder dem Vorsitz einer Arbeitsgruppe)47, sondern, noch weitergehend, sie gänzlich aus der Fraktion auszuschließen, wodurch sie alle von der Fraktion vermittelten Vorteile verlieren. Im Fraktionsausschluß kann daher die stärkste Sanktion erblickt werden48 • Durch ihre Vormachtstellung im parlamentarischen Prozeß haben die Fraktionen also ein ganzes Arsenal an Möglichkeiten, dessen Einsatz sie in Aussicht stellen können, um Abgeordnete zur Einhaltung des Fraktionskurses zu zwingen. Auch wenn es sich dabei formell nicht um Aufträge und Weisungen handeln mag, weil die mit Sanktions androhung verbundenen Aufforderungen nicht unbedingt den Anspruch einer verbindlichen Anordnung erheben, müssen sie doch gleichfalls als verfassungswidrig angesehen werden, weil sie die gleiche Wirkung haben. Im neueren Schrifttum ist daher auch eine Interpretation des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gefordert worden, die sich der Gefährdungslage anpaßt und den Schutzbereich des freien Mandats ins Vorfeld der Aufträge und Weisungen ausdehnt4 9 •

45 Kasten, ZPar11985, 475, 481.

46 Schäfer, Bundestag, S. 112; Ritzel/Bücker, HdbPP, § 57 GOBT, Anm. 11 a; Stern, Staatsrecht Band 11, § 26 IV 2 m. 47 In den Bundestagsfraktionen erfolgen Wahlen in Fraktionsämter regelmäßig nur für einen Teil der Wahlperiode (so in der CDU/CSU-Fraktion nach § 13 Nr. 3 der Arbeitsordnung außer für den Fraktionsvorsitzenden und den 1. Stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden für die Dauer von zwei Jahren, nach § 13 Abs. 2 der SPD- Fraktionsgeschäftsordnung für alle Vorstandsmitglieder bis auf die Parlamentarischen Geschäftsführer zunächst nur für 12 Monate und dann für jeweils 18 Monate, nach § 5 Abs. 2 der FDP-Fraktionsgeschäftsordnung für den gesamten Vorstand auf ein Jahr, es sei denn die Wahl erfolgt weniger als zwei Jahre vor Ablauf der Wahlperiode, und nach § 11 Abs. 2 der Fraktionsgeschäftsordnung der GRÜNEN für alle Vorstandsmitglieder auf ein Jahr). 48 Hauenschild, Wesen, S. 72. 49 Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 24.

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Häufig wird bei der Definition des Fraktionszwangs neben dem Anspruch auf verpflichtende Wirkung auch die Sanktionsandrohung als Kriterium einbezogen, so daß bei Androhung von Disziplinierungsmaßnahmen stets unzulässiger Fraktionszwang gegeben ist50 . Demgegenüber gibt es aber auch Stimmen, die die Ankündigung von Sanktionen nicht schlechthin für unzulässig halten. Dabei wird der Versuch unternommen, zwischen zulässigen und unzulässigen Sanktionsandrohungen zu unterscheiden. Unbedenklich sollen Drohungen sein, die sich lediglich auf die Stellung des Abgeordneten als Parteimitglied (Entzug von Parteiämtern, Partei ausschluß) oder als Fraktionsmitglied (Abberufung aus Ausschüssen, Fraktionsausschluß) beziehen, verfassungswidrig solche, die unmittelbar seine AbgeordnetensteIlung betreffen (Vorausabtretung von Diäten, Blankettverzichtserklärungen, Redeverbot im Plenum )51. Ferner wird Unzulässigkeit angenommen, wenn die Drohung wegen der verwerflichen Zweck-Mittel-Relation die Grenze des Nötigungstatbestandes in § 240 StGB überschreite, was insbesondere der Fall sein soll, wenn mit rein privaten, etwa beruflichen Nachteilen gedroht wird52 . In eine ähnliche Richtung geht offenbar auch die Auffassung des Staatsgerichtshofes Bremen, der es zunächst für unzulässig erklärt, den Abgeordneten mit äußeren Mitteln zu zwingen, gemäß dem Mehrheitsbeschluß seiner Fraktion zu stimmen, und fortfährt, ebenso unzulässig sei, ihn "mit rechtlich unerlaubten Mitteln" indirekt dazu anzuhalten 53 . Hier wird vorausgesetzt, es gebe auch rechtlich 50 Stern, Staatsrecht Band I, § 24 IV 3; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 77, der allerdings das Vorliegen von Sanktionsandrohungen nicht für erforderlich hält, um unzulässigen Fraktionszwang anzunehmen. Diese Sichtweise ist zutreffend, da daneben auch Fraktionszwang gegeben ist, wenn im Einzelfall tatsächlich der Anspruch erhoben werden sollte, den Abgeordneten zu verpflichten, auch ohne daß dies mit einer Androhung von Sanktionen verstärkt wird. Der Einwand von Kasten, ZParl 1985, 475, 483, Rechtspflichten definierten sich daraus, daß ihre Nichtbefolgung Sanktionen auslösen könne, daher verwickle sich diese Meinung in einen denklogischen Widerspruch, trifft in dieser Allgemeinheit nicht zu. Wie gerade die Amtspflichten des Abgeordneten belegen, gibt es auch rechtliche Pflichten, die nicht durchsetzbar sind und deren Nichtbeachtung auch nicht unmittelbar sanktioniert werden. Zudem setzt Kasten damit die vorherige Androhung von Sanktionen gleich mit deren nachträglicher Verhängung, beides ist aber getrennt zu betrachten. 51 von Münch, Grundbegriffe, Rdnr. 386 f.; Martens, DVBI. 1965,865,866. 52 Martens, DVBI. 1965,865; Hauenschild, Wesen, S. 203 f.; Henke, Recht, S. 155; Kriete, VVDStRL 29 (1971),46, 71; Degenhart, Staatsrecht, Rdnr. 407. Für eine Heranziehung von § 240 StGB auch Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 52. Noch weitergehend Hagelstein, Die Rechtsstellung der Fraktionen im Deutschen Parlamentswesen, 1992, S. 141, nach dem überhaupt nur das Strafrecht die an sich zulässige Einflußnahme der Fraktionen auf ihre Mitglieder beschränkt. 53 StGH Bremen, StGHE 1, 34, 37. 8 Demmler

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erlaubte Mittel, um den Abgeordneten zur Einhaltung des Fraktionskurses anzuhalten, ohne diese allerdings näher zu bezeichnen54 • Letzten Endes rechtfertigen die verschiedenen Zwangsmittel keine unterschiedliche Beurteilung. Die Differenzierung bleibt zu stark der Vorstellung verhaftet, die Drohung mit einer Maßnahme ließe sich in ihrer verfassungsrechtlichen Beurteilung nicht von deren Ausführung trennen55 • Um unter bestimmten Umständen für zulässig gehaltene Maßnahmen wie den Fraktionsausschluß56 nicht in Frage zu stellen, muß diese Auffassung daher auch deren Ankündigung zu Disziplinierungszwecken unbedenklich erscheinen lassen57 . Eine einheitliche verfassungsrechtliche Stellungnahme zu Sanktionsandrohung und späterer Verhängung der Maßnahme ist aber, wie ausgeführt, keineswegs zwingend. Daß beides prinzipiell zu unterscheiden ist, läßt sich besonders am Verhältnis des Abgeordneten zu seinen Wählern verdeutlichen. Auch diesen ist von der Verfassung nur untersagt, dem Abgeordneten Weisungen für sein Verhalten im Parlament zu erteilen, die er anschließend auszuführen hat. Sind sie hingegen im nachhinein nicht mit seiner Ausübung des Mandats zufrieden, ist es ihnen unbenommen, ihn durch die Verweigerung ihrer Stimme bei der nächsten Wahl nachträglich zu sanktionieren. Im Gegenteil liegt darin sogar das notwendige Korrektiv zur Mandatsfreiheit, wenn diese nicht zur Beliebigkeit werden soll. Die Unterscheidung von vorheriger Einflußnahme und nachheriger Sanktion ist in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG somit geradezu angelegt. Der Abgeordnete muß also stets damit rechnen, im Falle eines Beharrens auf seiner individuellen Meinung dafür nachträglich sanktioniert zu werden. Unzulässig ist nur, diesen latenten Druck in Beziehung auf ein ganz konkret bevorstehendes Verhalten so zu aktualisieren, daß sich

54 Das Urteil wird auch insofern kritisiert von H. Schneider, DVBI. 1953,440, sowie neuerdings von Model/Müller, GG, Art. 38, Rdnr. 13. 55 So auch ausdrücklich Hauenschild, Wesen, S. 203. Vergl. auch C. Arndt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 24, der aus dem Recht der Partei, einen Kandidaten nicht wieder aufzustellen, schließt, dies müsse sie ihm dann auch für den Fall abweichenden Stimmverhaltens ankündigen können, ohne gegen die Verfassung zu verstoßen. 56 OVG Lüneburg, OVGE 4, 139, 143 f., Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 78; Maunz in: MaunzjDürig, Art. 38, Rdnr. 12; a.A. nur Achterberg, Parlamentsrecht, S. 219. 57 So kommen WeberjEschmann, JuS 1990, 659, 690, in einem Beispielsfall nur deshalb zum Ergebnis, daß die Fraktion mit der Drohung des Fraktionsausschlusses Fraktionszwang ausgeübt habe, weil die Abweichung des dissentierenden Abgeordneten von der Fraktionsmeinung nicht so gewichtig sei, daß sie den Konsens der gemeinsamen politischen Arbeit nachhaltig gefährden könnte.

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aus der Koppelung von Verhaltensanforderung und Sanktionsandrohung eine verbindliche Weisung ergibt58 • Die Ausführung einer Sanktion kann daher nur dann als Fraktionszwang bezeichnet werden, wenn sie noch vor der anstehenden Entscheidung mit dem Ziel erfolgt, den Abgeordneten zur Einhaltung des Fraktionskurses zu veranlassen. Dann aber kann der Druck, der auf dem Abgeordneten lastet und ihn an einer eigenverantwortlichen Entscheidung hindert, bei der Androhung des Fraktionsausschlusses ebenso groß sein wie beim Inaussichtstellen privater Nachteile. Weil Art. 38 GG das Ziel hat, die Freiwilligkeit des Verhaltens schlechthin zu schützen, kommt es nur auf die Wirkung des verwendeten Zwangsmittels an, die Art des ausgeübten Zwangs ist vor der Verfassung nicht entscheidend. Hinzu kommt, daß auch die angebotenen Abgrenzungskriterien größtenteils zu unscharf sind. Die Unterteilung etwa in Sanktionen, die nur die Fraktionsmitgliedschaft betreffen und solche, die unmittelbar auf die AbgeordnetensteIlung wirken, läßt sich nicht durchhalten. So hat der Fraktionsausschluß, dessen Androhung danach zulässig wäre, weitreichende negative Konsequenzen für die parlamentarischen Einflußmöglichkeiten eines Abgeordneten. Da mit dem Ausscheiden aus der Fraktion auch der Entzug der Vollmitgliedschaft in den Ausschüssen verbunden ist, schlägt der Fraktionsausschluß unmittelbar auf seine Stellung als Abgeordneter durch 59 • Auch diese Unterscheidung vermag daher nicht zu befriedigen. Nur eine klare Position, die jede Drohung mit Sanktionen für mißbräuchlich hält, liefert ein eindeutiges Abgrenzungskriterium von verfassungswidrigem Fraktionszwang und erlaubter Fraktionsdisziplin. So läßt sich auch der immer wieder vorgetragenen These, die Grenzziehung zwischen Fraktions-

58 Ebenso für das Beispiel des Ausschußrückrufs Badura, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15, Rdnr. 56: "Die Unabhängigkeit des einzelnen Ausschußmitglieds bei seiner Meinungsbildung und Stimmabgabe darf nicht im Einzelfall durch die Verkoppelung mit einem angedrohten Ausschußrückruf in Frage gestellt werden, das abweichende Verhalten des Abgeordneten selbst darf... zum Anlaß einer anderweitigen Ausschußbesetzung gemacht werden." 59 Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 27, fordert daher auch mit der Begründung, der Fraktionsausschluß berühre Statusrechte, die vom Grundgesetz verliehen sind, dieser müsse bestimmten Anforderungen unterworfen werden und könne nicht im rechtlich nicht weiter begrenzten Belieben der Fraktion stehen.

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disziplin und Fraktionszwang sei im Einzelfall schwierig und beides lasse sich kaum auseinanderhalten60, erfolgreich entgegentreten.

e) Die Anforderungen an die Fraktionsgeschäftsordnungen

Das Verbot verbindlicher Aufträge und Weisungen bildet für die Fraktionen aber nicht nur eine Grenze, die sie im Hinblick auf den Einigungsdruck nicht überschreiten dürfen. Auch hier gilt, daß es aus der Perspektive des Abgeordneten keinen Unterschied macht, ob ihm inhaltlich ein bestimmtes Verhalten vorgeschrieben wird, oder ob ihm gar nicht die verfahrensmäßigen Möglichkeiten offen stehen, sein Mandat in einem nicht mit der Fraktionsauffassung übereinstimmenden Sinn auszuüben. Auch an das Verfahren in den Fraktionen, vor allem an die Fraktionsgeschäftsordnungen, sind daher bestimmte Anforderungen zu stellen61 . Die Fraktionssatzungen sind zur Gewährleistung eines geordneten innerfraktionellen Willensbildungsprozesses ebenso erforderlich, wie es die Geschäftsordnung des Bundestages für das Gesamtparlament ist62 . Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müssen sie schon ihrer Natur nach den Anspruch erheben, die Angehörigen der Fraktion an bestimmte Verhaltensweisen zu binden. Anders als bei der inhaltlich-politischen Einflußnahme der Fraktion kann die Mißbrauchsgrenze daher nicht so gezogen werden, daß schon alle Verhaltensanforderungen der Fraktion unzulässig sind, die den Abgeordneten binden wollen63 • Hier muß es stattdessen auf den Inhalt der Regelungen ankommen. Die Fraktionsgeschäftsordnungen dürfen keine Vorschriften enthalten, die auf verfahrensmäßigem Wege dazu führen, daß sich der Abgeordnete nicht anders verhalten kann, als seine Fraktion es wünscht. Konkret heißt das, daß 60 Trachternach, DVBI. 1975, 85, 88; Sendler, NJW 1985, 1425, 1427; H.-P. Schneider, HdbVerfR, S. 239, 257. C. Müller, Das freie und das imperative Mandat, S. 11, hält die Unterscheidung darüber hinaus auch theoretisch für höchst problematisch. 61 Stern, Staatsrecht Band I, § 23 I 2 f; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 68. 62 BezeichnendeIWeise hat sich daher auch die Fraktion DIE GRÜNEN, die in der 10. Wahlperiode des Bundestages noch auf eine Fraktionsgeschäftsordnung verzichten zu können glaubte, in der 11. Wahlperiode eine solche gegeben. 63 Allerdings gilt auch hier, daß die Fraktionsgeschäftsordnungen in rechtlicher Hinsicht insofern keine Bindungswirkung entfalten, als es für die Zu:ässigkeit der Wahrnehmung parlamentarischer Befugnisse, die dem Abgeordneten nach der Geschäftsordnung des Bundestages zustehen, unerheblich ist, ob er sich dabei an die Bestimmungen seiner Fraktionsgeschäftsordnung gehalten hat.

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die Ausübung von parlamentarischen Befugnissen, die dem einzelnen Abgeordneten nach der Geschäftsordnung des Parlaments zustehen, ihm nicht wieder durch die Geschäftsordnung seiner Fraktion aus der Hand geschlagen werden darfli4. Berechtigt also Anlage 4 der GOBT jedes Mitglied des Bundestages, für die Fragestunden einer Sitzungswoche bis zu zwei Fragen zur mündlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten, dürfte die Fraktionsgeschäftsordnung dies nicht davon abhängig machen, daß die Fraktion diesen Fragen zustimmt. Das gleiche gilt für Rechte, die nach der GOBT neben Fraktionen auch von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages wahrgenommen werden können, etwa die Möglichkeit, nach § 76 GOBT Vorlagen einzubringen. Hier könnten die Fraktionsgeschäftsordnungen nicht bestimmen, daß Anträge, die einzelne Abgeordnete unabhängig von der Fraktion unterstützen wollen, zuvor von dieser genehmigt werden müssen 65 . Die Geschäftsordnungen der Bundestagsfraktionen66 enthalten so weitreichende Beschränkungen der Abgeordneten auch nicht 67 . Es sind aber Regelungen vorhanden, welche die Wahrnehmung parlamentarischer Kompetenzen an vorherige Informationspflichten gegenüber der Fraktion binden. Dies gilt zum einen für die Absicht, abweichend von der Fraktion abzustimmen. Nach § 16 Abs. 1 Satz 3 Arbeitsordnung CDU /CSU-Fraktion sind die Mitglieder verpflichtet, in wichtigen Fragen ihre von der Fraktionsmehrheit abweichende Abstimmungsabsicht dem Vorsitzenden oder der Fraktionsversammlung mitzuteilen. Der Beschluß zum Selbstverständnis der SPDFraktion vom 23. 6. 1981, der der Fraktionsgeschäftsordnung als Anlage bei64 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 199 f., mit der zutreffenden Bemerkung, daß der Abgeordnete auch nicht freiwillig durch Unterwerfung unter die Fraktionsgeschäftsordnung auf die Ausübung von Kompetenzen verzichten kann, weil dies einer unzulässigen Abmachung über die Ausübung des Mandats gleichkomme. Vergl. in diesem Zusammenhang § 6 Abs. 3 GO Bayern: "Die Fraktionen regeln ihre Angelegenheiten ... durch Satzungen, die den Grundsätzen dieser Geschäftsordnung, des Fraktionsgesetzes und der Verfassung nicht widersprechen dürfen." Entsprechend § 12 Abs. 5 GO Sachsen. 65 Ebenso H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 36: Die Fraktionssatzungen dürfen die Möglichkeit der Antragsunterstützung nicht auf die Fraktionsmitglieder beschränken oder von einem Fraktionsbeschluß abhängig machen; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 68; Schäfer, Bundestag, S. 147. 66 Diese sind als Anhang abgedruckt bei Ritzel/Bücker, Handbuch für die parlamentarische Praxis. 67 Im übrigen ist die Praxis in den verschiedenen Fraktionen annähernd gleich, auch wenn die jeweilige Geschäftsordnung keine entsprechende Bestimmung enthält. Ausführungen, die hier anhand spezieller Vorschriften einzelner Fraktionen gemacht werden, gelten daher in gleicher Weise auch für die übrigen Fraktionen.

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gefügt ist, statuiert, daß die Absicht, abweichend von den Beschlüssen der Fraktion zu stimmen, der Fraktion spätestens in der der Abstimmung vorangehenden Fraktionssitzung mitzuteilen ist. Eine entsprechende Pflicht zur Information ist auch für die Unterstützung von Initiativen außerhalb der Fraktion vorgesehen. Gemäß § 6 Abs. 2 Fraktionsgeschäftsordnung SPD-Fraktion sind Initiativen einzelner Fraktionsmitglieder, die nicht von der Fraktion eingebracht werden sollen, vor Einbringung dem Fraktionsvorstand über den zuständigen Arbeitskreis vorzulegen. Lehnt der Vorstand eine Vorlage ab, muß auf Verlangen der Einbringer der Fraktion hiervon Mitteilung gemacht werden. Für Initiativen, die von Mitgliedern verschiedener Fraktionen oder von anderen Fraktionen ausgehen, gilt dies nach § 7 sinngemäß. Im Selbstverständnisbeschluß heißt es dazu, die Einbringung von mit der Fraktion nicht abgestimmten Anträgen im Plenum widerspreche der Fraktionssolidarität. Eine Pflicht, den Fraktionsvorstand zu unterrichten, sieht auch § 12 Abs. 3 Fraktionsgeschäftsordnung FDP-Fraktion vor. Weiterhin sind nach § 19 Abs. 3 Arbeitsordnung CDU jCSU-Fraktion Anfragen gemäß Anlage 4 GOBT (also die Einzelfragen, die Abgeordnete zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung richten) über den Parlamentarischen Geschäftsführer einzureichen. Eine inhaltlich gleiche Bestimmung trifft § 6 Abs. 3 Fraktionsgeschäftsordnung SPD-Fraktion. Schließlich sind in diesem Zusammenhang auch Bestimmungen der Fraktionsgeschäftsordnung der SPD-Fraktion über die Ausübung des Rederechts anzuführen. Nach § 27 Abs. 1 Satz 3 GOBT haben sich Mitglieder des Bundestages, die zur Sache sprechen wollen, in der Regel bei dem Schriftführer, der die Rednerliste führt, zum Wort zu melden. § 3 Fraktionsgeschäftsordnung SPD-Fraktion hält demgegenüber - in Übereinstimmung mit der Praxis in den anderen Fraktionen - dar an fest, daß die Fraktion die Redner bestimmt, die die Fraktion im Plenum zu vertreten haben. § 4 verweist den Abgeordneten, der in eine Plenardebatte eingreifen will, darauf, sich darüber mit dem zuständigen Obmann und dem Parlamentarischen Geschäftsführer zu verständigen. Der Selbstverständnisbeschluß von 1981 ist noch strikter gefaßt, indem er ausführt, Redebeiträge, die über die von der Fraktion bestimmten hinausgehen, müßten auf begründete Ausnahmen beschränkt bleiben. Sie sind der Fraktion rechtzeitig mitzuteilen und mit dem Fraktionsvorstand zu besprechen. Die Informationspflicht wird auch er-

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streckt auf die Absicht, im Plenum eine Erklärung (im Sinne der §§ 31, 32 GOBT) abzugeben. Derartige Bestimmungen der Fraktionsgeschäftsordnungen sind auf Kritik gestoßen68 , soweit sie dazu dienen, den Fraktionen Informationen über das beabsichtigte Verhalten ihrer Mitglieder zu verschaffen, ist gegen sie aus verfassungsrechtlicher Sicht jedoch nichts einzuwenden69 . Das Bedürfnis nach vorheriger Unterrichtung gerade über ein Verhalten, das von der Auffassung der Fraktion abweicht, ist legitim und versetzt die Fraktion erst in die Lage, mit dem Abgeordneten zu diskutieren70 . Wegen der erörterten grundsätzlichen Zulässigkeit der Einflußnahme auf den Abgeordneten seitens seiner Fraktion ist auch unbedenklich, daß der Abgeordnete teilweise noch weitergehend darauf verpflichtet wird, über seine Absicht eine Auseinandersetzung mit der Fraktionsspitze zu führen. Unzulässig wäre nur, die Bestimmungen in der Praxis so zu handhaben, daß im Ergebnis das abweichende Verhalten des Abgeordneten unterbunden wird. So kann sich der Fraktionsvorstand oder die Fraktionsversammlung zwar gegen die Unterstützung eines interfraktionellen Antrags aussprechen, verhindern kann die Fraktion ihn nicht. Jeder Abgeordnete muß dann vielmehr in eigener Verantwortung prüfen, ob er gleichwohl an dem Vorhaben fest halten wilFl. Das Einreichen von Fragen über den Parlamentarischen Geschäftsführer ist zur Koordinierung der Fragen unbedenklich, darf aber nicht zu deren Zensur führen. Der Geschäftsführer ist verpflichtet, wie § 19 Abs. 3 Satz 2 Arbeitsordnung CDU/CSU-Fraktion auch ausdrücklich vorschreibt, sie rechtzeitig an das Parlamentssekretariat weiterzuleiten, sofern der Abgeordnete die Frage nicht zurückzieht1 2 •

68 Hamm-Brücher, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 22, Rdnr. 76 f. 69 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 201; Schönberger, Die Rechtsstellung der Parlamentsfraktionen, 1990, S. 58. 70 Die Fraktionsführung muß auch wissen, ob sie bei bevorstehenden Abstimmungen im Bundestag mit der Unterstützung der ganzen Fraktion rechnen kann, um ihr weiteres Vorgehen (etwa die Frage der Absetzung von der Tagesordnung) überdenken zu können. Vergl. dazu Schäfer, Bundestag, S. 151. 71 C. Amdt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 49. 72 C. C. Schweitzer, Der Abgeordnete im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik, 1979, S. 81 ff., berichtet aus der Praxis, daß verschiedene Fragen vom zuständigen Parlamentarischen Geschäftsführer seiner Fraktion nicht weitergeleitet worden seien. Auch Hamm-Brücher, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 22, Rdnr. 47, spricht davon, daß die mündlichen und schriftlichen Anfragen durch die doppelte "Zensur" der Fraktionsführung und der Bundestagsverwaltung gingen.

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Generell bedenklich erscheint allein die Formulierung des Selbstverständnisbeschlusses der SPD-Fraktion, Redebeiträge, die nicht die Auffassung der Fraktion wiedergeben, müßten auf sachlich begründete Ausnahmefälle beschränkt bleiben. Da § 27 Abs. 1 Satz 2 GOBT jedem Abgeordneten das Recht einräumt, sich zu Wort zu melden, ist die Fraktion nicht befugt, dies einzuschränken. Wünscht also ein Abgeordneter im Plenum eine abweichende Meinung vorzutragen, so ist es zulässig, daß sich die Fraktion darüber vorab informieren läßt. Sie kann dann auch versuchen, ihn davon abzuhalten. Bleibt er aber bei seinem Standpunkt, kann sie den Redebeitrag nicht verhindern. Werden die Redner, wie es der Praxis in allen Bundestagsfraktionen entspricht73, von den Parlamentarischen Geschäftsführern an den die Rednerliste führenden Schriftführer gemeldet, so übernehmen diese damit die Verpflichtung, jeden Abgeordneten der Fraktion, der das Wort ergreifen will und sich deshalb an den Geschäftsführer wendet, zu melden, damit der Präsident über die Wortmeldung befinden kann. Der Geschäftsführer hat also nicht die Befugnis, die Meldung eines Abgeordneten, der sprechen will, zu verweigern. Die Verpflichtung der Fraktion geht jedoch nicht soweit, daß sie sich diesen Redebeitrag auch in jedem Fall anrechnen lassen müßte auf den auf sie entfallenden Anteil an der Gesamtredezeit, was eine Verkürzung der Redemöglichkeiten von Abgeordneten bedeuten würde, die den Fraktionsstandpunkt darlegen sollen. Der Präsident kann, zumindest wenn er die Zustimmung des Parlaments eingeholt hat, eine Worterteilung auch außerhalb der festgesetzten Redezeit vornehmen. In der Praxis ist von dieser Möglichkeit auch schon Gebrauch gemacht worden74 • Das prinzipielle Recht des Abgeordneten, gemeldet zu werden, bleibt daher auch dann sinnvoll, wenn die Fraktion nicht bereit ist, dafür von der ihren Abgeordneten zugeteilten Redezeit zur Verfügung zu stellen. 73 "Der Weg zum Rednerpult führt über die Fraktionsgeschäftsführer." formuliert P. Scholz, ZPar11981, 273, 274, treffend. 74 Besonders spektakulär war die Worterteilung an die SPD-Abgeordneten Schöfberger und Duve in der Aussprache über den Verteidigungshaushalt vom 3. Juni 1981 (9. Wahlperiode, 41. Sitzung) durch den amtierenden Präsidenten Frau Renger. Die beiden Abgeordneten wollten eine von der Fraktion abweichende Auffassung vortragen und die Argumente der Friedensbewegung in die Debatte einbringen. Sie waren von ihrer Fraktion nicht gemeldet worden und meldeten sich deshalb unmittelbar beim Präsidenten zum Wort. Diese Vorgänge bildeten den Anlaß für den Beschluß der SPD-Fraktion zum Selbstverständnis der Fraktion vom 23. Juni 1981.

§ 4: An Aufträge und Weisungen nicht gebunden

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Als Ergebnis kann somit festgestellt werden, daß die in den Fraktionsgeschäftsordnungen getroffenen Regelungen grundsätzlich keinen Anlaß zu Bedenken bieten, soweit sie dazu dienen, der Fraktion ein Einwirken auf den Abgeordneten im Rahmen erlauber Fraktionsdisziplin zu ermöglichen. Allenfalls kann sich ihre Anwendung im Einzelfall als mißbräuchlich erweisen, falls sie eingesetzt werden, um vom Fraktionskurs abweichendes Verhalten des Abgeordneten zu verhindern und somit Fraktionszwang auszuüben. Dem Bundestag selbst hingegen ist es wegen seiner Pflicht, in Konflikte zwischen Abgeordneten und Fraktion nicht zugunsten der Fraktion einzugreifen, nicht gestattet, auf der Einhaltung dieser Fraktionsgeschäftsordnungen zu bestehen und sie damit durchsetzen zu helfen. Die Bundestagsverwaltung darf daher Fragen zur Fragestunde nicht deshalb zurückweisen, weil sie nicht von einem Fraktionsgeschäftsführer abgezeichnet sind. Sie darf dem Abgeordneten nicht einmal nahelegen, sich das Handzeichen eines Fraktionsgeschäftsführers zu beschaffen75 . Auch muß der Präsident über die Worterteilung an einen Abgeordneten, der sich selbst an den Schriftführer wendet, wie es § 27 GOBT entspricht, in gleicher Weise befinden wie über die von der Fraktion gemeldeten Redner 76 .

75 C. Amdt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 51. 76 BVerfGE 10, 4, 15.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

§ 5: Und nur ihrem Gewissen untenvorfen 1. Der GewissensbegrifT des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Inwieweit die ausschließliche Gewissensunterworfenheit für das Verhältnis des Abgeordneten zu seiner Fraktion Wirkung entfalten kann, hängt in erster Linie davon ab, wie man den Begriff des Gewissens definiert. Das Grundgesetz verwendet den Ausdruck noch an anderer Stelle, beim Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) und dem Recht auf Kriegsdienstverweigerung (Art. 4 Abs. 3 GG). Hieran knüpft die Regelung des Ersatzdienstes in Art. 12 a Abs. 2 GG an, wo von "Gewissensgründen" und der "Gewissensentscheidung" die Rede ist. Unstreitig ist der Gewissensbegriff in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 3 GG identisch'. Das BVerfG bezeichnet dabei als Gewissensentscheidung jede ernste sittliche d. h. an den Kategorien von "Gut" und "Böse" orientierte Entscheidung, die der Einzelne in einer bestimmten Situation als für sich bindend und unbedingt verpflichtend innerlich erfährt, so daß er gegen sie nicht ohne ernste Gewissensnot handeln könnte 2 • Sollte Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG der gleiche Gewissensbegriff zugrundeliegen, könnte diese Klausel nur einen sehr begrenzten Anwendungsbereich haben. Sie würde sich dann nur auf die Materien beziehen, bei denen sich der Abgeordnete gezwungen sieht, seinen ethisch-moralischen Vorstellungen zu folgen, um eine Entscheidung zu fällen, die er vor sich selbst verantworten kann. Dies wird nur in seltenen Ausnahmesituationen der Fall sein, die weitaus meisten Entscheidungen, die das Parlament zu treffen hat, sind eher pragmatischer Natur und erreichen diese hohe sittliche Schwelle nicht. Soll die Gewissensunterworfenheit also für die gesamte Mandatsausübung Bedeutung haben, muß ein anderer, weiterer Gewissensbegriff maßgeblich sein. Eine verbreitete Meinung geht jedoch von einem einheitlichen Sprachgebrauch des Grundgesetzes aus und nimmt für die Gewissensunterworfenheit in Art. 38 GG ausdrücklich Bezug auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit 3 • Andere Autoren verweisen zwar nicht unmittelbar auf Art. 4 GG, ma1 Pieroth/Schlink, Grundrechte, 8. A, 1992, Rdnr. 596. 2 BVerfGE 12,45,55. 3 von Münch in: ders. (IIrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 23; Jarass/Pieroth, GG, Art. 38, Rdnr. 26; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 30; Sondervotum Hirsch zu BVerfGE 48,127,195 f.

§ 5: Und nur ihrem Gewissen unterworfen

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chen aber deutlich, daß auch sie das Gewissen als moralische Instanz verstehen, auf das sich der Abgeordnete nur ausnahmsweise für ein von der Fraktion abweichendes Verhalten berufen können so1l4. Auch Abgeordnete vertreten häufig die Meinung, die Gewissensunterworfenheit in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG beziehe sich auf Sachverhalte, die sittlich-ethische Grundfragen berühren5 • Als Beispiel könnte man an die Abstimmung zu § 218 StGB denken. Die Fraktionen selbst verstärken diesen Eindruck noch, indem sie in derartigen Fragen bisweilen die Abstimmung ausdrücklich freigeben. Beschränkt man die Relevanz des Gewissens auf diese Ausnahmen, bereitet es keine Schwierigkeiten, die regelmäßig geübte Fraktionsdisziplin auch dann mit der ausschließlichen Gewissensunterworfenheit zu vereinbaren, wenn der Abgeordnete dabei seine eigene Auffassung zurückstellt und die Mehrheitsmeinung in der Fraktion übernimmt. Ist Gewissen als persönliche Überzeugung zu verstehen, und erstreckt sich die Gewissensunterworfenheit damit auf die Gesamtheit des parlamentarischen Verhaltens, könnte selbst ein freiwilliges Nachgeben gegenüber der Fraktion bedenklich erscheinen. Tatsächlich ist das Gewissen in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG anders zu definieren als in Art. 4 GG. Gemeint ist hier die politische Überzeugung des Abgeordneten, der er von der Verfassung für alle im Rahmen seiner Mandatsausübung zu treffenden Entscheidungen unterworfen wird6 • Dies ergibt sich schon aus dem Amtscharakter der Abgeordnetenstellung. Die Gleichsetzung des Gewissens mit dem des Art. 4 GG rückt Art. 38 GG hingegen zu sehr in die Nähe einer grundrechtlichen Berechtigung. Soll, wie es bei den speziellen Freiheitsrechten der Fall ist, ein bestimmter Lebensbereich besonders privilegiert und gegen Akte der öffentlichen Ge4 So meint Hesselberger, GG, Art. 38, Rdnr. 13, abweichendes Stimmverhalten solle auf extreme Ausnahmefälle beschränkt bleiben und als allerletztes Mittel verstanden werden; Dichgans, ZParl 1976, 127, 129, umschreibt Gewissenentscheidung als Entscheidung, welche die Grundlagen des moralischen Verhaltens berührt, eine Entscheidung vom Charakter:"Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gott helfe mir, Amen." 5 Bundestagspräsident Carstens (CDU/CSU), Sten.Ber. 8. WP./34. Sitzung/21.6.1977/ 2517. 6 Der Unterschied ist schon von Bäumlin in seinem Schlußwort auf der Staatsrechtslehrertagung 1969 gesehen worden, vergl. WDStRL 28 (1970), 146 f. Seither findet diese weite Bestimmung des Gewissensbegriffs zunehmend Anhänger: In diesem Sinne etwa Troßmann JÖR N.F. 28 (1979), 1, 95 f.; R Hofmann, Zfp 1978, 32, 49 f.; von Mangoldt/K1ein/Starck, GG, Band 1, 3. A, 1985, Art. 4, Rdnr. 35; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 53; H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 3; Hohm, N.JW 1985, 408, 410; Hagelstein, Rechtsstellung , S. 137; BVerfGE 40,296,336 (Sondervotum Seuffert).

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

walt gesichert werden, besteht die Notwendigkeit, den Schutzbereich des Grundrechts abzugrenzen gegenüber sonstigen Verhaltensweisen. Der enge Gewissensbegriff des Art. 4 GG entspricht daher dessen Funktion, lediglich einen Ausschnitt aus der Gesamtheit menschlichen Verhaltens dem besonderen Schutz durch die Verfassung zu unterstellen. Der Abgeordnete ist hingegen als solcher stets Amtsträger, seine daraus resultierenden Pflichten gelten für die Mandatsausübung in ihrem ganzen Umfang. Art. 38 GG hat deshalb nicht die Aufgabe, einen Teilbereich des Verhaltens als besonders schützenswert herauszunehmen, sondern soll seine PflichtensteIlung umfassend umschreiben. Gewissen ist hier somit nicht als sittlich-moralisches Bewußtsein des Einzelnen zu verstehen, sondern als Amtsgewissen, der Abgeordnete soll zu gewissenhafter Amtsführung verpflichtet werden. Da Inhalt der Amtsstellung der Dienst am Gemeinwohl ist, meint Gewissen im vorliegenden Zusammenhang die persönliche Überzeugung des Abgeordneten davon, was dem Gemeinwohl nützt? Die Tatsache, daß es um die Überzeugung des Abgeordneten geht, läßt sich auch historisch belegen. Die Formulierung, der Abgeordnete sei nur seinem Gewissen unterworfen, ist nämlich relativ neuen Datums, sie findet sich erstmals im Art. 21 WRV. Ältere Fassungen des freien Mandats hatten, sofern sie neben der Weisungsfreiheit und der Repräsentation des ganzen Volkes überhaupt eine entsprechende Klausel enthielten8, wie etwa Art. 83 der Preußischen Verfassung von 1850, normiert, daß die Abgeordneten nach ihrer freien Überzeugung stimmen. Den Materialien zur Entstehung der Weimarer Reichsverfassung läßt sich aber nicht entnehmen, daß die Erwähnung des Gewissens in Art. 21 der Vorschrift eine davon abweichende Bedeutung geben und eine ethische Kategorie einführen sollte. Die Klausel findet sich in den ersten Entwürfen der Nationalversammlung nicht, sie wird erst auf einen in der 22. Sitzung des Verfassungsausschusses vom 4.4.1919 gestellten Antrag des USPD-Abgeordneten Cohn aufgenommen. Cohn hatte seinen Abänderungsantrag damit begründet, die Sprache des Entwurfs kerniger zu gestalten, die Erfor7 In diesem Sinne spricht auch Hennis, FG Smend, 1962, S. 51, 63, beiläufig von der ohne feste Bindung an das "gemeine Wohl" unverständlichen Gewissensklausel. 8 So begnügte sich § 96 der Paulskirchenverfassung mit der Feststellung, die Mitglieder beider Häuser könnten durch Instruktionen nicht gebunden werden. Art. 29 der Verfassung des Kaiserreichs ordnete an, daß die Mitglieder des Reichstags Vertreter des gesamten Volkes und an Aufträge und Instruktionen nicht gebunden sind. In beiden Verfassungen fehlt also eine der Gewissensunterworfenheit korrespondierende Klausel.

§ 5: Und nur ihrem Gewissen untelWorfen

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dernisse eines kräftigen, volkstümlichen Sprache mit juristischer Begriffsschärfe zu verbinden. Es ging also um eine stilistische Änderung, nicht um die Schaffung eines neuen Bedeutungsgehalts für das parlamentarische Mandat9 • Der Bezug auf die freie, nur durch die Rücksicht auf das Volkswohl bestimmte Überzeugung hat sich bis heute in Art. 31 Abs. 2 der nordrhein-westfälischen Landesverfassung erhalten lO • Der Begriff des Gewissens taucht allerdings bereits in früheren deutschen Verfassungen auf, nämlich bei der Eidesleistung des Abgeordneten, wie sie die Verfassungen des Frühkonstitutionalismus vorsahen. So verpflichtete sich der Abgeordnete nach § 82 der Verfassung des Königreichs Sachsen von 1831, das Wohl des Königs und des Vaterlandes nach seinem besten Wissen und Gewissen bei seinen Anträgen und Abstimmungen allenthalben zu beobachten. Andere Eidesformeln aus dieser Zeit verpflichten den Abgeordneten zu einem Verhalten "nach seiner inneren Überzeugung" (Titel VII § 25 Verfassung des Königreichs Bayern 1818, § 69 Verfassung des Großherzogturns Baden 1818) oder "nach seiner eigenen Überzeugung" (§163 Verfassung des Königreichs Württemberg 1819, § 74 Verfassung des Kurfürstentums Hessen 1831). Schon in diesen frühen Verfassungen werden also Gewissen und Überzeugung ohne erkennbaren Bedeutungsunterschied verwendet, und zwar, wie gerade der Abgeordneteneid als besonders markantes Merkmal der PflichtensteIlung verdeutlicht, im Sinne einer umfassenden persönlichen Verantwortung. Die Weimarer Reichsverfassung, die selbst keinen Abgeordneteneid mehr kannte, knüpfte mit der Erwähnung des Gewissens bei der Garantie des freien Mandats in Art. 21 (und ihm folgend Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) an diese verfassungsrechtliche Tradition an 11 • Den Eid für Abgeordnete gibt es unter der Geltung des Grundgesetzes nur noch auf geschäftsordnungsrechtlicher Ebene, so in Nordrhein-Westfalen, Brandenburg und Sachsen, wo die Abgeordneten auf ihr bestes Wissen und Können verpflichtet werden, und in Schleswig-Holstein und Mecklen9 Zitiert nach Heyen, Der Staat 25 (1986), 35, 43 f. 10 Der im Zwischenbericht der Enquete-Kommission Verfassungsreform von Sandtner gemachte Vorschlag (S. 115 f.), den Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dahingehend zu ergänzen, daß die Abgeordneten ihrem Gewissen und Urteil untelWorfen seien, ging, wie sich aus der Begründung ergibt, davon aus, daß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bereits jetzt nicht nur für die schweren seltenen Entscheidungen, die die ganze Person des Abgeordneten und sein Gewissen in Mitleidenschaft ziehen, sondern auch für die tägliche Routinepraxis gilt. Dies sollte durch die ElWeiterung des Wortlauts lediglich klargestellt werden. 11 Steffani, ZPar11976, 86, 100; Heyen, Der Staat 25 (1986), 35, 44.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

burg-Vorpommern, wo sie ihre Pflichten gewissenhaft zu erfüllen haben l2 • Das Grundgesetz selbst aber läßt in Art. 56 den Bundespräsidenten schwören, seine Pflichten gewissenhaft zu erfüllen, nach Art. 64 Abs. 2 GG leisten der Bundeskanzler und die Bundesminister denselben Eid. Sehr viel näher als die Gleichsetzung mit dem Gewissen des Art. 4 GG liegt somit eine Anlehnung an den Bedeutungsgehalt in diesen gleichfalls für Amtsträger geltenden Bestimmungen. Schließlich läßt sich auch aus der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes ersehen, daß der Abgeordneten seiner persönlichen Überzeugung stets folgen soll, nicht nur in wenigen Ausnahmesituationen der Stimme seines Gewissens. In der 1. Sitzung des Hauptausschusses vom 11.11.1948 wurde nämlich auf Antrag des Abgeordneten Süsterhenn (CDU) folgende Fassung angenommen 13 : "Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes. Jeder Abgeordnete folgt bei Reden, Handlungen, Abstimmungen und Wahlen seiner Überzeugung und seinem Gewissen." Diese Fassung, die dem Art. 121 der Südbadischen Verfassung entspricht, stellte zum einen Gewissen und Überzeugung nebeneinander und machte außerdem deutlich, daß nicht nur einige wenige Abstimmungen, sondern der Inbegriff parlamentarischen Verhaltens erfaßt werden sollte. Der Allgemeine Redaktionsausschuß schlug am 16.12.1948 allerdings eine Rückkehr zur konventionellen Fassung vor. Begründet wurde dies damit, daß die andere Formulierung sprachlich unschön sei und das Recht des Abgeordneten auf freie Entscheidung nicht ausreichend zum Ausdruck komme. Am 7.1.1949 nahm der Hauptausschuß in seiner 32. Sitzung diesen Vorschlag an, wobei der Abgeordnete Katz (SPD) zur Begründung ausführte l4 : "Wir halten die textliche Fassung des Redaktionsausschusses für besser. Sie ist sachlich das gleiche, aber sie klingt besser." Beide Merkmale der sogenannten Langfassung, die Erstreckung auf die ganze Bandbreite parlamentarischen Verhaltens und die Ausrichtung an der eigenen Überzeugung, sollten somit nicht aufgegeben werden, sie sind vielmehr nach dem Willen des Parlamentarischen Rates Inhalt des geltenden Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geworden. Die damals kurzzeitig angenommene Formulierung aber findet sich (insoweit deklaratorisch) auf Betreiben der Über fraktion ellen Initiative Parlamentsreform seit dem 10.12.1986 in § 13 Abs. 1 GOBT. 12 §§ 2 Abs. 1 GO Nordrhein-Westfalen, 2 Abs. 1 GO Brandenburg, 3 Abs. 3 GO Sachsen, 2 Abs. 2 GO Schleswig-Holstein, 2 Abs. 2 GO Mecklenburg-Vorpommern. 13 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 11. 14 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 390.

§ 5: Und nur ihrem Gewissen untelWorfen

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2. Die Gewissensuntenvorfenheit als Richtschnur parlamentarischen Verhaltens Aus dem Amtsgedanken wird deutlich, daß die Gewissensbindung den Abgeordneten rechtlich verpflichtet, seiner eigene Überzeugung vom Gemeinwohl zu folgen. Ebenso wie die beiden anderen Elemente ihm rechtliche Pflichten auferlegen, die Interessen des ganzen Volkes zu vertreten und sich dabei nicht durch Aufträge und Weisungen binden zu lassen, wird auch hier eine Rechtspflicht statuiert, die insofern über die beiden anderen hinausgeht, als sie den Mandatsinhaber zur Bestimmung der Interessen des ganzen Volkes eine persönliche Entscheidung abverlangt. In der Literatur findet sich häufig die Formulierung, der Ton der Klausel liege nicht auf der Unterworfenheit unter das Gewissen, sondern auf der Ausschließlichkeit dieser Unterwerfung ("nur")15. Dies ist auch insofern zutreffend, als die Klausel jede Art von Fremdbestimmung ausschließen will und somit die Entsprechung zu der Aussage darstellt, daß der Abgeordnete an Aufträge und Weisungen nicht gebunden ist. Die Betonung der Ausschließlichkeit verdeutlicht, daß der Abgeordnete eine eigenverantwortliche Entscheidung treffen soll, in diesem Sinne wird sie von den Autoren, die den Akzent hierauf legen wollen, auch verstanden l6 . Soweit jedoch geltend gemacht wird, der Aussagewert der Formel erschöpfe sich darin, Gegenbegriff zur Weisungsfreiheit zu sein l7 , würde dies aber ihren Inhalt verkürzen. Auch wenn keine Aufträge und Weisungen vorliegen, ist die Mandatsausübung nicht dem freien persönlichen Belieben des Abgeordneten überlassen, er wird vielmehr positiv darauf festgelegt, bei seinen Entscheidungen immer der eigenen Überzeugung vom Gemeinwohl zu folgen. Gerade darin, daß der Abgeordnete auch außerhalb jeden Zwangs zu einer eigenverantwortlichen Definition des Gemeinwohls verpflichtet ist, liegt der selbständige Gehalt des dritten Elements von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG. Im Wortlaut kommt dies dadurch zum Ausdruck, daß der Abgeordnete seinem Gewissen "unterworfen" wird l8 • Eine negative Komponente ("nur") und eine positive 15 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 50; von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 23; H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 30. 16 So etwa ausdrücklich H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 30. 17 Eine solche Interpretation des Art. 38 GG wird vor allem bei von Mangoldt/K1ein/ Starck, GG, Art. 4, Rdnr. 35, gegeben. 18 StGB Bremen, StGBE 1,34,37 f., dort auch zutreffende Ausführungen darüber, daß es unerzwingbare Rechtspflichten gibt, weshalb der Umstand, daß rechtlicher Zwang zur Befolgung des Gewissens wegen dessen mangelnder Erkennbarkeit für Außenstehende nicht in Be-

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("unterworfen") stehen sich also gleichberechtigt gegenüber. Selbst wenn seine Fraktion noch im Rahmen zulässiger Fraktionsdisziplin, also ohne Androhung von Sanktionen für den Fall abweichenden Verhaltens, Druck auf ihn ausübt, kann der Abgeordnete dem nicht ohne weiteres nachkommen, sondern darf dies nur tun, wenn der Fraktionskurs mit seiner persönlichen Auffassung von Gemeinwohl übereinstimmt l9 • Man würde den Gehalt der Gewissensunterworfenheit völlig verfehlen, wenn man lediglich konzedierte, der Abgeordnete verhalte sich nicht verfassungswidrig, wenn er seinem Gewissen folge 20, er handelt umgekehrt nur dann im Einklang mit der Verfassung, wenn er sich nach seinem Gewissen, verstanden als eigener Überzeugung, richtet. Dieser Deutung entspricht auch die Diskussion im Parlamentarischen Rat. Der erwähnte Antrag von Süsterhenn, der zunächst angenommen wurde, war auch damit begründet worden, daß er die persönliche Gewissensentscheidung schärfer herausstelle als die klassische Formulierung. Dies sei dann wenigstens eine Mahnung an die Abgeordneten, sich nach ihrer persönlichen Entscheidung zu orientieren21 • Da mit der späteren Abkehr von dieser sprachlichen Fassung keine inhaltliche Änderung verbunden sein sollte, muß dem Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auch heute noch der Appell zu einer persönlichen Entscheidung entnommen werden. Die hiergegen vorgebrachten Bedenken, es könne nicht darum gehen, gerade dem Abgeordneten moralische Gebote einzuschärfen22 , und man könne ihm nicht zumuten, sich permanent an ethischen Maßstäben zu orientieren23 , wären nur stichhaltig, wenn der enge Gewissensbegriff des Art. 4 GG zum Tragen käme. Versteht man Gewissen aber zutreffenderweise als persönliche Überzeugung, besteht kein Grund, den Abgeordneten nicht für seine ganze Amtsführung daran festzuhalten.

tracht kommt, nicht dazu führen muß, die GewissensunteIWorfenheit als nur moralisch, nicht aber rechtlich bindend anzusehen. 19 Dies meint wohl auch Achterberg, Parlamentsrecht, S. 218 f., wenn er ausführt, die von der herrschenden Meinung für zulässig erachtete Fraktionsdisziplin sei rechtlich ebensowenig erlaubt wie der Fraktionszwang. Der Abgeordnete dürfe einem Mehrheitsbeschluß seiner Fraktion nur dann entsprechen, wenn er mit seinem Gewissen übereinstimmt. Achterberg übersieht hierbei allerdings die Möglichkeit, daß sich das Gewissen, verstanden als persönliche Überzeugung vom Gemeinwohl, gerade durch den Mehrheitsbeschluß wandeln kann. 20 So aber Hesselberger, GG, Art. 38, Rdnr. 13. 21 Parlamentarischer Rat, Verhandlungen des Hauptausschusses, S. 11. 22 Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 50. 23 H.-P. Schneider in: Altemativkommentar, Art. 38, Rdnr. 30.

§ 5: Und nur ihrem Gewissen unterworfen

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3. Die Subjektivierung der Entscheidung a) Die UnüberplÜfbarkeit nach objektiven Kriterien

Die Ablehnung eines moralisch-ethischen Gewissensbegriffs für Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG schließt es auch aus, das Verhalten des Abgeordneten an allgemein anerkannten sittlichen Grundsätzen zu messen 24 • Wird der Abgeordnete auf seine persönliche Überzeugung vom Gemeinwohl verwiesen, so ist es nicht möglich, seine Entscheidung zu objektivieren. Weil schon das Gemeinwohl nicht als vorgegebene Größe feststeht, lassen sich objektive Beurteilungkriterien insoweit gar nicht aufstellen. Häufig ist ja auch gerade politisch umstritten, was das Wohl der Allgemeinheit in einer bestimmten Situation erfordert. Aufgabe des Abgeordneten ist es, stets den Dialog mit den Repräsentierten zu führen. Aus der Berücksichtigung des Materials, das so an ihn herangetragen wird, und der anderen Belange, die er auch als relevant beurteilt, soll er dann nach bestem Wissen und Gewissen eine eigene Überzeugung davon bilden, was er für das Gemeinwohl hält. Diese notwendig subjektive Entscheidung, die neben seiner politischen Grundeinstellung auch von seiner Herkunft, seinem sozialen Umfeld und weiteren in seiner Person liegenden Bedingungen beeinflußt wird, soll er dann in parlamentarisches Handeln umsetzen. Die Verfassung verlangt also gerade eine persönliche Entscheidung von ihm, damit läßt es sich nicht vereinbaren, diese nach allgemein gültigen Maßstäben bewerten zu wollen. Der innere Meinungsbildungsprozeß ist somit nicht nur sittlicher, sondern auch rechtlicher Beurteilung weitestgehend entzogen. Die Rechtsordnung kann nur die äußersten Grenzen aufzeigen. So ist der Abgeordnete natürlich an die Verfassung sowie an Gesetz und Recht gebunden 25 . Auch unter Berufung auf sein Gewissen kann der Abgeordnete also nicht rechts- oder gar verfassungswidrige Ziele verfolgen. Ein derartiges Verhalten kann nicht dem Gemeinwohl dienen, dar an vermag auch die subjektive Vorstellung des einzelnen Mandatsinhabers nichts zu ändern. Nur ausnahmsweise kann daher die Gewissensentscheidung des Abgeordneten einmal objektiven Maßstäben unterzogen werden, bewegt er sich dagegen innerhalb des von der 24 Dies fordern Maunz in : Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 17, und Wiese, AöR 101 (1976),548,561. 25 Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 17; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S.54.

9 Demmler

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Rechtsordnung gesteckten Rahmens, ist er zwar auch rechtlich auf das Gemeinwohl verpflichtet, wie er dieser Pflicht inhaltlich nachkommt, ist aber allein seiner eigenen Entscheidung überlassen und daher nicht judizierbar. Lediglich Unterfälle des verfassungswidrigen Verhaltens sind die Konstellationen, wo der Abgeordnete entweder nur aus eigennützigen Motiven handelt26 oder aber überhaupt keine eigenverantwortliche Entscheidung trifft, sondern sich blind Aufträgen und Weisungen unterwirft. In bei den Fällen liegt ein Verstoß des Abgeordneten gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG vor. Die Feststellung eines solchen Verstoßes ist aber immer darauf angewiesen, daß der Abgeordnete selbst ihn einräumt. Aus diesem Grund kann auch von ihm verlangt werden, daß er die Überlegungen darlegt, auf die sich seine Überzeugung stützt, daß er seine Gewissensentscheidung also begründet27 . Wenn er dabei aber nicht selbst offenbart, daß er keine persönliche gemeinwohlorientierte Entscheidung getroffen hat, ist eine weitere Bewertung seiner Überzeugung untersagt, insbesondere können keine negativen Folgen für ihn daraus abgeleitet werden. Das Problem besteht also darin, daß der Nachweis verfassungswidrigen Verhaltens kaum zu erbringen ist, dies bedeutet aber nicht, daß der Abgeordnete bei der Auswahl seiner Motive in jeder Hinsicht frei wäre. Selbst wenn im Einzelfall ein Verstoß gegen Art. 38 GG festgestellt werden könnte, hätte dieser keine weiteren Rechtsfolgen. Unstreitig sind daher Parlamentsentscheidungen gültig, selbst wenn nachgewiesen werden könnte, daß Abgeordnete daran unter Fraktionszwang

26 Unzutreffend ist die Auffassung von Model/Müller, GG, Art. 38, Rdnr. 12, wonach auch die offenbar dem Gemeinwohl abträgliche, nur eigennützige Entscheidung des Abgeordneten zulässig sei. 27 AA. Dreher, NJW 1950, 661 , 663, der aus der Gewissensunterworfenheit folgert, daß es verboten sei, von dem Abgeordneten Rechenschaft darüber zu verlangen, wie seine Entschließung zustande gekommen ist. Ebenso Kasten, Ausschußorganisation, S. 86. Diese Haltung wird jedoch der Gewissensentscheidung als im wesentlichen pflichtenbestimmter Handlung eines Amtsträgers nicht hinreichend gerecht. Es geht nicht an, dem Abgeordneten mit der bloßen Berufung auf sein Gewissen eine Freistellung von jeder Darlegungspflicht zu gestatten. Die Subjektivität der Entscheidung fordert nur, daß keine Bewertung der Motive erfolgt, die in verfassungsrechtlich zulässiger Weise einbezogen werden konnten. Um aber feststellen zu können, ob sich der Abgeordnete nicht verfassungswidrig verhält, muß wenigstens verlangt werden können, daß er die Gründe nennt, die für seine Entscheidung maßgeblich waren. H.-P. Schneider in: Alternativkommentar, Art. 38, Rdnr. 30, und im Anschluß daran Jarass/Pieroth, GG, Art. 38, Rdnr. 26, folgern aus der Tatsache, daß der Art. 38 im Unterschied zu Art. 12 a Abs. 2 nicht von "Gewissensgründen" spricht, daß der Abgeordnete seine Entscheidung nicht zu begründen brauche. Diese Argumentation wäre aber nur stichhaltig, wenn der Gewissensbegriff des Art. 38 im übrigen mit dem in Art. 12 a Abs. 2 GG identisch wäre, wie diese Autoren auch annehmen. Tatsächlich ist das aber nicht der Fall.

§ 5: Und nur ihrem Gewissen unteIWorfen

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mitgewirkt hätten28 . Auch eine Mandatsaberkennung im Falle des Mißbrauchs etwa zu eigennützigen Zwecken ist für Bundestagsabgeordnete nicht vorgesehen. Auch hier bleiben nur die politischen Sanktionen, die insbesondere darin bestehen, daß der Abgeordnete bei der nächsten Wahl wohl nicht mehr aufgestellt wird.

b) Die Vereinbarkeit der Fraktionsdisziplin mit der Gewissensunterworfenheit Die weitgehende Subjektivierung der Entscheidung hat aber nicht nur die Konsequenz, daß diese kaum überprüft werden kann, sondern bedeutet für den einzelnen Abgeordneten selbst auch die Freiheit zu entscheiden, wie er die einzelnen Belange gewichtet, welche er in seine Willensbildung einstellt. Er kann sich dabei in geeigneten Fällen von seinem Gewissen als moralischer Instanz leiten lassen, wobei es auch nur seinem eigenen Urteil unterliegt, wann ein Fall vorliegt, der ihn eine solchen Orientierung an sittlichen Maßstäben angezeigt erscheinen läßt29 • Auch die Förderung partikularer Interessen ist nicht von vornherein ausgeschlossen, sofern der Abgeordneten sie als Zwischenschritt dazu begreift, um dadurch dem Wohl des Gesamtvolkes zu dienen. Nicht ausreichen dürfte dagegen, wenn er nur annimmt, daß die Vertretung der Interessen einzelner mit dem Gemeinwohl vereinbar sei30 • Der Abgeordnete hat nicht nur die Pflicht, das Gemeinwohl nicht zu verletzen, sondern soll sich positiv am Gemeinwohl orientieren. Aufgrund der Komplexität und Spezialität der zu behandelnden Materien wird der Abgeordnete in den weitaus meisten Fällen, in denen nicht sein eigenes Fachgebiet betroffen ist, darauf angewiesen sein, dem Rat anderer zu folgen. Wenn er hier dem sachkundigen Votum seiner Fraktionskollegen vertraut, ist dagegen nichts einzuwenden, da er auch dann die selbständige Entscheidung trifft, deren Haltung zu übernehmen.

28 VergI. nur Martens, DVBI. 1965,865,866. 29 Schäfer, Bundestag, S. 152; Hamm-Brücher, Einführungsreferat der Veranstaltung "Das freie Mandat im Parlament der Fraktionen" der Deutschen Vereinigung für Parlamentsfragen, ZParI1985, 249, 251. 30 So aber Badura, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15, Rdnr. 11. Diese Auffassung wurde auch schon zu Art. 21 WRV vertreten von Anschütz, Verfassung des Deutschen Reiches, Art. 21, Anm. 2.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

Problematisch sind allein die Fälle, wo der Abgeordnete zunächst eine eigene Überzeugung gebildet, sich mit dieser aber in seiner Fraktion nicht durchgesetzt hatte. Verstößt er nun gegen die Gewissensunterworfenheit, wenn er sich dazu entschließt, nach der fraktionsinternen Abstimmung die Mehrheitsmeinung in seiner Fraktion mitzutragen? Diese Fraktionsdisziplin - oder wie sie wegen der Freiwilligkeit des Entschlusses bisweilen zutreffender genannt wird Fraktionssolidarität31 - hat sich bereits als mit dem Merkmal der Weisungsungebundenheit vereinbar erwiesen. Auch unter dem Blickwinkel der ausschließlichen Gewissensunterworfenheit begegnet sie keinen Bedenken. Die persönliche Auffassung eines Abgeordneten vom Gemeinwohl ist ja nicht unwandelbar, er ist nicht gezwungen, bei seiner ursprünglich gefaßten Meinung stehenzubleiben. Die bei der Abstimmung in der Fraktion erkennbar gewordene Mehrheitsmeinung seiner Fraktionskollegen kann ihn dazu veranlassen, seine Position zu überdenken und sich im Ergebnis der Gegenmeinung anzuschließen32 • Die Gründe, die ihn im einzelnen zu dem Gesinnungswandel bewegen, können vielfältiger Natur sein. So ist es denkbar, daß er gerade in Bereichen, auf die er nicht spezialisiert ist, der Kompetenz oder persönlichen Autorität der in der Fraktion dafür zuständigen Abgeordneten vertraut und sich sagt, daß diese letztlich eher entscheiden können, was in einer bestimmten Frage dem Gemeinwohl entspricht. Eine andere Motivation kann sein, daß er ein Vorhaben, das seine Fraktion durchsetzen will und das auch er für richtig hält, nicht wegen einer Meinungsverschiedenheit in einer Einzelfrage gefährden will. Zu denken ist hier etwa an ein umfassendes Rcformwerk, bei dem der Abgeordnete nicht in allen Bestimmungen die Linie seiner Fraktion teilt. Um aber zu verhindern, daß dadurch die Reform insgesamt in Frage gestellt wird und dem Gemeinwohl dadurch womöglich noch größerer Schaden entsteht, ist er bereit, seine Bedenken zurückzustellen. Bei den die Bundesrepublik kennzeichnenden Koalitionen sind weitere Motive möglich, einen Abgeordneten zur Revidierung seiner Auffassung zu bestimmen. Besteht der Koalitionspartner auf einer bestimmten Entscheidung und macht er sie zur Bedingung für die Fortsetzung der Koalition, mag es dem Gemeinwohl aus Sicht des Abgeordneten eher dienen, in diesem Punkt nachzugeben, dafür aber weiterhin an der Regierung zu bleiben und so seine politischen Vorstellungen verwirklichen zu können. Schließlich kann er sich dem Fraktionskurs auch nur deshalb beugen, um in der Öffentlichkeit den Eindruck der Geschlos-

31 32

Kretschmer, Fraktionen, 2. A. 1992, S. 84, im Anschluß an Schäfer, Bundestag, S. 150. Staatsgerichtshof Bremen, StGHE 1, 34, 39 f.

§ 5: Und nur ihrem Gewissen unterworfen

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senheit seiner Fraktion nicht zu beschädigen33 . Er kann dem geschlossenen Auftreten der Fraktion eine so hohe Bedeutung beimessen, damit diese auch in Zukunft möglichst effektiv die gemeinsame Vorstellung vom Gemeinwohl durchsetzen und damit vor dem Wähler bestehen kann, daß er ein Festhalten an seiner persönlichen Auffassung gemessen daran für nachrangig hält. Sofern nur die Entscheidung, sich der Fraktionsmeinung anzuschließen, bei ihm selbst verbleibt und freiwillig gefaßt wird, vermögen alle diese Gründe einen Wandel der Überzeugung zu rechtfertigen, der Abgeordnete verhält sich dann in Übereinstimmung mit seinem Gewissen. Die Gewissensunterworfenheit hat also nicht die Funktion, den Abgeordneten um jeden Preis an seiner individuellen Meinung zu einem bestimmten Punkt festzuhalten, sondern sie befähigt ihn gerade dazu, Kompromisse zu schliessen. Die Entscheidung darüber, wann er von seiner persönlichen Auffassung zugunsten der Mehrheitsmeinung seiner Fraktion abgeht, und wann er glaubt, auf seiner Überzeugung beharren zu sollen, aber hat die Verfassung mit der Gewährleistung des freien Mandats in die Verantwortung jedes einzelnen Abgeordneten gestellt34 •

33 Zu den Gründen, die einen Abgeordneten dazu bewegen können, die Meinung seiner Fraktion mitzutragen vergl. auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 600. 34 H. H. Klein, HdbStR 11, § 41, Rdnr. 5.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

§ 6: Die Gleichheit der Abgeordneten

1. Die verfassungsrechtliche Grundlage Neben der Freiheit des Abgeordneten wird seine Rechtsstellung wesentlich durch die grundsätzliche rechtliche Gleichheit aller Abgeordneten geprägt. Die Geltung des Gleichheitssatzes ist insoweit unbestritten!, keine Einigkeit besteht dagegen über die verfassungsrechtliche Ableitung dieser Gleichheit. Auch die Rechtsprechung des BVerfG hat sich in dieser Frage über mehrere Stationen entwickelt. Die unterschiedlichen Begründungen gelangen zu verschiedenen Ergebnissen hinsichtlich der zulässigen Differenzierungsmäglichkeiten zwischen den einzelnen Abgeordneten.

a) Die Anwendung des allgemeinen G/eichheitssatzes (Art. 3 Abs. 1 GG)

Die frühe Rechtsprechung des BVerfG maß Differenzierungen zwischen den Abgeordneten am allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG2. Danach ist Gleiches gleich und Verschiedenes nach seiner Eigenart zu behandeln. Der Gleichheitssatz ist nur verletzt, wenn ein vernünftiger, sich aus der Natur der Sache ergebender oder sonst sachlich einleuchtender Grund für eine Ungleich- oder Gleichbehandlung nicht zu finden ist, eine Rechtsregelung als willkürlich im objektiven Sinne bezeichnet werden muß3. Danach wären Differenzierungen in weitem Umfang möglich, da der Vorwurf willkürlichen Verhaltens nur selten zu erheben sein wird. Eine Ungleichbehandlung von Bundestagsabgeordneten je nachdem, ob sie in einem Wahlkreis unmittelbar oder über die Landesliste ihrer Partei gewählt wurden, wie sie etwa von Kriele für die Frage des Mandatsverlusts bei Fraktionswechsel vorgeschlagen worden ist4, ließe sich dann ohne weiteres durch das Anknüpfen an diese unterschiedliche Art des Mandatserwerbs rechtfertigen. ! BVerfGE 40, 296, 318; Staatsgerichtshof Hessen, ESVGH 27, 193, 200 ff.; Bayerischer Verfassungsgerichtshof VerfGH 29,62,88 f.; aus der Literatur vergl. nur Häberle, NJW 1976, 537, 538 f.; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 124; Magiera, Parlament und Staatsleitung, S. 146; Stern, Staatsrecht Band I, § 24 11 1. 2 BVerfGE 4,144,155. 3 Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 14, 52, in neuerer Zeit etwa BVerfGE 51,60, 76; 69, 150, 159 f. 4 Kriele, ZRP 1969, 241, 242.

§ 6: Die Gleichheit der Abgeordneten

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Indessen läßt das BVerfG seit dem sogenannten "DiätenurteiJS" die bloße Willkür freiheit nicht mehr ausreichen, sondern fordert einen strengeren Maßstab. Auch nach dieser Entscheidung ist der allgemeine Gleichheitssatz aber in Rechtsprechung und Literatur noch als rechtlicher Prüfungsmaßstab für die Behandlung von Abgeordneten herangezogen worden6• Gegen die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG läßt sich schon anführen, daß dieser ein Grundrecht darstellt, Amtsträger sich als solche aber nicht auf Grundrechte berufen können. Dementsprechend hat das BVerfG auch in einer neueren Entscheidung die Erstreckung von Art. 5 Abs. 1 GG auf eine im Parlament gehaltene Rede abgelehnt? Auch würde die Forderung nach nur willkürfreier Behandlung dem zu regelnden Sachbereich nicht gerecht. Tatsächlich ist die Gleichheit im staatlich-politischen Bereich ja schon vom Prinzip der Demokratie, zu dem sich das Grundgesetz in Art. 20 Abs. 2 bekennt, begriffsnotwendig erfaßt 8 • Das egalitäre Moment ist mit dem Wesen der Demokratie untrennbar verbunden. Demokratie als Staatsform setzt aber voraus, daß die einzelnen Staatsangehörigen als vollkommen gleich anzusehen sind, und erlaubt nicht, schon beim Vorliegen sachlicher Gründe Differenzierungen bei der Ausübung ihre politischen Rechte vorzunehmen. Demzufolge ist die Gleichheit der Bürger bei der Ausübung des Wahlrechts auch in ständiger Rechtsprechung streng formal verstanden worden, eine Ungleichbehandlung wird nur aus zwingenden Gründen für zulässig gehalten9• In einer repräsentativen Demokratie kann sich diese formale Gleichheit aber nicht auf die Wahlbürger beschränken, sondern muß in gleicher Weise für die Repräsentanten gelten, die im Parlament für diese handeln. Die Heranziehung des Art. 3 Abs. 1 GG und damit die Beschränkung auf Willkür kontrolle ist auch aus diesem Grunde abzulehnen.

5 BVerfGE 40, 296, 318. 6 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 88 f.; Troßmann, JÖR N.F. 28 (1979),1,99 f.; Strunk, DVBI. 1977,615,616. 7 BVerfGE 60, 374, 380. 8 Kriele, VVDStRL 29 (1971), 46, 61; Seifert in: Seifert/Hömig (Hrsg.), GG, Art. 20, Rdnr. 3; Stern, Staatsrecht Band I, § 18 I 4 c; Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 20, Rdnr. 17. 9 VergI. aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 34,81,99; 41, 399, 413; 51, 222, 235.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

b) Die Anwendung der Wahlrechtsgleichlteit (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG)

Ist also jedenfalls eine verfassungsrechtliche Verankerung zu suchen, die sich auf das Demokratieprinzip zurückführen läßt, so ist zunächst an die unmittelbare Heranziehung des Grundsatzes der gleichen Wahl in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG zu denken. Im Diätenurteil wandte das BVerfG im Ergebnis den hierzu entwickelten formalisierten Gleichheitssatz an, wonach Ungleichbehandlungen nur aus zwingenden Gründen und in engen Grenzen zulässig sind, die eigentliche verfassungsrechtliche Verortung wurde aber nicht eindeutig zum Ausdruck gebracht. Wie bereits herausgearbeitet wurde, wurde die Diätenregelung vom Gericht zwar an Art. 3 Abs. 1 GG überprüft, dabei jedoch der strengere Maßstab des Art. 38 GG zugrundegelegt. Daß Art. 38 GG nicht unmittelbar herangezogen werden konnte, lag dar an, daß es sich nicht um die Diäten von Bundestagsabgeordneten handelte, sondern um die von Mitgliedern des saarländischen Landtags. Der Sache nach aber wurde der Grundsatz der gleichen Wahl auf die Ausübung des Mandats erstreckt, wie sich mehreren Äußerungen des Gerichts entnehmen läßt. So führte es aus lO , daß für den Sachbereich von Wahlen nach der historischen Entwicklung, die für das Bundestagswahlrecht in Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ihren verfassungsrechtlich verbindlichen Ausdruck gefunden habe, davon auszugehen sei, daß jedermann seine staatsbürgerlichen Rechte in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können. Das gelte nicht nur für die Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts im engeren Sinne, es gelte auch für die Ausübung des Mandats. Später heißt es ll , aus dem egalitären Gleichheitssatz folge, daß jedermann die gleiche Chance haben muß, Mitglied des Parlaments zu werden, aus ihm folge weiter, daß jedem Abgeordneten eine gleich hoch bemessene Entschädigung zustehe. Die formale Gleichheit der Abgeordneten wird also aus der Gleichheit im passiven Wahlrecht hergeleitet, hätte es sich um Bundestagsabgeordnete gehandelt, hätte Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG unmittelbar herangezogen werden können 12 • Daß das BVerfG sich dabei gerade auf die passive Seite der WahlBVerfGE40,296,317. BVerfGE 40, 296, 318. 12 Für das BVerfG stellt sich das Problem einer genauen Abgrenzung allerdings nicht, da es in ständiger Rechtsprechung - gerade in Anbetracht des prozessualen Bedürfnisses, auch für Landtags- und Kommunalwahlen die Verfassungsbeschwerde bei Verstößen gegen die Wahlrechtsgleichheit zu ermöglichen - den Grundsatz der Gleichheit der Wahl nur als Anwendungsfall des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes begreift. Art. 3 Abs, 1 GG werde demzufolge von An. 38 Abs. 1 Satz 1 GG nur überlagen, nicht aber verdrängt (BVerfGE 34, 81, 98; 41, 399,413; 47, 253, 269; 48, 64, 79; 51, 222, 232; 57, 43, 56; 58, 177, 190). Die Literatur ist 10 11

§ 6: Die Gleichheit der Abgeordneten

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rechtsgleichheit stützte, ist eine Konsequenz der zugrundeliegenden Situation. Zu entscheiden war über die Verfassungsbeschwerde eines Wahlbewerbers, für den als solchen nur das passive Wahlrecht verletzt sein konnte. Auch lag es für die Frage, ob die Abgeordneten eine gleiche Entschädiung erhalten müssen, näher, die Gleichheit der Bewerber in den Vordergrund zu stellen, die nach der Wahl in den Genuß der Entschädigung kommen. Ein Verstoß gegen die Gleichheit der Bürger bei der Ausübung des aktiven Wahlrechts ist demgegenüber weniger offensichtlich. Für die parlamentarischen Befugnisse der Abgeordneten hingegen spielt die Gleichheit im aktiven Wahlrecht eine wesentlich größere Rolle. Nach diesem Grundsatz müssen innerhalb des gewählten Wahlsystems alle Wähler mit der Stimme, die sie abgeben, grundsätzlich den gleichen Einfluß auf das Wahlergebnis habenB. Alle Abgeordneten des Bundestages sind deshalb mit der gleichen Legitimation ausgestattet. Würden nun Abgeordnete im Parlament mit weniger Rechten ausgestattet als andere, würde dies im nachhinein eine Verfälschung des Wahlergebnisses herbeiführen, weil dann nachträglich der Erfolgswert der abgegebenen Stimmen bezogen auf die Mitwirkung am parlamentarischen Prozeß ungleich gewichtet würde. Mit dieser Begründung ist in der Literatur die Gleichheit der Abgeordneten als Fortsetzung des gleichen Wahlrechts der Aktivbürger verstanden worden l4 • Daß diese Sichtweise zutrifft, wird deutlich, wenn man sich Sinn und Zweck der Wahlrechtsgleichheit in einer repräsentativen Demokratie vor Augen führt. Ihre Bedeutung kann sich nicht darin erschöpfen, daß sie gleichsam statisch die Festlegung des Wahlergebnisses und die Umsetzung in Parlamentssitze bestimmt. In vollem Umfang erfüllt sie ihre Funktion vielmehr erst dann, wenn sie auch im Laufe der Wahlperiode gleichen Einfluß auf den Prozeß der Entscheidungsfindung im Parlament gewährleistet. dieser Auffassung nur teilweise gefolgt (Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 49; Schmidt-Bleibtreu/K1ein, GG, Art. 38, Rdnr. 8; Seifert, Bundeswahlrecht, Art. 38 GG, Rdnr. 22; Stern, Staatsrecht Band I, § 10 11 3 a; a.A. von Münch in: ders. (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 40; von Mangoldt/K1ein, GG, Art. 38 Anm. III 2 f.). Besondere Hervorhebung verdient der Umstand, daß das BVerfG die Wurzel seiner Herleitung letztlich im Prinzip einer privilegienfeindlichen Demokratie sieht (BVerfGE 40, 296, 317). Die Wahlrechtsgleichheit und die daraus folgende Gleichheit aller Abgeordneten werden somit an Art. 20 GG angebunden. 13 BVerfGE in ständiger Rechtsprechung, vergI. etwa BVerfGE 34, 81, 99. 14 Arndt/Schweitzer, ZParl 1976,71,82 ff.; Lisken, ZParl 1978, 320, 321; Kisker, JuS 1980, 284,287; K1effmann, Die Rechtsstellung parteiloser Kandidaten und Mandatsträger, 1982, S. 115; Kürschner, Die Statusrechte des fraktionslosen Abgeordneten, 1984, S. 136; zuletzt Hölscheidt, DVBI. 1989,291,292. Kritisch Bick, Ratsfraktion, S. 41.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

Jede ungerechtfertigte Ungleichbehandlung der Abgeordneten beeinträchtigt, so gesehen, unweigerlich auch das gleiche Wahlrecht der Bürger. Unverkennbar ist hier die Parallele zwischen demokratischer Gleichheit und demokratischer Repräsentation. Für beide gilt, daß sich ihr Bedeutungsgehalt nicht auf die Momentaufnahme des Wahlakts reduzieren läßt. Ebenso wie die Repräsentation dynamischen Charakter hat und deshalb in ihrer inhaltlichen Komponente fortwährend auf den parlamentarischen Prozeß einwirkt, beansprucht auch die Gleichheit der Staatsbürger als Gleichheit der Abgeordneten untereinander Geltung für das gesamte parlamentarische Verfahren. Gleichwohl hat das BVerfG es stets vermieden, die Abgeordnetengleichheit aus der Gleichheit der Bürger bei der Ausübung des aktiven Wahlrechts abzuleiten. Eine Ausnahme bildet insoweit das Sondervotum Mahrenholz in der Entscheidung zur parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste l5 • Im Beschluß vom 14.12.1976 zur Verfassungsbeschwerde von acht FDP-Abgeordneten gegen die Festsetzung der Fraktionsmindeststärke im bayerischen Landtag scheint eine solche Herleitung sogar verneint zu werden. Die Beschwerdeführer hatten vorgetragen l6 , der möglichst gleiche Erfolgswert der Wählerstimmen sei nur dann gewährleistet, wenn alle Parteien, die im Landtag vertreten seien, dort auch die gleichen Rechte hätten. Das BVerfG führte dagegen aus, daß, sollte sich die Vorenthaltung des Fraktionsstatus negativ auf die Wirkungsmöglichkeiten der FDP-Abgeordneten im bayerischen Landtag auswirken, dies allenfalls eine Reflexwirkung auf das gleiche Wahlrecht der Bürger haben könne 17 • Eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten könne hierin aber nicht gesehen werden. Auch diese Aussage muß aber mit Rücksicht auf die prozessuale Situation interpretiert werden. Das BVerfG lehnte damit die Klagebefugnis für eine Verfassungsbeschwerde ab, welche die bayerischen Abgeordneten in ihrer Eigenschaft als Wähler unter Berufung auf das gleiche aktive Wahlrecht erhoben hatten. Auch aus der hier vertretenen Auffassung, wonach bei ciner Ungleichbehandlung der Abgeordneten stets auch eine Beeinträchtigung 15 BVerfGE 70,324,367 (Sondezvotum Mahrenholz): "Die Gesamtheit der wahlmündigen Bürger, das Volk im Sinne des Art. 20 Abs. 2 GG, hat die Abgeordneten aufgrund gleichen Stimmrechts gewählt. Die Abgeordneten sind danach in eben dieser gleichen Weise zur Repräsentation des Volkes berufen. Gleichheit in der Teilhabe der Abgeordneten am parlamentarischen Prozeß ist demnach die nach Art. 38 Abs. 1 GG gebotene Art und Weise der Tätigkeit des Bundetages. " 16 BVerfGE 43,142,145. 17 BVerfGE 43,142,147.

§ 6: Die Gleichheit der Abgeordneten

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der Wahlrechtsgleichheit der Bürger vorliegt, folgt aber nicht zwingend, daß nunmehr jeder Wähler gegen Änderungen des Parlamentsrechts, die eine Differenzierung zwischen den Abgeordneten vornehmen, mit der Verfassungsbeschwerde vorgehen könnte. In der neueren Grundrechtsdogmatik ist anerkannt, daß es neben der Funktion der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte des Einzelnen auch objektive Grundrechtsgehalte gibt, an die die Rechtsordnung gebunden ist l8 • Eine Fallgruppe, die hier herkömmlicherweise erörtert wird, ist die Einwirkung der Grundrechte auf Verfahren und Organisation staatlicher Einrichtungen l9 • Auch hier aber könnte der Staat objektiv verpflichtet sein, das parlamentarische Verfahren in einer Weise zu regeln, die dem gleichen Wahlrecht der Bürger Rechnung trägt. Für das grundrechtsgleiche Recht des Art. 38 Abs. 1 GG wird denn auch angenommen, es müsse einen objektiv-rechtlichen Gehalt in Form eines Einflusses auf das Verfahren schon deshalb geben, weil das Wahlrecht ohne geregelte Organisation und Verfahren gar nicht ausübbar ist, es also zu seiner Verwirklichung auf ein Verfahren angewiesen ist2o • Fraglich kann insofern nur sein, ob sich dieser Einfluß auf das Wahlverfahren im engeren Sinne beschränkt oder über den Wahlakt hinaus Wirkung entfaltet. Folgt man der hier vertretenen Auffassung, wonach die Wahlrechtsgleichheit mit Rücksicht auf das Demokratieprinzip dynamisch zu verstehen ist, wird man letzteres annehmen müssen. Ist der Staat aber aufgrund der objektiv-rechtlichen Grundrechtsdimension verpflichtet, das gleiche Wahlrecht der Bürger auch bei der Ausgestaltung des Parlamentsrechts zu achten, so folgt daraus noch nicht unbedingt, daß diese auch einen einklagbaren Anspruch haben. Eine Vermutung für die subjektiv-rechtliche Qualität der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte besteht nicht, die Annahme eines subjektiven Rechts und die daraus folgende Möglichkeit, eine Verletzung im Wege der Verfassungsbeschwerde 18 So das BVerfG in ständiger Rechtsprechung seit BVerfGE 7, 198, 205, wenn auch mit wechselnder Terminologie. Wurde zunächst von "objektiven Wertentscheidungen" gesprochen, so finden sich in späteren Urteilen etwa die Begriffe "Wertmaßstäbe", "wertentscheidende Grundsatznormen" oder "objektive Grundsatznormen". Der Sache nach ist mit der unterschiedlichen Ausdrucksweise aber keine Differenzierung verbunden. Bei aller Unsicherheit über die Reichweite dieser objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte kann deren grundsätzliche Existenz doch heute als anerkannt gelten (Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band III/1, 1988, § 69 11 1). Umfassend hierzu Böckenförde, Der Staat 29 (1990), 1 ff. 19 BVerfGE 35, 79, 115; Stern, Staatsrecht Band III/1, § 69 V; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 112 ff. 20 Stern, Staatsrecht Band III/1, § 69 V 6 b.

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geltend zu machen, bedarf vielmehr einer besonderen Begründung2!. Diese wird hier aber kaum zu erbringen sein, weil ja den Abgeordneten selbst als unmittelbar Betroffenen der Organstreit offensteht, um die Ungleichbehandlung anzugreifen. Die Geltungskraft der Wahlrechtsgleichheit bedarf daher nicht des Umschlagens des objektiven Gehalts in eine subjektive Berechtigung des einzelnen Wählers. Deshalb ist davon auszugehen, daß der Staat lediglich objektiv verpflichtet ist, die Wahlrechtsgleichheit der Staatsbürger im Parlament zur Geltung zu bringen, ohne daß dieser Pflicht ein subjektives Recht des Bürgers korrespondiert 22 . Insofern kann der Aussage des BVerfG zugestimmt werden, eine Beeinträchtigung der Abgeordneten würde sich auf das gleiche Wahlrecht (hier verstanden als subjektives öffentliches Recht) allenfalls als Reflex auswirken, zu Recht ist die Antragsbefugnis der Abgeordneten für eine Verfassungsbeschwerde verneint worden. Daraus generell zu schließen, die Gleichheit der Abgeordneten könne losgelöst von der Gleichheit der Staatsbürger bei der Ausübung des aktiven Wahlrechts betrachtet werden, wäre jedoch unzutreffend. Abzulehnen ist daher die vom BVerfG jüngst gemachte Aussage im PDSUrteil, wo die Erstreckung der Wahlrechtsgleichheit auf die Stellung der Abgeordneten im Parlament erstmals ausdrücklich abgelehnt und der Anwendungsbereich der Wahlrechtsgleichheit auf die Wahlen beschränkt wird23 . Das Gericht folgert hieraus, daß Sperrklausel-Regelungen im Wahlrecht sich nicht ohne weiteres auf die Ausübung der Befugnis des Bundestages übertragen lassen, die Mindeststärke der Fraktion festzusetzen. Wie noch darzulegen sein wird, läßt sich dieses Ergebnis aber auch begründen, wenn man von der Relevanz der Wahlrechtsgleichheit für den Status der Abgeordneten ausgeht.

2! Stern, Staatsrecht Band 111/1, § 69 VI 2. Vom BVerfG anerkannt ist die Beschwerdebefugnis allerdings inzwischen für eine Verletzung der Schutzpflicht, welche gleichfalls der objektiv-rechtlichen Dimension des jeweiligen Grundrechts entnommen wird (BVerfGE 77, 170, 214). 22 Im einzelnen ist hier vieles ungeklärt. Nach Stern, Staatsrecht Band III/1, § 69 VI 1, gehört die Subjektivierbarkeit der objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte zu den umstrittensten Problemen der Grundrechtsdogmatik überhaupt. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Problematik kann an dieser Stelle nicht erfolgen. Hier ging es lediglich darum darzulegen, daß eine Herleitung der Gleichheit aller Abgeordneten aus der Wahlrechtsgleichheit der Staatsbürger bei der Ausübung ihres aktiven Wahlrechts nicht, wie es in der Literatur teilweise angenommen wird (Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 220 FN 14) zwingend die Konsequenz der Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde jedes Wahlbürgers hätte. 23 BVerfGE 84, 304, 324 f.

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Die streng formal zu verstehende Gleichheit der Abgeordneten findet somit in der Wahlrechtsgleichheit des Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG ihre verfassungsrechtliche Grundlage 24 •

c) Die Anwendung des Prinzips der repräsentativen Demokratie (Art. 20 Abs. 2 GG)

Das BVerfG bevorzugt in neueren Urteilen eine andere Begründung der prinzipiellen Gleichheit aller Abgeordneten. Es leitet aus dem Gedanken, daß das Parlament jenes besondere Organ der gesetzgebenden Gewalt ist, durch das das Volk nach Art. 20 Abs. 2 GG die Staatsgewalt ausübt, ab, daß nur das Parlament als Ganzes das Volk angemessen zu repräsentieren vermöge. Das hier verankerte Prinzip der repräsentativen Demokratie erfordere grundsätzlich eine Mitwirkung aller Abgeordneten 25 . Wurde zunächst nur gefolgert, daß überhaupt alle Abgeordneten mitwirkten, wurde im Fall Wüppesahl klargestellt, daß alle Abgeordneten dabei die gleiche Mitwirkungsbefugnis und somit gleiche Rechte und Pflichten haben26 . Diese gleiche Mitwirkungsbefugnis wird dann als Inhalt der Garantie des freien Mandats angesehen. Ohne Bezugnahme auf Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG wird die Gleichheit der Abgeordneten somit unmittelbar aus dem Gedanken demokratischer Repräsentation gefolgert. Im Schrifttum wird bisweilen in ähnli24 R. Schmidt, FS von der Heydte, 1977, S. 1179, 1190 f.; Fröhlinger, DVBI. 1982,682,684, haben den Versuch unternommen, den Anwendungsbereich des formalisierten G1eichheitssatzes zu begrenzen auf die Statusrechte des Abgeordneten, welche, wie das Recht auf Entschädigung, die äußeren Bedingungen der Ausübung des Mandats regeln. Für die eigentlichen Amtsträgerrechte aber habe das BVerfG im Diätenurteil keine Aussage getroffen, die innere geschäftsordnungsmäßige Organisation und Arbeitsweise des Parlaments sei daher nicht auf diesen strikten Maßstab verpnichtet. Dieser Auffassung steht schon entgegen, daß das BVerfG im Diätenurteil den Grundsatz formalisierter Gleichheit ausdrücklich auch auf die Ausübung des Mandats bezieht (BVerfGE 40, 296, 317). Außerdem ist sie auch nicht übeneugend, wenn man an die verfassungsrechtliche Begründung des Grundsatzes denkt. Für die Gleichheit der Wählerstimmen ist es weniger bedeutsam, ob die Abgeordneten in den ihnen persönlich zustehenden Statusrechten gleichgestellt sind, dagegen ist es aus der Sicht der Wähler von entscheidender Bedeutung, daß im parlamentarischen Prozeß eine gleiche Wahrnehmung von Kompetenzen durch alle Abgeordneten sichergestellt ist. Gerade für die Amtsträgerrechte ist der formalisierte Gleichheitssatz also zu berücksichtigen. 25 BVerfGE 44,308, 315 f.; 56, 396, 405; 80, 188,218. 26 BVerfGE 80, 188,218, ebenso BVerfGE 84, 304, 321. Die im Wüppesahl-Urteil aufgeführten Hinweise auf die früheren Urteile sind insofern nicht ganz exakt, als in diesen von der gleichen Mitwirkungsbefugnis gerade nicht gesprochen wurde.

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cher Weise das Demokratieprinzip direkt zur Grundlage der Abgeordnetengleichheit erklärt27 . Wie das BVerfG ebenfalls im Fall Wüppesahl deutlich macht, behält der formalisierte Gleichheitssatz, wie er zum Wahlrecht entwickelt wurde, gleichwohl auch für die Rechtsstellung der Abgeordneten Geltung. Aus ihm folge aber nichts anderes als schon aus dem Repräsentationsgedanken, weshalb das Gericht die Prüfung im konkreten Fall auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG beschränkt28 . Wenn der formalisierte Gleichheitssatz zu keinem anderen Maßstab führt, bedeutet dies aber, daß das BVerfG die dort geltende Regel, das Erfordernis eines zwingenden Grundes für Ungleichbehandlungen, für die Mitwirkungsbefugnisse der Abgeordneten anerkennt. Im Ergebnis führt diese verfassungsrechtliche Herleitung daher nicht zu einer anderen Beurteilung etwaiger Differenzierungen. Soweit man sich dessen bewußt bleibt, können beide daher als gleichrangige Möglichkeiten nebeneinander bestehen bleiben29 . Sie widersprechen sich nicht etwa, sonderen beleuchten den gleichen Sachverhalt nur aus einem anderen Blickwinkel. Während die Begründung aus Art. 38 Abs. 1 GG stärker den einzelnen Abgeordneten betont, der nicht benachteiligt werden darf, weil er von den Wählern in gleicher Weise wie die anderen zur Ausübung parlamentarischer Rechte berufen ist, legt die vom BVerfG bevorzugte Verankerung im Repräsentationsprinzip den Akzent eher auf das Gesamtparlament. Die gleiche Mitwirkungsbefugnis aller Abgeordneten erscheint hier als eine aus der Stellung des Parlaments lediglich abgeleitete Position. Diese Begründung bezieht stärker die Begrenzung der Kompetenz des einzelnen Abgeordneten mit ein, als bloße Mitwirkungsbefugnis muß sie sich in die gemeinschaftliche Ausübung von Kompetenzen im Gesamtparlament einfügen.

27 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 221; Birk NJW 1988, 2521, 2522. Nicht überzeugend Bick, Ratsfraktion, S. 43 f., die den Rekurs auf Art. 20 Abs. 2 GG ausdrücklich ablehnt, die Mandatsgleichheit aber gleichwohl in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankert sehen will. 28 BVerfGE 80,188,220 f. 29 So begründet etwa H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 122, die Gleichheit der Abgeordneten sowohl aus der verfassungsrechtlich garantierten gleichen Wahl als auch aus dem Anteil des Abgeordneten an dem, was er die Vertretungsfunktion des Bundestages nennt. Für Arndt/Schweitzer, ZParl 1976, 71, 82, folgt die formale Gleichheit der Abgeordneten neben Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG auch mit dem dem Parlamentsrecht angehörenden Grundsatz der gleichen Rechtsstellung von Mitgliedern kollegialer repräsentativer Organe, ohne allerdings erkennen zu lassen, ob sie diesen Grundsatz auch verfassungsrechtlich verankert sehen.

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Beide Begründungen können also grundsätzlich einander ergänzend herangezogen werden. Wenn hier Wert auf die Ableitung aus dem gleichen Wahlrecht gelegt wird, so vor allem deshalb, weil damit das Erfordernis zwingender Gründe für eine Differenzierung besonders in Erinnerung gerufen wird. Das BVerfG hingegen hat im Fall Wüppesahl aufgrund seiner anderen Herleitung der Gleichheit diese Anforderung nicht ausdrücklich erwähnt. Wenn es diesen Maßstab auch, wie gezeigt, indirekt für anwendbar erklärte, so hat die Senatsmehrheit ihn doch in der Frage des Ausschußstimmrechts nicht konsequent angelegt. Anstatt zu fragen, ob zwingende Gründe vorliegen, dem fraktionslosen im Gegensatz zu fraktionsangehörigen Abgeordneten das Stimmrecht im Ausschuß zu versagen, wird geprüft, ob es verfassungsrechtlich geboten war, ihm dieses zu gewähren, was die Mehrheit des Senats verneint 30 . Die Rechtfertigungslast für eine Differenzierung wird damit aber gerade umgekehrt. Dieser Ansatz ist sowohl vom Sondervotum Mahrenholz beanstandet31 , als auch in den Besprechungen des Urteils kritisiert worden 32 • Die Vorgehensweise der Mehrheit im Senat wäre nur dann überzeugend, wenn sich erweisen sollte, daß die Vollmitgliedschaft in den Ausschüssen ein originär den Fraktionen - und nicht den Abgeordneten - zustehender Anspruch sein sollte33 . In diesem Fall wäre die Eigenschaft als Ausschußmitglied eine aus der Rechtsstellung der Fraktion abgeleitete Position, welche die fraktionsangehörigen Abgeordneten nur für ihre Fraktion wahrnehmen. Da die Gleichheit aber immer nur zwischen den einzelnen Abgeordneten besteht, nicht hingegen zwischen einem einzelnen fraktionslosen Abgeordneten und einer ganzen Fraktion, kann ein Fraktionsloser auf der Grundlage des formalisierten Gleichheitssatzes nicht verlangen, daß ihm Kompetenzen 30 BVerfGE 80, 188, 224: "Hingegen ist es verfassungsrechtlich nicht geboten, dem nichtfraktionsangehörigen Abgeordneten ein - notwendig überproportional wirkendes - Stimmrecht zu geben." 31 BVerfGE 80, 188,238 (Sondervotum Mahrenholz): " Der Abgeordnetenstatus des Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG ist ein solcher formaler Gleichheit. Darin liegt der verfassungsrechtliche Schutz vor Eingriffen in das Recht auf gleiche Mitwirkung aller an der Erfüllung der Aufgaben des Bundestages. Mithin kann es für die Ausübung eines Mitwirkungsrechts nicht darauf ankommen, ob es "geboten" sei, dem fraktionslosen dieses Recht "zu geben" ". 32 Schulze-Fielitz, DÖV 1989,829,833; Morlok, JZ 1989, 1035, 1041; Brandner, JA 1990, 151, 154. 33 Dafür scheint die parlamentarische Praxis zu sprechen, nach der die Gesamtzahl der Ausschußsitze zunächst auf die Fraktionen im Verhältnis von deren Stärke verteilt wird (§ 12 GOBT). Sodann benennen die Fraktionen die einzelnen Ausschußmitglieder (§ 57 Abs. 2 GOBT). Die überwiegende Ansicht folgert aus dem Benennungsrecht auch die Befugnis der Fraktion, einen Abgeordneten gegen seinen Willen aus einem Ausschuß abzuberufen.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

eingeräumt werden, die nach der Verfassung etwa unmittelbar der Fraktion zustehen. Sollte also die Ausschußmitgliedschaft ein Recht der Fraktion sein, so müßte in der Tat mit der Senatsmehrheit gefragt werden, ob (ausnahmsweise) Gründe vorliegen, die es geboten erscheinen lassen, dieses auch dem fraktionslosen Abgeordneten in vollem Umfang (also einschließlich des Stimmrechts) zu gewähren. Ob die Kritik letztlich berechtigt ist, kann also erst dann entschieden werden, wenn das grundsätzliche Verhältnis der Kompetenzen von Fraktion und Abgeordnetem analysiert wurde.

2. Die inhaltliche Bedeutung der Gleichheit Den beiden unterschiedlichen Wegen, die Gleichheit aller Abgeordneten verfassungsrechtlich zu begründen, entsprechen zwei verschiedene Bedeutungen der Gleichheit für die Ausübung des freien Mandats, eine freiheitssichernde und eine freiheitsbegrenzende.

a) Die Gleichheit als Gewährleistung von Freiheit

Führt man die Gleichheit der Abgeordneten untereinander zurück auf das gleiche Wahlrecht der Staatsbürger, das im parlamentarischen Prozeß fortwirkt, hat dies zur Konsequenz, daß alle Abgeordneten in gleicher Weise legitimiert sind, Kompetenzen im Parlament wahrzunehmen. Sofern nicht ein zwingender Grund vorliegt, verbietet es sich daher, einzelnen oder bestimmten Gruppen von Abgeordneten Rechte vorzuenthalten, die anderen zustehen. Insofern hat die Gleichheit der Abgeordneten eine sichernde Funktion für die Ausübung des freien Mandats. Unbestrittenermaßen gilt diese rechtliche Gleichheit auch für die Stellung eines Abgeordneten in seiner Fraktion34, alle fraktionsangehörigen Abgeordneten müssen daher bei den fraktionsinternen Meinungs- und Willensbildungsprozessen die gleichen Mitwirkungsrechte (insbesondere das gleiche Stimmrecht bei Abstimmungen in der Fraktion) haben. 34 Bick, Ratsfraktion, S. 160; Zuleeg, Die Fraktionen in den kommunalen Vertretungskörperschaften, in: Püttner (Hrsg.), Handbuch für die kommunale Wissenschaft und Praxis, 2. A., 1982, S. 145, 154; W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 500.

§ 6: Die Gleichheit der Abgeordneten

145

Praktische Bedeutung erlangt diese Schutzrichtung der Gleichheit vor allem in zwei Fallgruppen. Die eine bezieht sich auf die Unterscheidung in Abgeordnete, die direkt im Wahlkreis gewählt wurden, und in solche, die ihr Mandat über die Landesliste ihrer Partei erhielten. So wurde in der Diskussion über den Mandatsverlust bei Fraktionswechsel vorgeschlagen, einen solchen lediglich für über die Liste ins Parlament gelangte Abgeordnete einzuführen35 • Hintergrund war die Überlegung, daß diese ihre Mitgliedschaft im Parlament in höherem Maße ihrer Partei verdankten, die direkt gewählten Abgeordneten sich dagegen auf den besonderen Vertrauensbeweis der Wähler für ihre Person berufen könnten. Überwiegend ist diese Differenzierung im Schrifttum aber abgelehnt worden36 • Tatsächlich ist auch kein zwingender Grund für eine Unterscheidung ersichtlich. Dies ist schon dar an zu erkennen, daß nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die Abgeordneten Vertreter des ganzen Volkes sind. Das Grundgesetz hat sich damit gegen jede partikulare Bindung entschieden, auch der Wahlkreisabgeordnete repräsentiert das Gesamtvolk. Eine durch die Personenwahl etwa entstehende besondere Beziehung des Abgeordneten zur Bevölkerung seines Wahlkreises muß daher verfassungsrechtlich irrelevant sein37 • Darüber hinaus besteht aber auch in tatsächlicher Hinsicht kein Anlaß für eine Ungleichbehandlung. Einerseits orientieren sich die Wähler auch bei der Vergabe der Erststimme im wesentlichen an der Parteizugehörigkeit des Bewerbers38 • Auf der anderen Seite aber haben viele Abgeordneten, die über die Liste in den Bundestag eingezogen sind, zugleich (erfolglos) in Wahlkreisen kandidiert, für die sie sich im Laufe ihrer Amtszeit ebenso engagieren wie ihre direkt gewählten Kontrahenten 39 • Die unterschiedliche Art des Erwerbs der Mitgliedschaft im Bundestag ist daher kein zulässiger Anknüpfungspunkt für eine Differenzierung unter den Abgeordneten. Die andere Konstellation ist die denkbare Ungleichbehandlung je nach der politischen Richtung des Abgeordneten. Der demokratische Willensbil35 Kriele ZRP 1969,241,242. Vergl. aber auch Kriele, VVDStRL 29 (1971), 46, 71 FN 75, wo diese Differenzierung nicht aufrechterhalten wird. Für eine Ungleichbehandlung in dieser Frage aber Loewenstein JZ 1972, 352, 353. 36 Trautmann, JZ 1970, 405, 406; H.-J. Schröder, DVBI. 1971, 132, 135; Tsatsos, DÖV 1971, 253,255; Säcker, ZParl1972, 347, 358; Trachternach, DVBI. 1975,85,87 FN 31; Schäfer, Bundestag, S. 165. 37 Trautmann, JZ 1970, 405, 406. 38 Säcker, ZParl 1972,347, 358; Schröder, DVBI. 1971,132, 135; Dichgans in: Zwischenbericht der Enquetekommission Verfassungsreform, S. 107. 39 Darauf weist Säcker, ZPar11972, 347, 358, hin. 10 Dcrnmler

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1. Kapitel: Der Status des Abgevrdneten nach dem Grundgesetz

dungsprozeß beruht auf der Auseinandersetzung und dem Wettbewerb unterschiedlicher politischer Anschauungen, deshalb setzt eine demokratische Ordnung auch ein Mehrparteiensystem voraus40 • Sollen im Parlament somit verschiedene Auffassungen zur Geltung kommen, so können Abgeordnete nicht aufgrund ihrer Überzeugung benachteiligt werden, diese kann also keinen zwingenden Grund für eine Ungleichbehandlung darstellen41 . Innerhalb des Parlaments sind es die Fraktionen, in denen sich Abgeordnete gleicher politischer GrundeinsteIlung (regelmäßig auch der gleichen Partei) zusammenschließen. Insofern bedeutet die Gleichheit der Abgeordneten, daß es nicht möglich ist, Abgeordnete bestimmter Fraktionen gezielt von einzelnen Befugnissen auszuschließen42 . Da sie vom Wähler mit der gleichen Ermächtigung ausgestattet wurden, ihre Vorstellungen umzusetzen, müssen ihnen die gleichen Kompetenzen zustehen. Was für die fraktionsangehörigen Abgeordneten gilt, ist ebenso für die fraktionslosen bedeutsam. Finden diese im Parlament entweder von vornherein keine Fraktion, der sie sich anschließen können oder wollen, oder was in der Praxis der häufigere Fall isr'3 - verlassen sie ihre Fraktion im Laufe der Wahlperiode, weil ihre politische Einstellung nicht mehr mit der ihrer Fraktion übereinstimmt, kann damit allein noch keine Verminderung ihrer Mitwirkungsbefugnisse begründet werden. Auch der fraktionslose Abgeordnete ist, wie das BVerfG zutreffend betont hat, kein Abgeordneter minderen Rechts44 • Inwieweit aus sonstigen Gründen, insbesondere um das Parlament funktionsfähig zu erhalten, eine Ungleichbehandlung der Fraktionslosen notwendig ist, kann nur mit Blick auf die konkrete Befugnis von Fall zu Fall entschieden werden. 40 BVerfGE 2, 1, 13, rechnet das Mehrparteienprinzip zu den Essentialen einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung. 41 Wie schon gesehen, verbietet es zudem die ausschließliche GewissensuntelWorfenheit des Abgeordneten, seine politische Überzeugung mit negativen Konsequenzen zu belegen. 42 Dieser VOlWUrf wurde von den Antragstellern des verfassungsgerichtlichen Verfahrens über die wirtschaftliche Kontrolle der Geheimdienste erhoben, vergl. BVerfGE 70, 324, 338. 43 Lediglich in den ersten beiden Bundestagen gab es zu Beginn der Wahlperiode bereits fraktionslose Abgeordnete, s. dazu Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 234. Daneben bestehen noch die Möglichkeiten, daß eine Gruppe von Abgeordneten, die bislang eine Fraktion bilden konnte, durch Heraufsetzung der Fraktionsmindeststärke im Laufe der Wahlperiode fraktionslos wird (so geschehen durch die Heraufsetzung der Fraktionsmindeststärke in der neuen Geschäftsordnung des Bundestages vom 1.1.1952 für die Abgeordneten von Bayernpartei, Zentrum und KPD) bzw. durch den Austritt von Abgeordneten die Fraktionsmindeststärke nicht mehr erreicht und als Fraktion aufhört zu bestehen (so die Fraktion der Deutschen Partei im Jahre 1960). 44 BVerfGE 70, 324, 354.

§ 6: Die Gleichheit der Abgeordneten

147

Gerade im Hinblick auf den fraktionslosen Abgeordneten sind aber zwei Gesichtspunkte hervorzuheben. So ist schon an dieser Stelle darauf hinzuweisen, daß der Vergleichmaßstab für den fraktionslosen immer nur der fraktionsangehörige Abgeordnete sein kann und nicht die Fraktion selbst, da die Gleichheit zunächst nur zwischen den einzelnen Abgeordneten besteht. Vollkommen zu Recht hat das BVerfG es daher im Fall Wüppesahl abgelehnt, dem Fraktionslosen die gleiche Redezeit zuzugestehen wie der kleinsten Fraktion und ihm eine den Fraktionszuschüssen entsprechende Geldleistung zuzuerkennen45 . Die zweite KlarsteIlung betrifft die Reichweite des Gleichheitsgebots. Stets muß man sich nämlich vergegenwärtigen, daß nur rechtliche Gleichheit gewährleistet werden kann. In tatsächlicher Hinsicht aber können sich die Mitwirkungsmöglichkeiten des einzelnen Abgeordneten je nach seinen persönlichen Fähigkeiten, seinem Arbeitseinsatz sowie etwaigen parlamentarischen Ämtern, die er bekleidet, durchaus unterschiedlich gestalten. Insoweit kann auch die Frage, ob der Abgeordnete einer Fraktion angehört oder nicht, für seine faktischen Einflußchancen eine Rolle spielen46 . Auch in den Fraktionen ist der reale Einfluß der Abgeordneten unterschiedlich entwickelt4 7, ohne daß der Gleichheitssatz diese Unterschiede künstlich einebnen könnte oder auch nur sollte.

b) Die Gleichheit als Begrenzung von Freiheit

Die vom BVerfG entwickelte Ableitung der Gleichheit aus dem Umstand, daß das Parlament als Ganzes das Volk repräsentiere, läßt stärker deren andere Bedeutung erkennbar werden, nämlich ihren freiheitsbegrenzenden Gehalt. Da die Freiheit jedes Abgeordneten gerichtet ist auf gleiche Beteiligung an der Erfüllung der Parlamentsaufgaben, kann es eine schrankenlose Freiheit des Abgeordneten nicht geben. Seine Rechte müssen sich, wie das

45 BVerfGE 80,188,228,231. 46 BVerfGE 80,188,221. 47 Hans Apel hat schon 1968 von der "parlamentarischen Dreiklassengesellschaft" gesprochen, die sich für ihn aus den Mitgliedern der engeren Fraktionsführung, den Verbandsvertretern und dem "Fußvolk" zusammensetzt (Apel, Der deutsche Parlamentarismus, 1968, S.86). Der konkrete Anlaß für Apels Kritik, das Fehlen von persönlichen Mitarbeitern bei den zum Fußvolk zählenden Abgeordneten, besteht allerdings seit 1969 nicht mehr.

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1. Kapitel: Der Status des Abgeordneten nach dem Grundgesetz

BVerfG formuliert4 8 , als Mitgliedschaftsrechte einfügen in deren notwendig gemeinschaftliche Ausübung, was Beschränkungen dieser Rechte bedinge. Die allen Abgeordneten garantierte Gleichheit bei der Ausübung der Kompetenzen stellt somit eine äußerste Schranke auf für die Zuerkennung von Befugnissen, jedem kann nur ein solches Maß an Freiheit ermöglicht werden, das es angesichts der insgesamt begrenzten Kapazitäten erlaubt, allen anderen Abgeordneten die gleiche Freiheit zu gewährleisten. Besonders deutlich läßt sich dies am Beispiel des Rederechts zeigen. Könnte ein Abgeordneter unbeschränkt zu jedem Tagesordnungspunkt sprechen, würde dies, weil die Zeit, die für die Debatten insgesamt zur Verfügung steht, naturgemäß knapp ist, unweigerlich dazu führen, daß andere überhaupt nicht zu Wort kämen. Die Freiheit eines Abgeordneten würde damit automatisch zu Lasten der Freiheit anderer gehen. Die prinzipielle Gleichheit gebietet insoweit, die Redezeiten so zu begrenzen, daß alle in möglichst gleicher Weise die Chance haben, von ihrem Rederecht Gebrauch zu machen. Das gleiche gilt aber auch für die Möglichkeit, Vorlagen einzubringen. Könnte jeder Abgeordnete dies in beliebigem Umfang tun, würde keine Gelegenheit bestehen, auch nur annähernd alle Initiativen im Parlament zu behandeln. Will man also allen Parlamentsmitgliedern eine gleichberechtigte Initiativrnöglichkeit einräumen und es nicht dem Zufall oder gar Willkür überlassen, welche Vorlagen vom Parlament behandelt werden, müssen die Rechte des einzelnen Abgeordneten in irgendeiner Form beschränkt werden, um die Anzahl der Vorlagen in Grenzen zu halten. Dafür stehen grundsätzlich zwei Wege zur Verfügung. Entweder man beläßt eine Befugnis bei dem einzelnen Abgeordneten, beschränkt aber die Anzahl oder Dauer ihrer Ausübung. Von dieser Möglichkeit macht die Geschäftsordnung des Bundestages in Anlage 4 für das Recht Gebrauch, Fragen zur schriftlichen oder mündlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten49 , sowie beim Rederecht in Form der individuellen Redezeitbeschränkung nach § 35 Abs. 1 Satz 2 GOBT auf 15 Minuten. Oder aber, und dies ist der praktisch häufigere Weg, man macht die Ausübung des Rechts von einem Quorum abhängig. BVerfGE 80,188,219. Jedes Mitglied des Bundestages ist nach Nr. 1 dieser Anlage berechtigt, für die Fragestunden einer Sitzungswoche bis zu zwei Fragen zur mündlichen Beantworung an die Bundesregierung zu richten. Nach Nr. 13 kann es zudem in jedem Monat bis zu vier Fragen zur schriftlichen Beantwortung stellen. 48

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2. Kapitel

Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

§ 7: Die Vormachtstellung der Fraktionen

im historischen Überblick

Während sich das Grundgesetz an herausgehobener Stelle zum Status des Abgeordneten äußert, nämlich in Art. 38 GG und damit ganz am Anfang der Bestimmungen über den Bundestag, bezieht es zu den Fraktionen weit weniger deutlich Stellung. Tatsächlich kam der Begriff bis 1968 in der Verfassung überhaupt nicht vor. Erst seit im Rahmen der Notstandsverfassung Art. 53 a GG über den Gemeinsamen Ausschuß eingeführt wurde, werden darin auch eher beiläufig l die Fraktionen von der Verfassung erwähnt. Die weitgehende Unsicherheit, die im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Verankerung2 und die Rechtsnatur der Fraktionen] zu konstatieren ist, hat ihre Wurzeln zumindest teilweise auch in dieser Zurückhaltung der Verfassung, die angesichts der dominierenden Position der Fraktionen im Parla-

1 Jekewitz, Politische Bedeutung, Rechtsstellung und Verfahren der Bundestagsfraktion, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 37, Rdnr. 3; Kasten, Ausschußorganisation, S. 138; Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 103. Dach bezeichnet die Erwähnung der Fraktionen in RiA 1981, 212, 213, sogar als nachrangig, und in DVBI. 1982, 1080, als eher zufallig. 2 So hat etwa das BVerfG in früheren Urteilen helVorgehoben, das Grundgesetz erkenne mit der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG zugleich die Fraktionen an (BVerfGE 10,4, 14), in neueren Urteilen wird demgegenüber eher der Charakter als Zusammenschluß von Abgeordneten und damit die Herleitung aus Art. 38 GG betont (BVerfGE 70,324,363). ] So werden die Fraktionen in der Literatur als Organe oder Organ teile des Parlaments, Teile der Parteien, privatrechtliche oder öffentlich-rechtliche Vereine, nichtrechtsfähige Vereine mit Innenrechtsfähigkeit, öffentlich-rechtliche Körperschaften, freie Vereinigungen von Abgeordneten oder Staatsorgane sui generis qualifziert.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

mentsleben erstaunlich ist". Dabei ist ihr Auftreten keineswegs ein neues Phänomen, man kann beinahe sagen, daß die Fraktionen in Deutschland auf eine ebenso lange Tradition zurückblicken wie der Parlamentarismus selbst5 • Gekennzeichnet ist ihre historische Entwicklung jedoch dadurch, daß sie zwar schon sehr früh bestimmenden Einfluß auf den Ablauf des parlamentarischen Geschehens erlangten, rechtlich aber lange Zeit völlig ignoriert wurden und ihre Tätigkeit im parlamentarischen "Untergrund6" entfalten mußten. Mehr noch, die Bestimmungen der Geschäftsordnungen waren oft sogar darauf angelegt, eine Gruppierung der Abgeordneten unter politischen Gesichtspunkten möglichst zu verhindern7 •

1. Die Fraktionen in der Frankfurter Nationalversammlung Der Beginn einer Fraktionsbildung kann bereits in der Frankfurter Nationalversammlung im Jahre 1848 angesiedelt werdens. Bei der Wahl der Nationalversammlung spielten Parteien noch keine Rolle, das erste gesamtstaatliche Parlament in Deutschland konstituierte sich daher als das klassische Honoratiorenparlament von Abgeordneten, die in erster Linie auf-

4 Demgegenüber enthalten die neueren Landesverfassungen durchgehend Regelungen über die Fraktionen: Art. 67 LV Brandenburg, 25 LV Mecklenburg-Vorpommern, 19 Abs. 1 LV Niedersachsen, 46 Abs. 2 LV Sachsen, 47 LV Sachsen-Anhalt, 58 LV-Entwurf Thüringen. Für eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Anerkennung auch im Grundgesetz Hagelstein, Rechtsstellung, S. 195. 5 Hauenschild, Wesen, S. 30. 6 Hauenschild, Wesen, S. 36; Kürschner, Statusrechte, S. 34. 7 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 278. Nach Hauenschild, Wesen, S. 31, haben sich die Fraktionen neben und auch gegen das geschriebene Geschäftsordnungsrecht durchgesetzt. An zwei Beispielen läßt sich dies besonders verdeutlichen. So sollten die in den Geschäftsordnungen vorgesehenen Abteilungen vor allem die Bildung von Fraktionen verhindern (Kürschner, Statusrechte, S. 26 FN 18). Gleichfalls gegen jede politisch orientierte Grupppierung gerichtet war die Bestimmung der Sitzplätze nach dem Lebensalter, wie sie etwa im württembergischen Parlament vorgenommen wurde. S Erste regelmäßige Zusammenkünfte von Abgeordneten zur Besprechung gemeinsamen parlamentarischen Vorgehens lassen sich sogar schon in den Landtagen des Frühkonstitutionalismus nachweisen, namentlich von den Liberalen im badischen Landtag, doch können diese losen politischen Gruppierungen allenfalls ansatzweise als Fraktionen bezeichnet werden. Vergl. zur Situation im badischen Landtag Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 16 f.

§ 7: Die Vonnachtstellung der Fraktionen im historischen Überblick

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grund ihres persönlichen Ansehens gewählt worden waren9 • Bereits in den ersten Sitzungen erwies sich jedoch, daß eine erfolgreiche parlamentarische Arbeit ohne einheitlich auftretende Gruppen nicht möglich ist 10, da nicht alle Abgeordneten zu jedem Tagesordnungspunkt ihre Meinung vortragen konnten und es die Verhandlungen zu sehr verzögerte, alle Anträge im Plenum zu beraten. Abgeordnete wie Präsident von Gagern und Blum forderten daher zur Fraktionsbildung im Parlament auf, um die Verhandlungen im Plenum zu straffen ll . Außerdem hatte es sich gezeigt, daß ohne Vorformung der Meinungsbildung in Gruppen mit ähnlichen Ansichten politische Vorstellungen nicht wirkungsvoll in die Entscheidungen eingeführt werden konnten l2 • Die "Klubs" oder, wie es auch damals schon hieß "Fraktionen", die in der Folge entstanden, bildeten sich nach der unterschiedlichen Beantwortung der damals zentralen Sachfragen - großdeutsche oder klein deut sche Lösung, Republik oder Monarchie - um herausragende Vertreter der jeweiligen Lösungen 13 und nannten sich häufig nach den Gaststätten, in denen sie tagten. Allerdings blieb die Zahl der Abgeordneten, die sich keinem dieser Klubs anschlossen, sondern fraktionslos blieben, noch vergleichsweise hoch. Wenn auch der Zusammenschluß zunächst noch recht locker war und eine relativ große Fluktuation zwischen den einzelnen Klubs erfolgte l 4, weil das Bindeglied der gemeinsamen Parteizugehörigkeit fehlte, wiesen sie doch schon eine gewisse innere Organisation auf. Auch stimmten die meisten Abgeordneten im Plenum gemäß den zuvor in der Fraktion gefaßten Beschlüssen ab, bereits in der Paulskirche konnte die Plenardebatte also nur in Ausnahmefällen Abgeordnete von der Richtigkeit einer Ansicht überzeugen l5 • Die Geschäftsordnung nahm die Fraktionen nicht nur nicht zur Kenntnis, sie stellte darüber hinaus sogar ein Verfahren zur Vorberatung der Verhandlungsgegenstände auf, durch das ihre Mitwirkung weitestmöglich ausgeschlossen werden sollte. Schon damals glaubte man offensichtlich einen 9 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Band n, 3. A., 1988, S. 608 f.; Hauenschild, Wesen, S. 23; Kürschner, Statusrechte, S. 23 f.; Kasten, Ausschußorganisation, S. 137; Schönberger, Rechtsstellung, S. 8; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 12. 10 Tonnin, Geschichte der deutschen Parteien seit 1848, 1966, S. 26. 11 Paulskirche, Sten.Ber. Band 1,8. Sitzung, 27.5.1848, S. 122; 21. Sitzung, 22.6.1848, S. 468. 12 Tonnin, Geschichte, S. 27. 13 Bergsträsser, Geschichte der politischen Parteien in Deutschland, 11. A., 1965, S. 80; Kremer, Der Abgeordnete zwischen Entscheidungsfreiheit und Parteidisziplin, 1953, S. 15; Hauenschild, Wesen, S. 23. 14 E. R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte 11, S. 609; Kürschner, Statusrechte, S.26; Hauenschild, Wesen, S. 24; Schönberger, Rechtsstellung, S. 11. 15 Hauenschild, Wesen, S. 24; Kürschner, Statusrechte, S. 26.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Widerspruch feststellen zu müssen zwischen der Forderung, die Abgeordneten sollten Vertreter des ganzen Volkes sein, und ihrem Zusammenschluß zu Gruppierungen mit einheitlicher politischer Linie l6 • In Anlehnung an das Vorbild der französischen Nationalversammlung wurden daher als Untergliederungen des Parlaments 15 Abteilungen gebildet, auf die die Abgeordneten alle vier Wochen neu durch ein Losverfahren aufgeteilt wurden (§ 1 GO NY 1848). Diesen Abteilungen war unter anderem die Vorberatung von Vorlagen anvertraut, nach erfolgter Beratung und Abstimmung in den Abteilungen wurde dann ein Mitglied pro Abteilung mit absoluter Stimmenmehrheit in die für jeden Gegenstand ad hoc zu bildenden Ausschüsse gewählt (§§ 19, 20 GO NY 1848). Bereits in der Frankfurter Nationalversammlung wurde dieses System der Ausschußbildung aber von den Fraktionen unterlaufen, die in der Praxis bei äußerlichem Fortbestehen der Abteilungen bestimmenden Einfluß auf die Zusammensetzung der Ausschüsse nahmen l7 • Von Anfang an war also die Frage der Ausschußbesetzung mit der dominierenden Stellung der Fraktionen eng verknüpft l8 •

2. Die Fraktionen im Preußischen Abgeordnetenhaus In der 2. Kammer des Preußischen Landtages, auf deren Geschäftsordnung vom 28.3.1849 sich diejenige des Deutschen Bundestages zurückführen läßt l9 , bildeten sich sofort Fraktionen, zu denen die Geschäftsordnung jedoch auch hier schwieg. Die Bildung von nunmehr sieben Abteilungen war beibehalten worden (§§ 2 ff. GO Pr 1849), deren Zusammensetzung ausge16 So bezeichnete Robert von Mohl, auf dessen Vorarbeiten die Geschäftsordnung der Frankfurter Nationalversammlung zurückgeht, die Bildung von Fraktionen als "Beweis von unfertiger staatlicher Erziehung" (Zitat bei Ziebura, Anfange des deutschen Parlamentarismus, FG Fraenkel, 1963, S. 196). 17 Kramer, Fraktionsbindungen in deutschen Volksvertretungen 1819 - 1849, 1968, S. 196; Kürschner, Statusrechte, S. 25; Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 22. 18 Nach Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 14, bestand ein wechselseitiger Kausalnexus zwischen der Entwicklung des Ausschuß- und des Fraktionswesens. 19 Kürschner, Statusrechte, S. 27; Kretschmer, Geschäftsordnungen deutscher Volksvertretungen, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 9, Rdnr. 3. Zur Entwicklung des parlamentarischen Geschäftsordnungsrechts in Deutschland vergl. Deutscher Bundestag (Hrsg.), Die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente seit 1848. Eine synoptische Darstellung, 1986.

§ 7: Die Vormachtstellung der Fraktionen im historischen Überblick

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lost wurde und die dementsprechend völlig heterogen strukturiert waren. Die Aufgabe der Abteilungen bestand neben der Wahlprüfung (§§ 3 ff. GO Pr 1849) wiederum in der Vorberatung von Vorlagen (§ 15 Abs. 3 GO Pr 1849) und der Wahl der Kommissionsmitglieder (§ 19 GO Pr 1849). Alle drei Funktionen wurden den Abteilungen aber nach und nach entzogen, was zu ihrem faktischen Absterben führte, wenngleich sie formal bis 1919 weiterbestanden. Vorlagen wurden bereits im Herbst 1849 nur noch in den Kommissionen, nicht mehr in den Abteilungen beraten, weil die Beratung dort aufgrund der Größe und Zusammensetzung nicht gründlich genug war. Die eigentliche Information der Abgeordneten und die wesentlichen Vorberatungen aber fanden in den Fraktionen staU 20 . Auch die Mitglieder der Kommissionen wurden schon bald (spätestens seit Anfang der sechziger Jahre) von den Fraktionen bestimmt und nur noch formell von den Abteilungen gewählt21 . Zur Vorbereitung der Besetzung der Kommissionen und anderer Ämter wurde (gleichfalls außerhalb der Geschäftsordnung) der Seniorenkonvent, ein Vorläufer des heutigen Ältestenrates, eingerichtet, in dem Vertreter der Fraktionen zu einer innerparlamentarischen Verständigung kamen22 . Später wurden hier auch andere Fragen von allgemeinem Interesse wie der Arbeitsplan und die Redeordnung behandelt23 . Gerade der Seniorenkonvent wurde somit, auch später im Reichstag, ein wesentliches Instrument zu einer Befestigung der Macht der Fraktionen, was dazu führte, daß fraktionslose Abgeordnete, die es noch immer in größerem Umfang gab, etwa von der Kommissionsarbeit weitgehend ausgeschlossen waren 24 •

20 Hauenschild, Wesen, S. 32; Kürschner, Statusrechte, S. 29. 21 Hauenschild, Wesen, S. 33. 22 Hatschek, Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1. Teil, 1915, S. 175 ff.; Dechamps, Macht und Arbeit der Ausschüsse, 1954, S. 132; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 23. 23 Hauenschild, Wesen, S. 34. Die Position der Fraktionen kam auch in der Redeordnung deutlich zum Ausdruck. Während die Rednerliste ursprünglich gleichfalls durch ein Losverfahren aufgestellt wurde, war später die Fraktionsstärke für die Reihenfolge der Redner maßgeblich (Kürschner, Statusrechte, S. 30). 24 Kürschner, Statusrechte, S. 29.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

3. Die Fraktionen im Reichstag Auch im Reichstag des Norddeutschen Bundes und des Kaiserreichs waren von Anfang an Fraktionen vorhanden, ohne von der Geschäftsordnung25 vorgesehen zu sein. Eine Veränderung ist allerdings insoweit festzustellen, als sich inzwischen im außerparlamentarischen Bereich politische Parteien gebildet hatten, die die Kandidaten zur Wahl aufstellten, so daß die Fraktionen als parlamentarische Vertretung dieser Parteien angesehen werden konnten26 • Formell wurden auch hier sieben Abteilungen eingerichtet (§ 2 GO RT 1868), die aber in der Praxis ebenso wie im Preußischen Abgeordnetenhaus bald zur Bedeutungslosigkeit herabsanken, weil ihre Funktionen von Fraktionen und Seniorenkonvent übernommen wurden 27 . So wurden die Kommissionssitze spätestens seit 1875 durch eine Vereinbarung im Seniorenkonvent auf die Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke verteilt28 • Endgültig wurde aber erst im Jahre 1914 von der Bildung der Abteilungen abgesehen 29 • Von den Fraktionen hingegen wurde trotz ihres steigenden Einflusses auf den Ablauf des parlamentarischen Geschehens auch weiterhin in der Geschäftsordnung keine Notiz genommen30 . Erst die Geschäftsordnung des Reichstages der Weimarer Republik enthielt in ihren §§ 7 bis 9 Bestimmungen über die Fraktionen und wies ihnen die Besetzung der Ausschüsse zu. Seither sind die Fraktionen auch nach der Geschäftsordnung die wesentlichen Faktoren des parlamentarischen Lebens.

25 Die Reichstagsgeschäftsordnung des Norddeutschen Bundes vom 12.6.1868 wurde am 21.3.1871 für den Reichstag des Kaiserreichs übernommen und galt mit zahlreichen Änderungen bis 1918. 26 Hauenschild, Wesen, S. 28; Kürschner, Statusrechte, S. 32; Schönberger, Rechtsstellung, S. 18; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 27. 27 Hauenschild, Wesen, S. 35. 28 Hauenschild, Wesen, S. 35; Kürschner, Statusrechte, S. 33. 29 RT Sten.Ber., 13. Legislaturperiode, 2. Session, 1. Sitzung, 4.8.1914, S. 4.

30 Im Preußischen Abgeordnetenhaus hatte die Geschäftsordnungskommission im Jahre

1911 vorgeschlagen, die Fraktionen in die Geschäftsordnung aufzunehmen und ihnen auch de

iure die Benennung der Kommissionsmitglieder zu übertragen. Dieser Vorstoß ist aber vom Abgeordnetenhaus nicht angenommen worden (Hauenschild, Wesen, S. 33). Demgegenüber billigte die Geschäftsordnung der Württembergischen Zweiten Kammer vom 12.8.1909 erstmals "Mitgliedervereinigungen" verhältnismäßige Berücksichtigung bei der Wahl der Schriftführer und Kommissionen zu (verg!. dazu Kasten, Ausschußorganisation, S. 138).

§ 7: Die Vormachtstellung der Fraktionen im historischen Überblick

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4. Fazit Zusammenfassend ist die Geschichte der Fraktionen davon geprägt, daß ihre dominierende faktische Position der rechtlichen Anerkennung immer ein Stück weit voraus war. Insofern ist auch der Umstand, daß das Grundgesetz die Fraktionen ursprünglich nicht ausdrücklich erwähnte, weniger erstaunlich, als es zunächst den Anschein hat. Die Frage nach ihrem verfassungsrechtlichen Stellenwert kann gleichwohl - aber angesichts der Zurückhaltung der Verfassung auch nur - beantwortet werden, wenn man im Wege einer funktionalen Betrachtung die Rolle der Fraktionen im politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozeß untersucht. Die maßgeblich von Badura entwickelte funktionale Sicht vom freien Mandat des parteigebundenen Abgeordneten findet also ihre sinnvolle Ergänzung in der funktionalen Betrachtung der Fraktionen3l • Über die Problemstellung beim freien Mandat hinaus ist eine solche Betrachtung bei den Fraktionen sogar schon geboten, um überhaupt eine Aussage über ihre Verankerung im Grundgesetz treffen zu können.

31 Kasten, Ausschußorganisation, S. 135.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

§ 8: Die Fraktion als Instrument zur effektiven

Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten

Nach § 10 Abs. 1 GOBT und den entsprechenden Vorschriften für die Länderparlamente 1 sind Fraktionen Vereinigungen von Abgeordneten. Personen ohne Abgeordnetenmandat können nicht Mitglieder einer Fraktion sein2 • Die Charakterisierung als Zusammenschluß von Abgeordneten ist die einzige Aussage, die allen Geschäftsordnungen deutscher Parlamente bezüglich der Fraktionen gemeinsam ist. Insofern liegt es nahe, sich zunächst der Bedeutung der Fraktionen für die ihnen angehörenden Abgeordneten bewußt zu werden.

1. Die Funktionen der Fraktion in bezug auf den einzelnen Abgeordneten a) Die technischen Hilfen

Die Vorteile, welche die Fraktionsmitgliedschaft dem einzelnen Abgeordneten bietet, sind vielfältig. Zu erwähnen sind hier einmal rein arbeitstechnische Hilfen wie die Fraktionsbüros, fraktionseigene Archive und Pressestellen, die der Abgeordnete auch zur Veröffentlichung seiner eigenen politischen Arbeit nutzen kann3 •

1 §§ 17 Abs. 1 GO Baden-Württemberg; 6 Abs. 1 GO Bayern; 7 Abs. 1 GO Berlin; 6 Abs. 1 GO Brandenburg; 7 Abs. 1 GO Bremen; 9 Abs. 1 GO Hamburg; 2 Abs. 1 GO Hessen; 17 Abs. 1 GO Mecklenburg-Vorpommern; 2 Abs. 1 GO Niedersachsen; 16 Abs. 1 GO Nordrhein-Westfalen; 8 Abs. 1 GO Rheinland-Pfalz; 28 Abs. 1 Gesetz über den Landtag Saarland; 12 Abs. 1 GO Sachsen; 2 Abs. 1 GO Sachsen-Anhalt; 22 Abs. 1 GO Schieswig-Hoistein; 8 Abs. 1 GO Thüringen. 2 Ganz herrschende Meinung: VergI. nur Vonderbeck, ZPar11975, 294, 296 f.; Linck, ZParl 1980,511 ff.; Hauenschild, Wesen, S. 174; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 197 FN 636. 3 Hauenschild, Wesen, S. 141; Schäfer, Bundestag, S. 144.

§ 8: Effektive Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten

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b) Die Bereitstellung politisch aufbereiteter Informationen und Entscheidungshilfen Noch bedeutsamer sind die Informationen, die der Abgeordnete über die Fraktion erlangen kann. So haben die Fraktionen nicht nur administrative, sondern auch wissenschaftliche Mitarbeiter angestellt, die in der Regel nach Fachgesichtspunkten den jeweiligen Arbeitskreisen oder Arbeitsgruppen zugeordnet sind und somit einen bestimmten Politikbereich qualifiziert betreuen4 • Der spezifische Nutzen, den dies für den fraktionsangehörigen Abgeordneten bedeutet und den das BVerfG auch im Fall Wüppesahl hervorgehoben hatS, besteht darin, daß ihm die Informationen bereits in einer politisch aufgearbeiteten Form bereitgestellt werden, wie er sie ohne diese Hilfeleistung nur mühsam erhalten könnte. Der Abgeordnete kann sich darauf verlassen, daß die Probleme von einem verwandten politischen Standpunkt betrachtet werden 6, und die Informationen daher als Grundlage für sein parlamentarisches Handeln besonders geeignet sind. Neben der Bereitstellung von wissenschaftlichen Fachkräften veranstalten die Fraktionen eigene Anhörungen, durch die ihre Mitglieder sich beraten lassen können 7 • Informationen erhält der Abgeordnete aber nicht nur durch diese Hilfestellungen des Fraktionsapparates, sondern auch von seinen Fraktionskollegen selbst. Da das Parlament arbeitsteilig organisiert ist und seine Arbeit im wesentlichen in den Ausschüssen geleistet wird 8 , kann sich der Abgeordnete 4 Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 65; Kretschmer, Fraktionen, S. 120. Eine Übersicht über die zahlenmäßige Entwicklung der Hilfsdienste der Fraktionen bei Schindler Datenhandbuch Band I, S. 289; ders., Datenhandbuch Band III, S. 299. Danach beträgt die Gesamtzahl der Angehörigen der Fraktionshilfsdienste (also einschließlich der administrativen und technischen Hilfskräfte) in der 11. Wahlperiode 619. Seit der Parlamentsreform von 1969 besteht darüber hinaus für die einzelnen Abgeordneten auch die Möglichkeit, persönliche Mitarbeiter zu beschäftigen, für deren Anstellung der Bundestag dem Abgeordneten in begrenzter Höhe Aufwendungen ersetzt. Vergl. zu den leistungen für persönliche Mitarbeiter und zu deren Sozialstruktur den Überblick bei Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 983-987; ders, Datenhandbuch Band III, S. 861-863. Berücksichtigt man schließlich noch die Wissenschaftlichen Dienste der Bundestagsverwaltung, so stehen einem fraktionsangehörigen Abgeordneten insgesamt Hilfsdienste auf drei Ebenen zur Informationsbeschaffung zur Verfügung. S BVerfGE 80,188,232. 6 Auf diesen Vorzug, der die von den Fraktionsdiensten gelieferten Informationen auch von der politisch neutralen Unterrichtung durch die Wissenschaftlichen Dienste der Bundestagsverwaltung unterscheidet, weist Hauenschild, Wesen, S. 141, zu Recht hin. 7 Kretschmer, Fraktionen, S. 109; Schäfer, Bundestag, S. 147. 8 Vergl. nur BVerfGE 80, 188, 221 f.; Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 119. Zeh, ZPar11986, 396, 410, spricht sogar vom Bundestag als "Ausschußparlament".

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

nur in einem relativ eng begrenzten Sachbereich aus eigener Anschauung unterrichten, nämlich in den Ausschüssen, denen er als ordentliches oder stellvertretendes Mitglied angehört9• Die Kooperation in einer Fraktion gewährleistet nun, daß er auch aus den anderen Politikfeldern die notwendigen Informationen erhält. Auch hier ist wieder sichergestellt, daß ihm diese aus einer Sicht vermittelt werden, die mit seiner eigenen grundsätzlich übereinstimmt. Daß der Abgeordnete sowohl auf die fachliche wie auf die politische Kompetenz seiner Fraktionskollegen vertrauen kann, schafft die Voraussetzung dafür, daß er sich bei Entscheidungen auf diesen Gebieten an deren Auffassung orientieren kann, wenn er sich selbst damit nicht intensiv genug beschäftigen konnte 10. Die innerfraktionelle Arbeitsteilung bedeutet daher eine wesentliche Entscheidungshilfe für ihn, durch die er der doppelten Anforderung genügen kann, welche das arbeitsteilige System des Parlaments einerseits und die gleichwohl bestehende Mitverantwortung für die Gesamtheit der parlamentarischen Aufgabenerfüllungll andererseits an ihn stellen.

c) Die Potenzierung der Mitwirkungsmöglichkeiten durch ein System

wechselseitiger Beeinflussung

Die Fraktion ist für den ihr angehörenden Abgeordneten das Forum, in das er seine politischen Ideen einbringen und in der Diskussion mit Gleichgesinnten zunächst auf ihre Richtigkeit überprüfen kann, ehe er damit vor die Öffentlichkeit tritt l2 . Diese Gelegenheit bietet ihm einen zweifachen Vorteil. Er kann aus dem Dialog mit seiner Fraktion Anregungen und Verbesserungsvorschläge erhalten für die Arbeit in dem Fachbereich, auf den er 9 Die meisten Abgeordneten gehören einem Ausschuß als ordentliches und einem weiteren Ausschuß als stellvertretendes Mitglied an (Hölscheidt, DVBI. 1989, 291, 293). 10 Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 23. Wie bereits ausgeführt, kann der Abgeordnete die Auffassung anderer Abgeordneter übernehmen, deren Urteil er in einer bestimmten Materie vertraut, ohne gegen die in Art. 38 Abs, 1 Satz 2 GG statuierte Verpflichtung zu einer ausschließlich an seinem Gewissen orientierten Entscheidung zu verstoßen. 11 Die Sicht von der umfassenden Zuständigkeit jedes Abgeordneten bestimmt auch die Rechtsprechung des BVerfG, nach der sichergestellt sein muß, daß alle Abgeordneten an (allen) parlamentarischen Entscheidungen mitwirken (BVerfGE 44, 308, 316). Letztlich folgt dies aus der formalisierten Gleichheit aller Abgeordneten, was eine kongruente Zuständigkeit aller Mitglieder des Parlaments bedingt. Für Kretschmer, Fraktionen, S. 97, gibt das freie Mandat dem Abgeordneten die umfassende Zuständigkeit. 12 Hauenschild, Wesen, S. 121 f.

§ 8: Effektive Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten

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sich spezialisiert hat 13 • Von ausschlaggebender Bedeutung ist diese von der Fraktion geleistete Unterstützung gerade für Abgeordnete, die erstmals ins Parlament einziehen. Sie finden hier eine "Heimat", die ihnen die Orientierung im neuen Amt und die Einarbeitung in ihr Tätigkeitsgebiet ungemein erleichtern kann l4 • Zum anderen gibt die Fraktion dem Abgeordneten aber die Gelegenheit, andere von der Richtigkeit seiner Positionen zu überzeugen. Abgesehen davon, daß er in vielen Fällen der Unterstützung nach der Geschäftsordnung schon bedarf, um überhaupt parlamentarische Initiativen ergreifen zu können, erhöht ein breiter Rückhalt, wie ihn die Fraktion zu gewähren vermag, die Chance, daß sich seine Vorstellungen auch in der Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner durchsetzen lassen. Die Diskussion in der Fraktion vermittelt dem Abgeordneten aber nicht nur Anregungen und Bestätigung für die eigene Tätigkeit, sondern eröffnet ihm umgekehrt auch den Weg, seinerseits auf diejenigen seiner Fraktionskollegen einzuwirken, die in anderen Ausschüssen tätig sind. Dadurch daß die Vorlagen parallel zu den Ausschußberatungen in den Fraktionen behandelt werden, wird er über die dort anstehenden Fragen informiert und kann dann, sofern er insoweit zur Entwicklung persönlicher Vorstellungen in der Lage ist, diese über seine Fraktion in die Beratungen dieser Ausschüsse einfließen lassen, ohne ihnen selbst anzugehören 15. Die Mitgliedschaft in der Fraktion gestattet ihm also eine indirekte Mitarbeit auf allen Gebieten und bedeutet somit eine Vervielfältigung der eigenen Gestaltungs- und Mitwirkungsmöglichkeiten. Diese wichtige Aufgabe der Fraktion spricht das BVerfG in der Entscheidung zur Beschlußfähigkeit des Bundestages an, wenn es dort die Vorverlagerung der Repräsentation in die Ausschüsse und Fraktionen feststellt l6 • Erst das Zusammenspiel dieser bei den Einrichtungen 13 Dies geschieht innerhalb der Fraktion wiederum in einem abgestuften Prozeß. Zunächst werden alle Fragen auf der Ebene der Arbeitskreise oder Arbeitsgruppen mit denjenigen Fraktionskollegen diskutiert, die auf dem gleichen oder einem benachbarten Sachgebiet arbeiten. Auf dieser Stufe können insbesondere fachliche Gesichtspunkte einfließen. Auf der darauffolgenden Stufe der Fraktionsvollversammlung stehen dann allgemeinpolitische Überlegungen (etwa die Vereinbarkeit mit anderen Politikfeldern) im Vordergrund. 14 Hauenschild, Wesen, S. 140. 15 Trute, Jura 1990, 184, 189. Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 171, gibt aIlerdings zu Recht zu bedenken, daß die anderen Abgeordneten bei ihrer Tätigkeit im Ausschuß gleichfaIls in Ausübung eines freien Mandats handeln und daher nicht etwa verpflichtet sind, Beschlüsse ihrer Fraktionen oder VorsteIlungen ihrer Fraktionskollegen in die Ausschußberatung einfließen zu lassen. Trotzdem aber ermöglicht die Mitgliedschaft in einer Fraktion noch am ehesten die mittelbare Mitwirkung eines Abgeordneten an Beratungen in Ausschüssen, denen er nicht angehört. 16 BVerfGE 44,306,318 ff.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

erlaubt jedem fraktionsangehörigen Abgeordneten, alle Entscheidungen des Bundestages in einem frühen Stadium und damit sehr viel wirkungsvoller zu beeinflussen, als er dies durch seine Stimmabgabe bei der Schlußabstimmung im Plenum kann. Von daher ist es, so das BVerfG, nicht zwingend erforderlich, daß der Abgeordnete an allen Schlußabstimmungen im Plenum mitwirkt, um seiner repräsentativen Funktion nachzukommen.

2. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG a) Das Koalitionsrecht als Element des Abgeordnetenstatus

Faßt man die Analyse der Aufgaben zusammen, welche die Fraktion für den einzelnen Abgeordneten erfüllt, kann man feststellen, daß die Mitgliedschaft in einer Fraktion seine tatsächlichen Mitwirkungsmöglichkeiten wesentlich erhöht. Das liegt nicht einmal primär dar an, daß die meisten Befugnisse nach der Geschäftsordnung verfahrensmäßig nur von der Fraktion oder doch zumindest einem Quorum in Fraktionshöhe geltend gemacht werden können. Vielmehr ergibt sich die Einflußsteigerung schon aus materiellen Gründen. Angesichts des Zwangs zu einer arbeitsteiligen Organisation, wie ihn die immer komplizierter werdenden Lebensverhältnisse mit sich bringen!7, ist der Abgeordnete auf die Zusammenarbeit mit anderen angewiesen, um sein Amt effektiv ausüben zu können. Nur so erhält er die nötige Hilfestellung in all den Fragen, mit denen er sich aus zeitlichen oder sonstigen Gründen nicht selbst befassen kann, um trotzdem die eigenverantwortliche Entscheidung treffen zu können, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG von ihm verlangt. Nur so ist es ihm andererseits möglich, auf Materien einzuwirken, an denen er selbst außerhalb des Plenums nicht beteiligt ist. Ist somit die Zugehörigkeit zu einer Fraktion für die Mandatsausübung des Abgeordneten von ausschlaggebender Bedeutung, kann dies auch für die verfassungsrechtliche Beurteilung nicht ohne Belang sein. Hierfür ist weiterhin zu beachten, daß die Fraktion eine Vereinigung auf freiwilliger Basis ist. Allein der Umstand, daß es den Abgeordneten frei steht, ob sie sich zur Fraktion zusammenschließen wollen, läßt den mit diesem Zusammenschluß unvermeidlich einhergehenden Druck auf den frak17

BVerfGE 44,308,317.

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tionsangehörigen Abgeordneten im Hinblick auf Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG unbedenklich erscheinen. Da auch aus der Sicht des Abgeordneten die Vorteile der Fraktionsmitgliedschaft weit überwiegen, und zudem, bedingt durch das Wahlrecht, Abgeordnete mit gleicher Parteizugehörigkeit und damit gleicher politischer GrundeinsteIlung ins Parlament gelangen, kommt der Fall, daß sich ein Abgeordneter der entsprechenden Fraktion nicht anschließt, in der Praxis nicht vor l8 • Dennoch wird man der verfassungsrechtlichen Ausgestaltung der Fraktionsbildung nicht gerecht, wenn man, wie es in der Literatur bisweilen geschieht, davon ausgeht, die Fraktion entstehe nicht mehr erst durch den Zusammenschluß von Abgeordneten, sondern sei bereits in dem Augenblick vorhanden, wenn eine politische Partei als Ergebnis einer Wahl in einem Parlament vertreten ist l9 • Rechtlich bedarf es zur Gründung einer Fraktion, wie auch die Geschäfsordnungsbestimmungen in Bund und Ländern übereinstimmend ausweisen, stets der Vereinigung derjenigen Abgeordneten, die gemeinsam eine Fraktion bilden wollen, es sind also allein die Abgeordneten, die die Fraktion in Ausübung ihres Mandats hervorbringen können 2o . Konsequenterweise und vollkommen zu Recht hat das BVerfG daher im Beschluß über die Zurückweisung einer Verfassungsbeschwerde der acht bayerischen Landtagsabgeordneten, denen die Geschäftsordnung einen Zusammenschluß zur Fraktion verweigerte, das Recht, sich mit anderen Abgeordneten zu einer Fraktion zu verbinden, zum verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten gezählt 21 . Diese Aussage hat das BVerfG inzwischen mehrfach bestätigt22 . Die Geschäftsordnung des Parlaments, die der Verfas18 Tschermak von Seysenegg, Fraktionen, S. 13 f., hebt zutreffend hervor, daß sich für den partei politisch gebundenen Abgeordneten keine Beitrittsprobleme stellen. Im Bundestag hat es zu Beginn der Wahlperiode nur 1949 und 1953 jeweils zwei fraktionslose Abgeordnete gegeben (Vergl. Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 234). Der typische Fall des fraktionslosen Abgeordneten ist also nicht derjenige, der von Anfang an keiner Fraktion beitritt, sondern derjenige, der diese Fraktion im Laufe der Legislaturperiode verläßt oder von ihr ausgeschlossen wird. 19 Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 36 f., der allerdings einräumt, daß sich der Abgeordnete unter Berufung auf Art. 38 GG der organisatorischen Einbindung entziehen kann; Borchert AöR 102 (1977), 210, 229 f. 20 Hauenschild, Wesen, S. 41; Ritzel/Bücker, HdbPP, § 10, Anm. lId; Kasten, Außschußorganisation, S. 141; Schönberger, Rechtsstellung, S. 35 .. 21 BVerfGE 43,142,149. 22 BVerfGE 70, 324, 354; 80, 188, 218. Ebenso Kisker, JuS 1980, 284, 285; Hohm, NJW 1985,408,410; Bick, Ratsfraktion, S. 42. Wie das BVerfG im POS-Urteil klargestellt hat, folgt aus der Freiheit des Mandats auch das Recht, sich in anderer Weise als in einer Fraktion zu gemeinsamer Arbeit zusammenzufinden (BVerfGE 84, 304, 322). 11 Demmler

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

sung im Rang nachsteht, kann die Chance auf den Fraktionsstatus daher, wie es für alle Befugnisse gilt, die dem Abgeordneten aus seiner verfassungsrechtlichen Stellung erwachsen23, nur ausgestalten und insoweit auch einschränken (etwa indem sie eine bestimmte Mindeststärke fordert), kann sie ihm jedoch nicht völlig entziehen. Als überholt muß man daher eine in der Literatur geäußerte Auffassung ansehen, ein Beschluß des Parlaments, daß es in ihm keine Fraktionen geben solle, sei zwar unsinnig, rechtlich wäre dagegen aber nichts einzuwenden, da das Parlament in der Regelung seiner Organisation autonom sei24 • Diese Stellungnahme übersieht völlig das Ausmaß, das ein solcher Eingriff in den verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten bedeuten würde 25 .

b) Die Anerkennung der Fraktion in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG

Die Abgeordneten haben es also in der Hand, durch ein freiwilliges und in der Wahrnehmung ihres freien Mandats liegendes Verhalten die Fraktion zum Entstehen zu bringen26, insofern beruht diese auf der Ausübung des Koalitionsrechts der Abgeordneten27 • Dann aber ist auch die Rechtsstellung der Fraktion selbst als Verwirklichung dieses Koalitionsrechts in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG anzusiedeln. Dieser zweite Schritt, daß die Fraktion als solche ihre verfassungsrechtliche Grundlage ebenso wie der Abgeordnete in der Bestimmung über das freie Mandat findet, ist vom BVerfG allerdings erst in neuerer Zeit nachvollzogen worden 28 , nachdem frühere Urteile allein Art. 21 GG in den Vordergrund gestellt hatten 29 • Sowohl was ihre Funktio23 BVerfGE 80,188,219. 24 Hauenschild, Wesen, S. 171 f. Hiergegen auch, allerdings ohne Begründung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481,496; Kasten, Ausschußorganisation, S. 152. 25 Eine andere Frage ist es, ob das Parlament verpflichtet ist, Fraktionen in der Geschäftsordnung zu institutionalisieren, wie Kassing, Das Recht der Abgeordnetengruppe, 1988, S. 64 ff., und Hagelstein, Rechtsstellung, S. 198 f., meinen. Da sowohl auf Bundesebene als auch in den Landtagen die Fraktionen institutionalisiert sind, ist diese Frage aber ohne praktische Relevanz. 26 In der Parlamentspraxis geschieht dies in konstituierenden Sitzungen der Fraktionen zu Beginn der Wahlperiode, häufig schon vor der Konstituierung des Parlaments, aber jedenfalls erst nach der Wahl. 27 Vergl. BVerfGE 80, 188, 220: • Ihre Bildung beruht auf der in Ausübung des freien Mandats getroffenen Entscheidung der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG)." 28 BVerfGE 70, 324, 363. 29 BVerfGE 10, 4,14; 43, 142, 148.

§ 8: Effektive Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten

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nen als auch vor allem was ihre Bildung anbelangt, ist die Hinwendung zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG aber sicher folgerichtig. Erst die Tatsache, daß die Abgeordneten in einem Akt, der sich als Ausübung ihres freien Mandats darstellt, die Fraktion gründen, rechtfertigt es, diese ihrerseits in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu verankern. 3. Die Konsequenzen aus der Verankerung der Fraktionen in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG

3. Die Konsequenzen aus der Verankerung der Fraktionen in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG a) Die Freiheit der Fraktionen

Daraus folgt zum einen, daß die Fraktion sich in gleicher Weise wie der Abgeordnete auf die Freiheit des Mandats stützen kann. Von besonderer Bedeutung ist das in der Beziehung zur Partei. Wenn auch die Angehörigen einer Fraktion in aller Regel der gleichen Partei angehören und sich sowohl ihrer Partei als auch ihrer Fraktion gegenüber auf das freie Mandat berufen können, so können Partei und Fraktion doch nicht gleichgesetzt werden. Auch die Fraktion ist in ihrem parlamentarischen Verhalten nicht an Beschlüsse der Partei gebunden, seien sie vor oder nach der Wahl ergangen. Eine Funktion, die Art. 38 GG gerade in einer von Parteien geprägten Demokratie beigemessen wird, ist es, ein flexibles Reagieren auf die sich stellenden Probleme und die Fähigkeit zur Kompromißfindung sicherzustellen. Zur Erreichung dieses Zwecks ist aber entscheidend, daß nicht nur der Abgeordnete als Einzelner, sondern auch der Zusammenschluß der Abgeordneten als wesentlicher Faktor bei der parlamentarischen Willensbildung dazu in der Lage ist. In der Literatur ist die Erstreckung der Mandatsfreiheit auf die Fraktion weitgehend anerkannt 30 . Eine Ausnahme stellt hier Preuß dar, der sich ausdrücklich gegen eine Anwendung von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG auf die Fraktion verwahrt 31 . Ähnlich wie er den Abgeordneten ausschließlich als 30 Seifert in: Seifert/Hömig (Hrsg.), GG, Art. 38, Rdnr. 11; Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 48; Kretschmer, Fraktionen, S. 154; Schönberger, RechtssteIlung, S. 167. 31 Preuß in: Alternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 54 f.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Exponenten seiner Partei sieht, der gegenüber die Freiheit von Aufträgen und Weisungen nicht gelte, will er auch eine rechtliche Bindung der Fraktionen an ordnungsgemäß zustandegekommene Beschlüsse der Partei konstruieren32 . Jedoch können seine Argumente nicht überzeugen. Wenn er etwa geltend macht, die Fraktion als körperschaftlich organisierte Vereinigung könne kein Gewissen und damit auch keine Gewissensfreiheit haben, von daher scheide eine Anwendung des Art. 38 GG hier aus, so ist diese Sicht zu sehr von dem Gewissensbegriff im Sinne des Art. 4 GG geprägt33. Versteht man Gewissen hingegen zutreffend als politische Überzeugung vom Gemeinwohl, so kann diese ohne weiteres auch von einer Fraktion, die sich ja aus einzelnen Personen zusammensetzt, gebildet werden, mehr noch, das Hervorbringen einer einheitlichen politischen Auffassung ist sogar, wie gesehen, die wesentliche Aufgabe der Fraktion. Weiterhin beruft sich Preuß darauf, die Fraktion sei ein körperschaftliches Gebilde mit eigener Existenz und ausgeprägtem Herrschaftscharkter, in dem sich die Willensbildung nach dem Mehrheitsprinzip vollzieht, so daß einzig das Gebot innerparteilicher Demokratie (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG), nicht aber die Vorschrift über das freie Mandat angemessen sei. Dieses Argument könnte von vornherein höchstens auf das interne Verhältnis Abgeordneter-Fraktion gelten, für das hier interessierende Außenverhältnis Fraktion-Partei hat es keinerlei Aussagekraft. Es bleibt daher dabei, daß sich auch die Fraktion Einflüssen von außen unter Hinweis auf Art. 38 GG entziehen kann. Nicht hingegen kann sich die Fraktion gegenüber ihren Mitgliedern auf das freie Mandat berufen, aus deren verfassungsrechtlichem Status sie die Geltung des Art. 38 GG auch für sich selbst ja erst ableiten kann. Dies hat vor allem die praktische Auswirkung, daß der Abgeordnete seine Fraktion, um seine persönlichen Anliegen durchzusetzen, notfalls auch mit der Drohung des Austritts unter Mitnahme des Mandats unter Druck setzen kann, ohne daß dies vor Art. 38 GG bedenklich wäre, der Fraktion umgekehrt aber, wie ausführlich dargelegt, keine Drohungen mit Sanktionen gestattet sind, weil dies verfassungswidrigen Frakionszwang bedeuten würde.

32 Ebenso wie für den Abgeordneten zieht Preuß auch für die Fraktion die Grenze der Einflußnahme von seiten der Partei erst dort, wo die Fraktion überhaupt keine Aktionsmöglichkeiten mehr hat, weil dann die Kompromißfindung bis zur Entscheidungsunfähigkeit behindert würde. 33 Es kann hier dahinstehen, ob seine Auffassung für den Begriff des Gewissens im Sinne von Art. 4 GG zutreffend wäre. Unstreitig genießen auch religiöse und weltanschauliche Gemeinschaften unabhängig von ihrer Rechtsform den grundrechtlichen Schutz des Art. 4 GG. Vergl. nur BVerfGE 19, 129, 132; 53, 366, 386 f.; PierothjSchlink, Grundrechte, Rdnr. 592.

§ 8: Effektive Wahrnehmung von Abgeordnetenrechten

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b) Die Gleichheit der Fraktionen Daneben bezieht die Fraktion aus der Rechtsstellung der ihr angehörenden Abgeordneten aber auch die Gleichheit34 • Gerade wenn man die Herleitung aus dem Status der Mitglieder vor Augen hat, ist aber zu erkennen, daß es dabei nicht um eine absolute Gleichbehandlung der einzelnen Fraktionen untereinander gehen kann. Um die zugrundeliegende Gleichheit der Abgeordneten zu wahren, ist vielmehr eine proportionale Berechtigung der einzelnen Fraktionen je nach der Anzahl der angeschlossenen Mitglieder, also eine verhältnismäßige Berücksichtigung nach der jeweiligen Fraktionsstärke, diejenige Form der Gleichheit, die dem in Art. 38 GG angelegten Status der Fraktion allein entspricht35 . In der parlamentarischen Praxis kommt die so verstandene Gleichheit vor allem in zwei Bereichen zum Ausdruck. So besteht ein gebräuchlicher Typ der parlamentarischen Aussprache (insbesondere bei größeren Debatten) darin, daß die festgelegte Gesamtredezeit auf die Fraktionen im Verhältnis ihrer Stärke verteilt wird 36 . Wie das BVerfG zutreffend festgestellt hat, wird gerade durch die Bemessung der Zeiten nach der Fraktionsstärke erreicht, daß jeder Abgeordnete die gleiche rechnerische Chance hat, zu Wort zu kommen, ohne Rücksicht darauf, welcher Fraktion er angehört 37 . Ferner spielt dieser Gedanke eine Rolle für die Bemessung der Zuwendungen an die Fraktionen aus öffentlichen Mitteln. Hierfür hat sich ein System herausgebildet, das neben einem Sockelbetrag für jede Fraktion von einem an die Kopfzahl der Mitglieder anknüpfenden Zuschlag ausgeht 38 . Auch bei der Finanzierung werden die Fraktionen also nicht schematisch gleich behandelt, sondern je nach der Anzahl ihrer Abgeordneten einer differenzierten Betrachtung unterworfen.

34 BVerfGE 70, 324, 363. Hierzu Scherer, AöR 112 (1987),189 ff. 35 W. W. Schmidt, DÖV 1986, 236, 238. Insofern besteht ein grundlegendes Mißverständnis bei Edinger, Wahl, S. 284, der glaubt, die Ableitung der Rechtsstellung der Fraktionen aus dem Status der Abgeordneten müsse - entgegen dem Proporzprinzip - zu einer strikten Gleichbehandlung der Fraktionen führen. 36 Vergl. Besch, Rederecht und Redeordnung, in: H.-P. SChneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 33, Rdnr. 55. 37 BVerfGE 10, 4,16. 38 lekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 62. Vergl. auch die Übersicht über die Entwicklung der Zuschüsse an die Fraktionen bei Schindler, Datenhandbuch Band 111, S. 864 ff.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

§ 9: Die Fraktion als Einrichtung zur Gewährleistung

der Funktionsfähigkeit des Parlaments

In einer Reihe von Entscheidungen bezeichnet das BVerfG die Fraktionen als notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens bzw. als ständige Gliederungen des Parlaments, die den technischen Ablauf der Parlamentsarbeit in gewissem Grade zu steuern und damit zu erleichtern haben'. Mit dieser Umschreibung wird der Blick auf ein weiteres wesentliches Aufgabenfeld der Fraktionen gelenkt, nämlich ihre Bedeutung für die Schaffung und Erhaltung eines funktionstüchtigen Parlaments. Bei genauerer Betrachtung können dabei zwei Ebenen unterschieden werden, auf denen die Fraktionen für die Funktionsfähigkeit des Parlaments sorgen, einerseits die mehr technisch-formale Seite des parlamentarischen Geschehens, zum anderen aber eine inhaltlich-materielle Ebene, wo ihr Wirken eine mindestens ebenso entscheidende Rolle spielt.

1. Die Bedeutung der Fraktion f'ür den äußeren Ablauf der Parlamentsarbeit a) Die Notwendigkeit einer Auswahl der vom Parlament zu behandelnden Themen

Das grundsätzliche Problem, welches sich dem Parlament bei der Erfüllung seiner Aufgaben stellt, ist die nur begrenzt zur Verfügung stehende Zeit. Der generelle zeitliche Rahmen wird dabei von der Verfassung vorgegeben durch die Dauer der Wahlperiode (im Bundestag nach Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG vier Jahre) verbunden mit dem Grundsatz sachlicher Diskontinuität, der besagt, daß Vorlagen am Ende der Wahlperiode als erledigt gelten 2 • , BVerfGE 10, 4,14; 20, 56,104; 38,258,273 f.; 43, 142, 147; 62, 194,202. Dieser Grundsatz hat in die Geschäftsordnungen der Parlamente fast durchgängig Eingang gefunden (§§ 125 GOBT, 51 GO Baden-Württemberg, 92 GO Berlin, 109 GO Brandenburg, 74 GO Bremen, 95 GO Hessen, 65 GO Mecklenburg-Vorpommem, 21 GO Niedersachsen, 116 GO Nordrhein- Westfalen, 61 GO Saarland, 53 GO Sachsen, 19 GO Sachsen-Anhalt, 77 GO Schleswig-Holstein; 118 GO Thüringen). Angesichts seiner langen Tradition (so wurde etwa ein Vorläufer von § 125 GOBT bereits am 11. Januar 1851 in § 22 Abs. 2 der Geschäfts2

§ 9: Gewährleistung der Funktionsfahigkeit des Parlaments

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Die entscheidende Begründung dieses Grundsatzes besteht darin, daß demokratische Repräsentation auf der periodischen Erneuerung der Legitimation basiert3 • Das alte Parlament ist nur bis zum Ablauf der Wahlperiode ermächtigt, für das Volk zu handeln, ihm fehlt die demokratische Legitimation, mit seinen Beratungen zu Vorlagen, die von ihm nicht erledigt wurden, zeitlich hinausgehend über das ihm von den Wählern erteilte Mandat Wirkungen zu entfalten. Das neue Parlament aber hat von den Wählern den Auftrag erhalten, seine Aufgaben selbst in Angriff zu nehmen und nicht, die Arbeit des alten lediglich fortzusetzen. Diese Überlegungen bilden die innere Berechtigung, aber auch Notwendigkeit dafür, daß sich Vorlagen, die in der abgelaufenen Wahlperiode nicht abschließend beraten werden konnten, mit dem Zusammentreten eines neugewählten Parlaments erledigen. Will dieses sich mit ihnen befassen, müssen sie erneut eingebracht werden und das gesamte schon durchlaufene Verfahren noch einmal passieren4 • Die sachliche Diskontinuität erstreckt sich auf alle Beratungsgegenstände, die

ordnung der Zweiten Kammer des Preußischen Landtages aufgenommen) wird ihm darüber hinaus überwiegend gewohnheitsrechtliche Natur beigemessen (Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39, Rdnr. 18). 3 Diesen Umstand sieht auch Jekewitz, Der Grundsatz der Diskontinuität der Parlamentsarbeit im Staatsrecht der Neuzeit und seine Bedeutung unter der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes, 1977, S. 330 ff., als ausschlaggebend für die sachliche Diskontinuität an. Andere Autoren (Schäfer, Bundestag, S. 88; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 39, Rdnr. 18) betonen demgegenüber, daß das neue Parlament nicht von vornherein mit Anträgen belastet werden soll, die vielleicht gerade auf die parteipolitische Struktur des alten zugeschnitten waren und von daher politisch überholt sind. Diesem Bedenken könnte jedoch auch mit einer Regelung Rechnung getragen werden, die es dem neugewählten Parlament selbst zu entscheiden erlaubte, ob es Vorlagen aufgreifen will oder nicht. 4 Bedenklich erscheint insofern § 61 Abs. 4 GO Hamburg, wonach die neue Bürgerschaft auf Vorschlag des Präsidenten oder des Ältestenrates bestimmen kann, daß von Ausschüssen der alten Bürgerschaft nicht abgeschlossene Arbeiten von den Ausschüssen der neuen Bürgerschaft ohne Wiederholung der bisherigen Beratungen fortgeführt werden. Da hierfür ein ausdrücklicher Beschluß erforderlich ist, besteht zwar nicht die Gefahr, daß der neuen Bürgerschaft ungewollt Vorlagen aufgezwungen werden. Es bleibt aber das grundsätzliche Bedenken, daß das alte Parlament nicht demokratisch legitimiert ist, parlamentarische Funktionen über seine Wahlperiode hinaus zu erfüllen. Dies gilt auch dann, wenn sich, wie Jekewitz, Grundsatz, S. 304 f., meint, § 61 Abs. 4 GO Hamburg nur auf Senatsvorlagen bezieht, bei denen mit der Begründung, daß die Amtszeit des Senats nach hamburgischem Verfassungsrecht nicht mit dem Ablauf der Wahlperiode endet, nach der ständigen Staatspraxis ohnehin eine generelle Ausnahme vom Grundsatz der Diskontinuität gemacht werde (so auch Drexelius/Weber, Die Hamburger Verfassung, 2. A., 1972, Art. 10, Anm. 2). Da es nur auf die periodisch zu erneuernde Legitimation des Parlaments und die deshalb fehlende Berechtigung des alten Parlaments ankommt, ist es für die Frage der sachlichen Diskontinuität unerheblich, daß der Senat über die Wahlperiode der Bürgerschaft hinaus weiterbesteht.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

einer Beschlußfassung durch das Parlament bedürfen5 , insbesondere auf Gesetzentwürfe. Der Bundestag unterliegt daher dem Zwang, Vorlagen möglichst innerhalb einer Wahlperiode einer abschließenden Abstimmung zuzuführen6• Ist die verfügbare Zeit schon deshalb limitiert, so wird sie noch weiter durch den Umstand eingeschränkt, daß der Bundestag nicht ununterbrochen tagt, sondern sich Sitzungswochen mit sitzungsfreien Wochen abwechseln, in denen die Abgeordneten Verpflichtungen in ihren Wahlkreisen nachgehen. Die hierauf verwendete Zeit ist gerade für die Bemühung der Abgeordneten um inhaltliche Repräsentation von großer Bedeutung, die parlamentarischen Beratungen als solche werden in diesen Wochen aber nicht vorangetrieben. Vergegenwärtigt man sich diese Ausgangslage, so ist ohne weiteres einsichtig, daß sich der Bundestag nicht mit sämtlichen Anliegen auseinandersetzen kann, die einem seiner Mitglieder erörterungsbedürftig erscheinen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Gesetzgebung. Die Geschäftsordnung des Bundestages sieht hier mit dem Erfordernis dreifacher Beratung (§ 78 Abs. 1 GOBT) ein relativ zeitaufwendiges Verfahren vor. Der Bundestag kann daher nicht jedem Abgeordneten ermöglichen, in beliebigem Umfang Gesetzentwürfe einzubringen, die dann vom Parlament beraten werden müssen 7, will er sich nicht seiner Wirkungsmöglichkeiten vollkommen begeben. Vielmehr sind stets Auswahlentscheidungen unter den denkbaren Beratungsgegenständen erforderlich, und es gilt, hierfür geeignete Kriterien aufzustellen.

5 VergI. § 125 GOBT. Nicht der Diskontinuität unterliegen ferner Petitionen, hier erfordert die zu gewährleistende effektive Wahrnehmung des Grundrechts aus Art. 17 GG eine Ausnahme. 6 Werden dagegen Vorlagen am Ende der Wahlperiode von der Diskontinuität ereilt, so ist dies regelmäßig vom politischen Willen der Mehrheit gedeckt, die Erledigung durch Ablauf der Wahlperiode ist dann meist gerade gewollt (Dach, Das Ausschußverfahren nach der Geschäftsordnung und in der Praxis, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 40, Rdnr. 30, 68). 7 Unter der Geltung des Grundgesetzes hat der Initiant unbestrittenermaßen einen Anspruch darauf, daß das Parlament sich mit seinem Vorschlag beschäftigt, darüber berät und Beschluß faßt (so schon BVerfGE 1, 144, 153). Dementsprechend bestimmt § 20 Abs. 4 GOBT, daß Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages auf Verlangen der Antragsteller auf die Tagesordnung der nächsten Sitzung gesetzt und beraten werden müssen, wenn seit der Verteilung der Drucksache mindestens sechs Sitzungswochen vergangen sind.

§ 9: Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Parlaments

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b) Die Bindung von Befugnissen an die Fraktion als Auswahlkriterium von hoher Rationalität

Hier setzt nun die Aufgabe der Fraktionen ein. Die Geschäftsordnung des Bundestages hat sich in § 76 Abs. 1 GOBT dafür entschieden, Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages an ein Quorum von Abgeordneten zu binden, nur eine Fraktion oder Abgeordnete in Fraktionsstärke können Vorlagen, wie beispielsweise Gesetzentwürfe, einbringen. Durch die Bindung dieser Befugnis an ein Quorum kann eine Reduzierung der ansonsten zu erwartenden Anzahl von Gesetzentwürfen erreicht werden, weil ein Abgeordneter, der die Idee zu einer Initiative hat, das Parlament als Ganzes nur dann damit befassen kann, wenn er zunächst die Unterstützung einer ausreichenden Zahl von Kollegen erhält8 • Da sich fraktionsangehörige Abgeordnete in aller Regel zunächst um die Unterstützung durch ihre Fraktion bemühen, stehen dabei die von Fraktionen getragenen Gesetzentwürfe ganz im Vordergrund gegenüber denjenigen, die unabhängig von Fraktionen eingebracht werden. Entsprechendes gilt für die sonstigen Vorlagen im Sinne von § 75 GOBT. Die Begrenzung der Anzahl der anfallenden Vorlagen kann deshalb im wesentlichen als Aufgabe der Fraktionen angesehen werden, die insoweit eine Art Filterfunktion ausüben. Für viele Befugnisse kann die Bindung an die Fraktion dabei überdies als eine sehr rationale Form der notwendigen Auswahl bezeichnet werden, sie gewährleistet noch am ehesten, daß sich das Parlament in seiner knapp bemessenen Zeit nur mit den Vorlagen beschäftigt, die auch in sachlicher Hinsicht wichtig sind. Was wichtig ist, kann im Parlament als einem Kollegialorgan niemals von der Entscheidung einer Einzelperson abhängen. Hält aber eine ganze Fraktion ein Thema für so wesentlich, daß es vom Parlament behandelt werden sollte, so ist eher davon auszugehen, daß es sich auch tatsächlich um eine bedeutsame Frage handelt. Die Unterstützung durch eine Fraktion ist gleichsam ein Indikator für die Wichtigkeit eines Anliegens. 8 Daneben besteht natürlich noch die in Art. 76 Abs. 1 GG vorgesehene Möglichkeit der Gesetzesinitiative durch Bundesregierung oder Bundesrat. Auf die Anzahl der auf diesem Wege eingebrachten Gesetzesvorlagen hat der Bundestag keinen Einfluß. In der Praxis wird die Mehrzahl der Gesetzesentwürfe von Bundesregierung oder Bundesrat initiiert. So standen etwa in der 11. Wahlperiode 321 Vorlagen der Bundesregierung (53,9%) und 47 Vorlagen des Bundesrates (7,9%) 227 Vorlagen aus der Mitte des Bundestages (38,2%) gegenüber (Zahlen bei Schindler, ZParI1991, 344, 352, dort auch für frühere Wahlperioden, in denen der prozentuale Anteil der Gesetzesinitiativen aus der Mitte des Bundestages noch geringer war).

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Für die Bewältigung des reinen Zeitproblems wären auch andere Auswahlkriterien denkbar, die jedoch alle nur ein geringeres Maß an Plausibilität für sich in Anspruch nehmen können. So wäre es etwa möglich, Vorlagen unbeschränkt zuzulassen und allein nach dem Zeitpunkt ihrer Einbringung zu bearbeiten. Dann wäre aber insbesondere im weiteren Verlauf der Legislaturperiode, wenn sich bereits in erheblichem Umfang Vorlagen angesammelt haben, nicht sichergestellt, daß dringliche Beratungsgegenstände, die auf neu auftretende Problemstellungen reagieren, hinreichend schnell bearbeitet werden. Ähnliche Bedenken bestehen gegen eine zeitliche Abfolge der Behandlung nach einem Losverfahren 9• Eine solche Auswahl allein unter Zufallsgesichtspunkten vermag ebensowenig wie das Abstellen auf die zeitliche Priorität ZU verhindern, daß das Parlament einen großen Teil seiner Zeit damit verbringt, Themen von minderer Bedeutung zu behandeln. Vorstellbar wäre schließlich, jedem Abgeordneten nur eine begrenzte Anzahl von Vorlagen zuzugestehen. Auch das würde aber dazu führen, daß Abgeordnete, die ihre Möglichkeiten bereits ausgeschöpft haben, die betreffenden Befugnisse überhaupt nicht mehr ausüben könnten, selbst wenn ihre späteren Vorschläge weit bedeutsamer wären als die früheren, mit denen sich das Parlament beschäftigt hat. Die Geschäftsordnung des Bundestages hat sich für diese Art der Auswahl bei den Fragen entschieden, welche Abgeordnete zur mündlichen oder schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung richten können lO • Doch sind hier die besonderen Umstände des Fragerechts zu beachten, die vor allem darin bestehen, daß seine Ausübung nicht zu einer Abstimmung des Bundestages führen kann. Insofern fehlt hier jene besondere Rationalität, die die Bindung an die Fraktion als Auswahlkriterium gerade für diejenigen Befugnisse auszeichnet, die, wie etwa die Gesetzesinitiative, auf die Herbeiführung einer Beschlußfassung durch das Gesamtparlament zielen 1I. 9 Hauenschild, Wesen, S. 116. 10 Nr. 1 und 13 der Anlage 4 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages. 11 Ganz abgesehen davon könnte das Fragerecht dem einzelnen Abgeordneten, wie noch darzulegen sein wird, auch nicht durch Bindung an die Fraktion völlig genommen werden, weil es zum unentziehbaren Kembereich der Mandatsstellung zählt. Schließlich ist auch zu beachten, daß die Ausübung des Fragerechts nur zu einer relativ geringen zeitlichen Inanspruchnahme des Parlaments führt, weshalb es möglich ist, dem einzelnen Abgeordneten in relativ kurzen Abständen ein wiederholtes Gebrauchmachen davon zu gewährleisten (so kann er in jeder Sitzungswoche zwei Fragen zur mündlichen Beantwortung und zusätzlich in jedem Monat vier Fragen zur schriftlichen Beantwortung zu stellen). Im Falle der Gesetzesinitiative hingegen müßte die Beschränkung angesichts des ungleich höheren Aufwandes sehr viel stärker ausfallen. Dann aber ist es besonders nachteilig, wenn ein Abgeordneter, der sein Kontingent

§ 9: Gewährleistung der Funktionsrahigkeit des Parlaments

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Diese besondere Rationalität beruht darauf, daß Beschlüsse des Parlaments mit Mehrheit gefaßt werden, jede Vorlage muß, um angenommen zu werden, die Zustimmung der Mehrheit der abstimmenden Abgeordneten finden 12. Vermag ein Abgeordneter aber zur Unterstützung einer Vorlage nicht einmal seine eigene Fraktion oder doch wenigstens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zu gewinnen, so hat diese von vornherein auch keine Aussicht, im Ergebnis Erfolg zu haben 13• Dann ist es aber auch nicht angebracht, das Parlament überhaupt mit solchen Entwürfen zu befassen, da es damit nur belastet und von der Behandlung anderer und wesentlicherer Vorhaben abgehalten wird. Eine gewisse Erfolgsaussicht ist also das äußere Anzeichen für die Wichtigkeit einer Vorlage. Die Zuweisung derartiger Kompetenzen an die Fraktionen ist demnach nicht nur dazu geeignet, eine zahlenmäßige Verminderung der eingebrachten Vorlagen herbeizuführen, sondern bietet auch die beste Garantie dafür, daß die knappe Zeit nur für wichtige Vorlagen genutzt wird, die über ein Mindestmaß an Erfolgsaussichten verfügen.

2. Die Bedeutung der Fraktion für die inhaltliche Güte der Parlamentsarbeit a) Der gestufte Prozeß der Mehrheitsbildung

Mit dem Erfordernis parlamentarischer Mehrheitsbildung ist aber nicht nur die Aufgabe der Fraktion angesprochen, das zahlenmäßige Aufkommen der anfallenden Vorlagen auf diejenigen zu begrenzen, bei denen eine gewisse Chance besteht, daß sie vom Parlament angenommen werden. Die Fraktion hat darüber hinaus auch eine stärker inhaltlich orientierte Rolle bei der Bildung von Mehrheitsentscheidungen, ermöglicht sie doch die für das Zustandekommen konstruktiver Mehrheiten im Parlament notwendige stufenweise Mehrheitsbildung. Um positive Mehrheiten im Parlament bilden zu können, ist es erforderlich, die Einzelmeinungen der Abgeordneten an Kompetenzausübung schon verbraucht hat, einen neuen Vorschlag nun möglicherweise überhaupt nicht mehr einbringen kann. 12 Für die Erfüllung parlamentarischer Aufgaben kommt es darauf an, wie Hauenschild, Wesen, 105, zutreffend ausführt, Mehrheiten zu bilden, die etwas Gemeinsames wollen, nicht solche, die gemeinsam etwas nicht wollen. 13 C. Amdt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 32.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

zu sichten und Kompromisse zu schließen. Die Mehrheitsbildung muß als ein dynamischer Prozeß aufgefaßt werden, der aus vielen "Spezialmeinungen" immer weniger "Generalmeinungen" herausbildet, bis schließlich eine Mehrheit im Parlament erreicht ist. Das ist aber nur bei vorheriger Gruppenbildung möglich, wobei die einzelnen Angehörigen der Gruppe sich unter Unterdrückung ihrer in Einzelheiten divergierenden Meinung mit der Gruppe identifizieren l4 • Deshalb handelt der einzelne Abgeordnete auch dann im Einklang mit dem Gebot einer ausschließlichen Gewissensentscheidung, wenn er sich der überwiegenden Auffassung in der Fraktion lediglich deshalb beugt, um damit die demokratische Mehrheitsregel zu respektieren l5 . Für den einzelnen Abgeordneten, der eine Idee in den parlamentarischen Prozeß einbringen will, bedeutet dies, daß er zunächst einmal darauf verwiesen ist, eine Mehrheit in der eigenen Fraktion auf seine Seite zu bringen. Regelmäßig ist auch dieser fraktionsinterne Willensbildungsprozeß noch einmal gestuft, indem Vorlagen zunächst auf der fach politischen Arbeitsebene der Arbeitskreise und Arbeitsgruppen l6 von Abgeordneten mit gleicher oder verwandter Aufgabenzuständigkeit erörtert werden, bevor sie der Fraktionsvollversammlung vorgelegt werden l7 . Erst wenn sie sich auch hier als mehrheitsfähig erweisen, werden sie von der Fraktion formell in das parlamentarische Verfahren eingeführt l8 , um schließlich dort um eine Mehrheit zu werben. Im Laufe dieses doppelten Meinungs- und Willensbildungsprozesses in der Fraktion, in dem der Vorschlag bestehen muß, wird er aber häufig auch Modifikationen hin zu stärkerer inhaltlicher Ausgewogenheit erfahren. Extreme Positionen können so schon im Vorfeld der parlamentarischen Aus14 Hauenschild, Wesen, S. 106.

15 Kasten, ZParl 1985, 475, 477; Hauenschild, Wesen, S. 183, heben auf diesen Aspekt zur Begründung von Fraktionsdisziplin besonders ab. 16 Die organisatorische Einteilung und Terminologie variiert bei den einzelnen Bundestagsfraktionen. Während die SPD-Fraktion Arbeitskreise eingerichtet hat, die den Zuständigkeitsbereich der Bundestagsausschüsse übergreifen und die sich ihrerseits in Arbeitsgruppen gliedern, welche die Fachbereichstätigkeit der Ausschüsse betreuen, hat die Fraktion der CDU/CSU diesen Aufbau zu Beginn der 9. Wahlperiode aufgegeben und organisiert sich seither nur noch in Arbeitsgruppen, die mit den Ausschüssen korrespondieren. Die FDPFraktion und die Fraktion DIE GRÜNEN haben Arbeitskreise gebildet, deren Zuständigkeit zusammengehörige Politikbereiche umfaßt. 17 Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 57; Kretschmer, Fraktionen, S. 108. 18 Vergl. §§ 19 Abs. 1 AO CDU/CSU-Fraktion, 6 Abs. 1 GO SPD-Fraktion, 12 Abs. 1 GO FDP-Fraktion, 4 Abs. 2 c GO Fraktion DIE GRÜNEN.

§ 9: Gewährleistung der Funktionsfcihigkeit des Parlaments

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einandersetzung ausgeschieden oder doch zumindest abgeschwächt werden 19 • Dadurch, daß die Abgeordneten durch das Aufstellen von Quoren gezwungen werden, Vorlagen vorab in den Fraktionen zur Diskussion zu stellen, werden diese also schon materiell verbessert, noch bevor sie in die parlamentarische Beratung im engeren Sinne gelangen. Im Grunde handelt es sich hier um den gleichen Vorgang, der aus der Sichtweise des Abgeordneten schon geschildert wurde, daß er nämlich in der Fraktion sowohl um Rückhalt für seine Vorschläge werben als auch Verbesserungsvorschläge für seine Arbeit entgegennehmen kann. Hier ging es darum zu zeigen, daß diese Funktion der Fraktion auch unmittelbar der Aufgabenerfüllung des Gesamtparlaments zugute kommt. Aber auch wenn es sich nicht um eigene Initiativen handelt, sondern um die Stellungnahme zu Vorlagen, die von anderer Seite eingebracht wurden, erfüllen die Fraktionen diese Aufgabe, die einzelnen Ansichten zu bündeln und dabei auch zunächst weit auseinanderliegende Standpunkte zu einer mittleren Linie zusammenzuführen, auf die sich die Angehörigen der Fraktion verständigen und die sie gemeinsam tragen können. Das Parlament als Ganzes wird dadurch erst arbeitsfähig gemacht, indem es sich nicht in jedem Einzelfall aus einer Vielzahl mehr oder weniger divergierender Meinungen um eine Mehrheit bemühen muß, sondern von vornherein nur mit einer überschaubaren Anzahl von Positionen zu bestimmten Fragen konfrontiert wird, die ihrerseits bereits qualitativ weiterentwickelt sind. Dies ist einer der Gesichtspunkte, warum das Bemühen der Fraktionen um ein geschlossenes Auftreten grundsätzlich legitim ist.

b) Die KJammerjunktion der Fraktion Die Fraktionen sorgen aber noch unter einem ganz anderen Blickwinkel für die inhaltliche Ausgewogenheit parlamentarischer Entscheidungen. Der parlamentarische Ablauf ist insbesondere auf dem Gebiet der Gesetzgebung gekennzeichnet durch eine weitgehende Verlagerung der Sacharbeit aus dem Plenum in die jeweiligen Ausschüsse 20 • Wenn dieses arbeitsteilige Vor19 Hauenschild, Wesen, S. 127; die Bedeutung der Diskussion in der Fraktion für das Abschleifen von Extrempositionen betonen auch Kasten, Ausschußorganisation, S. 156, und Dach, RiA 1981,212,213. 20 Bryde, Stationen, Entscheidungen und Beteiligte im Gesetzgebungsverfahren, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 30, Rdnr. 36;

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

gehen auch aufgrund der Fülle der Aufgaben und der Differenziertheit der einzelnen Materien unausweichlich ist, um eine sachgerechte Behandlung der unterschiedlichen Politikfelder zu ermöglichen, so ist es doch nicht ausschließlich vorteilhaft. Es besteht dann nämlich in verstärktem Maße die Gefahr, daß sich die einzelnen Fachpolitiken zu weit voneinander entfernen. Die völlige Verselbständigung der staatlichen Willensbildung in den unterschiedlichen Politikbereichen, wie sie in der Dominanz der Ausschußarbeit jedenfalls der Tendenz nach angelegt ist, berücksichtigt dann aber nicht mehr ausreichend die Notwendigkeit, alle Entscheidungen des Parlaments aufeinander abzustimmen, damit ein konsistenter politischer Kurs verfolgt werden kann. Dem Gemeinwohl kann letztlich nur dann gedient werden, wenn die einzelnen Fachentscheidungen nicht von egoistischen Ressortinteressen bestimmt, sondern immer auch zugleich die Auswirkungen auf andere Politikfelder im Auge behalten werden. Es besteht demnach auch und gerade in einem arbeitsteilig organisierten Parlament ein erhöhter Bedarf an Koordination. Das Plenum, dem rechtlich in allen Fällen die letzte Entscheidung zukommt, vermag diese Verklammerung allein nicht zu bewirken. Dies liegt vor allem daran, daß es sich nach Überweisung einer Vorlage an die Ausschüsse erst wieder damit beschäftigt, wenn die Ausschußberatungen beendet sind und der Ausschuß seine Beschlußempfehlung und seinen Bericht vorlegt2!. Dann aber sind, wie auch das BVerfG hervorgehoben hat 22, die eigentlichen Entscheidungen bereits gefallen. Die Schlußabstimmung bildet nur noch einen juristisch notwendigen Teilakt der parlamentarischen Willensbildung (notwendig deshalb, weil nur das Parlament als Ganzes nach Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG zur formalen Repräsentation legitimiert ist), ihre politische Bedeutung ist jedoch gemindert 23 • Hesse, J./Ellwein, Das Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, 7. A., 1992, S. 227 f. 2! Nur so erklärt sich auch § 62 Abs. 2 GOBT, wonach eine Fraktion oder fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zehn Sitzungswochen nach der Überweisung einer Vorlage verlangen können, daß der Ausschuß einen Bericht über den Stand der Beratungen erstattet, der dann auch auf die Tagesordnung des Bundestages gesetzt werden kann. Ohne Vorliegen eines Ausschußberichts ist es dem Bundestag nicht möglich, sich erneut mit der überwiesenen Vorlage zu befassen. Das Minderheitenrecht des § 62 Abs. 2 GOBT ermöglicht Initianten einer Vorlage, einen solchen Bericht zu erzwingen und so die Verschleppung ihres Anliegens zu verhindern. 22 BVerfGE 44,308,319. 23 Zwar kann der Bundestag Gesetzentwürfe außer einem federführenden Ausschuß nach § 80 Abs. 1 Satz 1 GOBT auch weiteren Ausschüssen mitberatend überweisen, wovon häufig Gebrauch gemacht wird (die Formulierung der Geschäftsordnung, dies könne "nur in beson-

§ 9: Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Parlaments

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Die Aufgabe der Koordination wird staUdessen von den Fraktionen übernommen 24 • Alle Vorlagen, die in den Ausschüssen behandelt werden, werden parallel dazu in den Fraktionen beraten. Die Beschäftigung der Fraktion mit einem Thema erfolgt daher zeitgleich zur Ausschußarbeit, insofern vermögen die Fraktionsberatungen die Verhandlungen in den Ausschüssen zu steuern25 • Da aber in den Fraktionen Abgeordnete mit ganz unterschiedlicher fachpolitischer Spezialisierung zusammenarbeiten, können durch diese Erörterungen, die eine Vorlage von der ersten noch ganz unbestimmten Idee einzelner Abgeordneter an bis Schlußabstimmung des Plenums während der ganzen Zeitdauer des parlamentarischen Verfahrens begleiten, die einzelnen Fachpolitiken miteinander vereinbar gehalten werden 26 . Die fachliche Verselbständigung, die durch die große Bedeutung der Ausschußarbeit gefördert wird, kann durch die ebenso zentrale Rolle der fachübergreifenden Fraktionsberatungen wieder ausgeglichen werden, so daß insgesamt die Chance auf ausgewogene Entscheidungen bei gleichzeitig intensiver fachlicher Bearbeitung gewahrt bleibt.

deren Fällen" geschehen, entspricht nicht der Praxis, Dach, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 40, Rdnr. 34). Auch dies vermag die Koordination der verschiedenen Fachpolitiken aber nicht sicherzustellen, weil den Bericht an den Bundestag (einschließlich der Beschlußempfehlung) nach § 63 Abs. 1 GOBT nur der federführende Ausschuß erstatten kann. Zwar muß er nach § 66 Abs. 2 Satz 1 GOBT die Stellungnahmen der mitberatenden Ausschüsse mitteilen, er kann jedoch ohne weiteres vom Votum der mitberatenden Ausschüsse abweichen (Dach, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 40, Rdnr. 82). 24 Kretschmer, Fraktionen, S. 109, weist auf dieses Erfordernis hin, äußert aber zugleich die Befürchtung, daß die notwendige Koordination angesichts der Arbeitsfülle häufig allein Führungsgremien in der Fraktion überlassen bleibt. 25 Ausführlich hierzu Melzer, Vorbereitung und Gestaltung der Ausschußarbeit durch die Fraktionen, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, §41. 26 Bei denjenigen Fraktionen, die auf der Arbeitsebene eine zweistufige Gliederung in Arbeitskreise und Arbeitsgrupen gewählt haben. übernehmen bereits die Arbeitskreise als Einheiten mit umfassenderem Zuständigkeitsbereich Koordinationsaufgaben (Melzer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 41, Rdnr. 13). Insbesondere aber wird die Vereinbarkeit der unterschiedlichen Fachpolitiken in den Sitzungen von Fraktionsvorstand und Gesamtfraktion geklärt (Melzer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 41, Rdnr. 26).

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

3. Die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG? Die Tätigkeit der Fraktionen für die Funktionsfähigkeit des Bundestags ist von so überragender Bedeutung, daß man sagen kann, erfolgreiche parlamentarische Arbeit ist ohne Fraktionen unvorstellbar27 • Angesichts dieses Umstandes ist es naheliegend, neben der Verankerung der Fraktion in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG als einer Vorschrift, die sich unmittelbar nur auf die einzelnen Abgeordneten bezieht, als Grundlage auch nach einer Verfassungsnorm zu suchen, die vom Gesamtparlament ausgeht. Teilweise wird ein solcher Bezugspunkt in der Einräumung der Geschäftsordnungsautonomie an den Bundestag (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) erblickt28 • Die Heranziehung dieser Bestimmung ist insofern folgerichtig, als es den wesentlichen Sinn der Geschäftsordnung ausmacht, die Bewältigung der Aufgaben des Parlaments durch eine geeignete Verfahrensweise und Organisation zu fördern 29, wozu die Fraktionen ja einen entscheidenden Beitrag leisten. Bestätigt zu werden scheint diese Auffassung auch dadurch, daß § 10 Abs. 1 GOBT Voraussetzungen für die Bildung von Fraktionen normiert und der Bundestag ihnen in weiteren Geschäftsordnungsbestimmungen30 wesentliche Mitwirkungs- und Gestaltungsrechte für den Ablauf des parlamentarischen Geschäftsgangs zugewiesen hat. Trotzdem können die Fraktionen nicht als Ausfluß der Geschäftsordnungsautonomie gesehen werden. Allein die Tatsache, daß sie auch Funktionen für das Gesamtparlament übenehmen, vermag ihre verfassungsrechtliche Ver ortung in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG noch nicht zu begründen. Hinzutreten muß vielmehr, wie gerade der Vergleich zu Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zeigt, der maßgebliche Einfluß auf die konkrete Konstituierung der Fraktionen. Die Abgeordneten haben es in der Hand, durch einen Entschluß in Ausübung ihres freien Mandats eine Fraktion zu bilden, erst dies bewirkt deren Ableitung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.

Hauenschild, Wesen, S. 130 f. Hauenschild, Wesen, S. 171; Kasten, Ausschußorganisation, S. 151; für Nordrhein-Westfalen Dickersbach, in Geller/K1einrahm, Verfassung des Landes Nordrhein-Westfalen, 3. A, 1977, Art. 30, Anm. 4 b dd. 29 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 86. Daneben dient die Geschäftsordnung durch die Festlegung von Minderheitenrechten dem Minderheitenschutz. 30 U.a. §§ 6 Abs. 1,25 Abs. 2, 57 Abs. 2, 76 Abs. 1 GOBT. 27 28

§ 9: Gewährleistung der Funktionsfähigkeit des Parlaments

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Der Bundestag hingegen kann die Fraktionen aus eigenem Vermögen nicht hervorbringen, er kann allenfalls das Recht der Abgeordneten auf Fraktionsbildung einschränken, indem er Anforderungen (wie beispielsweise eine bestimmte Fraktionsmindeststärke) normiert, die erfüllt sein müssen, damit sich die Abgeordneten zusammenschließen können. Im Hinblick auf diese Anforderungen bewegt er sich dann auch im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie d. h. er kann etwa bei der Festlegung der konkreten Fraktionsmindeststärke Gesichtspunkte der eigenen Funktionsfähigkeit berücksichtigen. Letztlich entscheidend für die Fraktionsbildung bleibt aber die freie Willensentschließung der Abgeordneten. Der Bundestag kann diese nicht etwa zwingen, sich zusammenzuschließen, da dies einen Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG bedeuten würde. Die Abgeordneten ihrerseits sind, wie gerade die historische Entwicklung gezeigt hat, nicht darauf angewiesen, daß das Parlament die Fraktionsbildung in seiner Geschäftsordnung vorsieht, sie wären auch ohne ausdrückliche Regelung zum Zusammenschluß in der Lage. Dies unterstreicht, daß die Fraktion als Ausdruck der freien Mandatsausübung zu betrachten ist, nicht als eine vom Parlament in Ausübung seiner Geschäftsordnungsautonomie geschaffene Einrichtung. Der Bundestag ist im Hinblick auf die Fraktionsbildung gerade nicht autonom, er kann ihre Entstehung weder anordnen noch grundsätzlich untersagen. Abgesehen von dem Ausnahmefall einer Fraktionsbildung von Abgeordneten unterschiedlicher Parteizugehörigkeit, die nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT der Zustimmung des Bundestages bedarf3 1, ist das Parlament 31 Diese Bestimmung ist bis heute lediglich in zwei Fällen in der 2. Wahlperiode zur Anwendung gelangt: 1. Am 15. März 1956 stimmte der Bundestag der Bildung der Fraktion "Demokratische Arbeitsgemeinschaft" aus 16 Abgeordneten zu, die aus der FDP-Fraktion ausgeschieden waren. Nur 13 dieser Abgeordneten gehörten weiterhin der Partei FDP an, die anderen drei aber hatten Partei und Fraktion verlassen. Bei lediglich 13 Abgeordneten mit gleicher Parteizugehörigkeit wurde aber die damals geltende Fraktionmindeststärke von 15 Abgeordneten nicht erreicht, weshalb die Zustimmung des Bundestages zur Fraktionsbildung erforderlich wurde (Sten.Ber. 2. WP/I34. Sitzung/15.3.l956/6932 ff.). 2. Am 14. März 1957 stimmte der Bundestag ohne Aussprache der Bildung der Fraktion DP (FVP) als Zusammenschluß der bisherigen Fraktionen der Deutschen Partei und der Freien Volkspartei zu (Sten.Ber. 2. WP'/ 197. Sitzung/14.3.l957/11211). Davon abgesehen wurde zu Beginn der 5. Wahlperiode am 19. Oktober 1965 eine förmliche Abstimmung über den Antrag auf Zustimmung zur Bildung der CDU/CSU-Fraktion durchgeführt (Sten.Ber. 5. WP./1. Sitzung/19.l0.l965/1), nachdem die Bildung einer gemeinsamen Fraktion von CDU und CSU bereits zu Beginn der 4. Wahlperiode erstmals beanstandet worden war. Damals aber hatte der Alterspräsident die Zustimmung zu ihrer Bildung vorgeschlagen, so daß eine förmliche Abstimmung unterblieb (Sten.Ber. 4. WP./1. Sitzung/ 17.10.1961/1). Dieser Fall wurde durch die Geschäftsordnungsänderung vom 27. März 1969 12 Demmler

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

an der Kreation der Fraktionen überhaupt nicht beteiligt32. Dieser Befund läßt es aber nicht zu, Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG als verfassungsrechtliche Grundlage der Fraktionen anzunehmen. Der Bundestag kann vielmehr nur anknüpfen an die Gruppenbildung, die sich außerhalb seines unmittelbaren Einflußbereichs vollzieht, indem er den so zustandegekommenen Fraktionen Befugnisse zuweist. Auf diesem Wege kann er sich die Fraktionsbildung zunutze machen, um seine eigene Funktionsfähigkeit sicherzustellen. Dies reicht aber nicht aus, auch die Fraktion selbst im Bereich der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments anzusiedeln33 .

geregelt. Seither spricht § 10 Abs. 1 GOBT von "Mitgliedern des Bundestages, die derselben Partei oder solchen Parteien angehören, die in keinem Land miteinander im Wettbewerb stehen". Für die Bildung der CDU/CSU-Fraktion ist heute daher eine Mitwirkung des Bundestages nicht mehr erforderlich. 32 Blickt man auf die Länderparlamente, so ist eine Zustimmung des Parlaments zur Fraktionsbildung nur in § 7 Abs. 2 Satz 2 GO Berlin für den Fall vorgesehen, daß Mitglieder des Abgeordnetenhauses nach der Konstituierung eine neue Fraktion bilden wollen, und in § 7 Abs. 3 GO Berlin für Fraktionszusammenschlüssc von Abgeordneten, die nicht der gleichen Partei oder Listenvereinigung angehören bzw. von ihr als Wahlbewerber aufgestellt wurden. Ferner gibt es die ausnahmsweise Zustimmung des Parlaments nach § 16 Abs. 1 Satz 2 GO Nordrhein-Westfalen und § 16 Abs. 1 Satz 2 GO Brandenburg für den Fall, daß sich weniger Abgeordnete zusammenschließen wollen, als es der grundsätzlichen Fraktionsmindeststärke entspricht. 33 Auch für die im übrigen unproblematische Befugnis der Fraktionen, ihren inneren Geschäftsgang in Fraktionsgeschäftsordnungen zu regeln, bedarf es keines Rückgriffs auf Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG (so aber Hauenschild, Wesen, S. 2(0). Daß die der Fraktion angehörenden Abgeordneten für ihr gemeinsames Vorgehen bestimmte Regelungen beschließen können, ergibt sich vielmehr auch schon aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG.

§ 10: Parlamentarische Vertretung einer politischen Partei

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§ 10: Die Fraktion als parlamentarische Vertretung

einer politischen Partei

Von den bisher erörterten Aufgaben der Fraktionen, welche diese für den einzelnen Abgeordneten oder für das Parlament als Ganzes erfüllen, wird häufig ein weiterer Funktionsbereich unterschieden, der als Repräsentation einer politischen Partei im Parlament definiert wird!. Unter Zusammenfassung der beiden ersten Aufgabenbereiche wird insofern bisweilen auch von der "Doppelfunktionalität" der Fraktion gesprochen 2 • Nicht zu übersehen ist dabei die Parallele zur Stellung des Abgeordneten, der vom BVerfG ebenso als Vertreter des ganzen Volkes wie als Exponent seiner Partei gesehen wird3, was zu der Notwendigkeit führte, das Verhältnis von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu Art. 21 GG insoweit zu klären. In der Tat liegt diese Entsprechung auch auf der Hand, wenn man davon ausgeht, daß die Fraktion als Zusammenschluß einzelner Abgeordneter ihren Status wesentlich aus deren Rechtsstellung ableitet. Die Rolle der Fraktion für die parlamentarische Vertretung der Interessen einer Partei wird bisweilen so hoch veranschlagt, daß die Fraktion schlechterdings zur "Partei im Parlament" erklärt wird4 • Auf der Ebene des Verfassungsrechts findet dies seinen Niederschlag darin, daß das BVerfG schon sehr früh und dann in ständiger Rechtsprechung ausführte, mit der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG erkenne die Verfassung zugleich auch die Fraktionen an 5 • Weite Teile der Literatur sind dem BVerfG in dieser verfassungsrechtlichen Ableitung gefolgt6 • ! Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 70; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 40, Rdnr. 14; Stern, Staatsrecht Band I, § 23 I 2 b; Hauenschild, Wesen, S. 142 f.; Zeh, Gliederung und Organe des Bundestages, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band 11,1987, § 42, Rdnr. 14. 2 M. Schröder, Grundlagen, S. 311 f.; Kasten, Ausschußorganisation, S. 135 f. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 87, spricht insoweit von der "DoppelsteIlung der Fraktionen". 3 BVerfGE 2,1,72. 4 Diese Formulierung verwenden etwa W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 488, 495; Dellmann, DÖV 1976, 153, 154 ("überspitzt ausgedrückt"). 5 BVerfGE 10,4,14; 43, 142, 147; 70,324,350. 6 Preuß in: Alternativkommentar, Art. 21, Rdnr. 53; Zeh, HdbStR 11, § 42, Rdnr. 6; Tschermak von Seysenegg, Fraktionen, S. 126 ff.; H.-P. Schneider, Die parlamentarische Opposition im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Band I, 1974, S. 362; Trautmann, Innerparteiliche Demokratie im Parteienstaat, 1975, S. 104; Schmidt- Jortzig, Kommunalrecht, 1982, Rdnr. 76; Kürschner, Statusrechte, S. 60; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 58; W.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

1. Die enge Verbindung zwischen den Fraktionen und den politischen Parteien a) Die gleiche Parteizugehörigkeit als ausschlaggebender Faktor der Fraktiollsbildung Im Verhältnis der Fraktionen zu den Parteien sind tatsächlich eine Reihe von Berührungspunkten zu verzeichen. Der erste liegt schon in der überragenden Rolle begründet, die die Parteien bei der Auswahl und Aufstellung der Kandidaten für die Parlamentswahl einnehmen. Bei den Wahlen zum Deutschen Bundestag haben die politischen Parteien nach § 27 Abs. 1 Satz 1 BWG ein rechtliches Monopol für die Aufstellung der Landeslisten. Was die Einreichung von Kreiswahlvorschlägen anbelangt, so besteht hier keine solche Monopolstellung, in der Praxis hat es aber seit der ersten Bundestagswahl 1949 keine Wahlkreisbewerber mehr gegeben, die ins Parlament gekommen wären, ohne von einer politischen Partei aufgestellt worden zu sein7 • Die Entscheidung, wer Abgeordneter wird, wird demnach wesentlich von den Parteien gefällt, der Wähler trifft nur noch eine Auswahl zwischen den Kandidaten der verschiedenen Parteien. Da sich aber wegen der bereits dargestellten Vorteile in aller Regel sämtliche Abgeordneten einer Fraktion anschließen, und sich dabei - selbst wenn dies von der Geschäftsordnung nicht vorgegeben wäre - von der gleichen Parteizugehörigkeit wegen der darin dokumentierten gleichen politischen Grundanschauung leiten lassen, werden die Fraktionen in ihrer personellen Zusammensetzung von den Parteien weitgehend vorstrukturiert8 • Ist die parteiorientierte Fraktionsbildung danach in der Praxis ohnehin der Regelfall, so hat dies im Bundestag dahin geführt, daß § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT die gleiche Parteizugehörigkeit der Abgeordneten auch rechtlich zur grundsätzlichen Voraussetzung dafür erhebt, daß diese eine gemeinsame Fraktion bilden können 9 • Teilweise wird dies in der Literatur herangezogen, Schmidt, Der Staat 9 (1970),481,488; Borchert, AöR 102 (1977), 210, 223; Grawert, Jura 1980, 601,604; Röper, ZPar11984, 7,13; Trute, Jura 1990, 184, 188; Palme, JA 1991,252,257. 7 Vergl. die Mandatsverteilung nach den Bundestagswahlen seit 1949, abgedruckt bei Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 34-39; ders., Datenhandbuch Band 111, S. 58 f. 8 Trautmann, Innerparteiliche Demokratie, S. 279; Borchert, AöR 102 (1977), 210, 222; Kasten, Ausschußorganisation, S. 140. 9 In einigen Länderparlamenten gibt es entsprechende Geschäftsordnungsbestimmungen: §§ 17 Abs. 1 GO Baden-Württemberg; 7 Abs. 2 GO Bcrlin; 9 Abs. 1 GO Niedersachsen; 8 Abs. 1 GO Rheinland-Pfalz; 12 Abs. 1 GO Sachsen; 22 Abs. 1 GO Schieswig-Hoistein. § 17

§ 10: Parlamentarische Vertretung einer politischen Partei

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um die auch rechtliche Relevanz der These von der Fraktion als "Partei im Parlament" zu untermauern 10.

b) Die Fraktion als Instrument zur Durchsetzung parteipolitischer Zielsetzungen Sind also schon bei der Fraktionsbildung Anknüpfungspunkte an die Parteien zu erkennen, so findet sich diese Beobachtung bei der Arbeit der bestehenden Fraktion bestätigt, wobei auch hier eine funktionale Betrachtung angebracht ist. So nehmen die Fraktionen wesentliche Aufgaben im Hinblick auf die ihnen korrespondierenden Parteien wahr, indem sie die von diesen entwickelten inhaltlichen Vorstellungen in praktische Politik umsetzen. Nach § 1 Abs. 2 PartG gehört es zur Mitwirkung der Parteien an der Bildung des politischen Willens des Volkes, auf die politische Entwicklung im Parlament Einfluß ZU nehmen. Wie gesehen, ist es heute nicht mehr vorstellbar, Staat und Gesellschaft strikt zu trennen und die Parteien in ihren Aktivitäten auf den außerstaatlichen und rein gesellschaftlichen Bereich zu beschränken. Legitimerweise - und insoweit auch von der Gewährleistung des Art. 21 GG um faßt - wirken die Parteien vielmehr in die institutionalisierte Staatlichkeit hinein. Da sie aber im Parlament nicht unmittelbar präsent sind, sind sie auf indirekte Wege angewiesenlI, damit ihre Programme in parlamentarischem Handeln zum Ausdruck kommen können. In gewissem Umfang kann dies schon über die Einflußnahme auf die einzelnen Abgeordneten in ihrer Eigenschaft als Parteimitglieder erfolgen. Abgesehen davon, daß den einzelnen Abgeordneten parlamentarische Initiativ- und Mitwirkungsrechte aber nur in begrenztem Umfang zur Verfügung stehen, setzt hier auch das freie Mandat der Abgeordneten eine unüberwindliche Schranke. Gerade die Tatsache, daß dem deutschen Verfassungsrecht ein imperatives Mandat fremd ist, macht die Rolle der Fraktion für die Verwirklichung politischer Ideen einer Partei so bedeutsam l2 . Abs. 1 GO Mecklenburg-Vorpommem und § 8 Abs. 1 GO Thüringen stellen - den Besonderheiten der ersten Landtagswahl entsprechend - auf die gleiche Partei oder Listenverbindung ab. 10 Dellmann, DÖV 1976, 153, 154. 11 Kisker, JuS 1980, 284, 285, sieht daher völlig zutreffend die auch von Art. 21 GG umfaßte Mitwirkung der Partei an der parlamentarischen Willensbildung als von ihren Abgeordneten und ihrer Fraktion vennittelte und damit indirekte Mitwirkung an. 12 Kasten, Ausschußorganisation, S. 140.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Die Fraktionen sind als Instrument zur Umsetzung parteipolitischer Zielsetzungen nicht zuletzt deshalb besonders geeignet, weil zwischen Fraktionsund Parteispitzen regelmäßig starke personelle Verflechtungen bestehen. So haben die Mitglieder des Fraktionsvorstandes vielfach auch Führungsfunktionen in der Partei inne. Nicht selten in der Geschichte der Bundesrepublik war der Parteivorsitzende zugleich Vorsitzender der Bundestagsfraktion \3. Diese personelle Verklammerung gewährleistet vielfach, daß der politische Kurs von Partei und Fraktion nicht auseinanderläuft l4 • Des weiteren sind in diesem Zusammenhang Bestimmungen in den Geschäftsordnungen der Bundestagsfraktionen zu nennen, die eine Zusammenarbeit mit der jeweiligen Partei regeln. Dies geschieht vor allem in der Form, daß Inhaber von Partei ämtern die Teilnahmemäglichkeit an Sitzungen der Fraktionsvollversammlung oder von Organen der Fraktion eingeräumt wird l5 . Vereinzelt gibt es darüber hinaus auch Bestimmungen in den Fraktionsgeschäftsordnungen, die besondere Arten der Kontaktpflege zu Parteigliederungen oder Parteiorganen institutionalisieren 16.

13 VergI. die Übersicht bei Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 276-280; ders .• Datenhandbuch Band 111, S. 291-293. Im einzelnen gab es folgende Fälle der Personalunion: Bei der CDU/CSU 1972-1973 Rainer Barzel und 1976-1982 Helmut Kohl. Bei der DP: 1949 Heinrich Hellwege. Bei der FDP: 1949 Theodor Heuss (wenige Tage), 1954-1957 Thomas Dehler und 19601963 Erich Mende. Bei der KPD: 1949-1951 Max Reimann. Bei der SPD: 1949-1952 Kurt Schumacher, 1952-1963 Erich Ollenhauer und 1987-1991 Hans-Jochen Vogel. Bei der WAV: 1949-1951 Alfred Loritz. Beim Zentrum: 1949-1951 Helene Wessel. 14 Nicht zufällig waren daher auch vor allem bei den GRÜNEN Divergenzen zwischen Fraktion und Partei festzustellen, die weitgehend auf solche personellen Verklammerungen verzichten. 15 §§ 3 Abs. 2 und 6 Abs. 2 AO CDU/CSU-Fraktion, 5 Abs. 3, 9 Abs. 5 und 10 Abs. 1 GO FDP-Fraktion, 3 Abs. 1 und 3 GO Fraktion DIE GRÜNEN. 16 Nach § 18 AO CDU/CSU-Fraktion sind die Fraktionsmitglieder jedes Bundeslandes verpflichtet, für die laufenden Verbindungen zu ihrem Landesverband zu sorgen und sollen zu diesem Zweck Beauftragte aus ihrer Mitte wählen. Nach § 2 Abs. 2 GO Fraktion DIE GRÜNEN wird mindestens einmal im Monat der Bundesvorstand (über das Teinahmerecht an den Sitzungen des Fraktionsvorstandes und der Fraktionsversammlung hinaus) zu einer gemeinsamen Besprechung mit dem Fraktionsvorstand eingeladen.

§ 10: Parlamentarische Vertretung einer politischen Partei

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c) Weitere BefÜh1Ungspunkte

Daß sich die Fraktionen selbst als parlamentarische Vertretungen ihrer Parteien verstehen, wird auch daran deutlich, daß sie den Namen der Partei zu führen pflegen. Diese ständige Übung hat in der bremischen Bürgerschaft auch Eingang in die Geschäftsordnung gefunden. § 7 Abs. 2 Satz 1 GO Bremen ordnet an, daß Fraktionen, deren Mitglieder vorwiegend einer Partei oder Gruppe angehören, die im Bundestag oder in mehreren Landtagen vertreten ist, den Namen ihrer Partei oder Gruppe führen. Die Bezugnahme auf den Parteinamen für die Bezeichnung der Fraktion ist dort also geschäftsordnungsrechtlich vorgeschrieben. Noch weitergehend wird in einer Vorschrift der Verfassung von Berlin sogar eine Gleichsetzung von Partei und Fraktion vorgenommen, indem von den Parteien gesprochen wird, wo offensichtlich die Fraktionen gemeint sind 17 • Letztlich werden im Schrifttum auch die historischen, Wurzeln für die Entwicklung des Parteienwesens in Deutschland, die Entstehung politischer Parteien als Ergebnis eines Organisationsprozesses, der seinen Ausgangspunkt in der innerparIamentarischen Fraktionsbildung nahm und von dort aus in die Gesellschaft ausstrahlte, als Beleg dafür in Anspruch genommen, daß die Fraktionen heute als "Parteien im Parlament" von der Garantie des Art. 21 GG mitumfaßt werden 18 .

17 Art. 32 Abs. 2 LV Berlin: "In den Ausschüssen müssen die Parteien nach den Grundsätzen der Verhältniswahl vertreten sein." Unstreitig sind damit die Fraktionen gemeint. Vergl. nur Härth in: PfennigjNeumann (Hrsg.), Verfassung von Berlin, 2. A., 1987, Art. 32, Rdnr. 4; Nauber, Das Berliner Parlament, 5. A., 1986, S. 117; Borchert, AöR 102 (1977), 210,226. Demgegenüber meint Art. 15 Abs. 2 LV Bayern: "Die Entscheidung darüber, ob diese Voraussetzungen vorliegen (ob eine Wählergruppe als verfassungsfeindlich zu betrachten ist), trifft auf Antrag der Staatsregierung oder einer der im Landtag vertretenen Parteien der Bayerische Verfassungsgerichtshof." tatsächlich die Parteien, unabhängig davon, ob ihre Abgeordneten im Landtag eine Fraktion bilden (Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 92). Aus dieser Bestimmung läßt sich daher auch nicht ableiten, daß eine im Landtag vertretene Partei verfassungsrechtlich zugleich als Fraktion anerkannt sei. 18 So vor allem W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 488 f.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

2. Die Eigenständigkeit der Fraktionen gegenüber den politischen Parteien Sind somit eine Reihe von Gesichtspunkten nicht zu leugnen, die diese These zu stützen scheinen, so lassen sich doch auch gewichtige Gegengründe anführen. Gerade das zuletzt erwähnte historische Argument ist weniger eindeutig, als es zunächst den Anschein hat 19. Zwar standen die Fraktionen am Anfang der Parteienentwicklung in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, doch beweist dies umgekehrt, daß es schon Fraktionen gab, noch ehe man von Parteien sprechen konnte. Dies zeigt, daß die Fraktionsbildung nicht angewiesen ist auf das Vorhandensein von Parteien, sie wurden vielmehr auch ohne deren Existenz als notwendig erkannt, um das Parlament in die Lage zu versetzen, seinen Aufgaben nachzukommen, und um den Abgeordneten eine wirkungsvolle Ausübung ihres Mandats zu ermöglichen. Die parlamentarische Vertretung einer bestimmten Partei erweist sich daher bei historischer Betrachtung als nachrangig gegenüber den originären Funktionen des Fraktionszusammenschlusses, den Ablauf des parlamentarischen Geschehens steuern zu können und dem einzelnen Abgeordneten zugleich ein Höchstmaß an Einflußmöglichkeiten zu sichern. Angesichts der inzwischen bestehenden engen Verbindungslinien zwischen bei den ist die Bezeichnung als "Partei im Parlament" heute sicher im Sinne einer politisch-soziologischen Beschreibung angemessen 20 • Fraglich ist nur, ob der Begriff auch in dem Sinne eine taugliche Umschreibung liefert, daß daran rechtliche Schlußfolgerungen geknüpft werden könnten.

a) Die Einfügung der Fraktionen in den staatsorganschaJtlichen Bereich Auch gegenwärtig sind Parteien und Fraktionen aber rechtlich zu unterscheiden, weil sie auf verschiedenen Ebenen angesiedelt sind. Die Parteien bleiben, obwohl Art. 21 GG sie in den Rang verfassungsrechtlicher Institutionen erhebt und sie den Auftrag haben, durch Einflußnahme auf die Beschlüsse von Parlament und Regierung in die institutionalisierte Staatlich19 Für K1effmann, Rechtsstellung, S. 149, spricht die verfassungsgeschichtliche Entwicklung gegen die Fraktion als Partei im Parlament. Ebenso Bick, Ratsfraktion, S. 46 f. 20 Nur in diesem Sinne wird die Bezeichnung auch bei Kretschmer, Fraktionen. Parteien im Parlament, gebraucht (s. dort, S. 153 ff.); ebenso Weiler, ZParlI978, 18,20.

§ 10: Parlamentarische Vertretung einer politischen Partei

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keit hin einzuwirken, frei gebildete Gruppen, die im gesellschaftlich-politischen Raum wurzeln, sie stehen damit selbst außerhalb der Staatsorganisation21 • Aufgrund des demokratischen Gebots einer grundsätzlich staatsfreien und offenen Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen wäre ihre Einfügung in den staatsorganschaftlichen Bereich sogar verfassungsrechtlich unzulässig22 • Die Fraktionen als Gliederungen des Parlaments sind demgegenüber Teile eines obersten Staatsorgans und somit fest in den staatsorganschaftlichen Bereich eingefügt. Besonders klar hat das BVerfG diese grundlegenden Unterschiede im Urteil zur Parteienfinanzierung herausgearbeitet und daraus geschlossen, daß der Staat den Fraktionen finanzielle Zuschüsse gewähren kann, daß eine staatliche Finanzierung der Parteien für ihre gesamte Tätigkeit hingegen von der Verfassung untersagt ist. Ungeachtet der engen Verbindung von Parteien und Fraktionen, die durchaus gesehen wird23 , führt das BVerfG hier doch zutreffendermaßen eine deutliche Unterscheidung durch, die völlige Gleichsetzung von Parteien und Fraktionen jedenfalls ist danach nicht haltbar 24 •

b) Der mangelnde Einfluß der Parteien auf das Zustandekommen der Fraktionen

Ist die These von der Fraktion als der "Partei im Parlament" und - damit einhergehend - von ihrer verfassungsrechtlichen Verankerung in Art. 21 GG schon von daher Bedenken ausgesetzt, so verstärken sich diese Zweifel, wenn man den Blick auf die Art und Weise lenkt, wie die Fraktionen konkret zustandekommen. Auch hier gilt es wieder, sich darauf zu besinnen, daß nur die Abgeordneten durch ihren freien Willensentschluß die Fraktionen entstehen lassen können. Ebensowenig wie das Gesamtparlament kann die Partei eine Fraktion hervorbringen, im Unterschied zum Parlament jedoch, dessen Zustim21 BVerfGE 1, 208, 223; 20, 56, 101; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 73; Hauenschild, Wesen, S. 150; Henke, Recht, S. 146; Linck, DÖV 1975, 689, 693. 22 BVerfGE 20, 56,102, unter Berufung auf Hesse, VVDStRL 17 (1959),11,33. 23 BVerfGE 20, 56,104. 24 Auch sonst wird in der Rechtsordung zwischen Parteien und Fraktionen getrennt. Beispielsweise nimmt § 2 Abs. 2 VereinsG von der Definition der Vereine u.a. aus: "I. politische Parteien im Sinne des Art. 21 des Grundgesetzes, 2. Fraktionen des Deutschen Bundestages und der Parlamente der Länder".

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

mung zur Fraktionsbildung immerhin in Ausnahmefällen von den Geschäftsordnungen gefordert wird, ist eine Mitwirkung der politischen Partei an der Konstituierung der Fraktion überhaupt nicht vorgesehen. Diejenigen, die sich auf das Erfordernis der gleichen Parteizugehörigkeit in § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT berufen, übersehen dabei, daß gerade dort die Fraktionen als Vereinigungen von Abgeordneten defmiert werden. Diese Ausdrucksweise zeigt, daß ihre Konstituierung allein den Abgeordneten überlassen wird. Inhaber des Rechts der Fraktionsbildung sind nicht die im Parlament vertretenen politischen Gruppierungen, sondern die einzelnen Abgeordneten 25 • Die Abgeordneten einer Partei bilden nach geltendem Parlamentsrecht keineswegs automatisch eine Fraktion, wie es eine Auffassung voraussetzen müßte, die nur auf die parteiliche Struktur des Parlaments abstellt 26 • Seine Partei kann den Abgeordneten auch nicht zwingen, sich der Fraktion anzuschließen, dieser Entschluß ist allein seinem verfassungsrechtlichen Bereich zugeordnet 27 • Fraktionsmitgliedschaft und Parteizugehörigkeit müssen demnach rechtlich nicht notwendig deckungsgleich sein. Daß sie es auch tatsächlich nicht unbedingt sind, soll im folgenden an einigen Beispielen aus der Geschichte des Bundestages belegt werden.

c) Die fehlende Übereinstimmung von Partei- und Fraktionsmitgliedschaft

in der Praxis des Bundestages

So können Abgeordnete beispielsweise ihre Fraktion verlassen, ohne zugleich auch aus der Partei auszutreten. Praktisch geworden ist dies etwa im Februar 1956, als infolge des Regierungs- und Koalitionswechsels in Nordrhein-Westfalen 16 Bundestagsabgeordnete der FDP (die sogenannte Euler-Gruppe) aus der FDP-Fraktion austraten. Im März 1956 schlossen sie sich zur Fraktion "Arbeitsgemeinschaft Freier Demokraten" (später umbenannt in "Demokratische Arbeitsgemeinschaft") zusammen. Von diesen 16 Abgeordneten schieden jedoch zunächst nur drei auch aus der Partei aus,

25 Amdt/Schweitzer, ZParl 1976, 71, 78; Fröhlinger, DVBI. 1982, 682, 684. Wie Hohm, NJW 1985, 408, 410, richtig erkennt, folgt daraus, daß der Abgeordnete verfassungsrechtlich nicht gehindert ist, sich mit Abgeordneten "gleicher politischer Gesinnung" unabhängig von deren Parteizugehörigkeit zusammenzuschließen. 26 H. J. Schröder, ZRP 1971, 97, 99; Kasten, Ausschußorganisation, S. 141. 27 StGH Bremen, StGHE 2,19,22; Ziekow, JuS 1991, 28, 30.

§ 10: Parlamentarische Vertretung einer politischen Partei

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die übrigen blieben Parteimitglieder28 • Die Zustimmung des Bundestages zur Bildung der neuen Fraktion wurde überhaupt nur notwendig, weil sich nicht so viele Abgeordnete mit gleicher Parteizugehörigkeit zusammenschlossen, wie es der damaligen Fraktionsmindeststärke von 15 Abgeordneten entsprach. Wären alle aus der Fraktion ausgeschiedenen Abgeordneten in der Partei verblieben, hätten sie also ohne weiteres eine neue Fraktion bilden können mit der Konsequenz, daß der Partei FDP dann zwei Bundestagsfraktionen gegenübergestanden hätten 29 • Auch dies wäre nicht ohne historische Vorläufer gewesen, sowohl im Preußischen Abgeordnetenhaus wie auch im Reichstag des Kaiserreichs, als die gleiche Parteizugehörigkeit in der Praxis bereits ein bestimmendes Merkmal für die Fraktionsbildung geworden war, kam es vor, daß einer Partei verschiedene Fraktionen entsprachen30 . Steht es also den partei angehörigen Abgeordneten frei, ob sie sich der Fraktion anschließen bzw. in ihr verbleiben wollen, so kann die Fraktion andererseits die Aufnahme eines Abgeordneten trotz dessen Parteimitgliedschaft ablehnen. So erging es dem im Dezember 1975 in den 7. Deutschen Bundestag nachrückenden SPD-Abgeordneten Hans-Uwe Emeis, der sich bereits zuvor mit der SPD überworfen hatte. Ohne daß er aus der Partei ausgeschlossen worden wäre, verweigerte ihm die SPD-Fraktion die Aufnahme, Emeis blieb bis zum Ende der Wahlperiode fraktionslos 31 . Gehören die Mitglieder der Partei somit nicht unbedingt auch der Fraktion an, so gibt es auch den umgekehrten Fall, daß den Fraktionen Abgeordnete angehören, die nicht Mitglieder der entsprechenden Partei sind. Beispiele hierfür lassen sich in neuester Zeit insbesondere bei der Fraktion DIE GRÜNEN finden, der sowohl in der 10. wie auch in der 11. Wahlperiode parteilose Abgeordnete als Vollmitglieder (nicht etwa nur als Gäste) angehörten, ohne daß im übrigen die Zustimmung des Bundestags nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOßT für notwendig erachtet worden wäre 32 • Die Anforde28 Das wird in der Aussprache vor Erteilung der Zustimmung zur Fraktionsbildung (Sten.Ber. 2. WP./l34. Sitzung/15.3.1956/6932-6934) deutlich. 29 Als noch nicht bekannt war, daß die Abgeordneten nicht alle der gleichen Partei angehörten, wurde daher zunächst auch die Bildung der neuen Fraktion dem Bundestag lediglich mitgeteilt. Verg!. Sten.Ber. 2. WP./132.Sitzung/6.3.1956/6818. 30 Hauenschild, Wesen, S. 28. 31 Sten.Ber. 7.WP./208.Sitzung/l0.12.1975/14315, dazu auch Kürschner, Statusrechte, S. 150 FN 41. 32 Belege in diesem Bereich zu finden, ist schwierig, da, soweit ersichtlich, noch nicht systematisch untersucht wurde, inwieweit Angehörige von Bundestagsfraktionen den entsprechenden Parteien nicht angehört haben. Auch für die Fraktion DIE GRÜNEN wird die Situa-

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

rung der gleichen Parteizugehörigkeit als Voraussetzung für die Mitgliedschaft in einer Fraktion wird also in der Praxis des Bundestags dann nicht strikt durchgehalten, wenn die betreffenden Abgeordneten zumindest für diese Partei kandidiert haben. Das rechtliche Bindeglied, das das Tatbestandsmerkmal der gleichen Parteizugehörigkeit in § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT zwischen Partei und Fraktion herstellt, wird hierdurch relativiert33 •

d) Die Möglichkeit parteiübergreijender Fraktionsbi/dungen Nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT kann mit Zustimmung des Bundestages überdies von der gleichen Parteizugehörigkeit völlig abgesehen werden. Es ist dem Bundestag unbenommen, Fraktionen zuzulassen, die sich aus den Mitgliedern verschiedener Parteien zusammensetzen. Für Abgeordnete mit gleicher Parteizugehörigkeit besteht also nur eine Privilegierung bei der Fraktionsbildung, weil sie nicht auf die Zustimmung des Bundestages angewiesen sind, ein rechtliches Monopol besteht keineswegs. So wurde etwa im März 1957 dem Zusammenschluß der bisherigen Fraktionen der Deutschen Partei und der Freien Volkspartei zur Fraktion DP(FVP) zugestimmt. Allerdings hatten die beiden Parteien kurz zuvor die Bildung einer einheitlichen Partei beschlossen34 . Aussagekräftiger ist daher die Gründung der Fraktion "Föderalistische Union" in der 1. Wahlperiode am 14. Dezember 1951. Hier existierte gar keine entsprechende Partei, die Abgeordneten entstammten dem Zentrum und der Bayernpartei35 • Dies kann als weiteres Indiz gewertet werden, daß die Mitgliedschaft der fraktionsangehörigen Abtion noch dadurch erschwert, daß einige Abgeordnete, die zunächst parteilos waren, anschließend in die Partei DIE GRÜNEN eintraten. Nach Auskunft des ehemaligen Fraktionsgeschäftsführers der Fraktion DIE GRÜNEN, Michael Vesper, lassen sich aber jedenfalls folgende Fälle zweifelsfrei nachweisen: In der 10. Wahlperiode gehörten die Abgeordneten Antje Vollmer (die unmittelbar nach Niederlegung ihres Mandats in der Mitte der Wahlperiode in die Partei eintrat) und Gert Bastian der Fraktion DIE GRÜNEN an, ohne Mitglied der Partei DIE GRÜNEN zu sein, in der 11. Wahlperiode gilt dies für die Abgeordneten Trude Unruh (bis zu ihrem Fraktionsausschluß im Herbst 1989) und Alfred Mechtersheimer. 33 Konsequenterweise verliert ein Fraktionsmitglied daher diese Eigenschaft auch nicht von selbst, wenn es aus der Partei ausscheidet, wie es § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT eigentlich nahelegen würde. Erforderlich ist vielmehr, daß auch die Fraktion ihn formell ausschließt. VergI. insoweit die Sachverhaltsschilderung in BVerfGE 80, 188, 190 f.: "Am 27. Januar 1988 wurde der Antragsteller, nachdem er wegen Streitigkeiten mit seinem Landesverband aus der Partei ausgetreten war, aus der Fraktion ausgeschlossen." 34 Vergl. hienu Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 253. 35 Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 253.

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geordneten in der gleichen Partei nicht zum Wesen der Fraktion gehört, wie es der Begriff der "Partei im Parlament" nahelegt. Ein Blick auf die Entwicklung der Geschäftsordnung bestätigt dieses Ergebnis. § 7 der Geschäftsordnung des Reichstages vom 12. Dezember 1922 als erste Vorschrift, die auf der Ebene des Gesamtstaates die Fraktionen behandelte, stellte deren Bildung nämlich vollkommen unabhängig von der Parteiangehörigkeit ihrer Mitglieder. Da die Geschäftsordnung des Weimarer Reichstages auch dem Bundestag als vorläufige Geschäftsordnung diente, blieb dies so, bis am 1. Januar 1952 die Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages in Kraft trat, die erstmals die gleiche Parteizugehörigkeit als Voraussetzung normierte und abweichende Fraktionsbildungen nur noch mit Zustimmung des Bundestages zuließ (10 Abs. 4 GOBT 1952). Demzufolge bildetet sich die Fraktion "Föderalistische Union" auch noch, ohne auf die Zustimmung des Bundestages angewiesen zu sein36 . Auch nach Inkrafttreten der neuen Geschäftsordnung 1952 aber wurde ein Nachholen der Zustimmung nicht gefordert, die Fraktion bestand bis zum Ablauf der 1. Wahlperiode fort. Ebenso bildete sich zu Beginn der 2. und 3. Wahlperiode - also unter Geltung der neuen Geschäftsordnung -, wie auch schon 1949, die Fraktion der CDU /CSU aus Mitgliedern zweier rechtlich selbständiger Parteien, ohne daß der Bundestag zugestimmt hätte. In der 4. Wahlperiode wurde dies erstmals beanstandet, in der 5. wurde formell die Zustimmung erteilt37 . 1969 wurde eigens für die CDU /CSU-Fraktion § 10 Abs. 1 geändert. Seither können sich ihre Abgeordneten, da die Parteien gleichgerichtete politische Ziele verfolgen und in keinem Land miteinander in Wettbewerb stehen, ohne Zustimmung des Bundestages zu einer Fraktion zusammenschließen. Im 10. und 11. Bundestag kam diese Regelung auch den Abgeordneten der beiden rechtlich selbständigen Parteien DIE GRÜNEN, die im Bundesgebiet kandidierte, und der Alternativen Liste, die lediglich in Berlin antrat, zugute, die danach gleichfalls ohne weiteres eine gemeinsame Fraktion bilden konnten 38 • 36 Diese Fraktion bildete sich auch deshalb gerade kurz vor Inkrafttreten der neuen Geschäftsordnung, weil darin die Fraktionsmindeststärke von bisher 10 auf 15 Abgeordnete angehoben wurde. Bayempartei und Zentrum verloren dadurch ihren Fraktionsstatus, durch den Zusammenschluß der insgesamt 22 Abgeordneten konnte die Aufrechterhaltung einer Fraktion mit den damit verbunden Vorteilen erreicht werden. 37 S. dazu Sten.Ber. 4. WP./1. Sitzung/17.10.1961/1 sowie Sten.Ber. 5.WP./1. Sitzung/ 19.10.1965/1. Für die in den ersten drei Wahlperiode unbeanstandete Bildung der CDU/ CSU-Fraktion Kretschmer, Fraktionen, S. 24. 38 Im 10. Bundestag war die AL durch den Abgeordneten Dirk Schneider und nach dessen Mandatsniederlegung durch den Abgeordneten Hans-Christian Ströbele vertreten, beide ge-

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Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß im Bundestag die gleiche Parteimitgliedschaft nur sehr eingeschränkt Voraussetzung dafür ist, eine Fraktion zu bilden. Ausnahmen sind entweder schon von § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT gedeckt oder wären jedenfalls nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT mit Billigung des Bundestages möglich. Zudem wurde die gesamte Regelung, wie die Bildung der CDUjCSU-Fraktion in den 50er Jahren und die Bildung der Fraktion DIE GRÜNEN 1983 und 1987 zeigt, vom Bundestag großzügig gehandhabt. Eine Reihe von Länderparlamenten schließlich verzichtet für die Bildung von Fraktionen völlig auf das Merkmal der gleichen Parteizugehörigkeit39• Da hierzu auch die bremische Bürgerschaft zählt, ist der angeführten Geschäftsordnungsregelung über den Fraktionsnamen keine rechtliche Festlegung der Fraktion auf die Partei zu entnehmen. Lediglich wenn sich Abgeordnete, die vorwiegend (!) einer im Bundestag oder mehreren Landtagen vertretenen Partei angehören, sich zusammenschließen, sind diese gehalten, den Parteinamen als Fraktionsbezeichnung zu führen.

e) Die rechtliche Freiheit der Fraktion bei der Umsetzung paneipolitischer Zielsetzungen Spricht also die Unabhängigkeit der Fraktionsbildung von jeglicher Mitwirkung der Partei dagegen, die Fraktion rechtlich als "Partei im Parlament" anzusehen, und vermag auch die in § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT grundsätzlich geforderte gleiche Parteimitgliedschaft angesichts der zahlreichen Durchbrechungen von dieser Regel das Gegenteil nicht zu begründen, so verlangt schließlich auch die Funktion der Fraktion, das Programm der jeweiligen Partei in parlamentarisches Handeln umzusetzen, eine differenzierte Betrachtung. Wie bereits dargestellt, können sich die Fraktionen als Vereinigungen von Abgeordneten auf das primär diesen zustehende freie Mandat berufen, wobei dessen Schutzrichtung ebenso wie bei den Abgeordneten auch gegen die Parteien gewendet ist. Rechtlich sind die Fraktionen deshalb hörten der Fraktion DIE GRÜNEN an. Im 11. Bundestag wurde die AL durch die Abgeordneten Ellen Olms und Peter Sellin sowie nach deren Ausscheiden aus dem Bundestag durch die Abgeordneten Sieglinde Frieß und German Meneses Vogl vertreten. Alle vier waren Mitglieder der Fraktion DIE GRÜNEN. Vergl. dazu Schindler, Datenhandbuch Band 111, S. 280. 39 Vergl. §§ 16 GO Brandenburg, 7 GO Bremen, 2 GO Hessen, 16 GO Nordrhein-Westfalen, 10 GO Saarland, 2 GO Sachsen-Anhalt.

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frei, inwieweit sie inhaltliche Vorstellungen der Parteien aufgreifen wollen. So bilden die Fraktionen denn auch nicht selten einen Willen, der sich von Parteitagsbeschlüssen deutlich abhebt. Im Vordergrund steht dabei die für die Fraktionen gegebene Notwendigkeit, sich einer immer wieder gewandelten Lage anzupassen, um den sich stellenden Problemen begegnen zu können. Für die Parteien stellen sich diese Anforderungen praktischer Politik nicht in gleicher Weise, weshalb sie in ihren langfristigen ProgrammvorsteIlungen auch Positionen vertreten können, die sich im Parlament nicht verwirklichen lassen. Etwaige Differenzen zwischen Partei und Fraktion, die daraus entstehen können, werden aber regelmäßig nicht öffentlich ausgetragen. Deutlich ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gedrungen sind in den letzten Jahren allerdings divergierende Willensbildungen bei den GRÜNEN, die aus der unterschiedlichen Stärke der einzelnen Flügel in Partei und Fraktion resultierten. Um aber zu zeigen, daß dieses Phänomen auch bei den sogenannten etablierten Parteien anzutreffen ist, sei hier an einige spektakuläre Abweichungen der Fraktionen von Beschlüssen der jeweiligen Parteien erinnert, die sich auf Landesebene ereignet haben. So entschied sich im Jahre 1968 die SPD-Fraktion des baden-württembergischen Landtages für eine Fortsetzung der Großen Koalition mit der CDU, obgleich eine Landesdelegiertenkonferenz der SPD sich dagegen ausgesprochen hatte4o • Im Jahre 1972 nominierte die FDP-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus gegen die Beschlüsse der zuständigen Parteigremien einen anderen Kandidaten als Bundestagsabgeordneten41 . Im Jahre 1981 schließlich entschloß sich die FDPFraktion im Berliner Abgeordnetenhaus entgegen einem Beschluß des Landesparteitags, die Wahl des CDU-Minderheitssenats unter Richard von Weizsäcker zu ermöglichen42 • Rechtlich ist die Fraktion also nicht lediglich ein ausführendes Organ der Partei, sondern legitimiert zu einer eigenständigen Willensbildung. Im übrigen wird im Schrifttum immer wieder darauf hingewiesen, daß im Beziehungsgeflecht zwischen Partei- und Fraktionsgremien eher die Fraktionsführung die sachpolitische Willensbildung dominiert als umgekehrt4 3 •

40 Dazu Stuby, Der Staat 8 (1969), 303, 304.

41 Nauber, Berliner Parlament, S. 308. 42 Dieses Verhalten führte zu einem Verfahren vor dem FDP-Landesschiedsgericht Berlin (abgedruckt in NVwZ 1983, 439 f.). 43 Haungs, Parteiendemokratie in der Bundesrepublik Deutschland, 1980, S. 22 f.; Kasten, AusschußorganiSlltion, S. 144 FN 430.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Nach alledem erweist sich die Bezeichnung der Fraktion als "Partei 1m Parlament" als bei weitem zu ungenau und daher untauglich für eme zutreffende juristische Erfassung der Fraktionen44 •

3. Die verfassungs rechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 21 GG? Sind die Fraktionen somit von den Parteien zu unterscheiden, so bleibt noch zu klären, ob sie nicht gleichwohl zusammen mit ihnen in Art. 21 GG verfassungsrechtlich anerkannt sind. Für die Beantwortung dieser Frage kommt es zunächst wieder auf die Funktion an, welche die Fraktion im Hinblick auf die Partei übernimmt. Wie die Untersuchung ergeben hat, erfüllt die Fraktion die Aufgabe, parlamentarische Vertretung einer Partei zu sein, zwar in der Praxis vielfach, angesichts der von der Verfassung garantierten rechtlichen Freiheit, in welchem Maße Parteistandpunkte von der Fraktion vertreten werden, ist die Wahrnehmung dieser Aufgabe aber nicht wesensnotwendig mit dem Begriff der Fraktion verbunden. Während jede Fraktion, um überhaupt erst Fraktion sein zu können, notwendigerweise sowohl eine Vereinigung von einzelnen Abgeordneten wie auch eine ständige Gliederung des Gesamtparlaments ist, ist sie keineswegs zwingend Vertretung einer politischen Partei. Ist schon von daher die verfassungsrechtliche Verankerung der Fraktion in Art. 21 GG bedenklich, so wird dies vollends dadurch ausgeschlossen, daß die Partei keinen Einfluß auf die Bildung der Fraktion nimmt und aufgrund des freien Mandats ihrer Abgeordneten auch aus verfassungsrechtlichen Gründen gar nicht nehmen kann. Das Recht auf Fraktionsbildung ist deshalb ein Recht der Abgeordneten, nicht jedoch ein Recht der Partei45 • Zu44 Stern, Staatsrecht Band I, § 23 I 2 b; Arndt/Schweitzer, ZPar11976, 71, 78; Kasten, Ausschußorganisation, S. 15t. 45 Aus diesem Grunde können sich auch gegen die Festsetzung einer Fraktionsmindeststärke durch das Parlament nur die betroffenen Abgeordneten im Wege des Organstreits verfassungsgerichtlich wehren, die Partei ist insoweit nicht antragsbefugt (Palme, JA 1991, 252, 254; a.A. Kisker, JuS 1980, 284). Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hielt in der Entscheidung über die Fraktionsmindeststärke im bayerischen Landtag zwar neben der Gruppe der acht FDP-Abgeordneten auch den Landesverband der FDP für antragsbefugt (VerfGH 29, 62, 80), doch ist dies damit zu erklären, daß die Antragstel1er sich darauf beriefen, daß sie als Partei im Parlament ohne weiteres eine Fraktion bilden können müßten. Da diese Frage bis dahin nicht entschieden war, war der Antrag der Partei zuzulassen und erst im Rahmen der

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treffenderweise ist somit die Fraktion verfassungsrechtlich allein in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zu verankern. In der neueren Literatur mehren sich dementsprechend auch die Stimmen, die eine Heranziehung von Art. 21 GG als verfassungsrechtliche Begründung der Fraktion ablehnen46. Selbst in der Rechtsprechung des BVerfG, auf dessen Urteil zur Redezeit die Ableitung aus Art. 21 GG zurückgeht, schien sich in diesem Punkt eine gewisse Wende anzudeuten. Wurden in einer Phase des Übergangs zunächst Art. 38 und 21 GG nebeneinander als Grundlage der Fraktion angeführt47 , begnügte sich das Gericht im Fall Wüppesahl erstmals mit der Ableitung allein aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG und verzichtete völlig darauf, Art. 21 GG ausdrücklich zu erwähnen48 . Die Begründung der Fraktionen aus Art. 21 GG wurde lediglich noch im Sondervotum Kruis betont49 . Im PDS-Urteil führte das BVerfG allerdings wieder aus, die Anerkennung der Parlamentsfraktion als einer notwendigen Einrichtung des Verfassungslebens folge aus der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG. Indem zugleich daran festgehalten wird, daß die Bildung auf der in Ausübung des freien Mandats getroffenen Entscheidung der Abgeordneten beruht, zieht sich das BVerfG hier wieder auf das Nebeneinander

BegTÜndetheit abzulehnen. Bei einem nochmaligen Organstreit wäre ein Antrag der Partei bereits als unzulässig zurückzuweisen. 46 Hauenschild, Wesen, S. 171; Seifert, Die politischen Parteien im Recht der Bundesrepublik Deutschland, 1975, S. 345; Amdt/Schweitzer, ZParl 1976, 71, 78; Kleffmann, Reehtsstellung, S. 159; Kasten, Aussehußorganisation, S. 151; Hohm, NJW 1985, 408, 410; Biek, Ratsfraktion, S. 47. 47 So insbesondere die Entscheidung BVerfGE 70, 324 ff. Hier wird zum einen ausgeführt, die Fraktionen seien "notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens, deren Anerkennung aus der der Parteien in Art. 21 GG folgt" (S. 350), andererseits sind sie "da die Fraktion ein Zusammenschluß von Abgeordneten ist, wie der Status des Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 GG abzuleiten" (S. 363). 48 BVerfGE 80, 188, 220: "Ihre Bildung beruht auf der in Ausübung des freien Mandats getroffenen Entscheidung der Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG)." In Abwandlung der früher benutzten Fonnulierung wird allerdings unmittelbar zuvor über sie ausgesagt: "Im Zeichen der Entwicklung zur Parteiendemokratie sind sie notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens" . 49 BVerfGE 80, 188, 241 (Sondervotum Kruis): "Obzwar die Rechtsstellung der Fraktion als Zusammenschluß von Abgeordneten - wie der Status des Abgeordneten selbst - aus Art. 38 Abs. 1 GG abzuleiten ist, folgt die verfassungsreehtliche Anerkennung der Fraktion als notwendige Einrichtung des Verfassungslebens aus der Anerkennung der Parteien in Art. 21 GG, und zwar offensichtlich in Ansehung der den Fraktionen diesen gegenüber zukommenden Korrelatfunktion." 13 Demmler

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

von Art. 38 und 21 GG als verfassungsrechtliche Grundlage der Fraktionen zurück50 . Ist die Fraktion somit vom Grundgesetz zugleich mit der Gewährleistung des freien Mandats der Abgeordneten anerkannt, so bleibt ihre RechtssteIlung nun allerdings ebensowenig wie die des Abgeordneten von Art. 21 GG unbeeinflußt. Dieser legitimiert vielmehr auch den Einfluß, den die Parteien auf die Fraktionen nehmen51 • Soweit sich der Druck, den die Fraktion auf dissentierende Abgeordneten ausübt, damit sie sich der Auffassung der Mehrheit anschließen, als das Bemühen darstellt, Positionen durchzusetzen, die auch von der jeweiligen Partei vertreten werden, mag man dieses Streben nach Geschlossenheit als von der Garantie des Art. 21 GG umfaßt ansehen52 • Zwingend geboten ist der Rückgriff auf Art. 21 GG aber auch hier nicht, da sich das Bemühen der Fraktion um ein einheitliches Auftreten, wie dargelegt wurde, auch mit den Funktionsbedingungen einer parlamentarischen Demokratie rechtfertigen läßt.

50 BVerfGE 84, 304, 324. Nicht zugestimmt werden kann insoweit der Ansicht von Morlok, DVBI. 1991,998,999, Art. 21 GG habe im PDS-Urteil keine RoHe gespielt. 51 Dementsprechend beschreibt Henke, Recht, S. 148, das Verhältnis zwischen Partei und Fraktion als "im Grunde dasselbe Verhältnis wie zwischen Partei und Abgeordnetem". 52 Art. 21 GG gewährleistet dann insofern den den Parteien zukommenden Einnuß auf die staatliche Willensbildung, der über die Fraktionen lediglich vermittelt wird (Kisker, JuS 1980, 284, 285). Nicht etwa können sich, wie Kasten, Ausschußorganisation, S. 151, meint, die Fraktionen mittelbar auf Art. 21 GG stützen. Der Unterschied wird unmittelbar deutlich, wenn man sich den FaH einer Fraktionsmehrheit vor Augen hält, die einen vom Standpunkt der Partei abweichenden Willen bildet und die Minderheit (die u. U. gerade an der Position der Partei festhält) in ihrem Sinne zu beeinnussen sucht. Kasten, Ausschußorganisation, S. 152, räumt aber ein, daß Art. 21 GG für die Herleitung von Fraktionsrechten gegenüber dem einzelnen Abgeordneten als Fraktionsmitglied nichts hergeben könne.

§ 11: Die Rechtsnatur der Fraktionen

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§ 11: Die Rechtsnatur der Fraktionen 1. Die Bedeutung der Fragestellung a) Keine Auswirkungen auf die verfassungsrechtliche Stellung der Fraktionen

Weder die Verfassungen noch die Geschäftsordnungen der Parlamente treffen zur Frage der Rechtsnatur der Fraktionen konkrete Aussagen, infolgedessen wird dieser Punkt in der Literatur überaus kontrovers erörtert'. Die große Aufmerksamkeit, die dieser Diskussion gewidmet wird, ist jedoch um so weniger verständlich, als die mögliche Zuordnung der Fraktion zu einem bestimmten Typus nach allgemeinen Strukturprinzipien nur nachrangig sein kann gegenüber ihrer verfassungsrechtIichen Verortung. Als Institution, die ihre Bedeutung vor allem im Verfassungsleben entfaltet, ist es für die Fraktion von höchster Relevanz, wie ihre Position in dem Spannungsgefüge von Gesamtparlament, Partei und einzelnen Abgeordneten (und damit zugleich im normativen Gefüge von Art. 40 Abs. 1 Satz 2, Art. 21 und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) zu bestimmen ist. Will man das Wesen der Fraktion zutreffend charakterisieren, ist es daher notwendig, ihre Bezüge zu den Eckpunkten dieses Dreiecks herauszuarbeiten. Das Ergebnis dieser Analyse erlaubt es dann möglicherweise, auch auf die allgemeine Rechtsnatur der Fraktion zu schließen, diese kann sich gleichsam als Resultat der verfassungsrechtIichen Würdigung ergeben. Nicht aber kann der Gedankengang umgekehrt erfolgen, indem man versuchte, von einer etwa abstrakt vorgegebenen Rechtsnatur der Fraktion Schlußfolgerungen auf ihre verfassungsrechtIiche Rechtsstellung zu ziehen 2 • Dieser Weg wäre nur gangbar, wenn die Rechtsnatur von der Verfassung eindeutig bestimmt würde. Die Beantwortung der Frage nach ihrer Rechtsnatur kann daher im Hinblick auf den verfassungsmäßigen Stellenwert der Fraktion nur eine ohnehin bestehende Rechtslage in eine juristische Form gießen 3, nicht aber verändernd in diese Rechtlage eingreifen. , Versteyl in: von Münch (Hrsg.), GG, Art. 40, Rdnr. 16 f., spricht von mindestens acht verschiedenen Rechtsauffassungen, die in der Literatur zur Rechtsnatur der Fraktionen vertreten werden. 2 Dies versucht jedoch Hauenschild, Wesen, S. 171 ff.; wie hier dagegen Ritzel/Bücker, HdbPP, Vorbemerkungen zu § 10, Anm. 11 2; Schönberger,.Rechtsstellung, S. 3. 3 So auch Moecke, DÖV 1966, 162, 165.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

b) Die Relevanz für die Teilnahme der Fraktionen am allgemeinen Rechtsverkehr

Konsequenzen ergeben sich aus der Rechtsnatur der Fraktion dann allenfalls für ihr Handeln außerhalb der Mitwirkung bei der staatlichen Willensbildung. In diesem Zusammenhang wird die Frage denn auch regelmäßig erörterr. Ein Entwurf eines Gesetzes über die Rechtsstellung der Fraktionen aus der 6. Wahlperiode5 etwa, der dann nicht mehr abschließend beraten wurde, bestimmte dementsprechend in seinem § 1 Abs. 1 Satz 2, daß die verfassungsrechtliche Stellung der Fraktionen des Bundestages und ihre parlamentarischen Rechte und Pflichten durch die von dem Gesetzentwurf vorgenommene Gleichstellung der Fraktionen mit Körperschaften des Öffentlichen Rechts nicht berührt wird. Die Gleichstellung sollte vielmehr nur erfolgen, soweit die Fraktionen "am allgemeinen Rechtsverkehr teilnehmen" (§ 1 Abs. 1 Satz 1). Hier liegt das eigentliche Problem, dem man mit der Suche nach einer passenden Rechtsfigur zu begegnen sucht. Während die Rechtsfähigkeit der Fraktionen innerhalb des Parlaments durch die Zuweisung bestimmter Befugnisse, welche die Geschäftsordnung vornimmt, hinreichend geklärt ist, fehlen Normen, die ihre Rechtsfähigkeit im übrigen vorsehen. Die Fraktionen beteiligen sich aber in erheblichem Umfang am allgemeinen Rechtsverkehr, um für die Erfüllung ihrer verfassungsmäßigen Aufgaben ausgerüstet zu sein. So schließen sie etwa Arbeitsverträge mit ihren Angestellten und Kaufverträge zur Beschaffung von Sachmitteln. Des weiteren verfügen die Fraktionen zur Verwaltung ihres Vermögens6 über Bankkonten, die unter ihrem Namen geführt werden7 • Das Bemühen, eine geeignete Rechtsform für die Fraktionen zu fmden, ist geprägt von dem Bestreben, die insofern offensichtlich vorliegende Rechtsfähigkeit der Fraktionen zu erklären. Zudem können sich, je nachdem, ob man der Fraktion eine Rechtsform des öffentlichen oder des Privatrechts zuschreibt, Konsequenzen ergeben. Fragen, die im Zusammenhang hiermit erörtert werden, gehen etwa dahin, 4 Vergl. exemplarisch die einzelnen Konsequenzen, die Moecke, NJW 1965,567 ff., aus seiner Bewertung ziehen will. 5 BT-Drs. VI/3690. 6 Die Fraktionen finanzieren sich heute überwiegend aus Zuwendungen aus öffentlichen Haushalten und nur zu einem geringen Teil aus den von ihren Mitgliedern erhoben Beiträgen (Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 62). 7 Das stellt bereits die Untersuchung von Hauenschild, Wesen, S. 76, für das Jahr 1966 fest.

§ 11: Die Rechtsnatur der Fraktionen

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ob Bestimmungen, die für eine Tätigkeit im Öffentlichen Dienst gelten, auch für die Verträge der Fraktionen mit ihren Angestellten anwendbar sind, oder inwieweit die Fraktionen bei der Verwaltung ihres Vermögens an haushaltsrechtliche Vorschriften gebunden sind8 • Wenn diese Fragestellungen auch außerhalb des Untersuchungsrahmens angesiedelt sind, die Diskussion über die Rechtsform hingegen aus den genannten Gründen wenig ergiebig ist, um das Verhältnis Abgeordneter Fraktion zu beleuchten, so lassen sich doch aus den bisher gewonnenen Erkenntnissen verschiedene in der Literatur gemachte Vorschläge widerlegen. Nur deshalb soll auch zu der Streitfrage hier überhaupt Position bezogen werden, ohne daß aber versucht wird, die mit der Teilnahme der Fraktionen am allgemeinen Rechtsverkehr in Zusammenhang stehenden Fragen einer Lösung zuzuführen.

2. Stellungnahme zu den in der Literatur entwickelten Modellen a) Die Fraktionen als Organe der Parteien Bisweilen wird die Fraktion als Teil der Partei, etwa als ihr Organ, gesehen9 • Diese Vorstellung, die parallel zum Gedanken der Fraktion als Partei im Parlament läuft, ist jedenfalls abzulehnen. Sie ist mit der herausgearbeiteten rechtlichen Selbständigkeit der Fraktion gegenüber der Partei nicht zu vereinbaren 10. Die Fraktion wäre nur dann als Teil der Partei anzusehen, wenn sie in Art. 21 GG ihre unmittelbare verfassungsrechtliche Grundlage hätte. Wie gesehen, ist aber nicht Art. 21 GG, sondern Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die für die Fraktion konstituierende Norm, weshalb sich diese auch der Partei gegenüber auf die verfassungsrechtlich garantierte Weisungsfreiheit berufen kann. Ist es somit schon aus verfassungsrechtlichen Gründen ausgeschlossen, die Fraktion als Teil der Partei anzusehen, so ist es nur konsequent, daß das Parteiengesetz die Fraktionen gerade nicht bei den Organen der Partei aufführt 11, ja diese nicht einmal erwähnt. 8 Hierzu etwa Moecke, NJW 1965, 567, 569. 9 Deneke, 'Z5tW 109 (1953), 503, 524; Sasse, JZ 1961, 719, 724. 10 Versteyl in: von Münch (Hrsg.), GG, Art. 40, Rdnr. 16 h; von MangoldtjKIein, GG, Art. 40, Anm. 1111 d; Moecke, NJW 1965, 276, 278; C. Schmidt, DÖV 1990, 102,105; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 98 f. 11 Dies betont Hahn, DVBI. 1974,509,510.

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b) Die Fraktionen als Organe des Parlaments Die wohl herrschende Auffassung bezeichnet die Fraktion als Organ des Parlaments 12 • Da dieses seinerseits ein Organ des Staates ist, findet man teilweise auch die Umschreibung als mittelbares Staatsorgan13 •

aa) Die fehlende Zurechnung der Tätigkeit der Fraktionen Diese Ansicht wird zwar der Einordnung der Fraktion in den staatsorganschaftlichen Bereich gerecht, legt man jedoch die allgemeinen Kriterien für den Organbegriff zugrunde, so läßt sich erkennen, daß dieser Charakterisierung ebenfalls nicht gefolgt werden kann. Ein Organ wird herkömmlicherweise dadurch bestimmt, daß es sich um ein durch organisierende Rechtssätze gebildetes, organisatorisch selbständiges institutionelles Subjekt handelt, das lediglich transitorisch zuständig ist für die funktionsteilige Wahrnehmung bestimmter Kompetenzen einer juristischen Person oder teilrechtsfähigen Organisation l4 • Entscheidend ist demnach, daß Organe nicht für sich selbst handeln, vielmehr handelt der eigentliche Rechtsträger, der erst mit Hilfe seiner Organe überhaupt handlungsfähig wird, durch diese. Ihre Tätigkeit wird unmittelbar ihm zugerechnet, Handlungen der Organe sind Handlungen der übergeordneten Organisation. Man könnte also nur dann von der Fraktion als einem Organ des Parlaments sprechen, wenn ihre Aktivitäten dem Gesamtparlament unmittelbar zuzurechnen seien. Dies ist aber keineswegs der Fall. Die Fraktionen handeln nicht für das Parlament, sondern nehmen aus eigenem Entschluß Befugnisse wahr, die ihnen von der Geschäftsordnung zugewiesen sind l5 • 12 von Mangoldt/K1ein, GG, Art. 40, Anm. III 1 d; Hauenschild, Wesen, S. 167 ff.; Wolff/Bachof, VeIWllltungsrecht 11, 4. A, 1976, § 74 I f; Schramm, Staatsrecht Band I, 4. A, 1987, S. 59; von Münch, Grundbegriffe, Rdnr. 427; für den Reichstag bereits Perels, Geschäftsgang und Geschäftsformen, in: Anschütz(Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, 1. Band, 1930, S. 449, 450. 13 Hauenschild, Wesen, S. 170. 14 So der wesentlich von H. J. Wolff geprägte Organbegriff. Wolff/Bachof, VeIWllltungsrecht 11, § 74 I f; Würtenberger, Art. Organ, in: StL, 7. A, 1988, Sp. 195. 15 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 275; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 40, Rdnr. 14; Moecke, NJW 1965, 276, 278; Scherer, AöR 112 (1987), 189, 199; C. Schmidt, DÖV 1990, 102, 105; Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 52; Kretschmer, Fraktionen, S. 44; Schönberger, Rechtsstellung, S. 180; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 96 f.

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Um dies an einem Beispiel zu verdeutlichen, sei hier nur auf das Recht der Fraktionen hingewiesen, Gesetze einzubringen und andere Anträge zu stellen. Daß eine Zurechnung insoweit ausscheidet, ist ohne weiteres einsichtig, da ja die verschiedenen Fraktionen zum gleichen Gegenstand divergierende oder gar entgegengesetzte Anträge stellen können, so daß eine Zurechnung das Verhalten des Parlaments als widersprüchlich erscheinen ließe l6 •

bb) Der Vergleich mit den Ausschüssen Die mangelnde Organqualität der Fraktionen wird besonders bei einem Vergleich mit den Ausschüssen des Parlaments sichtbar. Anders als die Fraktionen handeln die Ausschüsse für das Parlament. Bei ihrer vorbereitenden Beratungstätigkeit, die mit der Vorlage einer Beschlußempfehlung und eines Berichts an das Plenum endet, nehmen sie ebenso wie bei ihren mitunter zu treffenden abschließenden Entscheidungen Zuständigkeiten des Parlaments wahr, die nur aus Gründen der Arbeitsteilung ihnen zugewiesen sind. Der Bundestag bedient sich seiner Ausschüsse nur, um seine eigenen Kompetenzen effektiv ausüben zu können, es ist daher ganz herrschende Auffassung, daß die Ausschüsse Organe des Parlaments sind l7 • Der grundsätzliche Unterschied zwischen Ausschüssen und Fraktionen besteht darin, daß die Fraktionen als Gremien mit gleicher politischer Ausrichtung nicht dem politischen Pluralismus des gesamten Parlaments entsprechen l8 • Erst die Tatsache, daß die Ausschüsse die im Parlament vertretenen unterschiedlichen politischen Richtungen widerspiegeln, befähigt sie dazu, Zuständigkeiten des Gesamtparlaments wahrzunehmen. Typisch für die Organe des Parlaments ist daher ihre heterogene politische Zusammensetzungl9 • Die Fraktionen andererseits sind, um ihre Aufgaben möglichst 16 Hahn, DVBI. 1974,509,510. 17 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 135; von MangoldtjKlein, GG, Art. 40, Anm. 111 1 e; Hatschek, Das Parlamentsrecht des Deutschen Reiches, 1915, S. 240, bereits für die Kommissionen des Reichstages im Kaiserreich. A.A. soweit ersichtlich nur Ritzel/Bücker, HdbPP, Vorbemerkung zu § 54, Anm. 2. So werden sie auch in einigen Geschäftsordnungen als Organe bezeichnet: §§ 24 Abs. 1 GO Bayern; 21 Abs. 1 Satz 2 GO Berlin; 68 Abs. 3 GO Rheinland-Pfalz, 23 Abs. 4 GO Sachsen, 37 Gesetz über den Landtag Saarland, 73 Abs. 1 GO Thüringen. 18 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 136 FN 63. 19 Dies gilt naturgemäß nicht für Organe, die, wie der Bundestagspräsident, nur aus einer Person bestehen.

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effektiv wahrnehmen zu können, auf ein Höchstmaß an politischer Homogenität angewiesen. Die bestehenden Unterschiede in der politischen Grundanschauung werden dann von mehreren Fraktionen, die miteinander konkurrieren, zum Ausdruck gebracht. Eben dieses Nebeneinander von mehreren Fraktionen, von denen jede einzelne die gleichen Zuständigkeiten hat, schließt es aus, jede von ihnen als Organ des Parlaments zu betrachten, so daß ihr Handeln als Handeln des Gesamtparlaments angesehen werden könnte 20 • Diese Auffassung wird durch Urteil des BVerfG bestätigt, das aus Gründen der notwendigen demokratischen Legitimation bei der personellen Besetzung der Magistrate in den schleswig-holsteinischen Gemeinden eine Wahl durch die Vertretungskörperschaft selbst für verfassungsrechtlich geboten und eine stattdessen erfolgte anteilsmäßige Besetzung durch die einzelnen Fraktionen nicht als ausreichend erachtete21 • Das BVerfG führt hier aus, eine Fraktion sei immer nur Teil eines Ganzen und könne daher nicht rechtlich wirksam die Funktionen und Kompetenzen des Ganzen wahrnehmen 22 • Das Wesen eines Organs definiert sich aber gerade dadurch, daß es Kompetenzen des Ganzen für dieses wahrnimmt. Ein weiterer Unterschied zu den Ausschüssen besteht überdies in der Art und Weise ihrer Entstehung. Die Ausschüsse werden nach § 54 Abs. 1 GOBT vom Bundestag eingesetzt, der dabei ihren Aufgabenbereich umschreibt und die Anzahl der Mitglieder festsetzt 23 • Lediglich die personelle Zusammensetzung der Ausschüsse ist dann nach § 57 Abs. 2 GOBT den Fraktionen überlassen. Ebenso wie er sie bildet, könnte der Bundestag Ausschüsse auch wieder auflösen, diese hängen also in ihrem Bestand vom Willen des Bundestages ab 24 • Die Fraktionen hingegen sind, wie gesehen, keine Arbeitseinheiten, die das Parlament einsetzt, sie bilden sich in der Regel ohne seine Mitwirkung und können sich auch ohne seine Zustimmung wieder auflösen. Die Rolle des Bundestages bei der Fraktionsbildung ist auf die Normierung von Voraussetzungen beschränkt, die erfüllt sein müssen, damit Abgeordnete eine Fraktion bilden können. 20 Die gegenteilige Auffassung von Hauenschild, Wesen, S. 168 f., differenziert nicht hinreichend zwischen dem Auftreten einer einzelnen Fraktion und dem gemeinsamen Handeln aller Fraktionen. Kritisch auch Bick, Ratsfraktion, S. 56. 21 BVerfGE 38, 258 Cf. 22 BVerfGE 38, 258, 274. 23 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 147. 24 Eine Ausnahme besteht insoweit für die vom Grundgesetz vorgeschriebenen Ausschüsse für Auswärtiges und Verteidigung (Art. 45 a GG) und den Petitionsausschuß (Art. 45 c GG).

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cc) Keine Stütze in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Die OrgansteUung läßt sich auch nicht etwa damit begründen, daß die Fraktionen Verfahrensbeteiligte in einem Organstreitverfahren vor dem BVerfG sein können, da es hierfür nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG ausreicht, daß es sich um einen in der Geschäftsordnung eines obersten Bundesorgans mit eigenen Rechten ausgestatteten Beteiligten handelt 25 . Diese Voraussetzungen erfüllt die Fraktion. Allerdings ist zuzugeben, daß auch das BVerfG von Fraktionen als Organen des Parlaments gesprochen hat26 • Zu erklären ist dies jedoch damit, daß es sich um Fraktionen des schleswig-holsteinischen Landtages handelte, dessen Geschäftsordnung bis 1956 die Fraktionen als Organe des Landtages bezeichnete 27 . Auch nach der Änderung der Geschäftsordnung findet sich die Qualifizierung als Organ aber noch einmal in einer auf Schleswig-Holstein bezogenen Entscheidung28 • In anderen Urteilen, diesmal sogar im Hinblick auf die Bundestagsfraktionen, spricht das BVerfG immerhin von Organteilen 29 . Der Umstand jedoch, daß das BVerfG zur gleichen Zeit abwechselnd auch andere Umschreibungen verwendet30, läßt aber deutlich werden, daß es den Organbegriff offenbar nie im technischen Sinne verstanden wissen wollte 31 . Seit 1969 hat es überdies ganz auf die Bezeichnung als Organ oder Organteil verzichtet. Spätestens die angeführte Entscheidung zur Besetzung der Magistrate in Schleswig-Holstein belegt, daß das BVerfG die Fraktionen nicht als Organe des Parlaments begreift. Sie sind Teile des Parlaments, aber eben gerade nicht Organe im organisationsrechtlichen Sinne.

25 Richtig Achterberg, Parlamentsrecht, S. 275; Schönberger, Rechtsstellung, S. 181. 26 BVerfGE 1, 208, 229; 27,44,51. 27 Darauf weist Kretschmer, Fraktionen, S. 44, zu Recht hin. Auf diese bis 1956 bestehende Besonderheit der schleswig-holsteinischen Geschäftsordnung geht auch Kribben, Das Selbstverständnis der Fraktionen des Schleswig-Holsteinischen Landtages - aus der Sicht der Mehrheitsfraktion, in: Titzck (Hrsg.), Landtage in Schleswig-Holstein, 1987, S. 263, ein. 28 BVerfGE 27, 44, 51. 29 BVerfGE 1, 350, 359; 2, 143, 167 f. 30 BVerfGE 2, 1, 14: "Gliederung"; 2, 143, 160: "ständige Gliederung des Bundestages"; 10, 4,14: "notwendige Einrichtung des Verfassungslebens". 31 So auch Moecke, DÖV 1966, 162, 163; Kerbusch, ZParl 1982, 225, 228; Bick, Ratsfraktion, S. 49; Schönberger, Rechtsstellung, S. 176 f.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

c) Die Fraktionen als Staatsorgane sui generis

Bedenken sieht sich auch eine Theorie ausgesetzt, die die Fraktionen als Staatsorgane sui generis bezeichnet32 • Die Annahme einer besonderen Art von Staatsorgan dient hier dazu, vom Merkmal der Zurechnung, das nicht vorliegt, absehen zu können. Damit wird für entbehrlich erklärt, was das Spezifische der Organschaft ausmacht. Davon abgesehen setzt die These von der Fraktion als einem Staatsorgan eigener Art voraus, daß diese automatisch mit der Wahl durch das Staatsvolk gebildet wird, indem die Kandidaten einer Partei von den jeweiligen Wählern nicht nur ins Parlament, sondern zugleich auch in die Fraktion gewählt werden 33 • Diese Vorstellung entspricht aber, wie gesehen, nicht der Wirklichkeit, stets ist es erst der freiwillige Zusammenschluß von Abgeordneten, der eine Fraktion entstehen läßt.

d) Die Fraktionen als Vereinigungen von Abgeordneten Der Fraktion angemessen ist nur eine Rechtsform, die dieser mitgliedschaftlichen Struktur Rechnung trägt. Als Vorbild bietet sich dabei vor allem ein Vereinsmodell an. Der Verein ist nach der von der zivilrechtlichen Rechtsprechung entwickelten Definition die auf Dauer berechnete Verbindung einer größeren Anzahl von Personen zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks, die nach ihrer Satzung körperschaftlich. organisiert ist, einen Gesamtnamen führt und auf einen wechselnden Mitgliederbestand angelegt ist 34 • Alle Merkmale dieser Definition sind im Falle der Fraktion erfüllt. Zweifelhaft könnte allenfalls sein, ob sie auf Dauer berechnet ist, da sie mit dem Ablauf der Wahlperiode ihr Ende findet, doch ist sie damit immerhin regelmäßig auf mehrere Jahre angelegt, so daß die zeitliche Begrenzung ihrer Bezeichnung als Verein nicht entgegensteht35 • Die Fraktion ist eine Vereinigung einer größeren Anzahl von Personen - so legt § 10 Abs. 1 Satz 1 32 Dieser Gedanke ist insbesondere von Borcher!, AöR 102 (1977), 210, 231, vertreten worden. In jüngster Zeit ist diese Theorie erneut belebt worden: C. Schmidt, DÖV 1990, 102, 105; wohl auch Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 52, der unter Berufung auf Borchert ausführt, es handle sich mehr als alles andere um "eine eigenständige, demokratisch legitimierte Repräsentation im parteienstaatlichen parlamentarischen System". 33 Von dieser Prämisse geht denn auch Borchert, AöR 102 (1977), 210, 229 C., ausdrücklich aus. 34 RGZ 95, 192, 193 C.; 165, 140, 143. 35 Moecke, NJW 1965, 276, 280 FN 34.

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GOBT die Mindeststärke einer Fraktion auf fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages fest -, die sich zur Erreichung eines gemeinsamen Zwecks, nämlich der möglichst effektiven Verfolgung einer bestimmten Politik, zusammengefunden haben. Sie ist körperschaftlich organisiert d.h. auf der Grundlage einer nach dem Mehrheitsprinzip abstimmenden Mitgliederversammlung36, und führt einen Gesamtnamen. Schließlich ist sie auch auf wechselnden Mitgliederbestand angelegt. Neben den selteneren Fällen von Fraktionaus- bzw. -übertritten ist an die wesentlich häufigere Konstellation des Wechsels infolge Tod oder Niederlegung des Mandats zu denken 37, ohne daß die Fraktion als solche dadurch in ihren Wirkungsmöglichkeiten beeinträchtigt würde.

aa) auf der Grundlage des Bürgerlichen Rechts Eine Reihe von Autoren spricht sich daher dafür aus, die Fraktion als Vereine des Bürgerlichen Rechts zu verstehen 38 • Es kann sich dann allerdings nur um nichtrechtsfähige Vereine handeln, da die Eintragung in das Vereinsregister (§ 21 BGB) bei den Fraktionen unterbleibt. Der Annahme eines nichtrechtsfähigen Vereins aber widerstreitet die Tatsache, daß die Fraktionen von der Geschäftsordnung ja mit einer ganzen Anzahl von Rechten ausgestattet werden. Aus diesem Grund hat Achterberg den Gedanken des nichtrechtsfähigen Vereins mit Innenrechtsfähigkeit entwickelt 39• Nach ihm soll die Eintragung nur zur Erlangung der Rechtsfähigkeit nach außen erforderlich sein, um die parlamentsinternen Befugnisse ausüben zu können, welche die Geschäftsordnung ihnen zuordnet, bedürfe es der Eintragung jedoch nicht. Zweifelsfrei ist diese Unterscheidung aber schon deshalb nicht, weil die Fraktionen ja auch außer halb des Parlaments auftreten. So nehmen sie etwa bei den Arbeitsverträgen mit ihren Angestellten auch am allgemeinen Rechtsverkehr teil, diese Form rechtlichen

36 Moecke, NJW 1965, 276, 280.

37 In der 11. Wahlperiode etwa verstarben 5 Abgeordnete während der Mandatszeit, außerdem gab es 34 Fälle einer vorzeitigen Beendigung der Mitgliedschaft durch Mandatsniederlegung (SchindIer, ZPar11991, 344, 348). 38 Schäfer, Bundestag, S. 135; Schulte, Mitwirken an den Richtlinien der Politik, in: Klatt (Hrsg.), Der Bundestag im Verfassungsgefüge, 1980, S. 39; Hahn, DVBI. 1974,509,510. 39 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 276 ff.

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Handelns der Fraktionen ist mit einer bloßen Innenrechtsfähigkeit jedenfalls nicht mehr zu erklären40 • Noch schwerwiegender sind aber Bedenken, die grundsätzlich gegen die Annahme einer privatrechtlichen Organisation sprechen. So sind die Rechtsgrundlagen für die Bildung der Fraktionen öffentlichrechtlicher Natur. Dies gilt für Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, auf dem die Fraktionen unmittelbar beruhen, wie auch für die Geschäftsordnung des Parlaments, die weitere Voraussetzungen für ihre Bildung und Bestand aufstellt. Wenn auch die Rechtsnatur der Geschäftsordnung des Bundestages im einzelnen umstritten ist4 1, so gehört sie doch unzweifelhaft zum öffentlichen Recht4 2 • Auch darf nicht übersehen werden, daß sich das Auftreten der Fraktionen im Parlament als unmittelbare Teilhabe an der staatlichen Willensbildung darstellt. Ihre sonstige Tätigkeit aber (z. B. die Geschäfte zur Erlangung der sachlichen und personalen Hilfsmittel) ist in engem Funktionszusammenhang damit zu sehen und kann nicht losgelöst von dem Zweck beurteilt werden, auf den sie gerichtet ist. Da die Mitwirkung am hoheitlichen Handeln des Parlaments aber öffentlich-rechtlich ist, resultiert daraus die Zuordnung der Fraktion insgesamt zum Öffentlichen Recht4 3• Ganz offensichtlich wird bei der Qualifizierung als Vereine des Bürgerlichen Rechts eine Parallele zu den politischen Parteien gezogen, die in dieser Rechtsform organisiert sind44 • Für die Parteien, die im gesellschaftlichen Bereich wurzeln und gerade nicht unmittelbar an der staatlichen Willensbildung beteiligt sind, mag diese Rechtsform auch durchaus wesensgemäß sein. Angesichts der eindeutigen Inkorporierung der Fraktionen in die Organisation des Staates vermag ihre Bezeichnung als Verein des Bürgerlichen Rechts nicht zu überzeugen und ist daher abzulehnen45 . Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 54. VergI. den Überblick bei Achterberg, Parlamentsrecht, S. 38 ff. 42 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 39, bezeichnet sie zutreffend als Verfassungsrecht im materiellen Sinne. 43 In diesem Sinne etwa Zuleeg, JuS 1978,240, 241; Erdmann, OÖV 1988, 907, 909; Bick, Ratsfraktion, S. SI. 44 So insbesondere Hahn, DVBI. 1974, 509, 510. Daß die Parteien bürgerlich-rechtliche Vereine sind, wird aus § 37 ParteiG deutlich, der lediglich bestimmte Vorschriften des bürgerlich-rechtlichen Vereinsrechts auf die Parteien für nicht anwendbar erklärt. 45 Ablehnend Moecke, NJW 1965, 276, 278 f.; ders., OÖV 1966, 162; Ritzel/Bücker, HdbPP, Vorbemerkungen zu § 10, Anm. 11 3; Kretschmer, Fraktionen, S. 40; C. Schmidt, OÖV 1990,102,105. 40 41

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bb) auf der Grundlage des Öffentlichen Rechts (1) Körperschaften des Öffentlichen Rechts Ist also jedenfalls eine öffentlich-rechtliche Rechtsform zu suchen, so wird diese zum Teil in der Körperschaft des Öffentlichen Rechts gesehen46 • Bei näherer Betrachtung erweist auch sie sich jedoch als wenig passend. So werden Körperschaften durch staatlichen Hoheitsakt errichtet und aufgelöSt'I7. Davon aber kann bei den Fraktionen, die sich durch den Willensakt ihrer Mitglieder bilden, nicht die Rede sein48 • Außerdem ist die Körperschaft des Öffentlichen Rechts eine typische Erscheinungsform der mittelbaren Staatsverwaltung, die staatliche Aufgaben mit in aller Regel hoheitlichen Mitteln wahrnimmt. Auf die Fraktion trifft dies nicht zu, sie handelt weder nach außen hoheitlich, noch im Innenverhältnis zu ihren Mitgliedern. Da die Fraktionen im Unterschied zu Körperschaften keine an sie delegierten Aufgaben der Staatsverwaltung erfüllen, sondern eigene Kompetenzen ausüben49, fehlt auch die für Körperschaften kennzeichnende staatliche Aufsicht über ihre Tätigkeit. Im Hinblick auf die auch den Fraktionen zukommende Gewährleistung des freien Mandats nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG wäre eine solche Aufsicht auch problematisch50 • Die nähere Untersuchung erweist also, daß die meisten Merkmale der Körperschaft des Öffentlichen Rechts bei den Fraktionen gerade nicht vorliegen. In Betracht käme allenfalls, die Fraktionen auf gesetzlichem Wege den Körperschaften des Öffentlichen Rechts gleichzustellen, wie es der erwähnte Gesetzentwurf aus der 6. Wahlperiode vorsah 51 und wie es in der Literatur gelegentlich noch immer befürwortet wird52 •

46 Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 114, auf S. 117 spricht er hingegen von den Fraktionen als Organteilen; Zu leeg, HKWP 11, S. 145, 147; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 101 ff. 47 Zum Begriff und den einzelnen Merkmalen der Körperschaft vergl. statt vieler Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 8. A., 1992, § 23, Rdnr. 37 ff. 48 Achterberg, Parlamentsrecht, S. 276; Schönberger, Rechtsstellung, S. 178; Moecke, NJW 1965,276,278; C. Schmidt, OÖV 1990, 102, 105. 49 C. Schmidt, OÖV 1990, 102, 105. 50 Moecke, NJW 1965, 276, 278. Nach Achterberg, Parlamentsrecht, S. 276 FN 9, läge bei einer auf eine Rechtsaufsicht beschränkten Aufsicht kein Verstoß gegen das freie Mandat vor. 51 BT-Ors. VI/3690, § 1 Abs. 1 Satz 1. 52 Ritzel/Bücker, HdbPP, Vorbemerkungen vor § 10, Anm. V.

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(2) Vereine des Öffentlichen Rechts Da auch diese Lösung nicht restlos zu befriedigen vermag, hat Moecke schließlich vorgeschlagen, die Fraktion als Verein des Öffentlichen Rechts anzusehen53 . Dafür spricht, daß die Vorstellung eines Vereins noch am ehesten mit dem Wesen der Fraktion vereinbar ist. Zudem wird der Verein durchaus nicht in striktem Gegensatz zur Körperschaft gesehen, von der er sich lediglich durch seine geringere Rechtsposition unterscheide54 • Daß die herkömmlichen Anforderungen an eine Körperschaft des Öffentlichen Rechts nicht gegeben seien, liege daran, daß diese ausschließlich für Körperschaften des Verwaltungsrechts entwickelt worden seien, die Fraktionen als Vereine des Öffentlichen Rechts aber seien Körperschaften des Verfassungsrechts. Als solche stünden sie in der Mitte zwischen den zivilrechtlichen Vereinen und den Körperschaften des Verwaltungsrechts55 . Daher könnten auch die Vorschriften des bürgerlichen Vereinsrechts analog herangezogen werden, soweit nicht die besondere verfassungsrechtliche Stellung der Fraktionen und ihrer Mitglieder dem entgegenstehe. Der praktische Nutzen dieser Qualifizierung ist freilich gering, da auch Moecke zu dem Ergebnis kommt, daß weite Teile des Vereinsrechts auf die Fraktionen unanwendbar sind56 . Methodisch bedenklich ist darüber hinaus, daß all die Merkmale der öffentlich-rechlichen Körperschaft, die auf die Fraktionen nicht passen, ohne weiteres zur rein verwaltungsrechtlichen Ausprägung des Körperschaftsbegriffs gezählt werden, die daher im Verfassungsrecht keine Geltung beanspruchen könnten57 .

3. Die mangelnde Notwendigkeit einer Bestimmung der Rechtsnatur Keine der in der Literatur angebotenen Auffassungen zur Rechtsnatur der Fraktionen ist somit vollkommen zufriedenstellend. Von daher ist erneut die 53 Moecke, NJW 1965, 276 CC.; ders., NJW 1965, 567 ff.; ders., DÖV 1966,162 Cf. 54 Moecke, NJW 1965, 276, 280; ders. DÖV 1966, 162, 163. 55 Moecke, NJW 1965, 276, 281. 56 Moecke, NJW 1965, 567, 568. 57 Dies kritisiert etwa Hauenschild, Wesen, S. 154 ff.; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 277 FN 12; Schönberger, Rechtsstellung, S. 182.

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Frage aufzuwerfen, ob die Zuordnung zu einer bestimmten Rechtsform überhaupt erforderlich ist. Das BVerfG begnügt sich seit langem mit neutralen Aussagen wie "notwendige Einrichtungen des Verfassungslebens", "Teile und ständige Gliederungen einer parlamentarischen Körperschaft" und "von der Verfassung anerkannte Teile eines Verfassungsorgans"58. Die Verfassungsgerichtshöfe der Länder haben sich dem angeschlossen und es überwiegend sogar dabei bewenden lassen, die Zitate des BVerfG wörtlich zu übernehmen59 . Da sich für den verfassungsrechtlichen Status der Fraktionen aus ihrer Rechtsnatur keine Folgerungen ergeben, kann die Rechtsform für eine verfassungsrechtliche Betrachtung auch tatsächlich dahinstehen. Auch ansonsten scheint die Unklarheit über die Rechtsnatur der Fraktionen in der Praxis aber keine unüberwindlichen Schwierigkeiten zu bereiten, für die angeführten Problemfälle haben sich mittlerweile praktikable Lösungsmöglichkeiten ergeben 6O • Bezeichnenderweise trifft denn auch der Entwurf eines Fraktionsgesetzes aus der 12. Wahlperiode zur Frage der Rechtsnatur keine Festlegung und begnügt sich damit, die Fraktionen als rechtsfähige Vereinigungen von Abgeordneten zu umschreiben61 . Was insbesondere ihre Rechtsfähigkeit bei der Teilnahme am allgemeinen Rechtsverkehr anbelangt, so läßt sich diese als Annex zu ihren Rechten im Parlament verstehen, wie sie in der Geschäftsordnung ausdrücklich festgehalten worden sind62 . Um ihren verfassungsmäßigen Aufgaben nachkommen zu können, sind die Fraktionen darauf angewiesen, zivilrechtliche Hilfsgeschäfte abschließen zu können. Hierfür müssen sie daher auch rechtsfähig sein. Ihre Rechtsfähigkeit - allerdings nicht allgemein, sondern beschränkt auf die zur sinnvollen Wahrnehmung ihrer öffentlichen Aufgaben erforderlichen Hilfsgeschäfte - ergibt sich deshalb unmittelbar aus der staatsrechtlichen Funktionszuweisung.

58 Aus neuerer Zeit etwa BVerfGE 38,258,273; 43,142,147; 62, 194,202; 70, 324, 350; 80, 188,219. 59 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 81; StGH Bremen, StGHE 2, 19, 21. 60 Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 54. Auch Versteyl in: von Münch (Hrsg.), GG, Art. 40, 16, hebt hervor, daß die Frage der Rechtsnatur die Literatur mehr beschäftigt als die Entscheidung darüber von praktischer Notwendigkeit ist. Nach Zeh, HdbStR 11, § 42, Rdnr. 13, ist die zivil- und arbeitsrechtliche Stellung der Fraktionen einschließlich ihrer Prozeßfahigkeit nicht umstritten. 61 BT-Drs. 12/4756, § 46 Abs. 1 Abgeordnetengesetz. 62 In diesem Sinne schon Moecke, DÖV 1966, 162, 166 f.; jetzt auch Bick, Ratsfraktion, S. 171,188.

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Angesichts dieses Befundes sollte, wie es in der Literatur auch zunehmend erkannt wird63 , die Festlegung der Fraktionen auf eine bestimmte Rechtsform auch in Zukunft unterbleiben. Eine solche Zuordnung würde keinerlei Vorteile, jedoch die Gefahr bringen, daß die damit unweigerlich verbundene Festschreibung die Flexibilität fraktionellen HandeIns hemmen und jegliche Weiterentwicklung erschweren, wenn nicht gar verhindern würde. Letztlich würde eine rechtliche Festlegung der Fraktionen dem politischen Charakter ihres Zusammenschlusses nicht gerecht64 . Die Fraktionen beziehen ihre einzigartige politische Bedeutung im SpannungsverhäItnis zwischen Parlament, Abgeordneten und Partei wohl nicht zuletzt aus der Tatsache, daß sie vor zu starker Verrechtlichung bewahrt geblieben sind, und deshalb immer wieder neu zur Balance in diesem sich ständig wandelnden Kräftefeld imstande sind. Die Voraussetzungen, unter denen eine Fraktion gebildet werden kann, werden im einzelnen von den Geschäftsordnungen der Parlamente festgelegt65 • Da das Recht des einzelnen Abgeordneten, sich zusammen mit anderen zur Fraktion zusammenzuschließen, anerkanntermaßen aus seinem verfassungsmäßigen Status folgt 66 , gilt hierfür die allgemeine Regel, daß es von der der Verfassung im Rang nachstehenden Geschäftsordnung zwar ausgestaltet und insofern aus Gründen einer möglichst effektiven Parlamentsarbeit auch eingeschränkt, aber nicht vollkommen entzogen werden kann67 • Zwar findet die Fraktion selbst, wie ausgeführt, ihre Grundlage nicht in der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments, weil dieses die Fraktionen nicht hervorzubringen vermag, die Anforderungen aber, die die Abgeordneten erfüllen müssen, damit sie eine Fraktion konstituieren können, sind durchaus Gegenstand der Geschäftsordnungsautonomie. Das Parlament hat dementsprechend bei der Bestimmung dieser Anforderungen einen weitgehenden Gestaltungsspielraum, der allerdings durch die verfas63 So etwa Zeh, HdbStR 11, § 42, Rdnr. 8; Schäfer, Bundestag, S. 135. Widersprüchlich Ritzel/Bücker, HdbPP, Vorbemerkungen zu § 10, der Anm. 11 3 ausführt, eine rechtliche Festschreibung des aktuellen Status der Fraktionen sei verfassungspolitisch nicht wünschenswert, weil Wesenselement der Fraktionen ihre Wandelbarkeit sei, sich Anm. V dann aber dafür aussprechen, durch Gesetz festzulegen, daß die Fraktionen den Körperschaften des Öffentlichen Rechts gleichgestellt werden. 64 Zweifel äußert insofern auch Bick, Ratsfraktion, S. 18. 65 Für die Kommunalvertretungen sind teilweise gesetzliche Regelungen in den Gemeindeordnungen ergangen. Zu deren Vereinbarkeit mit Art. 28 Abs. 2 GG vergl. Bick, Ratsfraktion, S. 66 ff. 66 BVerfGE 43,142,149; 70, 324, 354; 80, 188, 218. 67 BVerfGE 80, 188, 219; Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 89 f.; Bayerischer Verfassungsgerichtshof NJW 1990, 380, 381.

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sungsrechtlichen Vorgaben - und hier insbesondere durch die Gewährleistung des freien Mandats - begrenzt wird68 • In den Geschäftsordnungen der deutschen Parlamente haben sich zwei Kriterien herausgebildet, die der Bildung von Fraktionen zugrundegelegt werden. Es handelt sich dabei um das Erfordernis der gleichen Parteizugehörigkeit der Abgeordneten und um eine bestimmte Fraktionsmindeststärke. Beide Anforderungen sollen im folgenden auf ihre Verfassungsmäßigkeit überprüft werden.

68 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 88. 14 Demmler

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§ 12: Die Zugehörigkeit zur gleichen politischen Partei 1. Der Maßstab einer verfassungs rechtlichen Beurteilung § 10 Abs. 1 GOBT stellt, wie gesehen, kein Monopol in dem Sinne auf, daß die Fraktionsbildung auf Abgeordnete beschränkt wäre, die der gleichen Partei angehören. Immerhin werden diese aber privilegiert, indem sie ohne weiteres eine Fraktion gründen können, abweichende Fraktionsbildungen aber, sofern nicht die besonderen Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 letzter Hs. GOBT vorliegen, zu ihrer Anerkennung der Zustimmung des Bundestages bedürfen. Da die Fraktion nicht als "Partei im Parlament" angesehen werden kann und ihre verfassungsrechtliche Legitimation nicht in Art. 21 GG, sondern in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG findet, ist es zweifelhaft, ob eine solche Bevorzugung der Abgeordneten der gleichen Partei mit der Verfassung in Einklang steht'.

Verletzt sein könnte einerseits die Freiheit der betreffenden Abgeordneten, weil das zu ihrem Status zählende Recht auf Fraktionsbildung mit dem Zustimmungserfordernis möglicherweise übermäßig beschränkt wird, sofern dafür kein hinreichender Grund vorliegt. Zugleich könnte auch eine Verletzung der formal zu verstehenden Gleichheit aller Abgeordneten gegeben sein, die eine Differenzierung nur beim Vorliegen eines zwingenden Grundes zuläßt. Beide verfassungsrechtlichen Ansätze führen aber nicht zu einem unterschiedlichen Maßstab. Wird eine Begründung für die Zustimmungsbedürftigkeit gefunden, die so schwer wiegt, daß sie als zwingender Grund die Ungleichbehandlung von Abgeordneten rechtfertigt, wäre auch dargetan, daß die Freiheit des Abgeordneten nicht übermäßig beschränkt wird2 • Da der Verfassungsauftrag an die Parteien aus Art. 21 GG als Begründung nach hier vertretener Ansicht nicht in Betracht kommt, kann nur die Funktionsfähigkeit des Parlaments, zu deren Sicherung dem Bundestag in Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG überhaupt Autonomie bei der Gestaltung seiner Geschäftsordnung eingeräumt ist3, so ein zwingender Grund sein.

, Für verfassungswidrig hält dies etwa K1effmann, Rechtsstellung, S. 160 f. Insoweit ist der Entscheidung im Fall Wüppesahl BVerfGE 80, 188, 220 f., zuzustimmen, daß der Maßstab für Beschränkungen der Freiheit und der Gleichheit des Abgeordneten der selbe ist. 3 Linck, DÖV 1975, 689, 690; Kürschner, Statusrechte, S. 118. 2

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2. Die politische Homogenität als Wesens merkmal der Fraktion Ob die Privilegierung der Mitgliedschaft in der gleichen Partei aber wirklich durch zwingende Erfordernisse der Funktionsfähigkeit des Bundestages gerechtfertigt werden kann, ist fraglich, da eine ganze Reihe von Geschäftsordnungen der Länderparlamente in ihrer Regelung der Fraktionsbildung auf jegliche Bezugnahme auf die Parteizugehörigkeit der Abgeordneten verzichtet4. Bei näherer Betrachtung, insbesondere wenn man sich Sinn und Zweck der Ausnahmebestimmung in § 10 Abs. 1 Satz 1 letzter Hs. GOBT vergegenwärtigt, die auch Abgeordneten mehrerer Parteien die Vereinigung ohne Zustimmung des Bundestages erlaubt, falls diese auf Grund gleichgerichteter politischer Ziele in keinem Land miteinander in Wettbewerb stehen, erweist sich jedoch, daß es in Wahrheit gar nicht um die gleiche Parteizugehörigkeit als solche geht, sondern um die übereinstimmende politische Überzeugung, die dahinter steht. Der Bundestag will sicherstellen, daß sich ohne sein Zutun nur politisch homogene Gruppierungen als Fraktion bilden können 5 . Die politische Homogenität seiner Fraktionen ist für das Parlament aber in der Tat unverzichtbar, wenn diese ihre überragende Rolle für die Sicherstellung der Funktionsfähigkeit erfüllen sollen. Dies gilt nicht einmal in erster Linie für die Steuerung, welche die Fraktionen beim äußeren Ablauf der Parlamentsarbeit übernehmen. Die rein zahlenmäßige Reduzierung der Vorlagen auf ein vom Parlament zu bewältigendes Maß kann schon durch die Bindung des Initiativrechts an ein Quorum erreicht werden, ohne daß es auf die gleiche politische Einstellung der Antragsteller im übrigen ankäme. Konsequenterweise stehen die Befugnisse daher außer den Fraktionen auch fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zu, die sich ausschließlich zur Verfolgung dieses einen Vorhabens auch über Fraktionsgrenzen hinweg zusammenfinden können. Seine eigentliche Bedeutung entfaltet das Merkmal der politischen Homogenität für die Rolle der Fraktionen bei der in4 §§ 16 GO Brandenburg, 7 GO Bremen, 2 GO Hessen, 16 GO Nordrhein-Westfalen, 10 GO Saarland, 2 GO Sachsen-Anhalt. 5 Diese Begründung gab der damalige Vorsitzende des Geschäftsordnungsausschusses Ritzel (SPD) in der Debatte über den Erlaß der Geschäftsordnung am 6.12.1951, mit der das Zustimmungserfordemis erstmals eingeführt wurde. Vergl. Sten.Ber. l.WP./179. Sitzung/ 6.12.1951/7412. Bezeichnendetweise hielt man daher im 2. und 3. Bundestag die Zustimmungsbedürftigkeit für den Zusammenschluß der Abgeordneten aus CDU und CSU, bei denen politische Homogenität vorlag, auch gar nicht für gegeben.

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haltlichen Konzentration der Einzelmeinungen zu einer parlamentarischen Mehrheitsentscheidung. Dieser dynamische Meinungsbildungsprozeß, bei dem sich aus vielen differenzierten Einzelmeinungen durch Kompromißerzielung immer weniger Positionen herauskristallisieren, so daß es schließlich möglich ist, konstruktive Mehrheiten im Parlament zu bilden, kann nur in Gruppen geleistet werden, die erstens auf Dauer angelegt sind und zweitens ein Mindestmaß an inhaltlicher Übereinstimmung aufweisen. Nur unter diesen Voraussetzungen sind die einzelnen Abgeordneten bereit, von ihrer persönlichen Meinung in Detailfragen Abstriche zu machen, weil sie dadurch im grundsätzlichen eine gemeinsame Position um so durchsetzungsfähiger vertreten können6• Zugleich können sie erwarten, daß, gewissermaßen im Gegenzug, auch die übrigen Mitglieder sich bei anderer Gelegenheit kompromißbereit zeigen werden. Da das Funktionieren des parlamentarischen Systems auf diesen Mechanismen der Mehrheitsfindung basiert, ist es notwendig, bei den ständigen Vereinigungen von Abgeordneten auf deren gleiche politische Orientierung zu achten und heterogene Gruppen auf die punktuelle Wahrnehmung von Quorumsrechten zu verweisen7 • Die politische Homogenität ist daher auch bei den Gruppen im Sinne von § 10 Abs. 4 GOBT vorausgesetzt. Die Gruppe unterscheidet sich von der Fraktion nur dadurch, daß sie nicht die für eine Fraktionsbildung nötige Mitgliederzahl erreicht. Die Meinung, die das Zustimmungserfordernis für verfassungswidrig hält, geht davon aus, daß die Zusammenfassung zunächst heterogener Elemente gerade im Interesse der Funktionsfähigkeit des Parlaments erwünscht sein müsse, weil diese den Zwang zum Ausgleich innerhalb der Gruppe und damit einen Integrationseffekt mit sich bringe8 • Diese Auffassung übersieht aber, daß die Kompromißfindung im Einzelfall nur möglich ist, wenn ein gewisser Grundkonsens besteht. Liegen die Ausgangspositionen hingegen zu weit auseinander, kann die Einigung auf eine gemeinsam zu verfolgende Linie nicht gelingen. Des weiteren berücksichtigt sie auch nicht, daß die politische Homogenität der Fraktionen nicht nur für das Gesamtparlament essentiell ist, sondern 6 Kasten, Ausschußorganisation, S. 148. 7 Auch solche Gruppen können allerdings, wie das Beispiel der Überfraktionellen Initiative Parlamentsreform zeigt, auf eine gewisse Dauer angelegt sein. Kennzeichnend ist jedoch, daß sie sich nur zur gemeinsamen Verfolgung politischer Ziele in einem eng begrenzten Bereich zusammenfinden, nicht aber - wie die Fraktionen - zu einer alle Politikfelder umfassenden Koordinierung ihres Vorgehens. 8 K1effmann, Rechtsstellung. S. 161.

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auch für den einzelnen fraktionsangehörigen Abgeordneten. Nur dann kann die Fraktionsmitgliedschaft seine Eintlußmöglichkeiten potenzieren, weil er davon ausgehen kann, daß seine Beiträge zu fachpolitischen Fragen, für die er aufgrund der fraktionsinternen Arbeitsteilung nicht zuständig ist, von seinen Fraktionskollegen in ihre Ausschußarbeit einbezogen werden. Allein auf der Basis politischer Homogenität kann er andererseits auch das erforderliche Vertrauen entwickeln, damit er bei Materien, in denen er keine eigene Meinung zu bilden vermag, dem Vorschlag seiner sachverständigen Fraktionskollegen zu folgen bereit ist. All die Vorteile der Fraktionsmitgliedschaft, die mit dem Schlagwort von der Fraktion als Hr.imat des Abgeordneten gekennzeichnet werden können, hängen ab von der übereinstimmenden politischen Gesinnung ihrer Mitglieder. Da die politische Homogenität somit notwendig dafür ist, daß die Fraktionen ihre verfassungsmäßigen Aufgaben erfüllen können, wird man dieses Merkmal - ebenso wie den Umstand, daß es sich um auf Dauer angelegte Vereinigungen handeln muß zum verfassungsrechtlich vorgegebenen Begriff der Fraktion zählen können. Fraktionen sind demnach für die Dauer der Wahlperiode angelegte Vereinigungen von Abgeordneten gleicher politischer Überzeugung9•

3. Die Vermutung politischer Homogenität bei gleicher Parteizugehörigkeit Nun sind die Zugehörigkeit zur gleichen politischen Partei und die politische Übereinstimmung zwar nicht identisch, jedoch ist die Mitgliedschaft in der gleichen Partei äußeres Indiz für das Vorliegen politischer Homogenität. Bekennen sich Abgeordnete zu den Zielen einer Partei und sind sie von dieser für die Parlamentswahl aufgestellt worden, so kann vermutet werden, daß der notwendige Grundkonsens bei diesen Abgeordneten vorliegt. Infolgedessen braucht diese Frage nicht gesondert geprüft, sondern kann die Fraktionsbildung nach § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT ohne weiteres ermöglicht werden. Das Abstellen auf dieses formale Kriterium erlaubt es dem Bun9 Hauenschild, Wesen, S. 14; Linck, DÖV 1975, 689, 692; Röper, ZParl 1984, 7, 12; von Mangoldt/K1ein/Achterberg/Schulte, GG, Art. 38, Rdnr. 94; Achterberg, Parlamentsrecht, S. 279, spricht zutreffend von einem begrifflichen Erfordernis. Für die kommunale Ebene Zuleeg, HKWP 11, S. 145, 146 ff.; Bick, Ratsfraktion, S. 83. Aus diesem Grunde scheidet auch eine Mehrfachmitgliedschaft unbestrittenermaßen aus, selbst wenn dies nicht ausdrücklich angeordnet ist.

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destag daher, regelmäßig auf eine Bewertung der politischen Einstellung von Abgeordneten zu verzichten, die nicht nur schwierig, sondern im Hinblick auf die ausschließliche Gewissensunterworfenheit der Abgeordneten auch verfassungsrechtlich problematisch ist. Fehlen hingegen die Voraussetzungen für diese Vermutung, muß der Bundestag darüber befinden, ob der beabsichtigte Zusammenschluß zur Verfolgung gleichgerichteter politischer Ziele erfolgen soll oder nicht. Die Privilegierung der der gleichen Partei angehörenden Abgeordneten ist daher verfassungsrechtlich zulässig. Allerdings bedarf dieses Zwischenergebnis in einem wesentlichen Punkt einer Ergänzung. Ausreichend dafür, daß die politische Homogenität vermutet werden kann, ist nämlich schon, daß die betreffenden Abgeordneten von der Partei nominiert worden sind, auch wenn sie nicht Mitglied der Partei sind. Die Parteien sind rechtlich nicht gehindert, auch parteilose Kandidaten aufzustellen. Auch diese treten dann aber für die entsprechende Partei an, so daß ihnen gemeinsam mit den Abgeordneten, die auch Mitglied der Partei sind, die Fraktionsbildung ohne Zustimmung des Bundestages zu ermöglichen ist. § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT muß daher verfassungskonform so ausgelegt werden, daß das Merkmal "einer Partei angehören" materiell und nicht formell verstanden wird, so daß die Kandidatur für die betreffende Partei ausreicht lO • Diese Auffassung steht im übrigen mit der Praxis des Bundestages im Einklang, der zu Beginn der 10. und 11. Wahlperiode ohne formelle Zustimmung die Fraktionsmitgliedschaft von Abgeordneten der GRÜNEN tolerierte, die von der Partei aufgestellt worden waren, ohne Mitglieder zu seinII.

4. Das Zustimmungserfordernis als Vorkehrung zur Verhinderung mißbräuchlicher Fraktionszusammenschlüsse Wollen sich Abgeordnete zusammenschließen, die in diesem Sinne nicht der gleichen Partei angehören, muß das Parlament nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT darüber entscheiden, ob die nach der verfassungsrechtlichen Defini10 In diesem Sinne jetzt auch H. Meyer, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 4, Rdnr. 99. Ihm folgend Edinger, Wahl, S. 331 f. 11 Im 10. Bundestag gehörten die parteilosen Abgeordneten Frau Vollmer und Bastian der Fraktion DIE GRÜNEN an, im 11. Bundestag die Abgeordneten Frau Unruh und Mechtersheimer.

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tion der Fraktion als einer Gemeinschaft politisch Gleichgesinnter erforderliche Homogenität anzunehmen ist l2 • Auch hier gilt aber, daß die Entscheidung eines Abgeordneten, sich mit anderen zusammenzuschließen, wie die gesamte Mandatsausübung ausschließlich seinem Gewissen überantwortet ist und deshalb grundsätzlich keiner Bewertung durch das Parlament unterliegt. Für die Auslegung von § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT folgt daraus, daß der Bundestag keineswegs völlig frei ist, ob er einer Fraktionsbildung zustimmen will oder nicht. Es ist zunächst die Sache der Abgeordneten, selbst zu entscheiden, ob die Voraussetzungen für eine sinnvolle Zusammenarbeit als Fraktion vorliegen. Die Anforderungen, die von seiten des Parlaments an die politische Homogenität gestellt werden, dürfen daher nicht zu hoch geschraubt werden, vielmehr muß dieses immer dann zustimmen, wenn nicht offensichtlich völlig heterogene Kräfte eine gemeinsame Fraktion bilden wollenB. Die Möglichkeit einer Verweigerung der Zustimmung soll vor allem eine mißbräuchliche Vereinigung verhindern, die nur darauf gerichtet ist, ohne den Willen zu gemeinsamer politischer Arbeit die mit der Anerkennung als Fraktion verbundenen Vorteile auszunutzen l4 • Die Gefahr des Mißbrauchs besteht nicht nur wegen der geschäftsordnungsrechtlichen Befugnisse, die den Fraktionen zustehen, sondern auch und sogar in erster Linie wegen der beträchtlichen finanziellen Zuschüsse, die die Fraktionen aus öffentlichen Mitteln beziehen. Ein eindrucksvolles Beispiel für eine Fraktion, die vollkommen heterogen zusammengesetzt war, bildet die Gemeinschaft der Abgeordneten Dorls und Loritz in der Fraktion der WA V in der 1. Wahlperiode des Bundestages. Während Dorls Mitglied der später vom BVerfG verbotenen SRP war und offen für die Ziele der einstigen NSDAP eintrat, war Loritz ehemals bayerischer Staatsminister zur "Durchführung des Gesetzes zur Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus"15. Da die damals geltende vorläufige Geschäftsordnung des Bundestages die Fraktionen nur als Vereinigungen von 10 Abgeordneten definierte, wurde 12 Wie das BVerfG im POS-Urteil (BVerfGE 84, 304, 318) zutreffend ausführt, ist die Zustimmung für den Fall, daß die Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT nicht vorliegen, für den Fraktionsstatus konstitutiv. 13 Die Entscheidung des Bundestages steht also keineswegs in seinem Ermessen. Bei Vorliegen politischer Homogenität handelt es sich vielmehr um eine gebundene Entscheidung. Politische Heterogenität wird man annehmen können, wenn sich Abgeordnete aus einer konservativen Partei mit sozialistischen Abgeordneten zusammenschließen wollen. Der Bundestag hat bislang eine beantragte Zustimmung zur Fraktionsbildung noch nie abgelehnt, sofern die Fraktionsmindeststärke erreicht wurde. 14 Troßmann, Parlamentsrecht, 1977, § 10, Rdnr. 4; Ritzel/Bücker, HdbPP, § 10, Anm. I 1 e; Kasten, Ausschußorganisation, S. 142. 15 Kürschner, Statusrechte, S. 52.

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hiergegen nicht eingeschritten. Gerade diese Vorkommnisse aber veranlaßten den Bundestag dazu, das Kriterium der gleichen Parteizugehörigkeit zur Voraussetzung für die Fraktionsbildung zu machen und abweichende Zusammenschlüsse von der Zustimmung des Parlaments abhängig zu machen.

5. Die Konsequenzen für die Geschäftsordnungen der Länderparlamente Liegen politische Zweckbündnisse heterogener Kräfte einzig zur Erlangung des Fraktionsstatus außer halb des verfassungsrechtlichen Fraktionsbegriffs, so hat dies auch Auswirkungen auf die Geschäftsordnungen der Länderparlamente. Auch dort, wo sich die Geschäftsordnung damit begnügt, eine Fraktionsmindeststärke festzuschreiben, ist aus verfassungsrechtlichen Gründen zwar nicht vorausgesetzt, daß diese Abgeordneten der gleichen Partei angehören, wohl aber, daß sie eine politische homogene Gruppe bilden müssen, die sich zur Verfolgung gemeinschaftlicher Ziele zusammengeschlossen hat. Vollkommen zu Recht ist daher eine Entscheidung des VG Bremen auf Kritik gestoßen, die das Recht zur Bildung einer Gruppe 16 in der bremischen Bürgerschaft (Stadtbürgerschaft I7 ) auch dann bejaht hat, wenn sich zwei Abgeordnete zusammenschließen, die verschiedenen Parteien angehören, welche auch bei künftigen Wahlen miteinander konkurrieren werden l8 • Wie sich Äußerungen im Zusammenhang mit dieser Gruppenbildung entnehmen ließ, diente diese in erster Linie der Finanzierung des Wahlkampfs l9 • Entgegen der Ansicht des VG Bremen war die Bürgerschaft berechtigt, einer solchen Verbindung die Anerkennung zu versagen, obwohl die bremische Geschäftsordnung keine inhaltlichen Voraussetzun16 Nach § 7 Abs. 6 GO Bremen bilden weniger als 5 Abgeordnete (bei 5 Abgeordneten liegt die Fraktionsmindeststärke), die sich zusammenschließen, eine Gruppe. Für diese gelten die Bestimmungen über die Fraktionen sinngemäß, so daß man die Entscheidung des VG Bremen in gleicher Weise auf die Fraktionen beziehen kann. 17 Die bremische Bürgerschaft besteht aus 100 Abgeordneten, von denen 80 in Bremen und 20 in Bremerhaven gewählt werden. Die in Bremen gewählten Abgeordneten bilden zugleich die Stadtbürgerschaft, also die Kommunalvertretungskörperschaft der Stadt Bremen. Für diese gilt ebenfalls die Geschäftsordnung der bremischen Bürgerschaft. Die Tatsache, daß es sich um eine Kommunalvertretung handelte, erklärt auch die Zuständigkeit des VG Bremen. 18 VG Bremen, Beschluß vom 22.12.1982, Az.: 2 V 423/82, zitiert nach Röper, ZParI1984, 7. Es handelte sich um einen Abgeordneten der GRÜNEN und einen Liberalen Demokraten. 19 Vergl. das Zitat bei Röper, ZParI1984, 7 FN S.

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gen für Zusammenschlüsse von Abgeordneten aufstellt 20 • Das Erfordernis der gleichen politischen Richtung gehört zum Wesen derartiger Zusammenschlüsse und läßt sich daher unmittelbar der Verfassung entnehmen. Auch die Geschäftsordnungsregelungen der Länderparlamente, die die Fraktionsbildung auf Abgeordnete der gleichen Partei beschränken21 , ohne wie die Geschäftsordnung des Bundestages wenigstens die Möglichkeit vorzusehen, daß sich Abgeordnete über Parteigrenzen hinweg zusammenschließen können, haben vor der Verfassung keinen Bestand22 • Diese Bestimmungen halten etwaige parteilose Abgeordnete, deren Einzug ins Parlament nach geltendem Wahlrecht nicht ausgeschlossen ist und nach der Rechtsprechung des BVerfG auch nicht ausgeschlossen werden darf2 3, völlig von jeder Fraktionsmitgliedschaft fern. Eine derartige Benachteiligung ist mit der streng formal zu verstehenden Gleichheit der Abgeordneten unvereinbar. Der zwingende Grund, der eine Ungleichbehandlung von Abgeordneten bei der Bildung von Fraktionen rechtfertigt, besteht nur in der für eine effektive Parlamentsarbeit erforderlichen gleichen politischen Richtung der Abgeordneten, nicht aber in der gleichen Partcizugehörigkeit. Politische Homogenität kann aber auch zwischen einem Parteilosen und Mitgliedern einer bestimmten Partei sowie unter Umständen selbst zwischen den Abgeordneten unterschiedlicher Parteien gegeben sein. Die Gleichheit aller Abgeordneten läßt also eine gewisse Privilegierung für parteiangehörige Abgeordnete zu, steht aber einer Monopolisierung des Fraktionsbildungsrechts auf Abgeordnete der gleichen Partei entgegen. Zugleich würde damit das zum verfassungsrechtIichen Status zählende Recht auf Fraktionsbildung für bestimmte Abgeordnete durch die Geschäftsordnung nicht nur ausgestaltet und beschränkt, sondern vollkommen entzogen. Insofern liegt also auch eine Verletzung des freien Mandats vor. Selbst wenn man - entgegen der hier 20 Röper, ZParI1984, 7,13 f. Dem VG Bremen zustimmend dagegen Kassing, Recht, S. 52, mit dem Argument, die weitgehende Gestaltungsfreiheit des Parlaments schließe grundsätzlich den Venicht einer Regelung mit ein, durch die der Mißbrauch eines Gruppen- oder Fraktionszusammenschlusses verhindert werden sollte. 21 §§ 17 Abs. 1 GO Baden-Württemberg, 6 Abs. 1 GO Bayern, 2 Abs. 1 GO Niedersachsen, 8 Abs. 1 GO Rheinland-Pfalz, 12 Abs. 1 GO Sachsen, 22 Abs. 1 GO Schleswig-Holstein, 8 Abs. 1 GO Thüringen. 22 Bedenken gegen die Beschränkung der Fraktionsbildung auf Abgeordnete der gleichen Partei äußern auch schon Hauenschild, Wesen, S. 14 FN 2; Zuleeg, JuS 1978, 240, 242 f.; aA. Tschermak von Seysenegg, Fraktionen, S. 167 ff.; M. Schröder, Grundlagen, S. 314; Schönberger, Rechtsstellung, S. 38. Wegen der bundesverfassungsrechtlichen Vorgaben in Art. 28 Abs. 1 GG ist auch die entsprechende Bestimmung in Art. 58 LV-Entwurf Thüringen nicht ganz zweifelsfrei. 23 BVerfGE 41,399,417.

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vertretenen Ansicht - den Charakter der Fraktion als Vertretung der entsprechenden politischen Partei in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt und die Legitimation der Fraktion primär in Art. 21 GG sucht, läßt es sich nicht rechtfertigen, das Recht auf Fraktionsbildung nur parteiangehörigen Abgeordneten vorzubehalten, wirken die Parteien nach dem Wortlaut des Art. 21 GG doch nur an der Willensbildung des Volkes mit, haben hierbei also gerade keine Monopolstellung24 • Der Vorschlag schließlich, die betreffenden Geschäftsordnungsregeln müßten so interpretiert werden, daß es nur auf die gleiche politische Richtung ankomme 25, führt angesichts des eindeutigen Wortlauts, der auf die Parteizugehörigkeit abhebt, nicht weiter. Diese Parteizugehörigkeit kann zwar bei verfassungskonformer Auslegung als Kandidieren für eine Partei verstanden werden, den Bezug zur Partei völlig zu lösen und damit auch unabhängigen Bewerbern eine Fraktionsbildung zu ermöglichen, ist aber mit dem Worlaut der genannten Bestimmungen nicht mehr zu vereinbaren. Da diese Möglichkeit aber von Verfassungs wegen jedenfalls unter bestimmten Bedingungen gegeben sein muß, sind diese Geschäftsordnungsregelungen verfassungswidrig.

Ständige Rechtsprechung des BVerfG, vergl. nur BVerfGE 20, 56,114; 41, 399,417. So offenbar Röper, ZParl 1984, 7, 13: "Nach zutreffender Auslegung dieser Geschäftsordnungen kann daher einer Gruppe von Abgeordneten unterschiedlicher parteipolitischer Zusammensetzung, die sich unzweifelhaft zu gemeinsamer pOlitischer Arbeit zusammengeschlossen haben, die Anerkennung als Fraktion oder Grupppe nicht versagt werden." 24

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§ 13: Die Fraktionsmindeststärke

1. Die Mindeststärke als durchgängige Voraussetzung jeder Fraktionsbildung Die zweite Anforderung, die an die Bildung einer Fraktion regelmäßig gestellt wird, ist eine bestimmte Mindestzahl von Abgeordneten, die sich zusammenschließen wollen. Dabei ist unstreitig, daß diese Mindeststärke nicht nur einmalig bei der Bildung der Fraktion erreicht werden muß, sondern während der ganzen Wahlperiode nicht unterschritten werden darf, wenn die Fraktion nicht ihren Status verlieren SOlll. In der Geschichte des Bundestages ist es vorgekommen, daß durch Fraktionsaustritte die erforderliche Stärke verloren ging, so daß die betreffende Fraktion aufhörte zu bestehen2 •

a) Historische Betrachtung Die konkret geforderte Zahl von Abgeordneten variiert im Lauf der Geschichte wie auch im Vergleich der einzelnen Parlamente in Bund und Ländern. Bereits seit den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts bestand für die Beteiligung einer Fraktion am Seniorenkonvent des Reichstages die ungeschriebene Voraussetzung, daß diese mindestens 15 Mitglieder (Vollmitglieder oder Hospitanten) aufweisen mußte 3 • Es war dies die Zahl von Abgeordneten, die nach der Geschäftsordnung zur Unterstützung eines selbständigen Initiativantrages benötigt wurde4 • Diese Praxis wurde durch einen Beschluß vom 8. 5. 1912 bestätigt, wonach nur eine Mitgliedervereinigung von mindestens 15 Mitgliedern als Fraktion anzuerkennen sei5 . Erstmals wurde hiermit offiziell eine Fraktionsmindeststärke festgelegt, die in § 7 1 Niedersächsischer Staatsgerichtshof, OVGE Münster/Lüneburg 17, 508, 510; VGH Baden-Württemberg, VBIBW 1989, 178, 180; Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 38; Zuleeg, HKWP 11, S. 145, 152 f. 2 So etwa durch den Austritt von 9 Abgeordneten aus der Fraktion der Deutschen Partei am 1.7.1960 (vergl. Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 254). 3 Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 24. 4 § 22 GO des Reichstages: "Alle von Mitgliedern des Reichstages ausgehenden Anträge müssen von mindestens 15 Mitgliedern unterzeichnet und mit der Eingangsformel "Der Reichstag wolle beschließen" versehen sein." 5 RT Sten.Ber., 13. Wahlperiode, 1. Session, 56. Sitzung, 8.5.1912, S. 1750 f.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Abs. 1 der Geschäftsordnung von 1922 auch für den Reichstag der Weimarer Republik beibehalten wurde. Die vorläufige Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages von 1949 übernahm die alte Reichstagsgeschäftsordnung, traf jedoch gerade in der Frage der Fraktionsmindeststärke eine abweichende Regelung. Fraktionen wurden als Vereinigungen von mindestens 10 Abgeordneten definiert (§ 7 Abs. 1 GO 1949). Man kam damit der Zentrumspartei entgegen, die im 1. Bundestag gerade mit 10 Abgeordneten vertreten war6 , Die endgültige Geschäftsordnung des Bundestages vom 6. 12. 1951 statuierte demgegenüber in § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT, daß die zur Bildung einer Fraktion notwendige Mitgliederzahl durch Beschluß des Bundestages festgestellt wird, wobei § 10 Abs. 1 Satz 3 GOBT 1951 auch erstmals normierte, daß Hospitanten dabei nicht mitzählen. Bis 1969 wurde auf dieser Grundlage jeweils zu Beginn der Wahlperiode eine Mindeststärke von 15 Abgeordneten festgelegt? Der erste dieser Beschlüsse vom 16. 1. 1952 hatte zur Folge, daß Bayernpartei, Zentrum und KPD ihren Fraktionsstatus verloren 8 • 1969 wurde schließlich die heute gültige Fassung geschaffen, nach der zur Bildung einer Fraktion fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages benötigt werden. Mit dieser Änderung sollte, wie sich aus den Materialien erkennen läßt, an die wahlrechtliche Sperrklausel von 5 % angeknüpft werden 9 , Bei einer derzeitigen Mitgliederzahl von 662 Abgeordneten bedeutet dies eine absolute Zahl von 34 Abgeordneten.

b) Der Vergleich mit den Regelungen in den Länderparlamenten Bezieht man die Regelungen in den Landtagen in die Betrachtung ein, so lassen sich drei unterschiedliche Systeme für die Ermittlung der Fraktions6 Jekewitz, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 37, Rdnr. 29. 7 Sten.Ber. 1. WP./l85. Sitzung/16.1.1952/7891.; 2. WP./6. Sitzung/ll.11.1953/111; 3. WP./6. Sitzung/12.12.1957/178; 4. WP./3. Sitzung/8.11.l961/12; 5. WP./3. Sitzung/26.l0.l965/ 13. 8 Zentrum und Bayernpartei schlossen sich nach Verabschiedung der neuen Geschäftsordnung (6. Dezember 1951) am 14. Dezember 1951 mit insgesamt 22 Abgeordneten zur Fraktion Föderalistische Union zusammen. Die KPD hingegen, zunächst mit 15 Mitgliedern im Bundestag vertreten, zählte seit Mai 1950 nur noch 14 Mitglieder. Die briefliche Mandatsniederlegung des Abgeordneten Kurt Müller wurde zwar vom Bundestag nicht anerkannt, doch wurde Müller seit der Mitteilung über den Verlust seiner sämtlichen Parteiämter und über seine Verhaftung in Ost-Berlin nicht mehr zur Fraktion der KPD gezählt, sondern als fraktionsloser Abgeordneter geführt (Vergl. dazu Schindler, Datenhandbuch Band 111, S. 252 C.). 9 BT-Drs. V/4008, S.2.

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mindeststärke feststellen. Ebenso wie im Bundestag wird nur noch im Abgeordnetenhaus von Berlin und in den Landtagen von Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt die Fraktionsmindeststärke als Prozentsatz von 5 vom Hundert der Mitglieder des Parlaments bestimmt lO • Die Mehrzahl der Parlamente hat sich demgegenüber - wie der Bundestag vor 1969 - für die Normierung einer absoluten Zahl der Abgeordneten entschieden. Überwiegend wird diese Festlegung dabei unmittelbar in der Geschäftsordnung getroffen, so in Baden-Württemberg (6), Bayern (5), Brandenburg (3), Bremen (5), Mecklenburg-Vorpommern (4), Sachsen (8), Schleswig-Holstein (4) und Thüringen (5)11. Die Parlamente von Hamburg (6), Hessen (6) und dem Saarland (3) fassen hingegen jeweils zu Beginn der Wahlperiode einen gesonderten BeschlußI2. Besondere Beachtung verdient schließlich die Rechtslage in Niedersachsen und Rheinland-Pfalz. Dort ist es den Abgeordneten einer Partei stets möglich, eine Fraktion zu bilden, sofern diese nur die Sperrklausel des Landeswahlgesetzes überwunden hat 13 . Auf den ersten Blick sieht dies so aus, als verzichteten diese Geschäftsordnungen darauf, eine zahlenmäßige Mindeststärke zu flxieren. Wie das Urteil des Niedersächsischen Staatsgerichtshofes zur Fraktion der Deutschen Partei im niedersächsischen Landtag l4 zeigt, ist dies aber keineswegs der Fall. Bei der Landtagswahl von 1959 war die Deutsche Partei mit 20 Abgeordneten in das Parlament eingezogen, diese hatten dort eine Fraktion gebildet. Im Frühjahr 1%2 traten zahlreiche Abgeordnete der Deutschen Partei zur CDU-Fraktion über, so daß nur 2 Abgeordnete in der Fraktion verblieben. Die Klage vor dem Staatsgerichtshof richtete sich nun der Sache nach darauf, daß die beiden Abgeordneten vom Gesamtparlament weiterhin als Fraktion anerkannt werden sollten. Der Staatsgerichtshof hat dies mit der 10 §§ 7 Abs. 1 GO Berlin, 16 Abs. 1 Satz 1 GO Nordrhein-Westfalen. Sachsen-Anhalt hat die Fraktionsmindeststärke sogar in Art. 47 Abs. 1 LV geregelt. 11 §§ 17 Abs. 1 GO Baden-Württemberg, 6 Abs. 1 GO Bayern, 16 Abs. 1 GO Brandenburg, 7 Abs. 1 GO Bremen, 17 Abs. 1 GO Mecklenburg-Vorpommern (auch hier aber ist die Mindeststärke schon in Art. 25 Abs. 1 LV festgelegt), 12 Abs. 1 GO Sachsen, 2 Abs. 1 GO Sachsen-Anhalt, 22 Abs. 1 GO Schleswig-Holstein, 8 Abs. 1 GO Thüringen. 12 Hamburg Drs. 14/1; Hessen Drs. 13/2; Saarland Drs. 10/2. 13 So ausdrücklich § 2 Abs. 1 GO Niedersachsen: "Fraktionen sind Vereinigungen, zu denen sich Abgeordnete zusammenschließen können, die der gleichen Partei angehören, falls diese Partei mindestens den nach dem Landeswahlgesetz erforderlichen Anteil an der Gesamtstimmenzahl erreicht hat." § 8 Abs. 1 GO Rheinland-Pfalz bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Sperrklausel des Wahlrechts, da die Fraktionsbildung aber auf Abgeordnete derselben in den Landtag gewählten politischen Partei beschränkt und die 5 %-K1ausel gilt, ergibt sich inhaltlich kein Unterschied. 14 OVGE Münster/Lüneburg 17, 508 Cf.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Begründung abgelehnt, daß nach geltendem Wahlrecht eine Partei, die die 5 %-Klausel überwindet, mit mindestens 8 Abgeordneten in den niedersächsischen Landtag einziehen würde. Die Geschäftsordung bringe auf diese Weise zum Ausdruck, daß der Landtag angesichts der Aufgaben, die eine Fraktion zu erfüllen habe, eine gewisse Mindeststärke als erforderlich ansehe, der eine Vereinigung von nur 2 Abgeordneten nicht entspreche 15. Diesem Urteil kann im wesentlichen zugestimmt werden l6 • Soll das Parlament dadurch funktionsfähig gehalten werden, daß durch Bindung von Befugnissen an die Fraktion eine zahlenmäßige Verminderung ihrer Inanspruchnahme eintreten soll, so ist diesem Ziel nur völlig unzureichend gedient, wenn diese Rechte, statt von einem einzelnen nunmehr von zwei Abgeordneten als Fraktion geltend gemacht werden können, nur weil beide einer Partei angehören, die die Sperrklausel bei der letzten Wahl überschritten hat. Vielmehr müssen die einschlägigen Geschäftsordnungsbestimmungen bei einer Auslegung, die sich an der Bedeutung der Fraktionen für die Arbeitsfähigkeit des Gesamtparlaments orientiert, so verstanden werden, daß sich auch tatsächlich mindestens so viele Abgeordnete zusammenschließen müssen, wie es nach dem jeweiligen Modus der Sitzverteilung einem Stimmenanteil von 5 % entspricht. Dies ergibt für Niedersachsen 8 und für Rheinland-Pfalz 5 Abgeordnete. Wird diese Stärke nicht erreicht, weil sich Abgeordnete von Anfang an unter Berufung auf ihr freies Mandat einer Einbindung in die Fraktion entziehen oder im Laufe der Wahlperiode durch Aus- oder Übertritt bzw. Ausschluß die Fraktion verlassen, ist der Fraktionsstatus auch in diesen Parlamenten nicht gegeben. Da die Monopolisierung des Rechts auf Fraktionsbildung bei Abgeordneten der gleichen Partei verfassungswidrig ist, ist mit dieser mittelbaren Bestimmung einer Mindeststärke auch für diese Volksvertretungen der Weg gewiesen, unter welchen Voraussetzungen Abgeordnete, die nicht der gleichen Partei angehören (gegebenfalls unter Vorbehalt einer Zustimmung des Parlaments, um die politische Homogenität sicherzustellen) der Zusammenschluß als Fraktion zu ermöglichen ist. Festzuhalten bleibt jedenfalls, daß nach geltendem Par-

15 OVGE Münster/Lüneburg 17, 508, 511. 16 Zweifelhaft ist nur, ob der Staatsgerichtshof die Anträge zu Recht als unzulässig hat abweisen können, weil die beiden Abgeordneten keine Fraktion bildeten und daher nicht parteifähig seien, oder ob er nicht vielmehr bei einer Verfassungsstreitigkeit, die im Kern gerade darum ging, ob die beiden Abgeordneten noch eine Fraktion darstellten, von der Parteifähigkeit hätte ausgehen und die entscheidenden Fragen erst in der Begründetheit hätte klären müssen.

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larnentsrecht das Erreichen einer gewissen Mindeststärke durchgängig zur Bedingung für die Bildung einer Fraktion erhoben wird.

2. Die Mindeststärke als notwendige Voraussetzung jeder Fraktionsbildung Die Festlegung einer Fraktionsmindeststärke ist aber nicht nur eine übliche, sondern auch eine notwendige und damit verfassungsrechtlich grundsätzlich unbedenkliche Voraussetzung für die Bildung einer Fraktion, weil diese nur mit einem gewissen Mitgliederbestand ihre verfassungsmäßigen Funktionen erfüllen können. Im Hinblick auf die Aufgaben, die die Fraktionen im Interesse des Gesamtparlaments wahrnehmen, ergibt sich dies schon daraus, daß die Bindung zahlreicher Befugnisse an das Fraktionsquorum gerade erreichen soll, daß von diesen Rechten in deutlich vermindertem Umfang Gebrauch gemacht wird l7 • Nur wenn das Quorum hoch genug angesetzt wird, kann dies zu einer spürbaren Entlastung des Parlaments führen. Eine gewisse Größe ist aber auch im Interesse der einzelnen Abgeordneten unabdingbar. Die Fraktionsmitgliedschaft soll diese in die Lage versetzen, ihrer Verantwortung für die Gesamtheit der parlamentarischen Tätigkeit in einem arbeitsteilig organisierten Parlament dadurch gerecht zu werden, daß sie einerseits mittelbar über ihre Fraktionskollegen auch auf die Ausschüsse Einfluß nehmen, in denen sie nicht selbst sitzen, und zum anderen von ihren Kollegen Empfehlungen für ihre Abstimmung im Plenum erhalten. Dieses Zusammenspiel kann aber nur funktionieren, wenn die Fraktion eine ausreichende Zahl von Mitgliedern hat, so daß sie alle Politikfelder mit darauf spezialisierten Abgeordneten abdecken kann. Dem Grunde nach ist eine Mindeststärkenregelung daher unbedenklich. Es liegt ein zwingen17 Die beiden regelmäßigen Anforderungen, die das Parlament an die Bildung von Fraktionen stellt, korrespondieren also den zwei wesentlichen Aufgabenfeldem der Fraktionen für das Gesamtparlament: die Fraktionsmindeststärke der Steuerung des äußeren Ablaufs der Parlamentsarbeit, die politische Homogenität ihrer Mitglieder der Förderung inhaltlicher Qualität der Parlamentsarbeit. Dabei ist allerdings zu beachten, daß auch für die Aufgabe der Fraktionen, eine Integration der Abgeordneten in dem Sinne herbeizuführen, daß sich das Parlament inhaltlich nur mit einer begrenzten Anzahl von Auffassungen und nicht mit einer Vielzahl von Einzelmeinungen auseinandersetzen muß, eine gewisse Mindeststärke voraussetzt.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

der Grund vor, der die Ungleichbehandlung der Abgeordneten rechtfertigt welche darin liegt, daß Abgeordnete, die die Mindeststärke nicht erreichen sich nicht zu einer Fraktion vereinigen können. Damit ist zugleich dargetan daß das freie Mandat, zu dem auch das Recht auf Fraktionsbildung zählt grundsätzlich durch das Erfordernis einer Mindeststärke eingeschränkt wer· den kann l8 •

3. Die praktische Relevanz der Problematik Vergleicht man die in den Parlamenten von Bund und Ländern bestehenden Fraktionsmindeststärken, so schwanken sie bei prozentualer Betrachtung, die wegen der unterschiedlichen Größe der Parlamente allein aussagekräftig ist, alle um einen Wert von 5 % der Mitglieder des Parlaments. Genau auf dieser Marke liegt die Fraktionsmindeststärke im Bund, in Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, RheinlandPfalz und Sachsen. In Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, SachsenAnhalt und Schleswig-Holstein ist der Wert unter 5 % (Baden-Württemberg 4,1 %, Bayern 2,45 %; Brandenburg 3,41 %, Sachsen-Anhalt 4,72 %, Schleswig-Holstein 4,49 %). Lediglich Hessen (5,45 %), Mecklenburg-Vorpommern (6,06 %), das Saarland (5,88 %) und Thüringen (5,62 %) überschreiten diese Marke. Da für alle Parlamentswahlen die 5 %ige Sperrklausel gilt, alle Parteien, die überhaupt ins Parlament gelangen, also mit wenigstens 5 % der Abgeordneten dort vertreten sind, und sich in aller Regel die Abgeordneten einer Partei zur Fraktion zusammenschließen, stellt sich die Frage, ob die Bestimmung der Fraktionsmindeststärke überhaupt eine praktisch relevante Einschränkung des Koalitionsrechts der Abgeordneten darstellt. Bei genauerer Untersuchung erkennt man jedoch, daß die Frage der zulässigen Fraktionsmindeststärke keineswegs nur in den Ländern, wo das Quorum über 5 % liegt, aktuell werden kann.

18 Immerhin ist aber daran festzuhalten, daß es sich überhaupt um einen staatlichen Eingriff in die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit handelt und nicht nur darum, wie Tschermak von Seysenegg, Fraktionen, S. 165, meint, durch geschäftsordnungsmäßige Regelungen die konkreten Voraussetzungen zu benennen, unter denen die Arbeit der Fraktionen sinnvoll erscheint.

§ 13: Die Fraktionsmindeststärke

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Auf Bundesebene wurde dies in der ersten gesamtdeutschen Wahl deutlich. Da sich die Sperrklausel hier auf zwei getrennte Wahlgebiete bezog, gelangte die PDS/LL mit 17 Abgeordneten und das Bündnis 9O/GRÜNE mit 8 Abgeordneten in den Bundestag. Damit erreichten sie nicht die bei 34 Abgeordneten liegende Fraktionsmindeststärke. Sie wurden vom Bundestag lediglich als Gruppen nach § 10 Abs. 4 GOBT anerkannt l9 . Die Frage kann aber auch außerhalb der Besonderheiten der ersten gesamtdeutschen Wahl bedeutsam werden. So nimmt eine Partei nach § 6 Abs. 6 Satz 1, 2. Alternative BWG auch dann am Verhältnisausgleich und damit an der Sitzverteilung teil, wenn sie in drei Wahlkreisen ein Direktmandat errungen hat. Es ist daher möglich, daß eine Partei mit weniger als 5 vom Hundert der Mitglieder im Bundestag vertreten ist 20 . Ferner können Überhangmandate bewirken, daß eine Partei die 5 %-Hürde des Wahlrechts überwindet, jedoch das Quorum für die Fraktionsbildung im Bundestag nicht erreicht. In den Bundesländern Bayern und Bremen besteht ferner wegen Besonderheiten bei der Sitzverteilung die Möglichkeit, daß eine Partei landesweit die Sperrklausel überwindet, aber gleichwohl weniger als 5 % der Abgeordneten stellt. Dies resultiert daraus, daß der Verhältnisausgleich getrennt nach Wahlbezirken innerhalb des Wahlgebietes vorgenommen wird (in Bayern in den 7 Regierungsbezirken, im Land Bremen in den Wahlbezirken Bremen und Bremerhaven). In Bayern führte dies bei der Landtagswahl 1974 dazu, daß die FDP mit einem landesweiten Stimmenanteil von 5,2 % lediglich auf 8 Mandate kam (Fraktionsmindeststärke damals 10)21, in Bre19 BT-Drs. 12/149, 12/150. Die Gruppe der PDS/LL klagte daraufhin vor dem BVerfG auf ihre Anerkennung als Fraktion. Das BVerfG lehnte dies jedoch ab (BVerfGE 84,304 ff.). 20 In der Praxis hat die Grundmandatsklausel nur für die Deutsche Partei bei der Wahl zum 3. Bundestag eine Rolle gespielt, als diese aufgrund eines Wahlabkommens mit der CDU bei einem Stimmenanteil von 3,4 % mit 17 von 519 Abgeordneten (3,27 % der Mitglieder des Bundestages) im Parlament vertreten war (vergl. die Übersicht bei Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 48). Damals galt allerdings noch eine Mindeststärke von 15 Abgeordneten, so daß das Problem nicht auftrat. 21 Dies führte zu der Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofes, VerfGH 29, 62 ff. Im Jahre 1992 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof den getrennten Verhältnisausgleich in den sieben Wahlbezirken zwar grundsätzlich für verfassungsrechtlich zulässig erklärt. Die Verteilungsregelung müsse sich aber unter dem Gebot des möglichst gleichen Erfolgswerts jeder Wählerstimme, wie er bei dem von der Bayerischen Verfassung vorgeschriebenen verbesserten Verhältniswahlsystem zu beachten sei, an dem Ziel orientieren, eine Zusammensetzung des Landtags entsprechend dem landesweiten Proporz herbeizuführen. Die einschlägige Regelung des Wahlgesetzes wurde als verfassungswidrig angesehen, weil die darin vorgesehene jeweils getrennte Anwendung des d'Hondt'schen Höchstzahlverfahrens bei Verteilung der Sitzkontingente in den einzelnen Wahlkreisen wegen der Versiebenfachung der mit diesem Verfahren verbundenen Benachteiligungen der kleinen Parteien landesweit zu einem Er15 Demmler

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

men erreichten DIE GRÜNEN bei der Bürgerschaftswahl 19795,1 % der Stimmen, jedoch nur 4 Mandate (Fraktionsmindeststärke 5). Weitaus näherliegend als die Situation, daß eine politische Richtung von Anfang an nicht mit 5 % der Abgeordneten im Parlament vertreten ist, ist die Konstellation, daß sie durch Spaltung oder Austritte einzelner Abgeordneter unter die Mindeststärke absinkt. Wären etwa im 10. Bundestag nur 2 Abgeordnete der Fraktion DIE GRÜNEN aus ihrer Fraktion ausgeschieden, so hätte diese die Fraktionseigenschaft verloren.

4. Die Festlegung der Mindeststärke als Gegenstand der Geschäftsordnungsautonomie a) Der Gestaltungsspielraum des Parlaments Die konkrete Festlegung eines bestimmten Quorums ist Sache des Parlaments, das sich dabei im Rahmen seiner von der Verfassung anerkannten Geschäftsordnungsautonomie bewegt. Infolgedessen hat das Parlament hier einen weiten Gestaltungsspielraum 22 • Es obliegt zunächst seiner eigenen Einschätzung, wie hoch die Zahl gewählt sein muß, um die gewünschten Folgen für die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu erzielen. Dabei ist das grundsätzliche Recht jedes Abgeordneten auf Koalition abzuwägen gegenüber den Zwecken, die mit der Bindung von Rechten an das Quorum verfolgt werden. Die Entscheidung ist (bei absoluten Zahlen) insbesondere abhängig von der Größe des Gesamtparlaments und von der Art der Befugnisse, die den Fraktionen offenstehen sollen, wobei auch bisherige Erfahrungen mit Fraktionsquoren für die Funktionsfähigkeit des Parlaments Berücksichtigung finden können. Dabei ist es nicht zu beanstanden, daß sich der Bundestag hinsichtlich der Befugnisse, deren Ausübung er kollektiv ausgestaltet, dafür entschieden hat, regelmäßig ein einheitliches Quorum, nämlich die Fraktionsmindeststärke, gebnis führen könne, das mit dem Grundrecht der Wahlrechtsgleichheit nicht vereinbar sei (Bayerischer Verfassungsgerichtshof,VerfGH 45, 54, 63 ff.). Die Fraktionsmindeststärke war allerdings schon zuvor auf 5 Mitglieder gesenkt worden. 22 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 88; BVerwG NJW 1980, 304; OVG Rheinland-Pfalz, DVBl. 1988, 798; VGH Baden-Württemberg, VBLBW 1989, 178; zuletzt BVerfGE 84, 304, 322. Kritisch hierzu Böhm, ZParI1992, 231, 233 f.

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zu wählen 23 • Grundsätzlich wäre es auch vorstellbar, bei jeder einzelnen Befugnis eine gesonderte Abwägung durchzuführen und danach ein jeweils angemessenes Quorum festsetzen. Möglicherweise würde der Bundestag bei einer solchen Vorgehensweise zum Ergebnis gelangen, daß bisweilen auch die Bindung an ein unterhalb der Fraktionsstärke liegendes Quorum ausreichen würde24 • Jedoch darf der Vorteil nicht unberücksichtigt gelassen werden, der sich für die Arbeitsfähigkeit des Bundestages gerade aus der Klarheit und Übersichtlichkeit ergibt, die aus der Wahl eines einheitlichen Quorums resultiert. Müßte sich das Parlament mit einer Vielzahl unterschiedlicher Quoren auseinandersetzen, würde schon das den Ablauf der Tätigkeit nicht unerheblich behindern. Für die konkrete Stärke bedeutet dies, daß sie hoch genug sein muß, um auch noch bei den Rechten, die, wie die Gesetzesinitiative, ein sehr aufwendiges Verfahren in Gang setzen, den gewünschten Effekt zu erreichen. Andererseits muß sich das Parlament bewußt sein, daß je mehr Befugnisse an das Fraktionsquorum gebunden werden, um so dringlicher auch das Interesse des einzelnen Abgeordneten ist, mit anderen zusammen eine Fraktion bilden zu können 25 . Angesichts dieser Sachlage ist es nicht möglich, dem Parlament eine bestimmte Höhe für die Fraktionsmindeststärke vorzuschreiben26 •

23 Ausnahmen bestehen etwa für das Wahlvorschlagsrecht zu den Wahlgängen gemäß Art. 63 Abs. 3 und 4 GG für die Wahl des Bundeskanzlers und für den Antrag gemäß Art. 67 Abs. 1 GG (§ 4 GOBT und § 97 Abs. 1 GOBT: ein Viertel der Mitglieder des Bundestages). Teilweise sind der Geschäftsordnung auch Quoren vom Grundgesetz vorgegeben: Nach Art. 39 Abs. 3 GG kann ein Drittel der Mitglieder des Bundestages dessen Einberufung verlangen (§ 21 Abs. 2 GOBT). 24 So wurden bei der Geschäftsordnungsreform 1980 für eine Reihe von Befugnissen, die bis dahin an ein Quorum von 5 Abgeordneten gebunden waren, die Fraktionsmindeststärke als Voraussetzung eingeführt: die Bezweiflung der Beschlußfähigkeit (§ 45 Abs. 2 GOBT 1980 in Abänderung von § 49 Abs. 2 GOBT a.F.), Widerspruch gegen die Abstimmung über nicht verteilte Anträge (§ 78 Abs. 2 GOBT 1980 in Abänderung von § 99 Abs. 2 GOBT a.F.), Widerspruch gegen die Erweiterung der festgestellten Tagesordnung (§ 20 Abs. 3 GOBT 1980 in Abänderung von § 24 Abs. 3 GOBT a.F.). Andererseits wurde im Fall der Großen Anfrage das Quorum von bisher 30 Abgeordneten (§ 105 Abs. 2 GOBT a.F.) auf die Fraktionsmindeststärke (vor der Vereinigung 26 Abgeordnete) gesenkt. Vergl. im übrigen Roll, NJW 1981, 23 ff. 25 Lisken, ZParl 1978, 320, 321. 26 Wie Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 212, zutreffend bemerkt, stellt es ein aussichtsloses Unterfangen dar, aus der Verfassung exakte Quorumshöhen ableiten zu wollen.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

b) Die Ableitung einer Obergrenze aus Art. 53 a GG? Gleichwohl ist in der Literatur teilweise versucht worden, für den Bundestag wenigstens eine feste Obergrenze für die Mindeststärke einer Fraktion aus der Verfassung zu konstruieren. Ansatzpunkt hierfür ist die Erwähnung der Fraktionen in Art. 53 a Abs. 1 GG. Danach besteht der Gemeinsame Ausschuß zu zwei Dritteln aus Abgeordneten des Bundestages, zu einem Drittel aus Mitgliedern des Bundesrates. Die Abgeordneten werden vom Bundestag entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen bestimmt. Da jedes Land durch ein Mitglied des Bundesrates vertreten ist, ergab sich vor der Vereinigung, daß der Bundestag 22 Abgeordnete nach dem Stärkeverhältnis der Fraktionen zu bestimmen hatte. Daraus wurde gefolgert, daß zumindest jede Gruppe, die über 1/22 der Sitze des Bundestages verfügte, als Fraktion zu gelten habe. Ansonsten könnte man durch Heraufsetzen der Mindeststärke politisch relevante Gruppierungen vom Gemeinsamen Ausschuß fernhalten und die spiegelbildliche Repräsentation des Plenums im Gemeinsamen Ausschuß vereiteln 27 . Folgt man dieser Ansicht, so gelangt man, ausgehend von der gesetzlichen Zahl der Mitglieder des Bundestages vor der Vereinigung (518 Abgeordnete), zu einer Höchstgrenze von 24 Abgeordneten. Die betreffenden Autoren hätten die Mindeststärke von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages (damals 26 Abgeordnete), die etwa ein Jahr nach Inkrafttreten des Art. 53 a GG die bis dahin bestehende von 15 Abgeordneten drastisch erhöhte, daher konsequenterweise für verfassungswidrig halten müssen. Soweit ersichtlich, wurde diese Folgerung aber nur von Abmeier gezogen 28 . Die übrigen Autoren, die einen Zusammenhang zwischen Art. 53 a GG und der Fraktionsmindeststärke herstellten, gingen dagegen davon aus, daß das geltende Quorum von 5 % gleichwohl noch mit der Verfassung vereinbar ist, ohne dies jedoch näher zu begründen29 . 27 Herzog, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 53 a, Rdnr. 14 FN 2; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 217. 28 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 218. 29 Emmelius, Der Gemeinsame Ausschuß, in: Sterze I (Hrsg.), Kritik der Notstandsgesetze, 1968, S. 118, 134, ging - unzutreffenderweise - davon aus, daß Berlin im Gemeinsamen Ausschuß nicht vertreten sei und kam daher zu einer zulässigen H&hstgrenze von 1/20. Lenz, Notstandsverfassung, 1971, Art. 53 a, Rdnr. 6, hielt es zwar für unzulässig, eine Partei, die mehr als 1/22 der Mitglieder des Bundestages in sich vereinigt, von der Mitgliedschaft im Gemeinsamen Ausschuß auszuschließen, führte aber zugleich aus, deshalb sei die Regelung mit 5 % der Abgeordneten die Obergrenze des verfassungsrechtlich Zulässigen. Auch Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 53 a, Rdnr. 14 FN 2, hält § 10 Abs. 1 GOBT offenbar für verfas-

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Tatsächlich hält diese Argumentation, so bestechend sie auf den ersten Blick erscheint, einer genaueren Betrachtung nicht stand. Zum einen sind der Entstehungsgeschichte der Vorschrift keine Anhaltspunke dafür zu entnehmen, daß die Verfassung nunmehr eine bindende Vorgabe für die höchstens zulässige Mindeststärke enthalten sollte30. Zu beachten ist, daß hier die Besetzung eines selbständigen Verfassungsorgans, des Gemeinsamen Ausschusses, geregelt wurde. Es ist aber sehr zweifelhaft, ob man einer solchen Bestimmung Bindungswirkung für die innere Ordnung eines anderen Verfassungsorgans, des Bundestages, beimessen kann. Sehr viel näher liegt es, den Geltungsanspruch des hier ermittelten Quorums ausschließlich auf die Zusammensetzung dieses besonderen Organs zu begrenzen, dem Parlament für die Bemessung der Fraktionsmindeststärke hingegen genügend Freiraum zu lassen. Eine spiegelbildliche Repräsentation des Gesamtparlaments auf der Bundestagsbank im Gemeinsamen Ausschuß, die auch nach der hier vertretenen Ansicht als verfassungsrechtIich geboten angesehen wird, kann aber schon dadurch erreicht werden, daß man politisch homogenen Gruppen unterhalb der geschäftsordnungsrechtIichen Fraktionsgrenze den Zugang eröffnet, sofern sie nur so stark sind, daß rein rechnerisch ein Sitz auf sie entfiele. Die von Art. 53 a GG vorgeschriebene Bestimmung der Abgeordneten "entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen" muß ja nicht notwendigerweise so interpretiert werden, daß nur die fraktionsangehörigen Abgeordneten berücksichtigt werden. Die Verfassung will hier sicherstellen, daß die Bundestagsbank des Gemeinsamen Ausschusses proportional zu den Stärkeverhältnissen im Gesamtparlament gebildet wird. Ist aber die Anzahl der Fraktionslosen im Bundestag so hoch, daß jeder 22. Abgeordnete (bzw. nach der Vereinigung jeder 32. Abgeordnete) fraktionslos ist, so steht Art. sungsgemäß, da er sich damit beruhigt, eine Abgeordnetengruppe, die nicht Fraktionsstärke erreiche, dürfte regelmäßig (!) schon nach dem Verteilungsverfahren ausfallen. 30 So richtig Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 53 a, Rdnr. 14 FN 2, für den von ihm weiter erwogenen Gedanken, ob der Verfassunggeber nicht möglicherweise die im Jahre 1968 geltende Mindeststärke von 15 Abgeordneten zementiert habe, so daß jede Erhöhung unzulässig sei. Er übersieht jedoch, daß sich auch keinerlei Anhaltspunkt für die von ihm vertretene These in der Entstehungsgeschichte findet. Stern, Staatsrecht Band 11, § 28 11 3 b, führt aus, der Verfassung schwebe in Art. 53 a GG das Bild der Fraktion vor, wie es sich bis 1968 auf Grund des Parlamentsbetriebes und der Geschäftsordnung entwickelt habe. Er müßte daher an sich auch zu dem Ergebnis gelangen, die Verfassung habe eine Fraktion mit einer Mindeststärke von 15 Abgeordneten festgelegt. Er fährt jedoch fort, es sei zweifelhaft, ob die Fraktionsmindeststärke von 5 % der Abgeordneten nach oben verändert werden dürfe. Insgesamt sind die Äußerungen zum Zusammenhang von Art. 53 a GG und der Frage der Fraktionsmindeststärke daher von großer Unsicherheit geprägt.

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53 a GG keineswegs im Wege, diesen einen Sitz im Gemeinsamen Ausschuß zuzuerkennen. Ganz im Gegenteil gebietet die Besetzung entsprechend dem Stärkeverhältnis der Fraktionen dann geradezu zu beachten, daß ein so hoher Prozentsatz der Abgeordneten keiner Fraktion angehört. Dies muß jedenfalls dann gelten, wenn diese Fraktionslosen eine politisch homogene Gruppe im Sinne von § 10 Abs. 4 GOBT bilden31 • Wollte man nur die Fraktionen berücksichtigen, würde dagegen das politische Kräfteverhältnis verzerrt. Es ist also möglich, dem aus Art. 53 a GG entnommenen Quorum dort Geltung zu verschaffen, wo es durch die Verfassung vorgegeben ist, nämlich bei der Besetzung des Gemeinsamen Ausschusses 32 , ohne die Autonomie des Parlaments einzuschränken, was das Grundgesetz an dieser Stelle gar nicht bezweckt. Im übrigen wurde die Gegenmeinung, die 1/22 der Mitglieder des Bundestages als generelle Höchstgrenze für die Fraktionsmindeststärke ansah, auch durch die seitherige Entwicklung völlig ad absurdum geführt. Art. 53 a GG statuierte ja keineswegs die ftxe Größe von 22 Mitgliedern des Bundestages, sondern setzt deren Anzahl in Abhängigkeit von der Zahl der Bundesratsmitglieder im Gemeinsamen Ausschuß und damit von der Anzahl der Bundesländer. Dann hätte aber die Erhöhung der Anzahl der Bundesländer um fünf automatisch ein prozentuales Absinken der zulässigen Obergrenze für die Fraktionsmindeststärke auf 1/32 nach sich ziehen müssen 33 • Auch dies zeigt, daß Art. 53 a GG keine verbindliche verfassungsrechtIiche 31 Ebenso auch die Auffassung von vier Richtern des BVerfG im PDS-Urteil, die es für verfassungsrechtlich geboten hielten, der Gruppe der PDS, auf die rechnerisch ein Sitz auf der Bundestagsbank im Gemeinsamen Ausschuß entfallen wäre, bei der Bestimmung der Mitglieder dieses Gremiums zu berücksichtigen. Die vier Richter, deren Auffassung die Entscheidung trägt, meinten demgegenüber, Art. 53 a GG habe dem Fraktionsprinzip gegenüber dem Prinzip der proportionalen Zusammensetzung den Vorrang eingeräumt. Die Proportionalität würde nicht auf die Gesamtheit der Mitglieder des Bundestages, sondern auf die Fraktionen bezogen. Dementsprechend wurde ein Anspruch der Gruppe der PDS/LL auf Berücksichtigung im Gemeinsamen Ausschuß verneint (BVerfGE 84, 304, 334 ff.). Wie hier Morlok, DVBI. 1991,998,1001; Edinger, Wahl, S. 334 f.; Böhm, ZParI1992, 231, 237. 32 Einen anderen Weg schlägt Schick, Der Gemeinsame Ausschuß, in: H.-P. Schneider/ Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 58, Rdnr. 20, ein. Nach seiner Ansicht muß eine Gruppe von fraktionslosen Abgeordneten, die quantitativ die Voraussetzung einer Fraktionsbildung erfüllt, in die Sitzverteilung einbezogen werden. Kleinere Gruppen, die auch zusammen das Fraktionsquorum nicht erreichen, können und müssen dagegen außer Betracht bleiben. Er hält also für die Berücksichtigung Fraktionsloser im Gemeinsamen Ausschuß am Fraktionsquorum als Eintrittsschwelle fest, will dafür bei der politischen Homogenität Zugeständnisse machen. Die hier vertretene Lösung entspricht aber wohl eher dem Grundgedanken des Art. 53 a GG. 33 So jetzt auch allen Ernstes Böhm/Edinger, ZRP 1991, 138, 140.

§ 13: Die Fraktionsmindeststärke

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Höchstgrenze für die Bemessung der Fraktionsmindeststärke enthält. Es ist demnach nicht möglich, der Verfassung einen exakten Grenzwert zu entnehmen.

s. Die Grenzen der Geschäftsordnungsautonomie: Die Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Immerhin ist das Parlament aber nicht völlig frei bei der Festsetzung, sondern muß gewisse verfassungsrechtliche Vorgaben beachten. Besonders ausführlich sind diese vom Bayerischen Verfassungsgerichthof in der Entscheidung zum Fraktionsstatus der bayerischen FDP-Landtagsabgeordneten herausgearbeitet worden 34 . Die FDP hatte bei der Landtagswahl 1974 landesweit die wahlrechtliche 5 %-Klausel überwunden, war jedoch auf Grund einer Besonderheit des bayerischen Wahlsystems, wonach die Verteilung der Sitze nach den in den Regierungsbezirken erzielten Stimmen erfolgt, nur mit 8 Abgeordneten in den Landtag eingezogen, während die Fraktionsmindeststärke nach § 7 Abs. 1 GO damaliger Fassung bei 10 Abgeordneten lag. Der Landesverband der FDP und die Gruppe der Abgeordneten gingen nunmehr vor dem Verfassungsgerichtshof gegen diese Geschäftsordnungsbestimmung vor.

a) Kein Ausschluß der Autonomie durch die Fraktion als ''Partei im Parlament" Der Bayerische Verfassungsgerichtshof wies zunächst zu Recht die auch von den Antragstellern vertretene These zurück, nach der die Fraktion "Partei im Parlament" sei und deshalb jeder politischen Partei, die in das Parlament gelangt, dort ohne weiteres die Mitwirkung als Fraktion möglich

34 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 88 ff. Dieser Fall hat auch in der Literatur zu kontroversen Diskussionen geführt: Vergl. Linck, DÖV 1975, 689 fr.; ders., DÖV 1976,156 f.; Dellmann, DÖV 1976, 153 ff.; Arndt/Schweitzer, ZParl 1976,71 ff.; Weiler, ZParl 1978,18 ff.; R Schmidt, FS von der Heydte, 1977, S. 1179 ff.

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sein müsse35 • Diese Argumentation könnte nur überzeugen, wenn es sich bei dem Anspruch auf Fraktionsbildung überhaupt um ein Recht der Partei handeln würde. Tatsächlich geht es aber ausschließlich um einen Anspruch der Abgeordneten, der deshalb der parlamentsrechtlichen Ausgestaltung unterliegt. Daß die Fraktion eben nicht "Partei im Parlament" und damit schon durch den Wahlakt vorgegeben ist, sondern erst durch den Zusammenschluß der Abgeordneten im Parlament entsteht, ist schon hinreichend deutlich geworden36 • Als Beleg für diese These wird in der Literatur freilich bisweilen gerade auf die Geschäftsordnungsregelungen hingewiesen, die wie in Niedersachsen den Abgeordneten jeder Partei, die die Sperrklausel überwindet, die Fraktionsbildung gestatten. Die ausdrückliche Verknüpfung von Wahlgesetz und Fraktionsmindeststärke zeige, daß die Fraktionen dem parlamentarischen Geschäftsordnungsrecht vorgegeben seien37 • Eine solche Regelung sei lediglich Ausdruck der verfassungsrechtlichen Stellung der Fraktion als "Partei im Parlament". In letzter Konsequenz läuft dieser Gedankengang darauf hinaus, die Festsetzung einer eigenständigen Fraktionsmindeststärke überhaupt für unzulässig zu halten, weil diese Frage der Geschäftsordnungsautonomie entzogen seP8. Hierfür können aber die angeführten Bestimmungen nicht mehr als Beleg dienen, weil sie, wie gesehen, gar nicht auf das Fixieren einer Mindeststärke verzichten, sondern dieses Erfordernis nur in besonderer Weise formulieren.

35 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 87, stellt zutreffend fest, daß die Fraktionen trotz der engen Verbindung zu den politischen Parteien zum staatsorganschaftlichen Bereich zählen und daß deswegen die Festlegung des Status der Fraktionen dem Parlament kraft seiner Autonomie obliegt. 36 Diese Fehleinschätzung wird bei W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 495, deutlich, wenn er die Regelung des § 3 Abs. 1 GO Niedersachsen kritisiert, weil sie den Abgeordneten derselben Partei nur die Fraktionsbildung freistelle. Seiner Ansicht nach entspräche es der verfassungsrechtlichen Stellung der Fraktion als der Partei im Parlament besser, wenn die Abgeordneten einer Partei, die den erforderlichen Anteil an der Gesamtstimmenzahl erreicht hat, ohne weiteres eine Fraktion bildeten. Eine solche Regelung wäre aber jedenfalls wegen Verstoßes gegen die Gewährleistung des freien Mandats unzulässig. Es muß den Abgeordneten freistehen, ob sie der Fraktion beitreten wollen oder nicht. 37 W. Schmidt, Der Staat 9 (1970),481,486. 38 W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 495 FN 67, fordert dementsprechend auch, daß die Abgeordneten einer Partei, sofern ihnen über die Grundmandatsklausel des § 6 Abs. 4 BWG der Einzug ins Parlament gelingt, auch ohne Überwindung der 5 %-Sperrklausel die Bildung einer Fraktion zu ermöglichen ist.

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b) Vier verjassungsrechtliche Vorgaben Nachdem der Bayerische Verfassungsgerichthof somit klargestellt hatte, daß die Festsetzung der Fraktionsmindeststärke unter die Geschäftsordnungsautonomie des Landtags fällt, nennt er insgesamt vier Schranken dieser Autonomie: das Willkürverbot, das freie Mandat, Oppositionsfreiheit und Minderheitenschutz sowie das aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitende Übermaßverbot. Die drei letzten Kriterien lassen sich unter den Oberbegriff der Freiheit gruppieren, so daß auch hier letztlich die beiden grundlegenden Prinzipien, welche den Status des Abgeordneten bestimmen, Freiheit und Gleichheit, zum Tragen kommen.

aa) Der Kernbereich des Mandats Um mit der Freiheit des Abgeordneten zu beginnen, so nennt das Gericht hier zunächst das Prinzip des freien Mandats selbst, verstanden als einen Kernbereich von Möglichkeiten, der dem Abgeordneten verbleiben muß39. Er führt sodann die Befugnisse auf, die der Abgeordnete als einzelner wahrnehmen kann und die nach der bayerischen Geschäftsordnung umfassender sind als nach der des Bundestages4o • Außerdem hat der bayerische Landtag auch - gerade um der FDP entgegenzukommen - einer Gruppe unter der Fraktionsstärke eine Reihe zusätzlicher Kompetenzen eingeräumt4 1• In gleicher Weise hat der Bundestag den Gruppen von Bündnis 39 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 89. 40 So kann der einzelne AbgeOrdnete nach § 52 Abs. 1 GO Bayern Gesetzesvorlagen einbringen und nach § 62 Abs. 1 GO Bayern alle anderen Anträge stellen. Vergl. demgegenüber § 76 Abs. 1 GOBT, der Vorlagen von Mitgliedern des Bundestages nur zuläßt, wenn sie von einer Fraktion oder von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages unterzeichnet sind. 41 Mit Beschluß vom 15.5.1975 wurden folgende Regelungen in die Geschäftsordnung aufgenommen: Sicherstellung der Berücksichtigung bei der Zusammensetzung des Ältestenrats (heute § 15 GO Bayern); Berücksichtigung bei der Besetzung der Ausschüsse, sofern die Gruppe so groß ist, daß rechnerisch ein Sitz auf sie entfällt (heute § 23 Abs. 2 GO Bayern); eine entsprechende Regelung für den Zwischenausschuß (heute 19 Abs. 2 GO Bayern). Diese Reformen führten dazu, daß die FDP neben dem Ältestenrat und dem Zwischenausschuß in 8 von insgesamt 13 Ausschüssen des Landtags vertreten war. Ebenso wie der bayerische Landtag verfuhr der Landtag von Baden-Württemberg in der 8. Wahlperiode, nachdem bei der Landtagswahl 1980 die GRÜNEN zwar den Einzug in den Landtag schafften, die damals nach § 17 Abs. 1 GO geltende Mindeststärke von 8 Abgeordne-

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90jGRÜNE und PDSjLL wesentliche Rechte zugewiesen, die sonst nur Fraktionen zustehen. So sind sie berechtigt, für jeden Fachausschuß jeweils ein ordentliches und ein stellvertretendes Mitglied zu benennen, wobei dieses Mitglied im Unterschied zu einzelnen fraktionslosen Abgeordneten auch Stimmrecht im Ausschuß hat. Ferner können die Gruppen durch je ein Mitglied an der Arbeit der Enquete-Kommissionen und Untersuchungsausschüsse sowie im Ältestenrat mitwirken. Sie können Gesetzentwürfe, Anträge, Entschließungsanträge, Große und Kleine Anfragen einbringen, sowie pro Jahr eine noch festzulegende Anzahl von Aktuellen Stunden beantragen42 • Schließlich hebt der Verfassungsgerichtshof hervor, daß der Abgeordnete auch unabhängig von der Fraktion viele Rechte gemeinsam mit anderen Abgeordneten ausüben kann. Insgesamt sieht er für den einzelnen Abgeordneten daher genügend Betätigungsmöglichkeiten außerhalb der Fraktion. Im Bundestag könnte man daran angesichts der vergleichsweise geringeren Befugnisse des einzelnen Abgeordneten eher zweifeln. Doch geht es hierbei eigentlich schon um die noch ausführlich zu behandelnde Frage, ob die Geschäftsordnung die Verteilung zwischen Abgeordneten und Fraktion in einer angemessenen Weise vornimmt, und weniger um die Höhe des Fraktionsquorums43 • Dem aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG folgenden eigenen verfassungsrechtlichen Status jedes Abgeordneten ist erst dann wirksam Rechnung getragen, wenn man die Frage aufwirft, ob der Umstand, daß ein bestimmtes Recht nur kollektiv ausgeübt werden kann, überhaupt zulässig ist. Nicht etwa kann die weitgehende Bedeutungsverlagerung vom einzelnen auf das Kollektiv dadurch gleichsam kompensiert werden, daß man die Höhe des Quorums entsprechend niedrig veranschlagt. Die Forderung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG geht also nicht dahin, daß es für den Abgeordneten (6,6 % der Sitze) aber um 2 Mandate verfehlten. Der Landtag führte damals die Möglichkeit der Bildung einer Gruppe in § 17 Abs. 5 GO ein (Drs. 8/320, I Nr. 3), der zugleich auch eine Vielzahl von Rechten eingeräumt wurde (vergl. die Aufzählung bei Kassing, Recht, S. 55 f.). Im 10. Landtag erreichte die FDP nur 6 Mandate. Dieser Umstand wurde zum Anlaß genommen, die Fraktionsmindeststärke auf 6 Sitze zu senken und gleichzeitig § 17 Abs. 5 GO zu streichen (Drs. 10/1439, I Nr. 2). 42 BT-Drs. 12/149, 12/150. 43 So auch der VGH Baden-Württemberg, VBIBW 1989, 178, 179, zur Klage von zwei Gemeinderäten auf Feststellung ihrer Fraktionseigenschaft. Die Frage, ob die Antragsteller durch konkrete Folgeregelungen, die an den fehlenden Fraktionsstatus anknüpften, in ihren Rechten verletzt sein könnten, sei nicht Gegenstand des Verfahrens. Diese Folgeregelungen führten selbst dann, wenn sie in Einzelfall Anlaß zu rechtlichen Bedenken geben könnten, nicht dazu, daß die umstrittene Festlegung der Fraktionsmindeststärke beanstandet werden müßte.

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ten um so leichter sein muß, eine Fraktion zu bilden, je mehr Befugnisse an diese gebunden sind44, sondern es ist die Frage zu stellen, ob die Geschäftsordnung konkrete Einzelbefugnisse an die Fraktion binden darf.

bb) Das Übermaßverbot Ist demnach der Kernbereich des freien Mandats kaum geeignet, die Autonomie des Parlaments bei der Festsetzung des Fraktionsquorums zu begrenzen, so gewinnt das Übermaßverbot an Bedeutung. Die in der Verleihung der Geschäftsordnungsautonomie liegende Ermächtigung, die Rechte des Abgeordneten und die Erfordernisse des Gesamtparlaments einander zuzuordnen, muß danach in einer Weise ausgeübt werden, die sich an Sinn und Zweck der Ermächtigung zu orientieren hat. Die konkrete Mindeststärkenregelung muß also vom Zweck, die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu sichern, gedeckt sein, zugleich darf den einzelnen Abgeordneten die Bildung einer Fraktion nicht zu sehr erschwert werden. Wichtig ist jedoch, daß das Gericht nicht überprüft, ob die im Einzelfall gewählte Lösung der Billigkeit und der politischen Zweckmäßigkeit entspricht45 . In der Literatur ist demgegenüber häufig versucht worden, Quoren schon deshalb als verfassungswidrig anzusehen, weil früher geringere Fraktionsmindeststärken bestanden haben, ohne daß das Parlament deshalb funktions unfähig gewesen wäre46 • Die Funktionsfähigkeit ist aber nicht so sehr eine feste Grenzmarke, die von einer Regelung entweder gewährleistet oder gefährdet wird, als vielmehr eine gleitende Skala. Eine Bestimmung kann auch dann die Funktionsfähigkeit des Parlaments verbessern, wenn sie zu einem reibungsloseren Ablauf beiträgt, auch wenn der Nachweis nicht zu führen ist, daß ohne sie die parlamentarische Arbeit nicht aufrechtzuerhalten wäre. Es ist daher 44 So aber Lisken, ZParl1978, 320, 321. 45 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 91 f. 46 So vor allem Amdt/Schweitzer, ZPari 1976, 71, 84, die allein deshalb zur Verfassungswidrigkeit der bayerischen Fraktionsmindeststärke von damals 10 Abgeordneten kommen, weil die geschäftsordnungsrechtliche Fraktionsmindeststärke mehr als 13 Jahre bei 5 Abgeordneten lag und auch die tatsächliche Fraktionsstärke bei 8 oder 9 Abgeordneten lag, ohne daß die Effektivität der Parlamentsarbeit gefahrdet gewesen sei. In diese Richtung argumentieren auch Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 212, 216, der eine Erhöhung langjährig geltender Quoren nur bei gewichtigen Gründen zulassen will, und Schönberger, RechtssteIlung, S. 48, mit der Bemerkung, einer Anhebung der Fraktionsmindeststärke, ohne daß dies aufgrund vorangegangener Erfahrungen unumgänglich war, werde schwerlich die verfassungsrechtliche Anerkennung zuteil werden können.

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angeregt worden, statt von der Funktionsfähigkeit treffender von der Funktionstüchtigkeit des Parlaments zu sprechen47 • Das Parlament muß aber frei sein, selbst zu entscheiden, inwieweit es diese Funktionstüchtigkeit steigern will, ohne dabei an frühere Regelungen gebunden zu sein. Aus diesem Grunde gibt sich formell auch jeder Bundestag zu Beginn seiner Wahlperiode einen neue Geschäftsordnung, auch wenn dabei regelmäßig die der vorherigen Wahlperiode übernommen wird. Dahinter steht die Überlegung, daß jeder Bundestag selbst über seine innere Ordnung befinden soll. Der derzeit geltenden Höhe von fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages läßt sich also nicht entgegenhalten, daß der Bundestag auch bei einem Quorum von 15 oder 10 Abgeordneten nicht arbeitsunfähig war. Dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof ist demnach bei seiner begrenzten Kontrolle über die Einhaltung des Übermaßverbots zuzustimmen. Er formuliert dessen Anforderungen so, daß ansehnlich große Gruppen nicht von einer angemessenen Entfaltungsmöglichkeit ausgeschlossen werden dürften48 • Einen Verstoß lehnt er für den ihm vorliegenden Fall insbesondere unter Hinweis auf die Üblichkeit eines Prozentsatzes von fünf vom Hundert ab. Tatsächlich wird man, wenn man berücksichtigt, daß wegen der im Bund und in den Ländern geltenden Sperrklausel regelmäßig ohnehin politisch homogene Abgeordnetengruppen in einer Größe von 5 % der Mitglieder des Parlaments entstehen, davon ausgehen können, daß ein Quorum in dieser Höhe keine übermäßige Beschränkung darstellt.

cc) Oppositionsfreiheit und Minderheitenschutz Schließlich führt der Bayerische Verfassungsgerichtshof Oppositionsfreiheit und Minderheitenschutz als Begrenzung der Geschäftsordnungsautonomie an49 • Was zunächst die Oppositionsfreiheit anbelangt, so gehört das Recht auf Bildung und Ausübung einer Opposition unbestrittenermaßen zu den grundlegenden Prinzipien der freiheitlichen demokratischen Grundordnung50 • Verfassungsrechtlich gefordert ist aber nur, daß überhaupt die Möglichkeit einer Opposition besteht, die sich auch organisieren können Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 65. Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 91. 49 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 91. 50 BVerfGE 2,1,13; 5, 85, 140. 47 48

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muß, um die Regierung effektiv zu kontrollieren und Minderheitenrechte auszuüben. Ein Anspruch einer bestimmten Gruppierung auf ihre Anerkennung als Fraktion könnte daraus allenfalls unter ganz extremen Umständen resultieren, wenn etwa im Falle einer Großen Koalition die einzige oppositionelle Kraft im Parlament nicht das Fraktionsquorum erreicht51 . Derart außergewöhnliche Umstände lagen aber weder in dem Fall vor, den der Bayerischen Verfassungsgerichtshof zu entscheiden hatte, noch sind sie im Deutschen Bundestag jemals aufgetreten. Der Minderheitenschutz andererseits sollte - insoweit entgegen der Auffassung des Verfassungsgerichtshofes - von der Oppositionsfreiheit getrennt betrachtet werden52, da es auch Minderheiten innerhalb des Regierungslagers geben kann. Minderheitenschutz ist folglich der umfassendere Begriff. Auch dem Minderheitenschutz ist aber keine feste Grenze für die Fraktionsmindeststärke zu entnehmen. Wie in der Literatur schon seit längerer Zeit erkannt wurde und wie es nun auch das BVerfG im Fall Wüppesahl bestätigt hat 53 , bildet der einzelne Abgeordnete selbst die kleinste vorstellbare Minderheit. Angesichts des Charakters der Fraktion als einer Vereinigung von Abgeordneten ist es aber ausgeschlossen, jedem einzelnen Abgeordneten Fraktionsstatus einzuräumen54 . Absoluten Minderheitenschutz als Forderung, daß jeder Minderheit der Fraktionsstatus zuerkannt werden müsse, kann es daher nicht geben. Vielmehr stellt sich auch hier die Frage, wann eine Minderheit so bedeutsam ist, daß ihr die Fraktionseigenschaft nicht vorenthalten werden kann. Diese Frage aber ist wiederum nicht eindeutig zu entscheiden, die Antwort kann nur lauten, daß das Parlament selbst aufgerufen ist, den angemessenen Ausgleich zu finden zwischen den beiden Zielen, die die Verfassung ihm bei der Verleihung der Geschäftsordnungsautonomie zur Verwirklichung aufgibt, nämlich der Arbeitsfähigkeit und dem Schutz der Minderheit55 . Auch hier kann sich die verfassungsrechtIiche Prüfung also letztlich nur darauf erstrecken, ob das Quorum nicht übermä51 Linck, OÖV 1975, 689, 693. 52 Wie hier Linck, OÖV 1975, 689, 694. 53 Kürschner, Statusrechte, S. 120; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 212; BVerfGE 80,188,220. 54 So bezweifelt denn auch Linck, OÖV 1975, 689, 694, ob es aus Gründen des Minderheitenschutzes geboten ist, dem Abgeordneten des SSW, der Vertretung der dänischen Minderheit in Schieswig-Hoistein, die Rechte einer Fraktion zuzuerkennen. So aber § 22 Abs. 4 GO Schieswig-Hoistein. 55 Zu diesen beiden Aufgaben der Geschäftsordnung Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 86; Kürschner, Statusrechte, S. 119; R. Schmidt, FS von der Heydte, 1977, S. 1179,1183.

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ßig hoch angesetzt ist. Der Maßstab ist hier also der gleiche wie bei der Einschränkung des in Art. 38 GG verankerten Koalitionsrechts des einzelnen Abgeordneten, nämlich das Übermaßverbot. Angesichts der Tatsache, daß der Abgeordnete die kleinste Minderheit ist, liegt diese Identität des Maßstabs auch auf der Hand56 . Als Ergebnis kann auch insoweit festgehalten werden, daß im Bund und in den Ländern kein Anhaltspunkt für eine unverhältnismäßige Anforderung ersichtlich ist.

dd) Die Gleichheit der Abgeordneten Sind also unter dem Blickwinkel der Freiheit des Abgeordneten keine Bedenken gegen die bestehenden Mindeststärkenregelungen geltend zu machen, weil sich die Beschränkungen dieser Freiheit im Rahmen des Verhältnismäßigen bewegen, so bleiben sie am Maßstab der Gleichheit der Abgeordneten zu messen. Das Gericht beschränkt sich hier auf eine Willkürkontrolle, das in der Geschäftsordnung aufgestellte Quorum wäre nur dann verfassungswidrig, wenn es jeder einleuchtenden Begründung entbehrte und mit dem subjektiven Merkmal des Rechtsmißbrauchs der Parlamentsmehrheit gegenüber einer Minderheitengruppe belastet wäre. Dies konnte für den zu entscheidenden Fall schon deshalb verneint werden, weil das Quorum bei der Geschäftsordnungsreform in der vorhergehenden Legislaturperiode gar nicht umstritten war und auch die FDP selbst hiergegen keinerlei Einwendungen erhob57 . Im Ergebnis hielt der Bayerische Verfassungsgerichtshof daher die Fraktionsmindeststärkenregelung für unbedenklich. Auch 1m Bundestag kann von einer rechtsmißbräuchlichen Festsetzung des Fraktionsquorums nicht gesprochen werden. Zwar wurde bei den bei den bislang erfolgten Anhebungen der Mindeststärke verschiedentlich unterstellt, parteitaktische Überlegungen hätten durchaus eine Rolle gespielt. So führte die Anhebung von 10 auf 15 Abgeordnete im Jahre 1951 dazu, daß die KPD, die im ersten Bundestag über 14 Mandate verfügte, den Fraktionsstatus verlor. Hinter der Anhebung von 15 Abgeordneten auf fünf 56 Im Ergebnis ebenso K1effmann, Rechtsstellung, S. 146 ff., allerdings mit der weitergehenden Folgerung, Oppositionsfreiheit und Minderheitenschutz seien keine eigenen verfassungsrechtlichen Kategorien, der in dieser Allgemeinheit sicher nicht gefolgt werden kann. Wie hier Bick, Ratsfraktion, S. 78. 57 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 89.

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vom Hundert der Mitglieder des Bundestages im Jahre 1969 hingegen soU die Befürchtung gestanden haben, die NPD könne über die Grundmandatsklausel am Verhältnisausgleich teilnehmen58 • Selbst wenn diese Vermutungen zutreffen sollten, könnte der Vorwurf des Rechtsrnißbrauchs aber nur dem Bundestag gemacht werden, der die Erhöhung erstmals vornahm. Zu Beginn der nachfolgenden Wahlperioden ist aber, ohne daß diese Überlegungen hätten maßgeblich sein können 59, die Fraktionsmindeststärken jeweils durch neuen Beschluß bekräftigt worden. Von einer willkürlichen Festsetzung aus rechtsmißbräuchlichen Erwägungen kann jedenfalls seither keine Rede mehr sein.

6. Der formalisierte Gleichheitssatz als zutreffender Prüfungs maßstab a) Die Gleichheit der Abgeordneten als Anknüpfungspunkt

Richtigerweise hätte man sich jedoch mit einer Willkürkontrolle nicht begnügen dürfen, sondern den streng formalen Gleichheitsgrundsatz als Prüfungsmaßstab anlegen müssen, nach dem eine Ungleichbehandlung nur beim Vorliegen eines zwingenden Grundes möglich ist60 . In diesem Zusammenhang muß noch einmal daran erinnert werden, daß es um die Gleichheit der Abgeordneten geht, die - wie gezeigt wurde - nur eine Konsequenz der Erfolgswertgleichheit der abgegebenen Stimmen ist. Ihr Geltungsanspruch richtet sich auf die Gesamtheit der Mandatsausübung und somit auch auf das Recht, zur Potenzierung ihrer Einflußmäglichkeiten eine Fraktion hervorzubringen 61 .Weil die Fraktionsbildung kein Recht der Partei ist, geht es nicht etwa um die Chancengleichheit der Parteien62 , die zwar 58 Thaysen, Parlamentsreform in Theorie und Praxis, 1972, S. 192.

59 Die KPD war im 2. Bundestag nicht mehr vertreten, die NPD schaffte 1969 den Einzug in den Bundestag nicht. 60 Eine willkürlich getroffene Regelung aber kann niemals vor dem formalisierten Gleichheitssatz Bestand haben, von daher kann die Willkürkontrolle als erster Schritt der Gleichheitsprüfung erfolgen. Dem Bayerischen Verfassungsgerichtshof folgend hingegen Palme, JA 1991,252,258. 61 Richtig Arndt/Schweitzer, ZParl 1976, 71, 79, 81 ff. 62 So aber W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 490 ff.; Dellmann, DÖV 1976, 153, 155; Borchert, AöR 102 (1977), 210, 221; Kisker, JuS 1980, 284, 286 f.; Zu leeg, HKWP 11, S. 145, 150. Wie hier BVerfGE 84, 304, 324.

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eine Differenzierung nur unter den gleichen hohen Anforderungen zuläßt, ihren Anwendungsbereich aber nur außerhalb des Parlaments hat, nämlich insbesondere bei der Wahl und in deren Vorfeld. Nach erfolgter Wahl kann von einer fortwirkenden Gleichheit der Parteien keine Rede mehr sein, hat das Volk im Wahlakt doch gerade angeordnet, daß der Einfluß der politischen Parteien auf die Parlamentsarbeit unterschiedlich sein soll, daß die einen als Mehrheit regieren und die anderen als Minderheit die Rolle der Opposition übernehmen sollen. Anknüpfungspunkt der Gleichheit können jetzt nur noch die einzelnen Abgeordneten sein, gerade damit der Wille des Wählers beachtet wird und die Parteien je nach der Anzahl der erreichten Sitze differenziert betrachtet werden63 .

b) Die Bedeutung der wah/rechtlichen Spe"k/ause/ für die Fraktionsmindeststärke Zwingender Grund für die Ungleichheit der Abgeordneten kann wiederum nur die Funktionsfähigkeit des Parlaments sein, das vor einer Zersplitterung in viele kleine Gruppen geschützt werden soll. Hier setzt nun der gewichtigste Einwand an, der für eine deutliche Begrenzung der Parlamentsautonomie bei der Festsetzung der Fraktionsmindeststärke eintritt. Die Rechtsordnung begegne der Zersplitterung des Parlaments ja bereits mit der Sperrklausel in Höhe von 5 % bei der Parlamentswahl. Schon dadurch werde sichergestellt, daß nur eine begrenzte Zahl von Parteien überhaupt ins Parlament komme. Das BVerfG habe aber in ständiger Rechtsprechung daran festgehalten, daß diese 5 %-Marke die äußerste Grenze für eine zulässige Beschränkung der Wahlrechtsgleichheit darstelle. Infolgedessen sei mit dieser Hürde bereits alles getan, was verfassungsrechtlich möglich sei, um zugunsten der Funktionsfähigkeit des Bundestages Splitterparteien entgegenzuwirken. Durch eine Fraktionsmindeststärke, die höher angesetzt werde, werde daher in unzulässiger Weise eine zweite Sperrklausel eingeführt64 • Folgt man dieser Auffassung, so wären die Mindeststärkenbestimmungen in Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, dem Saarland und Thüringen verfassungswidrig. Das gleiche würde für die Re63 Gegen eine Erstreckung der Chancengleichheit der Parteien auf den parlamentarischen Bereich auch Bick, Ratsfraktion, S. 45. 64 W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 495; Kürschner, Statusrechte, S. 51. Für eine Entsprechung zuletzt noch Jekewitz, Recht und Politik 1991, 13, 19.

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gelungen in den Ländern gelten, wo aufgrund der Verteilung der Mandate nach Wahlbezirken nicht gesichert ist, daß eine Partei, die, bezogen auf das gesamte Wahlgebiet, 5 % der Stimmen auf sich vereinigen konnte, auch mit 5 % der Abgeordneten im Parlament vertreten ist65 . Dann hätte auch den Abgeordneten von PDS/LL und Bündnis 9O/GRÜNE im 12. Bundestag, die im Beitrittsgebiet die regionalisierte Sperrklausel von 5 % überwunden hatten, der Fraktionsstatus nicht vorenthalten werden dürfen. Die gefestigte Rechtsprechung des BVerfG geht in der Tat davon aus, daß mit 5 % der Stimmen regelmäßig der höchste Wert der zulässigen Sperrklausel erreicht ist66 . Gleichwohl wäre die Kritik in der Literatur nur berechtigt, wenn die (höhere) Fraktionsmindeststärke wirklich eine zweite Sperrklausel darstellen würde. Dies ist jedoch deshalb nicht der Fall, weil nicht dem gleichen Rechtsträger zugemutet wird, beide Hürden zu überwinden67 • Die wahlrechtliche 5 %-Hürde muß von der jeweiligen Partei genommen werden. Die Anforderungen an eine Fraktion müssen hingegen die gewählten Mandatsträger dieser Partei erfüllen, sofern sie sich zusammenschließen wollen. Auch die Argumentation der doppelten Sperrklausel beruht also auf der unzulässigen Gleichsetzung von Partei und parteiangehörigen Abgeordneten. Da diese nicht verpflichtet sind, eine Fraktion zu bilden, kann die Rechtsordnung auch differenzieren zwischen den Anforderungen an die Partei und denjenigen, die sie den Abgeordneten auferlegt 68 .

65 Neben Bayern gilt dies auch für Bremen mit der Besonderheit, daß dort auch die SperrklauseI in den beiden Wahlbezirken Bremen und Bremerhaven getrennt gilt. Bei der Bürgerschaftswahl 1979 führte dies etwa dazu, daß die GRÜNEN bei einem landesweiten Ergebnis von 5,1 % der Stimmen von den 80 im Wahlbezirk Bremen zu vergebenden Mandaten 4 erhielten, in Bremerhaven jedoch an der 5 %-Hürde scheiterten. Insgesamt erreichten die GRÜNEN daher nur 4 der insgesamt 100 Mandate in der Bürgerschaft und damit nicht die Fraktionsmindeststärke von 5 Abgeordneten. Sie bildeten daraufhin eine Gruppe. 66 BVerfGE I, 208, 256; 34, 81,101; 47, 253, 277; 51, 222, 237. 67 Amdt/Schweitzer, ZParl1976, 71, 81; Bick, Ratsfraktion, S. 76. 68 Im Ergebnis ebenso BVerfGE 84, 304, 326. Sperrklausel-Regelungen im Wahlrecht lassen sich danach nicht ohne weiteres auf die Befugnis des Bundestages übertragen, die Mindeststärke der Fraktionen festzusetzen. Wenn die Geschäftsordnung des Bundestages seit 1969 mit ausdrücklichem Bezug auf die Sperrklausel des Wahlrechts die Mindeststärke der Fraktion auf fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages festgesetzt hat, so folgt hieraus keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Bundestages, stets so zu verfahren. Das BVerfG folgert daraus, daß der Bundestag auch unter den besonderen Bedingungen der Wahl zum ersten gesamtdeutschen Bundestag nicht verpflichtet war, die Geschäftsordnung so zu gestalten, daß den Abgeordneten aller Parteien, die die regionalisierte fünf vom Hundert-Sperrklausel überwunden haben, ungeachtet ihrer Zahl der Fraktionsstatus zukommt. 16 Demmler

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Davon abgesehen sind weder die verfolgten Ziele noch die bewirkten Konsequenzen bei beiden Hürden völlig identisch. Die Sperrklausel dient dazu, Splitterparteien vollkommen vom Parlament fernzuhalten, vor allem damit im Parlament das Zustandekommen einer Mehrheit gefördert wird, die in der Lage ist, eine stabile Regierung zu bilden. Dieser Zweck wird bei der Festsetzung der Fraktionsmindeststärke nicht verfolgt, hier geht es allein darum, das Parlament zur Erfüllung seiner Tätigkeit angemessen zu organisieren69 . Im Gegensatz zur Sperrklausel wird der Zugang zum Parlament auch nicht völlig verwehrt, sondern nur gewisse Befugnisse einer nicht hinreichend starken Abgeordnetengruppe vorenthalten. Diesen verbleiben aber alle Möglichkeiten, die sie als einzelne Abgeordnete wahrnehmen können wie auch möglicherweise spezielle Befugnisse, die Abgeordnetengruppen unterhalb des Fraktionsquorums zugestanden werden. Insofern ist die Lage der Abgeordneten einer bestimmten politischen Richtung, die keine Fraktion bilden können, nicht ZU vergleichen mit der Situation einer Partei, die an der 5 %-Klausel gescheitert ist und deshalb von jeglicher parlamentarischer Mitwirkung ausgeschlossen bleibt. Auch dies macht deutlich, daß der These von der zweiten Sperrklausel nicht gefolgt werden kann.

c) Schlußfolgerungen für die konkrete Festsetzung der Mindeststärke durch das Parlament Es ist dem Parlament daher möglich, eine Fraktionsmindeststärke von mehr als 5 % der Mitglieder festzulegen 70, die Funktionsfähigkeit des Parlaments kann durchaus eine höhere Schranke gebieten. Gegen die bestehenden Geschäftsordnungsbestimmungen, die die 5 %-Marke maßvoll übersteigen (der höchste Wert liegt in Mecklenburg-Vorpommern bei 6,06 %), bestehen daher keine Bedenken71 • Die Grenze ist erst dort erreicht, wo das 69 Für den Bayerischen Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 93, ist dieser Unterschied ausschlaggebend, das von den Antragstellern vorgebrachte Argument der 2. Sperrklausel zurückzuweisen. Ebenso R. Schmidt, FSvon der Heydte, 1977, S.l179, 1190. 70 A.A. Troßmann, Parlamentsrecht, § 10, Rdnr. 4; Schönberger, Rechtsstellung, S. 47. 71 Inkonsequent Kisker, JuS 1980, 284, 286, der zwar einräumt, daß es sinnvoll sein mag, bei der Berufung in das Parlament weniger strenge Anforderungen zu stellen als bei der Mitsteuerung der Arbeit des Parlaments, dann aber ein Quorum von 6 % für unzulässig hält, weil eine Anhebung von nur 1 % über den Satz der wahlrechtlichen Sperrklausel nicht geeignet sei, die Funktionsfähigkeit des Parlaments weiter zu verbessern.

§ 13: Die Fraktionsmindeststärke

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Quorum in Beziehung zu dem verfolgten Zweck, die Funktionsfähigkeit des Parlaments zu gewährleisten, eine außer Verhältnis stehende Beschränkung des Koalitionsrechts der Abgeordneten bedeutet. In diesem Fall liegt dann auch kein zwingender Grund vor, der eine so weitgehende Ungleichbehandlung legitimieren könnte. Es ist sicher zu hoch gegriffen, diese Grenze, wie in der Literatur geschehen, erst bei 25 % der Mitglieder des Parlaments anzusetzen72 • Der kritische Punkt dürfte vielmehr bei etwa 10 % der Mitglieder des Parlaments erreicht sein. Ungefähr in dieser Größenordnung pendelt sich auch die Rechtsprechung zu Fraktionsmindeststärken im Gemeinderat ein, wo das Problem öfter zu Gerichtsentscheidungen führe 3 • So wurden Fraktionsmindeststärken mit folgenden Prozentsätzen bezogen auf die Gesamtstärke des Gemeinderats für zulässig erachtet: 5,4 %74; 5,63 %75; 9,37 %76; 9,63 %77; 10 %78. Ausdrücklich offengelassen wurde es vom BVerwG bei einer Mindeststärke von 12,19 %79. Für unzulässig erklärt wurden demgegenüber Fraktionsmindeststärken, die einem Anteil von 15,15 %80 und 21,73 %81 entsprachen. Ist der Bundestag also verfassungsrechtlich nicht gehalten, die Fraktionsmindeststärke bei höchstens fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages festzusetzen, so ist er entgegen der Ansicht von Troßmann82 auch nicht verpflichtet, eine Gruppe, die die Mindeststärke nur um einen Sitz verfehlt, als Fraktion anzuerkennen. Eine solche Gruppe könnte etwa entstehen, wenn eine Fraktion sich spaltet bzw. durch Fraktionsaustritte so viele Mitglieder verliert, daß sie unter die Fraktionsmindeststärke absinkt.

72 Fröhlinger, DVBI. 1982, 682, 686; dagegen Dach, DVBI. 1982, 1080. 73 Die Verwaltungsrechtsprechung überprüft die konkrete Festsetzung durch die Geschäftsordnung des jeweiligen Gemeinderats regelmäßig nach den rechtlichen Schranken WillkülVerbot , Chancengleichheit und Minderheitenschutz. Vergl. etwa BVerwG NJW 1980, 304; OVG Rheinland-Pfalz DVBI. 1988, 798; VGH Baden-Württemberg VBIBW 1989, 178, 179. 74 OVG Rheinland-Pfalz DVBI. 1988,798: 2 von 37 Kreistagsabgeordneten. 75 VG Darmstadt, HSGZ 1983, 426: 4 von 71 Ratsmitgliedern (Fraktionsmindeststärke wird nicht problematisiert). 76 BVerwG NJW 1980, 304: 3 von 32 Ratsmitgliedern. 77 VGH Baden-Württemberg VBIBW 1989,178 ff: 3 von 31 Ratsmitgliedern. 78 OVG Rheinland-Pfalz DÖV 1986, 800 f.: 2 von 20 Ratsmitgliedern. 79 BVerwG Verw.Rspr. 28 (1977),101,102: 5 von 41 Ratsmitgliedern. 80 VG Münster, 15.8.1971, in: Rehnjvon Mutius (Hrsg.), Rechtsprechung zum kommunalen Verfassungsrecht, § 27 GemO Nordrhein-Westfalen, Nr. 10: 5 von 33 Ratsmitgliedern. 81 OVG Rheinland-Pfalz, NVwZ 1982, 694: 5 von 23 Ratsmitgliedern. 82 Troßmann, Parlamentsrecht, § 10, Rdnr. 4; ähnlich Hagelstein, Rechtsstellung, S. 52 f.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Eine Anerkennung als Fraktion nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT kommt für diese Konstellation ohnehin nicht in Betracht, weil dieser Ausnahmetatbestand nur den Fall regelt, daß die Abgeordneten, die sich zusammenschließen wollen, das Fraktionsquorum zwar erreichen, aber nicht der gleichen Partei angehören 83 . Dies ergibt zum einen die historische Auslegung. In der Fassung von 1951 bestimmte die Geschäftsordnung in § 10 Abs. 1 Satz 4: "Die Bildung einer Fraktion durch Mitglieder des Bundestages, die nicht Mitglieder ein und derselben Partei sind, kann nur mit Zustimmung des Bundestages erfolgen." 1969 wurde diese Vorschrift dann in die heute geltende Form gebracht, ohne daß an ihrem Inhalt etwas geändert werden sollte. Das Ergebnis wird durch eine systematische Betrachtung bestätigt, da nach § 10 Abs. 4 GOBT Mitglieder des Bundestages, die sich zusammenschließen wollen, ohne Fraktionsstärke zu erreichen, als Gruppe anerkannt werden können. Bei einer Anerkennung als Fraktion kann der Bundestag daher nach geltender Geschäftsordnung nur von dem Erfordernis der gleichen Parteizugehörigkeit dispensieren, bei einem Unterschreiten der Mindestzahl hingegen ist nur eine Anerkennung als Gruppe möglich84 . Im Ergebnis wäre der Bundestag jedoch nicht gehindert, einer solchen Gruppe die Fraktionseigenschaft zuzuerkennen, da er durch Beschluß mit einfacher Mehrheit § 10 Abs. 1 Satz 1 GOBT außer Kraft setzen könnte 85 . Anders als bei der Anerkennung nach § 10 Abs. 1 Satz 2 GOBT, zu der der Bundestag beim Vorliegen politischer Homogenität verpflichtet ist, ist er hier frei, ob er einen entsprechenden Beschluß fassen will.

83 So zutreffend RitzeljBücker, HdbPP, § 10, Anm. I 1 e; BöhmjEdinger, ZRP 1991, 138, 139 FN 6.; offengelassen VDn BVerfGE 84,304,327. 84 Anders ist die Situation nach § 16 Abs. 1 GO Nordrhein-Westfalen: "Fraktionen sind Vereinigungen von mindestens fünf vom Hundert der Mitglieder des Landtages. Ausnahmen beschließt der Landtag.... " Da hier die gleiche Parteizugehörigkeit von vornherein nicht vorausgesetzt ist, kann sich die Ausnahmemöglichkeit nur auf die Mindeststärke beziehen. Ebenso § 16 Abs. 1 GO Brandenburg. 85 So beschloß der 10. Landtag von Baden-Württemberg, in den die FDP mit 6 Abgeordneten eingezogen war, in seiner konstituierenden Sitzung am 7.6.1988, von der Bestimmung des § 17 Abs. 1 GO über die Fraktionsmindeststärke vorläufig keinen Gebrauch zu machen. Inzwischen ist die Fraktionsmindeststärke auf 6 Abgeordnete gesenkt worden.

§ 14: Der Fraktionsausschluß

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§ 14: Der Fraktionsausschluß

1. Die verfassungs rechtliche Relevanz der Problemstellung Ebenso wie es für eine Gruppe von Abgeordneten von einschneidender Bedeutung ist, ob sie den vom Parlament aufgestellten Anforderungen genügt und folglich eine Fraktion bilden kann, liegt es im Interesse jedes einzelnen Abgeordneten, einer bestehenden Fraktion angehören zu können. Wird ein Abgeordneter im Laufe der Wahlperiode von seiner Fraktion ausgeschlossen, wie es gelegentlich vorkommt!, verliert er alle fraktionsvermittelten Rechte. So entspricht es etwa einer langen parlamentarischen Tradition in Deutschland, daß fraktionslosen Abgeordneten die Mitarbeit in den Ausschüssen verwehrt wurde, weil deren Besetzung den Fraktionen zugewiesen ist 2 • Das Urteil des BVerfG im Fall Wüppesahl hat daran nur insofern etwas geändert, als es den völligen Ausschluß fraktionsloser Parlamentsmitglieder von der Ausschußarbeit für unvereinbar mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG erklärte3 • Eine Gleichstellung mit den fraktionsangehörigen Abgeordneten ist aber nicht erfolgt, denn das BVerfG hielt es nicht für verfassungsrechtlich geboten, dem fraktionslosen Abgeordneten auch ein Stimmrecht im Ausschuß einzuräumen4 • Noch immer bedeutet der Fraktionsausschluß und die damit regelmäßig einhergehende Abberufung aus den Ausschüssen, denen er bislang angehörte, daher, daß er die Vollmitgliedschaft im Ausschuß verliert. Ferner verliert er die Möglichkeit, über seine Kollegen Einfluß auf die Arbeit anderer Ausschüsse zu nehmen sowie über die Vertreter seiner Fraktion im Ältestenrat an der Steuerung des parlamentarischen Geschehens mitwirken zu könnens. Für alle Befugnisse, für die die 1 So wurden die beiden fraktionslosen Abgeordneten im 11. Bundestag, Wüppesahl und Frau Unruh, aus der Fraktion DIE GRÜNEN ausgeschlossen. 2 Kürschner, Statusrechte, S. 29, verfolgt den Ausschluß fraktionsloser Abgeordneter von der Ausschußarbeit bis auf die Zweite Kammer des Preußischen Landtags zurück. 3 BVerfGE SO, 188,221 ff. 4 BVerfGE 80,188,224 ff. S Nach BVerfGE 80, 188, 227, obliegt es den kraft ihres Amtes dem Ältestenrat angehörenden Mitgliedern (Präsident und seine Stellvertreter), da sie von allen Abgeordneten gewählt und zur unparteiischen Amtsführung verpflichtet sind, die Interessen aller Mitglieder des Bundestages, mithin auch der fraktionslosen, im Ältestenrat zur Geltung zu bringen. Gerade weil die Mitglieder des Präsidiums aber die Belange aller Abgeordneten berücksichtigen müssen, ist die Vertretung der Interessen von Fraktionslosen im Ältestenrat durch sie keine gleichwertige Alternative zu der Tätigkeit der Fraktionsvertreter im Ältestenrat, die einseitig die Interessen der Mitglieder ihrer Fraktion wahrnehmen können.

2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

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Geschäftsordnung nur eine kollektive Ausübung zuläßt, ist er darauf verwiesen, über Fraktionsgrenzen hinweg um Unterstützung für seine Ideen zu werben, um das Quorum zu erreichen. Schließlich verliert er auch die eher technische, aber gleichwohl nicht zu unterschätzende Unterstützung etwa durch die Hilfsdienste der Fraktion. Insgesamt wird daher durch einen Fraktionsausschluß die effektive Mandatsausübung eines Abgeordneten erheblich erschwert, im Parlament der Fraktionen kann der durch Ausschluß fraktionslos Gewordene zwangsläufig nur eine Außenseiterrolle spielen. Obwohl der Fraktionsausschluß sich also unmittelbar auf die Ausübung des Amtes auswirkt, wird er von der ganz einhelligen Auffassung dennoch zumindest unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig erachtet6 • Soweit ersichtlich, will nur Achterberg es der Fraktion generell verweigern, ein dissentierendes Mitglied aus der Fraktionsgemeinschaft auszuschließen, ohne dies jedoch näher zu begründen7 • Wie der Fraktionsausschluß verfassungsrechtlich zu bewerten ist, kann nur seine Einordnung in den größeren Zusammenhang von Beginn und Ende der Fraktionsmitgliedschaft erweisen.

2. Der Fraktionsausschluß als Pendant des Fraktionsaustritts a) Freiwilligkeit des Fraktionsbeitritts und Möglichkeit des Fraktionsaustritts Jede Untersuchung hierzu muß ihren Ausgangspunkt in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nehmen. Mit der Anerkennung, daß das Recht, sich einer Fraktion anzuschließen, im verfassungsmäßigen Status des Abgeordneten verankert ist, ist der schon erörterte Gedanke verbunden, daß der Beitritt zur Fraktion stets freiwillig erfolgt, weder das Gesamtparlament noch seine Partei können den Abgeordneten dazu zwingen. Sieht der Abgeordnete in politischen Grundsatzfragen die notwendige Übereinstimmung mit den übrigen Fraktionsmitgliedern nicht gesichert, kann er sich der Einbindung in die Fraktion schon zu Beginn der Wahlperiode entziehen. Ergibt sich der 6 StGH Bremen, StGHE 2, 19, 24; Hessischer VGH NVwZ 1984, 55; OVG Lüneburg, OVGE 4, 139, 143 f.; Badura in: Bonner Kommentar, Art. 38, Rdnr. 78; Maunz in: Maunz/Dürig, GG, Art. 38, Rdnr. 12; Stern, Staatsrecht Band I, § 23 I 2; Hauenschild, Wesen, S. 201 f.; Zuleeg, JuS 1978, 240, 248; Kasten, ZParl 1985,475,482; Erdmann, DÖV 1988, 907, 912. 7

Achterberg, Parlamentsrecht, S. 219.

§ 14: Der Fraktionsausschluß

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Dissens erst später, kann er sie verlassen, ohne hierdurch sein Mandat zu verlieren. Dem einzelnen Abgeordneten ist es damit jederzeit möglich, seine Mitgliedschaft in der Fraktion einseitig zu beenden. Als verfassungswidrig muß in diesem Zusammenhang § 32 a GemO Schleswig-Holstein bezeichnet werden8 • Danach müssen die kommunalen Vertreter, die derselben Partei angehören, eine Fraktion bilden. Diese entsteht von Gesetzes wegen mit der Wahl der Gemeindevertretung, es besteht also Zwangsmitgliedschaft. Solange er der Partei noch angehört, kann ein Gemeinderat demzufolge auch nicht aus der Fraktion austreten. Mit dem Zwang, erst seine Partei verlassen zu müssen, um sich der Fraktion entziehen zu können, wird dem Gemeindevertreter aber unangemessen viel zugemutet9 .

b) Freiwilligkeit der Aufnahme in die Fraktion und Möglichkeit des Fraktionsausschlusses Auf das Wesen der Fraktion als eines freiwilligen Zusammenschlusses von Abgeordneten muß sich dann jedoch in gleicher Weise die Fraktion selbst berufen können lo . Die Fraktion, die dem einzelnen fraktionsangehörigen Abgeordneten insoweit gegenübersteht, besteht aus der Gesamtheit der übrigen Abgeordneten, die sich zusammengeschlossen haben. Seiner Freiheit, aus der Fraktion auszutreten, muß daher deren Freiheit entsprechen, die Fraktionsgemeinschaft ohne ihn fortzusetzen. Es kann deswegen keinen Anspruch des Abgeordneten gegen seine Kollegen auf Mitgliedschaft in der Fraktion geben ll . Soweit zum verfassungsmäßigen Status auch das Recht auf Fraktionsbildung gerechnet wird l2, richtet sich dieser Anspruch nur gegen den Staat in Gestalt des Gesamtparlaments. Dieses darf eine Fraktionsbildung nicht verhindern oder übermäßig erschweren. Nicht jedoch kann der einzelne Abgeordnete aus Art. 38 GG ein Recht herleiten, daß andere Abgeordnete ihn in 8 Der Grundsatz des freien Mandats ist den Ländern auch für die Ausgestaltung der Gemeindeordnungen bundesverfassungsrechtIich in Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG vorgegeben. 9 Auch Bick, Ratsfraktion, S. 92; Zuleeg, HKWP 11, S. 145, 151, halten die Vorschrift für verfassungswidrig. 10 C. Arndt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 24. 11 StGH Bremen, StGHE 2,19,24. 12 BVerfGE 43, 142, 149; 70, 324, 354; 80, 188, 218.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

ihre Fraktion aufnehmen 13 • Die Entscheidung darüber müssen diese ihrerseits in Ausübung ihres freien Mandats treffen. Dem Recht des Abgeordneten, von vornherein der Fraktion nicht beizutreten, korrespondiert deshalb die Berechtigung für die Fraktion, einen Abgeordneten nicht aufzunehmen. Beide Möglichkeiten werden nur in sehr seltenen Fällen praktische Bedeutung erlangen, weil zu Beginn einer Wahlperiode in aller Regel noch ein grundsätzlicher Konsens unter den Abgeordneten besteht, die gerade erst gemeinsam für das Wahlprogramm ihrer Partei angetreten sind. Die Konstellation, daß die Fraktion sich weigert, einen Abgeordneten aufzunehmen, hat es immerhin im Falle des 1975 in den 7. Bundestag nachrückenden SPD-Abgeordneten Hans-Uwe Emeis gegeben l4 . Weitaus häufiger kommt es vor, daß sich der Dissens erst im Laufe der Wahlperiode entwickelt. Geht dieser Dissens so weit, daß das gegenseitige Vertrauen, auf dem die Fraktion als Gesinnungsgemeinschaft basiert, nicht mehr gewährleistet ist, muß diese grundsätzlich die Möglichkeit haben, sich von dem Abgeordneten zu trennen. Unter diesen Umständen findet der Anspruch jedes Abgeordneten, seine Fraktion unter Mitnahme des Mandats verlassen zu können, seine Entsprechung in der Befugnis der Fraktion, den Abgeordneten auszuschließen. Würde man ihr dies verwehren, würde die Effektivität der Fraktionsarbeit unweigerlich beeinträchtigt. Zum einen wäre die Vervielfachung ihrer Einflußmöglichkeiten durch Arbeitsteilung in der Fraktion nur noch bedingt gegeben, da man bei dem grundsätzlich dissentierenden Abgeordneten nicht mehr davon ausgehen kann, daß er die Positionen seiner Fraktionskollegen in seine Arbeit im Ausschuß einbezieht l5 • Darüber hinaus könnte sich die Fraktionsmitgliedschaft eines Abgeordneten, der nicht mehr das Vertrauen seiner Kollegen genießt, aber auch negativ auf die vorbereitende Tätigkeit der Fraktion auswirken. Die Fraktionsmitgliedschaft vermittelt ihm nämlich das Recht, an allen Fraktionssitzungen teilzunehmen 16. Da in den Fraktionsberatungen angestrebt wird, die vielen Einzelmeinungen zu einer einheitlichen Auffassung zu bündeln, ist es notwendig, daß dort unbefangen und offen diskutiert werden kann, um diese gemeinsame Position zu erarbeiten. Die bloße Anwesenheit 13 Stern, Staatsrecht Band I, § 2312 f; Arndt/Schweitzer, ZPar11976, 71, 82. 14 Sten.Ber. 7. WP./208. Sitzung/10.12.1975/14315. 15 Im Anschluß an die Entscheidung BVerfGE 80, 188 ff., die den verfassungsrechtlichen Status eines Abgeordneten erstmals auf die Mitgliedschaft in einem Ausschuß erstreckte, wird man einen Abgeordneten, solange er der Fraktion angehört, zwar möglicherweise aus einem Ausschuß abberufen und in einen anderen Ausschuß entsenden können, es dürfte dagegen ausscheiden, ihn von jeder Ausschußarbeit fernzuhalten. 16 Zuleeg, JuS 1978,240,243.

§ 14: Der Fraktionsausschluß

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eines Abgeordneten, auf den sich die anderen nicht mehr verlassen können, kann aber dazu führen, daß die vertrauliche Atmosphäre, die hierfür benötigt wird, nicht mehr sichergestellt ist, so daß die Bereitschaft zur Sachdiskussion nachläßt 17 • Jedenfalls diejenigen Angelegenheiten, die einer vertraulichen Behandlung bedürfen, können dann nicht mehr in der gebotenen Art und Weise erörtert werden. Letzteres hat dann auch Rückwirkungen auf das Parlament, weil eine sachgerechte Behandlung der Beratungsgegenstände dort nur erfolgen kann, wenn die einzelnen Fraktionen mit ausreichend und vertrauensvoll diskutierten Vorstellungen an den Beratungen teilnehmen l8 • Es kann den Fraktionen daher auch mit Rücksicht auf die Belange des Parlaments nicht grundsätzlich verwehrt werden, Abgeordnete auszuschließen.

3. Die materiellen Anforderungen an den Fraktionsausschluß a) Der Fraktionsausschluß nur bei Vorliegen eines wichtigen Grundes aa) Die Notwendigkeit einer Rechtfertigung vor Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Die prinzipielle Zulassung des Fraktionsausschlusses bedeutet aber keineswegs, daß dieser völlig im Belieben der Fraktion stünde und einer rechtlichen Beurteilung entzogen wäre. Angesichts der massiven Nachteile, die diese Maßnahme für die Mandatsausübung des davon betroffenene Abgeordneten nach sich zieht 19, ist vielmehr zu fordern, daß hierfür gewisse Voraussetzungen erfüllt sein müssen20 • In erster Linie ist es Sache der fraktionsangehörigen Abgeordneten selbst, diese Voraussetzungen in der Fraktionssatzung zu vereinbaren. Bestimmungen dieser Art sind aber in den Geschäftsordnungen der Bundestagsfraktio17 Hessischer VGH, HSGZ 1987, 209, 210. 18 Diese Konsequenz wird vom Hessischen VGH,HSGZ 1987, 209, 210, zu Recht herausgestellt. 19 Nach W. Schmidt, Der Staat 9 (1970), 481, 482, kann überhaupt nur im Zusammenschluß zur Fraktion sinnvolle parlamentarische Arbeit geleistet werden. Für Hauenschild, Wesen, S. 202, ist der fraktionslose Abgeordnete für die parlamentarische Arbeit ohne nennenswerte Bedeutung. 20 Dasselbe wird man dann auch für die Entscheidung einer Fraktion verlangen müssen, einen Abgeordneten nicht aufzunehmen, der für die Partei kandidiert hat, deren Abgeordnete die Fraktion bilden.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

nen kaum zu finden. Eine Ausnahme bildet insoweit § 3 der Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion. Neben einigen verfahrensmäßigen Anforderungen wird hier in materieller Hinsicht der Ausschluß vom Vorliegen eines wichtigen Grundes abhängig gemacht2!. Das gleiche Kriterium, die Existenz eines wichtigen Grundes, wird von Rechtsprechung und Literatur auch darüber hinaus gemeinhin zugrundegelegt, wobei dieser als gegeben angesehen wird, wenn das Vertrauensverhältnis zwischen Abgeordnetem und Fraktion nachhaltig gestört ist22 • Hier zeigt sich nun, daß der Fraktionsausschluß doch nicht uneingeschränkt das Spiegelbild des Fraktionsaustritts darstellt. Der Austritt des einzelnen Abgeordneten aus der Fraktion wird ja an keinerlei Erfordernisse gebunden. Diese Differenzierung ist sachgerecht, weil die Fraktion nicht in gleicher Weise des Schutzes bedarf wie der Abgeordnete. Im Regelfall wird sie durch einen Fraktionsaustritt zwar in ihrem personellen Bestand und damit in ihrer Bedeutung im Parlament geschwächt, aber in ihrer Funktionsfähigkeit nicht beeinträchtigt. Auch wenn dadurch einmal ausnahmsweise die Parlamentsmehrheit verloren gehen sollte, bleibt die Fraktion doch in ihrem Wesen unangetastet und kann weiterhin alle parlamentarischen Befugnisse ausüben, die den Fraktionen zugewiesen sind. Von daher sind die Folgen eines Fraktionsaustritts für sie nicht annähernd so gravierend wie die Konsequenzen, welche ein Fraktionsausschluß für den Abgeordneten hat. Lediglich in dem Grenzfall, wo ein Fraktionsaustritt dazu führt, daß die verbleibenden Abgeordneten die Fraktionsmindeststärke nicht mehr erreichen, ist eine Vergleichbarkeit beider Situationen gegeben. In diesem besonderen Fall muß dann ausnahmsweise auch der Austritt vom Vorliegen eines wichtigen Grundes abhängig gestellt werden.

3 GO FDP-Fraktion: "Der Ausschluß eines Mitglieds ... ist nur aus wichtigem Grunde auf Antrag von mindestens fünf Mitgliedern möglich. Der den Ausschluß ausprechende Beschluß bedarf der Mehrheit von zwei Dritteln der Fraktionsmitgliedern. Dem Betroffenen muß vorher Gehör gewährt werden." 22 Erdmann DÖV 1988, 907, 912; J. Hofmann, RiA 1987, 109, 111; OVG Nordrhein-Westfalen, DÖV 1989,592, 593. In die gleiche Richtung gehen Stimmen, die einen Fraktionsausschluß bei einem Abweichen in zentralen Fragen zulassen wollen: Hessischer VGH NVwZ 1984, 55; Rothe, DVBI. 1988, 382, 385. Einen etwas anderen Akzent setzen demgegenüber Hauenschild, Wesen, S. 202, und Zuleeg, JuS 1978, 240, 243, die eine grobe Schädigung der Fraktion fordern. Vermittelnd Stern, Staatsrecht Band I, § 23 I 2 f; Kasten, Ausschußorganisation, S. 164, wonach die weitere Zugehörigkeit zur Fraktion für diese unzumutbar oder schädigend sein müsse. 21 §

§ 14: Der Fraktionsausschluß

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bb) Die gerichtliche Kontrolldichte Der Fraktionsausschluß ist demnach nur aus wichtigem Grund zulässig. Da er nicht nur die faktischen Wirkungsmöglichkeiten, sondern schon wegen des Verlusts der Vollmitgliedschaft im Ausschuß auch die innerparlamentarische Rechtsstellung des Abgeordneten beeinträchtigt, muß die Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme grundsätzlich auch einer gerichtlichen Überprüfung zugeführt werden können 23 • Hierbei ist allerdings eine wesentliche Einschränkung zu machen. Ein Fraktionsausschluß erfolgt ja, weil die Fraktion dem betreffenden Abgeordneten kein Vertrauen mehr entgegenbringt, sei es, weil sie die notwendige politische Übereinstimmung nicht mehr gewahrt sieht oder weil sie aufgrund seines sonstigen Verhaltens von ihm enttäuscht ist 24 • Immer sind es also politische oder persönliche Bewertungen, die ausschlaggebend für diese Entscheidung sind. Erwägungen dieser Art sind aber nicht objektivierbar und deshalb der gerichtlichen Kontrolle auch nicht in vollem Umfang zugänglich. Die Beurteilung, ob das Vertrauen der Fraktion zu einem Abgeordneten so nachhaltig erschüttert ist, daß sein Verbleiben in der Fraktion diese bei der Wahrnehmung ihrer Funktionen behindern würde, muß der Fraktion selbst überlassen bleiben, die dafür fraktionsspezifische Maßstäbe anlegen kann 25 . Für die Anwendung des unbestimmten Rechtsbegriffs "wichtiger Grund" ist der Fraktion daher ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen. Die gerichtliche Kontrolldichte ist

23 Für Parlamentsabgeordnete kann dies im Wege einer Organklage des Abgeordneten gegen die ausschließende Fraktion geschehen, die vor dem jeweiligen Verfassungsgericht zu erheben ist (Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 28). Mitglieder von Kommunalvertretungen können gegen einen Fraktionsausschluß dagegen vor den Verwaltungsgerichten vorgehen. Als Unterfall der Kommunalverfassungsstreitigkeit sind diese Fälle mittels der allgemeinen Leistungsklage zu verfolgen (Zu leeg, JuS 1978, 240, 241; Erdmann, DÖV 1988, 907, 909). 24 In der Entscheidung des Hessischen VGH, HSGZ 1987, 209, 210, wurden beispielsweise der Verstoß gegen die in einer Fraktion erforderliche Vertraulichkeit sowie die Begehung von Wahlmanipulationen als Ausschlußgründe erörtert. Um Indiskretionen ging es auch in den Fällen VG Schleswig, SchlHA 1977,105 ff., und VG Hannover, Beschluß vom 27.7.1987, 9 VG D 10/87, zitiert nach Erdmann, DÖV 1988, 907. Nicht immer muß also ein pOlitischer Dissens in Grundsatzfragen zwischen Abgeordnetem und Fraktion bestehen, auch persönliches Fehlverhalten kann einen wichtigen Grund für den Ausschluß eines Abgeordneten bilden. Entscheidend ist, daß das Vertrauensverhältnis so gestört ist, daß eine Zusammenarbeit den anderen Abgeordneten nicht weiter zugemutet werden kann. 25 Erdmann, DÖV 1988, 907, 912.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

insoweit zurückgenommen, die Entscheidung der Fraktion, eines ihrer Mitglieder auszuschließen, ist nur beschränkt gerichtlich überprüfbar 26 .

b) Die konkreten Folgernngen aus der Annahme eines Beurteilungsspielraums aa) Keine Akzessorietät zum Parteiausschluß Diese Anerkennung einer eigenen Beurteilungsbefugnis der Fraktion wirkt sich in verschiedener Hinsicht aus. Zum einen hat sie zur Folge, daß der Fraktionsausschluß parteiangehöriger Abgeordneter nicht akzessorisch dem Ausschluß aus der Partei folgt27. Den entgegengesetzten Standpunkt hat bezüglich eines Gemeinderats allerdings das VG Schleswig bezogen28 . Nach seiner Auffassung kann ein Fraktionsmitglied, solange es der politischen Partei angehört, nicht aus der Fraktion ausgeschlossen werden, die von den Abgeordneten dieser Partei gebildet wird. Auch in der Literatur wird gelegentlich - und dann auch für Parlamentsabgeordnete - angenommen, der Fraktionsausschluß sei nur rechtmäßig, wenn er in Übereinstimmung mit dem Ausscheiden aus der Partei erfolge 29 • Dieser Meinung kann nur insoweit beigepflichtet werden, als der Ausschluß eines Abgeordneten aus der Partei nach den Vorschriften der §§ 10 Abs. 4 und 5, 14 PartG sicher einen wichtigen Grund darstellt, ihn auch aus der Fraktion auszuschließen 30 • Da die Zugehörigkeit zur gleichen Partei das formale Anzeichen für die gemeinsame politische Überzeugung ist, rechtfertigt der Ausschluß aus der Partei, der seinerseits vor den Zivilgerichten -

26 Einen Beurteilungsspielraum nehmen an Erdmann, DÖV 1988, 907, 912; J. Hofmann,

RiA 1987, 109, 111; Biek, Ratsfraktion, S. 165; im Ergebnis auch Schuegraf, BayVBI. 1969, 116,

118, und Tschermak von Seysenegg, Fraktionen, S. 219 f. Verfehlt ist es daher, wenn Weber/ Eschmann, JuS 1990, 659, 661, prüfen, wie weit sich der abweichende Abgeordnete von der Fraktionslinie entfernt hat, und zu dem Ergebnis gelangen, der Dissens sei nicht so schwerwiegend, daß er einen Fraktionsausschluß rechtfertigen würde. 27 Erdmann, DÖV 1988, 907, 913; Zuleeg, JuS 1978, 240, 243; Hauenschild, Wesen, S. 202; Bick, Ratsfraktion, S. 163; Hagelstein, Rechtsstellung, S. 178 f. 28 VG Schleswig, SchlHA 1977, 105, 106. 29 So insbesondere Borchert, AöR 102 (1977), 210, 230. 30 Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 28. Nach Bick, Ratsfraktion, S. 163, kann die Fraktionsgeschäftsordnung auch zulässigerweise das automatische Erlöschen der Fraktionsmitgliedschaft bei Parteiausschluß anordnen.

§ 14: Der Fraktionsausschluß

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gleichfalls nur eingeschränkt - überprüft werden kann 31 , die Annahme, daß keine Übereinstimmung mehr zwischen dem Abgeordneten und seiner Fraktion besteht. Das gleiche gilt, wenn der Abgeordnete selbst aus der Partei ausgetreten ist, auch in diesem Fall kann ihn die Fraktion im Gegenzug ausschließen. Jedoch kann die Fraktion auch Mitglieder ausschließen, die der entsprechenden Partei weiterhin angehören. § 10 Abs. 4 PartG erlaubt einen Ausschluß nur, wenn der Partei ein schwerer Schaden zugefügt wurde. Eine Fraktion kann aber das Vertrauen in eines ihrer Mitglieder auch schon bei Vorfällen verlieren, die diese hohe Schwelle nicht ereichen. Die Vorschrift im Parteiengesetz ist zugeschnitten auf die großen Volksparteien mit einer Vielzahl von Mitgliedern, die oft nur in sehr geringem Umfang aktiv mitwirken. Hier ist es angemessen, den Ausschluß nur bei wirklich groben Verfehlungen zuzulassen. Die Fraktionen stellen aber sehr viel kleinere Einheiten dar, bei denen die einzelnen Mitglieder auf eine sehr intensive Zusammenarbeit angewiesen sind. Infolgedessen kann die Fraktion, soll sie ihre Aufgaben ungestört erfüllen, nur sehr viel weniger Konflikte in den eigenen Reihen ertragen als die Partei, ihr muß daher die Möglichkeit des Ausschlusses auch schon in Fällen eröffnet sein, in denen ein Parteiausschluß nicht in Betracht kommt. Umgekehrt muß es der Fraktion, etwa weil sie auf den Sachverstand gerade dieses Abgeordneten besonderen Wert legt, auch möglich sein, ihn trotz eines Ausschlusses oder Austritts aus der Partei weiterhin zu ihren Mitgliedern zu zählen32 • Die rechtliche Selbständigkeit der Fraktion von der Partei hat die Folge, daß auch das Ende der Fraktionsmitgliedschaft vollkommen unabhängig ist von der Beendigung der Mitgliedschaft in der politischen Partei33 . Diejenigen, die zum gegenteiligen Ergebnis gelangen, ge31 von Münch, Grundbegriffe, Rdnr. 95. Grund für die eingeschränkte Kontrolle ist hier die Vereinsautonomie, da die Parteien privatrechtliche Vereine darstellen. Angesichts der Nähe der Fraktion zu einem (öffentlich-rechtlichen) Verein wird der Beurteilungsspielraum der Fraktion teilweise auch auf eine Parallele zum Vereinsrecht gestützt. So Erdmann, DÖV 1988,907,913; Schuegraf, BayVBI. 1969, 116, 117 f. 32 Zuleeg, JuS 1978,240,243; Erdmann, DÖV 1988, 907, 914, weisen zutreffend darauf hin, daß die Unabhängigkeit der Fraktion gefährdet werden könnte, wenn die Partei aus für sie nicht ersichtlichen Grunden ein Fraktionsmitglied ausschließt. Das freie Mandat, das auch der Fraktion gegenüber der Partei zusteht, läßt es nicht zu, daß die Partei Einfluß nimmt auf die personelle Zusammensetzung der Fraktion. 33 Wie der StGH Bremen, StGHE 2, 19, 24, richtig festgestellt hat, besteht nicht einmal eine Rechtspflicht der Fraktion, vor dem Ausschluß eines Abgeordneten ein Gremium der Partei anzurufen. Weitergehend hält Bick, Ratsfraktion, S. 164, derartige Zustimmungserfordernisse der Partei sogar für unzulässig, weil die Fraktionen sich ihres Rechts auf ein freies,

2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

hen dabei stets von der Vorstellung aus, die Mitglieder einer Partei wären gezwungen, eine Fraktion zu bilden und könnten auch nicht unter Beibehaltung der Parteizugehörigkeit aus der Fraktion austreten 34 • Würde diese Prämisse zutreffen, wäre es allerdings angesichts der Spiegelbildlichkeit von Austritt und Ausschluß nur konsequent, auch die Fraktion bei ihren Ausschlußrnaßnahmen an das Merkmal der Parteizugehörigkeit zu binden. Wie schon festgestellt wurde, ist ein solches Verständnis aber mit der Garantie des freien Mandats unvereinbar. Eine Akzessorietät im beschriebenen Sinne besteht also nicht. Verfassungsrechtlichen Bedenken ist auch insofern der erst nach der Entscheidung des VG Schleswig in Kraft getretene § 32 a GemO SchleswigHolstein ausgesetzt, der, anknüpfend an den schon kritisierten Zwang in die Fraktion auch die Akzessorietät ausdrücklich anordnet: Nach Abs. 1 Nr. 1 bilden in der Gemeindevertretung die Gemeindevertreter eine Fraktion, die derselben Partei angehören, nach Abs. 2 scheiden Fraktionsmitglieder nach Abs. 1 Nr. 1 aus der Fraktion aus, wenn sie aus der Partei ausscheiden. Da schon die Zwangsmitgliedschaft von Parteimitgliedern in der Fraktion als Verstoß gegen das freie Mandat der Gemeindevertreter angesehen werden mußte, gilt das gleiche auch für den Zwang, dem die Fraktion ausgesetzt wird, indem sie Abgeordnete bei bestehender Parteimitgliedschaft nicht ausschließen kann bzw. bei deren Ausscheiden aus der Partei ohne eigenes Zutun Mitglieder verliert.

bb) Jedes Verhalten des Abgeordneten als möglicher Anknüpfungspunkt für den Ausschluß Der Beurteilungsspielraum der Fraktion bedeutet auch, daß diese frei ist, jedes Verhalten des betreffenden Abgeordneten zum Anlaß für einen Ausschluß zu nehmen. Insbesondere kann sie mit dieser Maßnahme auch auf ein Handeln oder Unterlassen reagieren, das sich als Ausübung des Manungebundenes Mandat nicht begeben dürften, indem sie ihre Entscheidung von demokratisch nicht legitimierten Personen abhängig machen. 34 So ausdrücklich das VG Schleswig, SchlHA 1977, 105. Borchert, AöR 102 (1977), 210, 230, schließt sich dieser Auffassung mit dem Hinweis an, die Stellung der Fraktion als demokratisch legitimierte Repräsentanz der Partei in der Vertretungskörperschaft müßte beeinträchtigt werden, wenn sich einzelne Parteimitglieder ohne weiteres bei bestehender Parteimitgliedschaft ihrer eigentlichen Fraktion entziehen könnten.

§ 14: Der Fraktionsausschluß

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dats darstellt, also etwa auf eine Rede im Plenum oder eine Abstimmung. Dieses Verhalten selbst steht zwar unter dem Schutz des freien Mandats. Die insofern garantierte Freiheit von Aufträgen und Weisungen heißt aber nur, daß der Abgeordnete von der Fraktion nicht gehindert werden kann, seiner Überzeugung zu folgen, nicht jedoch, daß die Fraktion nicht nachträglich Sanktionen verhängen könnte. Die Gewährleistung des freien Mandats steht nur einer vorherigen Androhung des Fraktionsausschlusses für den Fall eines konkreten abweichenden Verhaltens entgegen. Eine solche Drohung kann den Abgeordneten dazu veranlassen, gegen seine persönliche Überzeugung zu handeln, sie ist deshalb als unzulässiger Fraktionszwang zu bezeichnen. Der Fraktionsausschluß selbst kann hingegen auf ein derartiges dissentierendes Verhalten im Parlament gestützt werden. Bisweilen wird in der Literatur schließlich der Versuch unternommen, den Spielraum der Fraktion dadurch einzuengen, daß ein anhaltendes, über den Einzelfall hinausgehendes Abweichen von der Linie der Fraktion gefordert wird35 . Jedoch kann unter Umständen auch schon ein einmaliges Verhalten das Vertrauen der Fraktionskollegen nachhaltig erschüttern. Zu denken ist etwa an Fälle, in denen ein Abgeordneter einem zentralen Gesetzesvorhaben seine Zustimmung versagt, das die Fraktion durchsetzen will, oder er als Angehöriger einer Regierungsfraktion selbst einräumt, den Bundeskanzler nicht gewählt bzw. ein Mißtrauensvotum gegen ihn unterstützt zu haben. In welchen Fällen schon ein einmaliges Ausbrechen aus der Fraktionsdisziplin so schwer wiegt, daß seine Entfernung aus der Fraktion geboten ist, kann wiederum nur diese selbst beurteilen. Das Erfordernis eines anhaltenden Dissenses ist daher kein geeignetes Kriterium, um den Beurteilungsspielraum der Fraktion zu begrenzen.

4. Die Kontrollmöglichkeiten durch die Gerichte Angesichts dieses weitgehenden Beurteilungsspielraums stellt sich die Frage, ob dadurch die gerichtliche Überprüfbarkeit des Fraktionsausschlusses nicht völlig entwertet wird. Jedoch unterliegt die Maßnahme in dreierlei Hinsicht der Kontrolle durch das angerufene Gericht: 35 Grimm, Pilrlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 28; C. Amdt, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 24. Ähnlich Kasten, Ausschußorganisation, S. 165, der ein einzelnes Abstimmungsverhalten nicht ausreichen lassen will.

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

a) Die verfahrensrechtlichen Anforderungen VoU überprüfbar ist zunächst die Beobachtung der verfahrensrechtlichen Anforderungen36. Gerade weil in materieUer Hinsicht kaum Bindungen bestehen, erhält die Einhaltung eines ordnungsgemäßen Verfahrens für den Schutz des Abgeordneten einen besonderen Stellenwert. So läßt sich aus dem Demokratieprinzip ableiten, daß der Fraktionsausschluß nicht von der Fraktionsführung angeordnet werden kann, sondern eines Mehrheitsbeschlusses der Mitglieder bedarf37 • Dabei ist es nicht erforderlich, die Geltung des Demokratieprinzips für die Fraktion mittelbar auf Art. 21 Abs. 1 Satz 3 GG zu stützen38 . Da die Fraktionen im Gegensatz zu den Parteien Teil der organisierten Staatlichkeit sind, gilt das Demokratieprinzip für sie unmittelbar. Was für die Parteien als staatsfreie Organisationen ausdrücklich angeordnet werden mußte, ist auf die Fraktionen ohne weiteres anzuwenden. Wegen der grundlegenden Bedeutung einer solchen Entscheidung reicht hierfür nicht eine möglicherweise zufällige Mehrheit der anwesenden Fraktionsmitglieder aus, der Beschluß muß vielmehr von der Mehrheit der Mitglieder dieser Fraktion gefaßt werden. Eine darüber hinausgehende qualifizierte Mehrheit der Fraktionsmitglieder, wie sie § 3 der Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion vorschreibt, erhöht den Schutz des Abgeordneten, ist aber rechtlich nicht gefordert 39 . Als weitere Anforderungen an das Verfahren des Fraktionsausschlusses sind aus den Rechtsstaatsprinzip die dem Mehrheitsbeschluß vorangehende Anhörung des betroffenen Abgeordneten40 sowie die Mitteilung der den Ausschluß tragenden Gründe41 abzuleiten.

36 Schuegraf, BayVBI. 1969, 116, 118; J. Hofmann, RiA 1987, 109, 111. 37 StGH Bremen, StGHE 2,19,24; Hauenschild, Wesen, S. 202; Zuleeg, JuS 1978, 240, 244; Erdmann, DÖV 1988, 907, 910. 38 So aber Erdmann, DÖV 1988, 907, 910. Angesichts der rechtlichen Trennung von Partei und Fraktion ist eine Anwendung dieser Vorschrift eher bedenklich. 39 Das BVerfG würde daher im Falle eines Organstreits auch nicht prüfen, ob die in § 3 Geschäftsordnung der FDP-Bundestagsfraktion geforderte Mehrheit von zwei Dritteln vorgelegen hat. 40 Hauenschild, Wesen, S. 202; Erdmann, DÖV 1988, 907, 910; Hagelstein, Rechtsstellung, S.I84. 41 Rothe, DVBI. 1988, 382, 385; Erdmann, DÖV 1988, 907, 910.

§ 14: Der Fraktionsausschluß

257

b) Der zutreffende Sachverhalt

Ferner kann das Gericht in vollem Umfang überprüfen, ob die Fraktion ihrer Entscheidung einen zutreffenden Sachverhalt zugrundegelegt hat4 2 • Die Fraktion ist zwar frei, wie sie ein Verhalten des Abgeordneten bewertet, ob dieses Verhalten aber tatsächlich vorliegt, ist eine getrennt zu betrachtende Frage, die umfassender gerichtlicher Kontrolle zugänglich ist.

c) Der Ausschluß sachfremder Motive

Schließlich kann die Entscheidung aber auch materiell noch daraufhin kontrolliert werden, ob nicht sachfremde Motive eine Rolle gespielt haben43 • Die für den Fraktionsausschluß angeführte Begründung darf nicht völlig willkürlich erscheinen, die Störung des Vertrauensverhältnisses muß sich vielmehr mit einer gewissen Plausibilität aus dieser Begründung ergeben, ohne daß hier jedoch zu hohe Anforderungen gestellt werden dürfen.

5. Fazit Wenn auch die Kritik von Grimm, der Fraktionsausschluß stehe nach bisher vorherrschender Anschauung im rechtlich nicht weiter begrenzten Belieben der Fraktion44, sicherlich überspitzt ist, so ist doch zuzugeben, daß die rechtlichen Voraussetzungen für einen Fraktionsausschluß sehr niedrig anzusetzen sind und die Intensität einer gerichtlichen Kontrolle nur schwach ausgebildet ist. Die von Grimm gesehene Notwendigkeit einer rechtlichen Regelung des Fraktionsausschlusses zum Schutze des Abgeordneten, ähnlich wie auch der Parteiausschluß im Parteigesetz bestimmten Anforderungen unterworfen wurde, ist aber nicht gegeben. Zum einen könnte eine rechtliche Regelung auch nur in Form einer Generalklausel erfolgen, die das schon jetzt geltende Erfordernis eines wichtigen Grundes festschreiben 42 Erdmann, DÖV 1988, 907, 913; J. Hofmann, RiA 1987, 109, 112. 43 Schuegraf, BayVBI. 1969, 116, 118; J. Hofmann, RiA 1987, 109, 112. 44

Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 27.

17 Demmler

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2. Kapitel: Der Status der Fraktionen nach dem Grundgesetz

würde. An dem Beurteilungsspielraum, den die Fraktionen bei der Ausfüllung dieses Begriffes haben müssen, könnte auch eine solche Bestimmung nichts ändern. Von daher würde die vorgeschlagene Verrechtlichung kaum mehr an Rechtssicherheit bringen. Außerdem ist zu beachten, daß eine Fraktion, die ein Mitglied ausschließt, dadurch auch selbst nachteilig betroffen ist, weil sie ihre personelle Stärke verringert45• Schon aus diesem Grund wird sie sehr sorgfältig abwägen, ob der bestehende Dissens so schwer wiegt, daß er einen Ausschluß notwendig macht. So gesehen sorgen die ganz eigennützigen Interessen der Fraktion dafür, daß ein Abgeordneter wirklich nur aus wichtigem Grund ausgeschlossen wird46 •

45 Weit mehr als im Parlament spielt diese Erwägung bei den Fraktionen in Kommunalvertretungen eine Rolle, weil wegen der kleineren MitgIiedenahl schon der Ausschluß eines Abgeordneten sich auf das Stärkeverhältnis der Fraktionen und damit auf die Verteilung der Ausschußsitze auswirken kann. 46 In diesem Sinne auch Hauenschild, Wesen, S. 202;Tschermak von Seysenegg, Fraktionen, S. 220.

3. Kapitel

Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse zwischen Abgeordnetem und Fraktion

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte

von Fraktionen

1. Eigene Rechte der Fraktionen nach der Geschäftsordnung Nach der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages stehen den Fraktionen eigene Rechte zu. Rechtsträger ist die Fraktion selbst, nicht etwa sind es die einzelnen ihr angehörenden Abgeordneten, die lediglich gehalten wären, diese Befugnisse gemeinsam als Fraktion auszuüben'. Dies ergibt sich schon unmittelbar aus dem Wortlaut der entsprechenden Geschäftsordnungsbestimmungen, der die Fraktionen selbst als Träger dieser Rechte nennt. Die Reform der Geschäftsordnung im Jahre 1980 hat die rechtliche Selbständigkeit der Fraktionsbefugnisse in besonderem Maße verdeutlicht. Bis dahin stand eine Reihe wichtiger Befugnisse, wie das Recht, selbständige Anträge (einschließlich der Gesetzentwürfe), Große und Kleine Anfragen zu stellen, nämlich soviel Mitgliedern des Bundestages zu, wie einer Fraktionsstärke entsprach2 . Diese Kompetenzen waren also nicht den Fraktionen als solchen zugewiesen, sie konnten von Fraktionen nur wahrgenommen I So auch unmißverständlich Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 116 f. Meist wird dies in der Literatur als so selbstverständlich vorausgesetzt, daß darauf überhaupt nicht mehr besonders eingegangen wird. Vergl. etwa Achterberg, Parlamentsrecht, S. 290; Kretschmer, Fraktionen, S. 49. Auch die Rechtsprechung des BVerfG geht ohne weiteres davon aus, daß die Fraktionen durch die Geschäftsordnung mit eigenen Rechten ausgestattet werden (etwa BVerfGE 1, 372, 378; 20,56,104). 2 §§ 97 Abs. 1. 75 Abs. 3 und 4 GOßT 1970.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

werden, weil diese voraussetzungsgemäß über die erforderliche Stärke verfügten. Rechtlicher Ansatzpunkt war jedoch allein das Erreichen des Quorums. Auch damals schon stand in der Praxis allerdings die Ausübung dieser Kompetenzen durch Fraktionen ganz im Vordergrund. Bei der Neufassung der Geschäftsordnung hat man sich deshalb dazu entschlossen, diesen faktischen Zustand auch rechtlich anzuerkennen3 • Seither stehen diese Rechte einerseits den Fraktionen und andererseits fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages (also wie bisher der der Fraktionsmindeststärke entsprechenden Zahl von Abgeordneten) zu. Daneben gibt es aber auch Rechte, die bereits vor 1980 den Fraktionen selbst und nur diesen zustanden, wie etwa das Recht, die Mitglieder der Ausschüsse zu benennen4 • Daß es sich um Zuständigkeiten der Fraktion als einem rechtlich selbständigen Träger handelt, läßt sich auch an der Art und Weise ihrer praktischen Wahrnehmung erkennen. So entscheiden die Fraktionen mehrheitlich, ob eine bestimmte Befugnis ausgeübt werden soll. Auch über die Verteilung der Ausschußsitze erfolgt, wenn ausnahmsweise kein Einvernehmen erzielt werden kann, eine Kampfabstimmung5 • Es ist also möglich, daß die Gesamtfraktion bestimmte Kompetenzen ausübt, obwohl nicht alle Fraktionsmitglieder damit übereinstimmen6 • Dies wäre aber unzulässig, wenn die Fraktion lediglich gleichsam der Name wäre, unter dem die fraktionsangehörigen Abgeordneten als die eigentlichen Rechtsträger zur gemeinsamen Ausübung ihrer Rechte auftreten. Gerade die Tatsache, daß der Wille der Mehrheit mit dem Gesamtwillen der Fraktion gleichgesetzt wird, macht deutlich, daß die Wahrnehmung der Befugnisse auf einem eigenen Willen der Fraktion beruht, nicht auf dem der einzelnen Abgeordneten, es sich mithin um eigene Rechte handele. Damit im Einklang steht auch die schon 3 Schindler, Datenhandbuch Band I, S. 899, beschreibt diese Änderung daher auch als "der Praxis folgend". 4 Die Zuweisung fand sich bereits in § 28 Abs. 2 der GO des Weimarer Reichstages von 1922, dann seit 1949 in § 68 Abs. 2 der GO des Bundestages. Seit der Reform von 1980 ist diese Regelung in § 57 Abs. 2 GOBT enthalten. 5 Vergl. etwa das Beispiel der FDP-Fraktion an läßlich der Bildung der Ausschüsse zu Beginn der 10. Wahlperiode bei Dexheimer, Die Mitwirkung der Bundestagsfraktionen bei der Besetzung der Ausschüsse, FG Blischke, 1982, S. 259, 274. 6 Bei kleinen Fraktionen kann dies sogar dazu führen, daß sich bei der Abstimmung in der Vollversammlung der Fraktion nicht einmal so viele Abgeordnete für eine bestimmte Vorlage aussprechen müssen, wie es der Fraktionsmindeststärke entspricht. Sind diese Abgeordneten nur in der Fraktion in der Mehrheit geblieben, so daß die Fraktionsvollversammlung die Vorlage annimmt, wird die Fraktion sie gleichwohl einbringen. 7 Dieser Gesichtspunkt ist auch für Steiger, Organisatorische Grundlagen, S. 116 f., entscheidend, von eigenen Zuständigkeiten der Fraktion auszugehen.

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen

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vor 1980 ständige Übung, daß die von Fraktionen ausgehenden Initiativen nur vom Fraktionsvorsitzenden oder einem von der Fraktion ermächtigten Mitglied unterzeichnet sein müssen, damit der Bundestag sie als wirksam behandelt 8 • Für die fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages treffen diese Besonderheiten nicht zu. Hier fmden sich immer so viele Abgeordnete zusammen, die die entsprechende Befugnis übereinstimmend ausüben wollen. Der Bundestag kontrolliert dies auch, indem er darauf besteht, daß die Vorlagen die entsprechende Anzahl von Unterschriften aufweisen. Von daher liegt es hier sehr viel näher als bei der Fraktion, davon auszugehen, daß Rechtsträger der einzelne Abgeordnete ist, dem die Ausübung lediglich erschwert wird, indem er die Unterstützung von anderen Abgeordneten benötigt. Auch hier kann aber nicht von einer bloßen Ausübungsregel für eine an sich dem einzelnen Abgeordneten zustehende Befugnis gesprochen werden. Eine derartige Deutung würde die tatsächliche Sachlage eher verhüllen als erklären. Der einzelne Abgeordnete hat eben gerade nicht die Möglichkeit einen Gesetzentwurf im Plenum einzubringen oder eine Große oder Kleine Anfrage zu stellen, dies kann außer den Fraktionen nur eine Gruppe von Abgeordneten in Fraktionsstärke. Infolgedessen ist es allein sachgerecht, auch insoweit die Gruppe selbst als Träger des Rechts anzusehen, der einzelne hat nur ein Mitwirkungsrecht daran 9• Auch schon vor der Reform von 1980 handelte es sich bei diesen Befugnissen demnach um Gruppenrechte.

2. Die Möglichkeiten einer verfassungsrechtlichen Begründung von Fraktionsrechten Verfügen die Fraktionen somit nach der Geschäftsordnung über eigene Zuständigkeiten, so erhebt sich die Frage nach deren verfassungsrechtli8 Ritzel/Bücker, HdbPP, § 76 GOBT, Anm. I c; Troßmann/Roll, Parlamentsrecht, § 76, Rdnr. 5. In den Geschäftsordnungen der Länderparlamente ist teilweise sogar ausdrücklich bestimmt, daß die Unterschrift des Fraktionsvorsitzenden ausreicht. VergI. etwa für die Einbringung von Gesetzen §§ 52 Abs. 1 Satz 2 GO Bayern, 81 Abs. 2 GO Brandenburg, 37 Abs. 1 Satz 2 GO Hessen, 22 Abs. 2 Satz 2 GO Niedersachsen, 87 Abs. 2 GO Nordrhein-Westfalen, 38 Abs. 1 Satz 3 GO Sachsen, 20 Abs. 2 Satz 2 GO Sachsen-Anhalt. 9 Ebenso Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 74.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

chem Ursprung. Für den Abgeordneten konnte Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG als kompetenzbegründende Norm aufgefaßt werden, weil er den darin enthaltenen Auftrag zur (inhaltlichen) Repräsentation des Volkes nur erfüllen kann, wenn ihm Befugnisse im Parlament zustehen. Angesichts des Charakters der Fraktion als einer Vereinigung von Abgeordneten und ihrer dementsprechenden Verankerung in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG liegt es zunächst nahe, daß die Fraktionsrechte hier ihre Wurzel haben und sich ebenso wie die Freiheit der Fraktion und ihre Gleichheit aus dem verfassungsrechtlichen Status ihrer Mitglieder ergeben. Der Gedanke, daß die einzelnen Abgeordneten bei ihrem freiwilligen Zusammenschluß zur Fraktion konkludent darin einwilligen, daß Kompetenzen in dem im einzelnen von der Geschäftsordnung festgelegten Ausmaß auf die Fraktion übergehen, führt aber nicht weiter. Er kann nicht erklären, daß auch fraktionslose Abgeordnete, für die ein solches Einverständnis nicht unterstellt werden kann, von den an die Fraktion gebundenen Rechten ausgeschlossen sind. Es würde sich insofern um einen unzulässigen Vertrag zu Lasten Dritter handeln lO • Die Begründung der Fraktionsrechte ist offensichtlich komplizierter und bedarf einer genaueren Untersuchung. Grundsätzlich sind drei Wege vorstellbar, um die Existenz von Fraktionsrechten zu erklären. Zum einen könnte es sich um Befugnisse handeln, die das Grundgesetz originär den Fraktionen zugewiesen hat. Dies würde bedeuten, daß ihre Kompetenzen Verfassungsrang hätten, der Bundestag würde sie ihnen durch seine Geschäftsordnung nicht erst zuweisen, sondern nur ohnehin bestehende Fraktionsrechte deklaratorisch festhalten. Nach den beiden anderen Konstruktionsmöglichkeiten erscheinen die Fraktionsrechte nicht als originäre, sondern nur als abgeleitete Kompetenzen. Es könnte sich einerseits um ursprünglich dem Gesamtparlament zustehende Rechte handeln, die dieses dann im Rahmen seines Selbstorganisationsrechts (Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG) den Fraktionen zuweist. Dem steht nicht entgegen, daß die Bildung der Fraktionen nicht der Geschäftsordnungsautonomie des Parlaments unterfällt. Es ist durchaus möglich, daß der Bundestag ihnen, nachdem sie sich zunächst außerhalb seines Einflußbereichs gebildet haben, Zuständigkeiten überträgt. Dieser Weg hätte mit dem ersten gemeinsam, daß Fraktionsrechte aus der Verfassung begründet werden könnten, ohne Rechte des einzelnen Abgeordneten dadurch zu beeinträchtigen. Die Zuständigkeiten der Fraktionen würden dann vielmehr von vornherein neben denen der einzelnen Abgeordneten bestehen. Soweit einer 10 So zutreffend Morlok, JZ 1989,1035,1039.

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen

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dieser beiden Wege gangbar wäre, müßten die Rechte der Fraktionen daher vor Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nicht besonders gerechtfertigt werden. Eine solche Rechtfertigung ist hingegen erforderlich, wenn man davon ausgeht, daß die Verfassung alle innerparlamentarischen Mitwirkungsmöglichkeiten den Abgeordneten zuweist. Von diesem Standpunkt aus stellen die einzelnen Regelungen der Geschäftsordnung, die den Fraktionen Rechte einräumen, einen Eingriff in den zunächst umfassend gedachten verfassungsrechtlichen Status des Abgeordneten dar, ihm werden dadurch unweigerlich Rechte entzogen. Im folgenden ist daher zu prüfen, welcher der drei Begründungswege für die parlamentarischen Befugnisse der Fraktionen sich als der richtige erweist, ob die Geschäftsordnung bei der Normierung dieser Zuständigkeiten Rechte der Fraktionen feststellt, Rechte des Parlaments delegiert oder Rechte der Abgeordneten entzieht.

3. Die drei Begründungsmöglichkeiten im einzelnen a) Originäre Rechte der Fraktionen nach dem Grundgesetz

Ausdrückliche Zuweisungen bestimmter Befugnisse im Parlament an die Fraktionen nimmt das Grundgesetz nicht vor ll . Ihre eher beiläufige Erwähnung in Art. 53 a GG betrifft den Gemeinsamen Ausschuß und mithin ein selbständiges Verfassungsorgan 12 • Es handelt sich hierbei auch nicht um ein Recht auf Benennung der Mitglieder dieses Organs, die Fraktionen können insoweit nur Vorschläge machen. Die Vertreter des Bundestages im Gemeinsamen Ausschuß werden nach dem klaren Wortlaut des Art. 53 a GG formell vom Bundestag bestimmt. Dieser ist dabei zwar von Verfassungs wegen gehalten, die Besetzung im Verhältnis der Stärke der einzelnen Fraktionen vorzunehmen, eine rechtliche Bindung an die von den Fraktionen vorgeschlagenen Abgeordneten besteht jedoch nicht 13 . 11 Demgegenüber beschreiben Art. 67 Abs. LV Brandenburg, 25 Abs. 2 LV MecklenburgVorpommem und 47 Abs .2 LV Sachsen-Anhalt die Fraktionen als selbständige und unabhängige Gliederungen des Landtages, die mit eigenen Rechten und Pflichten an seiner Arbeit mitwirken und die parlamentarische Willensbildung unterstützen. 12 Grimm, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 6, Rdnr. 6, kennzeichnet Art. 53 a Abs. 1 Satz 2 GG völlig zu Recht als eine ein Detail regelnde Vorschrift. 13 Delbrück in: Bonner Kommentar, Art. 53 a, Rdnr. 11; Herzog in: Maunz/Dürig, GG, Art. 53 a, Rdnr. 13.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

Da es an einer ausdrücklichen Zuweisung fehlt, kommt nur eine konkludente Begründung originärer Rechte aus der Verfassung in Betracht. Dabei ist zu beachten, daß das Handeln des Parlaments als jenes besonderen Organs der gesetzgebenden Gewalt im Sinne von Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG Ausübung von Staatsgewalt ist. Die den Entscheidungen des Gesamtorgans vorausgehenden Akte von Teilen des Parlaments nehmen dann an diesem Charakter teil, auch sie steUen Ausübung von Staatsgewalt dar l4 . Da nach Art. 20 Abs. 1 Satz 2 GG alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, heißt dies, daß die Annahme originärer Kompetenzen eines Rechtsträgers nur in Betracht kommt, wenn dieser auch über eine selbständige demokratische Legitimation verfügt. Demokratisch legitimiert ist jedenfalls der Bundestag als Gesamtorgan. Auch die einzelnen Abgeordneten verfügen jeweils durch ihre Wahl im Wahlkreis oder über die Landesliste über eine eigene demokratische Legitimation l5 • Erst diese eigenständige Legitimation jedes Abgeordneten erlaubt es, Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG eigene verfassungsrechtliche Befugnisse des einzelnen Abgeordneten zu entnehmen, die in der Geschäftsordnung dann konkretisiert, nicht jedoch erst begründet werden. Originäre Rechte der Fraktionen wären demnach nur vorstellbar, wenn sich die Fraktionen auf eine eigenständige demokratische Legitimation stützen könnten. Eine solche wurde insbesondere von Borchert behauptet. Seiner Ansicht nach sind die Fraktionen Staatsorgane sui generis, die innerhalb der Vertretungskörperschaft eine eigenständige demokratisch legitimierte Repräsentation eines Teils des Volkes bilden l6 , nämlich die einer bestimmten politischen Gruppierung im Volke. Von Rechten, die der Fraktion nur als Teil des Parlaments zustehen und als Ausfluß des Parlamentsrechts weitgehend zur Disposition des Parlaments stehen, unterscheidet er Rechte, die ihr im eigenem Zuständigkeitsbereich aus eigener Legitimation zustehen l7 . Zu diesen originären Rechten, die nicht ohne weiteres einschränkbar seien, zählt er insbesondere die Repräsentationsrechte der Fraktion in den nach Proporz zu besetzenden Gremien l8 • Borchert entnimmt die unmittelbare de14 Nicht eindeutig BVerfGE 47, 253, 273; wie hier Linck, ZParl 1980, 511, 514; Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 86. 15 Bei der Wahl über die Liste wird die eigene demokratische Legitimation jedes einzelnen Abgeordneten insbesondere durch den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Wahl gewährleistet, der einer Veränderung der Reihenfolge der Kandidaten entgegensteht. 16 Borchert, AöR 102 (1977), 210, 228 ff. 17 Borchert, AöR 102 (1977), 210, 231 f. 18 Borchert hat dabei insbesondere die Besetzung der Magistrate in Schleswig-Holstein vor Augen. Sein Beitrag ist als Kritik an der Entscheidung BVerfGE 38, 258 ff., zu verstehen,

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen

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mokratische Legitimation der Fraktion letzten Endes ihrer Eigenschaft als Vertretung einer politischen Partei, für die sich ein bestimmter Teil der Wähler entschieden hat, sieht also offenbar Art. 21 GG als Ursprung dieser Kompetenzen an l9 • Überzeugend wäre dies nur, wenn die Fraktion bereits mit der Wahl gebildet würde. Dies nimmt Borchert auch an, für ihn ist die Fraktion ein vorgegebener, geradezu zwangsläufiger Zusammenschluß20. Wie bereits herausgearbeitet wurde, ist es aber wegen Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die freie Entscheidung jedes Abgeordneten, ob er der Fraktion beitritt oder nicht. Diese Freiheit kann es für Borchert nicht geben. Die Stellung der Fraktion als demokratisch legitimierte Repräsentanz der Partei in der Vertretungskörperschaft müßte beeinträchtigt werden, so führt er aus, wenn sich einzelne Parteimitglieder ohne weiteres bei bestehender Parteimitgliedschaft ihrer "eigentlichen Fraktion" entziehen. Tatsächlich verhält es sich gerade umgekehrt: Gerade weil die parteiangehörigen Abgeordneten es unter Berufung auf ihre freies Mandat ablehnen können, der Fraktion beizutreten, kann diese nicht einfach die demokratisch legitimierte Repräsentanz der Partei sein. Die Fraktion entsteht erst durch die freiwillige Vereinigung von Abgeordneten und nicht schon automatisch durch die Wahl. Da somit erst die Abgeordneten und nicht schon die Wähler die Fraktion hervorbringen, besitzt diese keine demokratische Legitimation, die unabhängig wäre von der ihrer Mitglieder. Mangels eigener demokratischer Legitimation kann es auch keine originären Fraktionsrechte geben, die ihnen konkludent von der Verfassung zugewiesen wären. Selbst wenn man aber aller Bedenken zurückstellen und die Fraktion als Vertretung der Partei im Parlament ansehen wollte, würde dies zu keinem anderen Ergebnis führen, da die Wähler auch die Parteien nur über die von ihnen vorgeschlagenen Kandidaten wählen können, auch für die Partei und ihre etwaige Repräsentanz im Parlament gibt es daher keine demokratische Legitimation, die nicht über die einzelnen Abgeordneten vermittelt wäre 21 .

die eine proportionale Besetzung der Magistrate durch die Fraktionen nicht für ausreichend erachtete und für die erforderliche demokratische Legitimation ihre Wahl durch die gesamte Kommunalvertretung verlangte. Borchert würde aber auch das Recht auf Besetzung der Fachausschüsse des Parlaments zweifellos zu den originären Zuständigkeiten der Fraktionen zählen. 19 Borchert, AöR 102 (1977), 210, 222, 228. 20 Borchert, AöR 102 (1977), 210, 229 f. 21 Dies übersieht C. Amdt, ZPari 1984,523,525; ders., Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 21, Rdnr. 40, wenn er im Zusammenhang mit der Besetzung der Ausschüsse davon spricht, daß die Fraktionen eigene, auf Art. 21 GG gestützte Rechte besitzen, die neben die

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

b) Den Fraktionen zugewiesene Rechte des Bundestages Lassen sich also originäre Befugnisse der Fraktionen aus dem Grundgesetz nicht ableiten, so ist es dennoch denkbar, daß die Fraktionsrechte bestehen können, ohne in den verfassungsrechtlichen Status der Abgeordneten einzugreifen. Dies wäre der Fall, wenn der Bundestag selbst an die einmal errichteten Fraktionen eigene Befugnisse delegiert, die ihm unabhängig von den Rechten der Abgeordneten nach der Verfassung zustehen. Diese Konstruktion setzt aber voraus, daß es überhaupt Zuständigkeiten des Bundestages gibt, denen nicht eine Mitwirkungsbefugnis jedes einzelnen Abgeordneten entspricht. Tatsächlich ist dies jedoch nicht der Fall. Die Kompetenzen des Bundestages und die Rechte des einzelnen Abgeordneten sind vielmehr wechselseitig aufeinander bezogen. Was den Abgeordneten anbelangt, so wurde schon zu Beginn der Untersuchung ausgeführt, daß die Verleihung von Befugnissen an ihn nicht - wie bei einer grundrechtlichen Gewährleistung - zum freien Belieben erfolgt, seine Rechte stehen ihm als Amtsträger nur zu, damit er mit ihrer Ausübung dazu beitragen kann, daß das Parlament insgesamt seine Aufgaben erfüllt. Umgekehrt gilt dies aber in gleicher Weise auch für das Gesamtparlament. Der Bundestag nimmt, wie es das BVerfG ausdrückt, die ihm von der Verfassung zugewiesenen Aufgaben und Befugnisse nicht losgelöst von seinen Mitgliedern, sondern in der Gesamtheit seiner Mitglieder wahr22 • Das bedeutet, daß das Parlament nichts anderes ist als die Summe aller Abgeordneten. Damit es als Ganzes seinen Aufgaben nachkommen kann, ist es von daher darauf angewiesen, daß seine Mitglieder daran teilhaben können. Demgemäß ist, wie das BVerfG fortfährt, jeder Abgeordnete berufen, an der Arbeit des Bundestages, seinen Verhandlungen und Entscheidungen, mitzuwirken. An allen verfassungsmäßigen Zuständigkeiten des Bundestages besteht deshalb die (gleiche) Mitwirkungsbefugnis jedes Mitgliedes, die seinem verfassungsrechtlichen Abgeordnetenstatus zuzurechnen ist. Es kann keine parlamentarischen Zuständigkeiten geben, an denen die einzelnen Abgeordneten nicht notwendigerweise Anteil hätten. Das Parlament kann deswegen auch keine Befugnisse auf die Fraktionen übertragen, die ihm unabhängig von solchen Teilhaberechten der Abgeordneten zustünden. der Abgeordneten aus Art. 38 GG treten, mit ihnen konkurrieren und zu ihnen in Konkordanz gebracht werden müssen. 22 BVerfGE SO, 188, 217 f.

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen

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Ist somit der Status des Abgeordneten als Garantie zu verstehen, daß das Parlament die ihm zukommenden Aufgaben zu erfüllen vermag, so ist es nur folgerichtig, wenn das Grundgesetz die staatsrechtliche Position des Bundestages dadurch bestimmt, daß es in den beiden Sätzen des Art. 38 Abs. 1 GG die ausschlaggebenden Merkmale des parlamentarischen Mandats des Abgeordneten festlegt23. Auch an dieser Stelle zeigt sich, daß es verfehlt wäre, Kollektiv- und Individualrepräsentation einander abstrakt gegenüberstellen und gleichsam gegeneinander ausspielen zu wollen. Beide Formen sind nicht voneinander zu lösen. Der einzelne Abgeordnete verfügt über seinen repräsentativen Status, um zu einer Vertretung des Volkes durch das Kollegialorgan beizutragen, andererseits basiert auch die Repräsentation durch das Gesamtparlament darauf, daß schon jedes Mitglied Repräsentant des ganzen Volkes ist. In der Rechtsprechung des BVerfG kommt dieser wechselseitige Bezug auch verschiedentlich zum Ausdruck, wenn das Gericht nämlich Einzelbefugnisse des Abgeordneten, die es dann als zu seinem verfassungrnäßigen Status gehörig ansieht, aus Bestimmungen des Grundgesetzes begründet, die nur vom Bundestag selbst sprechen. So wurde zuerst das Rederecht des einzelnen Abgeordneten der Vorschrift des Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG entnommen, wonach der Bundestag öffentlich verhandelt 24 . Der Begriff des Verhandelns wird dabei so verstanden, daß im Bundestag die Fragen der Staatsführung im Rede und Gegenrede der einzelnen Abgeordneten zu erörtern sind. Die in Art. 38 GG verliehene Eigenständigkeit des Abgeordneten bestehe dann darin, daß er von seinem Rederecht selbständig Gebrauch machen kann. Ganz auf dieser Linie liegt auch die Aussage, inwieweit dieses Rederecht vom Gesamtparlament beschränkt werden kann. Das BVerfG führt hier aus, solche Maßnahmen finden ihre Grenze am Wesen und an der grundsätzlichen Aufgabe des Parlaments, Forum für Rede und Gegenrede zu sein25 . Hier wird also ein

23 Badura, Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, § 15, Rdnr. 2. In diesem Sinne führt BVerfGE SO, 188,217, auch aus, daß der durch Art. 38 Abs. 1 GG gewährleistete repräsentative verfassungsrechtliche Status des Abgeordneten Grundlage für die repräsentative Stellung des Bundestages ist. 24 BVerfGE 10, 4, 12. 25 BVerfGE 10, 4, 13. Die Kritik von Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 145, durch diese Sicht verliere das Rederecht seinen Charakter als Befugnis und werde zum bloßen Reflex der Forderung an das Parlament, Forum für Rede und Gegenrede zu sein, verkennt diesen wechselseitigen Bezug. Die Mitwirkungsbefugnisse des Abgeordneten sind in gewisser Hinsicht nur Reflex der verfassungsmäßigen Aufgaben des Bundestages.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

unantastbarer Kernbereich des Rederechts anhand der Funktion des Bundestages bestimmt. In späteren Entscheidungen wurde das Recht, in der Fragestunde mündliche Fragen zu stellen ebenso wie die Möglichkeit, Kleine Anfragen zur schriftlichen Beantwortung an die Bundesregierung zu richten, die beide dazu dienen sollen, dem einzelnen Abgeordneten die für seine Tätigkeit nötigen Informationen zu verschaffen, in den Rahmen des Frage- und Interpellationsrechts des Parlaments eingeordnet, das den Mitgliedern der Bundesregierung die verfassungsrechtliche Verpflichtung auferlegt, auf Fragen Rede und Antwort zu stehen26 . Ferner ist in diesem Zusammenhang eine Entscheidung zu nennen, die aus Art. 21 Abs. 2 der schleswig-holsteinischem Landessatzung, nach der der Ministerpräsident vom Landtag gewählt wird, das Recht der Abgeordneten zur Wahl abgeleitet hat27 . Aus neuerer Zeit ist an die Entscheidung zur Bundestagsauflösung zu erinnern. Aus der Tatsache, daß der Bundestag nach Art. 39 Abs, 1 Satz 1 GG auf vier Jahre gewählt wird, wurde ein zum Status des Abgeordneten gehöriges Recht auf eine vierjährige Mandatsdauer gefolgert und deswegen die Antragsbefugnis der klagenden Abgeordneten bejaht28 . Im Urteil zur parlamentarischen Kontrolle der Geheimdienste schließlich wurde wieder Art. 42 GG herangezogen, um Rechte des Abgeordneten zu begründen. Aus dem Umstand, daß der Bundestag nach Abs. 2 "beschließt", wurde auf das Recht jedes Abgeordneten, an Abstimmungen teilzunehmen, geschlossen, daß der Bundestag nach Abs. 1 "verhandelt" aber bedeute das Recht auf Beratung und demzufolge den Anspruch jedes Abgeordneten auf die für eine sachgerechte Beratung erforderliche Information29 . In diesen Einzelfällen hat das BVerfG also den Zuständigkeiten des Parlaments entsprechende Befugnisse des einzelnen Abgeordneten entnommen. Diese Vorgehensweise ist aber nicht auf die bisher entschiedenen Fälle beschränkt, sondern kann allgemein angewandt werden. Sind somit keine verfassungsrechtlichen Kompetenzen des Parlaments denkbar ohne korrespondierende Berechtigungen des einzelnen, die zu sei26 27 28 29

BVerfGE 13, 123, 125; 59, 1,5. BVerfGE 27, 44, 51. BVerfGE 62, 1, 32. BVerfGE 70, 324, 355.

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen

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nem Status nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gehören, so gibt es andererseits Abgeordnetenrechte, die unabhängig sind von den Zuständigkeiten des Bundestages und über diese hinausreichen. Besonders deutlich wird dies an Art. 76 Abs. 1 GG, wonach Gesetzesvorlagen auch aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden. Wie das BVerfG schon sehr früh entschieden hat, steht das Initiativrecht insofern nicht dem Bundestag als solchem zu, sondern nur den Abgeordneten in einer verhältnismäßig bestimmten Gruppierung30 • Entsprechendes gilt für sämtliche Initiativrechte. Zurückzuführen ist dies letztlich darauf, daß das Gesamtorgan Bundestag Adressat dieser Befugnisse ist.

c) Den Abgeordneten entzogene Rechte

Haben die Fraktionen also keine ihnen originär nach der Verfassung zustehenden Rechte, und kann der Bundestag ihnen auch keine Rechte aus seiner verfassungsrechtlichen Stellung zuweisen, an denen nicht zugleich Mitwirkungsrechte der Abgeordneten bestünden, so bleibt nur übrig, die Fraktionsrechte als Rechte anzusehen, die sich aus den Teilhaberechten der Abgeordneten ableiten. Ebenso wie die Freiheit und Gleichheit beziehen die Fraktionen auch ihre innerparlamentarischen Befugnisse aus dem Status der ihnen angehörenden Abgeordneten. Anders als dort ist der Begründungsmodus aber nicht die automatische Erstreckung allein durch den Zusammenschluß, sondern ein Eingriff, den das Gesamtparlament über die Geschäftsordnung vornimmt 3!. Den einzelnen Abgeordneten werden ursprünglich ihnen zustehende Rechte entzogen und den Fraktionen als eigene Rechte zugewiesen. Nichts anderes gilt für die Rechte, die dem Quorum der fünf vom Hundert der Mitglieder des Bundestages zugewiesen werden. Durch diesen Eingriff wandelt sich das dem Abgeordneten ursprünglich zustehende Recht auf unmittelbare Ausübung einer Befugnis zu dem Anspruch, zumindest noch mittelbar über die Fraktion oder das Quorum an der Wahrnehmung dieser Befugnis teilhaben zu können. 30 BVerfGE 1, 144, 153. 3! Dieser grundlegende Unterschied kommt auch darin zum Ausdruck, daß die Freiheit und die Gleichheit neben der Fraktion weiterhin auch dem einzelnen fraktionsangehörigen Abgeordneten zustehen. Bei den innerparlamentarischen Befugnissen ist das anders, hier führt die Bindung an die Fraktion dazu, daß der einzelne Abgeordnete sie nicht ausüben kann.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

Das BVerG hat stets, wenn es sich zur Verteilung parlamentarischer Befugnisse zwischen Abgeordnetem und Fraktion äußerte, angefangen vom Redezeiturteil bis zum Fall Wüppesahl, das Modell des Eingriffs in Abgeordneten rechte vorausgesetzt, ohne jedoch die hier erörterten Alternativen zu erwägen32 • Daß die kollektive Ausgestaltung von Befugnissen nicht grundsätzlich unzulässig ist, ergibt sich schon daraus, daß die Verfassung selbst die Ausübung bestimmter Befugnisse an ein Quorum von Abgeordneten bindet33 • Um Ziele von Verfassungsrang wie etwa die Erhaltung der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu verfolgen, darf der Bundestag im Rahmen seiner verfassungsrechtlich gewährleisteten Geschäftsordnungsautonomie derartige Eingriffe in den Abgeordnetenstatus vornehmen. Solange diese Mediatisierung nicht über das hinausgeht, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist, liegt sie im Rahmen des verfassungsrechtlich Zulässigen, vorausgesetzt, daß die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten erhalten bleibt34 . Im Unterschied zu den Rechten des Abgeordneten, die schon durch Art. 38 GG begründet und durch die Geschäftsordung lediglich ausgestaltet werden, werden die Rechte der Fraktion als solche erst auf der Ebene des Geschäftsordnungsrechts geschaffen. Verfassungsrang haben sie nur, weil die Fraktion die Vereinigung der Abgeordneten ist, denen diese Rechte ansonsten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG zustehen würden. Soweit das BVerfG also von eigenen Rechten der Fraktion ausgeht, die im Grundgesetz verankert sind und daher auch im Organstreitverfahren verteidigt werden können 35 , entstammen diese nicht einem originären verfassungsrechtlichen Status, sondern sind nur Ausfluß aus dem Status ihrer Mitglieder36 • Nur mit 32 BVerfGE 10, 4,14; 38, 258, 277; 80, 188,219. 33 Art. 39 Abs. 3 Satz 3 GG: Ein Drittel der Mitglieder des Bundestages kann eine Einbe-

rufung des Bundestages verlangen. Art. 42 Abs. 1 Satz 2 GG: Ein Zehntel der Mitglieder des Bundestages kann den Ausschluß der Öffentlichkeit beantragen. Art. 44 Abs. 1 Satz 1 GG: Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages kann die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses verlangen. Art. 45 a Abs. 2 Satz 2 GG: Ein Viertel der Mitglieder des Verteidigungsausschusses kann dessen Tätigwerden als Untersuchungsausschuß verlangen. Art. 61 Abs. 1 Satz 2 GG: Ein Viertel der Mitglieder des Bundestages kann den Antrag auf Erhebung der Anklage gegen den Bundespräsidenten vor dem Bundesverfassungsgericht stellen. 34 BVerfGE 10, 4, 14. 35 BVerfGE 70,324,351, unter Bezugnahme auf BVerfGE 1, 144, 153; 27, 44, 51. 36 Sehr deutlich das Sondervotum Böckenförde in der Entscheidung über die parlamentarische Kontrolle der Geheimdienste: ·Sie (die Fraktionen) leiten ihre Rechte von denen der

§ 15: Die konstruktive Begründung der Rechte von Fraktionen

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Rücksicht auf die hinter ihnen stehenden Abgeordneten haben diese eigenen Befugnisse der Fraktionen verfassungsrechtliche Relevanz37 . In allen Urteilen, in denen es eigene Rechte der Fraktionen angenommen hat, war sich das BVerfG der Herkunft dieser Rechte aus der verfassungsrechtlichen Rechtsstellung der Abgeordneten auch durchaus bewußt. So ging es im ersten Fall davon aus, daß Geschäftsordnungsbestimmungen des Bundestages ein Recht der antragstellenden Fraktion zur Gesetzesinitiative nach Art. 76 Abs. 1 GG verletzen können, wenn sie dem Antragsteller vorschreiben, welchen Inhalt sein Antrag haben muß, um überhaupt beraten zu werden 38 . Das BVerfG führt hier aus, daß Gesetzesvorlagen nach Art. 76 Abs. 1 GG aus der Mitte des Bundestages eingebracht werden können, bedeute nicht, daß der Bundestag als solcher ein Initiativrecht habe. Dieses Initiativrecht stehe nicht dem Bundestag, sondern den Abgeordneten in einer zahlenmäßig bestimmten Gruppierung zu. Lediglich als Gruppierung von Abgeordneten nimmt die Fraktion demnach an der verfassungsrechtlichen Verbürgung des Initiativrechts teil. Das BVerfG spricht an dieser Stelle auch ausdrücklich vom "Initiativrecht der Abgeordneten". Im zweiten Urteil leitete das Gericht die Antragsbefugnis einer Landtagsfraktion für einen Organstreit gegen den Landtag, weil dieser die beantragte Neuwahl des Ministerpräsidenten nicht auf die Tagesordnung gesetzt hatte, aus einer landesverfassungsrechtlichen Norm her, wonach der Ministerpräsident vom Landtag ohne Aussprache gewählt wird 39 . Die Wahl selbst sei naturgemäß von den Abgeordneten vorzunehmen, sie bedürfe jedoch der Vorbereitung insbesondere durch Vorlage eines Wahlvorschlags. Da eine Aussprache über den Vorschlag nach der Verfassung ausgeschlossen sei, sei eine vorherige Klärung in den Gruppen unvermeidlich. Diese für die Durchführung der Wahl unentbehrliche Funktion übten üblicherweise die Fraktionen aus. Sei die vorbereitende Funktion aber notwendiges Element der Wahl, so müsse davon ausgegangen werden, daß das Recht zur Wahl Abgeordneten her. Das gleiche Recht der Fraktionen auf Teilnahme an den parlamentarischen Verhandlungen ist AusHuß des gleichen Beteiligungsrechts der Abgeordneten; das Recht der Abgeordneten wird auf die Ebene der Fraktionen - als eines Zusammenschlusses von politisch gleichgesinnten Abgeordneten - transponiert." (BVerfGE 70, 324, 382). 37 VergI. auch schon Moecke, NJW 1965, 276, 278, mit der Bemerkung, die Fraktionen würden originäre Rechte ihrer Mitglieder wahrnehmen, sowie Kasten, Ausschußorganisation, S. 144, nach dem sich die Rechtsstellung der Fraktionen als Summation von Abgeordnetenrechten darstellt, und Morlok, DVBI. 1991, 998, 999, der ausführt, der Fraktionsstatus sei zu begreifen als ein Bünd ..1von letztlich im Abgeordneten wurzelnden Rechten. 38 BVerfGE 1, 144, 153. 39 BVerfGE 27, 44, 51 f.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

des Ministerpräsidenten nicht nur zu dem verfassungsrechtlichen Status der Abgeordneten gehöre, sondern daß auch die Fraktionen von Verfassungs wegen mit dem Recht auf Mitwirkung bei der Wahl ausgestattet seien. Auch hier ist die Ableitung des Vorschlagsrechts der Fraktionen aus dem Wahlrecht der Abgeordneten für die Begründung des Verfassungsrangs dieses Rechts festzuhalten. Im Urteil zur wirtschaftlichen Kontrolle der Geheimdienste wird die Antragsbefugnis der Fraktion DIE GRÜNEN, die sich dagegen wehrte, in dem betreffenden Kontrollgremium nicht vertreten zu sein, zwar aus dem in Art. 20 Abs. 2 GG gewährleisteten Minderheitenschutz gefolgerro. Auch der Minderheitenschutz begründet aber keine Rechte der Fraktionen, die getrennt vom Status ihrer Abgeordneten betrachtet werden könnten. Erst die Tatsache, daß den Abgeordneten und damit auch der Fraktion als Vereinigung von Abgeordneten in der Verfassung das Recht garantiert wird, im Parlament ihrer politischen Überzeugung vom Gemeinwohl (ihrem Gewissen im Sinne von Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG) zu folgen, schafft die Grundlage dafür, sich überhaupt als Minderheit bilden zu können. Schutz der Minderheit nach Art. 20 Abs. 2 GG bedeutet im Parlament zunächst die SichersteIlung des Rechts der Abgeordneten, ihrer Überzeugung gemäß eine Minderheitsposition einzunehmen und diese auch im Parlament zur Geltung bringen zu können. Deshalb können auch dem Minderheitenschutz nur Rechte entnommen werden, die den Abgeordneten zustehen. Um die Funktionsfähigkeit des Bundestages zu erhalten, können solche Minderheitenrechte dann allerdings wieder kollektiv ausgestaltet und damit den einzelnen Abgeordneten entzogen werden. Der Gedanke des Minderheitenschutzes bringt daher letziich keine über den Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG hinausgehenden Erkenntnisse41 .

40 BVerfGE 70, 324, 351 f. 41 VergI. auch bereits die oben gemachte gleiche Beobachtung für die Festsetzung der Fraktionsmindeststärke.

§ 16: Der Kembereich des Abgeordnetenmandats

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§ 16: Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats

als Mindestbestand an Befugnissen

1. Die Anerkennung des Kernbereichs in der Rechtsprechung Die Vorstellung, daß ein bestimmter Kernbereich von Mitwirkungsbefugnissen im Parlament den einzelnen Abgeordneten belassen bleiben muß, also weder an die Fraktion noch an ein Quorum gebunden werden kann, wurde maßgeblich von der Rechtsprechung der Verfassungsgerichte in den Ländern geprägt. So wurde sie in einer Entscheidung des Staatsgerichtshofes Bremen aus dem Jahre 1970 angeführt, um die grundsätzliche Zulässigkeit eines Fraktionsausschlusses zu begründen. Der Wesensgehalt des Mandats werde weder durch den Nichteintritt in eine Fraktion noch durch den Austritt oder den Ausschluß aus der Fraktion angetastet. Der Kernbereich des Mandats bleibe in jedem Fall unberührt, das Gericht zählt hierzu das Recht jedes Abgeordneten, im Parlament seine Meinung zu sagen und über Gesetzesvorlagen entsprechend seiner Willensentschließung abzustimmen l . Einige Jahre später griff der Bayerische Verfassungsgerichtshof diesen Ansatz bei der Prüfung der Zulässigkeit der in der Geschäftsordung des bayerischen Landtags festgesetzten Fraktionsmindeststärke auf!. Er sah eine Grenze der Autonomie des Parlaments bei der Festlegung der Anforderungen für die Fraktionsbildung darin, daß sich der Geschäftsordnungsgeber nicht über elementare Rechte der Abgeordneten hinwegsetzen dürfe. Das freie Mandat garantiere dem einzelnen Abgeordneten jedenfalls einen Kernbestand an Rechten auf Teilhabe am Verfassungsleben, deren unmittelbare Wahrnehmung nicht entzogen werden dürfe. Dazu gehöre das Recht auf freie und gleiche Abstimmung, ein Mindestbestand an Redemöglichkeiten und ein gewisses Maß an Antragsbefugnissen. So zweifelhaft es auch ist, ob der so verstandene Kernbereich Maßstab für die Zulässigkeit einer bestimmten Mindeststärke sein kann, so machen die beiden Entscheidungen doch jedenfalls deutlich, daß ein Mindestbestand an Befugnissen, die ein Abgeordneter unmittelbar wahrnehmen kann, von besonderer Bedeutung ist für diejenigen Abgeordneten, die keiner Fraktion angehören. Das BVerfG hat es stets vermieden, von einem Kernbereich des Abgeordnetenmandats zu sprechen, selbst in der bislang letzten Entscheidung 1 StGH Bremen, StGHE 2, 19, 24 f. 2 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 89. 18 Demmler

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

hierzu, im Fall des fraktionslosen Abgeordneten WüppesahP, wo eine Bezugnahme auf den Kernbereich nach der eben gemachten Beobachtung an sich nahegelegen hätte, wurde dieser Begriff nicht erwähnt. Der Sache nach geht aber auch das BVerfG seit langem von der Existenz eines unentziehbaren Bestands an Rechten aus. So spricht es im Redezeiturteil von der jedem Bundestagsabgeordneten von Art. 38 GG verliehenen "gewissen Eigenständigkeit innerhalb des Bundestages"4. Diese bestehe nicht nur darin, daß er sein Stimmrecht frei ausüben, sondern auch daß er im Plenum von seinem Rederecht selbständig Gebrauch machen könne. Auch hier werden also jedenfalls das Stimm- und Rederecht zu den von jedem Abgeordneten selbständig wahrzunehmenden Befugnissen gerechnet. Zwar sind Mediatisierungen des Abgeordneten - im konkreten Fall durch die Aufteilung der Redezeit nach der Fraktionsstärke - nach der Auffassung des BVerfG zulässig, sofern sie nicht über das hinausgehen, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten ist Dies gilt allerdings nur unter der Voraussetzung, daß die notwendige Entscheidungsfreiheit und Selbstverantwortlichkeit des einzelnen Abgeordneten erhalten bleibt5 • Damit wird der Verlagerung von Befugnissen auf die Fraktion eine äußerste Grenze gezogen, so daß auch das BVerfG insofern einen Kernbereich annimmt, in den Eingriffe von vornherein ausgeschlossen sind. Daß das BVerfG auch im Fall Wüppesahl einen solchen unentziehbaren Kernbereich voraussetzt, läßt sich an der Bemerkung ersehen, das Recht des einzelnen Abgeordneten, an der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Bundestages mitzuwirken und seine besonderen Erfahrungen und Kenntnisse darin einzubringen, dürfe nicht in Frage gestellt werden. Die Rechte des einzelnen dürften zwar im einzelnen ausgestaltet und insofern auch eingeschränkt, ihm jedoch grundsätzlich nicht entzogen werden 6 •

BVerfGE 80,188 ff. BVerfGE 10, 4, 12. 5 BVerfGE 10, 4, 14. 6 BVerfGE 80, 188, 219. Auch Brandner, JA 1990, 151, 153, entnimmt hieraus, daß das BVerfG von der Geltung eines Kembereichs ausgehe. Zur näheren Interpretation dieser Passage des Urteils, vergI. weiter unten im Text. 3

4

§ 16: Der Kembereich des Abgeordnetenmandats

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2. Das Problem der Begrenzung des Kernbereichs Das grundlegende Problem besteht aber darin, daß nur sehr vage Vorstellungen von Inhalt und Umfang dieses Kernbereichs bestehen7 • Soll er eine praktisch handhabbare und notfalls verfassungsgerichtlich überprüfbare Begrenzung der Geschäftsordnungsautonomie sein, ergibt sich jedoch die Notwendigkeit, ihm schärfere Konturen zu verleihen. Dazu bieten sich verschiedene Wege an 8 • Zum einen könnte man das historisch überkommene Erscheinungsbild des Abgeordneten heranziehen und untersuchen, welche Kompetenzen ihm in deutschen Parlamenten vor dem Bundestag stets als individuelle Befugnisse zugestanden haben 9 . Jedoch ist zu beachten, daß sich die Stellung des Parlaments seit den Zeiten des Konstitutionalismus grundlegend gewandelt hat. Es ist heute nicht mehr bloße Volksvertretung gegenüber dem monarchischen Staat, sondern selbst zentrales Organ staatlicher Herrschaftsausübung. Von daher ist es zweifelhaft, den Kernbereich der heutigen Mandatsstellung mit einer historischen Betrachtung erfassen zu wollen. Allenfalls könnte es lohnend sein, sich die Situation im Reichstag der Weimarer Republik zu vergegenwärtigen. Aber abgesehen davon, daß diese relativ kurze Epoche kaum ausgereicht haben dürfte, um einen gesicherten Bestand an Rechten auszubilden, der dem Abgeordneten jedenfalls zu belassen ist, hat sich auch seither die Situation in vieler Hinsicht geändert. Vor allem ist das Ausmaß der zu bewältigenden Aufgaben enorm angewachsen, was dem Gedanken der effektiven Aufgabenerledigung eine ungleich höhere Bedeutung zukommen läßt. Ähnliche Bedenken sind auch gegen den Versuch anzumelden, den Kernbereich durch einen internationalen Vergleich gewissermaßen als kleinsten gemeinsamen Nenner zu bestimmen. Nicht nur, daß die Verfassungslage in den anderen westlichen Demokratien nicht unerheblich vom Grundgesetz

7 "Gewisse Eigenständigkeit", "Mindestbestand an Redemöglichkeiten", "gewisses Maß an Antragsbefugnissen". 8 Zu diesen Möglichkeiten und ihrer nur begrenzten Brauchbarkeit Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 69. 9 Ähnlich geht das BVerfG in ständiger Rechtsprechung vor, um den Kembereich der Garantie der kommunalen Selbstverwaltung (Art. 28 Abs. 2 GG) zu ermitteln. Vergl. nur BVerfGE 59, 216, 226; 76, 107, 118.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

abweicht, auch das grundsätzliche Verständnis vom Parlament ist häufig völlig anders ausgeprägtlO. Noch am ehesten gangbar erscheint die Bezugnahme auf die Länderparlamente, da dort wegen des Homogenitätserfordernisses des Art. 28 Abs. 1 GG jedenfalls die verfassungsrechtliche Situation vergleichbar ist. Auch hier bestehen aber nicht zu übersehende Unterschiede zum Bundestag, einmal, weil die Gesetzgebung in den Parlamenten der Länder aufgrund der zunehmenden Konzentration von Gesetzgebungskompetenzen beim Bund nicht den gleichen Stellenwert hat wie im Bundestag, zum anderen haben die Länderparlamente sehr viel weniger Mitglieder als der Bundestagll . Beide Gesichtspunkte machen es möglich, den Abgeordneten der Länderparlamente mehr Zuständigkeiten zu erhalten, weil die Gefahr, daß das Parlament seine Funktionsfähigkeit einbüßt, hier nicht so gravierend ist. Selbst wenn sich herausstellen sollte, daß eine Befugnis dem einzelnen Abgeordneten in sämtlichen Länderparlamenten offensteht, ist dies also nicht notwendigerweise ein Indiz dafür, daß es zum Kernbereich des Mandats gehört. Angesichts dieses Befundes hat sich Abmeier dafür ausgesprochen, ganz auf den Begriff des Kernbereichs zu verzichten und die Verteilung der Kompetenzen zwischen Abgeordneten und Fraktion allein unter Verhält10 So kann man mit Steffani zwei Idealtypen moderner Parlamente unterscheiden, das Rede- und das Arbeitsparlament. Während sich das Redeparlament (auch Diskussionsparlament genannt) als wichtigstes Forum aller großen, die Nation bewegenden Fragen versteht, die in einer Debatte vor der Öffentlichkeit kontrovers erörtert werden, ist das Arbeitsparlament durch eine Konzentration auf die Gesetzgebung und eine intensive Verwaltungskontrolle gekennzeichnet, die arbeitsteilig bewältigt werden. Dementsprechend bleibt im Redeparlament das Plenum entscheidendes Aktionsforum, während im Arbeitsparlament der Schwerpunkt der Tätigkeit in die Ausschüsse verlagert ist (daher wird auch bisweilen der Ausdruck Ausschußparlament verwandt). Das englische Unterhaus ist am meisten einem Redeparlament angenähert, der amerikanische Kongreß andererseits kann eher als Arbeitsparlament qualifiziert werden. VergI. hierzu ausführlich Steffani, Art. Redeparlament, in: RÖhring/Sontheimer (Hrsg.), Handbuch des deutschen Parlamentarismus, 1970, S. 418 ff. Der Deutsche Bundestag vereinigt nach Steffani fast gleichwertig Elemente beider Parlamentstypen. Stellt man jedoch die hohe Bedeutung der Ausschußarbeit in Rechnung, so wird deutlich, wie auch Steffani einräumt, daß eine Neigung besteht, sich stärker am Arbeitsparlament zu orientieren. Bei der Debatte über den Bericht der Ad-hoc- Kommission Parlamentsreform sprach sich der damalige Bundestagspräsident Jenninger (CDU/CSU) dafür aus, den Bundestag mehr als Diskussionparlament zu begreifen (Sten.Ber. 10. WP./l94. Sitzung/3O.1.1986/ 14604), während der Abgeordnete Conradi (SPD) die Notwendigkeit für den Bundestag betonte, Rede- und Arbeitsparlament gleichermaßen zu sein (Sten.Ber. 10 WP./l94. Sitzung/ 30.1.1986/14611). 11 Das größte Landesparlament nach der regelmäßigen Zahl der Mandate (also ohne Überhang- und Ausgleichsmandate) ist der bayerische Landtag mit 204 Mitgliedern.

§ 16: Der Kembereich des Abgeordnetenmandats

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nismäßigkeitsgesichtspunkten vorzunehmen 12• Zur Stützung seiner Auffassung beruft er sich darauf, es sei fraglich, warum dem Abgeordneten nur ein Kernbereich an Mitwirkungsmöglichkeiten garantiert sein solle, alle übrigen Rechte aber der völligen Dispositionsfreiheit des Geschäftsordnungsgebers unterliegen sollten. In diesem Punkt liegt ein Mißverständnis der einschlägigen Rechtsprechung vor, dem allerdings auch andere Autoren erliegen 13 . Daß das freie Mandat außerhalb des Kernbereichs überhaupt keine Auswirkung auf die Verteilung der Zuständigkeiten durch die Geschäftsordnung habe, sagt keines der genannten Urteile. Im Redezeiturteil kommt das BVerfG sogar zum gegenteiligen Ergebnis, wenn es ausführt, die Mediatisierung des Abgeordneten müsse sich im Rahmen dessen bewegen, was zur Sicherung des Ablaufs der Parlamentsarbeit geboten sej14. Da die Errichtung von Fraktionsrechten einen Eingriff in den umfassenden Status des Abgeordneten (auch jenseits eines etwaigen Kernbereichs) bildet, ist diese Sichtweise auch allein zutreffend. Jede Bindung eines Rechts an die Fraktion oder an ein Quorum ist danach rechtfertigungsbedürftig. Die aufgezeigten Schwierigkeiten beruhen in erster Linie darauf, daß man den unantastbaren Kernbereich des Mandats lediglich damit begründet, daß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG dem Abgeordneten ein Recht auf unmittelbare Teilnahme am Verfassungsleben gewährleiste l5 , ohne sich aber über die funktionelle Berechtigung dieser Aussage Rechenschaft abzulegen. Ob der Status des Abgeordneten diesem einen unentziehbaren Bestand an Rechten garantiert und wie weit dieser gegebenenfalls reicht, kann aber nur ermittelt werden, wenn man nach Sinn und Zweck einer solchen Gewährleistung für den Verfassungsauftrag des einzelnen Abgeordneten in der repräsentativen Demokratie fragt.

12 Abmeier, Parlamentarische Befugnisse, S. 70 ff.

13 Etwa Linck, DÖV 1975, 689, der ausführt, es sei einhellige Meinung, daß mit Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG nur ein gewisser Kembereich des Abgeordnetenmandats geschützt werde. 14 BVerfGE 10, 4, 14. 15 Bayerischer Verfassungsgerichtshof, VerfGH 29, 62, 89.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

3. Der Auftrag zur inhaltlichen Repräsentation als Begründung des Kernbereichs Wie im ersten Kapitel schon ausführlich dargelegt wurde, ist jeder Abgeordnete nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Vertreter des ganzen Volkes. Während die formale Repräsentation, der Zurechnungszusammenhang zwischen Parlament und Volk, der es legitimiert, das Volk mit seinem Handeln zu verpflichten, nur dem Parlament als Ganzem zukommt, ist es vor allem anderen die Funktion des einzelnen Abgeordneten, inhaltliche Positionen aus dem Volk aufzunehmen und in den staatlichen Willensbildungsprozeß einzubringen. Seine vornehmste Amtspflicht besteht darin, den Kontakt mit den Repräsentierten zu suchen und den Dialog mit ihnen herzustellen. Im Anschluß daran ist es an ihm zu entscheiden, inwieweit er das, was er daraus entnimmt, in parlamentarisches Handeln umsetzen will. Mit dieser Pflicht des Abgeordneten wird, wie schon ausgeführt, eine zweifache Zielrichtung verfolgt. Zum einen rechtfertigt sie es, die Repräsentation des Volkes durch das Parlament auch zwischen den Wahlen als wahrhaft demokratische zu begreifen, zum anderen schafft sie die Voraussetzung dafür, daß die Bürger, weil sie ihre Belange im Parlament vertreten sehen, das Vertrauen in ihre Repräsentanten entwickeln, das die unerläßliche Grundlage für das Funktionieren einer repräsentativen Demokratie ist l6 • Daß diese beiden Wirkungen erzielt werden können, setzt aber voraus, daß der einzelne Abgeordnete überhaupt die verfahrensmäßigen Möglichkeiten hat, die Ergebnisse des Repräsentationsdialoges in den parlamentarischen Prozeß einzubringen. Dies macht es notwendig, ihm ein Mindestmaß an Zuständigkeiten zu belassen, die er als einzelner ausüben kann, um damit seinem Verfassungsauftrag genügen zu können. Der Kernbereich kann daher definiert werden als die Sicherung eines Minimums an parlamentarischer Artikulation und unmittelbarer Teilnahme am Verfassungsleben, die allein erst eine sinnvolle Wahrnehmung des Abgeordnetenmandats ermöglichen l7 •

16 Noch einmal sei an dieser Stelle an den Gedanken des trusts erinnert, mit dem sich das Phänomen der Repräsentation vielleicht am ehesten umschreiben läßt. 17 So die Definition von Kürschner, Statusrechte, S. 135. In diese Richtung auch schon Kisker, JuS 1980, 284, 287, der von einem Recht auf sinnvolle Mitwirkung bei der Willensbildung im Bundestag spriCht.

§ 16: Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats

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Gewährleistet Art. 38 GG dem einzelnen Abgeordneten einen unentziehbaren Kernbestand, zeigt dies eine Parallele zur Garantie der kommunalen Selbstverwaltung in Art. 28 Abs. 2 GG auf, wo bei der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Gemeinde und Staat bekanntlich gleichfalls von einem Kernbereich ausgegangen wird, der durch den Gesetzesvorbehalt des Art. 28 Abs. 2 GG nicht berührt werden darfl 8 • Wie sich insbesondere dem Rastede-Beschluß des BVerfG19, entnehmen läßt, ist die Vergleichbarkeit nicht auf diesen eher formalen Aspekt beschränkt, sondern besteht auch im Hinblick auf die grundsätzliche Interessenlage bei der Verteilung der Zuständigkeiten. Die Aufgabenverteilung zwischen Staat und Kommune wie auch zwischen Kreis und kreisangehöriger Gemeinde sieht das BVerfG in einem SpannungsverhäItnis zwischen Verwaltungseffizienz und Bürgernähe20 • Das Ziel optimaler Verwaltungseffizienz trage die Tendenz zur immer großräumigeren Organisation und stetigen "Hochzonung" von Aufgaben in sich, während das Ziel möglichster Bürgernähe und Bürgerbeteiligung dem widerstreite und dezentrale Aufgabenansiedlung anempfehle. Ganz entsprechend ist die Ausgangslage aber für die hier zu erörternde Zuständigkeitsverteilung. Das Erfordernis, das Parlament so zu organisieren, daß es seinen Aufgaben mit höchster Effektivität nachkommen kann, spricht dafür, viele Zuständigkeiten bei den Fraktionen zu konzentrieren und dem einzelnen Abgeordneten zu entziehen. Beläßt man umgekehrt ein Maximum an Kompetenzen bei dem Abgeordneten, so kann dies der Einbringung einer größeren Vielfalt von Interessen und Ansichten aus der Bevölkerung dienen. Der Zielkonflikt, den es aufzulösen gilt, ist also in beiden Fällen vergleichbar, so daß es naheliegt, die vom BVerfG für die Zuständigkeitsverteilung zwischen Staat und Gemeinde getroffenen Aussagen auf ihre Übertragbarkeit zumindest zu überprüfen.

4. Die generelle Zuständigkeit des Abgeordneten beim Fehlen einer besonderen Zuweisung Nach der Rastede-Entscheidung gehört zum Kernbereich der gemeindlichen Selbstverwaltung kein gegenständlich bestimmter oder nach festste18 BVerfG 23, 353, 365; 38, 258, 278 f.; 76, 107, 118.

19

BVerGE 79, 127 ff.

20 BVerfGE 79, 127, 147 f.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

henden Merkmalen bestimmbarer Aufgabenkatalog. Der Wesensgehalt besteht danach vielmehr in der Befugnis, sich aller Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, die nicht durch Gesetz anderen Trägern öffentlicher Verwaltung übertragen sind, ohne besonderen Kompetenztitel anzunehmen21 • Eine darüber hinausgehende Gewährleistung besteht nach der Rechtsprechung des BVerfG erst dann, wenn der den Gemeinden nach einem Aufgabenentzug verbleibende Aufgabenbestand einer Betätigung ihrer Selbstverwaltung keinen Raum mehr ließe, die Selbstverwaltung als solche also ausgehöhlt oder abgeschafft würde 22 • Zunächst bedeutet der Kernbereich also lediglich eine Allzuständigkeit der Gemeinde für die örtlichen Angelegenheiten, die immer dann zum Tragen kommt, wenn es keine ausdrückliche anderweitige Zuweisung gibt. Für das Verhältnis von Abgeordnetem und Fraktion ist gleichfalls eine generelle Zuständigkeit des Abgeordneten zu verzeichnen, er kann jedes Recht ausüben, sofern die Geschäftsordnung es nicht an die Fraktion oder an ein Quorum bindet. Dies ergibt sich schon ohne weiteres aus dem Modell für die Verteilung der Kompetenzen. Danach ist die Stellung des Abgeordneten, weil keine Zuständigkeiten des Parlaments vorstellbar sind, an denen nicht eine Mitwirkungsbefugnis der Abgeordneten bestünde, zunächst umfassend. Seine Befugnisse resultieren unmittelbar aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, sie werden also im Unterschied zu den Rechten der Fraktionen nicht erst von der Geschäftsordnung begründet. Die kollektive Ausgestaltung bestimmter Rechte stellt danach einen Eingriff in diese umfassende Position des Abgeordneten dar. Damit ist aber zugleich ausgesagt, daß stets dann, wenn die Geschäftsordnung keinen solchen Eingriff vornimmt, die Befugnisse bei den einzelnen Abgeordneten verbleiben. Sie brauchen also keinen zusätzlichen Kompetenztitel zur Wahrnehmung einer bestimmten Zuständigkeit, sondern sind immer zuständig, sofern dies nicht ausdrücklich ausgeschlossen wurde 23 • Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird auch ersichtlich, daß der von der Überfraktionellen Initiative Parlamentsreform verfolgte Antrag, in einem neuen § 13 Abs. 3 GOBT einzelne Abgeordnetenrechte mit Verweisung auf die hierfür einschlägigen Geschäftsordnungsbestimmungen aufzuBVerfGE 79, 127, 146. BVerfGE 79, 127, 148, unter Bezugnahme auf BVerfGE 1, 167, 174 f.; 38, 258, 279. Ebenso Kabel, Die Behandlung der Anträge im Bundestag: Rechte, Formen und Verfahren, in: H.-P. Schneider/Zeh (Hrsg.), Parlamentsrecht und Parlamentspraxis, 1989, § 31, Rdnr.108. 21

22 23

§ 16: Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats

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zählen 24, allenfalls deklaratorische Wirkung haben könnte. Eine derartige Regelung würde keine Abgeordnetenrechte begründen, sondern könnte nur ohnehin bestehende Befugnisse feststellen. Nun kann auch eine solche Deklaration durchaus ihren Wert haben, indem sie die bestehenden Rechte noch einmal besonders hervorhebt. Die Problematik der vorgeschlagenen Bestimmung besteht aber darin, daß sie ihrem Wortlaut nach abschließend zu sein vorgibt, während die Aufzählung tatsächlich höchst fragmentarisch ist. Wie der Geschäftsordnungsausschuß in seinem Bericht hierzu richtig ausführt 25 , fehlt insbesondere eine Bezugnahme auf diejenigen Befugnisse des Abgeordneten, die die Geschäftsordnung (im übrigen ganz dem herausgearbeiteten Regelungsmechanismus entsprechend) nicht eigens festhält, sondern als selbstverständlich (weil bereits durch die Verfassung verliehen) voraussetzt. Von den zahlreichen Beispielen, die der Bericht hier nennt, seien nur zwei besonders eindrucksvolle herausgegriffen. So fehlt das in § 48 GOBT vorausgesetzte Stimmrecht des einzelnen Abgeordneten ebenso wie das Koalitionsrecht, das die Grundlage für die Bildung der Fraktionen nach § 10 GOBT ist. Angesichts der umfassenden Mitwirkungsbefugnis des Abgeordneten ist auch zweifelhaft, ob überhaupt eine vollständige Aufzählung zu erreichen ist. Dann besteht aber die Gefahr, daß eine Normierung der vorgeschlagenen Art dem Bestreben, die Stellung des einzelnen Abgeordneten aufzuwerten, eher zuwiderläuft. Das Bewußtsein, daß die Rechte des Abgeordneten der Geschäftsordnung vorgegeben sind und daher dort keiner Erwähnung bedürfen, kann dadurch nämlich getrübt werden. Infolgedessen können, was der Geschäftsordnungsausschuß auch erkannt hat, Meinungsverschiedenheiten auftreten, ob ein nicht aufgelistetes Recht zu den erwähnten hinzugezählt werden muß, oder ob es nicht besteht. Vollkommen zu Recht hat der Geschäftsordnungsausschuß daher davon abgeraten, eine solche Aufzählung in den Text der Geschäftsordnung aufzunehmen. Der Bundestag ist dieser Empfehlung gefolgt 26 • Die ausdrückliche Benennung 24 BT- Drs. 11/2208, Nr. 2 c: " (3) Die Rechte und Pflichten der Mitglieder des Bundestages sind in folgenden Paragraphen dieser Geschäftsordnung niedergelegt: a) Rederecht: §§ 25, 27, 33, 35, 71. b) Fragerecht: §§ 27, 100, 104, 105, Anlage 4, c) Antragsrecht: §§ 20, 29,47,82, d) Erklärungsrecht: §§ 30, 31, 32, e) Teilnahmerecht: §§ 69,109, f) Einspruchsrecht: §§ 116 bis 121." In diesem Sinne auch schon der Antrag BT-Drs. 11/411 (neu), Nr. 1. 25 BT- Drs. 11/5962, S. 16. 26 Sten.Ber. I1.WP./I84. Sitzung/13.12.l989/14238, unter gleichzeitiger Ablehnung eines Änderungsantrages der Abgeordneten Frau Hamm-Brücher (FDP), BT-Drs. 11/6033, Nr. 1,

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

der Rechte ist entbehrlich, weil schon Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG die generelle Zuständigkeit des Abgeordneten begründet und diesem sämtliche Kompetenzen sichert, die ihm nicht durch die Geschäftsordnung entzogen werden.

5. Der Kernbereich des Mandats als Gewährleistung eines Anteils an allen Funktionen des Parlaments Fraglich ist aber, ob sich der Kernbereich des Mandats wie der der kommunalen Selbstverwaltung hierauf beschränken läßt. Um diese Frage zu beantworten, ist es nötig, sich auf die Struktur der beiden Situationen zurückzubesinnen. Dabei stellt man einen grundlegenden Unterschied fest, der es letztlich ausschließt, die Garantien der Art. 28 Abs. 2 GG und Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG parallel zu behandeln. Im Verhältnis von Staat und Gemeinde stehen einander zwei klar unterscheidbare Bereiche gegenüber. Eine Angelegenheit der örtlichen Gemeinschaft kann entweder, wie es dem Grundsatz des Art. 28 Abs. 2 GG entspricht, den Gemeinden als Selbstverwaltungsaufgabe belassen bleiben, oder aber der Staat kann sie, indem er von dem Gesetzesvorbehalt in Art. 28 Abs. 2 GG Gebrauch macht, an sich ziehen bzw. anderen Trägern öffentlicher Verwaltung (wie den Kreisen) zuweisen. Regelungsgegenstand sind dabei jeweils einzelne Sachmaterien (im Fall, der dem Rastede-Beschluß zugrundelag, beispielsweise die Abfallbeseitigung). Die Beziehung zwischen Abgeordnetem und Parlament ist hingegen von ganz anderer Natur. Hier geht es nicht um einzelne Sachgebiete, die von dem einen oder anderen übernommen werden, sondern um die Verteilung von Handlungsmöglichkeiten im Innern des Parlaments, die sich dann prinzipiell auf alle Materien erstrecken, für die dieses selbst zuständig ist. Im Verhältnis Gemeinde-Staat fehlt eben jener wechselseitige Bezug, der das Mitgliedschaftsverhältnis zwischen Abgeordnetem und Gesamtparlament kennzeichnet. Die Zuständigkeiten der Gemeinden nach Art. 28 Abs. 2 GG sind nicht darauf gerichtet, zur Erfüllung staatlicher Funktionen beizutragen; umgekehrt ist der Staat, um seine Aufgaben erledigen zu können, nicht auf die Mitwirkung der Gemeinden angewiesen. Das Parlament hingegen ist der den ursprünglichen Antrag der Initiative Parlamentsreforrn insofern modifizierte, als nurrnehr von den ·wesentlichen Rechten und Pflichten der Mitglieder des Bundestages· gesprochen wird.

§ 16: Der Kernbereich des Abgeordnetenmandats

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immer nur die Gesamtheit der Parlamentsmitglieder, weshalb an den einzelnen Funktionen des Parlaments stets die Mitwirkungsbefugnis für alle Abgeordneten besteht. Insbesondere besteht diese Mitwirkungsbefugnis auch für diejenigen Mitglieder, die - freiwillig oder gezwungen - keiner Fraktion angehören. Ihre Beteiligung scheidet aber bei allen Befugnissen aus, die den Fraktionen vorbehalten sind. Selbst wenn Rechte neben den Fraktionen einem Quorum offenstehen, wird es fraktionslosen Abgeordneten nur selten gelingen, hinreichende Unterstützung zu erhalten, damit das Quorum erreicht wird, so daß auch dies nicht ausreicht, um ihre Mitwirkung sicherzustellen. Auch für diese Abgeordneten muß aber gewährleistet sein, daß sie überhaupt mitwirken können, um den Pflichten ihres Amtes zu genügen27 . Infolgedessen reicht es nicht aus, eine Zuständigkeit des einzelnen Abgeordneten lediglich dann anzunehmen, wenn keine andere Zuweisung vorliegt. Vielmehr ist erforderlich, daß positiv ein Mindestmaß an Befugnissen besteht, die jeder Abgeordnete eigenständig ausüben kann. Dieser positive Gewährleistungsbereich aber wohnt der Amtsstellung des Abgeordneten als mitgliedschaftlicher Berechtigung an den Kompetenzen des Parlaments stets inne und wird nicht erst, wie im Falle der kommunalen Selbstverwaltung, ausnahmsweise wirksam, wenn die Garantie als solche durch den Entzug einer konkreten Aufgabe ausgehöhlt zu werden droht. Wie weit diese Garantie reicht, kann wiederum nur aus der Wechselbezüglichkeit der Zuständigkeiten von Parlament und Abgeordneten gewonnen werden. Da sich die Mitwirkungsbefugnis jedes Abgeordneten auf alle Funktionen des Parlaments bezieht, muß auch an allen Zuständigkeiten noch ein Anteil bestehen, der dem Abgeordneten in eigener Wahrnehmungszuständigkeit überlassen bleibt. Es handelt sich dabei jeweils um die eigentliche Substanz der verschiedenen Funktionen des Parlaments, um das, was die jeweilige Funktion wesensmäßig ausmacht. Diese Aussage wird näher zu spezifizieren sein, wenn geklärt wurde, welche verfassungsmäßigen Funktionen das Parlament im einzelnen hat. An dieser Stelle soll der Hinweis genügen, daß auch das BVerfG den Kernbereich des Mandats aus der AufgabensteIlung des Gesamtparlaments entwickelt. So führt es im Redezeiturteil aus, Maßnahmen, die die Redebefugnis des Abgeordneten einschränken, fänden ihre Grenze am Wesen und 27 Nach BVerfGE SO, 188, 220, unterliegt auch bei dem weiten Gestaltungsspielraum, den das Parlament bei der Entscheidung darüber hat, welche Regeln es zu seiner Selbstorganisation bedarf, der verfassungsgerichtlichen Kontrolle, ob das Prinzip der Beteiligung aller Abgeordneten an den Aufgaben des Parlaments gewahrt bleibt.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

an der grundsätzlichen Aufgabe des Parlaments, Forum für Rede und Gegenrede zu sein28 • Es ist demnach nicht möglich, die Redemöglichkeit für die Abgeordneten so weit zu beschneiden, daß der Bundestag seinen Charakter als Ort, wo die Fragen der Staatsführung öffentlich verhandelt werden, verliert. Das Rederecht des Abgeordneten im Plenum gehört danach zum Kernbereich des Mandats, den Abgeordneten muß gewährleistet sein, überhaupt zu Wort zu kommen. Auch in der Entscheidung im Fall Wüppesahl stellt das BVerfG, wenn auch sehr undeutlich, eine Beziehung her zwischen den Funktionen des Parlaments und den unantastbaren Befugnissen des einzelnen Abgeordneten. Gerade um der Repräsentationsfähigkeit und Funktionstüchtigkeit des Parlaments willen dürfe das Recht des einzelnen Abgeordneten, an der Willensbildung und Entscheidungsfindung des Bundestages mitzuwirken und seine besonderen Erfahrungen und Kenntnisse darin einzubringen, nicht in Frage gestellt werden; die Rechte des einzelnen Abgeordneten dürften zwar im einzelnen ausgestaltet und insofern auch eingeschränkt, ihm jedoch grundsätzlich nicht entzogen werden29 • Diese Äußerung ist wohl so zu verstehen, daß das Recht jedes Abgeordneten, an den einzelnen Parlamentsaufgaben teilzunehmen, eingeschränkt, aber grundsätzlich nicht entzogen werden darf. Der einzelne Abgeordnete muß also einen substantiellen Anteil an den verschiedenen Funktionen des Parlaments haben, einzelne Mitwirkungsbefugnisse im Rahmen dieser Funktionen hingegen können ihm durchaus entzogen und den Fraktionen oder einem Quorum zugewiesen werden. So gebietet der Kernbereich des Mandats, um es an einem Beispiel zu verdeutlichen, daß der Abgeordnete einen Anteil an der Aufgabe des Parlaments haben muß, die Regierung zu kontrollieren. Dies bedeutet, daß ihm in irgendeiner Form ein Fragerecht ihr gegenüber zustehen muß. Nicht hingegen kann aus dem Kernbereich abgeleitet werden, daß er ein bestimmtes formalisiertes Frageverfahren, etwa die Große oder Kleine Anfrage, als einzelner einleiten können muß. Die andere Möglichkeit, die Äußerung des BVerfG auszulegen, besteht darin, daß dem einzelnen Abgeordneten auch keines der einzelnen Mitwirkungsrechte entzogen werden dürfte. Will man dann jedoch nicht die Bindung von Rechten an die Fraktion generell dem Vorwurf der Verfassungswidrigkeit aussetzen (was das BVerfG ersichtlich nicht wiIl30), so ist dieser BVerfGE 10, 4, 13. 29 BVerfGE SO, 188,219. 30 BVerfGE 80, 188, 220, führt aus, der Bundestag habe in der Geschäftsordung die Befugnisse der Fraktionen im parlamentarischen Geschäftsgang unter Beachtung der Rechte der 28

§ 16: Der Kembereich des Abgeordnetenmandats

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Weg nur gangbar, wenn man, entgegen der hier vertretenen Ansicht, die Zuweisung eines Rechts an die Fraktion oder an ein Quorum nur als Beschränkung des Rechts jedes Abgeordneten, nicht aber als Entzug ansieht. Rechtsträger würden dann die Abgeordneten bleiben, nur für die Ausübung wären sie auf die Unterstützung durch andere Abgeordnete angewiesen. Diesem Ansatz stehen aber nicht nur die schon geschilderten Umstände entgegen, die dafür sprechen, daß die Geschäftsordnung eigene Rechte der Fraktionen errichtet hat. Darüber hinaus würde diese Aussage des BVerfG dann auch für den einzelnen Abgeordneten überhaupt keinen Schutz mehr entfalten gegenüber der weitgehenden Bindung von Befugnissen an die Fraktion, weil stets zu fingieren wäre, daß der Abgeordnete noch immer Träger des Rechts und in seiner Ausübung lediglich eingeschränkt ist. Die Äußerung des BVerfG bezieht sich also nur auf einen Anteil an den verschiedenen Zuständigkeiten des Parlaments, nicht aber auf alle einzelnen Mitwirkungsbefugnisse im Parlament. Solche Einzelbefugnisse, die dem einzelnen Abgeordneten nach der Verfassung zunächst auch zustehen, können ihm ohne Verstoß gegen die Garantie des Kernbereichs durch die Geschäftsordnung entzogen werden, sofern nur ein substantieller Anteil an der Erfüllung der jeweiligen Parlamentsaufgabe für den einzelnen Abgeordneten sichergestellt bleibt.

Abgeordneten festzulegen, geht also von der prinzipiellen Zulässigkeit der Errichtung von Fraktionsrechten aus.

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3. Kapitel: Die Verteilung der parlamentarischen Befugnisse

§ 17: Die Kompetenzverteilung zwischen Abgeordnetem

und Fraktion außerhalb des Kernbereichs

1. Das Gebot der Abwägung bei der Verteilung der Zuständigkeiten a) Keine Festlegung auf eine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle durch den Eingriffscharakter von Fraktionsrechten

Wegen der zunächst umfassenden Mitwirkungsbefugnis, die Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG für den einzelnen Abgeordneten bedeutet, bedarf die Errichtung von Fraktionsrechten als Eingriff in seinen Status auch außer halb des Kernbereichs der Rechtfertigung. Auch wenn also das unentziehbare Mindestmaß an innerparlamentarischen Handlungsmöglichkeiten schon gewährleistet ist, bewegt sich das Parlament bei der Ausgestaltung der Geschäftsordnung nicht in einem von verfassungsrechtlichen Vorgaben völlig freien Raum. Auch hier muß Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG Berücksichtigung finden. Gelegentlich wird nun angenommen, aus der Vorstellung, daß die Fraktionen ausschließlich Rechte haben können, die originär den Abgeordneten zustehen, Fraktionsvorbehalte daher jedenfalls etwas von deren Rechtsstellung abschneiden, folge unausweichlich, daß eine solche Rechtsbeschränkung einer strengen Verhältnismäßigkeitskontrolle unterworfen sejl. Die Anordnung von Fraktionsrechten durch die Geschäftsordnung könnte dann nur erfolgen, wenn sie notwendig ist, um verfassungsrechtlich bedeutsame Rechtsgüter zu sichern. Auch wenn man nicht wird bestreiten können, daß die Herstellung und Sicherung eines funktionsfähigen Parlaments ein verfassungsrechtlich gewichtiges Ziel ist, um dessen Verfolgung willen grundsätzlich eine Beschränkung der Abgeordnetenfreiheit ergehen kann, so würde diese Annahme dennoch zu einer weitgehenden Unzulässigkeit von Fraktionsrechten führen. Das Anlegen eines strikt zu überprüfenden Verhältnismäßigkeitsmaßstabs (und dabei insbesondere der Stufe der Erforderlichkeit) würde nämlich konkret bedeuten, daß die kollektive Ausgestaltung einer Befugnis immer schon dann verfassungswidrig wäre, wenn es auch möglich wäre, sie dem einzelnen Abgeordneten zu belassen, ohne daß dadurch das Parlament funktionsunfähig würde. 1 Morlok, JZ 1989, 1035, 1038.

§ 17: Die Kompetenzverteilung außerhalb des Kembereichs

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Tatsächlich folgt allein daraus, daß die Zuweisung eines Rechts an die Fraktion oder an ein Quorum einen Eingriff in den Status des Abgeordneten bedeutet, jedoch zunächst nur, daß dies überhaupt vor Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gerechtfertigt werden muß, sagt aber noch keineswegs, in welchen Umfang ein solcher Eingriff zulässig und inwieweit dies (etwa vom BVerfG) zu kontrollieren ist. Diese Frage ist erst in einem zweiten Schritt zu klären, wobei Rücksicht zu nehmen ist auf die Besonderheiten des hier zu regelnden Sachbereichs.

b) Das Abwägungsgebot als sachgerechte Schranke der parlamentarischen Geschäftsordnungsautonomie Ausgangspunkt für die Beurteilung der Einschränkung von Abgeordnetenrechten muß Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG sein. Ist der Bundestag nach dieser Vorschrift ermächtigt, sich eine Geschäftsordnung zu geben, so kann dies sinnvollerweise nicht so verstanden werden, daß die Geschäftsordnung nur das festhalten darf, was sich ohnehin aus der Verfassung ergibt 2 • Genau das aber wäre der Fall, würde man nur Eingriffe in den Abgeordnetenstatus zulassen, die im strengen Sinne erforderlich sind, es gäbe dann für die Frage der kollektiven oder individuellen Ausgestaltung von Befugnissen immer nur eine verfassungsrechtlich zulässige Lösung. Art. 40 Abs. 1 Satz 2 GG gewährt dem Bundestag hingegen nach einhelliger Meinung die Autonomie, seine innere Ordnung selbst zu regeln 3, die Verfassung eröffnet dem Parlament hier also einen Gestaltungsspielraum. Dieser Spielraum wird zwar durch die verfassungsrechtlichen Vorgaben begrenzt