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German Pages IX, 313 [320] Year 2020
Teresa Lehmann
Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen Die Vollversammlung im Spannungsfeld von demokratischer Partizipation und pädagogischer Ordnung
Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen
Teresa Lehmann
Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen Die Vollversammlung im Spannungsfeld von demokratischer Partizipation und pädagogischer Ordnung
Teresa Lehmann Berlin, Deutschland Dissertation Universität Hamburg, 2019
ISBN 978-3-658-31498-9 ISBN 978-3-658-31499-6 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung/Lektorat: Stefanie Eggert Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Danksagung
Ich danke zuallererst den Kindern, pädagogischen Fachkräften und der Leiterin der Kindertageseinrichtung, die sich auf die Forschung eingelassen haben: Danke für die Bereitschaft, sich über die Schulter schauen zu lassen, danke für die Gespräche, danke für das Beantworten zahlreicher Fragen und danke für das Zulassen und sogar Einfordern von Kommentaren zur eigenen Praxis. Ganz herzlich bedanken möchte ich mich auch bei Professor Dr. Benedikt Sturzenhecker für die stets ermutigende und inspirierende Betreuung dieser Arbeit. Vielen Dank an Professorin Dr. Zoë Clark und Professorin Dr. Iris Beck für die Auseinandersetzung mit der Arbeit im Rahmen der Zweitbetreuung und Disputation. Für die kritische und produktive Auseinandersetzung mit meinen Textentwürfen und Interpretationen danke ich den Teilnehmer*innen des formellen und des informellen Kooperationskolloquiums „Sozialpädagogik, Partizipation und Bildung“ bzw. „(Demokratie-)Bildung“. Insbesondere danke ich Sinah Mielich, Moritz Schwerthelm und Fabian Fritz für ihr solidarisches Engagement. Danke an Professorin Dr. Elisabeth Richter, ohne die ich nicht begonnen hätte, diese Arbeit zu schreiben. Mein Dank gilt weiterhin allen, die mich inhaltlich, organisatorisch oder moralisch dabei unterstützt haben, diese Arbeit zu verfassen. Zu diesen Personen gehören besonders Felix Marlow, Paul Vehse, Bahareh Sharifi, Imogen Feld, Denise Klinge, Jenny Stein, Christian Ziebertz, Laura Beckmann, Tiziana Calandrino sowie Christoph, Karin und Ulrike Lehmann. Für das geduldige Korrekturlesen danke ich Christiane Krause und Matthias Colloseus.
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Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen. . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.1 Historischer Rückblick: Kindertagesbetreuung und Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2.2 Das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.3 Kritik am Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“. . . . . . . . . . . 17 2.4 Deliberative Demokratietheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2.4.1 Diskurse und Entscheidungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2.4.2 Konsens, Kompromiss und Prozedur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 2.4.3 Solidarität und Pluralismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 2.4.4 Kommunikative Macht und administrative Macht. . . . . . . . . 25 2.4.5 Faktizität und Legitimität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 2.4.6 Verfahrensbedingungen für Diskurse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2.4.7 Pädagogische Implikationen von deliberativer Demokratie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 2.5 Radikale Demokratietheorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.5.1 Agonistische Politik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 2.5.2 Politik des Unvernehmens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2.6 Verknüpfung von deliberativer und radikalen Demokratietheorien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3 Rituale als performative Praktiken. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 3.1 Rituale als Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 3.2 Zur Performativität von Ritualen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 3.3 Strategien zur Ritualisierung von Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 3.3.1 Formalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 3.3.2 Traditionalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 VII
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3.3.3 Beständigkeit und Repetitivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 3.3.4 Regelgeleitetheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 3.3.5 Sakralisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3.3.6 Performance. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 3.4 Bildung und Erziehung in Ritualen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 3.4.1 Wie Rituale Erziehung und Bildung ermöglichen. . . . . . . . . 59 3.4.2 Transformative Bildungsprozesse und Erziehung. . . . . . . . . 62 3.4.3 Gemeinschaft und Differenz erzeugen. . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.4.4 (Selbst-)Disziplin fördern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 4 Das Forschungsprogramm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.1 Darstellung des Forschungsstands. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 4.1.1 Demokratische Partizipation in Kindertageseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 4.1.2 Bildung und Erziehung im Ritual . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 4.1.3 Ethnografische Forschung in Kindertageseinrichtungen. . . . 92 4.1.4 Implikationen aus dem Forschungsstand. . . . . . . . . . . . . . . . 95 4.2 Zusammenfassung der Forschungsfragen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 4.3 Forschungsstrategie: Ethnografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 4.3.1 Ethnografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 4.3.2 Kennzeichen der Ethnografie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 4.3.3 Der Forschungsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 4.3.4 Praktische Vorgehensweise und Datenschutz. . . . . . . . . . . . . 109 4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4.4.1 Forschungsfeld: Die Kindertageseinrichtung Seitenstraße . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 4.4.2 Der Feldzugang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 4.4.3 Die erste beobachtete Vollversammlung . . . . . . . . . . . . . . . . 120 4.4.4 Der erste beobachtete Morgenkreis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 4.4.5 Das Nachgespräch mit der Leiterin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 4.4.6 Konstruktion des Feldes und Feldeinstieg. . . . . . . . . . . . . . . 129 5 Darstellung der Forschungsergebnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 5.1 Der (lange) Prozess der Einführung einer Vollversammlung. . . . . . . 132 5.1.1 Ausgangspunkt: Der Morgenkreis als pädagogisches Ritual. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 5.1.2 Transition des Morgenkreises zur Vollversammlung. . . . . . . 162 5.1.3 Wie Morgenkreis und Vollversammlung ritualisiert werden. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 5.1.4 Zwischenfazit: Einführung der Vollversammlung. . . . . . . . . 201
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IX
5.2 Disziplin im Morgenkreis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 5.2.1 Ermahnen, Auffordern, Zurechtweisen . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 5.2.2 Disziplinarmacht ohne Begründung ausüben . . . . . . . . . . . . 209 5.2.3 Durchsetzen der Melderegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 5.2.4 Zum Selbstschutz Anstiften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 5.2.5 Ablenkungen verhindern. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5.2.6 Unfolgsamkeit der Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 5.2.7 Ritualisiertes Unterbrechen der rituellen Ordnung . . . . . . . . 216 5.2.8 Disziplinieren mit dem Ritual begründen . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.2.9 Zwischenfazit: Demokratische Gestaltung von Ritualen statt disziplinierende Rituale. . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . 224 5.3.1 Offen thematisierte Untergliederung der Differenzkategorie „Kinder“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 5.3.2 Differenzen, die nicht offen thematisiert werden. . . . . . . . . . 228 5.3.3 Zwischenfazit zur Herstellung von Differenzen . . . . . . . . . . 238 5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 5.4.1 Tagesordnung und Themen der Erwachsenen ausbreiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 5.4.2 Rituelle AG-Gründung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 5.4.3 Vorschläge verschwinden lassen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5.4.4 Problemlösung in Dialog überführen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 5.4.5 Zwischenfazit: Kinder als Demokrat*innen . . . . . . . . . . . . . 286 5.5 Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 6 Schlussfolgerungen und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 6.1 Kindern mehr Demokratie zutrauen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 6.2 Implikationen für die pädagogische Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 6.3 Reflexion der Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 6.4 Chancen und Grenzen der Vorgehensweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 6.5 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Literatur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
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Einleitung
Tina bringt das Flipchart herein, worauf ein Kind sagt: „Oh nein, nicht die blöde Vollversammlung!“ Ein anderes Kind sagt: „Ich mag die Vollversammlung.“ Das erste Kind sagt: „Die nervt, die Vollversammlung.“ (P.12.06.14)
Dieses Zitat stammt aus einem Beobachtungsprotokoll, das nach der Teilnahme an einer Vollversammlung einer Kindertageseinrichtung verfasst wurde. Die pädagogische Fachkraft Tina bereitet den Raum für die Versammlung vor, an der sowohl Kinder als auch Erwachsene beteiligt sind. Einige Kinder reagieren unmittelbar darauf. Ihre Reaktionen zeigen: Demokratie macht nicht immer allen Spaß. Auch deshalb wird in der gesellschaftlichen Debatte um Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen immer wieder um die Antworten auf die Fragen gerungen, ob Gremien für die Beteiligung von jungen Kindern sinnvoll sind und ob sie bestimmte Kinder ausschließen. Einerseits wird im Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ (Hansen u. a. 2011) gefordert, dass Partizipation von Kindern durch Rechte und Gremien strukturell verankert wird (Knauer u. a. 2016, S. 42). Das Konzept bildet die Grundlage für eine Zertifizierung als „Demokratie-Kita“, die Anfang 2017 zum ersten Mal an die Kita Dolli-Einstein-Haus in Pinneberg vergeben und von Tagesund Wochenzeitungen begeistert aufgenommen wurde: „[Das] Dolli-EinsteinHaus wird in der deutschen und internationalen Presse als erste Demokratie-Kita gefeiert“ (Mertin 2017; vgl. auch Olterman 2017). Auch Fach-Verbände und Organisationen empfehlen, Gremien für die Beteiligung von Kindern in Kitas einzurichten, wie beispielsweise das Deutsche Kinderhilfswerk in einer Broschüre zu Beteiligungsrechten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland: „Die Mitwirkungsrechte der Kinder müssen gesetzlich differenziert geklärt sein, es müssen regelmäßig Beteiligungsgremien tagen und parallel zu einzelnen Themen © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6_1
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projektorientierte Beteiligungsverfahren durchgeführt werden“ (Deutsches Kinderhilfswerk 2019, S. 95). Andererseits wird die strukturelle Verankerung von Demokratiebildung durch Einführung von Gremien in einer Expertise über Bildungsteilhabe und Partizipation als „Politiksimulation“ (Prengel 2016, S. 60) bezeichnet und weiter gefragt: „Setzt nicht die Adaption politikimitierender Entscheidungsprozesse unnötige und umständliche Prozesse der Willensbildung vor das spontane Handeln? Werden den Kindern von Erwachsenen hier politische Kulturtechniken der Entscheidungsfindung aus der gesellschaftlich strukturierten Makroebene vermittelt, obwohl diese Prozeduren auf der alltäglichen Mikroebene gar nicht gebraucht werden? Können nicht Kinder im spontanen Spiel, experimentellen Erproben und ästhetischen Gestalten barrierefrei ihren Handlungswünschen Ausdruck verleihen?“ (Prengel 2016, S. 61)
Demokratische Entscheidungsprozesse mit Kindern werden von Annedore Prengel in dieser Expertise als unnötig, umständlich und hindernisreich dargestellt, stattdessen sollten klassische Elemente der Kindergartenpädagogik (z. B. das Freispiel) gestärkt werden, die „im Kern partizipativ“ (Prengel 2016, S. 62) seien. Ursachen für die Meinungsverschiedenheit bezüglich Beteiligungsgremien für Kinder sind unterschiedliche Vorstellungen davon, was unter Demokratie1, Demokratiebildung2 und Partizipation3 zu verstehen ist und wie weit sie für Kinder im Vorschulalter jeweils gehen soll. Raingard Knauer und B enedikt
1Der Begriff „Demokratie“ ist weit gefasst und wird in vielen verschiedenen Kontexten verwendet, sodass eine Einigung auf eine eindeutige Definition nicht möglich scheint (Marschall 2014). Publikationen, in denen es um Demokratiebildung/Partizipation von Kindern geht, behelfen sich häufig damit, zwischen Demokratie als Gesellschafts- und Lebensform (Dewey 1949/1929) bzw. Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensform (Himmelmann 2004) zu unterscheiden. Auch diese Konzepte werden unterschiedlich verwendet; zudem wird „Demokratie als Lebensform“ nach Dewey bei Himmelmann verkürzt mit demokratischen Interaktionen gleichgesetzt (Richter u. a. 2016, S. 112). Exemplarisch sei hier auf eine aktuelle Broschüre verwiesen, in der Demokratie als Lebensform mit der Kommunikation im Alltag gleichgesetzt wird: „Demokratie als Lebensform (alltäglicher Umgang miteinander)“ (Friedrich-Ebert-Stiftung Forum Politik und Gesellschaft und AWO Landesverband Berlin e. V. 2018, S. 24). 2Mitunter werden auch die Termini „Demokratieerziehung“ (Büttner 2006) oder „Demokratieförderung“ (Müller u. a. 2010) verwendet. Demokratiebildung bedeutet, sich demokratische Praktiken und Einstellungen anzueignen, indem man sie praktisch ausübt (Knauer und Sturzenhecker 2013, S. 243). 3„Wie die pädagogische Debatte deutlich macht, kann der Partizipationsbegriff sehr unterschiedlich ausgelegt werden“ (Neumann und Hekel 2017, S. 38).
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Sturzenhecker verknüpfen Demokratie mit Partizipation als demokratische Partizipation, die auf eine Umgestaltung von Machtverhältnissen zwischen Kindern und Erwachsenen abstellt (Knauer und Sturzenhecker 2016, S. 8). Annedore Prengel fasst Demokratie als eine Art der Ordnung in der Kita und Partizipation als Sorge um das Wohlergehen der Kinder und Offenheit für ihre Themen und Interessen auf (Prengel 2016, S. 63 f.). Das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend fasst Demokratie als Umgang mit Vielfalt auf und möchte sie zur Extremismusprävention nutzen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2017). Eine weitere Ursache entspringt möglicherweise aus genereller Politikverdrossenheit und einem Misstrauen gegenüber demokratischen Entscheidungsprozessen und Institutionen. Die Friedrich-Ebert-Stiftung gibt alle zwei Jahre die „Mitte-Studie“ heraus, die beschreibt, wie stark oder schwach sich rechtsextreme, rechtspopulistische, neue rechte und illiberale Demokratieeinstellungen auch in der sogenannte „Mitte“ der Gesellschaft wiederfinden (Zick u. a. 2019, S. 26). In der aktuellen Studie von 2019 äußert sich jede fünfte befragte Person skeptisch über das eigene politische Engagement: „Über die Hälfte der Befragten hält es für sinnvoll, sich politisch zu engagieren. Rund 21 % stimmen allerdings eher oder voll zu, es sei sinnlos, sich politisch zu engagieren“ (ebd., S. 232). Die Autor*innen schließen aus der Befragung insgesamt: „Die berichteten deskriptiven Ergebnisse sprechen damit insgesamt nicht für eine sich in den letzten Jahren verschärfende Dekonsolidierung der Demokratie in Deutschland. Vielmehr lässt sich mit Blick auf alle in 2018/2019 gemessenen Einstellungen zur Demokratie ein Nebeneinander von antidemokratischen und demokratiebefürwortenden Mentalitäten in der Bevölkerung erkennen“ (ebd., S. 234).
Dieses Nebeneinander aus Befürwortung und Skepsis setzt sich möglicherweise in der Beurteilung von Gremien für Kinderbeteiligung fort, nach dem Motto: Wenn Demokratie im Großen schon nicht gut funktioniert – warum dann junge Kinder damit behelligen? Eine dritte, wichtige Ursache dafür, warum Gremien für die Kinderbeteiligung teilweise als unwichtig erachtet werden, ist, dass sie von der Fachöffentlichkeit und Politik eingefordert werden, aber Unsicherheit besteht, wie sie in der Praxis mit Leben gefüllt werden können. Es gibt daher kaum empirische Forschung dazu, wie Kinderräte und andere Gremien in Kitas arbeiten. Eine Ausnahme ist das Forschungsprojekt „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“ (Richter u. a. 2017), in dem ich als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig war. Aber auch hier mussten wir feststellen, dass es weiterer Forschung bedarf, wie
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formelle demokratische Partizipation durch Anleitungsmethoden unterstützt werden kann (Richter u. a. 2017, S. 152). Die vorliegende Studie setzt an der Forschungslücke zur Beteiligung von Kindern in Gremien an. Mit Knauer u. a. (2016, S. 41 f.) geht sie davon aus, dass Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen darauf basiert, Kinder an Entscheidungen zu beteiligen, die sie selbst und ihre Gemeinschaft betreffen, und dass diese Beteiligung durch eine verbindliche Klärung der Gremien, Rechte und Verfahren abgesichert werden sollte. Die Arbeit untersucht folglich die praktische Umsetzung von demokratischer Partizipation insbesondere in den Vollversammlungen einer Kindertageseinrichtung, die sich nach dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ (Hansen u. a. 2011) eine Verfassung gegeben hat. Für die Erforschung der formellen demokratischen Praktiken in Kinderbeteiligungs-Gremien nutze ich in der Arbeit eine ritualtheoretische Perspektive. Damit trage ich dem Umstand Rechnung, dass Rituale in der Frühpädagogik als besonders geeignet gelten, Kindern Orientierung zu vermitteln, und für die Gestaltung von Übergängen im Tagesablauf sowie die Gemeinschaftserzeugung eingesetzt werden (Jäger u. a. 2006, S. 7; Kleemiß 2011, S. 6 ff; Borg 2012; Nentwig-Gesemann u. a. 2017, S. 38 ff.). Wenn Rituale in Kitas benutzt werden, um Ordnung und Gemeinschaft zu erzeugen, liegt es nahe, dass auch die Gremiensitzungen ritualisiert werden. Eine Analyse der Art und Weise, wie die Gremiensitzungen ritualisiert werden, wie also eine geordnete Gemeinschaft erzeugt wird, liefert wichtige Anhaltspunkte, welche Art der Ordnung in der Kita produziert bzw. reproduziert wird. In Hinblick auf eine möglichst inklusive Demokratiebildung ist ebenfalls zu fragen, welche Ein- und Ausschlüsse über Ritualisierungen erzeugt werden. Ein Verständnis von Ritualen, das den Fokus auf das Prozessuale und Dynamische legt, vermag Rituale kritisch zu analysieren, ohne sie auf Stereotypie, Rigidität und Gewalt zu reduzieren (Wulf und Zirfas 2004, S. 5). Indem Rituale in dieser Arbeit als performative Praktiken theoretisch gefasst werden, legt sie einen Fokus auch auf die körperlichen Aspekte von Demokratiebildung (Zirfas und Wulf 2001, S. 191). Sie legt damit die Ethnografie als Forschungsstrategie4 nahe: Die Art und Weise, wie die Praktiken durchgeführt werden, lassen
4Hier beziehe ich mich auf Breidenstein u. a. (2015), die Ethnografie nicht als Methode im engeren Sinne auffassen: „Versteht man Methode (griechisch méthodos) als eine geregelte und immer wieder gleich anzuwendende Verfahrensweise, dann ist die ethnografische Vorgehensweise keine Methode, also keine Technik, die ein für alle Mal feststeht, unveränderlich im Kanon sozialwissenschaftlicher Methoden“ (Breidenstein u. a. 2015, S. 8).
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sich nicht ohne weiteres von den Akteur*innen erfragen, da sie zum Teil auf Handlungsschemata basieren, die ihnen nicht oder nur zum Teil reflexiv verfügbar sind5. Genau dort setzt die Ethnografie an: „Die ethnografische ‚Forschungsfront‘ verläuft an unterschiedlichen Grenzen der Verbalisierbarkeit: an den Linien des Stimmlosen, des Unaussprechlichen, Sprachlosen, Unbeschreiblichen, Vorsprachlichen, Sprachunfähigen und des sich wortlos Zeigenden“ (Hirschauer 2001, S. 437).
Ethnografie ermöglicht es also, Phänomene zu erforschen, die jenseits der Verbalisierbarkeit liegen, weil das ihnen zugrunde liegende Handlungswissen inkorporiert ist und selten oder nie in Sprache gefasst wird. An den im Rahmen dieser Forschungsarbeit zu analysierenden Praktiken sind professionell ausgebildete pädagogische Fachkräfte ebenso beteiligt wie Kinder im Alter von zwei bis sechs Jahren. Die Fähigkeiten der Beteiligten, zu erzählen, was sie tun und wie sie es tun, sind sehr unterschiedlich ausgeprägt. Die Ethnografie ermöglicht es, auch die Perspektive derjenigen, die (noch) nicht so gut explizieren können, umfassend zu berücksichtigen. Das Buch ist wie folgt aufgebaut: Zunächst stelle ich die theoretischen Bezüge der Forschungsarbeit dar. Dafür zeige ich in Kapitel 2, Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen, den Zusammenhang von Partizipation und Demokratiebildung auf, indem ich zunächst die Geschichte der Institution Kita auf ihr demokratisches Potenzial hin untersuche und dann das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ sowie die bisherige Kritik daran vorstelle. Zur Konkretisierung des Begriffs „Demokratie“ referiere ich zwei unterschiedliche Theorie-Stränge: Zum einen Theorien der deliberativen Demokratie, die für die sozialpädagogische Auseinandersetzung mit Demokratiebildung wichtig sind, zum anderen radikale Demokratietheorien. Diese Theoriestränge beziehe ich im Kapitel produktiv aufeinander und prüfe, wie sie sich auf das Forschungsfeld Kindertageseinrichtungen übertragen lassen. In Kapitel 3, Rituale als performative Praktiken, führe ich in den praxistheoretischen Zugang zu Ritualen ein. Ich lege dar, was unter der Performativität
5Hirschauer
gibt einen Überblick über den Diskurs über Körper als Wissensträger, welcher in zwei Varianten auftritt: Körper als „Grundausstattung jedes Zugangs zur Welt“ sind zum einen die primäre Quelle jeden Wissenserwerbs, zum anderen verfügen Körper über Wissen, welches „zum großen Teil überhaupt kein kognitives oder auch nur sprachlich verfasstes Wissen“ (Hirschauer 2008, S. 977 f.) ist.
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von Ritualen zu verstehen ist, und stelle die gebräuchlichsten Strategien zur Ritualisierung von Praktiken vor. Anschließend widme ich mich dem Thema der pädagogischen Implikationen von Ritualen: Wie Rituale erziehen und Bildungsprozesse anregen, aber auch welche Inhalte sie dabei häufig mittransportieren, fasse ich im Kapitel zusammen. Von den beiden Schwerpunkten Demokratiebildung und Rituale habe ich den ersten schwerer gewichtet: Das Hauptaugenmerk gilt der Betrachtung von Demokratiebildung aus einer praxistheoretischen Ritualperspektive. Das Forschungsprogramm stelle ich in Kapitel 4 vor. Das beinhaltet eine Darstellung des aktuellen Forschungsstands vor allem zu (demokratischer) Partizipation in Kindertageseinrichtungen. Im Kapitel fasse ich die Forschungsfragen, die sich aus der Auseinandersetzung mit Theorie und bisherigen Forschungsarbeiten zum Thema ergeben, zusammen. Ich beschreibe dann die gewählte Forschungsstrategie der Ethnografie und rekonstruiere den Einstieg in das Forschungsfeld. Damit bildet das Kapitel den Übergang zu den empirischen Ergebnissen. Die Darstellung der Ergebnisse in Kapitel 5 nimmt den größten Teil des Buches ein. Sie zeigt, dass die Einführung einer Vollversammlung in der konkreten Praxis der Kita bedeutet, dass ein bereits eingeführtes Ritual – der Morgenkreis – zu einem Gremium für die Beteiligung der Kinder – der Vollversammlung – abgewandelt wird. Ein Nebeneffekt dieser Vorgehensweise ist, dass die Logik des Morgenkreises auch in der Vollversammlung fortgesetzt wird und eine disziplinierende Wirkung auf die Kinderkörper hat. Zudem werden so Differenzen wirksam, die beeinflussen, wessen Themen Eingang in die Vollversammlung finden und wessen Themen nicht. In Kapitel 6 fasse ich die wichtigsten Ergebnisse zusammen und setze sie in einen wissenschaftlichen Kontext. Außerdem ziehe ich aus ihnen Schlussfolgerungen für die wissenschaftliche Auseinandersetzung und die pädagogische Praxis.
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Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen
Im Folgenden werde ich in das Thema Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen einführen. Dazu werfe ich zunächst einen Blick zurück auf die Verknüpfung von Kindertagesbetreuung und Demokratie, um herauszuarbeiten, welche demokratischen Potentiale der Kita als Institution für die Betreuung junger Kinder historisch zugeschrieben wurden. Anschließend werde ich auf das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ sowie Kritik an diesem Konzept eingehen. Im dritten Schritt werde ich Theorien deliberativer und radikaler Demokratien vorstellen und kritisch aufeinander beziehen.
2.1 Historischer Rückblick: Kindertagesbetreuung und Demokratie Kindertageseinrichtungen sollen seit Beginn ihrer Geschichte einerseits familiäre Defizite ausgleichen und somit eine geordnete Gesellschaft aufbauen helfen und andererseits die Emanzipation, d. h. Unabhängigkeit und Selbstbestimmung von bestimmten Gruppen oder gar der gesamten Gesellschaft befördern. Dieser an Kindertageseinrichtungen gestellte Anspruch geht deutlich in Richtung Demokratisierung der Gesellschaft, während der erstgenannte eher in Richtung Bewahrung einer nicht-demokratischen Gesellschaftsordnung geht. In den gut aufbereiteten Geschichten der Kindertagesbetreuung von Wilma Aden-Grossmann (2011) und Franz-Michael Konrad (2012) lassen sich dafür einige Anhaltspunkte finden. Zum einen sind mit der Erziehung in Kindertageseinrichtungen (bzw. Kinderbewahranstalten) seit Ende des 19. Jahrhunderts Bemühungen verbunden, soziale Ungleichheit zu reduzieren, indem ‚schlechte‘ Erziehung und Sozialisationsbedingungen in armen Familien © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6_2
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ausgeglichen werden (Aden-Grossmann 2011, S. 35 ff; Konrad 2012, S. 48). Zum anderen werden sie als Orte politischer Bildung gesehen, die die Kinder zum Leben in einer demokratischen Gesellschaft befähigen und so eine demokratische Gesellschaft aufbauen helfen. Bereits 1848 entstand eine Petition, die die Nationalversammlung aufforderte, in allen Gemeinden zu empfehlen, von Fröbel konzeptualisierte Kindergärten zu eröffnen1. Kindergärten sollten die erste Stufe eines einheitlichen Bildungssystems darstellen, das alle Mitglieder der Gesellschaft gleichmäßig bilden soll, um die Demokratisierung der Gesellschaft voranzubringen (Aden-Grossmann 2011, S. 30). Die Idee des Fröbelschen Kindergartens wurde von einer politisch motivierten Volksschullehrerbewegung aufgegriffen und unterstützt. Dabei stand die enge Verbindung von Kleinkindbetreuung und Volksschule im Mittelpunkt (Konrad 2012, S. 87). Mit der Idee des Kindergartens waren also gesellschaftlich-emanzipatorische Ziele verbunden, das Bildungssystem zu verbessern. Die Fröbelbewegung hatte noch eine andere emanzipatorische Stoßrichtung als die Überwindung von Klassengrenzen: Sie wollte Frauen ermöglichen, als Kindergärtnerinnen berufstätig zu werden, und war darin eng verbunden mit der bürgerlichen Frauenbewegung (ebd., S. 104). In den Fröbel-Kindergärten wurden jedoch hauptsächlich Kinder von Adeligen oder wohlhabenden Bürger*innen betreut, auch weil sie als Vereine organisiert waren und durch Elternbeiträge finanziert wurden (ebd., S. 88). Die Kinder von Arbeiter*innen besuchten hingegen sogenannte Kinderbewahranstalten in kirchlicher Trägerschaft mit einem Betreuungsschlüssel von einer*einem Erwachsenen auf 120 Kinder (Aden-Grossmann 2011, S. 35 ff.). Bertha von MarenholtzBülow, eine Nichte und Schülerin Fröbels, versuchte in emanzipatorischer Absicht zunächst, Fröbel-Einrichtungen für Kinder von Arbeiter*innen zu öffnen. Die bürgerlichen und adeligen Eltern unterstützten dies jedoch nicht. Dann bemühte sie sich darum, die Kinderbewahranstalten in Richtung FröbelPädagogik zu verändern (ebd., S. 35 ff.). Sie gründete sogenannte Volkskindergärten. Diese erreichten allerdings nicht den Standard der Fröbel-Kindergärten, da die ganztägige Betreuung und Verköstigung für die Familien der betreuten Arbeiterkinder zu teuer war. Sie sollten kompensatorische und emanzipatorische Erziehung leisten, um Bildungsgerechtigkeit herzustellen, realisierten aber nur
1Diese
Forderung wurde nicht nur nicht erfüllt, sondern nach Scheitern der MärzRevolution wurden Kindergärten 1851 in Preußen verboten (Aden-Grossmann 2011, S. 30). Allerdings könnte dies auch an einer Verwechslung der Person Friedrich Fröbels mit seinem Neffen Karl Fröbel, der mit der Revolution sympathisierte, gelegen haben (Konrad 2012, S. 83). 1860 wurde das Verbot bereits wieder aufgehoben (ebd., S. 88).
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Erziehung in bürgerlichen Idealen wie Fleiß, Sauberkeit, Arbeitsamkeit und Ordnungsliebe (ebd., S. 35 ff.). Eine einschneidende Rezession erfuhren die gesellschafts-emanzipatorischen Bemühungen in Kindergärten, als 1922 das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz erlassen wurde, das die Kindergärten explizit in den Dienst kompensatorischer Maßnahmen gegenüber ‚unzureichender‘ Erziehung in der Herkunftsfamilie stellte. Kindergärten wurden zur Aufgabe der Jugendhilfe; sie blieben in der Hand von oftmals konfessionellen Wohlfahrtsverbänden und setzten die Arbeit der Kinderbewahranstalten fort, anstatt sich zu demokratisierenden Bildungseinrichtungen zu entwickeln (Aden-Grossmann 2011, S. 46). Diese Entscheidung zeigte über die einschneidenden Veränderungen der Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs hinaus Wirkung: Noch in den 1960er Jahren galt der Kindergarten in Westdeutschland als eine „sozialfürsorgerische Einrichtung ohne Bildungsauftrag“ (ebd., S. 92). Im Gegensatz zu Westdeutschland erfolgte in der Deutschen Demokratischen Republik umgehend nach Ende des Zweiten Weltkrieges die Integration der Kindergärten in das Regelschulsystem. Ihre Aufgabe war die Vorbereitung auf die Einheitsschule und das Bildungssystem insgesamt. So sollten sie helfen, den Sozialismus aufzubauen. Kindergärten wurden also in ihrer politischen Bedeutung erfasst und genutzt (ebd., S. 96 f.). Allerdings ging es hierbei weniger um eine emanzipatorische Erziehung hin zu Mündigkeit als um eine Erziehung hin zu einer*einem guten sozialistischen Staatsbürger*in. Reform-pädagogische Ideen wurden nach kürzester Zeit verworfen und bereits 1949 offiziell durch eine sozialistische Kleinkindpädagogik ersetzt, die den pädagogischen Fachkräften die Leitung, Lenkung und Führung der Kinder vorschrieb, damit die Kinder die sozialistischen Ideale erlernten (Konrad 2012, S. 215). Insgesamt waren vor allem die ökonomischen Interessen der DDR, die Erwerbsarbeit von Frauen zu fördern, ausschlaggebend für den (erfolgreichen) Ausbau der Kindertagesbetreuung (ebd., S. 210). Zudem wurde die Erziehung in Kindertageseinrichtungen 1959 durch das Schulgesetz in den Dienst der Schulvorbereitung gestellt (ebd., S. 216). Im Zuge der Wiedervereinigung mit der BRD wurden im Frühjahr 1990 sämtliche Pläne und Kindergartenordnungen der DDR außer Kraft gesetzt (ebd., S. 220). In der BRD änderte sich in den 1970er Jahren das Verständnis der Bedeutung von Kindertagesbetreuung. Neue Erkenntnisse der Psychologie und Anthropologie machten (wieder) deutlich, dass der Lernerfolg von Kindern weitaus weniger von einer angeborenen Begabung als von geeigneten Angeboten abhing (Knoll 2016, S. 179). Es setzte sich die Idee durch, dass das soziale Milieu und der damit zusammenhängende Erziehungsstil der Eltern den
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chulerfolg von Kindern maßgeblich beeinflussen, dass also der Grundstein S für soziale Ungleichheit bereits im Vorschulalter gelegt wird (ebd., S. 179 f.).2 Klaus Mollenhauers Argumentation im Band „Begabung und Lernen. Ergebnisse und Folgerungen neuer Forschungen. Gutachten und Studien der Bildungskommission“ im Jahr 1970 war allerdings, dass der Erziehungsstil in „Unterschichtsfamilien“ nicht zu den Anforderungen passe, die demokratisch reformierte Schulen berechtigterweise an Kinder stellen müssten. Daher müsse im Rahmen von vorschulischer Bildung und Erziehung ein Ausgleich geschaffen werden (vgl. ebd., S. 180 f.). In der Folge fiel der Kita wieder die Rolle zu, für frühzeitig ausgleichende Gerechtigkeit zwischen Unter- und Mittelschichtskindern zu sorgen, indem die Unterschichtskinder dort Kompensationsleistungen erhalten (vgl. auch Konrad 2012, S. 202; Knoll 2016, S. 181). Ebenfalls in den 1970ern kehrten aber auch emanzipatorische Bemühungen einer demokratischen Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen in der BRD zurück: In einem Vortrag auf einem Vorschulkongress in Hannover stellte die linksliberale FDP-Politikerin Hildegard Hamm-Brücher 1970 fest, dass Demokratie als Staats- und Gesellschaftsform nicht ausreiche, um sie widerstandsfähig und glaubwürdig zu machen. Demokratie müsse gelebt werden, und das wiederum müsse bereits im frühen Alter, also im Kindergarten, gelernt werden (zitiert nach Knoll 2016, S. 188). Bei dieser frühen Forderung nach Demokratiebildung in Kitas waren die bereits erwähnten kompensatorischen Leistungen zwar ebenfalls wichtig, die die unterschiedliche Qualität der Erziehung im Elternhaus ausgleichen und Chancengleichheit unter den Kindern herstellen sollten (Knoll 2016, S. 189): „Den ersten Leitsatz – ‚Demokratie verwirklichen‘ – konnotiert [Hamm-Brücher] folgend mit der Ambition der Herstellung von Chancengleichheit“ (ebd., S. 189). Demokratiebildung in der Version von 1970 beschränkte sich aber nicht auf die Herstellung von Chancengleichheit, sondern wurde nach dem Vorbild von Summerhill als eine Erziehung hin zu demokratischer Mündigkeit entworfen, die über eine demokratisch-gleichberechtigte Strukturierung der Kita funktioniert. Kinder und Erwachsene sollten die alltäglichen Probleme und Konflikte gleichberechtigt und in geteilter Verantwortung lösen (ebd., S. 189). Summerhill und dessen Gründer
2Dies
deckt sich mit den Befunden aus der 31 Jahre später veröffentlichten PISA-Studie. Diese zeigte, dass der Schulerfolg in Deutschland maßgeblich von der Herkunft der Schüler*innen abhängt (Aden-Grossmann 2011, S. 214).
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Benjamin S. Neill hatten großen Einfluss auf die sogenannte antiautoritäre – ursprünglich „repressionsfreie“ – Erziehung, die ab 1968 in Frankfurt durch die Gründung der Kinderschule durch Monika Seifert in Deutschland bekannt wurde (Aden-Grossmann 2011, S. 143 f.). Die antiautoritäre Bewegung ist gekennzeichnet durch den Versuch einer gesellschaftlichen Veränderung hin zu einer größeren individuellen Freiheit im Sinne einer besseren Befriedigung der Grundbedürfnisse und Triebe. Sie ist eng verbunden mit der Frankfurter Schule der kritischen Theorie sowie der Psychoanalyse und wurde in der Kinderladenbewegung stark rezipiert und umgesetzt (ebd., S. 142 f.). Besonders interessant in Bezug auf das Thema der Demokratiebildung als emanzipatorischer Prozess ist das Projekt KITA 3000 der Stadt Frankfurt am Main, das zwischen 1971 und 1977 umgesetzt wurde. Dabei ging es zum einen um den Ausbau von Betreuungsplätzen, zum anderen aber auch um eine inhaltliche Neubestimmung der Kindertagesbetreuung: Die Kitas sollten ein Konzept erarbeiten für eine „zwangfreie, soziale Ungleichheiten ausgleichende, zu Kritik befähigende Erziehung“ (Michels 1978, S. 6). Dadurch, dass für die Durchführung des Projektes Personen eingestellt wurden, die aus der Kinderladenbewegung und dem Arbeitskreis Kritische Soziale Arbeit kamen, etablierten sich im Projekt d emokratisch-selbstverwaltete Strukturen. Es gab keine Leitung, sondern das gesamte Team der in den Kitas Beschäftigten verwaltete sich selbst und entsendete Delegierte in den KitaRat der Stadt Frankfurt (Aden-Grossmann 2011, S. 160 f.). Diese Struktur war ein Kompromiss, entstanden aus langen Verhandlungen der Verantwortlichen mit der Stadt. Eigentlich hatte die Arbeitsgemeinschaft viel weitergehende rätedemokratische Strukturen einführen wollen: einen Erzieherrat, ein Kindertagesstätten-Kollektiv, in das neben den pädagogischen und nichtpädagogischen Fachkräften sowie Trägervertreter*innen auch Delegierte aus den Kindergruppen einbezogen werden sollten, und eine Tagesstätten-Vollversammlung mit sämtlichen Beteiligten und den Eltern (ebd., S. 163). Dieses Vorhaben scheiterte an Verwaltung und Stadtparlament; nach Sieg der CDU bei der Kommunalwahl 1978 wurde das Projekt gegen die Proteste der Kinder und Eltern beendet (ebd., S. 164). Eine Beteiligte resümiert: „Fast sechs Jahre lang hatten es die 20 Kitas anders: Statt einer Leiterin war das Erzieher-Team verantwortlich, statt vorgegebenem Tagesablauf bestimmten die Kinder, was zu tun sie Lust hatten, statt auf Sauberkeit sah man auf soziales Verhalten, statt Ordnung wurde Partnerschaft und Kooperation angestrebt“ (Michels 1978, S. 6). Im Projekt KITA 3000 wurden also bereits die Ziele der Verringerung von Ungleichheit und der Emanzipation – verstanden als Kritikfähigkeit – zusammengedacht. Es wurden Gremien für die Beteiligung von Kindern eingeführt und somit Versuche
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u nternommen, die Partizipation von Kindern strukturell zu verankern. Sowohl in Ost- als auch in Westdeutschland hat es danach mehr als zwei Jahrzehnte gebraucht, wieder zu dieser Forderung zurückzukommen. In der Debatte um Demokratiebildung bzw. um Partizipation in Kindertageseinrichtungen seit dem Jahr 2000 wird implizit an die Forderung angeknüpft, indem ebenfalls die Notwendigkeit der Partizipation von Kindern herausgestellt, dabei aber betont wird, dass sie vor allem durch den Situationsansatz und die Freinet-Pädagogik beeinflusst sei (Danner 2018, S. 3 f.). Beim Situationsansatz handelt es sich um ein pädagogisches Konzept, das aus einem Modellprojekt der Arbeitsgruppe Vorschulerziehung des Deutschen Jugendinstituts entstammt. Im Rahmen des Modellprojekts wurde von 1971 bis 1976 ein Curriculum „Soziales Lernen“ entwickelt und implementiert. Es hatte zum Ziel, Kinder unterschiedlicher Herkünfte zu ermächtigen, in Gegenwart und Zukunft autonom und kompetent handeln und denken zu können (Aden-Grossmann 2011, S. 179). Anhand von exemplarischen Lernsituationen aus dem Alltag von Kindern sollten die pädagogischen Fachkräfte befähigt werden, ihre Arbeit an der Lebensrealität der Kinder auszurichten und den Kindergarten nach außen (Familien und Umfeld) und innen (Gruppenstruktur) zu öffnen (Konrad 2012, S. 187). Der Situationsansatz erforderte auch ein anderes Verhältnis der pädagogischen Fachkräfte zu den Kindern: Sie sollten sich selbst nicht mehr nur als Lehrende, sondern auch als Lernende verstehen. Dadurch sollten Hierarchien zwischen Kindern und Erwachsenen abgebaut werden; die Erwachsenen sollten zu Bezugspersonen werden. Aden-Großmann sieht in diesem Aspekt deutliche Einflüsse der antiautoritären Bewegung (Aden-Grossmann 2011, S. 179). Der Situationsansatz versuchte insbesondere über thematische Projekte, Kinder an Entscheidungen zu beteiligen. Die Freinet-Pädagogik, die auf den Ideen des Reformpädagogen Celestin Freinet basiert und in den 1990ern für Kindertageseinrichtungen übersetzt wurde, fordert ebenfalls die Partizipation von Kindern, verknüpft mit den Fragen nach Freiheit und Verantwortungsübernahme (Danner 2018, S. 3 f.). In den frühen 2000er-Jahren wurden zwei wichtige Modellprojekte durchgeführt und dokumentiert, die auf eine demokratische Bildung von Kindern und Erwachsenen in Kindertageseinrichtungen abzielten: Zum einen das Projekt „Die Kinderstube der Demokratie“ des Landes Schleswig-Holstein (Laufzeit: 2001– 2003), zum anderen das Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ der Stadt Eberswalde in Brandenburg (2002–2007) (vgl. auch den Forschungsstand in Abschnitt 4.1.1). Beide gingen davon aus, dass Demokratie von jeder Generation neu gelernt werden muss und dass in Kindertageseinrichtungen der Grundstein dafür gelegt werden soll und kann (Hansen u. a. 2004, S. 8; HöhmeSerke 2005, S. 4).
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Das Modellprojekt „Die Kinderstube der Demokratie“ hatte explizit zum Ziel, Kindern politische Bildung zu ermöglichen: „Politische Bildung ist ein Bestandteil des Bildungsauftrags von Kindertageseinrichtungen und das eigentliche Thema des Modellprojekts ‚Die Kinderstube der Demokratie‘“ (Hansen u. a. 2004, S. 64). Insgesamt entwickelte sich aus dem Projekt das gleichnamige Konzept des Instituts für Partizipation und Bildung e. V. (Kiel) (Hansen u. a. 2004; Hansen u. a. 2011). „Die Kinderstube der Demokratie“ nimmt vornehmlich das Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen in den Einrichtungen in den Fokus. Basierend auf der Feststellung, dass zwischen Erwachsenen und Kindern stark asymmetrische Machtbeziehungen bestehen, fordert das Konzept eine Machtabgabe der Erwachsenen an die Kinder. Diese soll über das Verabschieden einer Kita-Verfassung strukturell verankert und damit gegen Willkür abgesichert werden (Knauer und Hansen 2010). In diesem Ansatz wird die Partizipation der Kinder an Entscheidungen besonders betont (Hansen u. a. 2011) und als demokratische Partizipation mit dem Ziel der Demokratiebildung verbunden (Richter u. a. 2016, S. 107 f.). Stärker als bei „Demokratie leben“ wurde von der Kinderstube in besonderer Weise die Notwendigkeit einer strukturellen Verankerung der Beteiligung von Kindern betont, damit diese nicht personen- oder tagesformabhängig gewährt, sondern als wirkliches Recht der Kinder umgesetzt wird (Hansen u. a. 2004, S. 18). Anders als in den 1970ern geht es auch nicht primär um den Abbau sozialer Ungleichheit über ausgleichende Bildungsprogramme, sondern um eine gleichberechtigtere Gestaltung des Alltags in Kindertageseinrichtungen in der Gegenwart. Eine emanzipatorische Bildung mittels Partizipation sowie der Schutz der Kinder vor Machtmissbrauch stehen im Zentrum. Insbesondere die Diskussionen um den Kinderschutz haben zu einer neuen Beschäftigung mit der Beteiligung von Kindern geführt: Seit Inkrafttreten des Bundeskinderschutzgesetzes am 1. Januar 2012 ist im SGB VIII rechtlich verankert, dass „zur Sicherung der Rechte von Kindern und Jugendlichen in der Einrichtung geeignete Verfahren der Beteiligung sowie der Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten Anwendung finden“ müssen, damit diese Einrichtungen eine Betriebserlaubnis erhalten können (§ 45 (1) SGB VIII; Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012). Diese Bedingung gilt sowohl für stationäre Einrichtungen der Heimerziehung als auch für Kindertageseinrichtungen. Auch generell haben Kinder in der Kinder- und Jugendhilfe einen Rechtsanspruch auf Beteiligung in Belangen, die sie selbst betreffen: „Kinder und Jugendliche sind entsprechend ihrem Entwicklungsstand an allen sie betreffenden Entscheidungen der öffentlichen Jugendhilfe
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zu beteiligen“ (§ 8 (1) SGB VIII). Somit ist die Partizipation von Kindern in Kitas seit 2012 gesetzlich vorgeschrieben. Neu gegründete Einrichtungen sind gefordert, darzulegen, dass sie geeignete Verfahren zur Umsetzung anwenden. Dies hat zur Folge, dass vermehrt in den Blick genommen wird, wie die Beziehungen zwischen Erwachsenen und pädagogischen Fachkräften egalitärer gestaltet und Kinder vor einem Machtmissbrauch der Erwachsenen geschützt werden können. Wie oben dargelegt, war die Verknüpfung von Demokratie und Pädagogik, insbesondere institutionalisierter Frühpädagogik, seit den 1970ern mit dem Wunsch verknüpft, eine Chancengleichheit von Kindern verschiedenster Herkünfte herzustellen. Mittlerweile werden diese Bemühungen um mehr Chancengleichheit unter Berücksichtigung von individuellen Voraussetzungen der Kinder unter dem Stichwort der Inklusion neu verhandelt (Beck 2016). Dabei spielt u. a. die Förderung einer demokratischen Spiel- und Kinderkultur eine wichtige Rolle (Prengel 2016, S. 42 f.). Darüber hinaus hat sich das Bild vom Kind in der Entwicklungspsychologie und der Erziehungswissenschaft gewandelt: Unter dem Stichwort des „kompetenten Kindes“ wird anerkannt, dass Kinder ab dem Zeitpunkt der Geburt soziale Wesen sind, die aktiv kommunizieren und sich selbst bilden (Thole u. a. 2013, S. 26 ff; S. 31). Trotz dieser Impulse und neuen Entwicklungen bleiben eine die politische und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindertageseinrichtungen häufig noch immer der Idee verhaftet, die Reproduktion von gesellschaftlicher Ungleichheit durch Frühförderung in der Kita oder sogar schon in der Krippe verhindern zu können. Durch diese Debatte wird der Fokus vom Schulsystem auf Kindertageseinrichtungen gelenkt (Diehm 2018, S. 15 f.). Letztlich wird jedoch den Familien selbst die Schuld daran zugeschoben, dass Kinder ungleiche Startchancen haben. Außerdem wird die Vorstellung, dass soziale Gleichheit durch Bildungsgerechtigkeit hergestellt werden kann, propagiert. Jedes einzelne Kind muss sich nur genug bilden können, dann erhält es später im Leben Zugang zu all dem, was ihm zusteht: „Die Vorstellung von Chancengerechtigkeit qua Bildung als Schlüssel für Teilhabemöglichkeiten verweist auf das Ideal einer bürgerlichen, nach meritokratischen Regeln funktionierenden Gesellschaft, zu der auch ihre Kinder einen Zugang erhalten sollen. Die Konzepte Frühe Bildung und Frühe Förderung verheißen insofern auch, Ungleichheit re-produzierende gesellschaftliche Ordnungen aufzubrechen […]“ (ebd. S. 17). Insgesamt lässt sich festhalten: Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen verfolgt seit Anfang des 21. Jahrhunderts verschiedene, miteinander verknüpfte Ziele: Es geht um die Demokratisierung der Verhältnisse zwischen
2.2 Das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“
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Kindern und Erwachsenen und der verschiedenen Kinder untereinander3 zur Sicherung, Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung von Demokratie, in der soziale Ungleichheit verringert wird und Kinder vor Übergriffen durch Erwachsene geschützt sind. Dabei variiert je nach Konzept oder ‚Schule‘, welche Aspekte stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Die hier vorliegende Arbeit bezieht sich stark auf das sozialpädagogische Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“, weil dieses die Notwendigkeit der Einführung von Gremien für die Beteiligung von Kindern und damit die strukturelle Verankerung von Partizipation fordert (Knauer u. a. 2016, S. 42). Im folgenden Kapitel werde ich dieses Konzept noch einmal genauer vorstellen.
2.2 Das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ Das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ hat zum Ziel, Kindern durch die Partizipation an sie betreffenden Entscheidungen Demokratiebildung zu ermöglichen: „Demokratiebildung meint den Prozess der aktiven Aneignung von Demokratie durch eigene Beteiligung an Demokratiepraxis“ (Knauer und Sturzenhecker 2013, S. 243). Damit gibt es dem facettenreichen Begriff der Partizipation eine inhaltliche Ausrichtung, ohne dabei Partizipation und Demokratie in eins zu setzen (Richter u. a. 2016, S. 107 f.). Diese Fassung von demokratischer Partizipation geht explizit über die sozialpädagogische Lesart des Begriffs hinaus, dass Kinder lediglich informell an Entscheidungen mitwirken, die Erwachsene treffen (ebd.). Die Grundlagen des Konzepts werden in Hansen u. a. (2011) umfassend beschrieben und wurden von den Autor*innen seitdem, immer in enger Verzahnung von Theorie und Praxis, sukzessive weiterentwickelt, u. a. mit einem Schwerpunkt auf der Förderung des Engagements von Kindern (Hansen und Knauer 2017). Auf der Basis der im Modell-Projekt gewonnenen Erkenntnisse wurde ein Fortbildungskonzept entwickelt, das von 2008 bis 2010 wiederum in der Praxis getestet und weiterentwickelt wurde. Seit 2006 werden Multiplikator*innen ausgebildet und zertifiziert. Das Konzept wird heute bundesweit in über 200 Einrichtungen umgesetzt (Richter u. a. 2017, S. 24 ff.).
3Annedore
Prengel nutzt den Begriff „Bildungsteilhabe“ für die Bezeichnung von Strategien, die horizontalen Unterschiede innerhalb einer jungen Generation abzuschwächen, und den Begriff „Partizipation“ für die Versuche, vertikale Unterschiede zwischen älterer und jüngerer Generation zu vermindern (Prengel 2016, S. 13).
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Die Kinderstube setzt bei den Erwachsenen an, die als professionell ausgebildete pädagogische Fach- und Leitungskräfte rechtlich und gesellschaftlich verantwortlich für die Erziehung in Kindertageseinrichtungen sind. Ihnen fällt die Aufgabe zu, die Einrichtungen jeweils so zu gestalten, dass die Kinder sich selbst demokratisch bilden können (Knauer u. a. 2016, S. 39). Das Konzept erkennt ein Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen an, das den Erwachsenen zum einen die Verantwortung für das Wohlergehen der Kinder erteilt, zum anderen aber die Gefahr des Missbrauchs in sich trägt. Ohne sich aus ihrer Verantwortung zu ziehen, sollen die Erwachsenen daher Macht an die Kinder abgeben (Knauer und Hansen 2010; Knauer u. a. 2016). In einer mehrtägigen Teamfortbildung wird durch die pädagogischen Fachkräfte und die Kita-Leitung deshalb entweder für ein Partizipationsprojekt oder in Form einer Kita-Verfassung festgelegt, welche Rechte auf Beteiligung an Entscheidungen die Kinder in der Einrichtung haben sollen und durch welche Gremien und Verfahren die Kinder diese Rechte geltend machen können (Knauer u. a. 2016, 42). Insbesondere das Einführen von Gremien dient sowohl der realen Mitbestimmung von Kindern im Alltag als auch der politischen Bildung, denn hier können Kinder ganz konkrete Erfahrungen mit demokratischen Entscheidungsprozessen in Gruppen machen (Hansen u. a. 2011, S. 57). Welche Rechte den Kindern in der Einrichtung zugestanden werden und wie die konkrete Gremienstruktur gestaltet ist, hängt vom jeweiligen Konzept der Einrichtung (bspw. ob es feste Gruppen gibt) sowie vom demokratischen Verständnis der beteiligten pädagogischen Fachkräfte ab (Richter und Lehmann 2016). Ein weiterer zentraler Punkt der Kita-Verfassung ist der Umgang mit Regeln: Im Einklang mit den in der Verfassung festgelegten Rechten werden im Alltag der Kita Regeln entweder mit den Kindern gemeinsam als „Kita-Gesetze“ oder ohne Beteiligung der Kinder als „Kita-Verordnungen“ erarbeitet. In beiden Fällen sollte sichergestellt werden, dass der Umgang mit Regelbrüchen transparent und nachvollziehbar ist, damit er ggf. zum Gegenstand der öffentlichen Verhandlung gemacht werden kann (Knauer u. a. 2016, S. 42 f.). Das Demokratieverständnis des Konzepts sieht eine Unterscheidung zwischen Demokratie als Regierungsform und Demokratie als Lebensform vor und bezieht sich dabei auf John Dewey: „Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsamen und miteinander geteilten Erfahrung“ (Dewey 1949/1929, S. 121). Aus der Forderung des Konzepts, Demokratie als Lebensform zu realisieren, ergibt sich, sie nicht als abstraktes Wissen zu vermitteln, sondern als „aktive, öffentlich geteilte kommunikative Verständigungspraxis aller Betroffenen“ (Knauer und
2.3 Kritik am Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“
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Sturzenhecker 2013, S. 248) umzusetzen. Dies macht den hohen Stellenwert von Partizipation deutlich, die strukturell verankert und im Alltag gelebt werden soll. Demokratie als „gemeinsame und miteinander geteilte Erfahrung“ heißt, dass die alltäglichen Interaktionen demokratisch zu gestalten sind (Knauer u. a. 2016, S. 40). Wichtig ist, dass für das Konzept nicht nur die Lebensform oder nur die Regierungsform von Demokratie umgesetzt werden soll, sondern eben beide Formen: „Eine pädagogische Einrichtung, die zur Demokratie erziehen will, muss daher Erfahrungen von Demokratie sowohl als Regierungsform als auch als Lebensform eröffnen“ (Knauer u. a. 2016, S. 40). Das Verständnis von Demokratie, das im Konzept vertreten wird, bezieht sich nicht ausschließlich auf Deweys Unterscheidung von Demokratie als Lebensund Regierungsform, sondern geht darüber hinaus, wie ich in Abschnitt 2.4 darstellen werde. Zunächst werde ich jedoch einen Blick auf die Kritik werfen, die am Konzept geübt wurde.
2.3 Kritik am Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ Durch die Einführung von Gremien und Verfahren für gemeinsame Entscheidungen wird nicht nur die Ebene Erwachsene-Kinder angesprochen, auf die das Konzept abzielt, sondern implizit und moderiert durch die Erwachsenen auch die Ebene der Kinder untereinander. Denn wenn die Kinder gemeinsam Entscheidungen treffen sollen, müssen Gremien und Verfahren so moderiert und gestaltet werden, dass sie nicht exkludieren oder soziale Hierarchien zwischen den Kindern einführen und verstärken. Insbesondere dieser Punkt der Gestaltung von Gremien und Verfahren provoziert Kritik: Annedore Prengels Kritik am Konzept richtet sich explizit gegen die Betonung der Notwendigkeit einer strukturellen Verankerung von Partizipation. Sie bezeichnet das als „Politiksimulation“: „Nahegelegt wird, dass Partizipation im Elementarbereich vor allem anhand politiksimulierender Verfahren möglich sei […]“ (Prengel 2016, S. 60). Prengel sieht im Konzept, das sie gleichzeitig als „originell“ anerkennt, die Gefahren, dass nur ganz bestimmte Formen von Partizipation als solche anerkannt werden, hingegen solche im Spiel und im Dialog zwischen Kind und Erwachsenen unsichtbar werden; dass zu viel Emphase auf die Hinterfragung der Machtverhältnisse gelegt wird; dass Kinder mit guten sprachlichen Fähigkeiten die anderen dominieren (Prengel 2016, S. 61). Sie spitzt ihre Kritik zu,
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indem sie mittels rhetorischer Fragen behauptet, dass das spontane Handeln der Kinder durch „umständliche Prozesse der Willensbildung“ ins Hintertreffen gerate, dass die Prozeduren zur Entscheidungsfindung in der Kita nicht gebraucht würden, unter anderem weil Kinder ihre Wünsche und Bedürfnisse in ausreichendem Maße im Spiel und in künstlerischem Handeln ausdrücken können (Prengel 2016, S. 61). Prengel fordert auf, stattdessen die Traditionen aus der Kindergartenpädagogik, die im Kern partizipativ seien, weiter hochzuhalten und anzuerkennen. Einige solcher partizipativer Traditionen zählt sie auf: Freispiel, Freiarbeit, Kinderprojekte, Liedspiele im Kreis und Kreisgespräche. In diesen Traditionen sieht sie dem Zusammenhang von Schutz, Bildung und Partizipation angemessen Rechnung getragen. Annedore Prengel geht es im Kern darum, Kindern „Spielräume“ für eigenständige Entscheidungen zu eröffnen (Prengel 2016, S. 62). Die Wortwahl macht bereits deutlich: Eine strukturelle Beteiligung der Kinder an sie betreffenden Entscheidungen ist nicht gewollt, erscheint als nicht kindgerecht und als Ungleichheit reproduzierend. Diese Kritik von Prengel ist nicht neu: Bereits im Bericht zum ersten Modellprojekt wird vorweggenommen: „Viele Erwachsene befürchten, dass formalisierte Beteiligungsrituale pseudodemokratisch und nicht kindgerecht seien und hier erwachsenenspezifische Formen der Mitbestimmung ungerechtfertigterweise auf Kinder übertragen würden“ (Hansen u. a. 2004, S. 21). Ein Grund dafür ist, dass Kindern zwar offiziell der Status von Akteur*innen, als Träger von Rechten zugesprochen wird (SGB VIII und UN-Kinderrechtskonvention, von Deutschland im Jahr 1998 ratifiziert), landläufig aber weiterhin das Bild des Kindes als entweder besonders vulnerablem oder als gefährlichem Entwicklungsund Mängelwesen vorherrscht (Bühler-Niederberger 2010, S. 25 ff.). Dem aktuellen erziehungswissenschaftlichen, kindheitssoziologischen und entwicklungspsychologischen Diskursständen trotzend, die die vielen Fähigkeiten sehr junger Kinder betonen und ihnen Subjektstatus statt Erziehungsobjekthaftigkeit zusprechen (Thole u. a. 2013), machen politische Reformstrategien noch immer Anleihen bei Fürsorgeargumentationen. Diese sind dadurch gekennzeichnet, dass Kinder als gefährdet und gefährlich gleichermaßen begriffen werden, dass sich auf Kinder bestimmter Minderheiten fokussiert wird, dass Kinder als Objekte statt als Subjekte mit eigenen Meinungen aufgefasst werden und dass daher eine bestimmten (konservativen) Werten verpflichtete Erziehung propagiert wird (Bühler-Niederberger u. a. 2010, S. 8). Annedore Prengel verkennt die von ihr als Politiksimulation verworfenen Aktivitäten in der „Kinderstube der Demokratie“: Mit einem Verständnis davon, dass die Entscheidungsprozesse in der Kita genauso politisch sind wie die Entscheidungen in anderen gesellschaftlichen Bereichen – etwa wie in der
2.4 Deliberative Demokratietheorie
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Bürger*innenbeteiligung im Rahmen von stadtplanerischen Entscheidungen4 – geht es eben nicht um Simulation, sondern um reale Beteiligung der Kinder an den sie betreffenden Entscheidungen, eben um demokratische Partizipation. Allerdings bleibt die Frage bestehen, wie angesichts der Einbettung und Verflochtenheit von Kitas in gesellschaftliche Herrschaftsstrukturen gewährleistet werden kann, dass Gremien und Verfahren möglichst nicht diskriminieren. Denn wenn sinnvollerweise Demokratiebildung das Erleben von Demokratie mit dem Erlernen von Demokratie in Bezug setzt, dann stellt das große Herausforderungen an die Organisation von Erleben, d. h. wie inklusiv die Gremien und Verfahren gestaltet werden. Dies erfordert eine eingehende Auseinandersetzung damit, wie Demokratiebildung in die Praxis umgesetzt wird und wie egalitär, d. h. nicht diskriminierend, sie dabei sein kann.
2.4 Deliberative Demokratietheorie Im Zuge des Forschungsprojekts „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“ (Uni Hamburg, Laufzeit: 2013–2016), das die Umsetzung des Konzepts Die Kinderstube in der Praxis erforschte, wurde vom Kolloquium des Fachbereichs Sozialpädagogik der Universität Hamburg herausgearbeitet, dass sich das demokratietheoretische und -bildnerische Potential des Konzepts nicht auf Deweys Unterscheidung beschränkt5, sondern auf produktive Weise mit Jürgen Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns sowie seiner deliberativen Demokratietheorie verknüpft werden kann6 (Richter u. a. 2016, S. 111 ff.). Jürgen Habermas hat sich selbst auf Deweys Idee einer Demokratie, die sich nicht nur auf die Organisation von Regierung beschränkt, bezogen und sie in sein Konzept einer deliberativen Demokratie einfließen lassen (Richter u. a. 2017, S. 47). Habermas’ deliberative Demokratie ist ein wichtiger Bezugspunkt für demokratische Partizipation in sozialpädagogischen Institutionen, weil
4Anders
als bei der ‚erwachsenen‘ Bürger*innenbeteiligung stellt sich in der Kita allerdings weniger die Frage, wer Zeit und Muße hat, bei den Beteiligungsformaten anwesend zu sein. 5In der Version des Konzepts von 2011 wird ohnehin auf Gerd Himmelmanns Unterscheidung zwischen Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform Bezug genommen (vgl. dazu Hansen u. a. 2011, S. 116). 6Dieses Diskussionsergebnis basiert vor allem darauf, dass Helmut Richter (1998, 1991) bereits Habermas’ Schriften für die Sozialpädagogik fruchtbar gemacht hat.
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2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen
sie dem Umstand Rechnung trägt, dass eine auf Konkurrenzmodellen basierende Demokratie als Regierungsform historisch und empirisch nicht geeignet scheint, Menschen demokratisch zu bilden und an Demokratie zu binden (Richter u. a. 2016, S. 109 ff.). Deliberative Demokratietheorien insgesamt lassen sich als normative Demokratietheorien fassen. Sie liefern also keine analytische Beschreibung bestehender Demokratien, sondern entwickeln einen Maßstab, an dem sich empirisch beobachtbare politische Systeme messen lassen können. Dabei setzen sie sich intensiv mit dem Phänomen der Rationalität der politischen Willensbildung auseinander (Buchstein 2013, S. 120). Deliberative Demokratietheorien richten sich gegen die Annahme etwa der konkurrenzorientierten Demokratietheorien, wie sie von z. B. Josef A. Schumpeter vertreten wurde, dass die Eigeninteressen von politischen Akteur*innen a priori vorhanden, starr seien und lediglich von Repräsentant*innen gegen die Interessen anderer durchgesetzt werden müssten (Buchstein 2013, S. 117 ff.). Stattdessen vollziehen sich Meinungs- und Willensbildung in Form von deliberativen Diskursen. „Der Zentralbegriff dieser Demokratietheorie[n] ist Deliberation, die argumentativ abwägende, verständigungsorientierte Beratschlagung“ (Schmidt 2010, S. 237). Mit dem Konzept der „Deliberation“ betonen diese Theorien die Möglichkeit der Entwicklung sowie Veränderung von Interessen durch Prozesse der Kommunikation. Durch Deliberation in einer Öffentlichkeit entstehe eine höhere Rationalität der Entscheidungsfindung. Dies bewirke einen Wechsel der Ausrichtung vom Durchsetzen eigener Interessen hin zu einer Orientierung auf das Gemeinwohl (Buchstein 2013, S. 117 ff.). Insgesamt nehmen deliberative Demokratietheorien individuelle Freiheitsrechte und Menschenrechte gleich wichtig. Für Jürgen Habermas, einen der prominentesten Vertreter*innen deliberativer Demokratietheorien, bedingen sich die beiden Rechtsbereiche wechselseitig (Habermas 1999, S. 301): „Die politische Autonomie der Bürger soll sich in der Selbstorganisation einer Gemeinschaft verkörpern, die sich durch den souveränen Willen des Volkes ihre Gesetze selber gibt. Die private Autonomie der Bürger soll andererseits in Grundrechten Gestalt annehmen, die die anonyme Herrschaft der Gesetze gewährleisten“ (Habermas 1999, S. 298 f.). Politische Freiheit und private Freiheit sind für Habermas also aufeinander angewiesen und voneinander abhängig.
2.4.1 Diskurse und Entscheidungen Habermas befasst sich hauptsächlich mit der politischen Dimension der demokratischen Meinungs- und Willensbildung, die schließlich in Entscheidungen
2.4 Deliberative Demokratietheorie
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mündet (Habermas 1999, S. 285). Habermas’ deliberative Demokratietheorie basiert auf seiner Diskurstheorie (Habermas 1999, S. 287). Deren Grundlage ist, dass kommunikatives Handeln die Basis für gesellschaftliche Integration, für Handlungskoordination generell darstellt (König 2012, S. 7). Kommunikatives Handeln besteht für Habermas aus illokutionären, vorbehaltlosen (Sprech-)Handlungen, welche in einem wechselseitigen Verstehensprozess zu einem Einverständnis führen, auf dessen Grundlage die Kommunizierenden ihr Handeln koordinieren können (Edelmayer 2012, S. 57). Menschliche Sprache ist für Habermas grundsätzlich auf reziproke Verständigung angelegt, sie hat ein universelles Ziel. Entsprechend bildet kommunikatives Handeln die Grundlage für alle weiteren Koordinationsprinzipien, also auch Macht, Geld, d. h. strategisches Handeln (König 2012, S. 12). Allerdings sieht Habermas in modernen Gesellschaften letztere Koordinationsprinzipien als von der Lebenswelt entkoppelt und als ein eigenständiges System zur materiellen Reproduktion von Gesellschaft herausgebildet (Habermas 1997, S. 58 f.). Habermas geht also von einer doppelten Vergesellschaftung von Individuen in System und Lebenswelt aus. Anders als das von ihm kritisierte republikanische Modell geht Habermas nicht davon aus, dass Demokratie sich ausschließlich im Modus des kommunikativen Handelns zwischen sämtlichen Angehörigen einer demokratischen Gemeinschaft vollzieht, sondern er sieht vor, dass es der „Vielfalt von Kommunikationsformen Rechnung tragen [soll], in denen sich ein gemeinsamer Wille nicht nur auf dem Wege der ethischen Selbstverständigung bildet, sondern auch durch Interessenausgleich und Kompromiß, durch zweckrationale Mittelwahl, moralische Begründung und rechtliche Kohärenzprüfung“ (Habermas 1999, S. 284, Hervorh. im Orig.). Zur Demokratie gehört für Habermas also nicht nur kommunikatives Handeln, sondern durchaus auch zweckrationales Handeln.
2.4.2 Konsens, Kompromiss und Prozedur Habermas entwickelt sein Verständnis einer deliberativen Demokratie als Verschränkung eines liberalen mit einem republikanischen Politikverständnis, die er beide für unzureichend hält (Habermas 1999, S. 284 f.). Während im liberalen Modell Entscheidungen immer als Kompromiss zwischen einander widerstreitenden Interessen einzelner Individuen gewertet werden, wird ihm im republikanischen Modell die ethische Selbstverständigung zu sehr betont, die auf einem geteilten kulturellen Hintergrundkonsens, der Lebenswelt, beruht (Habermas 1999, S. 285). Am republikanischen Demokratiemodell
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kritisiert Habermas deshalb, dass es „ethisch überfrachtet“ sei, weil es sämtliche Anliegen zu solchen deklariere, die die Gesamtheit der demokratischen Gemeinschaft angehe und dann in einen Konsens aufgelöst werden könnten, als gebe es keine partikularen Interessen, die einander dauerhaft widerstreiten (Habermas 1999, S. 283 f.). Demgegenüber betont Habermas die durch die gesellschaftliche Pluralität notwendig gewordene Kompromissbildung: Bestimmte Anliegen und Interessen seien mit anderen eben nicht vereinbar, weil sie sich nicht auf die Ebene ethischer Selbstvergewisserung heben lassen, daher müsse es einen Interessenausgleich geben, mit dem alle Beteiligten gut leben können. Diese Kompromisse müssten fair sein, d. h. durch Verfahren und Voraussetzungen erstellt, die unter rationalen und normativen Gesichtspunkten als gerecht bezeichnet werden können (Habermas 1999, S. 284). Habermas unterscheidet dafür Ethik und Moral: Ethische Fragen beziehen sich auf die Verständigung einer Gemeinschaft über deren gemeinsame Identität. Dabei geht es um das Selbstverständnis, um Traditionen, Umgang mit Anderen, mit Minoritäten usw. und zwar unter Beteiligten. Moralische Fragen haben für ihn einen anderen Geltungsumfang: Sie beziehen sich darauf, als fair zu bezeichnende Kompromisse zwischen verschiedenen Gruppen oder Gemeinschaften zu produzieren, dabei geht es also um Gerechtigkeit zwischen Betroffenen (Habermas 1999, 284–285; 313). Für die Lösung von solchen moralischen Fragen brauche es eine ‚neutrale‘ Prozedur der Meinungs- und Entscheidungsbildung. Wegen seiner Betonung der Notwendigkeit einer idealen Prozedur für die Meinungs- und Entscheidungsbildung bezeichnet Habermas das deliberative Modell auch als „prozeduralistisch“ (Habermas 1999, S. 277). Dies ist in Hinblick auf die vorliegende Arbeit wichtig, weil Prozeduren als geregelte, in Verfahrensschritte zerlegbare, nachvollziehbare und wiederholbare Abläufe m. E. in enger Verwandtschaft zu Ritualen7 stehen. So stellt sich z. B. die Frage, ob solche idealen Prozeduren zur Kompromissbildung durch Ritualisierung auf Dauer gestellt werden können.
7Für
Habermas gehören Rituale gleichwohl zu archaischen Integrationsmechanismen, die in pluralistischen Gesellschaften ihre Geltungsansprüche verlieren (Habermas 2016/1981, S. 286). Dazu passend wird die „Renaissance des Rituals“ Anfang des 21. Jahrhunderts mit der Hoffnung auf Kompensation des wahrgenommenen Bedeutungsverlusts von Gemeinschaftlichkeit, Kommunikation, Identität und Authentizität in der Moderne erklärt (Wulf und Zirfas 2004, S. 5).
2.4 Deliberative Demokratietheorie
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2.4.3 Solidarität und Pluralismus Eine zentrale Rolle im Habermas’schen Demokratieverständnis nimmt das „moderne Recht“ ein (Habermas 1999, S. 293). Es hat für ihn die Funktion, Faktizität und Geltung zusammenzubringen, also dafür zu sorgen, dass die Mitglieder einer demokratisch verfassten, pluralistischen Gesellschaft ihr Handeln koordinieren können. Dies ist in Hinblick auf die Frage nach dem Verhältnis von Kindern und Erwachsenen interessant, wenn die bestehenden Unterschiede zwischen ihnen nicht negiert und gleichzeitig dafür plädiert werden soll, Kindern mehr Partizipation zuzugestehen. Habermas geht davon aus, dass es einen unhinterfragten Konsens über gemeinsam geteilte Werte, übliche Handlungsweisen usw. gebe, der gewährleiste, dass Personen in ihrer Kommunikation die Geltungsansprüche wechselseitig anerkennen und nicht andauernd in Frage stellen. Diesen Konsens bezeichne er als Lebenswelt: „Die Lebenswelt stellt für Habermas eine Art massiven Hintergrundkonsens dar, welcher aus gemeinsamen Überzeugungen besteht. Sie ist ein Horizont des immer schon Vertrauten, ein unbewusstes Hintergrundwissen in Form von konsentierten Deutungsmustern, Loyalitäten und Fertigkeiten“ (König 2012, S. 8). Die Handlungskoordination über kommunikatives Handeln vor dem Hintergrund dieser Lebenswelt sei jedoch fragil; sie breche zusammen, sobald die Geltungsansprüche einer der beteiligten Personen in Frage gestellt würden – etwa weil sie aufgrund eines Aufwachsens in einer anderen Lebenswelt andere Werte vertrete. „In gewisser Weise ist die Lebenswelt, der die Kommunikationsteilnehmer angehören, stets präsent; aber doch nur so, daß sie den Hintergrund für eine aktuelle Szene bildet. Sobald ein solcher Verweisungszusammenhang in eine Situation einbezogen, zum Bestandteil einer Situation wird, verliert er seine Trivialität und fraglose Solidität“ (Habermas 2016/1981, S. 188).
Während die Handlungskoordination in konkreten Situationen durch kommunikatives Handeln wiederhergestellt werden kann, müsse der Konsens für eine langfristige Sicherung der Integrationskräfte einer Gesellschaft auf Dauer gestellt werden. Neben der Lebenswelt seien nach Habermas historisch noch zwei weitere Mechanismen dafür zuständig (gewesen): archaische Institutionen (Rituale, Kirche) und das moderne Recht. Da es in der Moderne einerseits zu einer verstärkten sozialen Differenzierung komme und andererseits dem individuell erfolgsorientierten Handeln eine größere Bedeutung beigemessen werde, verlören die Lebenswelt und die archaischen Institutionen zunehmend an Bedeutung (König 2012, S. 9). Habermas selbst schreibt dazu:
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2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen Die Spielräume für das Dissensrisiko von Ja/Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsansprüchen wachsen freilich im Verlaufe der sozialen Evolution. Je mehr die Komplexität der Gesellschaft zunimmt und die ethnozentrisch eingeschränkte Perspektive sich weitet, um so stärker tritt eine Pluralisierung von Lebensformen und eine Individualisierung von Lebensgeschichten hervor, die die Zonen der Überlappung oder der Konvergenz lebensweltlicher Hintergrundüberzeugungen schrumpfen lassen; und im Maße ihrer Entzauberung zerfallen die sakralisierten Überzeugungskomplexe unter ausdifferenzierten Geltungsaspekten in die mehr oder weniger beliebig thematisierbaren Gehalte einer kommunikativ verflüssigten Überlieferung. (Habermas 1997, S. 42)
Habermas sieht eine ‚natürliche‘ Entwicklung darin, dass Gesellschaften komplexer werden, Sozialisation dadurch diverser und die Überschneidungen in Form von gemeinsam geteilten Hintergrundüberzeugungen schrumpfen, wodurch Handlungskoordination schwieriger wird. Die Phänomene der erschwerten Handlungskoordination aufgrund von Pluralismus können, so König, auch als Auseinandertreten von Faktizität und Geltung bezeichnet werden: „Allein aus der bloßen Tatsache, dass eine bestimmte Ordnung existiert, folgt in der modernen Gesellschaft noch nicht automatisch ihre Legitimität“ (König 2012, S. 10). Diese Entwicklung bewertet Habermas nicht, er tritt aber dafür ein, trotz erschwerter Bedingungen miteinander solidarisch zu sein: „Der gleiche Respekt für jedermann erstreckt sich nicht auf Gleichartige, sondern auf die Person des Anderen oder der Anderen in ihrer Andersartigkeit. Und das solidarische Einstehen für den Anderen als einen von uns bezieht sich auf das flexible ‚Wir‘ einer Gemeinschaft, die allem Substantiellem widerstrebt und ihre porösen Grenzen immer weiter hinausschiebt. Diese moralische Gemeinschaft konstituiert sich allein über die negative Idee der Abschaffung von Diskriminierung und Leid sowie der Einbeziehung der – und des – Marginalisierten in eine wechselseitige Rücksichtnahme“ (Habermas 1999, S. 7).
Habermas betont also, dass es nicht darum gehen könne, Pluralismus in Gleichartigkeit aufzulösen und Gemeinschaften als substantiell gegeben zu zementieren. Er plädiert dafür, Unterschiede bestehen zu lassen und dabei gleichzeitig Diskriminierung und Leid für alle8 abzuschaffen – also im Prinzip auch für Kinder. 8In
Bezug auf das Thema der vorliegenden Arbeit hat diese Forderung wichtige Konsequenzen für die Gestaltung der Ordnung in Kindertageseinrichtungen. Denn wenn diese Forderung ernst genommen wird, hieße das, Kinder und Erwachsene in ihrer Unterschiedlichkeit anzuerkennen und gleichzeitig mit geeigneten Prozeduren zur gemeinsamen Entscheidungsfindung dafür zu sorgen, dass Kinder nicht oder weniger diskriminiert werden. Damit unterstützt dies die Forderung nach Partizipationsmöglichkeiten für Kinder.
2.4 Deliberative Demokratietheorie
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Habermas sieht also, dass der Pluralismus die soziale Integration durch die Lebenswelt und die archaischen Institutionen in Frage stelle, daher nimmt für ihn das moderne Recht den Platz eines Integrationsmechanismus ein. Das positive, moderne Recht könne Faktizität und Geltung wieder zusammenbringen, indem es durch als gültig erklärte Gesetze faktischen Zwang ausübe und gleichzeitig die Prozesse der Gesetzgebung so öffne, dass diese von den Personen, die sich den Gesetzen unterwerfen müssen, mitbestimmt würden. So könne das Recht seine gesellschaftliche Integrationsfunktion wahrnehmen (König 2012, S. 11). Der normative Kern von Habermas’ deliberativer Demokratietheorie liege somit, so König, „[…] ganz klassisch im Ideal der autonomen Selbstbestimmung einer Rechtsgemeinschaft“ (König 2012, S. 12). Diese versuche Habermas für die im Vergleich zur Antike komplexeren gesellschaftlichen Verhältnisse heute anzupassen. Die Selbstbestimmung der pluralistischen Rechtsgemeinschaft, also die Rechtsetzung müsse rechtlich abgesichert und institutionalisiert werden (König 2012, S. 13 f.). Das bedeutet, es müsse Rechte und Institutionen geben, die eine Meinungs- und Willensbildung und damit kommunikative Macht unterstützen, und dieser Wille müsse durch administrative Macht umgesetzt werden (König 2012, S. 13 f.).
2.4.4 Kommunikative Macht und administrative Macht Kommunikative Macht entstehe für Habermas zwischen Menschen in Diskursen, welche dadurch vorläufig beendet werden, dass Handlungs- oder Rechtsnormen einen Konsens finden oder von einer Mehrheit gewählt werden (König 2012, S. 15 f.). Für das Ideal der Selbstregierung reiche es jedoch nicht aus, wenn Rechtsnormen durch kommunikative Macht festgelegt würden, sondern diese müssen durch faktischen Zwang auch durchgesetzt werden. Dazu bedürfe es einer zweiten Form der Macht, die Habermas administrative Macht nenne (König 2012, S. 17 f.). Diese administrative Macht gehe vom Staat und seinen Institutionen aus und sei daher als eine asymmetrische zu verstehen (König 2012, S. 13). Die Unterscheidung zwischen kommunikativer Macht, die spontan entsteht, wenn Menschen sich zusammentun, und die symmetrisch ist, und administrativer Macht, die von staatlichen Institutionen ausgeht und fähig ist, Regeln durchzusetzen, Befehle zu erteilen, zu sanktionieren und organisieren, macht deutlich, dass Macht bei Habermas nicht negativ konnotiert ist und nicht immer schon asymmetrisch gedacht wird (König 2012, S. 13 f.). Beide Machtformen sind für ihn aufeinander angewiesen: Die kommunikative Macht legitimiert die administrative und sichert somit deren Fortbestehen, die
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administrative Macht setzt nicht nur den Willen der kommunikativen Macht durch, sondern sichert gleichzeitig ihre Entstehensbedingungen (König 2012, S. 13 f.). Übertragen auf die Kita heißt das: Nach Habermas darf die Rolle der asymmetrischen administrativen Macht nicht vernachlässigt werden. Wenn die Kinder durch Ausübung kommunikativen Macht an der ‚Gesetzgebung‘ beteiligt werden sollen, so müssen die Bedingungen dafür von der administrativen Macht (der Erwachsenen) aufrechterhalten oder überhaupt erst geschaffen werden. Nur wenn dies geschieht, kann das asymmetrische Verhältnis der Generationen legitim erscheinen.
2.4.5 Faktizität und Legitimität Damit sich kommunikative Macht bildet, müsse auf Basis der gegenseitigen Wahrung bestimmter Grundrechte9 Deliberation stattfinden, im Sinne von „Verfahren der Beratung und der Meinungs- und Willensbildung in Diskursen“ (König 2012, S. 14 f.). In rationalen Diskursen findet, so fasst König das Habermas’sche Ideal auf, eine Gemeinschaft über kommunikatives Handeln unter bestimmten Verfahrensbedingungen zu einem Konsens oder Kompromiss über die Geltung einer Handlungsnorm oder einer Rechtsnorm. Das ethische Diskursprinzip bestimmt dabei, welche Handlungsnorm gültig genannt werden darf: „Gültig sind genau die Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen zustimmen könnten“ (Habermas 1997, 138, eig. Hervorhebungen).10 Auf diesem ethischen Diskursprinzip basiert wiederum das Demokratieprinzip, das einen anderen Geltungsbereich hat:
9Zu
den unverhandelbaren Grundrechten zählen für Habermas, so fasst König zusammen: Freiheit und Gleichheit, Bürgerschaftsstatus/Mitgliedschaft, subjektiver Rechtsschutz, Partizipation sowie das Recht auf die ökonomischen und sozialen Grundlagen dafür, die vorangegangenen Rechte wahrnehmen zu können König (2012, S. 14 f.). 10Habermas erläutert diese Definition wie folgt: ‘Gültig’ sei zunächst noch indifferent gegenüber einer Unterscheidung zwischen Moralität und Legitimität; ‘Handlungsnorm’ sei eine Erwartung an das Verhalten, die zeitlich, sozial und sachlich generalisiert sei; ‘Betroffen’ sei jede*r, der von den voraussichtlichen Folgen des Einsetzens der Norm in ihren*seinen Interessen berührt wird; ‘rationaler Diskurs’ wiederum bezeichne jeden Versuch, sich über problematische Geltungsansprüche zu verständigen und zwar in einem öffentlichen Raum, der durch illokutionäre Verpflichtungen entsteht, und innerhalb dessen frei kommuniziert werden kann (Habermas 1997, S. 138 f.).
2.4 Deliberative Demokratietheorie
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„[Das Demokratieprinzip] besagt nämlich, daß nur die juridischen Gesetze legitime Geltung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungsprozeß die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden können. Das Demokratieprinzip erklärt, mit anderen Worten, den performativen Sinn der Selbstbestimmung von Rechtsgenossen, die einander als freie und gleiche Mitglieder einer freiwillig eingegangenen Assoziation anerkennen“ (Habermas 1997, 141).
Das Demokratieprinzip hat einen anderen Anwendungsbereich als das Diskursprinzip, welches universelle moralische Gültigkeit beansprucht: Es bezieht sich ausschließlich auf die Rechtsetzung, d. h. auf die sich gegenseitig als solche anerkennenden Mitglieder eines freiwilligen Zusammenschlusses von Personen zu einer Rechtsgemeinschaft (Habermas 1997, 139). Während das Diskursprinzip also für alle potentiellen Betroffenen gilt, gilt das Demokratieprinzip für eine Gemeinschaft, die auf Freiwilligkeit und gegenseitiger Anerkennung der Mitgliedschaft beruht. Deliberative Abwägungsverfahren erzeugen kommunikative Macht und sichern damit die demokratische Legitimität von Entscheidungen. In Auseinandersetzung mit Habermas’ deliberativer Demokratietheorie definiert Seyla Benhabib (1995) Legitimität wie folgt: „Ich definiere demokratische Legitimität als die Überzeugung, daß die Hauptinstitutionen einer Gesellschaft und die von ihnen im Namen des Volkes getroffenen Entscheidungen es wert sind, befolgt und normativ anerkannt zu werden“ (Benhabib 1995, S. 9).
Institutionen und Entscheidungen sind für Benhabib also dann legitim, wenn sie für die von ihnen Repräsentierten und Betroffenen anerkennens- und befolgenswert sind. Gleichzeitig stellen deliberative Verfahren einen gewissen Grad praktischer Vernunft sicher, weil sie erstens Informationen bündeln und vermitteln, die für eine Entscheidung wichtig sind, zweitens dazu anregen, die eigenen Ansichten und Meinungen gegeneinander abzuwägen und zu kohärenten Präferenzen zu ordnen, und drittens dabei dazu anhalten, gute Gründe für diese Präferenzen anzugeben, wodurch es unumgänglich wird, sich Gedanken über die Standpunkte anderer zu machen. Aus diesen drei Gründen stellt also Deliberation die notwendigen Bedingungen für eine praktische Rationalität dar. Selbstverständlich kann dieses Verfahren, wie andere Verfahren auch, missbraucht und manipuliert werden. Gleichzeitig wird diese Gefahr dadurch eingeschränkt, dass es quasi jederzeit möglich ist, das Ergebnis einer Deliberation zu hinterfragen und die Abwägung wiederaufzunehmen (Reversibilität), sofern man von den Folgen betroffen ist (Benhabib 1995, S. 11 ff.).
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Das deliberative Verfahren sichere auch die Fairness und Rationalität des Mehrheitsprinzips. Dass die Mehrheit einer Personengruppe zu dem Ergebnis komme, dass aus den in einem deliberativen Diskurs abgewogenen Argumenten logisch eine bestimmte Handlungsweise folgt, beweise, dass es sich um eine qualitativ rationale Entscheidung handeln müsse und nicht einfach um eine Entscheidung einer zahlenmäßig überlegenen Gruppe (Benhabib 1995, S. 13).
2.4.6 Verfahrensbedingungen für Diskurse Die Deliberation als Verfahren der öffentlichen Meinungs- und Willensbildung in Diskursen muss bestimmten Regeln unterworfen sein, um zum Konsens oder fairen Kompromiss zu führen. In Anschluss an Joshua Cohen formuliert Habermas folgende Verfahrensbedingungen für die Deliberation: Deliberation soll durch einen geregelten Austausch von Informationen und Gründen, inklusiv und öffentlich, frei von äußerlichen Zwängen (d. h. die Akteur*innen sind lediglich gebunden an die Verfahrensbedingungen) und frei von internen Zwängen (d. h. die Akteur*innen sind alle gleichberechtigte Diskursteilnehmer*innen) erfolgen. Darüber hinaus gelten drei Bedingungen, die den spezifisch politischen Charakter von Deliberation betonen: Deliberation kann im Allgemeinen unbegrenzt fortgesetzt und jederzeit wiederaufgenommen werden, sie kann jedoch durch einen Mehrheitsbeschluss so lange beendet werden, bis die überstimmte Minderheit die Mehrheit vom Gegenteil überzeugen kann; Themen von Deliberation sind sowohl Dinge, die im Interesse aller liegen, als auch Fragen der Ungleichverteilung von mit Teilhabechancen verknüpften Ressourcen; Gegenstand von Deliberation sind außerdem die Interpretation von Bedürfnissen sowie die Veränderung vorpolitischer Einstellungen und Präferenzen (Habermas 1997, 370–372). Seyla Benhabib (1995) vergleicht die normativen Diskursbedingungen, auf denen die deliberative Demokratietheorie fußt, mit Spielregeln, die innerhalb des Spiels angefochten werden können, aber nur unter der Bedingung, dass man bereit ist, das Spiel zu spielen und sich dafür Regeln zu unterwerfen (Benhabib 1995, S. 22). In den Verfahrensbedingungen liegen wichtige Anknüpfungspunkte für die Realisierung von demokratischen Diskursen in sozialpädagogischen Settings sowie für die Ritualtheorie. Es stellt sich nämlich u. a. die Frage, wie diese Verfahrensbedingungen mit Hilfe von administrativer Macht dauerhaft in die Praxis umgesetzt werden können und ob eine Ritualisierung diese Prozesse unterstützen kann. Dies ist eine Frage, die im Kapitel 3 zu Ritualen als performativen Praktiken wieder aufgenommen und im Rahmen des empirischen Teils dieser Arbeit zu klären sein wird.
2.4 Deliberative Demokratietheorie
29
2.4.7 Pädagogische Implikationen von deliberativer Demokratie Helmut Richter (1991, 1998, 2001) hat Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns und seine deliberative Demokratie für die Sozialpädagogik fruchtbar gemacht und weiter entwickelt. Seine Theorien der Kommunalpädagogik (2001) und des pädagogischen Diskurses (1991) sind außerdem maßgeblich für die „Operationalisierung des Demokratiebegriffs für pädagogische Institutionen“ (Richter u. a. 2016). Diese begründet zum einen, dass es sinnvoll ist, das Konzept der deliberativen Demokratie auf das Feld der Kindertageseinrichtung zu übertragen (ebd., S. 113). Zum anderen kann sie dazu dienen, zu überprüfen, wie Demokratie und Partizipation in sozialpädagogischen Organisationen umgesetzt werden (ebd., S. 116 ff.). Richter entwirft den Verein als idealen Ort für Demokratiebildung. Damit Demokratie hier umgesetzt werden könne, seien bestimmte Prinzipien einzuhalten: Freiwilligkeit, Mitgliedschaft, Ehrenamt, lokale Organisationsstruktur, Öffentlichkeit sowie egalitäre Interaktionsformen, Diskussionsfreiheit und Majoritätsentscheidungen (Richter 2001, 212). Wollten (sozial-)pädagogische Institutionen also Demokratiebildung ermöglichen, sei notwendig, dass sie 1. die Mitgliedschaft so regeln, dass sie verbindlich, aber aufkündbar und daher freiwillig ist, dass 2. über ehrenamtliches Engagement Selbstverwaltung stattfindet, dass 3. die Institution kommunal verortet und vernetzt ist, 4. Öffentlichkeit hergestellt wird und dass 5. Entscheidungen nach demokratischen Verfahren getroffen werden (Richter u. a. 2016, S. 117 ff.). Insbesondere der vierte und fünfte Punkt, die Öffentlichkeit und die demokratischen Entscheidungsformen, sind an dieser Stelle hervorzuheben. Unter Bezugnahme auf Habermas gilt nach Richter das demokratische Prinzip des Zusammenfallens von Adressat*innen und Urheber*innen von Regeln/Entscheidungen/Gesetzen: „Von deliberativer Demokratie kann dann gesprochen werden, wenn die Betroffenen als die Urheber/innen der Entscheidungen auch die Adressat/innen der Beschlüsse sind bzw. ‚demos‘ und ‚kratia‘ in eins fallen“ (Richter u. a. 2016, S. 119). Dabei ist es unerheblich, ob Regeln/Entscheidungen/ Gesetze von allen für alle oder nur von einer Kleingruppe für genau die Mitglieder dieser Kleingruppe gemacht werden, solange diese Regeln öffentlich gemacht werden (4. Prinzip). So werden sie für alle nachvollziehbar und dadurch auch revidierbar, d. h. sie können in demokratischen Verfahren (5. Prinzip) neu entschieden werden (Richter u. a. 2016, S. 120 f.). Die Vereinsprinzipien beziehen sich zunächst einmal hauptsächlich auf die Ebene der Institution. Nun möchte ich einen Blick auf die Ebene der
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Interaktionen richten. Um in pädagogischen Institutionen egalitäre Interaktionsformen umsetzen zu können und somit eine Grundlage für deliberativdemokratische Bildungsprozesse zu schaffen, ist es zunächst nötig, eine vom Handlungszwang entlastete Situation herzustellen, in deren Rahmen ein Gespräch mit offenem Ausgang geführt werden kann. Das bedeutet, beide Parteien müssen offen für eine neue, gemeinsame Lösung ins Gespräch gehen und sollten ausreichend Zeit dafür haben, dieses Gespräch zu führen. Die Pädagog*innen unterstellen dabei nicht nur sich selbst, sondern auch den zu Erziehenden Mündigkeit. Sie gehen davon aus, dass die zu Erziehenden (egal ob verbal oder non-verbal) Auskunft darüber geben können, wie sie sich fühlen. Dies gelingt, wenn sie die Betroffenheit der zu Erziehenden als Kompetenz anerkennen. In dem so strukturierten „pädagogischen Diskurs“ (Richter 1991) gilt allein der „Zwang des besseren Arguments“, nicht aber die Überlegenheit der Pädagog*innen (Richter u. a. 2016, S. 121 f.). Pädagogik hat in der deliberativen Demokratie die Aufgabe, die immer schon als mündig anzuerkennenden Bürger*innen dabei anzuleiten, handlungsentlastet und in kommunaler Öffentlichkeit einen Diskurs zu führen, aus dem lebensweltliche Bedürfnis- und Forderungsprofile entstehen, die an das System herangetragen werden können11. Dabei ist die Rolle der Pädagogik die der Expertin, die jedoch durch bessere Argumente der Bürger*innen immer noch selbst gebildet wird (Richter u. a. 2017, S. 50). Die herzustellende Öffentlichkeit muss kommunal verortet sein, um zwischen weltanschaulich homogener Privatheit und pluralistischer Weltöffentlichkeit vermitteln zu können (Richter 2011, S. 233). Laut dieser Operationalisierung deliberativer Demokratie soll, wenn es zu Streit, d. h. Dissens kommt, ein pädagogischer Diskurs (Richter 1991) angestrebt werden. Ohne Dissens reiche ein Dialog auf der Basis des gemeinsam geteilten Wissens aus (Richter u. a. 2016, S. 121). Was aber, wenn das gemeinsame Wissen, also der konsensuelle Hintergrund bereits exkludierend ist, weil allen Beteiligten klar ist, wer etwas sagt und wer nur lärmt (Rancière 2002; vgl. auch Sturzenhecker 2013)? Insbesondere das Verhältnis von Kindern und Erwachsenen ist dadurch gekennzeichnet, dass die Kinder sich das konsensuelle Hintergrundwissen erst aneignen müssen und dafür auf die Erwachsenen angewiesen sind. Wenn dieser Konsens auch durch Rituale hergestellt wird, wie kann Dissens dann
11Nach
dieser Theorie sind kollektive politische Identitäten also nicht essentiell, sondern werden mit Hilfe von (Sozial-)Pädagogik gebildet.
2.5 Radikale Demokratietheorien
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überhaupt entstehen und wahrgenommen, geschweige denn bearbeitet werden? Hier könnten radikal-demokratische Theorien weiterhelfen, wie ich im folgenden Kapitel darlege.
2.5 Radikale Demokratietheorien Radikale Demokratietheorien haben sich intensiv mit deliberativen Demokratietheorien auseinandergesetzt und deren Schwachstellen beleuchtet. Ihnen liegt ein grundsätzlich anderes Verständnis von Gesellschaft, dem Sozialen bzw. Kultur zugrunde als Habermas’ Gesellschaftstheorie. Habermas bezeichnet sein deliberatives Modell selbst allerdings auch als radikaldemokratisch – obwohl es die Rolle des Rechts so sehr betont: „Trotz aller Veränderungen meiner theoretischen Position verbinde ich auch mit der Diskurstheorie des Rechts einen radikaldemokratischen Sinn“ (Habermas 1999, S. 386). Beginnend mit ihrer Kritik an deliberativer Demokratie möchte ich im Folgenden die Agonistische Politik nach Chantal Mouffe (2000, 2014) und dann die Politik des Unvernehmens nach Jacques Rancière (2002) umreißen. Da ich die Theorien im Sinne der Forschungshaltung der Ethnografie (vgl. Abschnitt 4.3) als Werkzeuge für die Verbindung meiner Beobachtungen mit sozial- bzw. erziehungswissenschaftlichen Fragestellungen benutzen werde (Breidenstein u. a. 2015, S. 173), geht es mir allerdings nicht darum, sie grundlegend miteinander zu versöhnen oder in Einklang zu bringen.
2.5.1 Agonistische Politik Chantal Mouffe (2000, 2014) kritisiert an Habermas, dass er das Grundproblem des Widerspruchs zwischen Wertepluralismus und demokratisch zu erzielendem Konsens, d. h. zwischen individuellen Freiheitsrechten und der Selbstbestimmung des Volkes zwar zu lösen versuche, ihm dies allerdings nicht gelinge. Kernthese von Habermas’ Demokratietheorie sei, so Mouffe, dass die fundamentalen individuellen Freiheitsrechte und die Volkssouveränität sich gegenseitig bedingen: Die Selbstverwaltung des Volkes schütze die individuellen Freiheitsrechte und diese wiederum bildeten die notwendige Grundlage dafür, dass die Selbstbestimmung des Volkes ausgeübt werden könne (Habermas 1999, S. 301; Mouffe 2000, S. 4). Auf diese Weise versuche Habermas, die liberalen Werte und Institutionen mit Demokratie zu verknüpfen. Dies soll mithilfe von angemessenen Prozeduren der Deliberation erfolgen, die eine höhere Rationalität erzeugen
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2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen
und damit Partizipation ermöglichen, ohne dass dadurch notwendigerweise die liberalen Werte in Gefahr geraten. Mouffe sieht in dieser jeder liberalen Demokratie inhärenten Gefahr jedoch die Ursache dafür, dass politische Partizipation im bestehenden System eher unerwünscht ist (Mouffe 2000, S. 3). Mouffe ist also nicht überzeugt davon, dass Liberalismus und Partizipation auf diese Weise zusammengehen können, ohne dass liberale Werte gefährdet werden. „What they [damit sind Jürgen Habermas und John Rawls12 gemeint, Anm. TL] want to avoid here is the recognition that there is a fundamental tension between the logic of democracy and the logic of liberalism“ (Mouffe 2000, S. 9). Habermas’ Versuch, der Gefahr des Wertepluralismus für die Demokratie zu entgehen, versuche, so Mouffe weiter, eine strikte Trennung zwischen Ethik und Moral einzuführen. Die Ethik betreffe Fragen des guten Lebens und beinhalte entsprechend Dissens, die Moral könne hingegen in einen strikten Prozeduralismus überführt werden und somit könnten unparteiliche, universelle Prinzipien entwickelt werden, denen alle Betroffenen zustimmen können. Die verschiedenen Weltanschauungen würden damit in den Bereich der Ethik fallen, politische Prozeduren hingegen in den Bereich der allgemeingültigen Moral. Habermas unternehme somit den Versuch, Pluralismus in die nicht-öffentliche Sphäre der Ethik abzuschieben. Eine strikte Trennung dieser von der öffentlichen bzw. politischen Sphäre lasse sich nicht aufrechterhalten (Mouffe 2000, S. 8). Stattdessen weist Mouffe darauf hin, dass jeder Konsens nur temporär und das Ergebnis von einer hegemoniellen Stabilisierung von Machtverhältnissen sei, also immer schon eine Form der Exklusion in sich trage. In ihren eigenen Worten bedeutet das, „[…] dass letztlich jede Form der gesellschaftlichen Objektivität eine politische ist und die Spuren der Akte der Exklusion tragen muss, die mit ihrer Konstituierung einhergehen“ (Mouffe 2014, S. 25). Jede Form der Identität (beispielsweise als Kind oder Erwachsene) wird von Mouffe als immer schon kollektiv gebildete, konstruierte Abgrenzung eines ‚Wir‘ von einem ‚Sie‘ gefasst (Mouffe 2014, S. 24 f.). Mouffes Demokratieverständnis geht nicht von Individuen und individuellen Identitäten aus, sondern von der Grundlage, dass alle politischen Identitäten kollektiv sind (Mouffe 2000). Mouffe verweist auf Henry Statens Begriff des „konstitutiven Außen“, der mit Jacques Derrida davon ausgeht, dass Identität relational gebildet wird durch die Wahrnehmung einer Differenz zu etwas „Anderem“. Für die Politik bedeutet das: Die
12John
Rawls ist ein weiterer Hauptvertreter deliberativer Demokratietheorie, auf den Mouffe Bezug nimmt.
2.5 Radikale Demokratietheorien
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so entstehenden Wir/Sie-Beziehungen sind laut Mouffe nicht notwendigerweise antagonistisch, weil sie zunächst einmal nur einen Unterschied konstruieren. Jedoch besteht für das Wir jederzeit die Möglichkeit, sich durch Sie bedroht zu fühlen, etwa weil Sie die Existenz des Wir nicht anerkennen oder die Identität des Wir in Frage stellen. Durch die Möglichkeit der Herausbildung politischer Identitäten entsteht damit gleichzeitig die Unmöglichkeit der Auflösung des Antagonismus (Mouffe 2014, S. 26). Mouffe zufolge gibt es politische Konflikte, für die es keine rationale, beste Lösung gibt, sondern nur ein Sich-Entscheiden-Müssen in einem unentscheidbaren Gebiet (Mouffe 2014, S. 23 f.). Trotz des unauflöslichen Antagonismus sei es möglich, eine demokratische Ordnung aufrechtzuerhalten, indem Institutionen geschaffen würden, die Konflikte in eine agonistische Form überführen. Dies würde bedeuten, dass die Institutionen es vermögen, die Widersacher*innen dazu zu bringen, sich als Kontrahent*innen anzuerkennen (Mouffe 2014, S. 12). Für diese Institutionalisierung eines fairen Streits unter Kontrahent*innen wählt Mouffe den Begriff „Politik“, während die Sphäre der immer schon hegemoniellen Entscheidungen „das Politische“ darstellen: „Während ich ‚das Politische‘ auf die ontologische Dimension des Antagonismus beziehe, bezeichne ich mit ‚Politik‘ das Ensemble von Praktiken und Institutionen, deren Ziel die Organisation der menschlichen Koexistenz ist“ (Mouffe 2014, S. 12). Der Begriff der Kontrahent*innen ist zentral für Mouffes Verständnis von agonistischer Politik. Kontrahent*innen sind sich einig über die Gültigkeit von grundlegenden demokratischen Prinzipien, streiten aber darum, wie diese zu interpretieren sind. Alle Streitparteien wollen, dass ihre Interpretation hegemonial wird, sie sprechen sich jedoch nicht gegenseitig das Recht ab, für ihre Position zu streiten (Mouffe 2014, S. 28). Mouffe räumt selbst ein, dass auch ihr Verständnis von Demokratie einen Konsens voraussetze. Dieser sei aber beschränkt auf die Institutionen und die Ethik der politischen Arbeit. Zudem sei auch dieser Konsens durchzogen von einem Dissens darüber, was die gemeinsame Ethik bedeutet und wie sie praktisch umzusetzen sei. Mouffe nennt dies einen „konflikthaften Konsens“ (Mouffe 2014, S. 29 f.). Für Mouffe besteht der für Demokratie notwendige Konsens darin, sich einig zu sein, immer wieder über die Auslegung der ethisch-politischen Prinzipien zu streiten (Mouffe 2000, S. 16). „Meinungsverschiedenheiten über die Interpretation der gemeinsamen ethisch-politischen Prinzipien […] eröffnen den Bürgern unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten und sind der Stoff, aus dem demokratische Politik gemacht ist“ (Mouffe 2014, S. 30). Mouffes Anliegen ist es, die Affekte nicht zu eliminieren oder in das Private zu verdrängen, was sie Positionen des Liberalismus (zu denen sie auch Habermas zählt) unterstellt, die das Rationale der öffentlichen Konsensbildung
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2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen
betonen. Stattdessen sollen Leidenschaften für Demokratie fruchtbar gemacht und in demokratische kollektive Identifikationsmöglichkeiten überführt werden (Mouffe 2014, S. 31 f.). Mouffes agonistischer Ansatz soll daher als Kontrastfolie für die empirische Forschung genutzt werden, weil er Affekte mitdenkt, und weil er der empirischen Tatsache gerecht wird, dass zwischen Kindern und Erwachsenen in der Kita eine hegemonielle Ordnung besteht.
2.5.2 Politik des Unvernehmens Wie Mouffes agonistische Demokratie kritisiert auch der Demokratie13-Begriff von Jacques Rancière, welchen er in seinem Werk „Das Unvernehmen“ ausführt (Rancière 2002), die Vorstellung, dass es möglich sei, einen nicht-exkludierenden Konsens zu denken geschweige denn herzustellen. Seine zentrale These lautet, dass Demokratie davon ausgehend gedacht werden muss, dass es zum Streit kommt um solche Art von Missverständnissen, in denen der eine „gleichzeitig vernimmt und auch nicht vernimmt, was der andere sagt“ (Rancière 2002, S. 9). Rancière geht es dabei nicht um Missverständnisse, die durch eine ausführlichere Erklärung etwa des intentionalen Sinngehalts der Äußerungen beigelegt werden könnten (und die man mit Habermas’ Diskurstheorie analytisch besser fassen kann), sondern um eine grundsätzliche Aberkennung der politischen Sprachfähigkeit der*des Anderen: „Die Fälle des Unvernehmens sind jene, bei denen der Streit darüber, was Sprechen heißt, die Rationalität der Sprechsituation selbst ausmacht“ (ebd., S. 10). Unvernehmen entsteht, wenn es Machtasymmetrien zwischen den Sprechenden gibt, die es dem*der Einen ermöglichen oder sogar nahelegen, das, was die*der Andere sagt, etwa als bloßen „Lärm“ abzutun (vgl. ebd., S. 9–11): „Das bedeutet […], dass das Unvernehmen nicht einzig auf den Wörtern beruht. Es beruht allgemein auf der Situation der Sprechenden selbst“ (ebd., S. 11; meine Hervorhebung). Das Risiko des Unvernehmens ist also der Entstehung eines jeden Diskurses vorgeschaltet und durchzieht ihn: „Vor aller Konfrontation der Interessen und Werte, vor aller Unterwerfung der Behauptungen unter Gültigkeitsanforderungen zwischen konstituierten Partnern gibt es den Streit über den Gegenstand des Streits, den Streit über die Existenz des Streits und der Parteien, die ihm einander gegenübertreten“ (ebd., S. 66–67).
13Rancière
verwendet die Begriffe Demokratie und Politik synonym.
2.5 Radikale Demokratietheorien
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Bezieht man Rancière hier auf Habermas’ Diskurstheorie, dann negiert Rancière die Möglichkeit einer ‚idealen Sprecherposition‘, die jedoch für das Funktionieren der Diskurstheorie zentral ist. Denn der Streit darüber, ob es einen Streit zwischen zwei Parteien geben kann, impliziert auch, dass eine Partei sich weigern kann oder nicht einmal auf die Idee kommt, mit der anderen Partei überhaupt in einen Streit zu treten. Nicole Doerr (2013) fasst pointiert zusammen, wie Rancière anhand der Frage „Habt ihr mich verstanden?“, die nach einem erteilten Befehl gestellt wird, deutlich mache, was Rancière unter dem Unvernehmen als einem performativen Widerspruch verstehe: Durch die Beantwortung dieser Frage mit „Ja“ stimmen die Antwortenden sowohl zu, dass sie sprachfähig und daher ebenbürtig sind, als auch, dass sie der Person, die den Befehl erteilt hat, untergeordnet sind (Doerr 2013, S. 2). Rancière nutzt den Begriff „Polizei“ als Begriff für eine hegemonielle Ordnung, die solche Macht-Asymmetrien reproduziert: „Die Polizei ist […] zuerst eine Ordnung der Körper, die die Aufteilungen unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihren Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird und jenes andere als Lärm“ (Rancière 2002, S. 41).
Die Polizei als soziale Ordnung weist jedem ihrer Mitglieder einen Platz zu. Sie kennt vermeintlich alle Bedürfnisse und Fähigkeiten und verteilt entsprechend die Anteile. Dabei kreiert sie immer auch einen hohen Anteil von Personen, die zwar als Mitglieder gezählt werden, aber keinen Anteil haben (z. B. Kinder und Jugendliche). Diesen Anteillosen wird die (politische) Sprachfähigkeit und somit auch ihre Intelligenz aberkannt. Ihre Äußerungen werden unvernommen und als Lärm abgetan. Für Rancière bedeutet, darauf weist auch Doerr (2013) noch einmal hin, die Existenz des Unvernehmens jedoch nicht das Ende, sondern im Gegenteil den Beginn von Politik als politischer Interpretation (Doerr 2013, S. 2). Politik entsteht laut Rancière nämlich erst da, wo es zum Streit darüber kommt, ob ein gemeinsamer Gesprächsgegenstand existiert oder nicht: „Die Politik ist zuerst der Konflikt über das Dasein einer gemeinsamen Bühne, über das Dasein und die Eigenschaft derer, die auf ihr gegenwärtig sind“ (Rancière 2002, S. 38). Politik, die immer ungleiche Machtverhältnisse auf den Tisch bringen und ändern will, besteht darin, dass die ‚Unvernommenen‘ behaupten, selbst Demos zu sein, eine Person aus ihren Reihen als Sprecher*in entsenden, nicht nur Widerstand,
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2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen
sondern auch Intelligenz beweisen und sich einen ganz neuen eigenen Platz in der symbolischen Ordnung der Gemeinschaft schaffen (Doerr 2013, S. 3). Rancière selbst schreibt dazu: „Es gibt Politik, weil diejenigen, die kein Recht dazu haben, als sprechende Wesen gezählt zu werden, sich dazuzählen und eine Gemeinschaft dadurch einrichten, dass sie das Unrecht vergemeinschaften, das nichts anderes ist als der Zusammenprall selbst, der Widerspruch der zwei Welten, die in einer einzigen beherbergt sind: die Welt, wo sie sind, und jene, wo sie nicht sind, die Welt, wo es etwas gibt ‚zwischen‘ ihnen und jenen, die sie nicht als sprechende und zählbare Wesen kennen, und die Welt, wo es nichts gibt.“ (Rancière 2002, S. 38)
Politik ist also immer situativ, sie ist der Moment, an dem sich die Machtlosen zu einer Gemeinschaft zusammenfinden und ihre Stimme erheben, um sich selbst Gehör zu verschaffen und nicht einfach nur gezählt zu werden. In dem Moment, indem sie damit Erfolg haben, gehen sie in einer neuen Ordnung auf, die wieder eine polizeiliche, oder in Mouffes Worten, eine hegemonielle Ordnung ist. Rancière selbst verweist auf die Singularität des Demokratischen: „Genauer, Demokratie ist der Name einer singulären Unterbrechung dieser Ordnung der Verteilung der Körper in der Gemeinschaft, für die ich vorgeschlagen habe, sie durch den erweiterten Begriff der Polizei begrifflich zu fassen.“ (Rancière 2002, S. 108)
Auch Rancière geht es um Subjektivierung. Politik ist eine Form der Subjektivierung, die die Essentialisierungen und Naturalisierungen, die die Mächtigen den Anteillosen auferlegen, zur Ordnung verweist und als ein kontingentes Produkt von Machtbeziehungen entlarvt: „Die Demokratie ist keine Herrschaftsform oder gesellschaftliche Lebensweise. Sie ist die Einsetzung der Politik selbst, das System der Formen der Subjektivierungen, durch welche jede Ordnung der Verteilung der Körper nach Funktionen, die ihrer ‚Natur‘ entspricht, und nach den Plätzen, die ihren Funktionen entsprechen, in Frage gestellt, auf ihre Kontingenz verwiesen wird.“ (Rancière 2002, S. 111)
Rancière verwirft in diesem Zitat die Deweysche und Habermassche Definition von Demokratie als Lebensform und Herrschaftsform. Für ihn kann Demokratie immer nur situativ entstehen. Das kritische Hinterfragen gesellschaftlich akzeptierter Kategorisierungen, d. h. Subjektivierungen setzt für ihn Politik ein und ist damit Demokratie.
2.6 Verknüpfung von deliberativer und radikalen Demokratietheorien
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Wichtig ist, dass eine bloße Rebellion gegen die Mächtigen nicht ausreicht, sondern dass ein streitender Dialog geführt werden muss, in dem die Anteillosen sich einen neuen Platz zuweisen und damit die Aufteilung der Anteile neu interpretieren. Damit demonstrieren die Anteillosen ihre Gleichheit zu den Mächtigen und stellen sie gleichzeitig performativ her (Doerr 2013, S. 3). Obschon die Ansätze von Habermas, Mouffe und Rancière sich zunächst antagonistisch gegenüberzustehen scheinen, sollen sie in der hier konzipierten Arbeit gemeinsam verwendet werden, um das normative Ideal der deliberativen Demokratie mit einer machtsensibleren Perspektive auf mögliche Unvernehmen zu einer Analysefolie für die empirischen Beobachtungen in der Kita zu verbinden und zu hinterfragen.
2.6 Verknüpfung von deliberativer und radikalen Demokratietheorien Obwohl die vorgestellten Demokratie-Theorien von ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbildern ausgehen (die radikale Demokratie von einem grundsätzlichen Dissens im Sinne eines Missverstehens oder einer Gegnerschaft, die deliberative Demokratie von einem grundsätzlichen Konsens, der so lange gilt, bis er hinterfragt wird), lassen sich doch alle drei Demokratietheorien gemeinsam auf die Empirie übertragen, indem sie nicht als „große Theorien“, sondern als „Theorien mittlerer Reichweite“ (Merton 1995, S. 3) benutzt werden. Eine wichtige Eigenschaft von Theorien mittlerer Reichweite ist ihre empirische Überprüfbarkeit, sie müssen sich also an empirischen Daten messen lassen können. Daneben ist aber auch der mittlere Allgemeinheitsgrad der in den Theorien verwendeten Konzepten wichtig: Sie sollen spezifisch genug sein, damit man mit ihnen konkrete Daten organisieren kann, und allgemein genug, dass man sie zu immer komplexer werdenden Verallgemeinerungen zusammenfassen kann (Merton 1995, S. 6, Fußnote 5). Dass sich deliberative Demokratie auf Kindertageseinrichtungen übertragen lässt, habe ich in Abschnitt 2.4.7 bereits dargelegt. Nicole Doerr (2013) hat mit ihrer „Politik der Übersetzung“ einen Versuch der Zusammenführung von deliberativer Demokratie und Rancières Demokratieverständnis unternommen. Insbesondere die von ihr verwendeten empirischen Beispiele liefern wichtige Hinweise auf empirische Schwachstellen deliberativer Demokratie und deren Lösung durch radikale Demokratie. Doerr beschreibt wie in San Antonio Verhandlungen zwischen Anwohner*innen und Politiker*innen über ein Neubauprojekt zunächst scheiterten, obwohl letztere
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überzeugt davon waren, erstere zu repräsentieren. Erst durch die Intervention einer Expertin für Community-Building, die einen neuen Verhandlungs-Raum in einem neuen Ort mit neuen Regeln für die Interaktion zwischen Bürger*innen und Politiker*innen schuf, gelang es, die Anliegen der Anteilslosen durch sie selbst wirklich zu Gehör zu bringen und ihren Willen in die Entscheidung einzubringen. Doerr bezeichnet dies als „Politik der Übersetzung“ (Doerr 2013, S. 7) und zwar auch, weil ihr Fokus auf Übersetzungen liegt. Ich interpretiere das Beispiel hingegen als einen gelungenen Fall von radikaler und deliberativer Demokratiebildung: Die Expertin für C ommunity-Building kreiert einen Raum, der die Umsetzung der idealen Sprechsituation begünstigt, auch weil die Politiker*innen sich dort nicht mehr hinter ihren Handlungszwängen verstecken können. So entsteht ein wechselseitiger Bildungsprozess zwischen den Repräsentierenden, die erkennen müssen, dass sie diese Funktion nicht mehr erfüllen, und den Repräsentierten, die sich schließlich selbst vertreten lernen, der von eigens dazu ausgebildeten Mitgliedern der Gemeinschaft moderiert wird. Doerr führt als weiteres empirisches Beispiel Verhandlungen im Europäischen Sozialforum (ESF) auf, in dem zwar behauptet und gefordert wird, sich deliberativ verständigen zu wollen, die Ergebnisse von Verhandlungen allerdings bereits vorab unter Berufsaktivist*innen mit EU-Bürger*innenstatus besprochen werden und die Stimmen der Anteilslosen, in diesem Fall Migrant*innen, keinen Eingang in den ‚Konsens‘ finden. Sie schließt daraus, dass die Hierarchien zwischen den Beteiligten unüberbrückbare Hindernisse für die Verständigung produzierten (Doerr 2013, S. 7). Bei den Treffen des ESF auf internationaler Ebene hingegen könnten die in den nationalen Treffen marginalisierten Gruppen und Personen Einfluss auf das Ergebnis geltend machen. Die ‚Konsens‘-Entscheidungen der nationalen Treffen würden auf dieser Ebene durch Streit in Frage gestellt und zugunsten der Marginalisierten revidiert. Dies könne jedoch erst geschehen, nachdem die freiwilligen Übersetzer*innen in den Streik traten, weil sie beobachtet hatten, wie dieselben Ausschlussmechanismen wie auf nationaler Ebene dazu führten, dass nur bestimmte Personen gehört wurden. Die Übersetzer*innen machten dieses Unrecht öffentlich, forderten eine Änderung ein und solidarisierten sich somit mit den Anteilslosen. Gleichzeitig forderten sie auch für sich selbst eine neue politische Rolle ein: nicht mehr als semi-professionelle Dienstleister*innen, sondern als gleichwertige Aktivist*innen. Sie vermittelten den Mächtigen, indem sie ihre Stimme erheben und in den Streik treten, dass die Marginalisierten und sie selbst gleichermaßen sprechende, d. h. intelligente Wesen sind (Doerr 2013, S. 8 f.). Für Doerr bilden die Übersetzer*innen damit ein „drittes Volk“ (Rancière), das gleichzeitig zwischen den Anteilslosen und den Mächtigen bestehende Machthierarchien in Frage stellt und eine Brücke schlägt.
2.6 Verknüpfung von deliberativer und radikalen Demokratietheorien
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Rancières Politik des Unvernehmens bildet in beiden Beispielen die Grundlage dafür, dass die für deliberative Demokratie benötigte ideale Sprecher*innensituation überhaupt erst entstehen kann. Ohne eine radikale Unterbrechung der etablierten hierarchischen Ordnung gelang es nicht, diese zentrale Voraussetzung herzustellen – auch weil die mit mehr Macht Ausgestatteten keinen Anlass dazu sahen, die Sprechsituation gerechter zu gestalten. Hier zeigt sich eine Schwachstelle der deliberativen Demokratie: Theoretisch schreibt sie vor, dass und wie eine ideale Sprecher*innensituation hergestellt wird. Sie geht aber davon aus, dass dies entweder alle wollen, also auch die Mächtigen bereit sind, Macht abzugeben, oder dass es den Anteilslosen gelingt, die Umsetzung einzuklagen. Die Empirie scheint aber Rancière Recht zu geben, denn es braucht in beiden Beispielen immer die singuläre Unterbrechung der polizeilichen Ordnung, damit überhaupt ein gerechter Diskurs entstehen kann. Anders als von Rancière vorgesehen scheint es dabei mitunter Dritte zu brauchen, die neue Räume für demokratische Prozesse schaffen. Diese Ergänzung von Rancières Theorie darum, dass die Gesandten der Stimmlosen auch Dritte sein können, die übersetzen und vermitteln, finde ich in Bezug auf den Kontext Kindertageseinrichtung bzw. Sozialpädagogik wichtig. Rancières Theorie mit diesem erweiterten Verständnis der Figur der*des Gesandten kann als Ergänzung zur deliberativen Demokratietheorie genutzt werden, um die Entstehung von Gerechtigkeit in einem Diskurs unter ungleich Mächtigen zu zeigen oder herbeizuführen. Doerrs Beispiele liefern auch wichtige Anhaltspunkte im Hinblick auf Rituale. Das erste Beispiel zeigt, dass ein ganz neuer Raum benötigt wurde, in dem neue, gerechtere Regeln erschaffen und die polizeiliche Ordnung aufgebrochen wurde. Die ritualisierten Umgangsweisen zwischen den beteiligten Gruppen sorgten für Ungerechtigkeit und ein Verhindern von deliberativer Demokratie. Die tradierten, ritualisierten Rollen mussten daher erst einmal abgelegt oder vorübergehend suspendiert werden, damit die Anteilslosen gehört werden konnten. Weder der überlieferte noch der diskursiv hergestellte Konsens gelten für alle Menschen, wie Habermas selbst schreibt, indem er auf die Pluralisierung der in der Lebenswelt gültigen Normen und Werte hinweist, sondern nur für Teilgemeinschaften, die sich darauf geeinigt haben oder im selben Modus Operandi aufgewachsen sind, die also eine Lebenswelt teilen. Der Konsens ist damit immer exklusiv und exkludierend. Eine sich einige Teilgemeinschaft verhandelt, im Idealfall deliberativ, über das, was sie gut und richtig findet und trifft vermeintlich konsensuelle Entscheidungen. Nun bildet dieser Konsens jedoch, und darin stimme ich mit dem radikaldemokratischen Ansatz überein, eine hegemoniale Ordnung, die bestimmte Personen und bestimmte Themen ausschließt, weil sie sich gar nicht
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2 Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen
als Verhandlungspartner*innen anerkennt oder die Themen nicht für wichtig erachtet, z. B. die von Frauen, behinderten Menschen, Transsexuellen und Kindern. Ihnen wird eine ideale Sprechersituation verwehrt, es wird aber über und für sie gesprochen. Sie sind in die Bereiche der deliberativen Demokratie eingeschlossen, werden aber nicht gehört. Sie haben die Möglichkeit, durch eine strategische Herausbildung einer politischen Identität oder unter Zuhilfenahme von Dritten einzufordern, auch Anteil zu haben. Dazu muss es ihnen gelingen, die Ordnung zu unterbrechen und neue Kommunikationsregeln einzuführen oder sie müssen „Übersetzer*innen“ finden, die dies übernehmen. Dies könnten z. B. Pädagog*innen sein. Wenn es ihnen gelingt, werden sie in die polizeiliche, deliberative Ordnung eingefügt und können mitreden und -entscheiden. Die ideale Sprechsituation und das, was Mouffe das Anerkennen des Anderen als Kontrahenten, nicht als Widersacher, nennt, unterscheiden sich nur darin, dass die ideale Sprechsituation weiter ausformuliert ist. Empirisch gesehen wechseln sich Phasen der deliberativen Demokratie mit Phasen radikaler Demokratie zeitlich ab. Im empirischen Teil der Arbeit gilt es zu prüfen, ob sich die politische Ungleichheit von Kindern und Erwachsenen in demokratischen Diskursen temporär aufhebt oder ob sie auf subtile Weise den Ausgang von Diskussionen vorwegnimmt. Ich werde untersuchen, ob Kinder in Gremiensitzungen als sprachfähige, d. h. vernünftige Wesen anerkannt werden und ob Unterschiede zwischen den Kindern gemacht werden, die auf diskriminierungsrelevanten Ungleichheitskategorien fußen. Dabei muss ein Augenmerk darauf liegen, ob sich Demokratie in der Kita auf Dauer stellen lässt oder ob sie nur situativ aufscheint – wie Rancière schreibt. Bevor ich diese Fragen bündele und schärfe (Abschnitt 4.2), möchte ich die zweite Perspektive vorstellen, die meine empirischen Untersuchungen gestaltet: Eine praxistheoretisch fundierte Ritualtheorie. Dass ich diese Perspektive wähle, liegt zum einen daran, dass Rituale in der Kita allgegenwärtig sind, worauf inzwischen auch einige empirische Arbeiten hinweisen (vgl. Abschnitt 4.1), und dass unter dieser Perspektive genau analysiert werden kann, wie die Gremien für die Beteiligung der Kinder konkret durchgeführt werden. Mein Verständnis von Ritualen als performativen Praktiken werde ich im folgenden Kapitel darlegen.
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Rituale als performative Praktiken
Rituale sind aus dem pädagogischen Alltag in Kindertageseinrichtungen nicht wegzudenken. „Kinder brauchen Rituale“ ist eine Alltagsweisheit, die bei einer Internet-Recherche mehr als hunderttausend Treffer bringt. Eltern und Pädagog*innen erhalten in Publikationen Anregungen dafür, wie sie „stressfrei durch den F amilien-Alltag“ (Gräßer und Hovermann 2015) kommen oder ihre Kinder „im Alltag mit Ritualen unterstützen“ (Langlotz und Paulzen 2008) können. Rituale werden in Erziehungsratgebern mit haltgebenden Strukturen gleichgesetzt: Sie sollen Kindern Orientierung und Sicherheit bieten, damit sie sich gut entwickeln können. Nicht nur die pädagogische Ratgeberliteratur betont die Wichtigkeit von Ritualen. Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ritualen, die Ritualforschung, bestimmt sie als „konstitutive Elemente des sozialen Lebens“ (Audehm 2014, S. 259). Dieser ‚Hype‘ um Rituale hat Folgen für die pädagogische Praxis. Jäger u. a. (2006) rekonstruieren in ihrer Studie über die Alltagskultur von Kindergärten, dass und wie der gesamte Tagesablauf durch Rituale und ritualisierte Praktiken bestimmt ist. Wenn also der gesamte Tagesablauf in Kitas mehr oder weniger ritualisiert ist, sollte dies auch die Praktiken betreffen, die der Demokratisierung der Einrichtung und der demokratischen Bildung von Kindern dienen sollen. Die zweite wichtige theoretische Bezugsquelle der vorliegenden Arbeit ist deshalb die Ritualtheorie. Das vorliegende Kapitel soll darstellen und begründen, was es heißt und welchen Nutzen es hat, Demokratiebildung aus einer praxis- und ritualtheoretischen Perspektive zu betrachten. Im Folgenden werde ich darlegen, was ich unter Ritualen und ritualisierten Praktiken verstehe. Dabei werde ich insbesondere die Performativität von Ritualen herausstellen, weil diese von besonderer Bedeutung für die Bildung und Erziehung in Kindertageseinrichtungen ist. Dann werde ich mich genauer © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6_3
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3 Rituale als performative Praktiken
mit den Begriffen Bildung und Erziehung beschäftigen, auch um mein Verständnis von Demokratiebildung zu schärfen. Anschließend werde ich einen Blick auf Disziplinierung werfen, die zum einen mit Ritualen, zum anderen aber auch mit den vorangegangenen Überlegungen zu demokratischer Bildung eng verbunden ist.
3.1 Rituale als Praktiken Verschiedene zeitgenössische Ritualtheorien vertreten ganz unterschiedliche Ansichten davon, welche Phänomene als Rituale bezeichnet werden können und sollten. Andréa Bellinger und David Krieger schlussfolgern daraus: „Rituelles Handeln lässt sich wie jedes Phänomen nur dort ausfindig machen, wo die Theorie und eine vorausgehende Konzeptualisierung es schon heuristisch vermuten“ (Belliger und Krieger 2013, S. 8). Die Bandbreite der zeitgenössischen Konzeptualisierungen beginnt mit einem weit gefassten Ritualbegriff z. B. bei Michael Staack (2015), der in Anschluss an Randall Collins (2004) davon ausgeht, dass sämtliche Interaktionen zwischen Menschen ritualisiert ablaufen – entweder formalisiert oder natürlich1 – und dass sie für die an ihnen teilnehmenden Personen bei Gelingen positive Emotionen erzeugen (Staack 2015, S. 194). Christiane Brosius u. a. hingegen weisen mit einem eng gefassten Ritualbegriff darauf hin, dass Handlungen und Interaktionen bewusst gestaltet, stabil und symbolträchtig sein müssen, um als Rituale im engeren Sinne gelten zu können: „Rituale in einem engeren Sinne der Begriffsverwendung sind […] in der Regel bewusst gestaltete, mehr oder weniger form- und regelgebundene, in jedem Fall aber relativ stabile, symbolträchtige Handlungs- und Ordnungsmuster, die von einer gesellschaftlichen Gruppe geteilt und getragen werden (vergleichbar mit Pierre Bourdieus ‚Struktur‘)“ (Brosius u. a. 2013, S. 15). Das Zitat zeigt zudem, dass es einen bestimmten Kreis von Personen geben muss, für die das Ritual Bedeutung hat und die es eben darum wiederholt durchführen. Dass der Ritualbegriff eine große Bandbreite von sozio-kulturellen Aktivitäten einschließt, ist ein relativ neues Phänomen; im Kontext seiner Etablierung im theologischen Diskurs wurde er ausschließlich für religiöse Handlungen verwendet (Belliger und Krieger 2013, S. 7). Mit der Etablierung von Soziologie und Psychologie als Wissenschaften sowie durch ethnologische Forschung und eine
1„Natürlich“
meint bei Staack so etwas wie „spontan“.
3.1 Rituale als Praktiken
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geisteswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Antike habe sich ein Verständnis von Ritualen als ‚anthropologischer Konstante‘ herausgebildet, die sich nicht mehr auf Religiöses beschränke (Belliger und Krieger 2013, S. 7). Ich werde im Folgenden einen praxistheoretisch informierten Ritualbegriff einführen und umreißen, weil ich diesen für meine Forschungsarbeit verwenden möchte. Dieser betrachtet Rituale als eine besondere Form von sozialen Praktiken (Bell 2009/1992). Unter sozialen Praktiken verstehe ich mit Andreas Reckwitz (2003) „[…] know-how abhängige und von einem praktischen ‚Verstehen‘ zusammengehaltene Verhaltensroutinen, deren Wissen einerseits in den Körpern der handelnden Subjekte ‚inkorporiert‘ ist, die andererseits regelmäßig die Form von routinisierten Beziehungen zwischen Subjekten und von ihnen ‚verwendeten‘ materialen Artefakten annehmen“ (Reckwitz 2003, S. 289). Dass die Verhaltensweisen und Beziehungen zu Artefakten routiniert sind, bedeutet, dass die Subjekte sie prinzipiell durchführen können, auch ohne dass sie lange darüber nachdenken müssen. „Sozial“ ist in diesem Zusammenhang nicht als Intersubjektivität oder Kommunikation zu verstehen, sondern kennzeichnet, dass in Praktiken praktisches Wissen zur Anwendung kommt, das von einem ganzen Kollektiv gewusst wird und daher von Anderen an anderen Orten oder zu einer anderen Zeit ähnlich durchgeführt oder als dieselbe Praktik erkannt werden kann (Reckwitz 2003, S. 292). Die praxistheoretische Strömung innerhalb der Ritualforschung baut auf einer performance-theoretischen Strömung auf, entwickelt sie aber unter anderem um den Aspekt der Auseinandersetzung mit Macht weiter. Catherine Bell (1997) zählt Praxis- und Performance-Theorien zu einer strukturalistischen Strömung innerhalb der Ritualforschung, die Rituale als Form von kultureller Kommunikation ansieht, welche die kognitive Wahrnehmung von Menschen maßgeblich mitbestimmt (Bell 1997, 2; 88). Innerhalb der strukturalistischen Strömung besteht weitgehend Einigkeit darüber, dass Rituale Performances sind: „Sucht man einen gemeinsamen Nenner dieser Beiträge, stößt man auf den von fast allen Autoren verwendeten Begriff der ‚Performance‘. […] Die Bezeichnung ‚Performance‘ scheint den Begriff des Rituals oft sogar zu ersetzen.“ (Belliger und Krieger 1998, S. 9)
Im Sammelband zu zeitgenössischer Ritualforschung von 1998 (Belliger und Krieger 1998) werden Performance und Ritual nahezu in eins gesetzt. Da die Betrachtung von Ritualen als Performances auch für die praxistheoretische Auseinandersetzung mit Ritualen so wichtig war, werde ich sie näher ausführen.
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3 Rituale als performative Praktiken
Die verschiedenen performance-theoretischen Ansätze haben gemein, dass sie Rituale als Ereignisse ansehen und ihre körperlichen und sinnlichen Aspekte anerkennen (Bell 1997, S. 74). Vertreter*innen dieser Ansätze sehen in Ritualen entweder die besonders versteckten Strukturen des kulturellen Systems einer Gesellschaft aufgeführt, oder sie betonen, dass Rituale diejenige Form sind, in der die Kultur einer sozialen Gruppe überhaupt nur existiert und reproduziert wird (Bell 1997, S. 72 f.). Eine Besonderheit dieser Strömung ist die aktive Rolle, die den an einem Ritual Teilnehmenden zugesprochen wird: Sie werden als Akteur*innen anerkannt, die bedeutungsgeladene Symbole kommunizieren und dabei neu interpretieren. Die Akteur*innen formen also durch Rituale ihre Kultur und nicht umgekehrt (Bell 1997, S. 73). Performance-theoretische Ansätze gehen davon aus, dass die Symbolik von Ritualen widersprüchlich und mannigfaltig ist, weil sie Kultur nicht als ein vollständig artikuliertes System ansehen, sondern in ihr sich ständig verändernde Prozesse erkennen. Indem Rituale als Performances angesehen werden, kann daher die Widersprüchlichkeit in der Aneignung und Verwendung von Symbolen erklärt werden (Bell 1997, S. 74). Ein weiterer gemeinsamer Aspekt vieler Performancetheorien ist, dass sie Ritualen einen transformativen Effekt zuschreiben. Wie dieser Effekt näher beschrieben wird, bzw. was oder wer genau transformiert wird, ist von Theorie zu Theorie unterschiedlich, es reicht von den im Ritual verwendeten Symbolen bis hin zum Sein oder Bewusstsein der Teilnehmenden (Bell 1997, S. 74 f.). Der Hinweis auf den transformativen Charakter von Ritualen ist wichtig in Hinblick auf Bildungsprozesse, wie ich in Abschnitt 3.4.1 zeigen werde. Darüber hinaus verweist Bell im Zusammenhang mit Performance auf die Reflexivität von Ritualen. Damit ist gemeint, dass die Teilnehmenden sich prinzipiell von ihrer sinnlichen Einbezogenheit lösen und eine Beobachter*innenrolle auch sich selbst gegenüber einnehmen können. Dieser Aspekt löst den Dualismus zwischen (wissenschaftlichem) Beobachten und (beforschtem) Handeln auf und stellt in Rechnung, dass Agierende immer auch zur Reflexion ihres eigenen Handelns fähig sind (Bell 1997, S. 75). Die Theorieströmung ‚Ritual als Praktik‘ baut auf dieser Theorieströmung ‚Ritual als Performance‘ auf und hat mit ihr gemein, dass sie die funktionalistischen Ansätze dafür kritisiert, gesellschaftlichen Wandel zu übersehen bzw. nicht erklären zu können und die Körperlichkeit von Ritualen bzw. Handeln im Allgemeinen außen vor zu lassen. Im Gegensatz dazu sehen sie Rituale als kreative und körperliche Strategien, die die soziokulturelle Umwelt formen. Im Unterschied zu Performance-Theorien beschäftigen Praxistheorien sich eher mit Praktiken im Allgemeinen und beschränken sich nicht auf besondere Arten davon, wie etwa Rituale, aber es gibt doch einige
3.1 Rituale als Praktiken
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ertreter*innen, die Rituale als besondere, paradigmatische Handlungen V anerkennen. Prominente Vertreter*innen von praxistheoretischen Ritualansätzen sind – neben Catherine Bell – Pierre Bourdieu, Marshall Sahlins, Sherry B. Ortner und Jean Comaroff (Bell 1997, S. 75 ff.). Sie untersuchen Ritual-Prozesse von längerer Dauer oder größerer Reichweite. Praxistheorien sind mehr als Performance-Theorien an Machtstrukturen innerhalb von sozialen Beziehungen interessiert (Bell 1997, S. 76 f.). Zudem erweitern Praxistheorien die Performativitätstheorien darum, dass sie den Fokus nicht nur auf intersubjektive Praktiken legen, sondern auch solche berücksichtigen, die nicht mehrere Personen, sondern eine einzelne Person und ein oder mehrere Objekte oder Artefakte einbeziehen (Kuhn 2013, S. 167). Der Fokus auf die in Ritualen inhärenten Machtstrukturen ist ein wichtiger Grund für mich, einem praxistheoretisch informierten Ansatz zu folgen, denn einerseits handelt es sich bei dem von mir zu untersuchenden Phänomen um Politik, andererseits sind in der Kita die Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen besonders evident und gebühren einer genauen Betrachtung. Diese Beschäftigung mit „Macht“ ist im Begriff der „Praxis“ bereits angelegt, denn die Praxistheorien nutzen das Marx’sche Macht-Verständnis, welches die inhärenten produktiven und politischen Dimensionen menschlicher Handlungen betont (Bell 1997, S. 75). Bell legt ihr praxistheoretisches Verständnis von Ritualen ausführlich in ihrem Werk „Ritual Theory, Ritual Practice“ (2009/1992) dar. Sie beschreibt zunächst die Gemeinsamkeiten menschlichen Handelns im Allgemeinen, um dann die Besonderheiten von ritualisiertem Handeln bzw. Ritualen darzustellen. Menschliches Handeln ist für Bell situativ und strategisch; es neige dazu, Beziehungen zwischen Zweck und Mittel zu erkennen um sich somit eine Wirksamkeit zuschreiben zu können, und es sei motiviert durch eine ‚erlösende Hegemonie‘ („redemptive hegemony“), das bedeute, die Realität als so geordnet anzunehmen, dass die Akteur*innen in ihr verschiedene vorteilhafte Handlungen vollziehen könnten (Bell 1997, S. 81). Rituelle Praktiken unterscheiden sich mittels verschiedener Strategien von anderen Praktiken, sie markieren sich selbst immer als nicht-alltägliche Praktiken: „That is, intrinsic to ritualization are strategies for differentiating itself – to various degrees and in various ways – from other ways of acting within any particular culture“ (Bell 2009/1992, S. 102). Bell schlägt insgesamt vor, zu untersuchen, wie und auf welche Weise Handlungen praktisch zu Ritualen gemacht werden, und dann zu analysieren, weshalb, in welchem Kontext, welche Handlungen, ritualisiert werden (Bell 1997, S. 81). „Acting ritually is first and foremost a matter of nuanced contrasts and
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3 Rituale als performative Praktiken
the evocation of strategic, value-laden distinctions“ (Bell 2009/1992, S. 102). Diese „nuancierten Kontraste“ und Beschwörung von strategischen, aufgeladenen Unterscheidungen gelte es herauszuarbeiten. Die ihrer Meinung nach gebräuchlichsten Weisen, auf die Praktiken als ritualisierte Praktiken erkennbar werden, legt Bell ausführlich dar. Auf sie werde ich in Abschnitt 3.3 eingehen. Das Ziel oder der Sinn von Ritualen liegt für Bell darin, sich in die sie ausführenden Akteur*innen einzuschreiben. Bell verweist insbesondere auf Bewegungen, die Körper in Raum und Zeit vollziehen und mit denen bestimme kulturelle Schemata aufgerufen, unterschieden und kombiniert werden. Diese Schemata dienen dazu, den physikalischen Raum zu strukturieren. Die Teilnahme am Ritual führt dazu, dass die von den Teilnehmenden selbst aufgerufenen Schemata als natürlich und selbstverständlich konstituiert werden, wodurch sich ein ritueller Zirkel ergibt (Bell 1997, S. 81). „The goal of ritualization as such is completely circular: the creation of a ritualized agent, an actor with a form of ritual mastery, who embodies flexible sets of cultural schemes and can deploy them effectively in multiple situations so as to restructure those situations in practical ways“ (Bell 1997, S. 81).
Rituale/Ritualisierungen – Bell verwendet diese Begriffe zunächst synonym – dienen also dem Erlernen, dem Inkorporieren von kulturellen Schemata und deren Beziehungen zueinander, sodass die rituell gebildeten Akteur*innen neue Situationen kompetent bewältigen und ggf. verändern können. Aus diesem Verständnis von Ritualen heraus leitet Bell verschiedene Maximen für die forschende Auseinandersetzung mit Ritualen ab: Sie sollten erstens im Kontext der anderen, nicht-ritualisierten Praktiken betrachtet werden, denn erst so lassen sich Aussagen darüber treffen, welche Praktiken auf welche Weise ritualisiert werden. Zweitens seien es die Körperbewegungen der Teilnehmenden im Raum, die gleichzeitig die ordnenden kulturellen Strukturen ausführen und kreieren, und die es zu analysieren gelte. Drittens gehe es darum, zu ergründen, welche Werte oder Ideen im Ritual als unverfügbar transzendiert werden, da Rituale immer auf vermeintlich natürliche/selbstverständliche/vorgängige Mächte oder Ideen verweisen (Bell 1997, S. 81 f.). Bell weist in verschiedenen Ritualtheorien (Durkheim, Tambiah und Turner) exemplarisch nach, wie eine anfänglich unhinterfragt vorausgesetzte Dichotomie zwischen verschiedenen Phänomenen dazu führt, dass Ritualtheorien konstruiert werden, die diese Dichotomie aufheben oder versöhnen, zum Beispiel eine Dichotomie zwischen Denken und Handeln. Sie sieht in diesem Zwang zur Herstellung einer Dichotomie und ihrer anschließenden Auflösung
3.2 Zur Performativität von Ritualen
47
eine spezifische westliche intellektuelle Tradition, die oft unbewusst bleibt und die u. a. eine Opposition zwischen der Forschenden und dem Forschungsobjekt einführt (Bell 1998, S. 39 ff.). Eine praxistheoretische Ritualforschung bedeutet hingegen, den in den anderen Ritualtheorien immer wieder rekonstruierbaren Dualismus zwischen Denken und Handeln bzw. Teilnehmen und Beobachten zu suspendieren (Bell 1997, S. 80).
3.2 Zur Performativität von Ritualen Im vorherigen Kapitel bin ich bereits auf Rituale als Performance eingegangen. Jedoch beschränkt sich die Performativität von Ritualen nicht auf ihre Ereignishaftigkeit, d. h. ihren Performance-Charakter, sondern ist durch poststrukturalistische und praxistheoretische Positionen weiter ausdifferenziert worden. Was mit der Performativität von Ritualen gemeint ist und welche Konsequenzen sie für Bildungs- und Erziehungsprozesse hat, ist Gegenstand der folgenden Erörterungen. Das Begriffsfeld der Performativität ist komplex. Verschiedene Autor*innen unterscheiden zwischen verschiedenen Konzepten, die sie allesamt als Performativität bezeichnen. Ein Aspekt von Performativität ist die bereits genannte Performance. Der Begriff der ‚Performance‘ bezieht sich vor allem auf die zeitlich begrenzte Ereignishaftigkeit und den Aufführungscharakter von Ritualen. Darin stimmen Christoph Wulf u. a. (2001b), Stanley J. Tambiah (1998) und Catherine Bell (1997) überein. Rituale können als Aufführungen von Handlungen vor leiblich ko-präsentem Publikum (der Begriff der „leiblichen Ko-Präsenz“ ist geprägt durch Erika Fischer-Lichte (2004)) aufgefasst werden. Dieser Begriff betont die Körperlichkeit, den Aufführungscharakter und das Besondernde von Ritualen – sie machen aus einer alltäglichen Handlung wie dem Essen von Brot eine besondere wie das Abendmahl in der Sonntagsmesse. Ein anderer Aspekt der Performativität, der mit dem Begriff des ‚Performativen‘ bezeichnet wird, stamme laut Wulf u. a. aus John Langshaw Austins Sprachphilosophie und bezeichne einen bestimmten Modus von sprachlichen Äußerungen, d. h. Sprechakten, die das hervorbringen, was sie bezeichnen, und damit entweder glücken oder missglücken können. Das Konzept sei aus der Sprachwissenschaft u. A. von Pierre Bourdieu und Judith Butler in die Kulturund Sozialwissenschaften überführt worden und beschreibe als Diskursfeld der ‚Performativität‘ den konstitutiven Charakter sozialer Handlungen, also die Eigenart von Handlungen, Realitäten zu produzieren (Wulf u. a. 2001b, S. 10 ff.).
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3 Rituale als performative Praktiken
Die performative Seite von Ritualen lässt sich laut Wulf anhand von drei Dimensionen erfassen: Zum ersten können Rituale als kulturelle Aufführungen verstanden werden, die Ordnung herstellen, um sozialen Zusammenhalt zu erhalten oder erzeugen. Zum Zweiten sind die zum Ritual gehörigen Sprechakte häufig Handlungen, die das hervorrufen, was sie bezeichnen. Das sprachliche und das nonverbale körperliche Handeln verstärken sich im Ritual gegenseitig und erzeugen dadurch soziale Realitäten (etwa bei der Inauguration eines Präsidenten). Zum Dritten sind Rituale performativ, weil sie ästhetisch sind, d. h. unmittelbar von den Sinnesorganen wahrgenommen werden und auf diese wirken (Wulf 2005, S. 118 f.). Auch Stanley J. Tambiah (1998) zeigt auf, dass unter dem Begriff Performativität unterschiedliche Konzepte verstanden werden, die jeweils wichtige Implikationen für die Ritualforschung haben: „Rituelle Handlung ist auf drei Arten performativ: erstens im Sinne von Austin, wonach etwas sagen gleichzeitig auch etwas tun (als konventionelle Handlung) bedeutet; zweitens in dem davon völlig verschiedenen Sinn einer dramatischen Performance, in der die Teilnehmer verschiedene Medien benutzen und das Ereignis intensiv erfahren; und schliesslich in einer dritten Bedeutung im Sinne eines indexikalen Wertes (der Begriff stammt von Peirce), den die Akteure während dieser Performance dieser zuschreiben und aus ihr ableiten“ (Tambiah 1998, S. 230).
Diese Konzeptualisierung der Performativität von Ritualen ergänzt: Rituale schaffen soziale Kohäsion (Wulf), indem die an ihnen Teilnehmenden ihnen bestimmte Werte zuschreiben und sie gleichzeitig aus ihnen ableiten (Tambiah). Die dramatische Performance wird intensiv erfahren (Tambiah), weil sie unmittelbar über die Sinnesorgane der beteiligten Körper wahrgenommen wird (Wulf). J. Hillis Miller (2007) legt in seinem Aufsatz „Performativity as Performance“ dar, dass es nicht drei, sondern vier verschiedene Konzepte von Performativität (performativity) gibt, die fälschlicherweise als ‚das gleiche‘ angesehen werden. Die Performativität von Performances sei etwas grundsätzlich Anderes als die von Sprechakten, darin stimmt er den vorher zitierten Autor*innen zu. In Millers eigenen Worten: „Performativity as performance style and performativity as the felicitous operation of a speech act have almost nothing to do with one another“ (Miller 2007, S. 219). Daneben unterscheidet er aber auch noch die wirklichkeitserzeugende Performativität von Handlungen in so etwas wie Inkorporierung einerseits und Iteration andererseits (Miller 2007, S. 233). Miller zeichnet die Genealogie des Missverständnisses nach und arbeitet heraus, dass es bereits in den 1960ern, d. h. lange vor Butlers „Gender Trouble“, aber auch vor Foucault und Derrida und vor einer ernsthaften wissenschaftlichen
3.2 Zur Performativität von Ritualen
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Auseinandersetzung mit Austins Sprechakttheorie, ein wissenschaftliches Feld gab, das sich ‚performance studies‘ nannte und mit musikalischen und theatralischen Aufführungen beschäftigte. Der Terminus Performativität (performativity) sei hingegen erst entstanden, als Butler diese ‚performance studies‘ und die Sprechakttheorie nach Austin („How to do things with words“) mit Foucault kombinierte, um aufzuzeigen, wie Geschlecht und Gender re-produziert werden. Das Konzept der Performativität wird seitdem als Kern von Butlers Theorie der Subjektbildung angesehen. In späteren Arbeiten versuche sie stärker, zwischen Performativität als Performance (Aufführung) und als performativer Sprechakt zu unterscheiden, jedoch sei der Einfluss des Verständnisses von Performativität, wie sie es in Gender Trouble entwickelt habe, nach wie vor stark (Miller 2007, S. 219 ff.). Miller vergleicht nun Austins und Butlers Konzept und kommt zu dem Schluss, dass diese nicht miteinander in Einklang gebracht werden können. Um eine performative Äußerung in Austins Sinne tätigen zu können, braucht es stabile Identitäten, die dafür einstehen, was die performative Äußerung (z. B. „Hiermit ernenne ich dich zur Vorsitzenden!“) verspricht. Da Butlers Theorie vorsieht, dass es solche nicht gibt und dass Identität performativ hergestellt wird, scheinen die beiden Theorien einander zu widerstreiten: „One might even claim that Butlerian performativity theory is the opposite of Austinian theory of performatives“ (Miller 2007, S. 226 f.). Miller entwickelt nun die These, dass Derrida, auf den sich Butler bezieht, als Bindeglied zwischen ihr und Austin anzusehen sei. Derrida dekonstruiere Austins Theorie, eigne sich aber trotzdem die Idee des Performativen an (Miller 2007, S. 230 f.). Der Vorgang der Aneignung, wie Derrida ihn ausführt, kann als Iteration bezeichnet werden. Das Konzept der grundsätzlichen Iterierbarkeit von (sprachlichen) Zeichen wird von Derrida in seinem Text „Signatur Ereignis Kontext“ (1999/1972) entwickelt. Damit ist gemeint, dass jedes (sprachliche) Zeichen in einem anderen Kontext wiederholt werden kann und dass bei es bei dieser Wiederholung immer eine Bedeutungsverschiebung erfährt, die nicht umgangen werden kann (Derrida 1999/1972, S. 333). Entsprechend ist eine wiederholende Verwendung von sprachlichen Zeichen in einem neuen Kontext immer auch eine Aneignung dieser sprachlichen Zeichen, weil die sprachlichen Zeichen im neuen Kontext mit einer neuen Bedeutung vermengt werden2.
2Hieran
knüpfen die Überlegungen zur Repetitivität von Ritualen an: Eine Wiederholung ist immer gleich und verschieden.
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3 Rituale als performative Praktiken
Miller zeichnet nach, dass Derrida in der Auseinandersetzung mit Austin ein ganz eigenes Konzept von Performativität entwickelt: „The performative is seen [by Derrida, T.L.] as a response made to a demand made on me by the “wholly other” [le tout autre], a response that, far from depending on preexisting rules or laws, on a preexisting ego, I, or self, or on preexisting circumstances or “context,” creates the self, the context, and new rules or laws […]“ (Miller 2007, S. 231).
Das bedeutet, eine performative Äußerung braucht nach Derrida keinesfalls den richtigen Kontext oder ein bereits bestehendes und sich selbst bewusstes Subjekt oder muss sich spezifischen Regeln und Gesetzen unterwerfen um zu glücken, sondern sie kreiert all dies im Moment ihrer Entstehung. Performative Äußerungen als Antwort auf die Anforderungen eines grundsätzlich und nicht einholbaren Anderen zu konzipieren, bedeutet daher auch, ihnen eine andere Zeitlichkeit einzuräumen: Sie bilden einen radikalen Bruch mit der Vergangenheit und läuten eine neue, unvorhergesehene Zukunft ein3. Daraus folgt aber auch, dass der*die Andere niemals wissen kann, ob das, was die*der Sprecher*in sagt, stimmt oder nicht (Miller 2007, S. 231 f.). Derrida betont also mehr als Butler in „Gender Trouble“ das Vermögen der Subjekte, sich performativ selbst zu erschaffen und zu gestalten. Butler geht in ihren frühen Werken eher davon aus, dass Geschlecht und Gender im Wechselspiel von Anrufung und Antwort aufgeführt und dadurch von den Aufführenden inkorporiert werden. Die Aufführenden haben dabei eine eher passive Rolle, denn sie werden so lange nicht als Subjekte anerkannt, bis sie sich in die von außen an sie herangetragenen Vorstellungen einfügen (Butler 1991). In einem späteren Text von Butler und Spivak stellen diese jedoch eindeutig das Politische von performativen Äußerungen heraus und vertreten damit ein Derrida ganz ähnliches Verständnis von Performativität: „Es verhält sich nicht so, daß durch Sprache alles vollbracht wird, als ob man sagen könnte: ‚Ich bin frei, und dann macht mich meine performative Äußerung auch frei.‘ Nein. Aber diese Forderung nach Freiheit zu stellen bedeutet, bereits mit ihrer Ausübung zu beginnen und hinterher ihre Legitimation zu verlangen, es bedeutet, die Lücke zwischen Ausübung und Verwirklichung zu verkünden und beides auf eine Weise in den öffentlichen Diskurs einzubringen, daß eine Lücke sichtbar wird und zu mobilisieren vermag“ (Butler und Spivak 2011, S. 47).
3Hierin ähneln sich die Konzepte von Performativität von Derrida und die Demokratietheorie von Ranciére. Demokratische Akte könnten als Bruch mit der vergangenen polizeilichen Ordnung und als ein demokratisches Versprechen an die Zukunft verstanden werden.
3.2 Zur Performativität von Ritualen
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Wie Derrida beschreiben Butler und Spivak im obigen Zitat, dass ein performativer Sprechakt einen Bruch mit Vergangenem und ein Versprechen an die Zukunft bildet, denen weitere Handlungen nachfolgen. Zu sagen, ich sei frei, bedeutet zwar noch nicht, tatsächlich frei zu sein, bricht aber mit der vorangegangenen Unfreiheit und zeigt auf, wo Änderungsbedarf besteht. Dies entspricht dem Einsetzen der Politik selbst, wie es Rancière beschreibt (vgl. Abschnitt 2.5.2). Aus Millers Darlegungen folgt schließlich die Notwendigkeit der Unterscheidung von vier statt nur drei Konzepten von Performativität: „We must resist thinking that gender socially constructed by performativity is like an Austinian promise or that either is like a Derridean performative response, a saying yes to the wholly other, or that the performance of a Mozart piano sonata is like any of these“ (Miller 2007, S. 233). Miller möchte die performative Herstellung von Gender nach Butler als Inkorporierung, das Versprechen von Austin als Sprechakt, die performative Antwort an das Andere von Derrida als Iteration und die Klaviersonate als Performance voneinander unterschieden wissen. Er räumt allerdings ein, dass die vier verschiedenen Konzepte Familienähnlichkeit im Sinne Wittgensteins aufweisen, d. h. dass Performativität in allen Konzepten damit verbunden ist, verbal oder nonverbal zu handeln und darin einen Unterschied zu machen (Miller 2007, S. 233). Miller fasst den Begriff der Performativität weiter als die anderen Autor*innen. Das ist in Hinblick auf Rituale sinnvoll, in denen alle vier Bedeutungsebenen zusammentreffen: Rituale sind ereignishafte, körperliche Performances, unterstützen performative Sprechakte und verwischen somit die Unterscheidung zwischen sprachlichem und nicht-sprachlichem Handeln, legen die Identifikation mit tradierten Subjektvorstellungen bzw. deren Inkorporierung nahe (frühe Butler) und haben gleichzeitig das Potential des iterativen Bruches damit (Derrida, späte Butler, Butler und Spivak). Millers Überlegungen sind deshalb m. E. fruchtbar für eine erziehungswissenschaftliche Ritualforschung, da sie zwischen dem Einüben von erwarteten Praktiken (Butlers Performativität in „Gender Trouble“) und dem aktiven eigenen Gestalten von Subjektivität im Ritual unterscheiden lässt. Diese Unterscheidung ist in Verwandtschaft zur Unterscheidung zwischen Erziehung und Bildung zu sehen, die m. E. beide aus den Performativitäten von Ritual entspringen und auf die ich in Abschnitt 3.4 eingehen werde. Zunächst möchte ich jedoch zum praxistheoretischen Blick auf Rituale zurückkommen und sechs Strategien der Ritualisierung von Praktiken nach Catherine Bell vorstellen.
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3 Rituale als performative Praktiken
3.3 Strategien zur Ritualisierung von Praktiken Anstelle einer engen Definition von Ritualen beschreibt Catherine Bell (1997) sechs verschiedene, relativ weit verbreitete Strategien, mittels derer Praktiken als Rituale erkennbar gemacht werden4: Formalisierung, Traditionalisierung, Beständigkeit, Regelunterwerfung, Sakralisierung und Performance. Zirfas und Wulf (2001) entwerfen analog dazu sechs formale Kriterien für Rituale. Diese überschneiden sich teilweise mit denen von Bell, sind aber anders akzentuiert: Repetitivität (diese ist für sie eine mimetische Handlung; vgl. auch Abschnitt 3.4.1). Homogenität der Verfahrensweisen, Öffentlichkeit, Liminalität als Bearbeitung von Differenzerfahrungen, Operationalität und Symbolik (Zirfas und Wulf 2001, S. 193). Überschneidungen gibt es auch mit der oben genannten ‚weichen‘ Definition von Brosius/Michaels/Schrode (2013, S. 15), die ebenfalls die mehr oder weniger bewusste Gestaltung, Form- und Regelgebundenheit, relative Stabilität, Symbolträchtigkeit, Gruppenbezogenheit sowie die Handlungen und Ordnungen strukturierende Eigenschaft von Ritualen betonen. Ein wichtiger Effekt der Strategien zur Ritualisierung von Praktiken – insbesondere von Traditionalisierung und Performance – ist, dass sie vergessen machen, dass Rituale ein menschliches Konstrukt sind. Sie erscheinen den sie Vollziehenden vielmehr als ihr simples Reagieren auf äußere Erfordernisse, wie z. B. den Geburtstag eines*einer Freundin*Freundes. Dies gilt besonders für die speziell für Rituale erschaffenen Umgebungen, wie den Altar in der Kirche (Bell 1997, S. 167 f.). Mit Bells Worten zusammengefasst: „Ritualization quietly creates an environment within which quite distinctive symbolic behaviors can appear to be proper and effective responses“ (Bell 1997, S. 168). Ich möchte die von Bell erarbeiteten Kriterien als Analysefolie für meine Forschung nutzen, daher werde ich sie im Folgenden einzeln vorstellen und ggf. mit den anderen Kriterien ergänzen.
4Bell
verweist darauf, dass es nicht überall dieselben Trennlinien zwischen Ritual und Nicht-Ritual gebe, sondern dass diese jeweils anders verlaufe oder mitunter völlig fehle. Dennoch gebe es durchaus Phänomene, die relativ weit verbreitet als Ritual verstanden werden, wie zum Beispiel öffentliche Veranstaltungen, bei denen überlieferte Gesten wiederholt werden, unter anderem um übernatürliche Wesen anzurufen. Die fundamentale Grundlage für Ritualisierung sei jedoch, bewusst so zu handeln, dass die Handlung dadurch zu etwas Besonderem wird (Bell 1997, 138–139; 164–169).
3.3 Strategien zur Ritualisierung von Praktiken
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3.3.1 Formalisierung Eine erste Strategie der Ritualisierung von Praktiken nach Bell ist ihre Formalisierung (Bell 1997, S. 139). Die Formalisierung von Sprache, Gesten, Bewegungen sowie der möglichen Handlungen insgesamt bestimme nicht nur, wie etwas gesagt oder getan würde, sondern implizit auch, welche Inhalte derart ausgedrückt werden könnten. Im Gegensatz zu explizit geäußerten Ideen würden Klischees, Floskeln oder Formeln seltener in Frage gestellt: „While people might challenge the expression of specific or concrete ideas, they tend not to challenge the routine expression of formulas or clichés“ (Bell 1997, S. 140). So sei es schwierig, auf eine sehr formelle Weise so etwas wie Herrschaftskritik zu üben, und gleichzeitig würden gegen die Förmlichkeit verstoßende, kritische Äußerungen als störend und unpassend empfunden und als irrelevant aberkannt. Bei formellen Anlässen würden den Anwesenden bestimmte Rollen zugewiesen, die nicht leicht zu durchbrechen seien. Unterbreche man sie dennoch, würde angenommen, man habe die Situation sowie die eigene Position darin nicht verstanden (Bell 1997, S. 140). Die Macht des Formellen liege zum einen in seiner ästhetischen Wirkung begründet: Schönheit, Anmut und Würde würden durch sie hergestellt. Zum anderen könnten formell mit wenig Mitteln komplexe Sachverhalte über soziale Positionen, Klassenzugehörigkeit etc. kommuniziert werden, d. h. Formalität ist effizient. Durch Begrüßungsrituale erkennten sich die darin Involvierten gegenseitig als ihr jeweiliges Gegenüber an, das es wert ist, gegrüßt zu werden. Je komplexer die Begrüßungsrituale, umso mehr könne über die soziale Beziehung und die Hierarchie zwischen den Parteien kommuniziert werden (Bell 1997, S. 141 f.). Auch Tischmanieren seien in vielen sozialen Gruppierungen wichtige Erkennungszeichen für die Gruppenzugehörigkeit, die soziale Position, die Einstellung zur eigenen sozialen Position bis hin zur moralischen Einstellung von Personen. Nicht nur die Qualität der Erziehung einer Person, sondern auch die ihr über Erziehung vermittelte Moral würde mitunter aus ihren Tischmanieren abgelesen. Bell verweist darauf, dass Eleanor Roosevelt in einem Versuch der Überwindung solcher klassistischen Vorstellungen und der Demokratisierung der Gesellschaft ein Buch über Etikette geschrieben habe, das weniger strenge Benimmregeln vorschlägt (Bell 1997, S. 142 ff.).
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3 Rituale als performative Praktiken
3.3.2 Traditionalisierung Traditionalisierung bedeutet, Praktiken auf eine solche Weise zu vollziehen, dass sie sich auf vorangegangene Praktiken beziehen (Bell 1997, S. 145). Die neuen Praktiken würden dadurch Legitimität erhalten; es würde suggeriert, dass bestimmte Dinge ‚schon immer‘ bzw. ‚schon lange‘ so gemacht werden, weil es besonders sinnvoll sei oder eine natürliche Ordnung widerspiegelt. Besonders deutlich würde das an traditioneller Bekleidung, mit der alte Werte, wie z. B. das Prestige einer sozialen Gruppe, wieder heraufbeschworen werden (Bell 1997, S. 146). Das Zitieren oder Wiederholen von traditionellen Ritualen statte diese neuen Aufführungen mit Authentizität aus. Fehlt der Verweis auf Althergebrachtes, fühlt sich das Ritual für die Teilnehmenden leer oder irrelevant an (Bell 1997, S. 145). Als Beispiele für Traditionalismus führt Bell die Roben von Richtern in Großbritannien an, die jedem Versuch der Abschaffung standhalten, aber auch traditionelle Thanksgiving-Essen in den USA, die im Kreise der Familie informell, aber eben an Familientraditionen anknüpfend, begangen werden (Bell 1997, S. 145 f.). Zudem zeichnet sie nach, wie die britische Monarchie Ende des 19. Jahrhunderts aufgrund ihres Machtverlustes sehr alte und seit Jahrhunderten nicht mehr praktizierte Rituale neu aufführte mit dem Ergebnis, dass diese Rituale Ende des 20. Jahrhunderts als eine Jahrhunderte alte Tradition wahrgenommen wurden (Bell 1997, S. 148). Auch der Pledge of Allegiance, der Treueschwur auf die US-amerikanische Flagge, wird erst seit 1892 in Schulen geleistet und seit dem Jahr 1954 um den Zusatz „under god“ ergänzt, wahrscheinlich als Versuch, neu Immigrierten die ‚richtigen‘ Werte zu vermitteln (Bell 1997, S. 149). Insgesamt sei strittig, ob Traditionalisierung eine Methode für oder ein Resultat von Ritualisierung ist, denn selbst, wenn ein Ritual ganz neu kreiert wird, ruft es oftmals Assoziationen mit Traditionen hervor oder erweckt den Eindruck, Beginn einer neuen Tradition zu sein. In jedem Fall schaffen es Rituale durch den ihnen eigenen Traditionalismus, ihre historische Kontingenz zu verschleiern, ohne dass ihre Legitimität überhaupt erklärt werden muss (Bell 1997, S. 149 f.). Der Verweis auf die antike Demokratie kann m. E. als eine solche Strategie gelesen werden, aktuelle demokratische Regierungsmodelle mit Legitimität und Authentizität auszustatten und somit abzusichern.
3.3.3 Beständigkeit und Repetitivität Die Strategie der Beständigkeit (Bell im Original: „invariance“) (Bell 1997, S. 150) durch präzise Wiederholung ordne die Singularität eines Ereignisses
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und einer Person vollständig dem Andauernden und Gemeinschaftlichen unter. Indem Praktiken möglichst exakt wiederholt würden, würde das Fortschreiten der Zeit zwischen den einzelnen Wiederholungen negiert. Zudem würde durch präzise Wiederholung Selbstdisziplin eingeübt. Die Rituale der Anonymen Alkoholiker und die Tagesabläufe von Zen-Buddhisten werden von Bell als Beispiele dafür genannt, wie das Individuum durch präzise Wiederholung geformt werden soll (Bell 1997, S. 151). Auch in der Erziehung, vor allem in der Schule, werden Wiederholungen eingesetzt, um Disziplin einzuüben und letztlich einen Sinn für die richtige Ordnung zu erwerben. Bell verweist auf die vielen verschiedenen Rituale und Ritualisierungen in der Schule, die nicht die Inhalte des offiziellen Lehrplans vermitteln, sondern eben kulturelle Werte, Selbstdisziplin und Ordnung. Positiver Nebeneffekt von präziser Wiederholung ist das temporäre vollständige Aufgehen in einer Gemeinschaft (Bell 1997, S. 150 ff.). Diese Strategie der Beständigkeit möchte ich mit Zirfas und Wulf (2001) als Repetitivität im Sinne einer „Veränderungen durchaus mit einbeziehende mimetische Tätigkeit“ (Zirfas und Wulf 2001, S. 193) fassen. Dies erlaubt es, strikte Wiederholungen als beides anzuerkennen: Sowohl als Versuch, das Fortschreiten der Zeit aufzuheben oder zu negieren (Bell) als auch als notwendiges Scheitern dieses Vorhabens daran, dass zwischen den einzelnen Wiederholungen stets Raum und Zeit für Veränderungen ist (Zirfas/Wulf).
3.3.4 Regelgeleitetheit Die Regelgeleitetheit („rule-governance“) (Bell 1997, S. 153) von Ritualen und Ritualisierungen zeige sich deutlich im ritualisierten sportlichen Zweikampf, im Spiel und auch in der Kriegsführung. Rituale verpflichten die sie Aufführenden dazu, bestimmte Regeln einzuhalten und gemeinschaftlich akzeptierte Handlungsweisen zu vollziehen, sie legitimieren diese Handlungsweisen sowie die Gemeinschaft als Ursprung der Normen und ermutigen zu neuen Interaktionen, indem sie die Möglichkeiten für deren potentiellen Ausgang reduzieren (Bell 1997, S. 153 ff.). Strittig sei laut Bell, ob sportliche Wettbewerbe Aggression und Krieg verhindern, oder ob sie die kulturellen Werte von Wettbewerb, aggressivem Verhalten und männlicher Teamsolidarität mitkonstituieren, die dann wiederum zu gewaltförmigem Verhalten und letztlich zu Krieg führen können (Bell 1997, S. 153 f.). Auch bestimmte Formen des Spiels können als Ritual aufgefasst werden, da sie gemeinschaftlich und repetitiv sind sowie kulturelle Muster aufführen, verändern oder persiflieren und dabei auf ganz grundsätzliche Ideen verweisen, wie
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3 Rituale als performative Praktiken
die Dinge stehen und stehen sollten. Ebenso wie Sport und Spiel untersteht auch die Kriegsführung bestimmten Regeln, die die Kriegstreiber*innen human und gesittet und das Kriegstreiben an sich legitim erscheinen lassen (sollen). Weitere Beispiele für die Regelgebundenheit von Ritualen sind Beleidigungsrituale in Form von Gedichten, wie es im Nahen Osten seit Jahrhunderten praktiziert wird, sowie die Verhandlungen zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeber*innen (Bell 1997, S. 154 f.). Bell weist in diesem Zusammenhang auch auf die stark regelgeleiteten Formen von konflikthaften Diskussionen in Institutionen hin: „Likewise, presidential debates, congressional hearings, debating societies, and even routine legal proceedings in which defense and prosecution contend in a court of law all follow an enormous number of prescribed rules that regulate and thereby facilitate conflicted forms of interaction“ (Bell 1997, S. 155). Der Aspekt der regelgeleiteten Form von Interaktionen ist in Hinblick auf die Gremien für die demokratische Partizipation von Kindern wichtig. Regelgeleitetheit als Form der Ritualisierung, schreibt Bell, bindet Personen an die gemeinschaftlich akzeptierten Verhaltensweisen und bringt sie dazu, die Legitimität und Macht der gemeinschaftlichen Autorität anzuerkennen (Bell 1997, S. 155). Indem sie regelgeleitete Kommunikation vorschreiben, können Gremien also ihre eigene Legitimität und Autorität erzeugen.
3.3.5 Sakralisierung Durch die rituelle Praktik um eine übernatürliche Entität herum wird eine Unterscheidung zwischen Profanem und Heiligem getroffen und das Heilige dadurch erst konstruiert (Bell 1997, S. 155 f.). Praktiken, die übernatürliche Entitäten einbeziehen, werden weitestgehend als Rituale anerkannt. Diese übernatürlichen Entitäten müssen nicht unmittelbar als solche zu erkennen sein, sondern können auch Konzepte wie Nationalstaaten oder Demokratie etc. sein. Monumente oder Nationalstaatenflaggen sind entsprechend geheiligte oder jedenfalls n icht-profane Gegenstände. So würde um die US-amerikanische Flagge viel Aufhebens gemacht, es sei jedoch nicht so einfach zu definieren, wofür genau sie steht (Bell 1997, S. 156). Vielmehr verbinde und verdichte sie viele verschiedene Ideen und Emotionen. Nicht nur Gegenständen könne eine solche Symbolfunktion rituell zugewiesen werden, auch Orte können etwa durch Wallfahrten, bzw. wallfahrtsähnlichen Tourismus geheiligt werden, indem ihre Besonderheit hervorgehoben und sie von anderen Orten unterschieden werden (Bell 1997, S. 157 f.). Wichtig ist, dass die Emotionen und Konzepte, die durch das Symbol aufgerufen werden, komplex und widerstreitend sein können und durch einen
3.3 Strategien zur Ritualisierung von Praktiken
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irkelschluss hergestellt werden: Sie werden als heilig behandelt und erlangen Z dadurch Heiligkeit, die wiederum auferlegt, sie als heilig zu behandeln und entsprechende Affekte dabei zu verspüren (Bell 1997, S. 159). Bell unterscheidet zusammenfassende Symbole und elaborierende Symbole. Im Gegensatz zu ersteren, für die die Flagge als Beispiel gelten kann, sind letztere dazu geeignet, eine kosmische Ordnung nachzuvollziehen und in ihre Entstehung und Aufrechterhaltung einzugreifen, wie es etwa mit Bonsai-Gärten gemacht wird. In Bonsai-Gärten hat jedes Element, aus denen er sich zusammensetzt, spezifische Bedeutungen und Assoziationen. Durch die Pflege eines solchen Gartens werden all diese Bedeutungen oder Konzepte in eine bestimmte Ordnung gebracht, die die kosmische Ordnung widerspiegeln soll (Bell 1997, S. 158 f.).
3.3.6 Performance Praktiken, die ritualisiert werden, erhalten dadurch häufig den Charakter einer Performance (Bell 1997, S. 159). Darunter versteht Bell zum einen, dass die so vollzogenen Praktiken viele Wahrnehmungsebenen gleichzeitig ansprechen: Über Bilder, Gerüche, Melodien und gesprochene Sprache und/oder Bewegungen würde der gesamte Körper angesprochen, sodass die Teilnehmenden und Zuschauer*innen emotional und kognitiv in das komplexe Geschehen hineingezogen werden und es am eigenen Leib erfahren (Bell 1997, S. 160). Dieser Aspekt betrifft also die körperliche Einbezogenheit der Teilnehmenden ins Ritual. Zum anderen rahme ein Ritual durch seinen Performance-Charakter eine Situation als eine bedeutsame, wohlüberlegte und besondere, die von anderen Situationen zu unterscheiden ist: „Intrinsic to performance is the communication of a type of frame that says, ‘This is different, deliberate, and significant – pay attention!’“ (Bell 1997, S. 160). Während das Ritual so tut, als sei es eine bloße Aufführung, vermittelt es doch tiefere Wahrheiten, indem es ein Modell der kontingenten Realität formt, das diese kohärent erscheinen lässt. Es formt also die Art und Weise, wie die Teilnehmenden die Welt erfahren und kognitiv ordnen (Bell 1997, S. 160 f.). Bell benennt Performances nicht als Rituale, sondern als ‚Ritualhafte‘ und fasst unter der Kategorie nicht nur Theateraufführungen, sondern auch öffentliche Veranstaltungen, wie sie von Gandhi als sozialer Protest gegen die Salzsteuer initiiert wurden, oder wie sie im Nationalsozialismus zelebriert wurden, um das Gemeinschaftsgefühl und die NS-Ideologie zu stärken. Schließlich verweist sie auf Albert Bergesen (1998b), der politische Hexenjagden als Rituale interpretiert, die dazu dienen, Gruppenzugehörigkeit zu kreieren und eine Gruppe nach außen zu begrenzen (Bell 1997, S. 159 ff.).
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3 Rituale als performative Praktiken
Ein wichtiger Effekt dieser Strategien zur Ritualisierung von Praktiken – insbesondere von Traditionalisierung und Performance – ist, dass sie vergessen machen, dass Rituale ein menschliches Konstrukt sind: Sie erscheinen den sie Vollziehenden als ihr simples Reagieren auf äußere Erfordernisse (Bell 1997, S. 167). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der vorgestellte Strategien-Katalog nicht zu einer harten Ritualdefinition verhilft, aber wichtige Anhaltspunkte für eine Unterscheidung zwischen nicht-ritualisierten Praktiken und Ritualen bietet und sich somit gut für eine Analyse von ritualisierten Praktiken der Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen eignen kann.
3.4 Bildung und Erziehung in Ritualen Als soziale Phänomene, die Welt ordnen und strukturieren, haben Rituale zahlreiche pädagogische Implikationen. Dies hat die Berliner Ritual- und Gestenstudie empirisch herausgearbeitet, die sich von 2001–2010 mit der Bedeutung von Gesten, Ritualisierungen und Ritualen für Sozialität, Bildung und Lernen auseinandergesetzt hat (Wulf u. a. 2001a; Wulf u. a. 2004; Wulf u. a. 2007; Wulf u. a. 2011; Wulf 2015). Die Studie analysiert unter anderem, wie Familien Rituale nutzen, um sich selbst als Familie zu reproduzieren und stabilisieren, wie Rituale in der Schule zwischen der Institution und den Schüler*innen vermitteln, wie Schüler*innen unter sich verschiedene Lernkulturen herausbilden und wie Medien rituell Einfluss auf das Imaginäre von Kindern und Jugendlichen nehmen, sowie welche Rituale in Online-Communities entwickelt werden5 (Wulf 2015, S. 24 f.). Das zentrale Ergebnis der Studien ist, dass Rituale und Ritualisierungen vor allem über ihren performativen Charakter, also über die Körperlichkeit der Aufführungen und Inszenierungen, die Wirklichkeit erzeugen, nachhaltige Wirkungen erzielen (Wulf 2015, S. 26). Zudem hat die Studie gezeigt, dass Rituale nicht starr und unveränderbar sind, sondern von den sie vollziehenden Akteur*innen kreativ und eigensinnig angeeignet werden (Audehm 2014, S. 264). Ich werde im Folgenden zunächst darlegen, wie Bildung und Erziehung in Ritualen beschrieben werden kann. Danach werde ich auf drei in Hinblick auf
5Kindertageseinrichtungen
wurden von der Studie nicht beachtet.
3.4 Bildung und Erziehung in Ritualen
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Demokratiebildung relevante Funktionen von Ritualen6, d. h. die Inhalte von Bildungs- und Erziehungsprozessen eingehen: Gemeinschaftsbildung, Differenzerzeugung und Disziplinierung. Für die Unterscheidung von Bildung und Erziehung ziehe ich eine transformative Bildungstheorie (Koller 2016) heran, die beschreibt, was es bedeutet, sich ein Bild von der Welt, von sich selbst und von anderen zu machen. Neben der Unterscheidung, wer in den komplexen Interaktionen zwischen Lernenden und Lehrenden jeweils aktiver handelt – Bildung: Lernende Person, Erziehung: Lehrende Person (Laewen 2002) –, kann den Begriffen Bildung und Erziehung auch ein jeweils anderer Gegenstandsbereich zugeordnet werden: Bildung kann als grundlegende Transformation des Selbst-, Weltund Anderenverhältnisses eines Subjekts (Koller 2016) verstanden werden, wohingegen Erziehung eher auf die notwendigen Kompetenzen abzielt, die Menschen benötigen, um in Gesellschaft zurecht zu kommen (Wulf und Zirfas 2014, S. 16). Bevor ich auf die Unterscheidung zurückkomme, werde ich darlegen, welche Aspekte von Ritualen für Bildung und Erziehung wichtig sind.
3.4.1 Wie Rituale Erziehung und Bildung ermöglichen Die Pädagogik von Ritualen speist sich daraus, dass sie bewusst gestaltet sind und für bestimmte Ziele in pädagogischen Institutionen eingesetzt werden, auch wenn ihre Wirkung nicht in der Zielerreichung aufgeht. Sie sind pädagogisch gestaltete Umwelt. Indem Rituale die an ihnen Teilnehmenden direkt und körperlich einbeziehen, legen sie ihnen angemessene Handlungsweisen nahe, die Theodore Jennings (1998) in „Imitation“ und „Antwort“ unterteilt: „Rituelles Handeln schlägt eine Handlungsform vor, indem es entweder Imitation oder Antwort provoziert“ (Jennings 1998, S. 163). Jennings spricht von provozieren als hervorrufen, was darauf hindeutet, dass die Prozesse der Imitation oder Antwort im Ritual zumindest teilweise unbewusst ablaufen. Im Vollzug eines Rituals entdeckt der Körper die passenden Gesten und Bewegungen ‚von sich aus‘ in dem Sinne, dass er nicht zuerst kognitive Denkprozesse ausführt und diese anschließend in Gesten und Bewegungen umsetzt. Dafür, dass der Körper die angemessenen Bewegungen entdecken kann, ist es notwendig, dass er handelt.
6Bildung
Ritualen.
und Erziehung ‚an sich‘ sind m. E. keine Funktionen, sondern Effekte von
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3 Rituale als performative Praktiken
Das Wissen entsteht also im Handeln, nicht vorher oder hinterher. Im gleichen Atemzug mit dem Gewinnen von Wissen wird das, worüber wir wissen, transformiert (Jennings 1998, S. 161). „Rituelles Wissen wird nicht durch Losgelöstheit, sondern durch Engagement gewonnen – ein Engagement, das Dinge nicht so belässt, wie sie sind, sondern sie verändert und transformiert“ (Jennings 1998, S. 161). Im Prinzip handelt es sich bei rituellem Lernen also um ein die Welt und ihr Verständnis transformierendes ‚Learning by Doing‘. Praktisches Wissen über angemessenes Verhalten – sowohl für die Durchführung des Rituals angemessen als auch für die in ihm dargestellten gesellschaftlichen Normen und Werte – wird erworben und inkorporiert (Audehm 2014, S. 263). Aus dem Zitat von Jennings geht auch hervor, dass Rituale nicht nur vollzogen werden, um ihre Teilnehmer*innen zu verändern, sondern um aktiv Einfluss auf die Gestaltung der Welt zu nehmen. So werden, wie oben gezeigt, bestimmte Ideen (Nationalstaaten, Demokratie, Gott, soziale Ordnung) transzendiert und dadurch unverfügbar gemacht (Bell 1997, S. 82), oder umgekehrt werden übernatürliche Entitäten beschworen und erfahrbar gemacht (Tambiah 1998, S. 228). Auch daraus, was als verhandelbar und was als eine unhinterfragbare vorgängige Idee aufgeführt wird, speisen sich Bildungs- und Erziehungsprozesse in Ritualen. Rituale erzeugen praktisches Wissen durch Wiederholung. Wird eine Praktik wiederholt körperlich aufgeführt, lagern sich die dazu notwendigen Bewegungen im Körpergedächtnis ab, man spricht von Inkorporierung (Audehm 2014, S. 263). Über Wiederholung bilden sich Handlungs-Routinen heraus, die den Körper formen und zum Teil des Habitus (Bourdieu) werden (Audehm 2014, S. 263). Doch Wiederholungen sind komplex. Poststrukturalistische Ansätze (Derrida, Deleuze) machen darauf aufmerksam, dass Wiederholung nicht statisch, sondern dynamisch zu denken ist (Schäfer 2013, S. 20 f.). Durch Wiederholung erscheine es, als sei jemand oder etwas der*die*das gleiche, also identisch. Jedoch gebe es diese*n*s Identische überhaupt nicht ohne ihre*seine Wiederholung. Deleuze gehe es darum, Identitätslogik aufzugeben und stattdessen ein „Denken der Wiederholung als Wiederholung des Nicht-Identischen“ (Schäfer 2013, S. 21) zu etablieren. Die prinzipielle Dynamik von Wiederholungen zu berücksichtigen ist wichtig, um nicht darauf zu verfallen, Rituale als starre, unveränderliche Phänomene anzusehen. In Ritualen haben die an ihm Teilnehmenden die Gelegenheit, kulturelle Schemata und Ordnungsmuster am eigenen Leibe zu erfahren, einzuüben und zu gestalten. Im Prozess der kreativen Nachahmung der zum Ritual gehörenden Handlungen werden die den Teilnehmenden zunächst äußerlichen sozialen Normen und Werte in ihre Vorstellungswelt überführt, wo sie dann ihre Wirkung entfalten. Dazu gehören, so Wulf, auch soziale Machtverhältnisse (Wulf 2005, S. 46 f.). Diese werden aber nicht ‚einfach‘ übernommen,
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sondern in einem komplexen Bildungsprozess vom Außen in die eigene Vorstellungswelt überführt. Als eine Grundlage für Lernen im Ritual führt Christoph Wulf mimetische Prozesse an. Der Begriff Mimesis stammt ursprünglich aus der Ästhetik, wurde jedoch bereits von Platon auf die Erziehung übertragen, um zu postulieren, dass sich soziales Lernen vor allem über Nachahmungsprozesse vollziehe (Wulf 2014, S. 250 f.). Mimesis ist dabei die An-Ähnlichung durch die körperliche Bezugnahme auf eine*n Andere*n oder etwas Anderes. „Mimetisches Verhalten bzw. Handeln bezeichnet die Bezugnahme auf einen anderen Menschen oder auf eine andere ‚Welt‘, in der Absicht, ihm oder ihr ähnlich zu werden“ (Wulf 2014, S. 248). Diese*r*s Andere kann real sein, es kann sich aber auch um etwas Imaginiertes handeln, wie etwa eine Gottheit oder eine Märchenfigur. Mimetische Prozesse sind körperlich und performativ. Sie bringen etwas zur Darstellung und arrangieren es szenisch (Wulf 2014, S. 248). Die Motivation für mimetische Prozesse entstammt aus dem mimetischen Begehren, d. i. der Wunsch danach, dem Anderen ähnlich zu werden. Dieses mimetische Begehren wird als sehr mächtig angenommen7 (Wulf 2014, S. 251). Obwohl mimetische Prozesse aktiv und absichtsvoll vollzogen werden, erstrecken sich ihre Auswirkungen doch bis ins Vor- oder Unterbewusste hinein. „Mimetische Prozesse unterstützen die Polyzentrizität der Subjekte. Sie reichen in Schichten der Körperlichkeit, der Sinnlichkeit und des Begehrens, in denen andere Kräfte als im Bewusstsein bestimmend sind“ (Wulf 2014, S. 255). In und durch die mimetische Nachahmung werden nicht lediglich Gesten und Bewegungen inkorporiert, sondern implizit auch die dazugehörigen Werte und Einstellungen, also wie die Vorbilder denken und urteilen. Es ist dabei nicht vorhersagbar, welche Aspekte der Vorbilder die*den mimetisch Lernenden anziehen und abstoßen. Wulf plädiert daher dafür, mimetische Lernprozesse zu analysieren und zu reflektieren, da sie sich zunächst unbewusst vollziehen (Wulf 2014, S. 255). Durch Mimesis wird die Welt nicht verändert: „Für die mimetische Annäherung an die Außenwelt ist ihre Gewaltlosigkeit charakteristisch. Es ist nicht Ziel des mimetischen Prozesses, die Welt zu gestalten oder zu verändern. Eher geht es darum, sich in der Begegnung mit ihr zu entwickeln und
7Mit
diesem Aspekt verbunden ist die Frage danach, ob es in der Pädagogik darum zu tun sein müsse, ausschließlich gute Vorbilder auszuwählen und zuzulassen, was Platon selbst vertreten habe, oder ob in einer kritischen Auseinandersetzung mit ‚schlechten‘ Vorbildern nicht genau das Potenzial liege, Widerstandskraft und Stärke zu bilden, was die Position von Aristoteles sei Wulf (2014, S. 251).
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3 Rituale als performative Praktiken
zu bilden“ (Wulf 2014, S. 256). Das Konzept der Mimesis von Wulf u. a. ähnelt insofern dem der Iteration von Derrida, als dass es in beiden Fällen um eine Wiederholung geht, die niemals identisch ist mit dem Wiederholten: „Im Unterschied zu Prozessen der Mimikry, in denen eine reine Anpassung an vorgegebene Bedingungen vollzogen wird, erzeugen mimetische Prozesse gleichzeitig Ähnlichkeit und Differenz zu anderen Situationen oder Menschen, auf die sie sich beziehen“ (Wulf 2014, S. 252). Die Differenz entsteht durch die unterschiedlichen Voraussetzungen für mimetische Prozesse. In den unterschiedlichen Voraussetzungen liegt für Wulf die Chance für Kreativität und das Entstehen von etwas Neuem (Wulf 2014, S. 248). Mimetisches Lernen als Lernen durch Nachahmung verändert durch die aktive Bezugnahme auf den/die/das Nachzuahmende das Verhältnis der Lernenden zu sich selbst, zur Welt und zu anderen Menschen und kann damit als Bestandteil oder Auslöser von Bildungsprozessen angesehen werden (vgl. auch Rose und Koller 2010; Wulf 2014, S. 249). Auch wenn sich einige der mimetischen Lernprozesse im Ritual unbewusst vollziehen, ist zwischen einzelnen Wiederholungen eines Rituals immer wieder Zeit für Reflexion (Audehm 2014, S. 263). Selbst während einer rituellen Handlung können die Teilnehmenden sich kognitiv von der Handlung lösen und zu sich selbst eine Beobachter*innenrolle einnehmen (Bell 1997, S. 75). Die Teilnehmer*innen können also bis zu einem gewissen Maß entscheiden, ob und wie sie etwas am Ritual ändern wollen. So speist sich die Dynamik von Ritualen auch aus Reflexionsprozessen der Teilnehmer*innen zwischen den Wiederholungen und während der Ritualaufführung. Diese Reflexionen speisen und unterstützen Bildungsprozesse in Ritualen. Rituale sind also pädagogisch relevant, weil sie bewusst gestaltet sind, direkt auf die Körper der Teilnehmenden einwirken, kulturelle Ordnungsschemata aufführen, teilweise unbewusst wirksam werden, aber prinzipiell jederzeit reflektiert werden können.
3.4.2 Transformative Bildungsprozesse und Erziehung Indem er Bildungsprozesse als grundlegende Transformationen des Welt- und Selbstverhältnisses versteht, die über den reinen Erwerb neuen Wissens hinausgehen, bezieht sich Christoph Koller auf Winfried Marotzki, Helmut Peukert und Rainer Kokemohr (Koller 2016, S. 149). Koller arbeitet drei Gemeinsamkeiten der auf Marotzki aufbauenden transformativen Bildungstheorien heraus: Erstens gehe es in so verstandenen Bildungsprozessen um Veränderungen von grundlegenden Mustern des Verhältnisses zur Welt, zu anderen und zu sich
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selbst. Zweitens werden Bildungsprozesse durch die Auseinandersetzung mit soziokulturellen Herausforderungen ausgelöst und nicht durch einen inneren Drang zur Potenzialentfaltung. Drittens gehen Bildungsprozesse über die Neustrukturierung von bereits Vorhandenem hinaus, sondern lassen ganz neue Muster entstehen (Koller 2016, S. 149 f.). Wichtig sei dabei, dass der Begriff des Weltund Selbstverhältnisses immer auch schon das Verhältnis zu anderen einschließe (Koller 2016, 149–150 Fußnote). Bildungsprozesse brauchen als Auslöser immer eine Herausforderung, die das sich-bildende Subjekt dazu nötigt, ein neues Verhältnis zur Welt, zu sich selbst und zu anderen auszuarbeiten. Koller stellt auch die Frage nach der Normativität des transformativen Bildungsbegriffs. Er verweist darauf, dass der Begriff der Bildung in der Geschichte der Bildungstheorie implizit immer eher positiv konnotiert war und als etwas Erstrebenswertes galt. Damit dies auch für den transformativen Bildungsbegriff gelten könne, müsse also untersucht werden, wie man ihn so fassen könne, dass nicht jede Transformation als Bildung gewertet werden könne, z. B. die Entwicklung hin zu einem rechtspopulistischen Weltbild (Koller 2016, S. 151). Koller selbst vertritt die Auffassung, dass ein transformativer Bildungsbegriff durchaus normativ sein müsse, jedenfalls in dem Sinne, dass er eine Position dazu habe, was sein soll. Dies solle er argumentativ, aber nicht im Sinne einer Suche nach der Letztbegründung begründen können (Koller 2016, S. 154 f.). Marotzki selbst habe zwar implizit festgelegt, dass nur solche Transformationsprozesse als Bildungsprozesse gelten sollten, die sowohl zu einer Steigerung der Reflexivität des Subjekts als auch zu einer höheren Komplexität des Selbst- und Weltverhältnisses führen. Allerdings habe er dies nicht argumentativ begründet (Koller 2016, S. 156). Herman Nohl hingegen gehe auf die normativen Implikationen seines Bildungsbegriffes ein. In Bezug auf John Dewey fasst Nohl nur solche Transformationen als Bildungsprozesse, die offen für weitere, anschließende Bildungsprozesse sind. Allerdings bleibe dabei die Frage offen, ob es überhaupt Transformationen gebe, die weitere Transformationen verunmöglichen. Somit seien die normativen Implikationen dieses Bildungsbegriffs zu schwach, um eine Richtung vorzugeben (Koller 2016, S. 157 f.). Koller selbst nutzt daher das von Jean-François Lyotard entwickelte Gerechtigkeitsprinzip des Widerstreits, um dem transformatorischen Bildungsbegriff eine normative Richtung zu geben. Er fasst das Selbst- und Weltverhältnis des Subjekts als ein diskursiv vermitteltes Verhältnis auf, das entsprechend durch den dominanten Diskurs geprägt sei. Dieses Verhältnis werde immer wieder durch andere gesellschaftliche Diskursarten herausgefordert, weil es mit diesen in einen Widerstreit gerate. Ein Transformationsprozess, der
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als B ildungsprozess gelten dürfe, müsse darin bestehen, diesen Widerstreit sprachlich ausdrücken zu lernen und/oder ihn offen zu halten (Koller 2016, S. 158 f.). Mittels des so gefassten transformativen Bildungsbegriffs gelingt es Koller, nur solche Transformationen als Bildung bezeichnen zu können, die die Konfrontation mit anderen nicht gewaltsam zu lösen versuchen: „Ausgeschlossen wären damit Transformationen in Richtung auf Welt- und Selbstverhältnisse, die darauf abzielen, andere Diskursarten zum Schweigen zu bringen – also in Richtung totalitaristischer Positionen, die den Ausschluss, die Verfolgung oder gar Vernichtung Andersdenkender zum Ziel haben“ (Koller 2016, S. 159). Der Ausschluss Andersdenkender wird von Koller aus dem transformatorischen Bildungsbegriff verwiesen. Der transformative Bildungsbegriff trägt m. E. durch seine Forderung, dem Anderen als Anderem gerecht zu werden und ihn nicht zu vereinnahmen, zu zählen oder gar zum Schweigen zu bringen, bereits (radikal)demokratische Züge; Koller verweist selbst in einer Fußnote darauf, dass Butler in Hinblick auf eine radikal demokratische Theorie und Praxis so ähnlich wie er argumentiert (Koller 2016, S. 160 f.; vgl. auch Abschnitt 2.5). Demokratiefähigkeit als Fähigkeit, Widerstreit aus- und offenzuhalten und zu artikulieren, wäre demnach nicht nur als Ergebnis von Bildungsprozessen anzusehen, sondern auch als deren konstitutives Merkmal. So verstanden ist Bildung immer schon radikale Demokratiebildung. An Ritualtheorien ist der Begriff ebenfalls anschlussfähig, weil Ritualen der Effekt zugeschrieben wird, Subjekte zu transformieren (vgl. Abschnitt 3.1). Eine Frage für die empirische Forschung wird sein, ob und wie Rituale vermögen, Demokratiebildung zu fördern oder zu erschweren. Rituale können nicht nur als Auslöser von transformativen Bildungsprozessen untersucht werden, sondern sie haben auch erzieherische Effekte, die die Subjekte eben nicht für Widerstreit öffnen. Christoph Wulf und Jörg Zirfas postulieren Erziehung als eine menschliche Tatsache. Die Entwicklung von Kindern vollziehe sich, so die Autoren, nicht zu Menschen, sondern als Menschen, die wiederum nicht nur erziehungsbedürftig, sondern auch dazu fähig seien, erzogen zu werden (Wulf und Zirfas 2014, S. 15 f.). Sie fassen Erziehung als einen nicht vollständig intentionalen und funktionalen Prozess zwischen Vermittlung auf der einen und Aneignung auf der anderen Seite auf. Dieser vollzieht sich häufig nicht direkt, sondern auch über die Gestaltung von Umwelt. Sowohl die vermittelnde (erziehende) als auch die aneignende (zu erziehende) Seite agieren nicht vollständig bewusst. Zudem läuft erzieherisches Handeln oft als Nebeneffekt anderer Tätigkeiten ab (Wulf und Zirfas 2014, S. 16). Wulf und Zirfas stellen also heraus, dass Erziehung nicht immer vollständig intentional abläuft und auch über die
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Gestaltung von Umwelt wirksam wird. Mehr als den historischen Aspekt des Machtgefälles zwischen Erziehenden und Zu-Erziehenden betonen Wulf und Zirfas die Angewiesenheit der Zu-Erziehenden auf Erziehung. Ohne Erziehung würden Menschen nicht sprechen lernen, ja nicht einmal überleben können. Wulf und Zirfas vertreten damit einen sehr weiten Begriff von Erziehung: Er umschließt sowohl die ganz basalen Zuwendungen wie Füttern, Pflegen, Schützen, aber auch „Ansprache und Beziehungen, kommunikative Anerkennung als Menschen“ (Wulf und Zirfas 2014, S. 15). Im Prinzip kann damit jede Interaktion zwischen Personen und vor allem zwischen Erwachsenen und Kindern auch als Erziehung interpretiert werden. Einen anderen Schwerpunkt als Wulf und Zirfas legen die Autor*innen des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“: Knauer u. a. fassen Erziehung mit Bernfeld (1925) zwar ähnlich als „[…] die Summe der Reaktionen einer Gesellschaft auf die Entwicklungstatsache“ (Knauer u. a. 2016, S. 32). Sie betonen jedoch explizit die enge Verknüpfung von Macht und Erziehung. Die Erziehungsbedürftigen sind von den Erziehenden abhängig und ihnen in Bezug auf Größe und Stärke unterlegen. Die Erziehenden verfügen u. a. über Handlungs-, Gestaltungs-, Verfügungs-, Definitions-, Deutungs- und Mobilisierungsmacht. Sie gestalten die Räume, den Tagesablauf, die Regeln, sie arrangieren die Zugänglichkeit von Gegenständen und Räumen, sie bestimmen, welches Verhalten erwünscht ist, und haben häufig wenig Schwierigkeiten, die Kinder zur Kooperation zu bewegen (Knauer u. a. 2016, S. 33). Die zu erziehenden Kinder leisten den erwachsenen Erziehenden Folge, denn sie sind auf sie angewiesen und erhalten von ihnen Schutz, Fürsorge und Unterstützung (Knauer u. a. 2016, S. 33). Die Betonung der grundsätzlichen Verwobenheit von Macht und Erziehung finde ich für die Frage nach den Möglichkeiten ritualisierter Demokratiebildung sehr wichtig, denn es stellt sich die Frage, wie diese Machtbeziehungen rituell hergestellt werden, oder ob und wie sie innerhalb von demokratischen Ritualen zumindest temporär aufgehoben werden können. Nachdem ich nun dargelegt habe, wie Rituale pädagogisch wirksam sind, möchte ich darauf fokussieren, was die Inhalte von Bildung und Erziehung im Ritual sein können. Dafür möchte ich einige Funktionen, die Ritualen in der Ritualforschung zugeschrieben werden und die in Hinblick auf Demokratiebildung besonders relevant erscheinen, betrachten. Die Ritualfunktionen unterscheiden sich von den in Abschnitt 3.3 dargestellten Strategien, indem sie den Fokus stärker darauf richten, welche Aufgaben die Rituale für die an ihnen Teilnehmenden erfüllen.
66
3 Rituale als performative Praktiken
3.4.3 Gemeinschaft und Differenz erzeugen Eine in Hinblick auf Demokratiebildung zentrale Funktion von Ritualen ist ihre gemeinschaftsstiftende Wirkung. Rituale produzieren soziale Kohäsion, weil sie gemeinsam mit anderen aufgeführt werden. „Über den kollektiven Charakter von Ritualen entsteht die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Ritualen“ (Wulf 2005, S. 53). Ritualen machen soziale Interaktionen stabil, kanalisieren sie und wiederholen sie, wodurch sie sie auf Dauer stellen (Zirfas und Wulf 2001, S. 191 f.). Die entstehende Gemeinschaft ist in erster Linie ein Gefühl, das durch Sammlung und Konzentration entsteht und die privaten Gefühle der Teilnehmenden in den Hintergrund drängt bzw. verwandelt (Bergesen 1998a, S. 49). Dabei kann eine eigene Gruppenidentität hervortreten, die weit darüber hinausgeht, dass die Teilnehmenden sich selbst als Mitglieder einer Gemeinschaft sehen. „Der rituelle Prozess der Sammlung von Individuen schafft eine vorübergehende soziale Einheit, deren Identität von den teilnehmenden Individuen als deren eigene übernommen wird. […] Dieser Prozess geht aber viel tiefer als die Übernahme einer Mitgliedrolle, wo das vorherige Selbst noch intakt bleibt. Er beinhaltet eine grundsätzliche Vereinigung mit der Gruppe selbst, und zwar solcher Art, dass das Individuum – in diesem Moment – zum kollektiven Anderen wird“ (Bergesen 1998a, S. 51).
Bergesen unterscheidet in dem Zitat zwischen einer Rolle, die die Teilnehmer*innen eines Rituals einnehmen können und die ihr Selbst bzw. ihre Identität noch intakt d. h. bewusst lässt, und dem völligen Aufgehen in einer rituell erzeugten Gemeinschaft. Etwas weniger drastisch fassen Zirfas und Wulf zusammen, dass Rituale eine gesteigerte Gemeinschaftserfahrung auslösen können (Zirfas und Wulf 2001, S. 194). Eine besondere Form ritueller Gemeinschaft, die er „Communitas“ nennt, beschreibt Victor Turner (2005/1969). Er führt einen Dualismus zwischen Struktur (d. h. Gesellschaft, die hierarchisch gegliedert ist und zwischen verschiedenen Positionierungen wertend unterscheidet) und Communitas als deren Gegenstück ein. Dies ist die Gemeinschaft Gleicher, die ohne oder nur rudimentär mit Struktur ausgestattet ist und keine Hierarchien innerhalb der Gruppe kennt. Er nutzt den Begriff der Communitas explizit, um diese spezielle und durch Rituale herbeigeführte Gemeinschaft Gleicher vom Alltagsleben abzugrenzen (Turner 2005/1969, S. 96). Eine Communitas ist jedoch auch laut Turner nicht völlig hierarchiefrei, sondern entsteht überhaupt nur in der gemeinsamen Unterwerfung unter ein Ritual bzw. dessen Zeremonienmeister. Die Gleichheit und Kamerad*innenschaft besteht
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ausschließlich zwischen denjenigen Menschen, die sich unterwerfen (Turner 2005/1969, S. 96). In Hinblick auf Demokratiebildung ist die gemeinschaftsstiftende Wirkung von Ritualen m. E. ambivalent: Einerseits bildet sie die Grundlage dafür, miteinander solidarisch zu sein und mit einer klar umgrenzten Menge an Personen, die einander als zugehörig anerkennen, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Andererseits kann sie dazu führen, dass kein Konflikt bearbeitet werden kann, weil alle Individualität der Gemeinschaft untergeordnet wird: „Wenn alle schon von vorneherein gleichermaßen auf ein angeblich gemeinsames Ziel gepolt sind, wird jegliche Differenz ausschlossen. Es entsteht das Modell einer idealen und damit letztlich totalitären Gemeinschaft, in der es gar keine Machtunterschiede und Konflikte mehr geben kann, weil alle gleich(geschaltet) sind als Teile eines einheitlichen Gemeinschaftskörpers“ (Knauer u. a. 2016, S. 34).
Das Aufgehen in einer Gemeinschaft kann also dazu führen, dass es keine verschiedenen Standpunkte, Bedürfnisse oder Interessen innerhalb dieser Gemeinschaft mehr gibt oder dass diese so weit in den Hintergrund gedrängt werden, dass sie nicht mehr thematisiert werden können. Dadurch wird auch die Notwendigkeit von demokratisch organisierten Diskussions- und Entscheidungsprozessen und damit von Demokratie suspendiert, die zwar Gleichheit im Sinne einer Gleichwertigkeit aller Menschen postuliert, aber nicht die Gleichheit ihrer Interessen. Eng verknüpft mit der Gemeinschaftsbildenden Funktion von Ritualen ist die Erzeugung von Differenzen, denn die gemeinschaftsbildende Wirkung von Ritualen basiert nicht nur auf einer Sammlung und Konzentration der Gefühle der Teilnehmenden, sondern auch auf Abgrenzung gegenüber (dem) Anderen (Zirfas und Wulf 2001, S. 193; Kuhn 2013, S. 199 f.). Daher sind die beiden Funktionen, Gemeinschaft zu stiften und Differenz zu erzeugen, eigentlich zwei Seiten einer Medaille (Zirfas und Wulf 2001). Rituale entstehen im gemeinsamen, formalisierten Handeln, das wiederum als ein gemeinschaftliches Handeln inszeniert wird. Indem sie den vermeintlich wichtigen Aspekten des Zusammenlebens Raum und Zeit geben, legen sie gleichzeitig fest, was als wichtig gilt, welche gemeinsamen Werte gültig sein sollen. Widersprüche, Unregelmäßigkeiten und Nebensächlichkeiten werden dabei ausgeklammert (Zirfas und Wulf 2001, S. 193 f.). Zirfas/Wulf betonen, dass gemeinschaftsstiftende Rituale vor allem dann aufgeführt werden, wenn Differenz als bedrohlich für den Zusammenhalt der Gemeinschaft wahrgenommen wird und Konflikte entstehen, die die Gemeinschaft sprengen könnten (Zirfas und Wulf 2001, S. 194).
68
3 Rituale als performative Praktiken
Rituale können also eine gemeinschafts-interne Homogenität und eine Grenze zum Äußeren, Differenten erzeugen. Dieses Erschaffen von Differenz kann bis hin zu einer politischen Hexenjagd gehen, in der Gemeinschaften einen ihr außenstehenden Sündenbock erschaffen, der stellvertretend bestraft wird (Bergesen 1998b). In Hinblick auf Demokratiebildung wäre es wichtig, dass die Grenzen der erzeugten Gemeinschaft verhandelbar bleiben und nicht in eine „Hexenjagd“ münden, dass also alle potentiell von einer Entscheidung Betroffenen auch an dieser teilnehmen können. Zum Abschluss der pädagogischen Implikationen von Ritualen möchte ich mich mit dem Aspekt der (Selbst-)Disziplinierung in und durch Rituale beschäftigen. Disziplin ist sowohl Ziel von erzieherischen Maßnahmen als auch ein Effekt von Ritualen. Diszipliniert zu sein heißt, die Notwendigkeit der Verrichtung bestimmter Handlungen und Praktiken nicht mehr zu hinterfragen, sondern sie entweder grundsätzlich eingesehen zu haben oder grundsätzlich darin geübt zu sein, sie durchzuführen.
3.4.4 (Selbst-)Disziplin fördern In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ritualen wird häufig beschrieben, dass sie ihre Teilnehmer*innen „disziplinieren“, dass sie also die Funktion haben oder den Effekt zeigen, die Körperpraktiken der Teilnehmenden in Richtung zu mehr Disziplin zu verändern (Bell 1997, S. 150; Kuhn 2013, S. 191). Daher ist zu klären, ob und wie Rituale, die zum Zwecke demokratischer Bildung, Aushandlung und Entscheidung durchgeführt werden, in der Kita zu einer Disziplinierung der Kinder beitragen und inwiefern dies mit den Zielen von Demokratiebildung vermittelt werden kann. Für die Beantwortung dieser Fragestellung nutze ich eine Analyse-Perspektive, die die bisherige ergänzt und herausfordert: Nach einem kurzen Exkurs zum Machtbegriff von Michel Foucault werde ich seine Darlegungen zur Disziplinarmacht vorstellen. Der Exkurs ist m. E. deshalb notwendig, weil Michel Foucault eine ganz andere Auffassung von Macht vertritt als Jürgen Habermas, dessen Gesellschaftstheorie grundlegend für den oben referierte demokratiebildnerischen Ansatz ist (vgl. Abschnitt 2.4).8
8Die
Differenzen zwischen Habermas und Foucault sind unter dem Stichwort abermas-Foucault-Streit diskutiert worden (Isenberg 1991). Zusammenfassend kann festH gehalten werden, dass Habermas richtig kritisiert, dass Foucaults Methode der Genealogie auf sein spezifisches Machtverständnis angewiesen sei, aber zum einen die Komplexität der
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Inwiefern Foucault einen fruchtbaren Zugang zur Beantwortung der Frage bieten, warum Macht nicht nur repressiv, sondern auch produktiv verstanden werden sollte, und was ich unter Disziplinarmacht verstehe, werde ich im Folgenden erläutern.
Michel Foucaults Machtbegriff Michel Foucault nutzt den Begriff „Macht“ für „viele einzelne, definierbare und definierte Mechanismen […], die in der Lage scheinen, Verhalten oder Diskurse zu induzieren“ (Foucault 1992, S. 32). Macht ist für Foucault demnach nicht ein fest umgrenzbares Phänomen, sondern ein Analysebegriff, der eine methodologische Funktion erfüllt: „[N]iemals darf sich die Ansicht einschleichen, daß ein Wissen oder eine Macht existiert – oder gar das Wissen oder die Macht, welche selbst agieren würden. Wissen und Macht – das ist nur ein Analyseraster“ (Foucault 1992, S. 33; Hervorh. im Orig.). Und: „Offensichtlich haben diese beiden Begriffe [gemeint sind Wissen und Macht, T.L.] nur eine methodologische Funktion: mit ihnen sollen nicht allgemeine Wirklichkeitsprinzipien ausfindig gemacht werden, es soll gewissermaßen die Analysefront, es soll der relevante Elemententyp fixiert werden“ (Foucault 1992, S. 32). Foucaults Machtbegriff wird entsprechend als ein Analysebegriff rezipiert, der die wissenschaftliche Beobachtung leiten kann (Ricken 2004, S. 127). Foucault kritisiert mit seiner Betonung der Produktivität von Macht ihre Gleichsetzung mit Unterdrückung und Gewalt. Zum einen, weil dies nur einen kleinen Ausschnitt von Machtbeziehungen beobachtbar und beschreibbar mache. Zum anderen würde sie von falschen Vorstellungen über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft ausgehen: Foucault verwirft die Idee, dass es ursprüngliche individuelle Interessen, Wünsche und Bedürfnisse gebe, die bereits vor und außerhalb von gesellschaftlichen Machtverhältnissen existieren und durch diese unterdrückbar seien (Volkers 2008, S. 66).
Verwobenheiten von Macht und Wissen, verkenne: Wahrheit werde bei ihm zu einer reinen Funktion von Macht degradiert (Isenberg 1991, S. 1389). Zum anderen reduziere Habermas Macht auf Repression und verkenne die Produktivität von Macht, die Foucault immer wieder postuliere (Isenberg 1991, S. 1390). Darauf werde ich im Exkurs eingehen. Bo Isenberg kommt insgesamt zu dem Schluss, dass Habermas‘ Kritik mitunter daraus resultiere, dass er Foucaults Position vereinfache und in seine eigene Denkweise übersetze. Dadurch verliere seine Kritik an einigen Stellen jedoch das Eigentliche aus den Augen (Isenberg 1991, S. 1398).
70
3 Rituale als performative Praktiken „Diese Perspektive verabschiedet das Repressionsmodell der Macht und gestattet eine radikale Auffassung ihrer Produktivität. Macht wird nicht als Reproduktion einer Struktur verstanden, in der die mächtigen und ohnmächtigen Positionen immer schon verteilt sind, sondern als Prozess, in dem diese Verteilungen in konkreten Auseinandersetzungen erst hervorgebracht werden“ (Schäfer 2004, S. 155).
Subjekte werden durch sie zu Handlungen angestiftet, ermutigt und befähigt (Vogelmann 2017, S. 8). Dazu zitiert Frieder Vogelmann Foucault mit den Worten: „Wenn wir […] davon ausgehen, dass Macht nicht in erster Linie die Funktion hat zu verbieten, sondern zu produzieren, Lust zu schaffen, können wir verstehen, warum wir der Macht gehorchen und uns zugleich daran erfreuen können, was nicht unbedingt als masochistisch einzustufen wäre“ (Foucault DE IV/297, S. 243; zit. nach Vogelmann 2017, S. 8).
Macht und Machtbeziehungen sind laut Foucault nicht generell als repressiv, d. h. beschränkend, aufzufassen, sondern sie sind produktiv, weil sie Subjekte zu Handlungen anstiften und befähigen, ja generell erst die Entstehung von Subjekten ermöglichen (Vogelmann 2017, S. 8). „Eine von Foucaults bedeutendsten Erfindungen ist, das traditionelle Konzept von Macht erweitert zu haben, indem er ihr neue Bedeutungen gegeben hat: Macht kann sowohl repressiv als auch produktiv sein; Macht kann verbieten, aber auch etwas zulassen und ermutigen“ (Isenberg 1991, S. 1390). Foucault schreibt selbst zur Produktivität von Macht: „Das Individuum ist zweifellos das fiktive Atom einer ‚ideologischen‘ Vorstellung der Gesellschaft; es ist aber auch eine Realität, die von der spezifischen Machttechnologie der ‚Disziplin‘ produziert worden ist. Man muss aufhören, die Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv. Sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion“ (Foucault 2000/1976, S. 249 f.).
Foucault rückt damit ab von einem Verständnis von Individuen, die Macht vorgängig sind, und einer Gesellschaft, die sich anschließend etwa über Verträge oder Tauschgeschäfte aus solchen Individuen zusammensetzt. Vielmehr ist das moderne (mitteleuropäische) Verständnis von Individuen als „Atomen“ der Gesellschaft ein Effekt von Disziplinarmacht und ihrer Wissensgenerierung, die eben auf das Individuelle abzielt und es gleichzeitig hervorbringt. Foucault
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argumentiert, dass vor der zunehmenden Disziplinierung Individualität nur den herausragenden Menschen zugestanden wurde: den mächtigen Herrschern, die mit einer Biographie ausgestattet und deren individuelle Merkmale in Kunst und Literatur beschrieben und gewürdigt wurden. Im Zuge der Disziplinierung wird hingegen auch die Individualität von Menschen beschrieben und dokumentiert, die sich gerade nicht durch ihre herausragende gesellschaftliche Position qua Geburt bzw. Herkunftsfamilie von anderen unterscheiden, nämlich insbesondere von Kindern, Kranken und Verurteilten. Sie werden ständig beobachtet, vermessen und mit Normen verglichen. Die Schwelle dessen, was als beobachtungsund dokumentationswürdig gilt, wird gesenkt. Dadurch werden die Beobachteten zu Fällen gemacht – und zu Individuen (Foucault 2000/1976, S. 246 f.). Die Gegenstandsbereiche, von denen Foucault schreibt, sind entsprechend die Themen, die die neu entstehenden Wissenschaften vom einzelnen Menschen und seiner Relation zu den Normen (z. B. Medizin, Psychologie, Soziologie) beschäftigt. Mit „Wahrheitsritualen“ meint Foucault vor allem die Prüfungen, die für ihn eine zentrale Technik der Disziplinierung sind (Foucault 2000/1976, S. 247) und auf die ich weiter unten eingehen werde. Macht besteht also auch im Eröffnen von neuen Handlungsräumen und Aufzeigen von Handlungsmöglichkeiten. Insofern, als dass sie Handlungsspielräume eröffnet und die Herausbildung einer individuellen Identität provoziert und befördert, ist Macht als produktiv aufzufassen. Das gilt auch für Disziplinarmacht.
Disziplinarmacht Michel Foucaults zentrales Werk zur Disziplinarmacht ist „Überwachen und Strafen“ (2000/1976). Darin beschreibt er einen grundsätzlichen Wandel in den Straftechnologien der französischen Gesellschaft im 17. und 18. Jahrhundert. Anstelle der Marter von Straftäter*innen tritt eine Subjektivierung der*des Zu-Bestrafenden als „Disziplinarindividuum“ (Foucault 2000/1976, S. 397). Damit einher geht ein allgemeiner gesellschaftlicher Wandel hin zu einer Diffusion der Macht, die zuvor der König innehatte und ausgeübt hat, einer Verknüpfung von Macht und Wissen und einer Normierung der Subjekte (Foucault 2000/1976, S. 397). Eine Verwaltung der Bürger*innen wird eingeführt, Wissen produziert. Die als ‚Sünde‘, ‚Rechtsbruch‘ und ‚schlechtes Betragen‘ bezeichneten Praktiken, die zuvor von verschiedenen Institutionen bearbeitet wurden, werden zunehmend als eine gestaffelte Abweichung von denselben Normen behandelt. Die gesellschaftlichen Institutionen Kirche, Gerichte, Militär, Strafvollzugsanstalten, Schulen arbeiten immer stärker zusammen und verweisen aufeinander; die Kriterien für eine notwendige Bestrafung werden immer differenzierter und bilden ein Stufensystem. Insgesamt entsteht eine hierarchische
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3 Rituale als performative Praktiken
Abfolge von Autoritäten, die messen, erheben, differenzieren, sanktionieren und strafen – und zwar auf einem bruchlosen Kontinuum zwischen einer simplen Abweichung von der Norm und dem Begehen von Verbrechen (Foucault 2000/1976, S. 386). In allen gesellschaftlichen Institutionen findet zunehmend Disziplinierung statt, aber am ersichtlichsten wird der Wandel in Militär, Gefängnis und Schule. Diese nennt Foucault folglich auch „Disziplinarapparate“. Das Neue an diesen ist, dass sie im Detail auf die Körper einwirken, und zwar nicht auf die Körpersprache oder das Verhalten, sondern auf die Ökonomie und Effizienz der Bewegungen dieser Körper (Foucault 2000/1976, S. 174). Foucault beschreibt die Disziplinarmacht insgesamt als eine Form von Macht, die eine andere sukzessive ablöst – namentlich die Macht des Souveräns – und schließlich selbst abgelöst wird durch die Biomacht, die er in seinen späteren Werken und Vorlesungen auch unter dem Stichwort der „Gouvernementalität“9 beschreibt (Foucault 1991, 2003). Aber obwohl für Foucault historisch also eine Weiterentwicklung und Ablösung der Disziplinarmacht stattgefunden hat, zeigen sich in den von mir untersuchten Praktiken ganz deutlich noch die Spuren und Effekte der Disziplinierung. Konkret beschreibt Foucault verschiedene Strategien, die die Disziplinierung von Subjekten zum Ziel hatten: „Die Kunst der Verteilungen“ (Foucault 2000/1976, S. 181 ff.), „Die Kontrolle der Tätigkeit“ (Foucault 2000/1976, S. 192 ff.), „Die Organisation von Entwicklungen“ (Foucault 2000/1976, S. 201 ff.), „Die Zusammensetzung der Kräfte“ (Foucault 2000/1976, S. 209 ff.). Im Kapitel „Die Kunst der guten Abrichtung“ beschreibt er, wie durch hierarchische Überwachung, normierende Sanktion und Prüfungen sichergestellt wurde, dass Subjekte entstehen, deren gelehrige Körper eine Seele herausbilden, die ihnen nahelegt, sich auch ohne Fortbestehen dieser Technologien diszipliniert zu verhalten (Foucault 2000/1976, S. 220 ff.).
9Mit
der „Geschichte der Gouvernementalität“ bezeichnet Foucault drei Phänomene. Erstens meint er damit eine komplexe Machtform, die eine ganze Bevölkerung zur Zielscheibe hat, deren prinzipielle Wissensform die Politische Ökonomie ist, und die Sicherheitsapparate als essentielles technologisches Mittel nutzt. Diese Macht manifestiert sich in Institutionen, Prozeduren, Analysen und Reflexionen, Berechnungen und Taktiken. Zweitens ist mit dem Begriff die Tendenz gemeint, dass diese Machtform im Westen die Überhand über andere Machtformen (z. B. Souveränität und Disziplin) gewonnen hat und dabei eine ganze Reihe von Verwaltungsapparaten und Wissensgebieten hervorgebracht hat. Drittens meint er damit das Ergebnis des Transformationsprozesses vom Mittelalter bis hin zum „gouvernementalisierten“ Nationalstaat heute (Foucault 1991, S. 102 f.).
3.4 Bildung und Erziehung in Ritualen
73
„Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man einlädt, ist bereits das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ‚Seele‘ wohnt in ihm und schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie. Die Seele: Gefängnis des Körpers“ (Foucault 2000/1976, S. 42).
Das (etwas polemische) Zitat verdeutlicht, dass Personen im Zuge ihrer Subjektwerdung mit Etwas ausgestattet werden, dass ihnen ihren Status/ihr Selbstverständnis als Subjekt und ihre Unterwerfung gleichermaßen sicherstellt, und das Foucault hier als Seele bezeichnet10. Diese Unterwerfung ist untrennbar verwoben mit der Vermehrung der Fähigkeiten des Körpers; nützlich und unterworfen werden sind zwei gleichzeitig ablaufende und sich wechselseitig bedingende Prozesse: „Der historische Augenblick der Disziplinen ist der Augenblick, in dem eine Kunst des menschlichen Körpers das Licht der Welt erblickt, die nicht nur die Vermehrung seiner Fähigkeiten und auch nicht bloß die Vertiefung seiner Unterwerfung im Auge hat, sondern die Schaffung eines Verhältnisses, das in einem einzigen Mechanismus den Körper umso gefügiger macht, je nützlicher er ist, und umgekehrt“ (Foucault 2000/1976, S. 176).
Ein nützlicher, d. h. fähiger Körper ist somit nur ein der Disziplin unterworfener Körper. In den Disziplinarapparaten wird die Verteilung der Körper im Raum zum einen nach dem Prinzip der „Parzellierung“ bearbeitet: „Jedem Individuum seinen Platz und auf jeden Platz ein Individuum“ (Foucault 2000/1976, S. 183). Und weiter: „Gruppenverteilungen sollen vermieden, kollektive Einstellungen sollen zerstreut, massive und unübersichtliche Vielheiten sollen zersetzt werden“ (Foucault 2000/1976, S. 183). Die Parzellierung führt Unterscheidungen von einzelnen Körpern ein. Sie macht aus einer ungeformten Masse eine Gruppe von Individuen, die jeweils ihren eigenen Platz haben. Mit der Disziplinierung rückt die Individualität von einzelnen Körpern in den Vordergrund. Zentral für das Herausbilden eines Verständnisses für die eigene Individualität ist also, zu lernen, dass man genau ein Körper ist, der von anderen Körpern unterschieden werden kann. Doch damit allein ist die Parzellierung noch nicht abgeschlossen:
10An
dieser Stelle verwendet Foucault Macht und Herrschaft synonym.
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3 Rituale als performative Praktiken „Es geht darum, die Anwesenheiten und Abwesenheiten festzusetzen und festzustellen; zu wissen, wo und wie man die Individuen finden kann; die nützlichen Kommunikationskanäle zu installieren und die anderen zu unterbrechen; jeden Augenblick das Verhalten eines jeden zu überwachen, abschätzen und sanktionieren zu können; die Qualitäten und die Verdienste zu messen. Es handelt sich also um eine Prozedur zur Erkennung, zur Meisterung und zur Nutzbarmachung“ (Foucault 2000/1976, S. 183 f.).
Neben der bloßen Unterteilung gilt es jeweils zu wissen, wer anwesend ist und wer nicht, wer sich wo befindet, und dies so zu steuern, dass alle auf nützliche Weise kommunizieren, das Verhalten der Personen zu beobachten, zu bewerten und zu verändern11. Menschenmengen in einzelne Körper zu unterteilen und diese jeweils einem Platz zuzuordnen ist komplexer als bisher beschrieben: Die Platzzuweisung ist mit verschiedenen Formen der Wissensgenerierung über das Wesen des jeweiligen Körpers im Vergleich zu den anderen verbunden: Wie gelehrig er ist, wie diszipliniert er agiert, was er weiß und so weiter. Ziel ist, die Körper und ihre Verhaltensweisen zu ordnen. Foucault zeichnet nach, dass das Herstellen einer sinnhaften Ordnung in Form von Tableaus eine zentrale Wissens- und Machttechnologie des 18. Jahrhunderts war. Durch diese Ordnung wurde geteilt und analysiert, kontrolliert und versucht zu verstehen. In verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen – Ökonomie, Taxonomie, Disziplin – hatte das Errichten von Tableaus verschiedene Funktionen (Foucault 2000/1976, S. 190 f.). „Die erste große Operation der Disziplin ist also die Errichtung von ‚lebenden Tableaus‘, die aus den unübersichtlichen, unnützen und gefährlichen Mengen geordnete Vielheiten machen“ (Foucault 2000/1976, S. 190). Die Körper werden also geordnet und hierarchisiert. Auch die „Zuweisung von Funktionsstellen“ (Foucault 2000/1976, S. 184 ff.) ist ein Merkmal von Disziplinierung. Damit beschreibt Foucault den historischen Prozess der Unterteilung von Raum in Funktionsräume, die die Masse in Individuen aufteilen und durch ihre Architektur, also ihren inneren Zusammenhang, belehren, therapieren, sortieren, hierarchisieren etc. Foucault beschreibt das exemplarisch für das Hafenspital, das nicht nur Krankheiten heilen und
11Natürlich gelingt es in einer Kita nicht, das Verhalten jedes Kindes zu jeder Zeit zu überwachen – allein die zahlenmäßige Überlegenheit der Kinder gegenüber den Erwachsenen, deren Bedeutung durch den Diskurs um geeignete Betreuungsschlüssel immer wieder aktualisiert wird, spricht dagegen. Durch verschiedene Parzellierungspraktiken wird sich jedoch diesem Ideal angenähert, wie ich anhand des empirischen Materials nachweisen werde.
3.4 Bildung und Erziehung in Ritualen
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Ansteckung verhindern, sondern auch Gesetzesbrüche registrieren und kostbare Waren schützen sollte – indem die ansteckenden Kranken von den anderen Kranken getrennt wurden, jede erkrankte Person einem Zimmer und schließlich einem Bett zugeordnet wurden, die Medikamente abgeschlossen und ihre Vergabe dokumentiert wurde usw. (Foucault 2000/1976, S. 184 f.). Die bisher beschriebenen Machttechniken richten sich zunächst auf die Verteilung der Körper im Raum. Daneben ist aber auch die Kontrolle der Tätigkeiten ein wichtiges Merkmal für Disziplinarmacht (Foucault 2000/1976, S. 192). Die damit verbundenen Techniken sind erstens die strenge Einhaltung eines Zeitplans, die jeden Müßiggang verhindert. Mit zweitens der „zeitliche[n] Durcharbeitung der Tätigkeiten“ (Foucault 2000/1976, S. 194) beschreibt Foucault ein Programm, das ein „anatomisch-chronologisches Verhaltensschema“ (Foucault 2000/1976, S. 195) festlegt und dessen Einhaltung erzwingt. Das bedeutet, es werden genaue Bewegungsabläufe festgelegt, die in Rhythmen eingepasst werden. Auf bestimmte Schläge eines Rhythmus müssen dann bestimmte Bewegungen erfolgen (Foucault 2000/1976, S. 195). Drittens erfolge die „Zusammenschaltung von Körper und Geste“ (Foucault 2000/1976, S. 196), mit der Foucault beschreibt, dass genau festgelegt wurde, wie ein Kinderkörper in der Schule auf einem Stuhl an einem Tisch sitzen sollte, um eine schöne und gesunde Handschrift anfertigen zu können (Foucault 2000/1976, S. 196). Viertens: Die „erschöpfende Ausnutzung“ (Foucault 2000/1976, S. 197) bezeichnet den Wandel weg vom Stundenplan, der lediglich den Müßiggang verhindern sollte, hin zu einer Intensivierung der Zeitnutzung. Durch Befehle, die in einem immer schneller werdenden Rhythmus erteilt werden, wird eingeübt, wenig Zeit zwischen einzelnen Tätigkeiten verstreichen zu lassen und gelernt, dass Schnelligkeit an sich wichtig ist (Foucault 2000/1976, S. 197 ff.). Dieser Wandel geht einher mit der Etablierung eines Verständnisses des Körpers und seiner disziplinierten Bewegungen als ‚natürlich‘ oder organisch (Foucault 2000/1976, S. 201). Insbesondere die Disziplinartechnik der Kontrolle der Tätigkeiten hat starke Anknüpfungspunkte zu Ritualen, die ebenfalls festlegen, was welcher Körper(teil) zu welchem Zeitpunkt oder in welchen Rhythmen zu tun hat. Um dies tun zu können, müssen die Körper nach einem bestimmten Schema im Raum verteilt sein. Ein „anatomisch-chronologisches Verhaltensschema“ (Foucault) ist demnach sowohl eine Praktik der Disziplinierung als auch der Ritualisierung.
Überwachen, Sanktionieren, Prüfen Drei wichtige Technologien der Disziplinarmacht beschreibt Foucault in seinem Werk „Überwachen und Strafen“: Auf der Überwachung und der Sanktionierung basierend, steht die Prüfung im Zentrum der Disziplinierung.
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3 Rituale als performative Praktiken
Die hierarchische Überwachung funktioniert über die Errichtung hierarchischer Überwachungsbeziehungen und über „Blicke, die sehen, ohne gesehen zu werden“ (Foucault 2000/1976, S. 221).12 Das Verhalten der Individuen wird beobachtet, um gegebenenfalls eingreifen zu können, sollte das Verhalten nicht mehr ‚nützlich‘ sein (Foucault 2000/1976, S. 221). Die hierarchische Überwachung braucht als Konterpart eine „normierende Sanktion“ (Foucault 2000/1976, S. 229). Diese funktioniert, indem ein eigenes Regelwerk erstellt wird, das das erwartete Verhalten deutlich macht und auch in Kraft setzt, was als Strafe zu bewerten sein soll – im Prinzip kann dann alles als Strafe eingesetzt werden. Bestraft werden sowohl Verstöße gegen das Regelwerk wie auch Abweichungen von der Norm, etwa, wenn etwas nicht gut genug oder nicht in der vorgesehenen Zeit erledigt wurde. Da die Aufgabe ist, Abweichungen von der Norm zu reduzieren, hat die Sanktion einen korrigierenden Charakter, das heißt es wird z. B. mit der Forderung nach mehr oder intensiverem Üben bestraft (Foucault 2000/1976, S. 229 ff.). Neben der Strafe sind als normierende Sanktionen aber auch Belohnungen z. B. in Form von Privilegien vorgesehen, über die Buch geführt wird und die mit den Strafen gegengerechnet werden können (Foucault 2000/1976, S. 233). Individuen mit ähnlichem Punktestand auf der Sanktionsskala werden in Graden oder Klassen zusammengefasst; die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Rang ist dann bereits Belohnung oder Bestrafung genug (Foucault 2000/1976, S. 235 f.). Als dritte Machttechnologie, die die beiden vorangegangenen kombiniert, sieht Foucault die Prüfung an (Foucault 2000/1976, S. 238). Diese vollziehe sich stark ritualisiert und etabliere eine Messung, Vergleichbarkeit und Sanktion der Leistungen und Qualitäten aller geprüften Individuen mit allen anderen jemals auf diese Weise geprüften (Foucault 2000/1976, S. 240 f.). Die Prüfung bildet das Herzstück der Disziplinartechniken, weil sie Subjektwerdung und Objektivierung zusammenführt: „Im Herzen der Disziplinarprozeduren manifestiert sie [die Prüfung; T.L.] die subjektivierende Unterwerfung jener, die als Objekte wahrgenommen werden, und die objektivierende Vergegenständlichung jener, die zu Subjekten unterworfen werden“ (Foucault 2000/1976, S. 238). Die Subjekte machen sich selbst zum Objekt der Prüfung. Sie unterwerfen sich ihr und
12In der Kita z. B. beobachten die pädagogischen Fachkräfte die Kinder; die Leitungskraft überwacht die pädagogischen Fachkräfte; die Trägerverantwortlichen überwachen die Arbeit der Leitungskraft. Aus den Beobachtungen werden notwendige Fördermaßnahmen für die Kinder oder Schulungsmaßnahmen für die pädagogischen Fachkräfte usw. abgeleitet.
3.4 Bildung und Erziehung in Ritualen
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werden unterworfen. Die Prüfung demonstriert nicht die Macht der Disziplin, sondern sie übt Macht aus, indem sie Sichtbarkeit für die Subjekte und deren Unterwerfung schafft. „Ganz anders die Disziplinarmacht: sie setzt sich durch, indem sie sich unsichtbar macht, während sie den von ihr unterworfenen die Sichtbarkeit aufzwingt“ (Foucault 2000/1976, S. 241). Die Prüfung nutzt die Elemente der hierarchisierenden Beobachtung, indem sie das abgefragte oder beobachtete Wissen der Subjekte dokumentiert, klassifiziert, kategorisiert, vergleicht und normiert. Dadurch schreibt sie einerseits die Individualität fest und setzt sie andererseits immer in Bezug zu einer Bevölkerung (Foucault 2000/1976, S. 243 ff.). Und sie macht aus Individuen Fälle, die bestimmter individueller Maßnahmen bedürfen, um die Normen und den Durchschnitt zu erreichen. „Als rituelle und zugleich ‚wissenschaftliche‘ Fixierung der individuellen Unterschiede, als Festnagelung eines jeden auf seine Einzelheit (im Gegensatz zur Zeremonie, in der Standeszugehörigkeiten, Abstammungen, Privilegien, Ämter zu unübersehbarem Ausdruck kamen), zeigt die Prüfung das Heraufkommen einer neuen Spielart der Macht an, in der jeder seine eigene Individualität als Stand zugewiesen erhält, in der er auf die ihn charakterisierenden Eigenschaften, Maße, Abstände und ‚Noten‘ festgelegt wird, die aus ihm einen ‚Fall‘ machen“ (Foucault 2000/1976, S. 247).
In der Praktik der Prüfung laufen somit die von Foucault festgestellten Charakteristika der Disziplinierung zusammen: Menschen unterwerfen sich einer Prüfung, die ihnen einerseits Individualität verleiht, weil sie ihnen basierend auf Beobachtungen ganz bestimmte, persönliche Eigenschaften attestiert, und ihnen im selben Moment den Status eines Objekts verleiht, das mit anderen Objekten verglichen wird. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Disziplinarmacht nach einem Modell einer guten Ordnung – den Normen – auf das Verhalten einzelner einwirkt, mit dem Ziel, sie in Bezug auf die imaginierte Ordnung produktiver und fügsamer zu machen. „Im Gegensatz zum Gesetz müssen disziplinäre Machtbeziehungen fortwährend sagen, was zu tun bzw. zu unterlassen sei“ (Vogelmann 2017, S. 9). Disziplin führt Normen ein und versucht, Individuen dazu zu bringen, sich diesen anzupassen. Das Produktive an Disziplinarmacht ist also, dass sie gelehrte und gelehrige, individuelle Körper produziert, die nützlich und schnell wichtige Bewegungen verrichten können. Das Problematische an Disziplinarmacht ist, dass sie rationale Techniken einführt und verwendet, die irrationale Inhalte befördern, und somit Subjekte hervorbringt, die sich freiwillig der Herrschaft von Flexibilität und Mobilität unterwerfen (Pongratz 2004, S. 253). Die Disziplinarmacht kreiert
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3 Rituale als performative Praktiken
damit auch eine „Fiktion von Autonomie“ (Pongratz 2004, S. 253), die verschleiert, dass man sich längt einer Disziplinarmacht unterworfen hat. In Bezug auf die vorliegende Arbeit ist festzuhalten, dass die ritualisierten Praktiken der demokratischen Partizipation darauf zu prüfen sind, ob und wie sie auf die Körper der Teilnehmenden einwirken, ob sich beispielsweise ein Spannungsfeld zwischen demokratischem Demos und den nützlichen, flexiblen und mobilen Individuen ergibt, und welche einander möglicherweise widerstreitenden Normen in den ritualisierten Praktiken in Kraft gesetzt werden. Im Folgenden werde ich das Forschungsprogramm vorstellen, das zunächst bereits bestehende relevante Forschungsarbeiten darlegt und anschließend die verschiedenen Fragen, die im Kontext der Auseinandersetzung mit Demokratie und Ritualen entstanden sind, zusammenfasst.
4
Das Forschungsprogramm
Im Folgenden werde ich das Programm der vorliegenden Forschungsarbeit darstellen. Zunächst werde ich den aktuellen Forschungsstand dokumentieren und gegen die vorliegende Arbeit abgrenzen. Anschließend werde ich die sich aus den theoretischen Vorüberlegungen ergebenden Fragen bündeln und schärfen. Der dritte Abschnitt dieses Kapitels ist der Forschungsmethode Ethnografie gewidmet.
4.1 Darstellung des Forschungsstands Der Großteil der Kinder zwischen drei und sechs Jahren in Deutschland nutzt ein Angebot der Kindertagesbetreuung: Die Quote von Kindern im Alter von drei bis sechs Jahren in Kindertageseinrichtungen und öffentlich geförderter Kindertagespflege liegt seit 2008 bei über 90 %; zum Stichtag 01. März 2019 lag sie für Kindertageseinrichtungen bei 93 % (Statistisches Bundesamt 2018, S. 120; 2019). Nicht nur die Betreuungsquote spricht für die hohe Bedeutung von Kindertageseinrichtungen. Vielmehr sind Kindertageseinrichtungen nach Veröffentlichung der ersten PISA-Studie im Jahr 2000 ins Zentrum bildungspolitischer Debatten gerückt – wohl auch, um die Ungleichheit reproduzierenden Schulen unangetastet lassen zu können (Diehm 2018, S. 15 f.). Die PISA-Studie löste eine vertiefte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Kindertageseinrichtungen aus, die aufgrund der gut eingeführten und verbreiteten, aber nicht empirisch belegten Vorstellung der „Frühen Prägungsannahme“ (Diehm 2018, S. 14) prädestiniert schienen, Chancengleichheit herzustellen bzw. Ungleichheit vorzubeugen (Diehm 2018, S. 14 ff.).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6_4
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4 Das Forschungsprogramm
Im Folgenden werde ich den aktuellen Forschungsstand darlegen und dabei bei Forschung mit dem Schwerpunkt auf Partizipation beginnen.
4.1.1 Demokratische Partizipation in Kindertageseinrichtungen Genau zum Thema der demokratischen Partizipation von Kindern in Kindertageseinrichtungen gibt es bisher vereinzelt Forschungsprojekte: Zu den sich explizit mit dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ auseinandersetzenden Forschungsprojekten zählen die Folgenden: 1. Das dreijährige Projekt „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“ (Laufzeit 2013–2016) hat erforscht, wie das Konzept mindestens zwei Jahre nach Verfassungseinführung in die Praxis umgesetzt wird (Richter u. a. 2017). Es basiert auf 2. einer Evaluation in zwei Kindertageseinrichtungen mit Verfassungen in Nordrhein-Westfalen (Sturzenhecker u. a. 2010). 3. Yvonne Rehmann (2010) hat eine Master-Arbeit zur Verfassungsrealität in 16 Kindertageseinrichtungen verfasst. 4. Julia Höke (2018) untersuchte unter der Perspektive der generationalen Ordnung, wie Kinder die formellen und informellen Beteiligungsmöglichkeiten ihrer Kindertageseinrichtung wahrnehmen. Daneben gibt es Forschungsprojekte, die sich ebenfalls mit der demokratischen Partizipation von Kindern auseinandersetzen, ohne Kitas in den Blick zu nehmen, die nach dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ arbeiten: 5. das Forschungsprojekt „Schlüsselkompetenzen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für Bildung in der Demokratie Schleswig-Holstein“ (2011– 2014) (Bartosch u. a. 2014), 6. die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen Partizipation und der Entwicklung von Resilienz im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerks (Lutz 2012), 7. das Projekt „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“, das vom Institut für den Situationsansatz (ISTA) in Zusammenarbeit mit dem RAA Berlin in der Stadt Eberswalde von 2002–2007 durchgeführt und wissenschaftlich begleitet und dessen Bericht 2012 als Buch veröffentlicht wurde (Höhme-Serke u. a. 2012), 8. eine wissenschaftlich begleitete Fortbildungsstudie, die Christian Büttner (2006) mit der Hessischen Stiftung für Friedensund Konfliktforschung durchgeführt hat, und die zum Ziel hatte, demokratische Partizipation von Kindern durch sogenannte Demokratiewerkstätten zu fördern, 9. das Praxis-Projekt „Partizipation in Kindertageseinrichtungen der Schweiz (PINKS)“ (Laufzeitende: August 2018) (Neumann u. a. 2019), dessen Ergebnisse auch in ein Fortbildungskonzept für pädagogische Fachkräfte eingeflossen sind
4.1 Darstellung des Forschungsstands
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(Deutsches Jugendinstitut/Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte 2017). Diese neun Projekte werde ich im Folgenden vorstellen.1 Dabei werde ich auch darauf eingehen, welchen Mehrwert die vorliegende Arbeit gegenüber den bestehenden Projekten leistet.
„Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“ (DeiKi) In einem Projekt mit dem Titel „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“ haben Benedikt Sturzenhecker, Elisabeth Richter und ich von 2013– 2016 in sechs Kindertageseinrichtungen geforscht, wie mindestens zwei Jahre nach Verfassungseinführung in Kitas Demokratiebildung in die Praxis umgesetzt wird (Richter u. a. 2017). Wir haben vor allem mit (Gruppen-)Interviews gearbeitet, aber auch bei Gruppensprecher*innenwahlen, Gremiensitzungen und im Alltag der Kitas teilnehmend beobachtet (ebd., S. 66 ff.). Mit dem Projekt gingen wir den Fragen nach, wie Demokratiebildung in Kitas umgesetzt wird, ob die Kinder Demokratie „können“ und wie zufrieden bzw. engagiert Kinder Demokratie praktizieren. Als ein Ergebnis der Forschung ist eine Operationalisierung von Demokratie in der Kita entstanden, die zwischen deliberativer und von Expertinnen regierter Demokratie unterscheiden (Richter u. a. 2016). Die Bereiche deliberativer Demokratie sind wiederum unterteilt in formelle Mehrheitsdemokratie, non-formelle Mehrheitsdemokratie und informelle Konsensdemokratie. Dass Kinder Demokratie können und sich für diese engagieren, ist neben der Auflistung konkreter Gelingensbedingungen für Demokratie ein weiteres wichtiges Ergebnis des Forschungsprojekts (Richter u. a. 2017, S. 252 ff.). Auch wenn das Projekt untersucht hat, wie die Gruppensprecher*innenwahlen durchgeführt wurden, wurden diese jedoch nicht als Rituale gefasst oder auf ihre Performativität hin untersucht. Dies liegt darin begründet, dass das Primat der Forschung auf verbal-kommunikativen Forschungsmethoden lag: Zentral waren die Interviews und diskursiven Gruppengespräche mit den Leitungs- und Fachkräften, Eltern und Kindern, sowie die partizipative Ausgestaltung des Forschungsprozesses nach der Methode der Handlungspausenforschung (zur Methode vgl. auch Richter u. a. 2003; Richter u. a. 2017, S. 85). Zwar wurden
1Vgl.
ergänzend dazu auch die Ausführungen zu Konzepten für frühkindliche Demokratiebildung sowie zum Forschungsstand in Richter u. a. (2017, S. 30 ff.).
82
4 Das Forschungsprogramm
auch teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, allerdings weder regelmäßig noch über einen längeren Zeitraum (Richter u. a. 2017, S. 74 f.).
„Partizipation in der Kita“ Das Forschungsprojekt „DeiKi“ basierte auf einer Evaluation von zwei Kindertageseinrichtungen mit Verfassungen, die von Sturzenhecker u. a. (2010) durchgeführt worden war. Die Evaluation hatte Kindertageseinrichtungen beim Prozess der Erstellung einer Verfassung begleitet, wohingegen im DeiKi-Projekt die Umsetzung des Konzepts mindestens zwei Jahre nach der Einführung der Verfassung untersucht hat (Richter u. a. 2017, S. 32 ff.).
„Partizipation in Kindertageseinrichtungen“ Yvonne Rehmann hat im Rahmen ihrer Masterarbeit untersucht, wie Kita-Verfassungen in der Praxis umgesetzt werden. Sie hat dafür 16 Kita-Verfassungen analysiert und in einer Einrichtung Kinder, pädagogische Fachkräfte und die Leitungskraft befragt (Rehmann 2010, S. 93 f.). In ihrem Fazit schreibt Rehmann: „Demokratie kann, das legt die Evaluation nahe, in Kindertageseinrichtungen nachhaltig als Alltagskultur implementiert und als Lebensform erfahrbar gemacht werden. Partizipation scheint mit Kindern jeden Alters möglich und hat direkte Auswirkungen auf die pädagogische Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, das Verständnis der Erziehung, Bildung und Betreuung in Kindertageseinrichtungen sowie auf die strukturellen Rahmenbedingungen“ (ebd., S. 189).
Wie auch das DeiKi-Projekt lag bei Rehmanns Masterarbeit der Fokus auf Interviews, und damit den reflektierten Wissensbeständen der Akteur*innen, sowie auf der Analyse von Dokumenten. Die beobachtbare Praxis der demokratischen Partizipation von Kindern wurde nicht untersucht. Zudem unterscheidet sich die Studie von der vorliegenden Arbeit darin, dass sie die Verfassungsrealität nicht aus einer praxistheoretischen Perspektive analysiert und Rituale nicht in den Blick nimmt.
„Kinderperspektiven auf Beteiligungsmöglichkeiten im Kindergarten“ Julia Höke (2018) erforschte in einer Kindertageseinrichtung, die formelle Beteiligungsstrukturen nach dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ vorweist, wie diese und die eher informellen Partizipationsstrukturen aus Sicht der Kinder wahrgenommen werden (Höke 2018, S. 103). Sie nutzt dafür eine kindheitssoziologische Perspektive, die Kinder als kompetente Akteur*innen
4.1 Darstellung des Forschungsstands
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ansieht, die selbst an der Herstellung der generationalen Ordnung beteiligt sind (ebd., S. 97 ff.). Höke hat in drei Kitagruppen teilnehmend beobachtet und einen Tag videografiert. Zudem hat sie Interviews mit 13 Kindern geführt (ebd., S. 103). Die so gewonnenen Daten hat sie in Hinblick auf drei Aspekte ausgewertet: Welche demokratischen Kompetenzen zeigen die Kinder, welche Bedeutung haben die Beteiligungsmöglichkeiten für die Kinder und wie gehen die Kinder mit den Zuschreibungen und Erwartungen der Erwachsenen im Kitaalltag und während des Forschungsprozesses um (ebd., S. 105). Höke kommt zu dem Schluss, dass die Kinder die Beteiligungsgremien wichtig finden, weil sie sich dort austauschen und Informationen erhalten – weniger, weil sie dort Entscheidungen treffen können (ebd., S. 115). Zudem sei es für die Kinder relevanter, Dinge zu besprechen, die ihren unmittelbaren Kita-Alltag betreffen, als in langfristige Planungen einbezogen zu werden, wie die von Ausflügen oder Projekten (ebd., S. 107). Einige der beforschten Kinder finden, dass die Erwachsenen über Ausflüge entscheiden sollten (ebd., S. 107). In Bezug auf die Zuschreibungen und Erwartungen der Erwachsenen problematisiert Höke, dass ein „unverstellter Blick auf kindliche Perspektiven und Interessen“ weder für Forschende noch für pädagogische Fachkräfte möglich sei (ebd., S. 115). Daher fordert Höke, in Forschungsarbeiten mehr in den Blick zu nehmen, wie die Forschenden durch die Kinder adressiert werden (ebd., S. 115 f.). Da ich generell davon ausgehe, dass Gespräche und Praktiken – auch im Rahmen von Forschungsprozessen – eine gemeinsame Konstruktionsleistung aller daran Beteiligten sind, selbst wenn diese Beteiligten unterschiedliche Erfahrungen und Wissensstände einbringen, nehme ich diesen Hinweis für die vorliegende Arbeit auf.
„Schlüsselkompetenzen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für Bildung in der Demokratie“ Ulrich Bartosch u. a. (2014) haben zu den Schlüsselkompetenzen geforscht, die pädagogische Fachkräfte benötigen, um Kindern demokratische Partizipation zu ermöglichen. Das Forschungsprojekt „Schlüsselkompetenzen pädagogischer Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen für Bildung in der Demokratie“ wurde in Kooperation der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt mit der Fachhochschule Kiel von Januar 2012 bis Juni 2014 durchgeführt. Dabei haben die beteiligten Wissenschaftler*innen ausdrücklich darauf verzichtet, Best-Practice-Einrichtungen zu untersuchen, die nach dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ arbeiten. Stattdessen haben sie für die Erforschung der Frage, wie Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen gelingen kann, sechs Kitas mit unterschiedlichen Niveaustufen der Erfahrung mit demo-
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kratischer Partizipation ausgewählt (Bartosch u. a. 2014, S. 22). Für die Studie wurden Kinder, Fachkräfte, Eltern und Einrichtungsleiter*innen befragt und aus den Interviews zehn Kategorien herausgearbeitet, die die „Struktur des demokratischen Bildungsraums“ wiedergeben (ebd.). Zudem wurden quer zu den Kategorien fünf Merkmale pädagogischen Handelns herausgearbeitet, die für eine gelingende Demokratiebildung bedeutsam sind. Die Merkmale wurden als Ergebnisse von spezifischen Lernprozessen beschrieben (ebd., S. 8). Die zweite Forschungsfrage zielte auf die Bedingungen für den Erwerb von Demokratiekompetenzen in der Erzieher*innenausbildung ab, dazu wurden Interviews mit Lehrkräften, Dozent*innen, Schüler*innen und Studierenden von pädagogischen Fachschulen und einer Hochschule geführt (ebd., S. 24). Als Ergebnis wurde ein Qualifikationsprofil entwickelt (ebd., S. 66 ff.) und fünf günstige L ehr-Lern-Arrangements beschrieben (ebd., S. 96 ff.). Mit dem Fokus auf die Kompetenzen der Fachkräfte und dem Erhebungsverfahren Interview hat die Studie einen anderen Schwerpunkt als die vorliegende Arbeit, trotzdem finden sich Anknüpfungspunkte: Die Autor*innen plädieren dafür, den Kindern echte Beteiligungsmöglichkeiten einzuräumen, anstatt sie nur zeitlich begrenzt an Entscheidungen teilhaben zu lassen. „Die unehrliche Devise ‚so Kinder, jetzt spielen wir für heute Nachmittag mal Demokratie und tun so, als ob ihr schon erwachsen wärt‘, erscheint uns geradezu kontraproduktiv gefährlich und langfristig diskreditierend für das Projekt Demokratiebildung“ (ebd., S. 96). Demokratie nur zu spielen bzw. zeitlich beschränkt und zu stark an „erwachsener“ Demokratie orientiert durchzuführen, verwerfen die Autor*innen der Studie als nicht gewinnbringend für Demokratiebildung. Demokratiebildung zu ritualisieren birgt also die Gefahr, dass sie nur während des Rituals und nur für die am Ritual teilnehmenden Kinder vollzogen wird und daher ihr demokratisches Potential einbüßt. Ob dies der Fall ist, soll im Rahmen der vorliegenden Arbeit erforscht werden. In der Studie von Bartosch u. a. kommt das Thema Ritual/Ritualisierung von demokratischer Partizipation in der Kita nur einmal vor, und zwar in Bezug auf Gesprächsregeln, deren Ritualisierung laut Aussagen der befragten pädagogischen Fachkräfte der Moderation von Diskursen in Beteiligungsgremien helfen könne: „Die Fachkräfte betonen, dass Dialog und Austausch Zeit bräuchte[n] und möglichst in kleinen Gruppen geschehen sollte. Dazu müssten die Fachkräfte in der Lage sein, Kindergruppen zu moderieren. Eine Einführung von Gesprächsritualen und -regeln unterstütze diese Prozesse ebenfalls“ (ebd., S. 52). Die befragten Fachkräfte reflektieren, dass eine Ritualisierung hilfreich ist, um die Kommunikation zwischen Kindern gut moderieren zu können. Regeln und
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Rituale werden in einen engen Zusammenhang gebracht. Ritualisierungen dienen dazu, Gesprächsregeln einzuhalten. Die Frage, wie sie dies tun, und auch die Spannung, die sich daraus für das Ziel demokratischer Bildung ergeben könnte, werden nicht weiter verfolgt, sind aber Forschungsauftrag der hier vorliegenden Arbeit.
„Mitbestimmung in Kindertageseinrichtungen und Resilienz“ Resilienz kann durch Partizipation von Kindern gefördert werden. Das hat Ronald Lutz im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerks theoretisch dargelegt und empirisch nachgewiesen (Lutz 2012). Resilienz wird dabei gefasst als „die Fähigkeit stark zu sein, sich zu positionieren, aktiv zu sein, mitbestimmen zu wollen und zu können, gegen Widerstände die eigenen Interessen zu betonen, in individuellen und sozialen Krisen nicht zu verzweifeln, sondern Lösungen zu suchen und zu finden“ (Lutz 2012, S. 64). Lutz hat dafür keine Einrichtungen beforscht, die nach dem Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ arbeiteten oder deren partizipative Praxis besonders hervorstach. Vielmehr hat er drei verschiedene Typen von Einrichtungen, die er als „verharrend“, „aufbrechend“ und „beteiligend“ einordnete, gewählt. Im Fokus der Forschung stand der „graue Alltag“ in den Einrichtungen (ebd., S. 90). Insgesamt befragte er die Fachkräfte, Eltern und Leitungskräfte von zwölf Kitas in Thüringen. Das zentrale Ergebnis der Studie ist, dass keine der Kitas als demokratische Kita bezeichnet werden könne (ebd., S. 227). Sehr wohl sei der Grad der Mitbestimmung der Kinder maßgeblich für das Ausmaß der Resilienz der dort betreuten Kinder. Je mehr Mitbestimmung den Kinder ermöglicht werde, umso mehr Resilienz bildeten die Kinder aus (ebd., S. 7). Lutz’ Studie zielte auf das Wissen der Fachkräfte und die Partizipation von Kindern abseits der Gremien ab (die die erforschten Einrichtungen nicht eingerichtet hatten; Lutz 2012, S. 212 ff.) und hat daher einen deutlich anderen Schwerpunkt als die vorliegende Arbeit.
„Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ „Demokratie leben in Kindergarten und Schule“ hieß ein fünfjähriges Projekt des Instituts für den Situationsansatz und der Regionalen Arbeitsstelle für Bildung, Integration und Demokratie Berlin (RAA) in der Stadt Eberswalde, das extern prozessbegleitend evaluiert wurde (Höhme-Serke 2005, S. 30; Priebe 2012). Das Praxisprojekt hatte zum Ziel, in drei Kindertageseinrichtungen zu erarbeiten, wie und wo die Kinder im Alltag Demokratie erfahren; die begleitende externe Evaluation unterstützte dieses Vorhaben. Auch in diesem Projekt wurde davon abgesehen, demokratische Partizipation konstitutionell zu verankern. Vielmehr
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ging es darum, die „Alltagskultur“ der Kitas zu einer „Kultur des Aushandelns“ zu entwickeln und die Fachkräfte zu einer partizipativen Haltung zu befähigen (Höhme-Serke u. a. 2012, S. 144). Die Evaluation war formativ, sie war also darauf ausgerichtet, den pädagogischen Fachkräften nützliche Rückmeldungen zu ihrem Handeln zu geben (Priebe 2012, S. 164 f.). Im abschließenden Bericht wird deutlich, dass nicht alle pädagogischen Fachkräften eine partizipationsorientierte Haltung entwickeln konnten; vielen von ihnen fiel es schwer, Macht bzw. Kontrolle abzugeben (ebd., S. 166). Welche Aspekte des Alltags für eine Partizipation der Kinder geöffnet wurden, lag im Ermessen der Erwachsenen (ebd.). Der durchstrukturierte Tagesablauf, der an Ruhe und Ordnung orientiert war, erschwerte die Partizipation von Kindern und belastete auch die pädagogischen Fachkräfte (ebd., S. 166 f.). Insbesondere der Morgenkreis, der auch für die vorliegende Forschungsarbeit von hoher Relevanz ist, wurde von den Fachkräften als problematisch empfunden, weil die Kinder aus ihrer Sicht aus dem Spiel herausgerissen würden und einige Kinder nicht an ihm teilnehmen wollen würden (ebd., S. 167). Das Projekt verknüpfte Partizipation mit Bildung, weil das Thema Bildung in hohem Maße bedeutsam für die pädagogischen Fachkräfte war; sie waren bei diesem Thema besonders engagiert (ebd., S. 167). Weitere wichtige Aspekte der Evaluation waren der Umgang mit dem Autonomiestreben der Kinder, das Aushandeln von Regeln und das Lösen von Konflikten. Priebe fasst abschließend zusammen, dass sich im Zuge des Projekts viele Zielkriterien erfüllt hätten, aber noch keine durchgängige Umsetzung von demokratischer Partizipation zu verzeichnen gewesen sei (ebd., S. 187). Aufgrund mangelnder eigener Erfahrungen und des Fehlens von eigenen Partizipationsmöglichkeiten, sei es den pädagogischen Fachkräften zum Teil schwergefallen, sich auf die Partizipation der Kinder einzulassen, insgesamt sei aber ein deutlicher Fortschritt durch das Projekt erzielt worden (ebd., S. 187 f.). Dabei sei wichtig gewesen, dass den pädagogischen Fachkräften große Freiräume im und durch das Projekt eingeräumt wurden, sie wurden „selber im Projekt konsequent beteiligt“ (Priebe 2012, S. 187). Bis auf den kurzen, bereits erwähnten Abschnitt zum Morgenkreis spielen Gremien oder Rituale keine Rolle im Projektbericht bzw. in der Evaluation. Interessant ist jedoch, dass eine starke Orientierung des Tagesablaufs an Ruhe und Ordnung sowie eine starke Rhythmisierung als hinderlich für demokratische Partizipation erkannt wurde. Diese Themen sollen im Rahmen der hier vorliegenden Arbeit stärker beleuchtet werden.
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„Demokratie leben lernen – von Anfang an“ Die Fortbildungsstudie „Demokratie leben lernen – von Anfang an“ arbeitete mit regelmäßigen Tagungen und Diskussions-Veranstaltungen zu drei Schwerpunktthemen, in denen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen gemeinsam über die pädagogische Praxis reflektierten und Schlussfolgerungen für die Arbeit in Kindertageseinrichtungen zogen, die in Form von Projekten versuchsweise umgesetzt und anschließend evaluiert wurden. Jedes der Themen wurde über ungefähr ein Jahr bearbeitet (Büttner 2006, S. 9). „Die ‚Fortbildungsstudie‘ ist ein Bündnis von Wissenschaft und Praxis an der Schnittstelle Fortbildung“ (ebd., S. 8). Schwerpunkte der Studie waren der Umgang mit Regeln, Konflikte und Partizipation. Büttner kritisiert, dass die auf Partizipation von Kindern und Jugendlichen ausgerichtete Pädagogik ein zu harmonisches Demokratieverständnis vertrete und den Kindern daher zu wenig Möglichkeiten für eine Beteiligung auch an Demokratie als Herrschaftsform eröffne (ebd., S. 36). Zudem bemängelt Büttner die mangelnde Konfliktfähigkeit pädagogischer Fachkräfte, die dazu führe, dass Kindern wichtige Lernerfahrungen verwehrt würden, weil potentielle Konfliktthemen individuell aufgelöst würden, statt sie offen anzusprechen (ebd., S. 38). „Demokratie wird in vorschulischen Einrichtungen häufig als ein weitgehend konfliktfreies Beziehungssystem gedacht, in dem alle Wünsche mehr oder weniger erfüllt werden und harmonische Lösungen bei divergierenden Interessen das erstrebenswerte Ziel darstellen“ (ebd., S. 38). Innerhalb der Fortbildungsstudie wurde der Vorschlag erarbeitet, in Ergänzung zu anderen pädagogischen Konzepten noch Demokratiewerkstätten einzuführen, in denen Demokratie als Herrschaftsform, d. h. demokratische Verfahren, Debatten und Wahlen, in einem geschützten Raum eingeübt werden können (ebd., S. 68).2 Büttner geht in seinem Abschlussbericht zum Projekt auf die Problematik ein, dass Demokratie in der Kita nur begrenzt umsetzbar ist, unter anderem weil pädagogische Praktiken mitunter in einem Widerspruch zu einer demokratischen Orientierung stehen: „Pädagogische Rituale (Sprechstein/Sprechkugel, systematische Abfrage etc.), die sich in pädagogischen Situationen bewähren,
2Hierin
zeigt sich ein deutlicher Unterschied zum Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“, das Kinder vor allem an realen Problemen und Aufgaben beteiligen will, die sie direkt betreffen (Hansen u. a. 2011, S. 135 ff.). Die Kinderstube will Demokratie als Herrschaftsform also nicht in Werkstätten ausgliedern, sondern sie ebenso wie die demokratische Alltagskultur (Lebensform) in der alltäglichen Praxis anwenden und dadurch einüben.
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sind unter Umständen nicht kompatibel mit der demokratischen Orientierung“ (ebd., S. 70). Büttner schlägt weiterhin vor, Demokratiewerkstätten freiwillig für wenige Kinder anzubieten, die sich für kurze Zeiträume zu verschiedenen Schwerpunkten versammeln. Dabei soll mit der Vermittlung demokratischer Gepflogenheiten und Rituale begonnen werden: „Der erste Schritt ist die Vermittlung demokratischer Rituale. Die Aufgaben von Mandatsträgern, der Umgang mit Minderheiten, Abläufe und Besonderheiten verschiedener Abstimmungsformen sollten dabei erarbeitet werden“ (ebd., S. 70). Büttner unterscheidet also zwischen Ritualen mit unterschiedlicher Ausrichtung (pädagogisch vs. demokratisch) und sieht vor, dass Pädagogik im Rahmen der Werkstätten zugunsten von Demokratie ausgeklammert wird: „Um Demokratie zu leben, bedarf es der Trennung zwischen Pädagogik und Demokratie“ (ebd., S. 70). Gleichzeitig sollen aber genau die Demokratie-Werkstätten den Kindern Wissen über Demokratie und ihre Verfahrensweisen vermitteln und zwar mithilfe didaktischer Methoden: „Wichtig dabei ist, dass die Module die Kinder ansprechen und die Methoden (‚Werkzeuge‘) aus dem didaktischen Fundus der Kita-Arbeit stammen“ (ebd., S. 70). Aus den Ausführungen wird insgesamt deutlich, dass es weiterer Forschung zu dem Thema bedarf, wie Pädagogik bzw. pädagogische Rituale und Demokratie zueinander stehen. Genau das ist das Vorhaben der vorliegenden Arbeit.
„Partizipation in der frühesten Kindheit“ (PINKS) Das Projekt „Partizipation in der frühesten Kindheit. Ein ethnographiebasiertes Praxisprojekt zur Akteurschaft von Kindern in schweizerischen Kindertageseinrichtungen“ (PINKS) wurde am Zentrum für frühkindliche Bildung der Universität Fribourg unter der Leitung von Sascha Neumann durchgeführt (Neumann und Hekel 2017). Das Erkenntnisinteresse des Projektes war, „die Erscheinungsweisen, Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen der Akteurschaft von Kindern im institutionellen Alltag zu erkunden“ (Neumann u. a. 2019, S. 325) und dabei besonders solche Praktiken in den Blick zu nehmen, die als „partizipativ“ gelten (ebd., S. 324). Dafür wurden in neun Kindertageseinrichtungen jeweils zehn Tage lang teilnehmende Beobachtungen durchgeführt, dicht beschrieben und ausgewertet. Die Einrichtungen wurden danach ausgewählt, dass in ihrem Konzept oder auf ihrer Website Hinweise auf eine „partizipative Ausrichtung“ zu finden waren (ebd., S. 328). Für ihre Analyse nutzen Neumann u. a. (2019) das sozialwissenschaftliche Konzept der Agency/Akteurschaft. Darunter verstehen sie „die Handlungsfähigkeit, Handlungsmächtigkeit oder auch Handlungsmöglichkeit von Kindern“ (ebd., S. 325). Das Konzept der Akteurschaft erlaube, auch all jene Formen
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der Einflussnahme von Kindern in den Blick nehmen zu können, die nicht von Erwachsenen absichtsvoll inszeniert seien (ebd., S. 324 f.). Darüber hinaus ermögliche es, die Handlungsmacht von Artefakten und Räumen in die Analyse der Praktiken einzubeziehen (ebd., S. 327). Das Konzept der Partizipation eigne sich hingegen nicht für die Analyse, weil es „normativ“ und „empirisch nicht begründbar“ sei (ebd., S. 324 f.). Es sei im frühpädagogischen Diskurs eng mit dem Anspruch an Bildung verknüpft. Indem Partizipation als Voraussetzung für Bildung und die Fähigkeit zur Partizipation als Ziel von Bildung gefasst wird, würde sie „pädagogisiert“ (ebd.). In der Darstellung der Ergebnisse bleibt offen, wer die analysierten Praktiken überhaupt als partizipativ bezeichnen würde: Der frühpädagogische Diskurs, das pädagogische Konzept der jeweiligen Einrichtung, die beteiligten Fachkräfte und Kinder oder die Autor*innen selbst. Aus den von ihnen gewählten Beispielen lässt sich jedoch schließen, dass sie selbst auch schon die bloße Teilnahme der Kinder an Praktiken als Partizipation verstehen. So beschreiben sie eine (vermeintlich) partizipative Praktik, bei der die Kinder aus einem Beutel ein Los ziehen, das zuvor von der pädagogischen Fachkraft manipuliert wurde (ebd., S. 339). Sie kritisieren an diesem Verfahren folgerichtig, dass es die Handlungsmöglichkeiten der Kinder einschränke, gleichzeitig aber einer Hinterfragung entziehe (ebd.). Dies vorweggenommen, lassen sich die Ergebnisse des Projektes wie folgt zusammenfassen: Anders, als es in der Fachliteratur behauptet würde, entlaste die Ausrichtung auf Partizipation die pädagogischen Fachkräfte im Alltag nicht (ebd., S. 337 f.). Organisatorische Notwendigkeiten würden stattdessen auf eine ‚pädagogisch wertvolle‘ Weise durchgeführt, um dann überhaupt als „partizipativ“ gelten zu können. „Organisatorische Aufgaben werden genauso für partizipative Arrangements genutzt, wie partizipative Arrangements eine Pädagogisierung organisationaler Praktiken erlauben“ (ebd., S. 338). Die Notwendigkeit einer Teilnahme an diesen (vermeintlich) partizipativen Praktiken sei durch die Kinder kaum mehr zu hinterfragen, weil die „Erwartung partizipieren zu wollen und zu sollen“ (ebd., S. 338) dem entgegenstehe. Außerdem beschränke sich die Handlungsmacht der Kinder in diesen (vermeintlich) partizipativen Praktiken darauf, den vorgesehenen Ablauf voranzubringen. Sie gehe nicht so weit, dass die Kinder die Abläufe und Praktiken gestalten oder mitbestimmen könnten (ebd., S. 340). Die Ergebnisse des Projektes PINKS machen deutlich, dass Verfahren und Routinen dazu führen können, die Frage nach deren Sinnhaftigkeit nicht mehr zu stellen. Dies gilt besonders, wenn es sich um vermeintlich partizipative Verfahren und Routinen handelt. Deshalb müssen diese Verfahren und Routinen dahin-
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gehend geprüft werden, wie offen sie für die (Mit-)Gestaltung durch die Kinder sind. Dasselbe gilt für Rituale. Auch sie müssen dahingehend untersucht werden, ob sie sich von den Kindern hinterfragen, ändern oder gar abschaffen lassen. Genau darum wird es im empirischen Teil des Buches gehen.
4.1.2 Bildung und Erziehung im Ritual Der zweite wichtige empirische Bezugspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Berliner Gesten- und Ritualstudie (Wulf u. a. 2001a; Wulf u. a. 2004; Wulf u. a. 2007; Wulf u. a. 2011), auf die ich in Abschnitt 3.4.1 bereits hingewiesen habe. Diese hat sich mit den primären Sozialisationsinstanzen beschäftigt, zu denen die Kita jedoch nicht gezählt wurde: „In dieser an der Freien Universität Berlin im Rahmen des Sonderforschungsbereichs „Kulturen des Performativen“ auf zwölf Jahre angelegten, viermal evaluierten und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanzierten umfangreichen Studie in einer innerstädtischen Berliner Grundschule und ihrem Umfeld wurden Erziehungs-, Bildungs- und Lernprozesse in den vier Sozialisationsfeldern „Schule“, „Familie“, „Peer-Gruppen“ und „Medien“ untersucht“ (Wulf 2008, S. 68). Die Studie wurde mittels verschiedener qualitativer Verfahren durchgeführt, dabei wurden vor allem Ethnografie, videogestützte/teilnehmende Beobachtung, Fotoanalysen, Interviews und Gruppendiskussionen genutzt. Diese Verfahren haben sich als besonders nützlich für das Erforschen von Ritualen erwiesen (ebd., S. 69 f.). Die Studie arbeitete u. a. heraus, wie Familien Rituale nutzen, um sich selbst als Familie zu reproduzieren und zu stabilisieren, wie Rituale in der Schule zwischen der Institution und den einzelnen Schüler*innen vermitteln, wie Schüler*innen unter sich verschiedene Lernkulturen herausbilden und wie Medien rituell Einfluss auf das Imaginäre von Kindern und Jugendlichen nehmen, sowie welche Rituale in Online-Communities entwickelt werden (ebd., S. 24 f.). Dabei ist das zentrale Ergebnis, dass Rituale und Ritualisierungen über ihren performativen Charakter, also über die Körperlichkeit der Aufführungen und Inszenierungen, nachhaltige Wirkungen erzielen (ebd., S. 26). Diese Wirkung von Ritualen hat mehrere Aspekte. Der Wichtigste ist, dass die Teilnehmenden etwas lernen bzw. sich bilden. Sie erwerben durch die Teilnahme praktisches Wissen, also Wissen darum, was und wie etwas zu tun sei. Die Teilnehmenden erfahren, welche Handlungen von ihnen erwartet werden und wie sie diese individuell gestalten können, ohne die Erwartungen allzu sehr zu verletzen (ebd., S. 30 f.). Der Performance-Charakter von Ritualen regt
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an, die Handlungen der anderen, erfahreneren Teilnehmer*innen nachzuahmen, Wulf nennt diesen Prozess der Nachahmung Mimesis (ebd., S. 31; vgl. auch Abschnitt 3.4.1). Neben der Analyse, wie Lernen in und durch Rituale funktioniert, hat die Berliner Ritual- und Gestenstudie zehn zentrale Funktionen von Ritualen herausgearbeitet (Wulf 2015, S. 33), die ich im Folgenden kurz zusammenstelle: 1. Rituale bilden Gemeinschaft: „Die Gemeinschaft ist Ursache, Prozess und Wirkung rituellen Handelns“ (ebd., S. 33); 2. Rituale ordnen, indem sie Regeln, Konventionen und Normen ausbilden, aufführen und bestärken (Wulf 2015, S. 33 f.); 3. Rituale erzeugen Identifikation und Transformation, weil sie Übergänge zwischen verschiedenen Status, Lebensabschnitten, Institutionen, Tagesordnungspunkten etc. gestalten: „In ihnen wird eine neue Ordnung, die Festschreibung eines neuen Zustands, die Emergenz einer neuen sozialen Wirklichkeit erzeugt, die so aussieht, als sei sie natürlich, und die es daher schwer macht, sich von ihr zu distanzieren und sich gegen sie zu wehren“ (ebd., S. 34); 4. Rituale legen nahe, was erinnert und was vergessen werden soll und entwerfen darüber hinaus eine Zukunft für die sie aufführende Gemeinschaft (ebd., S. 34 f.); 5. Rituale helfen, Krisen von Gemeinschaften zu bewältigen, indem sie eine vertraute Struktur zur Verfügung stellen und Differenzen bearbeiten (ebd., S. 35); 6. Rituale transzendieren, d. h. sie entziehen bestimmte Handlungen, Ideen, Normen und Werte der Verfügbarkeit; Wulf nennt dies auch „Magie“ (ebd., S. 35 f.); 7. Rituale bearbeiten Differenzen, indem sie ganz verschiedene Menschen zu einer Gemeinschaft verbinden (ebd., S. 36); 8. Rituale setzen mimetische Prozesse in Gang (ebd., S. 37); 9. Rituale generieren praktisches Wissen (ebd., S. 37 f.); 10. Rituale produzieren Subjekte, eben weil sie praktisches Wissen erlernbar machen und Subjekte aufgrund ihrer individuellen Aufschichtung von praktischem Wissen zu Individuen werden (ebd., S. 38). Einige dieser Funktionen von Ritualen sind für die vorliegende Studie relevant und wurden daher bereits in den Abschnitt 3.3 bzw. 3.4 rezipiert. Die Berliner Ritual- und Gestenstudie hat darauf verzichtet, in Kindertageseinrichtungen zu forschen, daher gibt es im vielfältigen Datenkorpus keine Hin-
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weise auf Besonderheiten von oder Ähnlichkeiten zu Kita-Ritualen. Das Thema der demokratischen Partizipation oder Demokratiebildung wird ebenfalls nicht bearbeitet. Die vorliegende Arbeit blickt erstmals aus einer praxistheoretischen und ritualtheoretischen Perspektive auf Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen. Trotzdem ist die Berliner Ritual- und Gestenstudie mit den darauf aufbauenden Arbeiten sehr hilfreich für die vorliegende Arbeit, auch weil sie die Ritualforschung für den erziehungswissenschaftlichen Diskurs fruchtbar gemacht hat (ebd., S. 70). Zudem hat sie vorgemacht, wie, also mit welchen Methoden und theoretischen Vorannahmen, Rituale in pädagogischen Institutionen gut erforscht werden können.
4.1.3 Ethnografische Forschung in Kindertageseinrichtungen In den letzten zehn Jahren ist ein Zuwachs an ethnografisch angelegten Studien von Kindertageseinrichtungen zu verzeichnen, von denen einige aufgrund ihres Bezugs zu Ritualen für die vorliegende Arbeit relevant sind.
„Professionalität im Kindergarten“ Melanie Kuhn (2013) untersucht, wie Professionalität in Kindertageseinrichtungen hergestellt wird und welchen Dilemmata sich professionell agierende pädagogische Fachkräfte im Alltag ausgesetzt sehen. Sie legt dabei einen Fokus auf den Umgang mit Differenzen, vor allem der ‚Ethnizität‘. Kuhn setzt sich dabei auch intensiv mit den Ritualen auseinander, die sie beobachtet hat, das sind vor allem feierliche und alltägliche Kreis-Rituale (Kuhn 2013, S. 183). Unter kritischer Bezugnahme auf die Ritualmerkmale und -funktionen, die die Autor*innen der Berliner Ritual- und Gestenstudie für andere pädagogische Zusammenhänge herausgearbeitet haben (vgl. Abschnitt 4.1.2), beschreibt Kuhn die täglichen und die besonderen Versammlungen als Rituale. Dabei arbeitet sie eine weitere Funktion heraus: Professionstheoretisch argumentiert sie, dass sie nicht nur den Kindern Stabilität und Sicherheit vermitteln sollen, sondern dass sie als eine pädagogische Form des Umgangs mit Unsicherheit angesehen werden können (Kuhn 2013, S. 201): „Im Lichte dieser unterschiedlichen professionstheoretischen Lesarten von Unsicherheit kann die starke Ritualisierung des Kindergartenalltags als ein professioneller Versuch gelesen werden, unter Bedingungen struktureller Unsicherheit und Unplanbarkeit des elementarpädagogischen Alltagsgeschehens, wenigstens einige der Abläufe
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in ihrem regelhaften Vollzug zu sichern“ (ebd., S. 205). Kuhns Untersuchung bietet hilfreiche Anhaltspunkte für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Gremiensitzungen in Kitas. Ihre analytischen Beschreibungen zeigen, dass die Versammlungen sinnvollerweise als Rituale betrachtet werden können. Ihre Ergänzung der Ritualfunktionen um den Punkt, dass Rituale auch vollzogen werden, um nicht nur den Kindern, sondern auch den pädagogischen Fachkräften Sicherheit in einem von Unsicherheit geprägten Arbeitsalltag zu gewähren, erscheint plausibel und wirft die Frage auf, wie es sich mit Ritualen verhält, die die bestehende Ordnung in Richtung zu mehr Demokratie transformieren sollen. Da die von Kuhn beobachteten Versammlungen in den Kitas keinen Anspruch erheben, die demokratische Partizipation von Kindern zu befördern, lässt sich diese Frage nicht ohne weitere Forschung klären. Hier setzt mein Forschungsvorhaben an.
„Pädagogische Ordnung und Ordnungen der Kinder“ Eine grundsätzliche Analyse, wie Kindertageseinrichtungen erziehen, liefert die ethnografische Arbeit „Kindertageseinrichtungen zwischen pädagogischer Ordnung und den Ordnungen der Kinder“ von Petra Jung (2009). Sie zeigt, dass Kitas nicht nur Orte sind, an denen pädagogisches Handeln stattfindet, sondern dass die Art und Weise, wie Kitas organisiert sind, maßgeblich mitbestimmt, wie sie erziehen (Jung 2009, S. 11). Jung rekonstruiert, dass in Kindertageseinrichtungen verschiedene Ordnungen hergestellt werden, auf die sich die Kinder und Erwachsenen jeweils beziehen können, und die die Unterscheidung zwischen ihnen reproduzieren: „Zum Gegenstand der Untersuchung wurden Ordnungen, auf die Akteure in ihren alltagsweltlichen Praktiken einerseits perspektivisch zugreifen und aus deren Vollzug die Unterscheidung von Akteurgruppen perspektivisch reproduziert wird“ (ebd., S. 234). Als Ordnung bezeichnet Jung „jene Systemhaftigkeit, welche dem Geschehen in Form von Praktiken und Routinen eingeschrieben ist“ (ebd., S. 49 f.), die das Geschehen normiert und strukturiert ohne selbst eine Struktur zu sein, und die in räumlicher und zeitlicher Ausdehnung flexibel sein kann (ebd., S. 49 f.). Jung untersucht, wie die Beziehungen zwischen den „Akteurgruppen“ organisiert sind. Dabei vergleicht sie die Interaktionen von pädagogischen Fachkräften untereinander, Kindern untereinander sowie zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften miteinander (ebd., S. 13). Die Beziehungen zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften analysiert sie als komplementär: Die pädagogischen Fachkräfte stellen eine Umwelt her und erhalten sie aufrecht, innerhalb derer die Kinder sich frei bewegen und selbstständig ihren Tagesablauf vollziehen können und sollen (ebd., S. 91). Die Interaktionen zwischen pädagogischen Fachkräften
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und Kindern bestehen hauptsächlich darin, sich über die Nutzung der Räume und Artefakte sowie die Abläufe zu verständigen. Dabei werden die Rollen von den pädagogischen Fachkräften als „Vorbereiter, Beobachter, Begleiter von Lernarrangements“ (ebd., S. 235) und die Rolle der Kinder als Lernende reproduziert und aufrechterhalten (ebd., S. 235). Jung weist auch darauf hin, dass die Kinder immer wieder versuchen, diese Rollenverteilung aufzuweichen und mehr Körperkontakt zu den Erwachsenen zu erhalten oder sie als Spielpartner*innen zu gewinnen (ebd., S. 236). Jung konstatiert, dass in Kindertageseinrichtungen die Idee der Eigenständigkeit des Kindes leitend ist: Im Alltag sollen sich die Kinder möglichst selbstbestimmt und ohne Einmischung durch die pädagogischen Fachkräfte selbst beschäftigen (ebd., S. 73). Der Tagesablauf von Kindertageseinrichtungen sei über eine Abfolge verschiedener „Sozialformen“ organisiert, d. h. Freispiel, Angebote und Sitzkreise (ebd., S. 75). In der Sozialform des Sitzkreises sei das komplementäre Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen zugunsten einer Gemeinschaftlichkeit kurzfristig aufgehoben, weil Kinder und pädagogische Fachkräfte im Sitzkreis gemeinsam etwas tun, d. h. vor allem etwas singen oder spielen (ebd., S. 99 f.). „Der Sitzkreis ist als einziges Arrangement im Tagesablauf des Kindergartens ein Setting, bei dem sich Kinder und Erzieherinnen gleichermaßen beteiligen (ebd., S. 99)“. In den von Jung beobachteten Sitzkreisen überwiegen die Spiele und Lieder, nur selten werden andere Aktivitäten vollzogen, wie Bücher lesen oder über Regeln sprechen (ebd., S. 100). Jung bezeichnet einige der von ihr beobachteten Praktiken als Rituale, wie etwa die Sitzkreise und Geburtstagsfeiern (ebd., S. 112 ff.), oder das Mandala-Ritual (ebd., S. 211 ff.). Sie scheint dabei aber ein Alltagsverständnis von Ritualen zu verwenden, denn sie theoretisiert den Ritualbegriff nicht und bezieht sich nicht auf die Berliner Ritual- und Gestenstudie. Trotzdem hebt Jungs Forschungsarbeit die Wichtigkeit von Kreisritualen hervor, nicht nur für die Entstehung von Gemeinschaft allgemein, sondern insbesondere für die Möglichkeit eines gemeinsamen Tuns von Kindern und pädagogischen Fachkräften in Kitas mit offenem Konzept. Dies ist für die Analyse der Vollversammlungen und Morgenkreise ein wichtiger Hinweis. Außerdem bestätigt Jung die grundsätzliche pädagogische Geordnetheit von Kindertageseinrichtungen, die vorsieht, dass Kinder und Erwachsene als sich ergänzende Gegensätze agieren. Im Sinne von demokratischer Partizipation müsste diese pädagogische Ordnung anhand der Rollen und der Generationenzugehörigkeit jedoch in Gremiensitzungen aufgehoben werden, wenn es um das Ringen um gemeinsame Entscheidungen von Erwachsenen und Kindern geht. Dies wird eine der Fragen sein, die empirisch zu klären sind.
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„Kultur des Kindergartens“ Jäger u. a. (2006) haben die spezifische „Kultur“ von Kindergärten erforscht und dabei vor allem herausgearbeitet, wie Kinder durch den Kindergarten zu Schulkindern gemacht werden (Jäger u. a. 2006, S. 7). Die Autorinnen stellen heraus, dass die Tagesabläufe stark ritualisiert und dabei vor allem von den pädagogischen Fachkräften bestimmt werden. „Die Kultur des Kindergartens zeichnet sich durch eine relativ starre Ordnung in Raum und Zeit aus, die im Regelfall durch die Kindergärtnerin bestimmt wird. Sie wird symbolisch über Spielzeug und andere Objekte sowie durch ritualisierte Elemente performativ in Szene gesetzt und so von den Kindern gelernt“ (ebd., S. 7). Für die vorliegende Arbeit sind vor allem die Ausführungen über den Stuhlkreis relevant. Die Autorinnen beschreiben, wie von einer pädagogischen Fachkraft das Aushandeln der Sitzordnung als Übung für Sozialkompetenzen genutzt wird. Die interviewte Fachkraft betont, dass die Kinder beim Einnehmen einer Sitzordnung Freundschaftsbeziehungen verhandeln und Erlebnisse bearbeiten. Sie selbst greife bei Konflikten moderierend ein und halte aus, dass es bis zu fünf Minuten dauern könne, bis alle sitzen (ebd., S. 115 f.). „Für die Kindergärtnerin ist das Aushandeln der Sitzplätze Übungsfeld und Lernziel im Bereich Sozialkompetenz“ (ebd., S. 116), schlussfolgern die Autorinnen daraus. Die Sitzordnung ist darüber hinaus auch in Bezug auf die demokratische Partizipation der Kinder wichtig, wie ich in Abschnitt 5.1.1 zeigen werde.
4.1.4 Implikationen aus dem Forschungsstand Aus dieser Zusammenfassung von relevanten Forschungsarbeiten lässt sich ableiten, dass sowohl Rituale als auch Partizipation wichtige Themen bzw. hilfreiche Konzepte für die Analyse der Abläufe in Kindertageseinrichtungen sind.3 Der Blick auf abgeschlossene Forschungs- bzw. Praxisprojekte zum Thema „Demokratische Partizipation in Kindertageseinrichtungen“ konnte zeigen, dass eine praxistheoretische Perspektive auf den Gegenstand noch fehlt; in den vorgestellten Studien wurde vor allem mit dem explizierbaren Wissen der pädagogischen Fach- und Leitungskräfte sowie der Kinder und Eltern gearbeitet.
3Der
Vollständigkeit halber habe ich auch Forschungsarbeiten eingefügt, die erst gegen Ende meines eigenen Forschungsprozesses publiziert wurden. Hand- und Praxisbücher für die Umsetzung von Partizipation habe ich nicht aufgeführt, ein Überblick ist aber im Band „Kinder und Demokratie“ von Iris Ruppin (2018, S. 8, Fußnote 7) zu finden.
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Eine tiefgehende Beschäftigung mit ritualisierten Praktiken der Demokratiebildung steht ebenfalls noch aus. Die Berliner Ritual- und Gestenstudie hat den Weg geebnet, auch Praktiken in pädagogischen Institutionen wieder als Rituale zu konzipieren und ihre dynamischen und kreativen Aspekte anzuerkennen. Eine Verbindung der beiden Perspektiven Demokratiebildung und Ritualforschung, die sich insbesondere für die intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Beteiligungsgremien in Kitas eignen würde, gibt es bisher nicht. Eine aktuellere Studie, die zumindest beide Themen berührt, ist „ Kita-Qualität aus Kindersicht (Quaki)“ von Nentwig-Gesemann u. a. (2017). Die Studie basiert auf teilnehmender Beobachtung und videografierten Interviews, die mit der Dokumentarischen Methode ausgewertet wurden (ebd., S. 18 ff.). Die Autor*innen der Studie arbeiten heraus, dass für die Kinder elementar ist, sich selbst als handlungs- und entscheidungsmächtig erleben zu können. Partizipation ist daher eines der Qualitätskriterien für gute Kindertagesbetreuung aus Sicht der betreuten Kinder. „Immer wieder beziehen sich die Kinder positiv auf Situationen und Erlebnisse, in denen sie die Erfahrung gemacht haben, als eigenständige und gleichwürdige Personen anerkannt und einbezogen zu werden“ (Nentwig-Gesemann u. a. 2017, S. 76). Die Studie thematisiert auch Rituale. Die Autor*innen fordern, dass die Kinder an der Ausgestaltung dieser beteiligt sein sollen: „Das Grundbedürfnis von Kindern, sich an verlässlichen Abläufen, Regeln und Ritualen zu orientieren, darf keinesfalls bedeuten, dass ihnen die Mitwirkungsrechte an der Festlegung und Ausgestaltung dieser Abläufe, Regeln und Rituale verwehrt wird“ (Nentwig-Gesemann u. a. 2017, S. 86). Hier wird auf ein mögliches Spannungsfeld zwischen der Orientierungsfunktion von Ritualen und ihrer partizipativen Gestaltung hingedeutet. Auf der Basis der Ergebnisse wurden und werden Fortbildungen und praktische Handreichungen für Kindertageseinrichtungen entwickelt und durchgeführt, die helfen sollen, die Perspektive von Kindern auf gute Qualität für Kita in die Qualitätsentwicklung von Kindertageseinrichtungen einzuspeisen. Der Bericht zur begleitenden Forschung soll im Sommer 2020 vorliegen.4
4Diese
Ankündigung stammt von der Projektwebsite: https://www.bertelsmann-stiftung.de/ de/unsere-projekte/laendermonitoring-fruehkindliche-bildungssysteme/projektnachrichten/ kinder-als-akteure-der-qualitaetsentwicklung-in-kitas/, zuletzt geprüft am 08.05.2020.
4.2 Zusammenfassung der Forschungsfragen
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4.2 Zusammenfassung der Forschungsfragen In den vorangegangenen Kapiteln zu den verwendeten Theorien sind immer wieder Fragen aufgekommen, die sich durch die Auseinandersetzung mit bestehenden Texten nicht beantworten lassen, weil sie davon abhängen, was in den konkreten Praktiken in der Kita passiert. Auch aus der Darstellung des Forschungsstands haben sich weitere Fragen ergeben. Diese Fragen werde ich nun noch einmal bündeln und zusammenführen. Die zentrale Forschungsfrage, die sich daraus ergibt, ist: Was passiert, wenn demokratische Partizipation von Kindern in der Kita ritualisiert wird? Diese Frage adressiert vor allem die Gestaltung von Gremiensitzungen für die Beteiligung von Kindern. Die Verfasser*innen des Konzepts „Die Kinderstube der Demokratie“ haben diese Frage antizipiert, wie bereits im Kapitel zur Kritik am Konzept dargelegt: „Viele Erwachsene befürchten, dass formalisierte Beteiligungsrituale pseudodemokratisch und nicht kindgerecht seien und hier erwachsenenspezifische Formen der Mitbestimmung ungerechtfertigterweise auf Kinder übertragen würden“ (Hansen u. a. 2004, S. 21). Die Autor*innen weisen selbst darauf hin, dass die Befürchtung bestehe, das Formale, das Ritualisierte mache das demokratische Potential von Kita-Gremiensitzungen zunichte und sei nicht kindgerecht. Sie weisen diesen Vorwurf oder Einwand zurück, fügen aber keine empirischen Erkenntnisse dazu an. Ob also „formalisierte Beteiligungsrituale“ kindgerecht sein können oder ob sie eine „Pseudodemokratie“ einführen, sind Ausgangsfragen der vorliegenden Arbeit. Daneben werden aus den vorangegangenen Kapiteln folgende Fragen relevant: • Inwieweit kann eine Ritualisierung demokratischer Beteiligungspraktiken in Kindertageseinrichtungen diese auf Dauer stellen (deliberative Demokratie) und trotzdem noch offen für eine Veränderung im Sinne einer Ausweitung (radikale Demokratie) bleiben? • Wie und wodurch verändern sich ritualisierte Demokratiepraktiken im Lauf der Zeit? • Was lernen und wie bilden sich die Akteur*innen in ritualisierten Demokratiepraktiken in der Kita? • Welche Ordnung wird in Ritualen der Demokratiebildung aufgeführt und damit (re)produziert? • Disziplinieren Demokratierituale in der Kita und wenn ja: wie? • Was wird in Demokratieritualen auf welche Weise transzendiert?
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4 Das Forschungsprogramm
Im folgenden Kapitel werde ich darlegen, wie ich mich einer Beantwortung dieser Fragen genähert habe.
4.3 Forschungsstrategie: Ethnografie Die vorliegende Studie ist als Ethnografie angelegt. Die beschriebene Fragestellung mit ihrem Fokus auf ritualisierten Praktiken legt nahe, Forschungsmethoden zu nutzen, die nicht ausschließlich auf die explizite Versprachlichung durch die handelnden Akteur*innen setzen. Viele Aspekte von Praktiken sind den sie ausführenden Personen nicht unmittelbar reflexiv zugänglich, weil sie vor allem körperlich-praktisch vollzogen werden und daher auch nicht unbedingt einer kognitiven Auseinandersetzung etwa in Form einer Reflexion bedürfen. Bei Praktiken, die durch ihre relativ strikte Wiederholung ritualisiert werden, spitzt sich dieser Befund noch zu; diese Praktiken werden gerade dadurch ritualisiert, dass sie nicht mehr reflexiv hinterfragt, sondern ‚nur noch‘ ausgeführt werden. Die Körper der Teilnehmenden erlangen und verfügen über Wissen, welches „[…] zum großen Teil überhaupt kein kognitives oder auch nur sprachlich verfasstes Wissen [ist]“ (Hirschauer 2008, S. 977 f.). Ein zweites Argument, das auch mit der „Schweigsamkeit des Sozialen“ (Hirschauer 2001) verknüpft ist, spricht ebenfalls für eine ethnografische Herangehensweise: Viele der Akteur*innen im Feld können (noch) nicht sprechen oder haben (noch) keine (politische) Stimme. Schließlich treffen in einer Kindertageseinrichtung Kinder im Alter von 6 Monaten bis 6 Jahren und Erwachsene unterschiedlichen Alters aufeinander, die jeweils unterschiedliche generationen-, geschlechts- und bildungsspezifische Konzepte darüber haben, was (von den anderen) sag- und verstehbar ist. Diese Konzepte herauszuarbeiten und ggf. einer Kritik zu unterziehen, ist durch eine ethnografische Forschungsweise möglich. Drittens werden Praktiken auch dadurch zum Ritual gemacht, dass sie für Teilnehmende und Außenstehende als eine Performance aufgeführt werden (Bell 1997, 138–139; 164–169). Das Ritual braucht also Zuschauer*innen. Dem trägt die Ethnografie ebenfalls Rechnung, weil sie der teilnehmenden Beobachtung der forschenden Person an den Aktivitäten des Feldes einen hohen Stellenwert einräumt. Im Folgenden werde ich eine Einführung in die erziehungswissenschaftliche Ethnografie geben und dieser dann gegenüberstellen, wie ich tatsächlich praktisch vorgegangen bin.
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4.3.1 Ethnografie Die Ethnografie gewinnt seit einigen Jahren in der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Forschung wieder an Bedeutung (Thole 2010, S. 28)5, was zum einen mit der wachsenden Relevanz von praxistheoretischen Forschungsansätzen zusammenhängt, zum anderen mit der Offenheit und Kreativität, die sie den sie verwendenden Personen einräumt. Die Ethnografie ist mehr eine Forschungsstrategie und eine Haltung zum Verhältnis von Theorie und Praxis als eine konkrete Forschungsmethode. Ihr Gegenstandsbereich sind Praktiken, also gelebte Sozialität in Situationen. Der Ethnografie geht es um soziale Konstellationen, die sich unter anderem durch Personen konstituieren (Hirschauer und Amann 1997, S. 24). Soziale Situationen können aber auch unbelebte Dinge oder übernatürliche Entitäten umfassen. Die Ethnografie ist daher zwischen Biographieforschung als der Beschäftigung mit Individuen und Demographie als der Beschäftigung mit der Gesamtheit von Bevölkerungen angesiedelt (Breidenstein u. a. 2015, S. 31 ff.). Die Ethnografie eignet sich damit sehr gut, um „Theorien begrenzter Reichweite“ zu entwickeln, d. h. „[…] in einer bestimmten theoretischen Perspektive begrenzte Ausschnitte der sozialen Wirklichkeit […]“ (Lindemann 2015, S. 109) zu untersuchen. Ziel einer Ethnografie ist es, sich einem auf der Ebene von Praktiken angesiedelten Phänomen empirisch anzunähern und dieses Phänomen „in seiner Vielfältigkeit, Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit [zu] zeigen“ (Breidenstein u. a. 2015, S. 9). Der Erkenntnisstil wird im Unterschied zum Beweisen und Problematisieren auch als Stil des „Entdeckens“ bezeichnet (Hirschauer und Amann 1997, S. 8). Es geht darum, durch persönlichen und intensiven Kontakt zum Forschungsfeld dessen „lokale Eigenlogiken“ zu entdecken (Lange und Wiesemann 2012, S. 264). Das setzt einerseits voraus, dass das ‚Feld‘ auch dann existiert, wenn die forschende Person nicht zugegen ist. Andererseits ist seit der ‚Writing-Culture‘-Debatte ebenfalls Konsens, dass das ‚Feld‘ eine Konstruktion der forschenden Person ist. Die Definition des Feldes ist also durch eine Spannung gekennzeichnet: „Ob die Ethnografie eher ‚natürlich‘ existierende soziale Beobachtungsgegenstände darstellt oder aber mit ihren Beobachtungs-, Analyse- und Darstellungstechniken voraussetzungsvolle Wissensobjekte konstruiert, bleibt eine nicht auflösbare Grundspannung“ (Breidenstein u. a. 2015, S. 10). Der Beschreibung des Felds ist daher ein eigener Abschnitt gewidmet (vgl. Abschnitt 4.4.1). 5Es
gibt eine erkennbare Zunahme von Dissertationsvorhaben, die sich als Ethnografie pädagogischer Phänomene bezeichnen, eine Zunahme von Fachtagungen und Fachartikeln zur Methodologie.
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Die Ethnografie hat sich seit ihren Ursprüngen in der Ethnologie bzw. Kulturanthropologie beständig weiterentwickelt. Wichtige Meilensteine sind die Hinwendung zum Bestehen auf dem persönlichen Kontakt zum ‚Feld‘, die ‚Writing-Culture‘-Debatte der 1980er Jahre und die Hinwendung zum Beforschen der „eigenen Kultur“ im Sinne der Alltagssoziologie und Pädagogik. Bevor Bronislaw Malinowski in den 1920ern das Postulat aufgestellt habe, die*der Ethnograf*in möge den Lehnstuhl verlassen und selbst mit den Menschen vor Ort sprechen, begnügten sich die mit Prozessen der Kolonialisierung verbundenen Forschungsexpeditionen damit, Reiseberichte und Informationen aus der Kolonialverwaltung, von Missionar*innen und von bezahlten Informant*innen zusammenzutragen (Breidenstein u. a. 2015, S. 14). Malinowski habe aus einer neuen Bewegung innerhalb der Anthropologie Forderungen für eine Methode der Ethnografie herausgearbeitet und betonte dabei die Notwendigkeit der Unmittelbarkeit der Forschung. Ziel dabei müsse sein, die Lebensumstände und die Sicht der Beforschten auf die Welt zu verstehen (Breidenstein u. a. 2015, S. 16 f.). Dieses Ziel, ein existierendes ‚Feld‘ verstehen und es sprachlich repräsentieren zu können, wurde im Zuge der Debatte über die Konstruiertheit von Ethnografie und ihren Gegenständen grundlegend in Frage gestellt. Die ‚Writing-Culture‘-Debatte bzw. die „Krise der ethnographischen Repräsentation“ (Fuchs und Berg 1999), ausgelöst durch die Veröffentlichung von Malinowskis Tagebüchern6 und Edward Saids Orientalismusbegriff haben deutlich gemacht, dass Ethnografie nicht nur ‚harmlos‘ beschreibend, sondern vielmehr zuschreibend wirksam wird, d. h. sie berichtet nicht sachlich-objektiv die Realität, sondern sie schreibt dem Feld und den dort agierenden Personen bestimmte Eigenschaften, Praktiken und Denkweisen zu. Sie konstruiert also eine Realität (Breidenstein u. a. 2015, S. 18 f.). Die Zuwendung zu Phänomenen, die sich nicht am anderen Ende der Welt, sondern vielmehr innerhalb derselben Stadt ereignen, markiert einen weiteren Meilenstein der Geschichte der Ethnografie, der zeitlich mit dem Methoden-
6Die
privaten Tagebücher Malinowskis wurden posthum im Jahr 1967 von seiner Witwe veröffentlicht. Sie zeigen, wie schwierig sein Verhältnis zu den Inselbewohner*innen war. Er schwankte ständig zwischen sexuellem Begehren und der vollständigen Abwertung der Frauen auf der Insel. Seitenweise ließ er sich über die Vorzüge verschiedener Damen seines Heimatlandes aus. Häufig konnte er sich nicht zur Arbeit motivieren, sondern las Romane und erlitt dann Wutausbrüche gegenüber den Inselbewohner*innen (Malinowski 2007 [1967]).
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postulat von Malinowski zusammenfällt. Zentral für diese Neuausrichtung ist das Entstehen der Chicago School, die eine neue, alltagsorientierte Form von soziologischer Forschung entwickelt und praktiziert hat (ebd., S. 20–25). Während also Ethnografie und Soziologie in den 1920ern zusammen neue Wege gehen, wird auch in der Pädagogik längst ethnografisch geforscht. Werner Thole sieht z. B. in den pädagogischen Studien von Pestalozzi, Wichern und Rousseau die ‚methodisch naiven‘ Vorläufer der Beobachtungsstudien der 1910er- und -20er-Jahre von Clemens Schultz und Georg Dehn. Diese beschäftigen sich mit dem Leben von Jugendlichen, den sogenannten ‚Halbstarken‘. „Beide Studien legen zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowohl einen wesentlichen Grundstein für die qualitative, auf ethnografischen Verfahren basierende Kinder- und Jugendforschung wie auch für die Ethnografie des Pädagogischen“ (Thole 2010, S. 21). Entsprechend betont der Autor, dass die Pädagogik die Ethnografie nicht neu für sich entdeckt habe, sondern dass es sich vielmehr um eine Renaissance handele (Thole 2010, S. 17). Thole zeigt auf, welche empirischen pädagogischen Studien in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Vorläufer der heutigen Ethnografie gewertet werden können, darunter auch die Arbeiten von Martha und Hans Muchow (ebd., S. 21–24). Er stellt dabei die Studie von Hildegard Jüngst zur „jugendlichen Fabrikarbeiterin“ von 1928 besonders heraus, weil sie auf der Basis der Auseinandersetzung mit anderen Forschungsmethoden, die sie für ihren Forschungsgegenstand als unzureichend bewertet, eine ethnografische Vorgehensweise entwickelt (Thole 2010, S. 22). Diese Studien seien bisher nicht ausreichend als ethnografische Studien gewürdigt worden. Da sie sich als psychologische Studien ausweisen würden, seien sie heute nicht leicht als pädagogische Ethnografien erkennbar. Die Vormachtstellung der empirie-skeptischen geisteswissenschaftlichen Pädagogik in den 1920ern sei die Ursache für diese Camouflage. Die Studien verorteten sich als psychologische Studien, wenngleich sie bei heutiger Analyse ‘klassische’ pädagogische Themen zum Gegenstand hatten, wie z. B. Soziokultur, Lebenslage und Erziehungswirklichkeit einer bestimmten sozialen Gruppe (ebd., S. 24). Dabei seien diese frühen Studien methodisch sehr vielfältig gewesen: „Obwohl im Kern beobachtenden Verfahren vertrauend, zeichnet die frühen ethnographischen Studien eine methodische Vielfalt und Kreativität aus, die darauf schließen lässt, dass die gewählten Forschungszugänge über die jeweils anvisierten Forschungsfragen operationalisiert wurden und nicht umgekehrt“ (ebd.). Das bedeutet, die spezifischen ethnografischen Zugänge wurden entwickelt, um bestimmte Forschungsfragen beantworten zu können und nicht umgekehrt. Was aber sind die verbindenden Elemente der verschiedenen als Ethnografie bezeichneten Ansätze? Was kennzeichnet die Ethnografie?
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4.3.2 Kennzeichen der Ethnografie Obwohl die Ethnografie über eine lange und wechselvolle Geschichte verfügt und dabei weniger eine Methode als eine Haltung ist, lassen sich doch bestimmte Kennzeichen herausarbeiten. Diese sind unter anderem: Der persönliche Kontakt mit dem Forschungsgegenstand, der in seinem als „Forschungsfeld“ bezeichneten Kontext untersucht wird, und ein spezifisches Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis. Diese Merkmale werde ich nun ausformulieren.
Persönliche Anwesenheit Die persönliche Anwesenheit der*des Ethnograf*in im Feld ist für die Autoren des Handbuchs „Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung“ (Breidenstein u. a. 2015) ein zentrales Merkmal einer guten Ethnografie. Dies hat mehrere Gründe: Die persönliche Anwesenheit im Feld ist verbunden mit einem Verlust der Kontrolle darüber, wie und zu welchen Erkenntnissen die Forscherin gelangt, und mit Reaktionen des Feldes auf die Forscherin. Beides wird, anders als in hypothesenprüfenden Forschungsstilen, als erkenntnisförderlich angesehen, weil sich in Kontrollverlust und Reaktanz die Eigenlogik des Feldes entfalten kann (ebd., S. 37 f.). Bereits in den frühen pädagogisch-ethnografischen Studien sind die Forscher*innen mit den sie interessierenden Personen in Kontakt getreten und haben auf der Basis der Beobachtungen, die sie dabei gemacht haben, entschieden, mit welchen Methoden ihre Fragen geklärt werden können (Thole 2010, S. 22 f.). Neben diesem Argument, das zusammenfassend als ein Einschreiben des Feldes in den Forschungsprozess bezeichnet werden kann, sprechen mindestens drei weitere Argumente für die längere, persönliche Anwesenheit im Feld: 1.) der Forschungsgegenstand des Sozialen vollzieht sich in konkreten Situationen, in denen das Soziale öffentlich dargestellt wird. Dadurch kann es in seiner Entstehung unmittelbar beobachtet werden; 2.) die Forscherin hat, anders als Kameras oder Aufnahmegeräte, einen Sinn dafür, das Relevante aus Situationen herauszulesen, oder kann dies durch ihre Teilnahme an den Situationen erlernen; 3.) die Forscherin kann sich mit den zeitlichen Abläufen vertraut machen und auf dieser Basis die nachzeitigen Erzählungen und Beschreibungen der anderen Teilnehmer*innen besser deuten. Die Berichte von Teilnehmer*innen sind hingegen überformt durch deren (implizites) Wissen darüber, wie man wem was erzählt (Breidenstein u. a. 2015, S. 39 ff.). Was aber ist dieses Feld, das sich einschreibt, eine Eigenlogik hat und gleichzeitig durch die Forscherin mitproduziert wird?
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Forschungsfeld Anhand des Begriffs des ‚Feldes‘, elementarer Bestandteil der Prämisse, Feldforschung zu betreiben, wird deutlich, dass die Ethnologie ein Spannungsfeld zwischen Naturalismus und Konstruktivismus aufmacht: Einerseits geht sie davon aus, dass das jeweilige Feld, das sie entdecken will, auch ohne die Anwesenheit eines*r Forschers*in vorhanden ist und eine eigene Logik oder Ordnung hat, andererseits weiß sie darum, dass das Feld eine Konstruktion, ist, die die*der Forscher*in in Auseinandersetzung mit Theorie und Empirie vornimmt. Dieses Spannungsfeld lässt sich in keine Richtung auflösen (Breidenstein u. a. 2015, S. 10). Pragmatisch gerät diese Spannung meines Erachtens jedoch in den Hintergrund, wenn das ‚Forschungsfeld‘ verstanden wird als der Kontext, in dem das zu untersuchende Phänomen auftritt. Alle möglichen Personen, Gegenstände, Abläufe und Orte, die zum Kontext des Phänomens gehören, können also als das ‚Feld‘ definiert werden. Für die Ethnografie ist kennzeichnend, dass die Forschung ihren Gegenstand nicht von seinem Kontext löst, sondern dass der Kontext zum Gegenstand dazugehörend, diesen mitproduzierend anerkannt wird. Im Unterschied zu anderen Formen der Sozialforschung „belässt [die Ethnografie] die Menschen an ihrem Ort, untersucht ihren Alltag und geht davon aus, dass sich in der Interaktion im Alltag ein anderes Verhalten beobachten lässt als zum Beispiel in einem Labor. Der Schlüsselbegriff dafür lautet ‚Kontext‘“ (Scholz 2012, S. 118). Da ein Kontext prinzipiell nicht abschließbar zu erfassen ist (Derrida 1999/1972, S. 327)7, werden seine Grenzen in der Forschung durch die forschende Person selbst und durch die Erfahrungen, die sie macht, notwendigerweise festgelegt, d. h. konstruiert. Das Feld ist damit also das interessante soziale Phänomen in seinem Kontext, dessen Umrisse von der Forscherin basierend auf ihrem theoretischen Wissen und ihren praktischen Erfahrungen mit dem Phänomen im Laufe des Forschungsprozesses festgelegt werden. In der vorliegenden Arbeit habe ich das Feld entsprechend als die Kindertageseinrichtung definiert. Mich interessieren als Gegenstand vor allem solche
7Jacques
Derrida bezieht dies vor allem auf den Kontext sprachlicher Zeichen, ich aber gehe davon aus, dass diese Behauptung ebenso für nicht-sprachliche Zeichen, Gesten, Praktiken, etc. gelten muss.
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Praktiken, die in irgendeiner Weise ritualisiert wurden und in einem direkten Zusammenhang mit Demokratiebildung stehen. Nicht-ritualisierte Praktiken, die von den pädagogischen Fachkräften mit der Absicht, Demokratiebildungsprozesse zu fördern, durchgeführt werden, werden am Rande jedoch auch berücksichtigt.
Verhältnis Theorie – Praxis Ethnografie hat, so habe ich oben angedeutet, ein bestimmtes, pragmatisches Verständnis des Verhältnisses von Theorie und Praxis, das, bedingt durch die Krise der Repräsentation und die daraus resultierende Neuausrichtung, um den Konstruktionscharakter von wissenschaftlichem Wissen weiß und sich daher auf das Formulieren von Theorien begrenzter Reichweite konzentriert. Auch für die eigene Verbindung von Theorie und Praxis seien für Ethnograf*innen sozialwissenschaftliche Theorien mittlerer Reichweite oder Denkfiguren nützlich. Diese erzeugten eine Sensibilität für sozialwissenschaftliche Fragen, dienten in erster Linie aber als Werkzeuge, um die „Bedeutungsstrukturen eines empirischen Falles herauszuarbeiten“ (Breidenstein u. a. 2015, S. 173). Vor diesem Hintergrund müssten auch nicht all ihre sozialwissenschaftlichen Implikationen und Hintergrundbezüge übernommen werden (ebd.). Thema der zeitgenössischen Ethnografie ist, wie soziale Wirklichkeit hergestellt wird: „Angeregt und provoziert durch diese gesellschaftlichen Umstrukturierungen verschiebt sich der ethnographische Blick weg von den statischen Registrierungen und dem nachvollziehenden Verstehen des Vorgefundenen hin zu der Identifizierung und Rekonstruktion der Prozesse der Herstellung von Wirklichkeit“ (Thole 2010, S. 31). Da das Feld zudem mitbestimmen darf, welche Forschungsmethoden genutzt werden, und die persönliche Anwesenheit der Forscherin ein Muss ist, kann nicht mit den klassischen Kriterien der Objektivität, Reliabilität und Validität für die hohe Qualität der Ergebnisse einer ethnografischen Studie argumentiert werden. In einer Ethnografie muss vielmehr davon ausgegangen werden, dass andere Forscher*innen mit anderen Theorien im Kopf und anderen Zugangsmöglichkeiten auch zu anderen Ergebnissen kommen würden. Darauf hat sehr eindrücklich Lila Abu-Lughod (1985) in ihrem klassischen Aufsatz über die soziale Welt von Beduinen-Frauen in der ägyptischen Wüste hingewiesen. Abu-Lughod stellt in dem Aufsatz u. a. dar, wie sie die Teilnahme an der sozialen Sphäre der Männer, die aufgrund ihres Geschlechts ohnehin stark eingeschränkt war, während der Feldforschung aufgab, um umso intensiver mit den Frauen über ihre sozialen Beziehungen sprechen zu können (Abu-Lughod 1985, S. 638 f.).
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4.3.3 Der Forschungsprozess Die beschriebenen Kennzeichen legen eine praktische Vorgehensweise nahe, die zunächst nur als Ideal beschrieben werden kann. Dafür orientiere ich mich am Handbuch von Breidenstein u. a. (2015), da es nicht nur O rientierungswissen für die Gestaltung der Anwesenheit im Feld anbietet, sondern auch für die Bearbeitung der in Auseinandersetzung mit dem Feld geschriebenen Texte, d. h. für die Analyse. Die oben genannte längere Anwesenheit im Feld wird zwingenderweise eingeleitet durch den Feldeinstieg, der bereits wichtige Rückschlüsse darauf zulässt, wie das Feld organisiert ist. In der Rollenzuweisung8, dem Grad der Offenheit der Kommunikation und dem Umgang mit Irritationen, die die forschende Person auslöst, zeigt sich die Ordnung oder Unordnung des Feldes. Die Autoren des Handbuchs „Ethnografie. Praxis der Feldforschung“ bekräftigen dies: „Der Feldzugang ist also Bestandteil der Forschung, und zwar deshalb, weil das Feld in der Art und Weise, wie es mit dem kontaktsuchenden Ethnografen umgeht, Auskunft über sich selbst erteilt“ (ebd., S. 59). Aus diesem Grund ist der Rekonstruktion des Feldeinstiegs in dieser Arbeit ein eigenes Kapitel gewidmet (Abschnitt 4.4.2). Ist der Einstieg ins Feld geschafft, gilt es stets, tragfähige Beziehungen zu den Personen9 aufzubauen und zu erhalten, weil diese wichtige Informationen liefern und Zugänge schaffen, aber auch verstellen können. Dabei ist mitunter notwendig, die im Feld etablierten Hierarchien, Komplizenschaften und Feindschaften zu ignorieren, wodurch die*der Forschende häufig die Rolle eines Sonderlings zugewiesen bekommt (ebd., S. 50 ff.). In pädagogischen Ethnografien werden Forschende hingegen häufig als Praktikant*innen angesprochen (Schoneville u. a. 2006, S. 239). Durch teilnehmende Beobachtung, die je nach Situation mal mehr Teilnahme, mal mehr Beobachtung beinhaltet, macht sich die*der Forscher*in mit dem Feld vertraut. Das Verständnis von Beobachtung umfasst dabei nicht nur die visuelle
8Im
pädagogischen Kontext wird der*dem Forscher*in häufig eine Praktikant*innenrolle zugewiesen (vgl. Schoneville u. a. 2006). 9In meinem Fall waren das Kinder, pädagogische Fachkräfte, Praktikant*innen unterschiedlichen Alters, Eltern und die Leitungskraft. Retrospektiv ist mir dies mit einigen Kindern, Fachkräften und der Leitung gut geglückt, die Eltern waren jedoch nur sehr wenig beteiligt. Da sie jedoch ebenfalls nicht an den Praktiken der Demokratiebildung beteiligt waren, spiegelt die weitgehende Abwesenheit von Eltern in meinen Ergebnissen gut die Realität in der Kita wieder.
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Wahrnehmung, sondern die Nutzung aller Sinnesorgane sowie die Fähigkeit, sich mit etwas vertraut zu machen und sich wieder zu distanzieren. Die Autoren des o. g. Handbuchs nennen letztere Fähigkeit den „sozialen Sinn“ (Breidenstein u. a. 2015, S. 71). Die Beobachtung kann durch verschiedene Strategien verbessert werden. In Anlehnung an einen Text von Thomas Scheffer arbeiten die Autoren heraus, dass es helfe, wiederholt zu beobachten, also nicht permanent in der Beobachterfunktion präsent zu sein, sondern zu verschiedenen Zeitpunkten. Es helfe weiterhin, nicht nur die Situation von Interesse zu beobachten, sondern einzelne Personen oder Objekte zu begleiten, auf Räume oder Personen zu fokussieren und Perspektivwechsel vorzunehmen (ebd., S. 75 ff.). Während der Anwesenheit im Feld werden Notizen angefertigt, die später, also nach Rückkehr an den Schreibtisch, zu Protokollen ausgebaut werden sollen. Der selbstgewählte Zwang, das Beobachtete direkt oder später zu notieren, führt zu einer veränderten Wahrnehmung bei der forschenden Person. Die Notizen sind also nicht nur Gedächtnisstütze, sondern auch Mittel zum Zweck einer analytischen Distanz zum Geschehen (ebd., S. 87). Dabei hängt vom Feld ab, wie offen diese Notizen gemacht werden können: Ethnograf*innen müssen entscheiden, wann und ob ihr Schreiben irritiert oder nicht (ebd., S. 88). Einerseits ist es für die Qualität der Notizen förderlich, wenn sie so bald wie möglich angefertigt werden, andererseits besteht stets die Gefahr, durch zu intensives Mitschreiben wichtige Aspekte zu verpassen (ebd., S. 87 f.). In der Kita wird sehr häufig beobachtet und aufgeschrieben, was die Kinder tun, weil eine Bildungsdokumentation zu den aktuellen Qualitätsstandards der pädagogischen Arbeit in Kindertageseinrichtungen gehört. Daher habe ich nach anfänglichem Zögern schnell begonnen, mir für alle gut sichtbar viele Stichpunkte zu machen. Die Kinder ließen sich dadurch zunächst nicht beirren, begannen aber nach einer Weile, mein Notizbuch in Beschlag zu nehmen. Sie machten Vorschläge, was ich zeichnen oder schreiben soll, oder baten darum, selbst ihre Namen in mein Buch eintragen zu dürfen. Neben den schriftlich verfassten Notizen können auch Video- oder Audioaufzeichnungen gemacht werden, um Situationen, die besonders komplex, detailliert oder flüchtig sind, besser analytisch erfassen zu können (ebd., S. 89 f.). Auch ich habe von den wöchentlichen Vollversammlungen der Kita Audiomitschnitte gemacht. Das wiederholte Anhören ließ mich besser nachvollziehen, wie die Kinder und die pädagogischen Fachkräfte im Gespräch aufeinander Bezug nahmen. Auf der Basis der Notizen und Mitschnitte werden Protokolle verfasst, die detaillierter und zusammenhängender bestimmte Situationen, Abläufe oder Räume für die potentiellen Leser*innen der Arbeit beschreiben. Es scheint rat-
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sam, diese möglichst schnell nach Rückkehr an den Schreibtisch zu verfassen, weil sonst wichtige Details verloren gehen und es immer mehr Überwindung kostet, das Beobachtete aufzuschreiben (ebd., S. 97 f.). Ich habe auch die entzerrende Vorgehensweise von Peter Cloos (2010) ausprobiert, die vorsieht, das Protokoll zu erzählen, statt zu schreiben, diese Erzählung aufzunehmen und schließlich zu transkribieren. Ich bin allerdings vom Ergebnis weniger überzeugt als von dem direkten schriftlichen Verfassen von Protokollen. Die narrativen Beobachtungsprotokolle sind aufgrund der Erzählzwänge anekdotischer, weniger nach zeitlichem Verlauf geordnet, wiederholen bestimmte Aspekte und lassen andere dafür außen vor, sind also weniger umfassend. Auch ist es beim direkten Verschriftlichen leichter, emotionale Zuschreibungen und Bewertungen auszulassen oder in einem separaten Schriftstück zu sammeln. Da das Verfassen der Protokolle ein so langwieriger Prozess ist, fallen bestimmte Aspekte während des Formulierens wieder ein, die sonst verloren gehen. Wichtig ist, dass das Erarbeiten der Protokolle nicht nur ein Verfassen von Hilfstexten, eine Vorarbeit für die ‚eigentliche‘ Arbeit, die Analyse ist. Jedes Schreiben ist immer schon Analyse (Breidenstein u. a. 2015, S. 102). Erhebung und Auswertung bzw. Empirie und Theorie lassen sich in der Ethnografie nicht als strikt voneinander getrennte Phasen begreifen, sondern sie sind untrennbar miteinander verschränkt (Hirschauer und Amann 1997, S. 36). Die Beobachtungsprotokolle sind Artefakte dieser intensiven Verschränkung. Ziel ist es, der Leser*innenschaft eine plausible und authentische Beschreibung einzelner Aspekte eines bestimmten Phänomens zu bieten und dadurch für die gesamte Arbeit Legitimität zu schöpfen. „Erst aus der eigenen Mitgliedschaft des Forschers zieht die Feldnotiz, und letztlich die ethnografische Arbeit, ihre Legitimität, und daraus zieht sie den Anspruch, authentisch zu sein“ (Dellwing und Prus 2012, S. 166). Die Analyse ist ein Thema, das in vielen Handbüchern über Ethnografie fehlt. Der Grund dafür ist nach Ansicht von Breidenstein u. a., dass der Prozess der Analyse aus so vielen verschiedenen und alltäglich bis banal erscheinenden Schritten besteht, dass es schwierig ist, sie retrospektiv zu explizieren (Breidenstein u. a. 2015, S. 110 f.). Der Datenbegriff der Ethnografie widersetzt sich einer strengen Trennung zwischen einem objektiv aufgezeichneten Datum und einer nachträglich entwickelten Interpretation, die positivistischen Modellen der Datenanalyse zugrunde liegt. Zwar lassen sich verschiedene Ebenen und Schichten der Inter-
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pretation ethnografischer Daten unterscheiden, allerdings existieren Daten in der Ethnografie nicht außerhalb einer interpretierten sozialen Realität10 (ebd., S. 114). Die praktische Hauptaufgabe des Analyseprozesses besteht darin, Daten, Themen und Argumente in kleinteiligen Sequenzen analytischer Arbeit zu einem tragfähigen Netz zu verknüpfen (ebd., S. 120). Es geht in der Analyse darum, aus dem im Feld Geschriebenem und sozialwissenschaftlichen Theorien eine Einheit zu machen, die beide Textsorten produktiv aufeinander bezieht. Dafür ist es notwendig, das Material (Fotos, Notizen, Protokolle, Dokumente, Objekte) zu sortieren und zu erschließen. Beim offenen Codieren werden während des wiederholten Lesens des Materials assoziierte Begriffe aus der eigenen Fachdisziplin oder aus dem Feld an das Protokoll angetragen (ebd., S. 126 f.). Ziel ist, dass sich dadurch Fragen ergeben, die im Zuge der Analyse beantwortet werden können oder dass Verbindungen von bestimmten Codierungen offengelegt werden. Die Praxis des offenen Codierens soll einen Überschuss erzeugen, der die „analytische Fantasie“ anregt (ebd., S. 128). Die Codes werden dann im nächsten Schritt zu Listen zusammengefügt und ggf. hierarchisiert, sodass die Verbindungen, Klassen und Familien von Codes deutlich hervortreten. Dadurch wird im besten Fall die chronologische Ordnung des Materials in eine thematische Ordnung überführt (ebd., S. 138). Die Codierung hat also zum Ziel, das gesamte Material ordnend zu bearbeiten. Den nächsten Schritt bilden Fallanalysen von Ereignissen oder Situationen, Dokumenten, Personen, räumlichen Anordnungen etc. Jedes Feld beinhaltet Dutzende von Fällen, die für die Analyse in Frage kommen. Wichtig ist daher, solche Fälle für die Analyse auszuwählen, in denen sich generalisierbare Muster, Strukturen und Bedingungen ausdrücken. Die Fallanalysen haben zum Ziel, das Verallgemeinerbare anhand des Besonderen darzustellen (ebd., S. 139). Andererseits zeigen sich die „zentralen Aspekte der Normalität des Feldes“ (ebd., S. 140) an vielen Stellen des Materials. Die Autoren schlagen daher ganz pragmatisch fünf Kriterien vor, die es erleichtern sollen, aus der Fülle des Materials geeignete Fälle auszusuchen (ebd., S. 140). Diese sind: 1. eine besonders detailreiche und nuanciert beschriebene Qualität der auszuwählenden Sequenzen; 2. ein möglichst hoher Kontrast zwischen den einzelnen ausgewählten Fällen; 3. eine hohe Relevanzsetzung des Falles durch die Personen im Feld;
10Die
Erziehungswissenschaft ist jedoch ‚stark‘ in der Analyse von qualitativen Daten, daher hat sich eine Mischform herausgebildet, die so tut, als seien die stark vorinterpretierten Protokolle und Notizen ‚erhobene‘ Daten und könnten genau wie Transkripte oder Dokumente interpretiert werden.
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4. wenn der Fall ganz typisch erscheint für das Feld, also in ähnlicher Form immer wieder auftaucht; 5. wenn der Fall sehr untypisch oder irritierend ist (ebd., S. 141). Nach diesen Kriterien wurden die Sequenzen bzw. die Fälle ausgewählt, die einer genaueren Analyse unterzogen wurden. Die Fallanalysen dienen dann dazu, einzelne Fälle genauer zu explizieren und miteinander zu vergleichen, das Verhältnis zwischen dem Typischem und seinen Ausnahmen auszuloten (ebd., S. 142). Der letzte Schritt der Analyse ist das Herausarbeiten von Schlüsselthemen. Dieser Schritt führt die Codierungen mit den Falldarstellungen zusammen und betrifft wieder die Ebene der gesamten Arbeit (ebd., S. 156 f.). Bei diesem Schritt geht es darum, die eigene Forschungsarbeit thematisch und theoretisch mit sozial- bzw. erziehungswissenschaftlichen Diskursen zusammenzuführen (ebd., S. 157). Schon während der vorangegangenen Schritte sollte man, so die Verfasser des Handbuchs, die Augen offen halten für Themen, die einzelne Fälle zusammenführen und bündeln. Zu diesen Themen sollte Literatur zu Rate gezogen werden. Die übergeordneten Themen werden zu einzelnen Kapiteln in der Arbeit ausgearbeitet (ebd., S. 157). Zudem sollte explizit nach übergeordneten Themen und einem Schlüsselthema gesucht werden. Die Autoren gehen davon aus, dass bis zu diesem Punkt von der forschenden Person sehr viele Entscheidungen implizit und intuitiv getroffen wurden. Diese Entscheidungen zu explizieren ist eine wichtige Herangehensweise an die Identifikation der Schlüsselthemen. Die Verfasser schlagen darüber hinaus vor, Schaubilder, Diagramme und Zeichnungen zu erstellen, um den Schritt der analytischen Abstraktion von den konkreten Fällen zu vereinfachen (ebd., S. 159) oder mit Metaphern zu experimentieren und durch sie eine distanzierte, abstrahierende Perspektive einzunehmen (ebd., S. 160 f.). Der letzte Schritt der Analyse ist also eine Art Zusammenfassung und Verallgemeinerung der bisher erarbeiteten Forschungsergebnisse mit dem Ziel, die eigene Arbeit an bestehende Theorien anzudocken oder diese zu irritieren.
4.3.4 Praktische Vorgehensweise und Datenschutz Für die praktische Umsetzung der Forschung habe ich mich an der beschriebenen Vorgehensweise orientiert. Ich habe in einer Kindertageseinrichtung über den Zeitraum von 8 Monaten (März–Oktober 2014) den Alltag, insbesondere die Morgenkreise und Vollversammlungen, teilnehmend beobachtet
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und dabei zahlreiche Gespräche mit Kindern, pädagogischen Fachkräften, Eltern und vor allem der Einrichtungsleiterin geführt. Direkt nach den Beobachtungen habe ich die Feldnotizen zu Beobachtungsprotokollen ausformuliert und Memos verfasst, die die Grundlage für die Erarbeitung der Ergebnisse bildeten. Von einigen Sitzungen der Vollversammlung habe ich zusätzlich Audioaufnahmen gemacht, die ich in Teilen transkribiert habe. Die Transkripte, die ich nur wenig geglättet habe11, dienten zur Ergänzung der Beobachtungsprotokolle. Insgesamt 15 Beobachtungsprotokolle sind so entstanden. Zusätzlich habe ich das Konzept der Kita, verschiedene Flyer, den Internetauftritt und die Kita-Verfassung in die Analyse einbezogen. Ich habe die Einrichtungsleiterin und die Kinder in der Vollversammlung offiziell um Erlaubnis gebeten, die Forschung in der Einrichtung durchführen zu dürfen. Die pädagogischen Fachkräfte habe ich nicht um Erlaubnis gefragt, sondern ich wurde ihnen von ihrer Leiterin als Praktikantin vorgesetzt. Für die Eltern der Kinder habe ich ein Infoblatt erstellt, das einige Wochen lang (01.04.2014–13.05.2014) in der Kita aushing und auf dem die Eltern gebeten wurden, sich bei der Einrichtungsleiterin, den pädagogischen Fachkräften oder mir zu melden, sollten sie mit meiner Anwesenheit und meiner Forschungsarbeit nicht einverstanden sein. Um die Identitäten der Forschungsteilnehmer*innen zu schützen, habe ich sämtliche Eigennamen von Personen und Orten in Pseudonyme geändert. Durch diese Maßnahmen und die Zeit, die seit meiner Anwesenheit im Feld vergangen ist, sind die Identitäten der Kinder, Eltern und pädagogischen Fachkräfte ausreichend geschützt.
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg In den folgenden Kapiteln werde ich das Forschungsfeld Kita als Kontext für das zu untersuchende Phänomen beschreiben. Über eine Analyse des Feldeinstiegs, die ergänzt wird durch die Ergebnisse meiner Recherche über die Kita und Informationen, die ich zu späteren Zeitpunkten erhalten habe, nähere ich mich der Konkretisierung des Forschungsfeldes. Insgesamt werde ich darlegen, wie ich in einem Spannungsverhältnis von Erkenntnisinteresse und Pragmatismus das Feld konstruiert habe.
11Ich
habe mich an den Transkriptionsstandards für rekonstruktive Verfahren orientiert. In den Transkripten steht @ für Auflachen, (.) für Pausen, (()) für unverständliche Äußerungen, = für Verschleifungen, – für Abbrüche und Neuanfänge.
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
111
Dem Feldeinstieg wird in der ethnografischen Forschung eine hohe Bedeutung beigemessen (Schoneville u. a. 2006, S. 231 f.). Die Sozialisation einer fremden Person in einer bestehenden Institution liefere wichtige Hinweise darauf, welche ‚Eigenlogiken‘, also Strukturierungsmuster des Sozialen, im Feld wirksam seien. Häufig sei sie gekennzeichnet durch Abwehr- und Vereinnahmungsstrategien der Akteur*innen des Feldes gegenüber der*dem Forschenden (ebd., S. 231 f.). Die Analyse des Feldeinstiegs bildet nicht nur ein wichtiges Element der Feldkonstruktion, sondern auch die Einführung in den empirischen Teil meiner Arbeit.
4.4.1 Forschungsfeld: Die Kindertageseinrichtung Seitenstraße Das Phänomen einer ritualisierten Praxis der Demokratiebildung von Kindern habe ich in einer Kindertageseinrichtung in einer Großstadt in Norddeutschland untersucht. Die Kita Seitenstraße12, wie ich sie in der vorliegenden Arbeit nennen möchte, betreute während des Zeitraums meiner Anwesenheit täglich etwa 50 Kinder in Elementarbereich und Krippe von 7.30–17.30 Uhr.
Trägerschaft und Konzept Träger der Kita ist ein Verein, der zum Zeitpunkt meiner Anwesenheit im Feld insgesamt knapp 20 Kitas, ein Eltern-Kind-Zentrum und drei Kooperationen mit Ganztagsschulen organisierte. Der Träger ist Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Wie alle vom Träger betreuten Kindertageseinrichtungen ist die Kita bilingual konzipiert und folgt einem Ansatz, der als „One Person – One Language“ bezeichnet wird. Das bedeutet, dass jede pädagogische Fachkraft mit und vor den Kindern konsequent nur eine der beiden Sprachen Englisch und Deutsch spricht, selbst wenn sie beide Sprachen beherrscht. Dass die zweite Sprache Englisch ist, wird nicht durch die Berücksichtigung der Familiensprachen der Kinder begründet, sondern durch die Bedeutung der englischen Sprache für Wissenschaft und Wirtschaft. Der Trägerverein legt laut seiner Website zudem großen Wert darauf, Kindern Partizipation zu ermöglichen. Die Einrichtung wird geleitet von Amina, die im Umfang von etwa 20 Wochenstunden diese Funktion erfüllt und darüber hinaus als Fachberaterin für das Thema Partizipation beim Kita-Träger tätig ist. Dafür hat sie eine
12Ich
habe sämtliche Eigennamen durch Pseudonyme ersetzt.
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4 Das Forschungsprogramm
Multiplikator*innenausbildung für das Konzept „Die Kinderstube der Demokratie“ des Instituts für Partizipation und Bildung in Kiel absolviert. In dieser zweiten Funktion bietet sie in den anderen Kitas des Trägers Fortbildungen und Team-Tage zum Thema an. Die pädagogischen Fachkräfte der Einrichtung sind jeweils einem bis zwei „Bildungsbereichen“ zugeteilt. Diese pädagogischen Schwerpunktthemen sind: Bewegung, Ernährung, Kunst und Musik, Vorschule, Partizipation und Natur. Partizipation ist also formal ein Bildungsbereich, für den eine pädagogische Fachkraft zuständig ist.
Räume Die Einrichtung liegt etwas abgelegen im Erdgeschoss eines Bürogebäudes, das ich architektonisch den 1990er Jahren zuordnen würde: viel Glas und Stahl; der Gebäudekörper ist aus einem Zylinder und einem Kubus zusammengesetzt. Zwischen der Kita und den nächstgelegenen Wohnhäusern befindet sich ein Industriegebäude. Der Bereich um das Gebäude herum ist größtenteils gepflastert, bis auf die unmittelbar die Kita umgebende Fläche, die in eine Art Garten mit Erdhügel, Büschen, einem großen Sandkasten und mehreren Holzschuppen umgewandelt wurde. Dieser Außenbereich ist umzäunt. Es gibt eine Tür, die vom Außenbereich direkt in die Garderobe führt. Diese ist aber nicht der Haupteingang. Zwischen dem Außengelände, dem angrenzenden Grundstück und dem Bürgersteig der Seitenstraße liegt ein L-förmiger gepflasterter Weg. Dieser Gang scheint nicht öffentlich zu sein, er ist mitsamt der Kita eingezäunt. Er führt zum Haupteingang der Kita und verbindet die Seitenstraße mit ihrer Parallelstraße. Durch drei niedrige Tore, die lediglich an den der Kita abgewandten Seiten Knäufe haben, kann man ihn betreten. Auf der der Kita gegenüberliegenden Straßenseite der Seitenstraße liegt ein kleiner Park mit einem Teich. Insgesamt ist die Straße wenig befahren. An meinem ersten Tag nähere ich mich von der Rückseite des Gebäudes, wo das Bürogebäude, das die Kita beherbergt, in ein anderes Gebäude übergeht. Um in die Kita zu gelangen, muss man am Haupteingang klingeln und dann warten, bis die Tür elektronisch entriegelt wird. Der Haupteingang der Kita führt zunächst in einen Windfang, in dem Kinderwagen, Tretroller und andere Dinge stehen. Durch eine weitere Tür gelangt man in den Flur der Kita. Im Flur hängen wichtige Informationen für die Eltern und die Bildertafel, die anzeigt, welches Kind an welchem Angebot teilnehmen wird (vgl. Abschnitt 5.1.1). Vom Flur aus gelangt man in die nach Funktionen aufgeteilten Räume der Kita: Links kommt zunächst der Bewegungsraum, dann
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
113
der Raum für die pädagogischen Fachkräfte, dann das Kinderrestaurant. Auf der rechten Seite befinden sich die Garderobe, der Bauraum mit Legosteinen und ähnlichen Materialien, das Atelier, ein Wasserspielraum und die Toiletten. Zwischen Atelier, Wasserspielraum und Kinderrestaurant verbreitert sich der Flur so, dass dort ein Platz zum Spielen ist. Hinter diesem Platz gelangt man zu einer Glastür, die den zweiten Flur vom ersten trennt. Dort haben auf der linken Seite der Haushaltsraum und das Erwachsenen-WC Platz. Auf der rechten Seite befinden sich das Büro der Einrichtungsleiterin, die Vorschulwerkstatt und der Ruheraum, der auch für Rollenspiele genutzt wird. Am Ende des Ganges gelangt man zum Raum für die Krippenkinder, der über eine eingebaute Hochebene verfügt.
Tagesablauf Die Kindertageseinrichtung hat einen festen Tagesablauf, der in Elementarbereich und Krippe unterschiedlich geregelt ist und sich grob in Phasen der Freispielzeit, Versammlungszeit, Essenszeit, Ruhezeit und pädagogischen Angebote unterteilen lässt. Im Elementarbereich dürfen die Kinder nach der Angebotsphase selbst entscheiden, wann sie innerhalb des Essenszeitraums etwas zu sich nehmen wollen, wobei einige Kinder bereits während der Mittagessensphase abgeholt werden. Im Krippenbereich ist der Ablauf insgesamt stärker durchstrukturiert: Dort nehmen alle Kinder gemeinsam das Mittagessen zu sich, werden dann gewickelt und ruhen im Anschluss (Tabelle 4.1). Tabelle 4.1 Der Tagesablauf im Überblick Uhrzeit
Elementarbereich
Krippe
07.30–09.00
Freispiel und Frühstück
Freispiel
09.00–09.45
Großer Morgenkreis/Vollversammlung
Kleiner Morgenkreis mit Obstmahlzeit
09.45–10.00
Joggen oder Bewegungsspiel
Freispiel
10.00–12.00
Angebotszeit
11.30–12.15 12.15–14.00
Mittagessen Mittagessen und Freispiel
Schlafen und Ruhen
14.00–14.30
Großer Nachmittagskreis
Freispiel
14.30–17.30
Freispiel (meistens im Außenbereich)
Der Übergang zwischen Krippe und Elementarbereich ist fließend organisiert und orientiert sich an den individuellen Bedürfnissen der Kinder. Die älteren
114
4 Das Forschungsprogramm
Kinder des Krippenbereichs dürfen beispielsweise am Freispiel des Elementarbereichs teilnehmen, kehren aber zum Essen oder zum anschließenden Ruhen wieder zu den anderen Krippenkindern zurück. Donnerstags wird der Große Morgenkreis genutzt, um eine Vollversammlung durchzuführen. Außerdem wurde während meiner Beobachtungszeit ein Spielzeugtag eingeführt: Einmal im Monat, ebenfalls am Donnerstag, dürfen die Kinder ausnahmsweise eigenes Spielzeug in die Einrichtung mitbringen. Auf den Umgang damit werde ich in Abschnitt 5.2.6 noch eingehen. Insgesamt verdeutlichen Räume und Tagesablauf, dass die Kita ein offenes Konzept umsetzt.
Kita-Verfassung Die Fachkräfte und die Leiterin der Einrichtung haben im Rahmen einer Verfassungsgebenden Versammlung im Januar 2008, also 6 Jahre vor meiner Feldphase, eine Kita-Verfassung erstellt, die die Rechte der Kinder sowie die Gremien und Verfahren für ihre Umsetzung festlegt. Sie trat im Juli 2009 in Kraft. In der dazwischenliegenden Phase sollten die Gremien erprobt und die Eltern informiert werden (§ 21). Als Gremien wurden der Kleine Morgenkreis, der Große Morgenkreis und die Kinderkonferenz eingeführt (§ 1 Verfassung der Kita Seitenstraße). Der täglich tagende Kleine Morgenkreis soll laut Verfassung eine Gesprächskultur etablieren und die Kinder mit Gruppen-Entscheidungen bekannt machen (§ 2 (1, 4)). Der ebenfalls täglich tagende Große Morgenkreis soll relevante Themen sammeln und mittels einer Protokollmappe in die Kinderkonferenz einbringen, wo sie entweder bearbeitet und entschieden werden oder eine Entscheidung des Großen Morgenkreises vorbereitet wird (§§ 2 (1), 3 (4)). Die Kinderkonferenz soll sich aus fünf bis sieben delegierten Kindern des großen Morgenkreises und einer*einem Delegierten der pädagogischen Fachkräfte 14-tägig zusammensetzen (§§ 2 (5), 3 (1, 2)). Die Entscheidungen in der Kinderkonferenz sollen möglichst auf einem Konsens basieren; in Fällen, in denen kein Konsens erzielt werden kann, reicht die einfache Mehrheit der Anwesenden. Die pädagogischen Fachkräfte haben das Recht, ein Veto einzulegen (§ 3 (5)). Im Großen Morgenkreis soll ebenfalls ein Konsens angestrebt werden und im Zweifel die einfache Mehrheit aller Anwesenden genügen. Zudem gibt es die Klausel, dass die Erwachsenen die Kinder bzw. die Kinder die Erwachsenen jeweils nicht überstimmen können (§ 2 (8)). Bei einem Blick auf die in der Verfassung festgelegten Rechte der Kinder sowie deren Grenzen fällt auf, dass der individuellen Selbstbestimmung eines jeden einzelnen Kindes viel Raum gegeben wird. Beispielsweise darf jedes Kind
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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selbst entscheiden, wer es wickelt oder ihm bei der Körperpflege hilft (§ 4 (3)), ob, was und wieviel es isst (§ 8 (2)) und an welchen Angeboten es teilnimmt (10 (2)). Für die demokratischen Mitbestimmungsrechte der Kinder, bzw. das „Mitentscheiden“ durch die Kinder sind vorgesehen: • Die Lösung von Konflikten (§ 5), • die Esskultur (§ 8 (6)), • die Gestaltung der Innen- und Außenräume ohne Mitarbeiter*innenraum, Büro und Toiletten der Erwachsenen, unter dem Vorbehalt, dass die pädagogischen Fachkräfte den jeweiligen Raum ohne die Kinder vorstrukturieren (§ 9), • die Themen, Inhalte und die Durchführung der Morgenkreise und pädagogischen Angebote unter dem Vorbehalt, dass die pädagogischen Fachkräfte ohne die Kinder Angebote planen (§ 10 (1)), • die Regeln in der Kita unter dem Vorbehalt, dass es für bestimmte Altersgruppen Privilegien in Form von Rückzugsräumen geben sollte (§ 11 (1, 4–6)), • die Gestaltung und Nutzung der Tagebücher (§ 16). Die Kinder dürfen explizit nicht mitentscheiden beim Aufräumen (§ 12), der Gestaltung des Tagesablaufs (§ 13) und den Bringzeiten (§ 14), bei Personalangelegenheiten (§ 17), aber auch bei Themen, die sie nicht betreffen, wie eben die Gestaltung des Mitarbeiter*innenraums (§ 9 (3)). Dem offenen Konzept entsprechend ist die individuelle Selbstbestimmung der Kinder umfangreich, während die in Gremien zu treffenden Entscheidungen eher begrenzt sind. Zudem gibt es zwei Mitbestimmungsrechte, die nicht die gesamte Gruppe betreffen, sondern Untergruppen: im Fall der Konfliktlösung die beteiligten Konfliktparteien und im Fall der Tagebücher die sie mitgestaltenden pädagogischen Fachkräfte und das je betroffene Kind. In der Verfassung ist nicht festgelegt, wie mit Regelbrüchen umgegangen wird, wer also über Sanktionen entscheidet. Die Verfassung wurde mir von der Leiterin während eines unserer ersten Gespräche kopiert und ausgehändigt. Das Original lag tief vergraben in einer Schublade ihres Schreibtischs im Büro. Im Erstgespräch mit der Leiterin am Telefon hat sie mir bereits mitgeteilt, dass die Verfassung keine Aktualität mehr beanspruchen kann (vgl. Abschnitt 4.4.2). Ich habe sie an dieser Stelle trotzdem beschrieben, weil sie den Anspruch verdeutlicht, mit dem sich die Kita aufgemacht hat, die demokratische Partizipation von Kindern umzusetzen. Gerade in Bezug auf die Selbstbestimmung der Kinder im Alltag hat diese Praxis deutlich Spuren hinterlassen. Auch wenn diese nicht im Mittelpunkt meiner Ausführungen
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4 Das Forschungsprogramm
steht, möchte ich zumindest erwähnt haben, wie umfassend selbstbestimmt die Kinder im Alltag handeln können. Außerdem werden einige der in der Verfassung festgelegten Themen, wie die Tagebücher und die Raumnutzung, aber auch die Gestaltung des Morgenkreises, auch in meinen empirischen Ergebnissen in Kapitel 5 wichtige Rollen spielen.
4.4.2 Der Feldzugang Ich habe diese Einrichtung nicht selbst ausgewählt, sondern sie wurde mir von einem Mitglied des Trägers zugewiesen, wie aus dem Beobachtungsprotokoll deutlich wird.13 Für den Feldzugang lasse ich meine Kontakte spielen: Nach der Absage einer Kita, die ich sowohl für Dissertation als auch Forschungsprojekt angefragt hatte, wende ich mich an die Leiterin der Kita Flussstraße14, die im Beirat unseres Forschungsprojekts ist. Da ich sie nicht telefonisch erreiche, schreibe ich ihr eine längere Mail, an die ich mein Exposé anhänge. Nach einigen Tagen ruft sie mich zurück und erklärt, dass sie leider keine Kapazitäten habe, dass sie aber meine Anfrage an die Leitung der Kita Seitenstraße, Amina, weitergeleitet habe. Sie glaube, dass ich dort sehr gut aufgehoben sein werde. Amina habe bereits Interesse bekundet und ich müsse sie eigentlich nur noch anrufen. (P.20.03.14)
In der Handlungsweise dokumentiert sich eine gegenseitige Zurschaustellung von Professionalität: Die Einrichtungsleiterin bestimmt darüber, welcher Platz mir zusteht und leitet bereits in die Wege, dass ich dort auch aufgenommen werde. Sie ist einerseits Gatekeeper, also die Person, die über meinen Zugang zum „Feld“ entscheidet, andererseits serviceorientierte Dienstleisterin: Sie kümmert sich so gut um meine Anfrage, dass ich lediglich noch ein Telefonat führen muss, um einen Termin zu vereinbaren. Darüber hinaus leitet sie meine an sie adressierte, private E-Mail ohne Rückfrage weiter. Ich wiederum inszeniere mich als professionelle Wissenschaftlerin, indem ich ein Beiratsmitglied anfrage und in einer ersten E-Mail bereits mein wissenschaftliches Exposé mitschicke.
13Für
die folgenden Rekonstruktionen werde ich so vorgehen, dass ich jeweils zunächst eine Sequenz aus dem Beobachtungsprotokoll voranstelle und diese dann interpretiere. 14Dieser Eigenname ist, wie alle anderen auch, anonymisiert.
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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Ich bedanke mich ausführlich und rufe in der Kita Seitenstraße an. Im Telefonat mit Amina erfahre ich, dass sie lange Zeit Leitung der Kita Seitenstraße gewesen sei und immer viel Wert auf Partizipation gelegt habe. Vor einiger Zeit habe sie die Leitung der Kita Hauptstraße übernommen und habe dort versucht, Partizipation strukturell zu verankern. Die Alltagspartizipation in der Kita sei auch sehr fortschrittlich, aber das Durchführen der Konferenzen sei von den pädagogischen Fachkräften nicht als besonders notwendig erachtet worden. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit hätten die pädagogische Fachkräfte die Konferenzen ausfallen lassen. Amina habe daher den pädagogischen Fachkräften gesagt, sie sollten die Konferenzen ritualisieren und stur jede Woche zur selben Uhrzeit durchführen. (P.20.03.14)
Amina steigt sofort thematisch ein und demonstriert dadurch ihre Professionalität, vor allem in Hinblick auf Partizipation. Sie macht deutlich, dass ihr das Thema wichtig ist und sie sich im Feld bestens auskennt. Sie unterscheidet zudem zwischen der Alltagspartizipation auf der einen und der gremienbezogenen Partizipation innerhalb der Konferenzen auf der anderen Seite. Kritisch reflektiert sie in unserem ersten Gespräch die Partizipationspraxis der Kita, die sie geleitet hat. Dabei verweist sie sofort auf das Thema meiner Dissertation: Rituale im Zusammenhang mit Demokratiebildung. Sie erzählt, sie habe den Fachkräften die Anweisung erteilt, die Konferenzen zu ritualisieren, sie also „stur jede Woche zur selben Uhrzeit durchzuführen“. Die Ritualisierung, hier im Sinne von Automatisierung, soll den Fachkräften – nicht etwa den Kindern – dabei helfen, die Konferenzen durchzuführen, anstatt sie ausfallen zu lassen, sie soll sie entlasten. Ritualisierung wird von ihr als eine Maßnahme zur Handlungsentlastung angesehen. Aus dieser Erzählung wird zudem deutlich, dass die Fachkräfte aus Sicht ihrer Leitung der „Alltagspartizipation“ einen höheren Stellenwert beimessen als der Gremienarbeit, die sie vernachlässigen. Sie scheinen wenig Motivation für die Gremienarbeit aufzubringen. Fehlt also Motivation, muss sie durch eine Ritualisierung ausgeglichen werden. Außerdem deutet sich ein Widerspruch an: Demokratische Partizipation wird von der hierarchisch höheren Position aus verordnet, d. h. von der Leiterin. Ihre untergebenen Fachkräfte sollen mit den Kindern und für die Kinder Demokratiebildung machen. Demokratiebildung zielt somit ausschließlich auf das Verhältnis der Kinder untereinander und das Verhältnis zwischen Kindern und Fachkräften und ist kein ganzheitlicher Ansatz, der die gesamte Einrichtung betrifft. Seit Juni sei sie nun wieder Leitung der Kita Seitenstraße. Dort sei nach ihrem Wechsel in die Kita Hauptstraße die Partizipation eingeschlafen. Es finde am Donnerstag, den 06.03.2014 um 09.00 Uhr die erste Vollversammlung seit
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4 Das Forschungsprogramm
1,5 Jahren statt. Die Vollversammlung wähle Arbeitsgruppen, die bestimmte Themen bearbeiten – das muss dem offenen Konzept geschuldet sein, denke ich. (P.20.03.14)
Amina erzählt innerhalb dieses ersten Gespräches, das wir führen, und ohne, dass wir bereits verabredet hätten, dass ich mein Forschungsprojekt in der Kita durchführen darf, dass die derzeitige Demokratiepraxis nicht ihrem Standard entspricht. Sie macht mich zur Mitwisserin, zur Verschwörerin gegen ihr Team, das die Tendenz hat, Gremienarbeit hintüber fallen zu lassen. Hier deutet sich wieder an, dass es Aminas starke Steuerung ist, die für die Praxis entscheidend ist – und nicht etwa eine demokratische Grundhaltung der pädagogischen Fachkräfte. Die Partizipationspraxis schläft ein, wenn Amina nicht anwesend ist und wird von ihr wieder aufgeweckt, also verordnet, sobald sie zurück in ihrem Amt ist. Amina sei das sogenannte „Massenwickeln“ der Krippenkinder ein Dorn im Auge. Dieses findet nach dem Mittagessen oder Mittagschlaf statt. Amina sagt, dort würden dann zwölf Kinder in einen Raum „gepfercht“ und müssten darauf warten, dass sie gewickelt würden. Dass die Kinder als Gruppe gemeinsam essen und entweder davor oder danach gemeinsam schlafen, finde sie nicht so problematisch. Sie sehe auch ein, dass das Verfahren des Massenwickelns durchaus praktisch sei, es sei aber nicht so partizipativ. (P.20.03.14)
Amina kritisiert vor mir, einer ihr unbekannten Person, die sich selbst als Expertin zum Thema Partizipation positioniert hat, deutlich die Praxis ihrer Angestellten. Wir haben uns noch nie persönlich getroffen, sie kennt lediglich meinen Namen und die E-Mail, die ich verfasst habe. Trotzdem erzählt sie mir sofort Interna. Sie spricht ein Phänomen an, das sie ebenfalls als Ritual definiert, das „Massenwickeln“. Anders als gemeinsames Mittagessen und gemeinsamer Mittagsschlaf stört sie diese Praxis sehr: Das im Protokoll verwendete Bild des „Dorn im Auge“ macht deutlich, dass sie dieses Ritual nahezu als eine Verletzung der körperlichen Integrität der Kinder auffasst. Durch die Bezeichnung der Praktik als Massenwickeln wird eine Analogie zur Massentierhaltung eröffnet, die durch das Verb „eingepfercht“ an Eindeutigkeit gewinnt: Wie Tiere werden die Kinder massenweise in das Badezimmer getrieben, dort eingepfercht und dann nacheinander gewickelt. Diese Praktik richtet sich also nicht nur gegen die körperliche Integrität, sondern entmenschlicht und ent-individualisiert die Kinder regelrecht – auch wenn, oder gerade weil, sie durchaus praktisch ist. Partizipation ist entsprechend das Gegenteil davon: Sie wahrt die individuelle körperliche und menschliche Würde und ist unpraktisch.
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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Zwei wichtige Merkmale von Ritualen treten somit bereits deutlich zu Tage: Die potentielle Gefahr von Ritualen, menschliche Individualität zu verletzen (Massenwickeln) und gleichzeitig die Chance von Ritualen, durch sture Wiederholung und Automatisierung Handlungsentlastung zu produzieren (Gremiensitzungen wirklich durchführen; „praktisch“ sein). Ich schlage vor, mich und mein Projekt in der Kita vorzustellen. Amina antwortet, dass sie Interesse habe, das Exposé kenne (es wurde ihr von der Leiterin der Einrichtung, in der ich eigentlich forschen wollte, zugeschickt) und noch ihre Kolleginnen befragen müsse, ob diese sich vorstellen können, mich als teilnehmende Beobachterin um sich zu haben. Wir einigen uns darauf, dass ich in der dritten Vollversammlung (20.03.2014, 09.00 Uhr) vorbeikomme und mich vorstelle. (P.20.03.14)
Ich mache den Vorschlag, die wiedereingeführte Gremiensitzung zu nutzen, um mich und mein Projekt vorzustellen. Daraufhin bekundet Amina zum ersten Mal im Gespräch Interesse daran, mich als Beobachterin in der Kita zu haben. Sie sagt sogar, dass sie das Exposé kenne. Sie verweist darauf, dass sie die Entscheidung nicht allein treffen könne, sondern erst ihre „Kolleginnen“ fragen müsse. Hier gibt es möglicherweise einen Widerspruch: Sie ‚verordnet‘ Demokratiebildung, kritisiert ihre Angestellten vor mir und trifft die Verabredung, dass ich mich im Rahmen der dritten Vollversammlung, die in der Kita stattfinden soll, vorstellen werde, will ihre „Kolleg*innen“ aber trotzdem nach ihrem Einverständnis fragen. Dieser Widerspruch oder Uneinheitlichkeit deutet auf eine Praktik der scheinbaren Beteiligung der pädagogischen Fachkräfte hin: Sie werden zwar offiziell gefragt, das Ergebnis steht aber eigentlich schon fest. Bereits im ersten Telefonat und vor dem Feldeinstieg zeigen sich einige wichtige Grundzüge der Partizipationspraxis in der Einrichtung: Amina als Leiterin der Einrichtung hat ihres Erachtens den größten Einfluss darauf, ob und wie Demokratiebildung in der Einrichtung umgesetzt wird. Ihre starke Steuerung erweckt die Gremienstruktur zum Leben. Probleme mit der Motivation zur Durchführung von Sitzungen sollen durch Ritualisierung ausgeräumt werden. Relativ offenherzig werden interne Probleme und Schwierigkeiten einer fremden Person geschildert und diese somit zur Verbündeten der starken Leiterin gemacht. Rituale in der Kita befinden sich aus Sicht der Leitung im Spannungsfeld zwischen Handlungsentlastung und Verletzung der Individualität. Sie können von der Leiterin verordnet werden und gelten dann in ihren Augen als partizipativ, oder sie entstehen im Alltag, weil sie praktisch sind, und gelten dann als weniger partizipativ. Im Laufe der Forschungsarbeit wird herauszuarbeiten sein, ob sich dieser erste Eindruck der Problemlage bestätigt.
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4 Das Forschungsprogramm
4.4.3 Die erste beobachtete Vollversammlung Ich komme an und gehe in den Mitarbeiterraum. Die beiden pädagogischen Fachkräfte, die sich dort aufhalten, wissen nicht, wer ich bin. Ich sage, wie ich heiße, und sie antworten: „Ach, du bist die neue Praktikantin“. Sie informieren mich, dass die Vollversammlung in fünf Minuten losgehen werde. Ich werde gefragt, ob ich Hausschuhe dabei hätte und muss verneinen. Ich frage nach der Einrichtungsleitung und erhalte die Antwort, dass diese in ihrem Büro sitze, das im hinteren Flur liege. (P.20.03.14)
Die ersten Personen, auf die ich treffe, wissen scheinbar nichts von meinem Vorhaben, an der Vollversammlung teilzunehmen. Dies ist insofern verwunderlich, als dass Amina das Einverständnis ihrer „Kolleg*innen“ erfragen wollte. Statt als Forscherin werde ich nach meiner Vorstellung als die neue Praktikantin erkannt. Entweder werden alle fremden Erwachsene, die keine Kinder in der Kita betreuen lassen, von den Fachkräften als Praktikant*innen eingeordnet, oder Amina hat nicht nach dem Einverständnis für die Forschung gefragt, sondern nach dem Einverständnis, eine Praktikantin zu begleiten. Dadurch, dass ich keine Hausschuhe dabei habe und danach fragen muss, wo das Büro der Leiterin ist, offenbare ich meine Unkenntnis des Feldes. Gleichzeitig hat mich Amina nicht darauf hingewiesen, Hausschuhe mitzubringen. Möglicherweise ist es für sie so selbstverständlich, Hausschuhe zu tragen, dass sie nicht einmal darüber nachdenkt. Die Fachkraft prüft hingegen sofort, wie gut ich mich auskenne bzw. vorbereitet habe. Der Umgang der pädagogischen Fachkräfte mit dem Fremden, in diesem Falle mit mir als Forschender/Praktikantin, zeichnet sich zunächst durch skeptische Zurückhaltung aus. Ich gehe vorsichtig an den vielen Kindern vorbei, die im etwa anderthalb Meter breiten Flur spielen und finde das Büro von Amina (PFK) auf der rechten Seite. Die Tür ist geöffnet, ich gehe hinein und sage ihr Hallo. Ich erzähle ihr, dass ich ein Plakat erstellt hätte. Sie bittet, es anschauen zu dürfen, findet innerhalb von 30 Sekunden einen Rechtschreibfehler und spricht mich auf diesen an: „Femokratiebildung? Muss das so heißen?“ Sie fragt auch, für wen das Plakat gedacht sei. Für die Eltern müsse man es einfacher formulieren. Ich hatte es für die Vollversammlung mit den Kindern und Fachkräften gedacht. (P.20.03.14)
Der Kita-Flur wird zumindest morgens vor der Vollversammlung als Spielfläche verwendet. Das Büro der Einrichtungsleiterin steht den Kindern, Eltern und Fachkräften anscheinend offen. Amina stellt klar, dass sie hier in der Kita die kompetentere Expertin ist. Sie kennt sich mit der Einrichtung und allen beteiligten Akteur*innen aus und weiß genau, wie diese anzusprechen sind,
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
121
was man ihnen zumuten und was man von ihnen erwarten kann. Sie kontrolliert mein Plakat und führt dadurch und mit ihrer rhetorischen Frage, ob das Wort „Femokratiebildung“ korrekt sei, eine hierarchische Beziehung zwischen uns beiden „Expertinnen“ ein. Dass sie nicht einfach sagt, dass es einen Rechtschreibfehler gibt, sondern danach fragt, ob das so heißen müsse, könnte einerseits dazu dienen, dass ich mein Gesicht wahren kann. Amina würde mir dann zugestehen, dass ich das Wort aus ihr unbekannten Gründen absichtlich falsch geschrieben habe. Andererseits könnte sich ein für das Feld typischer, pädagogischer Umgang mit Fehlern darin dokumentieren: Nicht direkt zu sagen, dass etwas falsch ist, sondern die anderen Lernenden oder die Person durch rhetorische Fragen selbst dazu bringen, dies festzustellen, ist eine aus anderen pädagogischen Kontexten, wie der Schule oder der Universität, bekannte Lehrpraktik. Amina nimmt hier also die Rolle der Lehrenden ein und teilt mir die Rolle einer Lernenden zu. Zudem wird deutlich, dass Amina immer die Kommunikation mit den Eltern im Blick hat, der sie als Leiterin verpflichtet ist, während ich eher an die direkt Betroffenen, also Kinder und Fachkräfte gedacht hatte. Amina ‚steuert‘ die Eltern über einfach formulierte Plakate. Auch die Eltern werden somit als Lernende angesprochen. Es gongt. Wir (d. h. die Einrichtungsleiterin und ich) gehen gemeinsam zur Vollversammlung, die in einem großen hellen Raum stattfindet, an dem an den Seiten Sitzgelegenheiten aus Schaumstoff sind. Der Raum ist mit einem Basketballkorb, einer Kletterwand und zwei Sprossenleitern ausgestattet. Eine Wand besteht nur aus Heizungsverkleidung, die ebenfalls Sprossen hat, und Fenstern mit sehr breiten Fensterbänken. 40 Kinder (das weiß ich so genau, weil sie später zählen) scheinen mich anzugucken, als ich eintrete. (P.20.03.14)
Amina und ich haben keine Zeit, Absprachen zu treffen oder einander weiter kennenzulernen, bevor wir direkt in die erste Vollversammlung gehen. Diese wird durch einen Gong eingeleitet. Der Gong ist ein wichtiger Bestandteil dieses Rituals, indem er den Beginn markiert und die in der Kita verteilten Körper zur Versammlung ruft. In Abschnitt 5.1.1 werde ich darauf genauer eingehen. Die Versammlung findet im Bewegungsraum statt. Zum Zeitpunkt meines Eintretens sind sämtliche Beteiligten bereits versammelt und haben eine Sitzordnung eingenommen. Diese Sitzordnung ist eine Art Kreis – typisch für frühpädagogische Settings.15 Da dieser „Kreis“ jedoch sehr von der Architektur und
15Zur
Bedeutung des didaktischen Mittels Sitzkreis in Kindertageseinrichtungen vgl. Biffi und Jäger (2007).
122
4 Das Forschungsprogramm
den vorhandenen Sitzgelegenheiten geformt ist, ist er eigentlich ein Viereck: An allen vier Wänden des Raumes befinden sich entweder Schaumstoffkissen oder Holzbänke. Diese Kissen sind eckig und lassen sich nicht ohne Platzverlust zu einem Kreis zusammenlegen. Die Sitzordnung deutet damit eine Egalität der Sitzenden und gleichzeitige Sichtbarkeit derselben nur an und kann sie nicht wirklich umsetzen, denn durch die eckige Form gibt es verschiedene Platzkategorien, die mehr oder weniger Interaktion mit Sitznachbar*innen zulassen und für die pädagogischen Fachkräfte mehr oder weniger gut kontrollierbar sind. Auch die Sitzordnung und ihre Bedeutung für das Demokratieritual Vollversammlung werde ich in Abschnitt 5.1.1 näher untersuchen. Auf den den Sitzkreis bildenden Möbeln sitzen 40 gezählte Kinder und einige nicht gezählte Erwachsene. Das Zentrum dieses Kreises ist leer. Die Sitzordnung drückt aus, dass es Raum zwischen den Teilnehmenden gibt, der mit Diskussionen, Argumenten, mit Streit oder auch Performances gefüllt werden kann. Eine ältere pädagogische Fachkraft leitet die Sitzung ein. Sie übergibt das Wort an Amina. Eines der Kinder guckt mich immer wieder an und fragt: „Wer ist das?“ Amina sagt, ich könne mich jetzt selbst vorstellen. (P.20.03.14)
Die Vollversammlung wird nicht nur durch den Gong, sondern auch durch Worte eingeleitet, dabei wird die Rolle der Moderation festgelegt und weitergegeben: Amina als Leiterin der Kita wird auch die Gesprächsleitung der Vollversammlung übergeben. Meine Anwesenheit dabei irritiert eines der Kinder. Amina und ich antworten darauf nicht direkt, sondern sie übergibt mir das Wort, damit ich mich selbst vorstellen soll, und vertieft damit noch die Hierarchie zwischen uns: Sie steuert auch meine Handlungen, indem sie mir die Erlaubnis zu sprechen erteilen und entziehen kann. Ich gehe nach vorne und hänge mein viel zu kleines Plakat auf einem Flipchart auf. Eine der pädagogischen Fachkräfte kommt mir zu Hilfe. Ich stammele ganz kurz vor mich hin, wie ich heiße und dass ich oft vorbei kommen und beobachten will. Das Plakat nutze ich nicht. Ich bin aufgeregt. Ich weiß nicht, wie ich Rituale erklären soll, wie ich Demokratiebildung erklären soll und deswegen sage ich nicht viel. (P.20.03.14)
Da ich mich nicht darüber informiert hatte, wie genau das Setting sein würde, ist mein Plakat zu klein, um für die Kinder erkennbar zu sein, die an der schmalen Seite des Rechtecks, die circa vier bis fünf Meter entfernt von dem Flipchart sitzen. Auch das Aufhängen funktioniert nicht ohne Hilfe einer pädagogischen
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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Fachkraft, die diese aber sofort spontan leistet. Mir fällt in der Situation keine passendere Präsentationsform ein. Hier zeigt sich sehr deutlich meine Fremdheit gegenüber dieser Kita, dem Setting der Vollversammlung und der Kommunikation mit den Kindern. Ich habe mich eher darauf vorbereitet, mein Forschungsvorhaben zu erklären, und nicht darauf, den Fachkräften und Kinder mitzuteilen, was das konkret für sie bedeutet. Das muss ich nun improvisieren. Ich verwende keine beschönigenden Worte, sondern sage ehrlich, dass ich hauptsächlich beobachten will. Mir fehlen die Worte, um strategisch mit den Kindern und Fachkräften kommunizieren zu können. Meine Forschungsarbeit hängt davon ab, ob Kinder, Fachkräfte und Leitung meinem Vorhaben zustimmen. Ich will mich ihnen gegenüber als Expertin darstellen, damit sie einverstanden sind, dass ich sie beobachte. Es gelingt mir allerdings nicht, kompetent zu erscheinen. Amina fragt die Kinder, ob es okay ist, wenn ich komme. Die Kinder rufen: „Jaaaaa“. Amina fragt, wer dagegen sei, dass ich komme. Drei Kinder melden sich. Amina fragt: „Warum bist du dagegen?“ Das erste Kind sagt: „Weil es mich stört, wenn hier wer ist, den ich nicht kenne und mich beobachtet“. Die Aussprache des Kindes ist nicht deutlich, aber die Grammatik ist für mich überraschend ausgereift. (P.20.03.14)
Obwohl ich aus meiner Sicht nicht ausreichend erklärt habe, was ich überhaupt in der Kita vorhabe und nicht den erwünschten Eindruck erwecken konnte, stimmt die Mehrheit der Kinder meinem Vorhaben enthusiastisch zu. Sie kooperieren bereitwillig, was ich überraschend finde. Bislang habe ich die Erfahrung gemacht, dass es schwierig ist, Personen davon zu überzeugen, bei Forschungsprojekten mitzumachen. Bei den Kindern ist das nicht der Fall, ihnen reicht es zu hören, dass ich das möchte und sie stimmen sofort zu. Amina macht auch eine Gegenprobe und verwendet dafür die Methode des Handaufzeigens. Drei Kinder machen mittels Handzeichen deutlich, dass sie nicht wollen, dass ich beobachtend an den Sitzungen teilnehme. Diese Kinder werden aufgefordert, ihre ablehnende Haltung zu begründen. Sie müssen also Argumente finden, die dagegen sprechen, dass ich komme. Dass es gute Argumente dafür gibt, dass ich teilnehmende Beobachtungen mache, wird stillschweigend vorausgesetzt. Für die meisten Kinder scheint zu genügen, dass ich es will und Amina nichts dagegen zu haben scheint. Das erste aufzeigende Kind argumentiert, dass es unangenehm finde, von einer unbekannten Person beobachtet zu werden. Das zeigt, dass es verstanden hat, was ich vorhabe, auch wenn ich selbst das Gefühl habe, es nicht gut erklärt zu haben.
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4 Das Forschungsprogramm
Das Kind erweist sich als kompetente*r Demokrat*in: Es kann nicht nur seine abweichende Meinung gegen die Mehrheit vertreten, sondern sie auch noch argumentativ begründen. Gegen das Beobachtet-Werden im Allgemeinen spricht sich das Kind dabei nicht aus. Nur jemand Fremdes solle es nicht tun. Dies liegt daran, dass es gängige Praxis in der Kindertageseinrichtung ist, dass die pädagogischen Fachkräfte Kinder beobachten: Unter anderem durch die Blickrichtung der Beobachtung konstituieren die Akteur*innen in der Kita sich als Kinder und Erwachsene. Die Bemerkung im Protokoll, dass das Kind elaboriert spricht, zeigt, dass ich die sprachlichen Fähigkeiten der Kinder zuvor unterschätzt hatte. Amina sagt zu dem Kind: „Ich kenne sie doch auch noch nicht, aber ich bin schon ganz neugierig, sie kennenzulernen. Kannst du dir vorstellen, dass es für dich besser wird, wenn sie oft hier ist und du sie kennenlernst?“ Das Kind sagt ja. Ein zweites Kind schweigt auf die direkte Ansprache von Amina. Amina bietet dem Kind an, dass es nach der Vollversammlung zu ihr kommen und ihr begründen könne, warum es nicht wolle, dass ich die Kita besuche. Dann beendet sie die Vollversammlung und verlässt den Raum. (P.20.03.14)
Amina nimmt das Argument des Kindes auf, setzt es in Beziehung zu ihrer eigenen Erfahrung und entkräftet es. Implizit sagt Amina, dass sie selbst keine Bedenken vor mir hat, obwohl ich ihr fremd bin. Dann expliziert sie, dass sie sogar neugierig sei. Sie geht inhaltlich auf das Argument des Kindes ein und wendet die Angst vor dem Fremden in eine Neugier auf das Fremde. Neugierde auf das Fremde wird damit als das ‚korrekte‘ Gefühl dargestellt, das gemeinsam mit dem häufigen Kontakt zu einem Abbau der Fremdheit führt. Damit, dass sie gegen das Kind argumentiert, macht sie deutlich, dass sie selbst ein Interesse daran hat, mich in der Kita aufzunehmen. Danach fragt sie, ob sich das Kind vorstellen könne, dass sein Unbehagen sich bessern würde, sobald es mich besser kennen lernen würde. Damit ändert sich nichts am Grundproblem, dass das Kind von einer ihm zunächst noch fremden Person beobachtet werden wird, was es als unangenehm empfindet. Diese Frage bejaht das Kind. Das Problem des Kindes wird durch einen rhetorischen Trick aufgelöst. Implizit wird hier vermittelt, dass das Unbehagen des Kindes nur kurzzeitig entstehen würde und daher zu vernachlässigen ist. Ein anderes Kind, das sich auch gemeldet hatte, gibt keine öffentliche Begründung für seine ablehnende Haltung. Amina macht ihm das Angebot, dass es ihr auch später noch sagen könne, warum es nicht wolle, dass ich komme. Öffentlich in der Vollversammlung die eigene Meinung sagen, bzw. Ängste und Befürchtungen zu äußern, wird von Amina damit als voraussetzungsvoll
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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anerkannt. Sie schlägt eine Lösung vor, die jedoch Amina allein mit der Macht ausstattet, über die Qualität der Argumente zu entscheiden: Das Kind könne ihr diese später vorbringen. Was aber passieren soll, wenn die Argumente nicht zu entkräften sind, bleibt unklar. Das dritte Kind wird anscheinend nicht mehr gefragt. Aus der Verfahrensweise geht zunächst nicht hervor, ob es darum geht, eine Mehrheit zu bilden oder einen Konsens zu finden. Dies zeichnet sich erst ab, als Amina trotz unaufgelöstem Dissens die Vollversammlung für beendet erklärt und hinausgeht. Das Verfahren ist nicht darauf beschränkt, Pro- und Contra-Stimmen zu eruieren und auszuzählen. Die überstimmte Minderheit darf ihre Argumente öffentlich vorbringen, sie werden dann von der (in diesem Fall parteiischen) Abstimmungsleiterin abgewogen und entkräftet oder weggeredet. Die anwesenden Fachkräfte kommen als Stimmberechtigte überhaupt nicht vor. Weder beteiligen sie sich an der Diskussion, noch tun sie ihre Meinung kund, noch melden sie sich als Gegenstimme. Die Vollversammlung scheint von den Erwachsenen für die Kinder anstatt gemeinsam mit ihnen durchgeführt zu werden. Ohne zusammenzufassen, was das Ergebnis der Abstimmung ist und welche Konsequenzen dieses hat, beendet Amina die Versammlung und verlässt den Raum. Ein Protokoll wird offenbar nicht geführt. Ich bleibe sitzen, weil alle anderen Erwachsenen und Kinder auch sitzen bleiben. Nun findet der sogenannte „Große Morgenkreis“ statt, in welchem die Kinder entscheiden, an welchem Angebot sie teilnehmen wollen. (P.20.03.14)
Amina ist die einzige Person, die den Raum verlässt. Ich bleibe und nehme direkt am täglich stattfindenden „Großen Morgenkreis“ teil. Damit lege ich implizit fest, dass die Abstimmung zu meinen Gunsten ausgefallen ist und ich beobachten darf. Im Protokoll wird eine rituelle Praktik angesprochen, aber nicht weiter beschrieben, nämlich dass im Morgenkreis die Verteilung der anwesenden Kinder auf die Angebote des Vormittags erfolgt. Diese Praktik werde ich in Abschnitt 5.1.1 untersuchen. In dieser ersten Beobachtung fallen folgende weiter zu untersuchende Aspekte auf: • Die Rolle der Moderation wird von der Einrichtungsleiterin übernommen. • Die Kinder zeigen sich der Einrichtungsleiterin und mir gegenüber sehr kooperativ, ohne dass für mich sofort nachvollziehbar ist, warum. • Die Kinder schaffen es, ihre Einwände zu verbalisieren. • Die Einwände der Kinder werden zwar gehört, fließen aber nicht in die Entscheidung ein.
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4 Das Forschungsprogramm
• Es bleibt unklar, wie die Entscheidungen getroffen werden: Über eine Mehrheit oder eine Konsensbildung? • Die Rolle der – wenigen – anwesenden pädagogischen Fachkräfte bleibt unklar. • Die Protokollführung ist nicht geklärt. • Der Übergang zwischen Vollversammlung und Morgenkreis ist fließend. Da dies die insgesamt dritte (beim Telefonat wurde sie als die über-über-nächste bezeichnet) Vollversammlung ist, die in der Kita nach einer etwa 18-monatigen Pause durchgeführt wurde, ist noch keine Ritualisierung ersichtlich. Die vorläufig nur skizzierten Aspekte werden in den späteren Beobachtungen und Analysen weiter bearbeitet. Doch zunächst soll auch der erste in meiner Anwesenheit stattfindende Morgenkreis weiter beschrieben und analysiert werden.
4.4.4 Der erste beobachtete Morgenkreis Dabei ist die interessanteste Begebenheit, dass eines der Kinder mit Plastik-Chips (= Einladungskarten) im Kreis herumgeht und Kinder zu seiner Geburtstagsfeier einlädt. Einige Kinder wollen mitmachen, was sie dadurch ausdrücken, dass sie ein Handzeichen geben wie in der Schule, aber nicht alle von ihnen werden eingeladen. Das Kind mit den Chips geht sehr zögerlich herum und blickt immer wieder hin und her und es wirkt unglücklich am Ende, nachdem es neun Kinder eingeladen hat. Es geht zu einer pädagogischen Fachkraft und sagt etwas zu ihr, das ich nicht verstehe. Die Fachkraft umarmt das Kind kurz und streicht ihm über den Kopf. (P.20.03.14)
Ein weiterer ritualisierter Ablauf in der Kita tritt auf und wird entsprechend von mir ad hoc als ‚interessant‘ kategorisiert: die Einladung zum Geburtstagsfest. Dieses ist stark reglementiert und formalisiert: Das Kind, das einlädt, trifft eine Auswahl unter den Kandidat*innen, die mittels Handzeichen zeigen, dass sie kandidieren. Das Kind entscheidet mittels der Gabe eines Plastikchips über die Zugehörigkeit zur Geburtstagsgemeinschaft, die auf insgesamt zehn Kinder, einer*m Gastgeber*in und neun Gästen, beschränkt ist. Die Kinder verhalten sich diszipliniert, sie zeigen nur durch Handzeichen an, dass sie Interesse an der Teilnahme an der Geburtstagsfeier haben. Sie rufen nicht in den Raum hinein oder versuchen, für sich zu werben. Die Entscheidung fällt dem Kind offenkundig nicht leicht. Nicht nur, dass es nicht alle Kinder einladen darf, die sich melden, sondern es melden sich möglicherweise auch gerade diejenigen Kinder nicht, die das Kind gern einladen würde. In jedem Fall muss das Kind eine Grenze ziehen zwischen Gästen und
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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Nicht-Gästen, zwischen Gemeinschaft und Außen. Dass dies für das Kind schwierig ist, zeigt sich dadurch, dass es viel Zeit für die Entscheidung braucht und am Ende unzufrieden wirkt. Es geht zu einer Fachkraft und wird getröstet, indem sie es umarmt und ihm über den Kopf streicht, ihm also körperliche Zuwendung erteilt. Die Notwendigkeit, aus den 40 Kindern genau neun auszuwählen, die mit ihm gemeinsam Geburtstag feiern sollen, wird vom Kind nicht in Frage gestellt, sondern mit Hilfe von pädagogischer Begleitung betrauert und akzeptiert. Das Kind sucht also Trost bei genau der Instanz, die die Regel entwickelt hat. Dass dies der Fall ist, wird allerdings durch das ritualisierte Prozedere mit den Plastikchips verschleiert. Hier wird also eine Praktik ritualisiert und dadurch vermieden, dass Konflikte zwischen den Fachkräften und den Kindern entstehen oder Regeln in Frage gestellt werden. Die Fachkräfte können sich mit den Kindern verbünden und sie trösten, ohne dass dadurch die grundsätzliche Regelung in Frage gestellt wird, für die es wahrscheinlich viele gute Gründe gibt. Damit behalten die Fachkräfte die Oberhand, sie können eine Ordnung einführen und durchsetzen, ohne dass sie als die Mächtigen in Erscheinung treten oder für die Regeln Rechenschaft ablegen müssen. Was mir auch besonders auffällt, ist, dass die pädagogischen Fachkräfte ein Lied anstimmen, wenn es im Kreis zu laut wird. Die Kinder singen mit und danach kehrt für einige Minuten Ruhe ein. (P.20.03.14)
Dieses Phänomen, auf das ich in Abschnitt 5.2.7 näher eingehen werde, kehrt in sämtlichen von mir beobachteten Großen Morgenkreisen wieder. Die Fachkräfte beginnen immer wieder kurze Sing- oder Bewegungsspiele, bei denen sie die Anweisungen geben, gleichzeitig vorführen, wie diesen Folge geleistet werden soll, und schließlich abrupt abbrechen, um zum eigentlichen Thema zurückzukehren. Die Wirkung dieser Spiele ist, dass es kurz nach dem abrupten Ende für eine Weile ruhiger ist, als vor Beginn des Spiels. Durch das gemeinsame Singen wird eine Gemeinschaft gebündelt und die Aufmerksamkeit auf das Gemeinsame gerichtet. Am Ende des Kreises singen die pädagogischen Fachkräfte: „Clean up, clean up, everybody everywhere! Clean up, clean up, everybody do your share.“ Die Kinder singen mit und laufen nach Ende des Liedes aus dem Raum. (P.20.03.14)
Das Ende des Rituals Morgenkreis wird durch ein Lied markiert. Sobald das Lied beendet wird, löst sich der Kreis auf, indem alle ihre Sitzplätze und die meisten auch den Bewegungsraum verlassen. Das Abschlusslied ist auf Englisch und
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4 Das Forschungsprogramm
behandelt zu diesem Zeitpunkt das Thema Aufräumen: Alle sollen beim Aufräumen mithelfen. Es ist eigentümlich, denn es sammelt und konzentriert die Körper und Stimmen der Teilnehmenden ein letztes Mal zu einer Gemeinschaft, bevor es sie durch die Aufforderung zum Aufräumen wieder zersprengt. Sowohl das Aufräumen als auch das Abschlusslied werden in meinen Beobachtungen noch eine Rolle spielen, da sie zum Gegenstand von Deliberation und Entscheidung werden. Insgesamt treten schon bei der ersten Beobachtung des Morgenkreises wichtige Aspekte für die weitere Forschung zu Tage. • Eine strikte Ritualisierung wird nicht nur als Handlungsentlastung, sondern als Möglichkeit, Regeln als Gesetze erscheinen zu lassen, vorgeführt. Dies erlaubt es den Fachkräften, den Kindern Frustration zuzumuten und sie gleichzeitig im Umgang damit zu unterstützen. • Unruhe wird durch musikalische Einschübe eingedämmt, die von den pädagogischen Fachkräften initiiert werden. • Unliebsame Aufgaben, wie das Aufräumen, haben anscheinend einen festen Platz im Tagesablauf und werden mit einem Lied angekündigt. Es wird Gegenstand der weiteren Untersuchungen sein, inwieweit diese ersten Thesen durch spätere Beobachtungen und Analysen bestätigt, ergänzt und verworfen werden müssen.
4.4.5 Das Nachgespräch mit der Leiterin Nach dem Kreis kehre ich in Aminas Büro zurück. Auf meine Nachfrage, wie die pädagogischen Fachkräfte zu meiner Idee stehen, sagt sie, dass sie als Leitung der Kita allein entschieden habe, dass es in Ordnung gehe, wenn ich komme: „Ich habe das entschieden, du bist meine Praktikantin. Du bist quasi meine Augen, ich kann ja nicht so viel beobachten. Ich hoffe, dass ich einiges erfahre.“ Ich fühle mich instrumentalisiert und befürchte, mit den pädagogischen Fachkräften nicht ins Gespräch zu kommen, wenn ich ihnen von der Leiterin quasi vor die Nase gesetzt werde. Trotzdem nicke ich. Dann verabschiede ich mich, ziehe meine Schuhe und Jacke an und gehe. (P.20.03.14)
Nach der Rückkehr ins Büro der Einrichtungsleiterin Amina erschließt sich mir, warum die Fachkräfte mich als Praktikantin adressiert und nicht an der Abstimmung teilgenommen haben: Auf meine Nachfrage hin erzählt mir Amina, dass sie ihre „Kolleg*innen“ keineswegs nach ihrem Einverständnis gefragt hat, sondern mich als ihre Praktikantin ausgewiesen hat. Es scheint sich dabei nicht
4.4 Das Forschungsfeld und der Feldeinstieg
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nur um eine Strategie zu handeln, eine demokratische Entscheidung im Team zu umgehen – Amina hat nicht einmal eine Scheinpartizipation gewählt –, sondern sie überführt das hierarchische Lehr-Lern-Verhältnis, das sie zwischen uns eingeführt hat, in die bewährte Form des Praktikums. Sie macht außerdem deutlich, was sie sich von mir als ihrer Praktikantin erhofft: Sie sieht in mir eine Agentin, die ihr Informationen über die Praxis der pädagogischen Fachkräfte verschafft. Da sie allein nicht kontrollieren kann, was die Fachkräfte tun, möchte sie mich als zweites Paar Augen instrumentalisieren. Sie will keine Beratung oder gemeinsames Nachdenken über Partizipation, sie will meine Beobachtungen erfahren und daraus ableiten, wie sie die Umsetzung steuern soll. Mir wird sofort klar, dass diese Rolle bestimmte Gefahren für meine Forschung birgt, nämlich, dass die Fachkräfte nicht so offen mit mir reden, wie ich es mir erhoffe.16 Außerdem bin ich in meiner Inszenierung als Expertin gescheitert. Insgesamt lässt sich aus diesem Verhalten schließen, dass Amina auf starke Steuerung setzt, diese aber alleine nicht umsetzen kann. Sie scheint es nicht notwendig zu finden, ihre Absichten ihren Untergebenen oder mir so früh transparent zu machen, dass wir eine informierte Entscheidung treffen können. Partizipation bezieht sich für sie ausschließlich auf das Verhältnis von Kindern und Fachkräften oder von Kindern untereinander und hilft, die körperliche Integrität der Kinder zu wahren. Partizipation betrifft jedoch nicht ihr Verhältnis zu ihren Untergebenen oder zu mir als Forscherin.
4.4.6 Konstruktion des Feldes und Feldeinstieg Durch einen offenherzigen Gesprächseinstieg, in welchem sofort Probleme geschildert werden, die sich hinsichtlich der Umsetzung von demokratischer Partizipation ergeben, scheint die Einrichtungsleiterin Amina eine Verbündete zu suchen, die ihr dabei hilft, Partizipation in die Praxis umsetzen zu lassen.17 Sie
16Dies
bestätigt sich im Verlauf der Beobachtungen nur zum Teil. Es gelingt mir vor allem zu späteren Zeitpunkten, mich mit den Fachkräften vertieft auszutauschen. Am Anfang erzählen sie mir hauptsächlich, wie wichtig sie Demokratiebildung finden. 17Im Lauf der Forschung in der Kita treffe ich immer wieder auf Amina und bespreche mit ihr verschiedene Themen, mit denen sie in ihrer Funktion als Leiterin konfrontiert ist. Partizipation ist eines dieser Themen, wir sprechen jedoch auch über Inklusion, über das Aufräumen, die Raumgestaltung etc.
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4 Das Forschungsprogramm
setzt ihren Entschluss, mich in der Kita aufzunehmen, gegen ihre pädagogischen Fachkräfte und auch gegen einzelne Kinder durch. Die Kinder dürfen vordergründig an der Entscheidung partizipieren. In einer Gremiensitzung werden sie mit einigen wenigen Informationen versorgt und dann gefragt, ob sie einverstanden sind. Es findet kein gemeinsamer Bildungsprozess statt, der die Entscheidung erleichtern würde. Die Fachkräfte werden trotz einer gegenteiligen Ankündigung mir gegenüber nicht gefragt, sondern ihnen wird die fremde Person in einer vertrauten Rolle präsentiert, d. h. als Praktikantin. Diese offizielle Rollenzuteilung Fremde = Praktikantin macht deutlich, wie das Feld der Kita funktioniert: Es gibt eine deutliche Hierarchie zwischen Fachkräften und Leiterin und keine demokratische, also egalitäre Ordnung. Die Fachkräfte müssen demokratische G remien-Sitzungen mit den Kindern durchführen, auch wenn sie nicht wollen. Der Leiterin ist nicht möglich, umfassend zu kontrollieren, wie gut ihre Anordnungen umgesetzt werden, sie kann „nicht so viel beobachten“. Daher setzt sie zwischen sich und den Fachkräften eine ihr unbekannte Person ein, die aus einer ganz anderen Motivation heraus und mit einer anderen Vorstellung von ihrer Rolle in die Kita gekommen ist. Die Position der Kinder wird verändert, sie werden zwar von den pädagogischen Fachkräften im Zaum gehalten, aber immerhin von der Einrichtungsleiterin dazu befragt, ob sie mit meiner Anwesenheit einverstanden sind. In Bezug auf Rituale und Ritualisierungen wird deutlich, dass sie u. a. dazu dienen, die Entstehung von Widerstand zu verhindern. Die Vollversammlung stur jede Woche zur gleichen Uhrzeit durchzuführen, soll die Fachkräfte vergessen machen, dass sie sie auch nicht machen könnten. Das Beispiel der Geburtstagseinladung zeigt, dass eine Ritualisierung bestimmter Abläufe tatsächlich verschleiern kann, dass diese menschengemacht und veränderlich sind. Inwieweit sich diese Muster und Strukturen, die sich in der ersten Beobachtung zeigen, als typisch für die Praktiken dieser Kita oder sogar für das Problem von Demokratiebildung in Kitas allgemein erweisen werden, zeigen die weitergehenden Beobachtungen und Analysen. Vor dem Hintergrund der theoretischen Konzeption und der Begegnung mit der Praxis definiere ich den Forschungsgegenstand als die rituellen Praktiken demokratischer Partizipation in einer Kindertageseinrichtung und das Feld als die Kindertageseinrichtung. Im Folgenden sollen die Forschungsfragen, die sich aus der theoretischen Konzeption, dem Feldeinstieg und der Beobachtung der Praxis ergeben, beantwortet werden.
5
Darstellung der Forschungsergebnisse
Im empirischen Teil dieser Arbeit stelle ich die Ergebnisse meiner Forschungsarbeit vor. Meine Beobachtungen in der Kita Seitenstraße über den Zeitraum eines halben Jahres machen deutlich, dass der Morgenkreis, ein bereits bestehendes Ritual, dessen Ablauf Kindern und pädagogischen Fachkräften gut bekannt ist, an Donnerstagen zu einer Vollversammlung abgewandelt wurde. Da ich diesen Transformationsprozess über ein halbes Jahr begleiten konnte, hat sich meine Fragestellung leicht verändert. Anstatt zu forschen, wie in der Kita Praktiken der Demokratiebildung ritualisiert werden, habe ich erforscht, wie ein zentrales Ritual der Einrichtung mit neuen Inhalten gefüllt und dadurch transformiert wurde. Der Gang der Untersuchung ist wie folgt: In Abschnitt 5.1 lege ich dar, wie das Ritual Morgenkreis peu à peu zum Ritual Vollversammlung gewandelt wird. Dabei analysiere ich zunächst die bestehenden Praktiken des Morgenkreises (Abschnitt 5.1.1), um zu zeigen, welche Veränderungen das Ritual durch die Integration des Elements Vollversammlung erfährt und wie die Gestaltung der Vollversammlung von den ritualisierten Praktiken des Morgenkreises beeinflusst ist (Abschnitt 5.1.2 und 5.1.3). Diese Praktiken führen eine Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen ein oder erhalten sie aufrecht (Abschnitt 5.1.4). Im Ritual Vollversammlung werden zahlreiche Praktiken durchgeführt, die eine Disziplinierung der Kinder erwirken. Dieses Phänomen werde ich in Abschnitt 5.2 besonders in den Fokus nehmen und herausarbeiten, wie und an welchen Stellen die Kinder im Ritual und durch das Ritual diszipliniert werden. In Abschnitt 5.3 werde ich mich mit der Erzeugung und Aufrechterhaltung von Differenzen im Ritual Vollversammlung beschäftigen. Dabei handelt es sich vor
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6_5
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
allem um eine generationale Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen, aber auch andere Differenzlinien werden erkennbar produziert. In Abschnitt 5.4 führe ich die Linien wieder zusammen und zeige, wie die herausgearbeiteten ritualisierten Praktiken darauf Einfluss nehmen, ob und wie die Anliegen der als-Kinder-Klassifizierten Eingang in die demokratischen Gremien der Kita finden. In Abschnitt 5.5 werden die wichtigsten Ergebnisse knapp zusammengefasst. In Kapitel 6 ziehe ich für Wissenschaft und Praxis Schlussfolgerungen aus meinen Ergebnissen, reflektiere die Chancen und Grenzen der Vorgehensweise und gebe einen Ausblick. Die Ergebnisse sind aus der intensiven analytischen Beschäftigung mit den Beobachtungsprotokollen und Transkripten entstanden, die ich während meiner Beobachtungsphase in der Kita erstellt habe. Sie haben unterschiedliche Abstraktionsgrade (ansteigend vom Transkript bis zu den Schlussfolgerungen) und werden im Zwischenfazit jedes Kapitels mit bestehenden Theorien verknüpft. Die Darstellungsweise in den einzelnen Kapiteln besteht in einer Abfolge von Ausschnitten aus Beobachtungsprotokollen und Transkripten (kursiv gesetzt) und ihrer Interpretation. In den Protokoll- bzw. Transkript-Ausschnitten ist, wenn es nicht aus dem Kontext deutlich wird, jeweils beim ersten Auftreten einer Person gekennzeichnet, ob es sich um eine pädagogische Fachkraft (PFK) oder ein Kind (K) handelt.
5.1 Der (lange) Prozess der Einführung einer Vollversammlung Der Ausgangspunkt meiner empirischen Forschung ist die Feststellung der Einrichtungsleiterin, dass die pädagogischen Fachkräfte a) Partizipation lieber im Alltag umsetzen, als Gremiensitzungen durchzuführen und b) die Gremiensitzungen daher ritualisiert ablaufen, also jeden Donnerstag durchgeführt werden sollten – ohne Rücksicht darauf, ob es etwas zu besprechen gibt oder nicht (P.27.03.14). Dies erklärt sie mir bei unserem ersten Telefonat, bei dem wir zu dem Schluss kommen, dass ich direkt bei der zweiten Durchführung der Vollversammlung anwesend sein und mein Forschungsvorhaben vorstellen soll (vgl. Abschnitt 4.4.2). Ziel dieses Kapitels insgesamt ist, die Prozesshaftigkeit der Einführung von demokratischen Beteiligungsgremien in Kitas herauszuarbeiten, weil diese mit der Prozesshaftigkeit jeder Demokratie übereinstimmt und nicht zuletzt anderen Einrichtungen möglicherweise die Scheu davor nimmt, sich auf den Weg zu
5.1 Der (lange) Prozess der Einführung einer Vollversammlung
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mehr Partizipation zu machen. Um zu zeigen, was die Schwierigkeiten und Vorteile der Nutzung und Erweiterung bereits eingeführter Versammlungsrituale sind, möchte ich mit der Beschreibung und Analyse des üblichen Morgenkreises beginnen. Am Morgenkreis wird deutlich, dass Kindertageseinrichtungen durch und durch pädagogische Orte sind, deren Gestaltung professionell ausgebildeten und handelnden pädagogischen Fachkräften obliegt. Auch wenn einige Praktiken und Ideen von Kindertageseinrichtungen historisch bedingt oder gewachsen sind, sind sie inzwischen soweit pädagogisch ‚durchprofessionalisiert‘, dass die meisten Praktiken versteckte oder offene Lernziele verfolgen. Selbst das Freispiel ist Mittel zum pädagogischen Zweck: Kreativität und Sozialkompetenzen sind nur zwei der Wirkungen, die dem Freispiel zugeschrieben werden. Natürlich gehen die Praktiken aber nicht in den offiziell verfolgten Zielen auf. All dies wird Thema der Analyse des Morgenkreises sein.
5.1.1 Ausgangspunkt: Der Morgenkreis als pädagogisches Ritual Der Morgenkreis im Elementarbereich, der in der Verfassung und von den pädagogischen Fachkräften „Großer Morgenkreis“ genannt wird, findet täglich um 9 Uhr im Bewegungsraum der Einrichtung statt. Ab 7 Uhr werden die Kinder gebracht und haben dann die Möglichkeit, zu frühstücken und in allen für sie geöffneten Räumen1 sowie im Flur der Einrichtung zu spielen. Ab kurz vor 9 Uhr werden die Kinder von den pädagogischen Fachkräften darauf hingewiesen, dass der Morgenkreis in Kürze beginnt. Da auch der Bewegungsraum zum Spielen benutzt werden kann, muss er vor dem Morgenkreis aufgeräumt und hergerichtet werden. Nach dem Herrichten des Raumes nehmen Kinder und Erwachsene eine ganz bestimmte Sitzordnung ein, auf die ich noch näher eingehen werde. Der Übergang zum eigentlichen Morgenkreis beginnt mit einem Gongschlag. Zentraler Bestandteil des Morgenkreises ist die Vorbereitung der Angebotszeit, die im Anschluss an den Morgenkreis beginnt. Nach dem Morgenkreis, etwa ab 9.45 Uhr, beginnen die Vormittagsaktivitäten, die sogenannten Angebote. Diese sind jeden Tag ein wenig unterschiedlich und hängen davon ab, welche pädagogischen Fachkräfte am jeweiligen Tag anwesend sind und welche Ideen
1Ob
Räume für sie geöffnet sind, erkennen die Kinder nicht daran, ob die Türen geöffnet oder geschlossen sind, sondern an laminierten grünen oder roten Kreisen, die an den Türen hängen.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
die Kinder einbringen. In jedem Fall setzen sich die Gruppen in den Angeboten jeden Tag neu zusammen. Auch die Mittags- und Abholzeiten der Kinder sind unterschiedlich. Deshalb ist der Morgenkreis die einzige Phase des Tagesablaufs, in der alle Kinder des Elementarbereichs der Einrichtung versammelt sind. Tabelle 5.1 verdeutlicht den Ablauf und die Bestandteile des Morgenkreises. Sie basiert auf meinen regelmäßigen Beobachtungen der Morgenkreise und Vollversammlungen über den Zeitraum von 6 Monaten hinweg. Die in Bezug auf meine Fragestellung relevanten einzelnen Elemente und ihre Funktionen werden in den folgenden Kapiteln ausführlich dargestellt. Ich habe mich dazu entschieden, den gemeinsamen Aktivitäten im Morgenkreis kein eigenes Kapitel zu widmen, sondern sie dort zu beschreiben und zu analysieren, wo es thematisch passend ist. Tabelle 5.1 Die Praktiken des Morgenkreises im Überblick Charakteristik und Funktion
Element
Rituelle Sammlung und Vergemeinschaftung
Bewegungsraum vorbereiten Gong schlagen/kommentieren Sitzordnung einnehmen Lied singen: „Good Morning“
Vorbereitung der Angebotszeit
Angebote ausführlich vorstellen Bildertafel erklären Kinder auf Angebote verteilen
Gemeinsame Aktivitäten im Morgenkreis
Spielen Gesprächsrunden führen Lieder singen Kinder zählen Kinder zum Geburtstag einladen
Demokratische Elemente
Vollversammlung Mehrheitsentscheide herstellen
Wiederherstellen der Ordnung
Bewegungsspiele spielen
Übergangsgestaltung: Abschluss
Lied singen: „Clean-Up-Song“ Kita Aufräumen „Joggen“
Die einzelnen Elemente des Morgenkreises werden nicht in einer strikten Reihenfolge durchgeführt, sondern der Ablauf wird von der moderierenden Fachkraft der jeweiligen Tagesform (ihrer eigenen und der der Kinder) angepasst. Der
5.1 Der (lange) Prozess der Einführung einer Vollversammlung
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Morgenkreis wird täglich aufgeführt; das Element Vollversammlung hingegen lediglich donnerstags. An Tagen, an denen im Morgenkreis auch eine Vollversammlung stattfindet, wird der Morgenkreis als Ganzes als Vollversammlung bezeichnet – jedenfalls von einigen pädagogischen Fachkräften und von mir in den Protokollen.
Rituelle Sammlung und Vergemeinschaftung Das folgende Kapitel untersucht, wie der Übergang von Freispielzeit und Frühstück hin zum Morgenkreis organisiert und gestaltet ist. Wie Tabelle 5.1 zu entnehmen ist, gehört zur Übergangsgestaltung, dass der Bewegungsraum vorbereitet wird, alle Teilnehmenden eine Sitzordnung einnehmen, ein Gong schlägt und gemeinsam ein Lied gesungen wird. Diese Elemente werde ich nun ausführlicher analysieren.
Vorbereitung des Bewegungsraumes In einen großen Kreis setzen wir uns hin. An den Wänden des rechteckigen, etwa 25 qm großen Bewegungsraums sind quaderförmige Sitzkissen/Bauklötze aufgestellt, die uns als Sitzgelegenheiten dienen. Außerdem gibt es eine Bank an einer Wand, auf der ebenfalls Kinder und Fachkräfte sitzen. (P.27.03.14)
Im Beobachtungsprotokoll wird das räumliche Setting beschrieben, in welchem der Morgenkreis stattfindet. Die Kinder und Fachkräfte sitzen auf eckigen Schaumstoffwürfeln und Quadern sowie auf einer Holzbank. Dabei handelt es sich um Objekte, die sich ohnehin im Bewegungsraum befinden, und die räumlich so arrangiert werden, dass sie die Sitzordnung unterstützen. Sie bilden dabei mitnichten einen Kreis, wie es im Protokoll steht, sondern ein Rechteck entlang der vier Wände des Raumes mit einem Freiraum in der Mitte. Der Morgenkreis findet nicht im Stehen oder in Bewegung statt, sondern es wird eine sitzende Körperhaltung eingenommen, die theoretisch begünstigt, dass sich alle gegenseitig sehen und – zumindest vom Anspruch her – länger miteinander sprechen können, ohne zu ermüden. Es handelt sich um eine Aufmerksamkeit erzeugende oder zumindest suggerierende Haltung, die in der Schule ebenfalls präferiert wird. Da der „Kreis“ rechteckig ist und von Tür, Flipchart und großen Lücken zwischen Sitzbänken und Kissen unterbrochen wird, gibt es Positionen, von denen aus das Geschehen leichter verfolgt werden kann. Dass eine rechteckige Anordnung als „Kreis“ bezeichnet wird, drückt den mit dem Setting verbundenen egalitären Anspruch aus. Ideologisch gesehen soll es
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
sich um einen Kreis handeln, bei dem alle Anwesenden dieselben Möglichkeiten haben, wahrzunehmen und wahrgenommen zu werden. Praktisch kann dieser Anspruch jedoch nicht eingelöst werden. Vor dem Beginn des Morgenkreises wird der Bewegungsraum wie folgt hergerichtet: Svenja (PFK) hat heute den Kreis aufgebaut. Dabei haben ihr die Kinder geholfen, die sonst immer Fußball spielen („an einem Fußballangebot teilnehmen“) im Bewegungsraum. (P.19.06.14)
Die Vorbereitung wird hauptverantwortlich von einer Fachkraft (Svenja) erledigt, die Kinder „helfen“ lediglich. Im Protokoll stelle ich die Aktivität des „Fußballspielens“ der pädagogischen Beschreibung gegenüber. Damit distanziere ich mich implizit von der vermarktenden Bezeichnung der Aktivitäten der Kinder als „Angebote“. Ich gehe wieder in den Bewegungsraum, wo Minigolf gespielt wird, Höhlen gebaut werden und Narayan (K) wieder mit dem Kricket-Schläger wedelt. Ich habe keinerlei Autorität, die Kinder dazu zu bringen, den Kreis aufzubauen, den wir für die Vollversammlung benötigen. Stattdessen werde ich in Drehspiele involviert, muss eine Ziege darstellen, die von einem Leoparden (Safiya; Kind) angefaucht wird und werde dann von Richard (PFK) zurechtgewiesen wie die Kinder. Erst als Richard hineinkommt und die Kinder nachdrücklich auffordert, räumen sie den Kreis her. (P.05.06.14)
Das Protokoll macht deutlich, wie groß die Bandbreite der Aktivitäten ist, die die Kinder im Bewegungsraum vor dem Morgenkreis vollziehen. All diese Aktivitäten müssen sie um 9 Uhr unterbrechen und deren Spuren beseitigen. Im Gegensatz zu Svenja schaffe ich es nicht, die Kinder dazu zu bringen, meine Anweisungen zu befolgen, mir also zu helfen. Stattdessen fungiere ich als eine Spielkameradin. Auch die pädagogische Fachkraft Richard spricht mich nicht als ihm ebenbürtige Interaktionspartnerin an, sondern weist mich zurecht. Zurechtgewiesen zu werden verknüpfe ich im Protokoll mit der Gruppe der Kinder. Ich werde wie die Kinder, weil ich zurechtgewiesen werde. Richard fordert die Kinder mit mehr Nachdruck dazu auf, den Kreis zu errichten und hat damit Erfolg. Im Protokoll bringe ich dies mit Autorität in Zusammenhang. Mir fehlt sie, Richard hat sie – möglicherweise gerade weil er die Kinder zurechtweist. Nach längerer, regelmäßiger Anwesenheit und unterstützt durch die Einrichtungsleiterin, gelingt es auch mir, die Kinder dazu zu bewegen, mir zu helfen.
5.1 Der (lange) Prozess der Einführung einer Vollversammlung
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Im Bewegungsraum: Nichts vorbereitet und keine VV. Kinder spielen auf einem Haufen von Kissen, der Kreis ist noch nicht vorbereitet. Amina (PFK) und ich gehen hinein und fangen an, den Kreis aufzubauen. Ich werde stürmisch begrüßt von Lucy, Pauline, Nele. Ich frage all diese Kinder, ob sie mir helfen, den Kreis aufzubauen. Sie nicken und tun tatsächlich etwas. Ich trage mit Lucy ein großes Kissen durch den Raum. Als wir an Ada vorbeikommen, wirft sie sich drauf. Sie tut das aber nur einmal. Später schiebt sie ein kleines Kissen durch den Raum. Ich sage ihr, dass es in der hinteren Ecke gut passen würde, sie sagt: „Nein!“ (P.23.10.14)
Auch in dieser Sequenz zeigt sich, dass die Vorbereitungen von Erwachsenen getroffen werden. Sind keine Erwachsenen anwesend, finden keine Vorbereitungen statt. Spontan übernehmen die Einrichtungsleiterin und ich diese Aufgabe. Die Kinder machen erst dann mit, wenn sie explizit darum gebeten werden. Im Protokoll stelle ich meine Verwunderung darüber dar, dass sie nicht nur nicken, sondern tatsächlich etwas tun. Das deutet darauf hin, dass es nicht zu meinen Erfahrungen gehört, dass die Kinder tun, was ich sage. Adas Verhalten veranschaulicht das: Sie ‚spielt‘ spontan mit Lucy und mir und behindert dadurch die Aufbauarbeiten, zudem verneint sie vehement meinen Vorschlag. Beate (PFK) kommt mit einem neuen Xylophon-Ton herein, lässt ihn immer wieder ertönen und bittet die Kinder, einen Kreis aufzubauen mit einem Thron in der Mitte. Der soll für Fritz‘ (K) Abschied sein. (P.09.10.14)
Das erste wichtige Artefakt, das in diesem Ausschnitt eines Protokolls darauf hinweist, dass noch ein anderes Ritual im Rahmen des Morgenkreises stattfindet, ist ein „Thron“. Beate, die als Aushilfe in der Kita arbeitet, fordert die Kinder ganz selbstverständlich dazu auf, einen Thron für Fritz‘ Abschied zu bauen. Fritz wird umziehen und daher die Einrichtung wechseln. Die Bezeichnung Thron verweist auf eine Ab- bzw. Besonderung eines Individuums aus der Gemeinschaft und gleichzeitig auf die Feierlichkeit des Anlasses: Der Thron als Herrschersitz, Sitz des Monarchen wird traditionell nur bei feierlichen Anlässen verwendet. Als Sitzmöbel, das Herrschenden vorbehalten ist und ihre besondere Stellung hervorhebt, steht es in einem Widerspruch zur angestrebten Egalität der Gemeinschaft, die, wie sonst auch üblich, im Sitzkreis zusammenkommt. Die gewöhnliche Sitzordnung der Morgenkreise und Vollversammlungen soll an diesem Tag also durchbrochen werden: Dazu werden zwei von den kleineren Kissen an den Seiten eines ebenfalls kleinen Kissens senkrecht hingestellt, sodass ein einzelner Sitz mit zwei hohen Armlehnen entsteht. Diese Armlehnen trennen die Person, die darauf Platz nimmt, räumlich von den anderen Personen. Die von den Kindern
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
sehr häufig genutzte Möglichkeit, sich zu berühren, wird durch sie stark eingeschränkt. Diese körperliche Abtrennung nimmt die räumliche Trennung von Fritz, die durch seinen Institutionenwechsel erfolgen wird, bereits vorweg und bereitet die Mitglieder dieser Kita darauf vor. Der Thron befindet sich zudem in einer zentralen Position des Sitzkreises, allerdings nicht in der Raummitte, wie man eigentlich annehmen könnte – schließlich fordert Beate dazu auf, ihn in der Mitte aufzubauen –, sondern mitten in der langen Reihe vor den Fenstern. Die Position des Throns erzeugt ein Spannungsfeld zwischen der Besonderung eines einzelnen Platzes und dem Sitzkreis, wo vom Anspruch her jeder Sitz gleichwertig ist. Bereits beim Herrichten des Bewegungsraums für den Morgenkreis fällt ein Widerspruch zwischen der Bezeichnung „Morgenkreis“ bzw. der dadurch ausgedrückten Haltung und der wirklichen Form der Sitzordnung, die eine soziale Ordnung impliziert, auf. Diese ist nicht egalitär, sondern durchaus untergliedert in privilegiertere und weniger privilegierte Positionen. Der Kreis ist eher die Bezeichnung für die ritualisierte Praktik als für die Sitzordnung, ganz ähnlich wie ein Frauen- oder Familienkreis.
Gongschlag und Kommentar Ein Gongschlag markiert den Übergang zwischen Frühstück/Freispiel und dem Morgenkreis. Es ertönt ein Gong. (P.27.03.14)
In diesem Protokoll steht nicht, dass der Gong geschlagen wird, oder von wem, sondern er ertönt – wie in der Schule – quasi von selbst als automatisierte Zeitpunktbestimmung. Hier wird eine Ritualpraktik aufgeführt und neu kontextualisiert, die gleichzeitig Assoziationen mit (vermeintlich) fernöstlicher Religiosität, mit Orchestermusik, aber auch mit schulischer Disziplinierung weckt. Der Gongschlag rahmt und markiert das auf ihn folgende Geschehen als Phase der rituellen Sammlung: In der Einrichtung verstreute Körper bewegen sich nach seinem Erklingen zu einem bestimmten Ort und erzeugen dort gemeinsam einen rituellen Raum. Darüber hinaus kann die Funktion des Gongschlags auch als die Zuordnung eines messbaren Zeitpunkts zu einer Praktik interpretiert werden. Dadurch, dass der Gong immer um etwa 9 Uhr geschlagen wird bzw. „ertönt“, markiert er nicht nur allgemein das Ende von Frühstück/Freispielzeit und den Beginn des Morgenkreises, sondern auch noch den Zeitpunkt als 9 Uhr. Die Unterteilung des Tages
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in einzelne Abschnitte, an denen jeweils bestimmte Praktiken vollzogen werden, also der Tagesablauf, wird demnach rituell hergestellt. Dabei hilft das Signal des Gongs. Hinweise darauf, dass der Gong ein wiederkehrendes Element des Rituals Morgenkreis/Vollversammlung ist, finden sich auch in anderen Beobachtungsprotokollen: „Es gongt“ (P.12.06.14; P.02.10.14), „Die VV2 begann mit einem Gongschlag“ (P.19.06.14). Jedoch wird der Gong zwar regelmäßig, aber nicht jedes Mal geschlagen bzw. von mir vernommen, wie die folgenden Ausführungen zeigen. Ohne den Gong beginnt der Morgenkreis. Es ist 09.04 Uhr. (P.26.06.14)
In dieser Sequenz kommt der Übergang zum Morgenkreis ohne den Gong aus. Möglicherweise ist er auch von meiner Beobachterinnenposition an jenem Tag aus nicht zu vernehmen. Denn der folgende Ausschnitt zeigt, dass der Gong relevant ist, auch wenn ich als Beobachterin ihn nicht höre. Der Gong hat geschlagen, behauptet Kerstin (PFK). „Was machen wir dann?“ Kinder: „Leise sein.“ – „Genau.“ (P.05.06.14)
Die pädagogische Fachkraft Kerstin greift auf eine (pädagogische) Ritualisierung zurück, indem sie eine rhetorische Frage stellt, auf die die Kinder das Erwünschte antworten: Sie benennen die von ihnen erwartete Handlung. Kerstin bezieht in diese Ritualisierung den Gong als Hinweissignal ein und stellt damit einmal mehr die Verbindung zwischen Gongschlag und Beginn des Morgenkreises her. Diese Vorgehensweise ist einerseits redundant. Der Gongschlag wäre prinzipiell ausreichend um zu markieren, dass der Morgenkreis beginnt. Die zusätzliche Frage danach, was der Gongschlag bedeutet, stellt eine spezielle Beziehung zwischen Fragestellerin und Kindern her. Die Fragestellerin positioniert sich, ähnlich wie in einem Quiz, als Wissende und als Evaluatorin der Antworten. Die Kinder werden als homogene Gruppe von Lernenden positioniert, die in diesem Fall kompetent und korrekt auf die Frage antworten. Andererseits ist unklar, ob der Gongschlag überhaupt vernehmbar war. Die Formulierung, Kerstin habe behauptet, der Gong hätte geschlagen, deutet darauf
2Wie
eingangs bereits erwähnt: An Tagen, an denen im Morgenkreis auch Vollversammlung stattfindet, wird der Morgenkreis als Ganzes als Vollversammlung bezeichnet – jedenfalls von mir in den Protokollen und von einigen pädagogischen Fachkräften.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
hin, dass ich selbst den Gong nicht vernommen habe und der Fachkraft indirekt unterstelle, sie würde dies lediglich behaupten, und so aus einem simplen Signal für den Übergang eine Lerngelegenheit für die Kinder machen. Das Material macht deutlich: Der Gongschlag ist nicht immer von allen vernehmbar, wird aber als Lerninstrument und als Begründung für das Einfordern spezifischen Verhaltens, d. h. leise zu sein, herangezogen. Der Verweis auf die Regel, leise zu sein, wenn der Gong geschlagen hat, verleiht der Forderung Autorität. Das Ritual lässt bestimmtes Verhalten als Notwendigkeit erscheinen. In der Kita werden bestimmte Verhaltensweisen ritualisiert und dann ihre Einhaltung mit dem Verweis auf das Ritual eingefordert. Bisweilen verweisen die Fachkräfte auch ganz ohne Redundanz auf den Gongschlag, wie die folgende Sequenz zeigt: Plötzlich kommen viele Kinder hinein. Richard (PFK) kommt ebenfalls und behauptet, es habe gegongt. Ich habe das nicht gehört. (P.10.07.14)
In dieser Sequenz wird die Tatsache des Gongschlags nochmals von der pädagogischen Fachkraft Richard verbalisiert und dadurch bekräftigt. Die in der Feststellung enthaltene Handlungsaufforderung ist so implizit, dass davon ausgegangen werden kann, dass allen bewusst ist, was der Gongschlag bedeutet und welche Effekte er produzieren soll. Anhand des Gongs wird deutlich, dass es Tendenzen zur Ritualisierung gibt, die Redundanz erzeugen und von den pädagogischen Fachkräften genutzt werden, um von den Kindern erwünschtes Verhalten einzufordern.
Sitzordnung herstellen Das Herstellen einer Sitzordnung ist ein wiederkehrendes Thema in den Beobachtungsprotokollen. Auf den ersten Blick wirkt es simpel: Kinder und Erwachsene gehen in den Bewegungsraum und setzen sich, wie der folgende Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll festhält: Es trudeln nach und nach sehr viele Kinder (heute wurde nicht gezählt) herein. Außerdem kommen Richard (PFK), Kerstin (PFK), sowie eine Mutter, die Eingewöhnung macht, herein. Alle setzen sich. (P.02.10.14)
Bei genauerer Analyse und dem Vergleich aller Beobachtungsprotokolle und Transkripte fällt auf, dass der Vorgang wesentlich komplexer ist. Die Kinder dürfen – in Grenzen – selbst bestimmen, wo innerhalb des Kreises sie sich hinsetzen und vor allem neben wen. Es gibt deshalb regelmäßig die Möglichkeit,
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Zugehörigkeit zu erproben, zu bestätigen und zu verwerfen. Daraus resultieren auch ritualisierte Streitigkeiten um bestimmte Sitzplätze bzw. Sitznachbar*innen. In der Regel soll jedes Kind für seinen Körper einen eigenen Platz haben, dies wird unter bestimmten Bedingungen jedoch suspendiert. Einige Kinder werden von den Fachkräften platziert, wohingegen das sogenannte Integrationskind besondere Privilegien erhält und gleichzeitig besondert wird (dazu mehr in Abschnitt 5.3.2). Im Folgenden soll das Einnehmen der Sitzordnung einer genauen Analyse unterzogen werden, da es ein elementarer Bestandteil des Rituals Morgenkreis/ Vollversammlung ist und zudem ein Spannungsfeld zwischen der individuellen Selbstbestimmung der Kinder, der Notwendigkeit des Verhandelns mit Anderen und dem Einüben von Disziplin kreiert. Über die Sitzordnung wird eine Zugehörigkeit zu Gruppen oder Freund*innen hergestellt oder aufrechterhalten. Richard (PFK) bittet die Fußballkinder, sich hinzusetzen. Die Kinder setzen sich alle auf eine Bank, wie auf die Ersatzbank beim Fußballspiel. (P.10.07.14)
Die Bezeichnung Fußballkinder zeigt, dass ich die Kinder als Beobachterin durch ihr gemeinsames Interesse für Fußball als eine Gruppe wahrnehme. Dies beweist zunächst nicht, dass die Kinder sich selbst auch als Mitglieder einer Gruppe verstehen. Beim Einnehmen der Sitzplätze treten die Kinder jedoch tatsächlich als eine Gruppe mit einem gemeinsamen Interesse auf, sie setzen sich alle nebeneinander auf dieselbe Bank und bekräftigen damit ihre Zugehörigkeit. Sie alle haben zusammen Fußball gespielt und setzen sich jetzt nebeneinander hin. Zugehörigkeit oder erwünschte Zugehörigkeit wird auch auf der Basis individueller Sympathie statt eines gemeinsamen Interesses produziert, wie der folgende Abschnitt verdeutlicht. Dabei spielen auch Hierarchien innerhalb der Beziehung eine wichtige Rolle. Meret (K) ruft immer wieder nach Maria (K) und dann nach einem anderen Mädchen, und tippt dabei mit dem Bein auf den Platz neben ihr. Nach einer Weile sagt sie, dass ihr Bein weh tut. Ich sage, dass das bestimmt davon kommt, dass sie mit dem Bein auftippt. Sie bejaht und sagt dann, dass dies nicht einmal irgendetwas gebracht habe, weil Maria und auch das andere Mädchen sich nicht neben sie gesetzt hätten. Maria sitzt stattdessen links neben Lucy (K), die wiederum links neben mir Platz genommen hat. Maria ruft dann aber Meret zu sich und sie setzt sich sofort zwischen sie und Lucy. (P.02.10.14)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Meret möchte neben Maria und einem anderen Kind sitzen, allerdings ihren bereits eingenommenen Platz nicht aufgeben. Mit ihrem Bein deutet sie auf die Plätze, die sie den beiden zugedacht hat, macht auf sich aufmerksam, indem sie sich besonders breit macht, und verhindert gleichzeitig, dass andere Kinder sich dort hinsetzen können. Sie zeigt einen großen und geschickten körperlichen Einsatz, der so hoch ist, dass es schmerzt, was sie entsprechend kommentiert. Ich fühle mich dadurch angesprochen und biete ihr eine Erklärung für ihre Schmerzen an, stelle sie in den Zusammenhang zu ihrem körperlichen Einsatz. Dies bestätigt Meret und akzeptiert meine Deutung somit. Anschließend bedauert sie, dass ihr Einsatz nicht den erwünschten Erfolg gezeigt hat: Maria und das andere Mädchen haben sich einen anderen Platz ausgesucht. Zur körperlichen Erschöpfung tritt Enttäuschung hinzu: Meret hat sich vergeblich bemüht, die Sitzordnung nach ihren Wünschen zu gestalten. Maria ignoriert aber Meret nicht vollständig, sondern gibt ihr zu verstehen, dass sie durchaus neben ihr sitzen wolle, aber anscheinend nicht dort, wo Meret das vorgesehen hat. Sie hat sich stattdessen neben Lucy gesetzt, hat aber auch nichts dagegen, dass Meret sich zwischen Lucy und sie setzt, d. h. es scheint nicht ihr Anliegen gewesen zu sein, neben Lucy zu sitzen. Maria bestimmt selbst, wo sie sich hinsetzt, und lässt sich dies nicht von Meret vorgeben. Meret hingegen gehorcht Maria, sie setzt sich auf den ihr von Maria zugewiesenen Platz. Hier handelt es sich um ein Austarieren von Macht und gegenseitiger Sympathie. Die Rangfolge innerhalb ihrer Freundschaft wird somit verhandelt und bestätigt. Meret macht einen Vorstoß zu bestimmen, Maria ignoriert diesen, um anschließend einen eigenen Vorschlag zu unterbreiten, der von Meret sofort akzeptiert wird. Maria erhält an diesem Tag die Macht, über den Sitzplatz zu bestimmen. Somit dient die Übergangsphase der Sitzordnung den Kindern dazu, eine hierarchische Ordnung innerhalb ihrer Freund*innenschaftsbeziehungen herzustellen. Dadurch, dass nicht beliebig ist, wer neben wem sitzt, kommt es bei der Herstellung der Sitzordnung häufig zu Konflikten zwischen Kindern, die sich in ihrer Form und Lösung ähneln. Mia, Pauline und Emilia (Kinder) rennen auf mich zu. Mia landet auf dem Platz rechts neben mir und umarmt mich. Emilia landet auf dem Platz links neben mir und daneben Pauline, die sofort schreit, dass sie da sitzen wollte, wo Emilia sitzt. Sie haut Emilia, Emilia haut zurück. Mia sagt, dass Emilia neben ihr sitzen dürfe. Emilia steht auf, Pauline rutscht an mich heran. (P.16.10.14)
Einige Kinder engagieren sich in einem Wettrennen. Zwei der drei Kinder gewinnen das Wettrennen und landen auf den Plätzen neben mir. Die Verliererin
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akzeptiert das Ergebnis jedoch nicht, sondern expliziert, worum es im Wettbewerb ging: Da zu sitzen, wo die anderen sitzen. Da sie nicht schnell genug war, erweitert Pauline einerseits spontan den Wettbewerb um eine weitere Disziplin: den Faustkampf. Sie sucht sich ein neues Feld für den Wettbewerb. Das Verhalten kann aber auch gelesen werden als Ausdruck des Unvermögens, die Niederlage zu akzeptieren, das darin mündet, mit körperlicher Gewalt gegen eine der Siegerinnen vorzugehen. Emilia lässt sich dies jedoch nicht gefallen, sondern schlägt zurück. Mias Intervention beendet den Kampf/Konflikt endgültig. Sie „erlaubt“ Emilia, sich neben sie zu setzen. Damit bekundet sie Solidarität unter den Siegerinnen und Sympathie gegenüber Emilia. Emilia hat nicht nur zuerst den begehrten Sitzplatz errungen und damit ‚gewonnen‘, sondern sie bekommt einen zweiten Sitzplatz angeboten, der dadurch attraktiv wird. Sie gewinnt somit doppelt. Aber auch Pauline gewinnt, sie darf auf den von ihr gewünschten Platz. Die Kinder engagieren sich in einem Wettstreit um die ‚guten‘ Plätze und finden passende Lösungen zur Beendigung der Konflikte. Die Sequenzen haben gezeigt, dass die Kinder Konflikte darüber eingehen, wer an welcher Stelle sitzt. Dabei geht es häufig um Demonstration von Zugehörigkeiten, aber auch das Kräftemessen mit anderen Kindern um gute Plätze. Kriterien für eine hohe Qualität der Sitzplätze sind die unmittelbaren Nachbar*innen, die ermöglichte Aussicht auf bestimmte Gegenstände im Raum und ob und von wem der Platz verbal angeboten wird. Umstehende und umsitzende Personen werden in die Aushandlungen einbezogen. Kreative Lösungen werden gefunden, um sich mit Niederlagen zu arrangieren bzw. diese umzudeuten. Tina (PFK):
Haben wir da hinten noch ein bisschen Platz, dass wir die BankK1: Nöööö! Tina: Alle mal kurz aufstehen! K2: Bluting! Tina: Alle aufstehen. Emma. Steh mal bitte auf. ((Gong in weiter Ferne)) PFK: (hier noch sitzen?) Tina: Super, danke. K2: (dein Platz?) Tina: Tschüss. K2: It’s bluting.
144 PFK: K3: K4: K5: K6: K7: K8: K5: K7: K2: K8: K6: K9: K6: Tina: K9: Tina:
5 Darstellung der Forschungsergebnisse Meret, setz dich mal hin, bitte. It’s bluting. Döng, döng, döng. Nee, Öäääh. Hier auch bluting! Nicht diese Vollversammlung. Hier auch bluting! Hier auch bluting. (2) Hier auch tuting! Hier auch bluting! Hier auch tuting. Hier auch tuting. Nicht diese blöde Versammlung. Alle bluten Ketchup. (.) Außer Toni. @(.)@ Tata, ein neuer Socken. So, Darien, suche dir bitte einen Plaaaaa,(auch Ketchup (()) bluten (()) Toni (()) Nase) Okay. Pssssssst. (T.12.06.14)
Es kommen noch mehr Kinder in den Raum und setzen sich in den Kreis. Die Kinder um mich herum zeigen auf verschiedene Stellen an ihren Körpern und sagen, dass da auch Blut sei. „Hier auch bluten. Hier auch tuten.“ Toni tanzt mit einem Luftballon in der Mitte des Kreises und setzt sich zunächst nicht hin. (P.12.06.14)
Im Gegensatz zu den bisherigen Ausschnitten aus Beobachtungsprotokollen zeigt das obere Transkript, wie viel Arbeit für die moderierende Fachkraft (hier: Tina) im Herstellen der Sitzordnung steckt. Die Kinder setzen sich keinesfalls einfach alle hin, sondern einige von ihnen tun dies erst nach mehrfacher Aufforderung. Da aber in der Kita so viele Dinge gleichzeitig geschehen und der Großteil der Kinder sich durchaus selbstständig hinsetzt, werden die Besonderheiten im Protokoll vernachlässigt und tauchen erst im Transkript auf. Die beiden verschiedenen Textsorten ergänzen einander. Das Einnehmen einer Sitzordnung erfordert zunächst, dass genügend Sitzplätze für alle Anwesenden vorhanden sind. Tina stellt dies sicher, indem sie die Kinder auffordert, eine der Sitzbänke zu verschieben. Dazu muss sie die Kinder mehrfach auffordern, aufzustehen. Aufstehen entspricht jedoch nicht dem gewöhnlichen Ablauf des Rituals. Erst die Wiederholung der Aufforderung verleiht dieser Autorität. Emma wird von Tina namentlich aufgerufen. Die deutliche Hervorhebung eines Kindes als ein Individuum verleiht den Aufforderungen
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Nachdruck. Ebenso wie Emma werden auch Meret und Darien individuell aufgefordert – dieses Mal aber zur gegenteiligen Handlung, sich hinzusetzen. Das Nennen des Namens zeigt den so angesprochenen Kindern, dass sie sichtbare Individuen sind und ihre Handlungen Relevanz für andere haben – im Guten wie im Schlechten. Toni, der laut Aussagen der Fachkräfte ein „Integrationskind“ ist und mit einem Luftballon in der Mitte des Raumes tanzt, wird hingegen nicht persönlich aufgefordert, sich zu setzen. Er wird dadurch besondert, dass er nicht wie alle anderen Kinder behandelt wird. Wenn die Sitzordnung symbolisiert, dass alle gleich sind, dann bedeutet es im Umkehrschluss, dass man nicht gleich ist, wenn man weder im Kreis sitzt noch dazu aufgerufen wird. Der demokratische Gleichheitsanspruch wird demnach, zumindest symbolisch, für Toni aufgehoben. Während die Sitzordnung hergestellt wird, entwickeln die Kinder ein Spiel, das aus deutschen und englischen Wörtern bzw. Silben besteht. Sie mischen „It’s bleeding“ und „Es blutet“. Verschiedene Kinder wiederholen z. T. variiert die Aussage und zeigen an, an welchen Stellen ihres eigenen Körpers in ihrer Fantasie Blut ist. Das Bluten bezieht sich auf das Ereignis des Morgens, als eines der Kinder hingefallen ist und anschließend so stark aus der Nase geblutet hat, dass eine Lache auf dem Fußboden entstanden ist (P.12.06.14). Indem die Kinder daraus ein Spiel machen, das in Wiederholung und Abwandlung der gleichen Aussage besteht, verarbeiten sie dieses Ereignis und beziehen es auf sich selbst: Sie zeigen an, wo ihr eigener Körper in ihrer Imagination blutet. Mitunter wird Bluting auch durch das Nonsens-Wort Tuting ersetzt, was sich reimt. Die Kinder spielen mit Mehrsprachigkeit, Reimen und Bewegungen. Eines der Kinder macht dabei einen Kommentar, der Toni besondert. Es stellt fest, dass alle dasselbe machen, „Ketchup bluten“, nur nicht Toni. Das Kind nimmt also die Sonderstellung von Toni wahr und kommentiert sie dadurch, dass es sie in das Spiel transferiert. Ein anderes Kind scheint das aufzugreifen und selbst nochmals etwas Ähnliches zu äußern. Die Kinder setzen also die Besonderung von Toni auf spielerische Weise fort. In Bezug auf Demokratiebildung fallen hier auch die negativen Kommentare bezüglich der beginnenden Vollversammlung auf: Zwei Kinder reagieren mit genervter Ablehnung, als sie feststellen, dass Vollversammlung ist. Sie zeigen damit gleichzeitig, dass sie anhand der Signale oder des Wochentags erkennen können, dass eine solche stattfinden soll. Der folgende Ausschnitt zeigt, dass sich die Kinder das Recht, selbst zu entscheiden, neben wem sie sitzen wollen, durch Demonstration von angemessenem Verhalten erwerben müssen. Kleinere Kinder, die neu im Morgenkreis sind, werden zunächst noch dabei angeleitet, wo sie sitzen müssen.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Tina (PFK) setzt Fritz (K) links und Frieda (K) rechts von sich, ich nehme an, um die beiden einigermaßen unter Kontrolle halten zu können. Fritz und Frieda sind beide unter drei Jahre alt. Dabei beachtet sie nicht, dass sie aufstehen wird, um an Flipchart stehend die VV zu moderieren. Fritz und Frieda sind also, wie immer, recht schnell abgelenkt. Sie drehen sich einander zu und lehnen seitlich mit dem Kopf an der Wand. (P. 28.08.14)
Tina bestimmt, wo Fritz und Frieda sitzen sollen. Sie scheint davon auszugehen, dass sie das zur Situation passende Verhalten noch nicht inkorporiert haben bzw. noch nicht aufführen können, weil sie erst seit kurzem am Morgenkreis der „Großen“ teilnehmen. Tina setzt sich zwischen die beiden und blockiert damit zunächst die körperliche Interaktion zwischen ihnen. Die Sequenz zeigt, dass die beiden tatsächlich stark aufeinander bezogen sind und sich aufeinander beziehen: Sie wenden sich einander zu, sobald die Blockade aufgelöst wird, und sind somit „abgelenkt“. Die Wahl des Wortes deutet darauf hin, dass ich die Logik des Feldes – dass es etwas gibt, das das Eigentliche ist, nämlich das gemeinsame Geschehen in der Vollversammlung/im Morgenkreis – übernommen habe und das, was sich zwischen Fritz und Frieda ereignet, als das Andere, das Störende, das Abgelenkte interpretiere. Wie eine pädagogische Fachkraft stelle ich in meinem Protokoll fest, dass die Kinder nicht das korrekte Verhalten zeigen. Die Stelle zeigt jedoch auch, dass das Eingreifen der Fachkräfte in die Sitzordnung mitunter nicht die erwünschten Effekte zeigt, zumal Tina übersehen hat, dass ihr Körper die Interaktion der Kinder nicht blockieren kann, wenn sie sich zwecks Moderation zum Flipchart begibt. Neben der Herstellung und dem Austragen von Konflikten über Zugehörigkeit, wird beim Einnehmen der Sitzordnung auch eine Regulierung von Emotionen vollzogen. Emilia (K) hatte am Morgen geweint, als ihre Mutter ging. Tina (PFK) meinte, das habe geklungen, als würde sie „abgestochen“. Emilia war den ganzen Morgen nicht so gut drauf, sondern zurückhaltend für ihre Verhältnisse (sie spricht für gewöhnlich fremde Erwachsene an und erzählt mit ihnen). Sie wollte auch nicht in den Raum mit den ganzen Kindern kommen, wo sie alle anstarren, wenn sie durch die Tür kommt, weil die Sitzordnung so ausgerichtet ist. Direkt neben der Eingangstür steht das Flipchart für die Vollversammlungen und die Bildertafel für den Morgenkreis. Da kam sie sehr zögerlich und mit einem Kuscheltier im Arm hindurch und wurde dann von Tina am Arm in den Raum gezogen. Dann ist sie ganz langsam quer durch die Mitte des Raumes zu einem Sitzplatz gegangen, geschlichen, könnte man fast sagen. (P.19.06.14)
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Der Abschnitt hat die Interferenz zwischen Emilias emotionaler Gestimmtheit und dem Ritual Morgenkreis, insbesondere dem Einnehmen der Sitzordnung, zum Thema. Es wird deutlich, dass Emilias individuelles Befinden zunächst in einem Widerspruch steht zur notwendigen Gestimmtheit für das Ritual: Sie ist traurig oder wütend darüber, in der Kita bzw. ohne ihre Mutter zu sein und drückt dies zunächst expressiv, danach durch eine gesteigerte Introvertiertheit aus. Die beginnende Vollversammlung bedeutet jedoch, dass sie sich nicht in eine Privatheit zurückziehen und sich ihren Emotionen hingeben kann, sondern sich in die Ritual-Gemeinschaft einfügen muss. Insbesondere der Übergang fällt ihr sichtlich schwer. Die Sitzordnung rückt bestimmte Plätze oder Orte in den Mittelpunkt. Dies wird dadurch verstärkt, dass Flipchart und Bildertafel anzeigen, wohin die Blicke gerichtet werden sollen: Die Eingangstür liegt zwischen den beiden Artefakten und wird durch sie besonders hervorgehoben. Emilias als „zögerlich“ beschriebenes Verhalten zeigt, dass dieser Fakt für die Herstellung der Sitzordnung durchaus relevant ist. Sitzen bereits einige Personen im Raum und entspricht es nicht der Stimmung, sich zu zeigen, kann es unangenehm sein, durch diese zentrale Tür den Raum zu betreten. Dies zu tun, ist gleichbedeutend damit, sich öffentlich zu präsentieren und bei der Bewältigung der Aufgabe, einen Sitzplatz zu wählen, „von allen angestarrt“ zu werden. Das ist auch deshalb möglich, weil sie so spät den Raum betritt, dass bereits Publikum versammelt ist. Je nachdem, zu welchem Zeitpunkt man den Bewegungsraum betritt, wird somit die Spannung zwischen der individuellen Sichtbarkeit und der Unterordnung in die Gemeinschaft deutlicher erfahrbar. Emilia geht entsprechend ihrer Stimmung zunächst sehr langsam voran, wird dann entgegen ihrem eigenen Rhythmus buchstäblich in den rituellen Raum hineingezogen. Sie kann sich nicht entziehen, sondern muss der Herausforderung, die das Publikum sowie die Sitzplatzwahl an jenem Tag für sie darstellt, begegnen. Gleichzeitig erhält sie die Möglichkeit, sich als Teil von etwas Größerem zu begreifen und die Begrenztheit ihrer eigenen Perspektive bzw. der eigenen Emotionalität zu erkennen. Durch das Ritual wird sie herausgefordert, sich mit anderen Themen auseinanderzusetzen, und kann sich von ihren Emotionen ablenken. Sie kann erkennen, dass sie nicht allein ist, sondern Teil einer Gemeinschaft. Emilia begehrt nicht dagegen auf, sondern fügt sich in den rituellen Ablauf. Sie erkennt damit die Notwendigkeit an, sich in die Gemeinschaft einzufügen und die eigene Stimmung anzupassen. Die Sitzordnung hat somit ambivalente disziplinierende Effekte: Sie stellt unter bestimmten Bedingungen eine Zumutung
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dar, die es den Kindern gleichzeitig erlaubt, sich als Mitglied einer Gemeinschaft zu identifizieren und eigene negative Emotionen zu be- und verarbeiten.
Begrüßungslied: Good Morning Nicht nur über das Setting, die Platzwahl und den Gongschlag wird die notwendige Stimmung erzeugt. Der Morgenkreis beginnt jeden Tag mit einem Begrüßungslied: Die Sitzung beginnt mit einem englischen Lied, das von Richard (PFK) angestimmt wird. Es geht wie folgt: „Good morning, good morning, good morning to you. Good morning, good morning and how do you do?“ Alle singen mit. (P.27.03.14)
Nach dem Einnehmen der Sitzordnung, das alle Elementarkinder und einige pädagogische Fachkräfte in einem Raum versammelt, wird ein Lied gesungen. Damit, dass es auf Englisch gesungen wird, wird der im pädagogischen Konzept geforderten Bilingualität Rechnung getragen: Die Kinder hören nicht nur, dass bestimmte Fachkräfte Englisch sprechen (jedenfalls wenn sie in direktem Kontakt mit Kindern sind), sie lernen durch das Singen auch, selbst Englisch zu sprechen. Kinder, deren Muttersprache Englisch ist, hören vertraute Worte und können ihre sprachliche Kompetenz ganz anders einbringen als in der Kommunikation auf Deutsch. Das Lied erhebt den Anspruch, familiensprachliche Differenz anzuerkennen. Das Singen ist zum einen egalitär: Gemeinsames Singen erfordert es, die Aktivitäten des eigenen Körpers mit denen anderer zu koordinieren. Zur richtigen Zeit muss von allen Singenden der richtige Laut in der richtigen Lautstärke und Tonhöhe hervorgebracht werden, damit das Lied harmonisch klingt. Ziel beim gemeinsamen Singen ist es, dass die eigene Stimme sich in die Gemeinschaft einfügt oder sogar ganz in ihr aufgeht. Dies erfordert von den Akteur*innen ein hohes Maß an Regulation und Koordination. Dabei wird nicht unter den Singenden differenziert, sondern alle Teilnehmenden sind gleichermaßen beteiligt und zur Einordnung angehalten. Das gemeinsame Singen dient somit der disziplinierten egalitären Vergemeinschaftung zuvor zerstreuter Individuen. Zum anderen erzeugt es performativ das, was es besingt: Den Wunsch, alle Teilnehmenden mögen einen guten Morgen erleben, und eine Erkundigung nach ihrem Wohlergehen. Diese verweist darauf, dass die entstehende Gemeinschaft eine ist, die sich um das Wohlergehen ihrer Mitglieder sorgt.
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Tina (PFK) sagt: „Guten Morgen“ und fängt an, das Lied zu singen: „Good morning, good morning, …“. Nach und nach stimmen die Kinder und die Erwachsenen ein. (P.12.06.14) Tina: Guuuuuten Morgeeeeeen. (.) Good morning, good morning, Chor: good morning to you, good morning, good morning. And how do you do? ((Stille.)) (T.12.06.14)
Dieser Protokollausschnitt macht, im Gegensatz zum vorangegangenen, deutlich, dass das Begrüßungslied von der moderierenden Fachkraft angestimmt wird und die Kinder peu à peu mitsingen. Das Singen ist also auch von einer hierarchischen Logik durchzogen. Erst nach ein paar Worten fallen die anderen Anwesenden in den Gesang ein. Obwohl dieser Ablauf immer gleich ist und es daher prinzipiell allen Teilnehmenden möglich sein müsste, das Lied anzustimmen, wird abgewartet, bis die zuständige Fachkraft beginnt. Dadurch wird ohne längere Abstimmprozesse erkennbar, welche der anwesenden Fachkräfte am jeweiligen Tag für Moderation und damit auch Ablauf verantwortlich ist. Zugleich erhält die moderierende Fachkraft durch das Anstimmen des Liedes das grundsätzliche Rederecht für die gesamte Sitzung. Dieses kann sie dann nach Belieben anderen Personen erteilen, aber zunächst einmal fällt es ihr zu. Das auf der Audioaufnahme basierende Transkript macht deutlich, dass die Wirkung des Good-Morning-Songs auch darin besteht, im Raum Ruhe herzustellen. Das Lied bereitet eine rituelle Sammlung der Ritualteilnehmenden in einer Atmosphäre der Stille und Konzentration auf das Gemeinsame vor. Das Lied bewirkt, dass sich die Singenden in einen gemeinsamen Rhythmus einfinden, sich aufeinander einstellen. Wir singen das Begrüßungslied auf Englisch, wie immer. Dann, ich denke um Zeit zu schinden, fragt Amina (PFK), ob man das auch auf Deutsch singen könne. Sie übersetzt es singend auf Deutsch. Darien ruft die ganze Zeit: „Nein, nein, nein!“ Dann kommt Kerstin (PFK) wieder in den Raum (sie war hinausgegangen, um zu sehen, ob die neue Praktikantin mit dem Flipchart klarkomme). Sie fragt, ob das Lied schon gesungen wurde. Eines der Kinder, ich glaube, Nemo, sagt: „Ja und sogar in Deutsch“. Kerstin: „In Deutsch. Das habe ich ja noch nie gehört. Wie geht das? Singt ihr mir das mal vor?“ Die Kinder rufen: „Jaaa!“ Sie fangen an, zu singen, haben aber den Text schon fast wieder vergessen. Am lautesten singt die Praktikantin. Amina: „Zumindest einige haben zugehört.“ (P.23.10.14)
Im vorliegenden Protokollausschnitt zeigt sich, wie das Allgemeine, Regelmäßige im Kita-Alltag immer wieder durch das Besondere abgelöst wird. Die
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orbereitungen für die Vollversammlung sind noch nicht abgeschlossen, weil V das Flipchart fehlt, aber die Körper sind versammelt, die Sitzordnung ist hergestellt und die Gemeinschaft ist bereits auf sich selbst konzentriert. Die Vollversammlung könnte und müsste nun eigentlich beginnen, aber das dafür notwendige Artefakt, das Flipchart, ist noch nicht da. Im Protokoll wird der verantwortlichen pädagogischen Fachkraft Amina unterstellt, dass sie „Zeit schinden“ wolle. Darin spiegelt sich die Fragilität der gesammelten Konzentration auf das Gemeinsame wieder. Die Konzentration droht jederzeit zu zerbrechen, die Fachkraft nimmt dies wahr und handelt entsprechend. Damit die versammelte und konzentrierte Gemeinschaft sich nicht wieder auflöst, soll das Lied nochmals gesungen werden, aber dieses Mal auf Deutsch. Durch die Aufforderung zur Wiederholung des Liedes auf Deutsch werden mehrere Effekte erzielt: Die Wiederholung ist nicht eintönig, sondern mit neuen Herausforderungen verbunden. Die Gemeinschaft muss den Sinn des Gesungenen nachvollziehen und ihn übersetzen. Die Fachkraft sichert sich weiterhin das Rederecht, indem sie es einfach in Anspruch nimmt und für eine Aufforderung nutzt. Zudem singt sie das Lied zunächst hauptsächlich selbst. Das Kind Nemo wirkt, ganz anders als Darien, froh über die Abwechslung im rituellen Ablauf. Die Gemeinschaft hat in Abwesenheit der pädagogischen Fachkraft Kerstin nicht nur die erste an sie gestellte Aufgabe abgearbeitet, sondern sogar eine weitere Aufgabe bestanden, nämlich das Lied zu übersetzen. Nemos Äußerung lässt schlussfolgern, dass er stolz ist, dies geschafft zu haben. Aus dem Protokoll geht ebenfalls hervor, dass es den Kindern nicht ohne weiteres gelingt, den Text zu übersetzen. Beim ersten Mal singt hauptsächlich Amina, bei der Wiederholung scheinen die Kinder den Text nicht mehr zu kennen. Kerstin wirkt ehrlich interessiert daran, zu erfahren, wie das Lied auf Deutsch klingt. Gleichzeitig sichert sie sich das Rederecht, indem sie die Kinder bittet, das Lied für sie noch einmal zu singen. Nachdem die Kinder der Bitte nachgekommen sind, evaluiert Amina das Ergebnis. Sie stellt als Leistung der Kinder nicht die Übersetzung, sondern die Erbringung von Aufmerksamkeit heraus. Dass einige Kinder zumindest Teile des Liedes wiedergeben können, heißt, dass sie ihr, Amina, vorher zugehört haben. Durch die Abweichung vom ‚normalen‘ rituellen Ablauf wird die Funktion und Symbolik des Liedes deutlich. Das Lied vergemeinschaftet nicht nur die anwesenden Personen durch einen gemeinsamen Rhythmus, es dient auch der Anerkennung von Differenz, die in diesem Fall in einer anderen Familiensprache besteht. Zudem stellt das Anstimmen des Liedes die Zuteilung des Rederechts an die moderierende Fachkraft sicher.
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Zusammenfassung der Übergangsgestaltung Die vorangegangenen Ausführungen machen deutlich, dass der Übergang zwischen Frühstück/Freispiel und Morgenkreis geprägt ist durch Ritualisierungen, die pädagogisch gestaltet sind und Redundanz erzeugen. Das Einnehmen der Sitzordnung ist ein wichtiges Element des Morgenkreises. Es dient dem Aushandeln von Zugehörigkeit mit anderen Kindern, Machthierarchien innerhalb ihrer Freundschaften, der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen und nicht zuletzt dem Einüben von Disziplin. Es eröffnet ein Spannungsfeld zwischen kindlicher Selbstbestimmung, geordneter Gemeinschaft und Fremdbestimmung durch die Erwachsenen. Zudem scheint auf, dass die Versammlung eine Zumutung für die Kinder bedeuten kann, wenn sie, wie beispielsweise Emilia, Trauer oder Wut empfinden, sich aber in die Gemeinschaft einfügen sollen. Am Einnehmen der Sitzordnung entzünden sich Konflikte, die entweder durch die Kinder selbst kreativ gelöst oder durch die Erwachsenen beendet werden. Die Sitzordnung bildet außerdem die Grundlage dafür, dass demokratische Diskurse geführt werden können: Sie individualisiert die Teilnehmenden und macht sie gleichzeitig zu Mitgliedern einer Gemeinschaft von Gleichwertigen. Dass das „Integrationskind“ dabei ausgeklammert wird, zeigt, dass es anders ist. Die Herstellung der Sitzordnung wird von den Kindern unter hohem körperlichem Einsatz vorgenommen. Es ist ihnen alles andere als egal, wer wo sitzt. Gewalt in einem gewissen Maß ist ein adäquates Mittel, die eigenen Interessen oder die Interessen der Kinder, mit denen man sich solidarisiert, durchzusetzen. Hilft Gewalt nicht mehr weiter, wird der Konflikt dadurch gelöst, dass ein anderer Sitzplatz angeboten wird. Biffi und Jäger (2007) und Jäger u. a. (2006) haben, ebenfalls ethnografisch, in Kindergärten in der Schweiz geforscht und sich dabei mit dem Sitzkreis bzw. der Sitzordnung auseinandergesetzt. Ebenso wie ich kommen sie zum Ergebnis, dass es für die Kinder bedeutsam ist, die Sitzordnung auszuhandeln (ebd.: 119). Eben dadurch, weil es ihnen wichtig ist, kann das selbstbestimmte Einnehmen der Sitzordnung pädagogisch genutzt werden. So stellen die Autorinnen fest, dass die Fachkräfte pädagogisch-professionelle Intentionen mit der Selbstbestimmung des Sitzplatzes verbinden: „Für die Kindergärtnerin ist das Aushandeln der Sitzplätze Übungsfeld und Lernziel im Bereich Sozialkompetenz“ (Jäger u. a. 2006, S. 116). Die von Jäger, Biffi und Halfhide interviewte Fachkraft betont, dass die Kinder beim Einnehmen einer Sitzordnung Freundschaftsbeziehungen verhandeln und aktuelle Erlebnisse bearbeiten. Bei entstehenden Konflikten greife sie moderierend ein und halte aus, dass es bis zu fünf Minuten dauern könne, bis alle
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sitzen (Jäger u. a. 2006, S. 115 f.). Die Forscherinnen schlussfolgern: „Anhand der Beobachtungen zur Sitzordnung wird deutlich, wie sich im Kindergarten Peer- und Schulkultur gegenüberstehen“ (Jäger u. a. 2006, S. 119). Die Sitzordnung bildet die Grundlage dafür, dass gemeinsame Aktivitäten vollzogen werden können, weil sie den Anspruch ausdrückt, dass jede anwesende Person gesehen und prinzipiell auch gehört werden kann. Sie produziert Individuen als Teil einer Gemeinschaft von Gleichwertigen, d. h. sie vermittelt das Individuelle mit dem Kollektiven und lässt das Gemeinsame als notwendige Bedingung des Individuellen aufscheinen. Dabei steht der Anspruch in einem Widerspruch zur tatsächlichen Form des „Kreises“: einem Rechteck, das verschieden gut sichtbare Sitzplätze enthält. In Abgrenzung zu den oben genannten Autorinnen schlussfolgere ich aus meinen Beobachtungen und Analysen, dass bereits das Einnehmen der Sitzordnung Spannungsfelder zwischen Individuen und Gemeinschaft, Freundschaft und Macht, Egalität und Differenz eröffnet. Die Polyvalenz des Rituals lässt zu, diese Spannungsfelder bestehen zu lassen, ohne sie auflösen zu müssen. Gleichzeitig kann nicht genug betont werden, dass der gesamte Morgenkreis durch die pädagogischen Fachkräfte gestaltet und begleitet wird. Sie sind die treibende Kraft hinter den Praktiken. Sie gestalten den Morgenkreis nicht völlig frei, sondern im Rahmen dessen, was ihnen in Hinblick auf die Umstände möglich erscheint. Die Kinder verhalten sich dabei mehr oder weniger kooperativ.
Organisation des Vormittags Im Morgenkreis wird der weitere Verlauf des Vormittags geregelt, der hauptsächlich in pädagogischen Angeboten besteht. Besondere Angebote, die sich nicht täglich wiederholen, werden zunächst detailliert vorgestellt. Dann wird ein Kind als Assistent*in ausgewählt, das die Angebotstafel (eine große Filzplatte, an die Fotos gepinnt werden) dechiffriert und wiederholt, wer für welches Angebot verantwortlich ist. Narayan (K) ist heute Assistent für die Angebotstafel. Er hat sich dafür gemeldet und wurde drangenommen. (P.05.06.14) Tina (PFK) wählt einen Assistenten aus, der die Angebote vorstellen soll. Es melden sich zahlreiche Kinder, Tina ruft eines auf, das nach vorne geht und sagt, wer in welchem Raum sein wird. (P.12.06.14) Kerstin (PFK) guckt auf die Liste und fragt nach einer Assistentin. Benjamin (K) macht den Assistenten. Nachdem Benjamin alle Angebote vorgestellt hat, setzt er sich wieder. (P.26.06.14)
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Vier Phänomene sind wichtig für die Interpretation: Erstens, dass das helfende Kind als Assistent*in bezeichnet wird; zweitens, dass die*der Assistent*in sich freiwillig meldet; drittens, dass die pädagogischen Fachkräfte entscheiden, wer die Angebote vorstellen darf; viertens, dass die Auswahl mit Hilfe einer Liste erfolgt. Was genau auf der Liste verzeichnet ist, geht aus dieser Sequenz noch nicht hervor. Auf der Basis dieser Angebote werden die Kinder in Gruppen eingeteilt, die bis zum Mittagessen bestehen und deren Zusammensetzung täglich variiert. Bei der Einteilung spielen die Wünsche der Kinder eine ebenso wichtige Rolle wie die Einschätzung der pädagogischen Fachkräfte in Bezug auf die Harmonie der Gruppenzusammensetzung. Oftmals kommt es dabei zu Konflikten. Besondere Angebote können nach Rücksprache mit einer pädagogischen Fachkraft auch von Kindern initiiert und durchgeführt werden. Da das Verfahren zur Vorbereitung der Angebotszeit wichtig für den weiteren Tagesablauf ist, findet es in jedem Morgenkreis statt. Mitunter wird das Verfahren abgekürzt, indem z. B. die Rolle der*des Assistent*in von einer pädagogischen Fachkraft übernommen wird: Tina (PFK) bedankt sich für die Aufmerksamkeit und meldet sich selbst freiwillig als Assistentin für das Vorstellen der Angebote für den Vormittag. Einige Kinder sind damit nicht einverstanden, aber Tina meint, dass sie noch nie Assistentin gewesen sei. (P.02.10.14)
In dieser Sequenz protestieren einige Kinder erfolglos dagegen, dass die pädagogische Fachkraft Tina das Verfahren abkürzt oder dass sie keine Chance haben, die Angebote vorzustellen. Dies macht zum einen deutlich, dass sie die Möglichkeit schätzen, als Assistent*in ausgewählt werden zu können. Außerdem könnte sich darin zeigen, dass die betreffenden Kinder eine Abweichung von den ritualisierten Abläufen nicht akzeptieren. Tina selbst rechtfertigt ihr Vorgehen damit, dass sie selbst noch nicht an der Reihe gewesen sei – und begibt sich damit temporär auf die Ebene der Kinder. Sie interpretiert die Einwände der Kinder als Ungerechtigkeitsbekunden und bekräftigt noch einmal die Regel, dass diejenigen bevorzugt aufgerufen werden, die noch nicht an der Reihe waren. Es scheint für die betreffenden Kinder wichtig zu sein, dass die Entscheidung, wer die Angebote vorstellen darf, gerecht getroffen ist. Die oben erwähnte Liste hilft den pädagogischen Fachkräften, eine gerechtere Entscheidung zu treffen. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Vorbereitung der Angebotszeit ritualisiert abläuft und die Kinder nur punktuell beteiligt werden. Im folgenden Abschnitt werde ich mich näher mit der Rollenverteilung auseinander setzen.
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Rolle und Aufgaben der Kinder Wie auch schon beim Vorbereiten des Morgenkreises dürfen die Kinder bei der Vorbereitung der Angebotszeit ‚helfen‘. Die Spielräume für ihr Engagement werden von den pädagogischen Fachkräften verwaltet und sind eng umrissen. Die Kinder dürfen sich melden, um anzuzeigen, dass sie Assistent*in für die Vorstellung der Angebotstafel sein wollen. Schon die Bezeichnung als Assistent*in verweist darauf, dass sie eine unterstützende Rolle einnehmen, während die Verantwortung bei den pädagogischen Fachkräften bleibt. Im weiteren Verlauf der Vorbereitungen der Angebotszeit wird von einer pädagogischen Fachkraft abgefragt, welche Kinder an welchem Angebot teilnehmen wollen. Die Kinder zeigen ihr Interesse an, indem sie sich melden; die moderierende Fachkraft oder das Kind, das ein besonderes Angebot macht, wählen anschließend aus, wer mitmachen darf. Für die Auswahl der Kinder gibt es eine Reihe von Kriterien, die mehr oder weniger transparent gemacht werden. Nachdem Benjamin (K) alle Angebote vorgestellt hat, setzt er sich wieder. Kerstin (PFK) fragt, geordnet nach den Räumen, ab, welches Kind an den Angeboten in diesen Räumen teilnehmen will. Dabei achtet sie bei jedem Raum darauf, dass die geeignete Menge Kinder erreicht und nicht überschritten wird. Außerdem scheint auch noch eine Rolle zu spielen, wie sich die Kinder untereinander vertragen. Es werden nicht alle Kinder aufgerufen, die sich melden. Darien (K), zum Beispiel, darf nicht mit in den Ruheraum, obwohl er sich ganz früh dafür gemeldet hat. Kerstin bittet Florian (PFK), ihm zu erklären, warum. Florian schluckt und sagt ihm, dass schon so viele Kinder im Ruheraum seien. Den eigentlichen Grund, dass Darien sich nicht so gut mit einem anderen Kind verträgt, was bereits im Ruheraum sein darf, verschweigt er. Kerstin hat Florian eigentlich gesagt, dass er sagen solle, dass es immer anstrengend sei, wenn Darien und das andere Kind zusammen spielen und er deshalb nicht auch in den Raum dürfe. (P.26.06.14, 18–19)
Erst wenn alle Angebote veröffentlicht sind, können sich die Kinder informiert entscheiden, was sie unternehmen wollen und sich dafür melden. Die Aufgabe der Koordination fällt einer pädagogischen Fachkraft zu. Für jeden Raum und jedes Angebot gibt es eine Höchstzahl an Teilnehmenden, die nicht genannt wird, aber auch die Mischung der Kinder ist entscheidend. Es zählt also nicht nur der Wunsch des Kindes, sondern auch andere Faktoren, die einen reibungslosen Ablauf garantieren sollen. In dieser Sequenz lernt die erfahrenere Kerstin den Praktikanten Florian an, wie dies gelingt und wie darüber kommuniziert wird. Darien gilt bei ihr als Störenfried, jedenfalls in Kombination mit dem anderen Kind, und wird daher nicht für Florians Angebot ausgewählt. Es wird also versucht, die Kinder räumlich zu trennen. Der in Florians Hinsicht vertretbarere
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Grund jedoch lautet, dass bereits die ideale Menge Kinder ausgewählt wurde. Obwohl Kerstin ihn dazu anleitet, den eigentlichen Grund zu nennen und dadurch transparent zu machen, versucht Florian, einem Konflikt mit Darien aus dem Weg zu gehen, indem er den anderen, unpersönlichen Grund nennt, der sich nicht direkt auf Darien, dessen Verhalten und das andere Kind bezieht. Kerstin äußert ihre Kritik an Darien und dem anderen Kind nicht selbst, sondern versucht, Florian dazu zu bringen. Kerstin will nicht nur den reibungslosen Ablauf des Vormittags sicherstellen, sondern zudem öffentlich einen Zusammenhang zwischen dem anstrengenden Verhalten von Darien und der daraus resultierenden Unmöglichkeit des gemeinsamen Spielens hergestellt wissen. Sie will, dass Darien weiß, dass es in seinem eigenen Vermögen liegt, ob er mit dem anderen Kind spielen darf oder nicht. Dass sie dies nicht selbst erledigt, sondern Florian dazu anweist, liegt an dessen Rolle als Praktikant. Nicht nur Darien, sondern auch Florian wird hier indirekt erzogen. Es wird als Norm gesetzt, unerwünschtes Verhalten der Kinder öffentlich im Morgenkreis anzusprechen. Die ausgewählten Kinder nehmen sich dann ihr Portraitfoto aus einer dafür bereitstehenden Kiste und pinnen ihr Foto an die Filztafel neben ein Foto des Ortes und ein Foto der Person, die das Angebot betreut. Dann wird gefragt: Wer will mit Jenny (PFK) in den Garten? Es melden sich mehrere Kinder, die einzeln mit Namen aufgerufen werden, sich dann ein Foto von sich selbst nehmen und es neben dem Bild von Jenny und dem Garten an die Filztafel hängen. 20 Kinder dürfen maximal mit. Jedes Kind muss sich für ein Angebot entscheiden. Es kommt häufig vor, dass Kinder sich im Laufe des Vormittages umentscheiden. Dann müssen sie mit den PFK darüber sprechen. Diese entscheiden je nachdem, wie oft sie eine Umentscheidung des jeweiligen Kindes schon wahrgenommen haben, ob es geht. Außerdem zählt, ob im Angebot noch Platz ist. (P.27.03.14)
Um an einem Angebot teilzunehmen müssen die Kinder sich melden und von der Fachkraft für die Teilnahme ausgesucht werden. Die Teilnehmendenzahl ist begrenzt, damit wird offen umgegangen. Allerdings wird nicht öffentlich gemacht, wie die Teilnehmendenzahl zustande kommt – wohl auch, weil es an dieser Stelle zu keinem Konflikt darüber kommt. Mit dem Anheften ihres Portraitfotos an die Pinnwand machen die Kinder ihre Entscheidung und das Ausgewählt-worden-Sein verbindlich und zwar in aller Öffentlichkeit. Wenn die Kinder es sich nach dem großen Morgenkreis anders überlegen, müssen sie fragen, ob sie an einem anderen Angebot teilnehmen dürfen. Die Fachkräfte achten darauf, dass die Kinder sich nicht zu häufig anders entscheiden und darauf, wie viele Kinder sich bereits für das neu gewünschte
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Angebot verpflichtet haben. Die Kinder sollen durch diese Prozedere lernen, verbindliche Entscheidungen zu treffen. Sie sollen sich gut überlegen, welches Angebot für sie das Richtige ist und die Entscheidung konsequent umsetzen. Die Tafel dient der Verbildlichung der Entscheidungen der Kinder (und später ganz pragmatisch dem Nachvollzug ihres Aufenthaltsortes). Gleichzeitig wird das Demos, sämtliche Mitglieder einer demokratischen Diskurs- und Entscheidungsgemeinschaft, durch die Tafel in sachorientierte Kleingruppen aufgeteilt, die jeweils der Leitung einer Fachkraft unterstehen. Die anderen Kinder der Kleingruppe müssen nicht gefragt werden, ob ein weiteres Mitglied aufgenommen wird oder nicht, es reicht, wenn eine Fachkraft zustimmt. Einige Kinder hängen bereits an der Tafel. Svenja (PFK) macht einen Ausflug zum Oxfam-Shop (das erzählt sie aber nur auf Nachfrage hinterher), dafür hat sie bereits am Vortag einige größere Kinder ausgesucht. Sie muss alleine los mit 8 Kindern, inklusive U-Bahnfahrt. Einige andere Kinder müssen an dem Projekt T-Shirt-Nähen weitermachen, diese werden von Jenny (PFK) aufgerufen und hängen ihr Bild neben Richard (PFK), der heute im Atelier ist. (P.05.06.14)
Die Teilnahme an den Angeboten wird von den Fachkräften moderiert und kanalisiert – auch in Hinblick auf die praktischen Kapazitäten, die sie haben. Dies wird jedoch nicht transparent gemacht, vielmehr werden bestimmte Kinder aufgrund ihres Alters, ihres Temperaments oder ihres wahrgenommenen Entwicklungsstands privilegiert. Die Fotos der für einen Ausflug auserwählten Kinder sind bereits an der Bildertafel befestigt, ihre Teilnahme wurde also bereits verbindlich entschieden. Andere Kinder, deren Teilnahme an einem bestimmten Angebot ebenfalls bereits feststeht, werden öffentlich namentlich aufgerufen und damit an ihre Entscheidung vom Vortag gebunden. Luan (K) bietet wieder Fußball an und darf selbst aussuchen, wer mitmachen wird. (P.05.06.14)
Eine Ausnahme bilden die Angebote von Kindern. Luan zum Beispiel, der zu den Vorschulkindern gehört und sehr gern Fußball spielt, macht ein Fußballangebot im Bewegungsraum. Hier kanalisieren die Fachkräfte nicht, wer mitmachen darf, sondern dasjenige Kind, das das Angebot macht, sucht selbst aus, mit wem es es durchführen will bzw. wer es annehmen darf. Die Fachkräfte üben dennoch Kontrolle aus: Die Kinder müssen die Erlaubnis, ein Angebot machen zu dürfen, vor dem Morgenkreis bereits eingeholt haben:
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Kerstin (PFK) erklärt mir, während die Kinder ihre Fotos neben dasjenige Angebot hängen, das sie gewählt haben, dass die Kinder auch selbst Angebote machen dürfen, immer in Rücksprache mit den pädagogischen Fachkräften, die die Entscheidung treffen, ob die Kinder dürfen oder nicht. Kerstin sagt, dass sie darauf achte, dass nicht immer dasselbe Kind seinen Willen bekomme, sondern jede*r, der*die wolle, mal an die Reihe komme. (P.26.06.14) Wie Meret (K) will auch Elena (K) im Atelier ein Angebot machen. Sie stellt sich vor Tina (PFK) auf und sagt ihr das. Tina sagt, dass es nun zu spät sei und ob sie nicht mal vorher hätte fragen können. Dann sagt sie, dass Elena ins Atelier gehen dürfe. (P.10.07.14)
Auch diese Praxis der Rücksprache zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern hat zum einen pragmatische Gründe: Es können nicht alle Kinder, die wollen, in der Angebotszeit Angebote machen, da nicht genug Räume vorhanden sind. Die Rücksprache geht jedoch über das Pragmatische hinaus. Sie verweist darauf, dass es die Erwachsenen sind, die eine Lernumgebung für die Kinder gestalten und aufrechterhalten. Der Raum wird, zumindest am Vormittag während der Angebotszeit, von den Fachkräften bereitgestellt und verwaltet. Dabei ist, wie bei der Auswahl einer*eines Assistent*in, eine gerechte Abwechslung das wichtigste Prinzip. Es wird als ungerecht dargestellt, wenn immer dasselbe Kind seinen Willen bekommt. Die pädagogischen Fachkräfte sind verantwortlich dafür, dass sich die Kinder richtig abwechseln. In der unteren Sequenz verstößt Elena gegen die Regel, dass die Absprache bereits vor dem Morgenkreis getroffen sein muss. Sie wendet sich erst im Verlauf des Morgenkreises an die pädagogische Fachkraft Tina und teilt mit, dass sie ein Angebot machen möchte. Tina bekräftigt dann zwar die Regel, lässt aber gleichzeitig eine Ausnahme von ihr zu. Dadurch gelingt es ihr, ihre Verantwortlichkeit zu erhalten und sich zugleich als großzügig zu inszenieren.
Sanktion unerwünschten Verhaltens Mitunter kommt es zu Konflikten bei der Verteilung der Kinder auf die Angebote, und zwar unabhängig davon, ob ein Kind oder eine pädagogische Fachkraft das Angebot leitet. Maria (K) sucht Darien (K) nicht aus. Dieser ist darüber empört. Kerstin (PFK) bespricht das mit Darien. Dann ruft sie Maria dazu und bittet sie, Darien zu erklären, warum sie ihn nicht ausgesucht hat. Maria sagt, dass das daran liegt, dass Darien haut und ärgert. Kerstin wiederholt dies zu Darien: „Hast du verstanden, sie hat dich nicht ausgesucht, weil sie Angst hat, dass du sie haust.“ Darien fängt an zu weinen. Kerstin tröstet ihn nicht. (P.02.10.14)
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Die fünfjährige Maria verweigert dem vierjährigen Darien die Teilnahme an ‚ihrem‘ Angebot. Darien macht deutlich, dass er mit dieser Entscheidung nicht einverstanden ist. Hier könnte nun ein Konflikt zwischen Darien und Maria beginnen, in dem verhandelt wird, weshalb Darien nicht mitmachen darf und unter welchen Bedingungen diese Entscheidung revidiert werden könnte. Stattdessen nutzt die pädagogische Fachkraft Kerstin die Situation für eine pädagogische Intervention gegenüber Darien. Zunächst spricht sie selbst mit Darien darüber, dann bittet sie Maria zu dem Gespräch dazu, die ihre Entscheidung begründen soll. Maria begründet ihre Entscheidung damit, dass sie ihre körperliche Unversehrtheit gefährdet sieht. Kerstin, die bis dahin noch als neutrale Mediatorin des Konfliktes auftritt, wiederholt Marias Argument, ohne eine Diskussion über dessen Gültigkeit zu eröffnen. Darien hat keine Gelegenheit, dem zu widersprechen oder eigene Argumente vorzubringen. Sein Weinen kann entsprechend als Ausdruck von Hilflosigkeit gedeutet werden. Er könnte auch aus Scham über die Konfrontation mit seinem Fehlverhalten weinen. In jedem Fall verbündet sich Kerstin mit Maria. Sie spendet Darien keinen Trost und bekräftigt damit Marias Anschuldigung. Kerstin ist parteiisch, sie bewertet durch ihre Intervention und das Ausbleiben von Trost ‚hauen und ärgern‘ als unerwünschtes Verhalten, das sanktioniert wird. An Darien wird somit ein Exempel statuiert: Weil er andere Kinder „haut und ärgert“, hat er das Recht verwirkt, mit ihnen zu spielen. Seine Trauer darüber wird weder anerkannt noch gemeinsam bewältigt. Kerstins Intervention führt dazu, dass ein bestimmtes Verhalten, das Darien zugesprochen wird, als generell unerwünschtes Verhalten klassifiziert wird. Konflikte entstehen bei der Angebotsverteilung aber auch, weil bestimmte Fachkräfte und bestimmte Kinder sich nicht so gut verstehen, so wie Kerstin und Fritz. Kerstin (PFK) fragt, wer noch in den Bauraum wolle, wo sie Aufsicht hätte. Fritz (K): „Ich, ich, ich!“ Kerstin reagiert zunächst nicht. Fritz: „Ich, ich, ich!“ Fritz meldet sich. Kerstin: „Meinst du, dass das gut geht mit uns beiden? Fritz, du meckerst mich immer nur an.“ Fritz: „Ich melde mich.“ Kerstin: „Fritz, du meckerst mich immer nur an. Meinst du, dass das gut geht mit uns beiden?“ Fritz: „Ich melde mich. Guck!“
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Kerstin: „Das sehe ich. Fritz, meinst du, dass das heute mal gut geht – wir beide im Bauraum?“ Fritz: „Ja.“ Kerstin: „Gut, dann häng dein Bild an!“ (P.26.06.14)
Fritz macht anfangs deutlich, dass er am Angebot von der pädagogischen Fachkraft Kerstin teilnehmen will, indem er „ich“ ruft. Kerstin wählt Fritz jedoch nicht aus. Fritz wiederholt seinen Versuch, erwählt zu werden und modifiziert ihn so, dass er den Formalitäten gerecht wird. Die Prozedur sieht vor, nicht in den Raum hineinzurufen, sondern sich zu melden und zu warten, bis man aufgerufen wird. Erst als Fritz genau das macht, reagiert Kerstin. Anstatt ihn aber einfach aufzurufen, stellt Kerstin indirekt eine Bedingung, die sie als Frage und Kommentar verklausuliert. Die Frage deutet zunächst darauf hin, dass es in der Vergangenheit zu Unstimmigkeiten gekommen ist, dass irgendetwas nicht gelungen ist. Nun soll Fritz das Potenzial dafür einschätzen, ob „es gut geht“. Gleich darauf führt Kerstin aus, was in der Vergangenheit zwischen den beiden nicht gelungen ist: Fritz‘ Verhalten Kerstin gegenüber, das von ihr als „anmeckern“ bezeichnet wird, ist misslungen. Fritz antwortet nicht auf diesen Vorwurf, sondern weist darauf hin, dass er den Formalitäten gerecht wird: Er meldet sich, wie es gefordert ist. Nun möchte er dies anerkannt wissen, indem er aufgerufen wird. Darauf reagiert Kerstin nicht. Sie wiederholt ihren Vorwurf – Fritz wiederholt seinen Hinweis darauf, dass er die Formalitäten wahrt. Endlich zeigt Kerstin an, seine Handlung wahrzunehmen. Sie geht damit einen Schritt auf ihn zu. Erneut fragt sie ihn, ob es heute gut gehen könne, als hätte sie selbst keine Handlungsmacht, sich Fritz gegenüber zu behaupten, sondern wäre davon abhängig, was er entscheidet. Fritz bejaht Kerstins erneute Frage und geht ebenfalls einen Schritt auf sie zu. Endlich entscheidet Kerstin, dass er mit ihr im Bauraum spielen darf. Kerstin setzt diese Entscheidung als Mittel ein, unerwünschtes Verhalten zu benennen und zu sanktionieren.
Zusammenfassung der Angebotsverteilung Die Zuteilung der Kinder zu den Angeboten ist komplex. Sie findet in der Öffentlichkeit des Morgenkreises statt und wird durch die Bildertafel verbindlich festgelegt. Es gibt bestimmte soziale Konstellationen, die nach Meinung der Fachkräfte nicht gut funktionieren, d. h. Konflikte verursachen. Diese Konstellationen versuchen sie durch die Vorbereitung zu vermeiden. Dadurch wird die Verteilung der Angebote auch genutzt, unerwünschtes Verhalten der
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Kinder zu definieren und zu sanktionieren: Wer sich mit anderen Kindern streitet oder die Fachkräfte anstrengt, wird nicht für das gewünschte Angebot ausgewählt. Katja Flämig (2017) hat die pädagogischen Angebote in einer Kita untersucht und kommt zu dem Schluss, dass diese ein Spannungsfeld von Verbindlichkeit und Freiwilligkeit eröffnen, das die Diskurse um frühkindliche Bildung in Kindertageseinrichtungen widerspiegelt (Flämig 2017, S. 250). Auch in ihren Beobachtungen werden die Angebote im Morgenkreis angekündigt (ebd., S. 81 ff.). Allerdings finden sich in ihren Beobachtungen keine Hinweise darauf, dass die Kinder sich verbindlich für ein Angebot anmelden bzw. explizit dafür ausgewählt werden: „Die Unplanbarkeit und Unvorhersehbarkeit der Größe und Gestalt der sozialen Form fordert eine Reihe von Praktiken heraus, die versuchen, das Problem zu regulieren, planbar und steuerbar zu machen“ (ebd., S. 93). Die pädagogischen Fachkräfte fragen die Kinder, die sich in der Nähe des beginnenden Angebots aufhalten, ob sie mitmachen wollen, und sortieren die Kinder dann (ebd., S. 94 f.). Auch weil die verbindliche Anmeldung für ein Angebot fehlt, tritt der prekäre Charakter der Angebote deutlicher zutage: Die pädagogischen Fachkräfte sind in ihrer Studie ständig darum bemüht, die Teilnehmer*innenzahl der Angebote aufrecht zu erhalten (ebd., S. 247). Bei der von mir beschriebenen Vorbereitung der Angebotszeit im Morgenkreis handelt es sich also auch um eine Praktik, die die Prekarität von Angeboten vermindert, indem sie eine größere Verbindlichkeit der Teilnahme an diesen herstellt. Darin erschöpfen sich Bedeutung und Funktion der Praktik allerdings nicht. Sie ist darüber hinaus ein Ritual, das die Melderegel aktualisiert und jeweils einem Kind ermöglicht, seine Fähigkeiten öffentlich zu zeigen und sich zu engagieren. Das Vorbereiten der Angebotszeit dient vor allem aber auch dazu, die Angebotszeit selbst möglichst konfliktfrei zu gestalten, indem schwierige soziale Konstellationen verhindert und unerwünschte Verhaltensweisen öffentlich angeprangert werden. Insgesamt wird so die Ordnung der Kita aufrechterhalten, selbst wenn Kinder ebenfalls Angebote machen dürfen: Die Erwachsenen verwalten sowohl den Raum als auch die Kinder.
Übergang vom Morgenkreis in den Vormittag Der Abschluss des Morgenkreises und der Übergang zur Angebotszeit läuft ritualisiert ab. Zunächst gibt es ein spezielles Lied, den „Clean-Up-Song“. Danach dürfen die Kinder auf freiwilliger Basis in den Außenbereich der Kita und dort „joggen“.
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Nach der zweiten Runde Karottenziehen kommt das Aufräumlied, das geht so: „Clean up, clean up, everybody, everywhere. Clean up, clean up, everybody do your share.“ (P.27.03.14) Mit dem Clean Up-Song wird der Morgenkreis beendet. (P.05.06.14) Nach dem Clean-Up-Song war die Versammlung vorbei. (P.19.06.14) Der Clean-Up-Song beendet den Morgenkreis. (P.26.06.14)
Das Ende des Großen Morgenkreises wird mit einem ebenfalls englischsprachigen Lied eingeläutet, das das Aufräumen zum Thema hat. Dieses Lied wird immer von einer Fachkraft angestimmt und von allen mitgesungen. Es fordert zum Aufräumen auf und betont, dass alle ihren Teil dazu beitragen müssen. Aufräumen wird als etwas für die Gemeinschaft Notwendiges dargestellt. Diese Aufforderung ist insofern unverständlich, als dass der Bewegungsraum ja bereits aufgeräumt wurde, damit der Morgenkreis stattfinden kann. Dementsprechend produziert das Lied auch nicht das erwünschte Verhalten: Einige Kinder stürmen aus dem Bewegungsraum, viele bleiben aber. Agneta (K) kommt zu mir und sagt, sie wolle überhaupt nicht in den Garten. Ich sage, dass ich nicht wisse, was in diesem Fall zu tun sei. Sie geht weg. (P.27.03.14)
Viele Kinder leisten dem Lied nicht Folge, sondern bleiben im Raum. Durch das Lied wird die Aufmerksamkeit der Gruppe gebündelt, es wird wieder eine Gemeinschaft kreiert, die sich jedoch eigentlich auflösen soll. Außerdem wird der Bewegungsraum, der bei meiner Ankunft oft unordentlich ist, jedes Mal bereits vor dem Kreis hergerichtet, er ist also zum Zeitpunkt des Liedes aufgeräumt (vgl. z. B. P.08.05.14). Die Aufforderung des Liedes, nun aufzuräumen, greift mithin nicht. Es entstehen Widersprüche zwischen pädagogischer Inszenierung von Gemeinschaft und der erwünschten Auflösung der Gruppe sowie zwischen dem pädagogischen Befehl zum Aufräumen und der fehlenden Notwendigkeit. Möglicherweise erzeugt genau diese Widersprüchlichkeit eine liminale Phase, in der die Ordnung suspendiert ist und alles Mögliche passieren kann. Zum Beispiel bemerkt Agneta plötzlich, dass sie doch nicht in den Garten gehen möchte, und teilt es mir mit, wohl in der Absicht, ihre neue Entscheidung legitimieren zu lassen. Agneta spricht mich als Vertreterin der Gruppe der Erwachsenen an, die die Regeln machen und Durchsetzen und gelegentlich Ausnahmen gewähren. Sie wendet die ihr bekannte Regel auch auf mich an, weil sie mich als Erwachsene einordnet.
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Amina möchte gern, dass ich nächste Woche beforsche, was genau passiert, wenn der Aufräumsong gelaufen ist. Sie hat das Gefühl, dass sich die meisten Kinder dann vor den Erwachsenen verstecken, damit sie nicht mitmachen müssen. (P.19.06.14)
Nicht nur ich bemerke den Widerspruch zwischen dem Lied und dem Verhalten der Kinder, auch die Einrichtungsleiterin Amina hat den Verdacht, dass es nicht die erwünschte Wirkung erzielt. Sie beauftragt mich mit dem Erforschen dessen, was nach dem Morgenkreis passiert. Indem sie mir einen Auftrag erteilt, den sie selbst innerhalb von wenigen Minuten erledigen könnte, bekräftigt sie die Rollenverteilung Praktikantin – Chefin zwischen uns. Ich spreche noch kurz mit Kerstin (PFK), 6 weitere Kinder bleiben im Raum. Der Rest läuft hinaus. Ich sage, dass ich mal gucken will, ob die Kinder wirklich aufräumen und gehe in den Flur. In der Verdickung des Flures toben Kinder, sie krabbeln auf dem Boden hin und her. Ich schaue in Aminas Büro nach, dort sind keine Kinder. Aber in dem hinteren Flur spielen drei Kinder. Ich gehe in das Atelier, in dem weder Zettel noch Stifte noch andere Gegenstände liegen und schreibe, dass es nichts gibt, was aufgeräumt werden müsste. Da kommt ein Junge herein, der mich fragt, was ich schreibe. Ich frage ihn, ob er schon aufgeräumt habe, er sagt: „Ja, mich selbst.“ (P.26.06.14)
Der Verdacht bewahrheitet sich: Die Kinder räumen wirklich nicht auf. Anders als Amina annimmt, verstecken sie sich aber nicht, sondern sie spielen gut sichtbar im Flur der Einrichtung. Ein kurzer Blick ins Atelier zeigt: Es gibt nichts, das nicht schon vor dem Morgenkreis weggeräumt wurde. Auch das auf das Aufräumen angesprochene Kind reagiert gelassen und ironisch. Darin zeigt sich, dass das Lied zum Abschluss des Morgenkreises und die darauf folgenden Aktivitäten nicht zusammenpassen. Es wird also etwas besungen, das nicht existiert. Entsprechend wird das Lied zum Abschluss des Morgenkreises einige Zeit später zum Gegenstand der Verhandlung in der Vollversammlung (vgl. Abschnitt 5.4.1). Im folgenden Kapitel werden die Charakteristika der Vollversammlung dargestellt, die sich aus dem Prozess der Einführung der Vollversammlung in den Morgenkreis ergeben.
5.1.2 Transition des Morgenkreises zur Vollversammlung Die Forschung in der Kita Seitenstraße hat hervortreten lassen, dass die eigentliche Vollversammlung in den Ablauf des Morgenkreises integriert ist und nicht als ein eigenständiges Ritual aufzufassen ist. Stattdessen werden donnerstags
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Praktiken, die normalerweise im Morgenkreis ihren Platz haben, ergänzt oder ersetzt. Dies ist aus meiner Sicht ein Effekt der Forderung der Leitungskraft, die Vollversammlung zu ritualisieren. Der Morgenkreis ist bereits als Ritual etabliert, wie die Ergebnisse zeigen, und die Vollversammlung wird ganz pragmatisch in das Bestehende eingepflegt. Wenn sie stattfindet, dann zu Beginn des Morgenkreises, weshalb der Morgenkreis dann Vollversammlung genannt wird. Dass die Vollversammlung in den Morgenkreis integriert ist, führt zu zahlreichen Problemen, von denen das offenkundigste ist, dass sie starken zeitlichen Beschränkungen unterliegt, weil der organisatorisch wichtigste Punkt des Morgenkreises, die pädagogischen Angebote des jeweiligen Tages vorzustellen und die Kinder diesen zuzuteilen, in jedem Fall erfolgen muss, damit der Ablauf des Vormittags geregelt ist. Die Integration in den Morgenkreis hat daneben zahlreiche Implikationen für die durch die Vollversammlung angestrebte Demokratiebildung, wie ich in den folgenden Abschnitten zeigen werde.
Das Flipchart als Markierung der Vollversammlung Die Vollversammlung ist keine gesonderte Versammlung, sondern eine Abwandlung der Abläufe des Morgenkreises: Sie wird donnerstags in den Morgenkreis eingefügt. Erkennbar ist die Vollversammlung unter anderem daran, dass ein Flipchart mit einem laminierten Symbol in den Bewegungsraum gestellt wird. Dieses wird im Morgenkreis sonst nicht verwendet. Eine einzige Tür führt in den Raum, vor diese Tür wird ein Flipchart gestellt. Auf diesem ist ein Symbol für die Vollversammlung angebracht. Es handelt sich um eine auf Papier ausgedruckte Clip-Art, die einen Kreis von stilisierten Menschen darstellt, die einander an den Händen fassen. Das Symbol ist so groß wie eine DIN A4-Seite und laminiert. (P.27.03.14)
Im Protokoll steht, dass das Flipchart den einzigen Zugang zum Raum erschwert bzw. blockiert. Dies setzt die bereits im Raum befindlichen Personen als das potentielle Demos bzw. die rituelle Gemeinschaft im wörtlichen Sinne fest: Nur unter Anstrengungen und von allen beobachtet können sie sich der Versammlung entziehen oder können andere neu hinzukommen. Durch diese räumliche Anordnung wird eine Verbindlichkeit der Teilnahme erzeugt. Alle Anwesenden sollen über die gesamte Dauer der Sitzung dableiben. Verbindlichkeit ist demokratisch relevant, stellt sie doch sicher, dass diejenigen, die die Regeln machen, auch diejenigen sind, die sich ihnen unter-
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werfen werden. Die Einheit von Urheberschaft und Angesprochen-werden von Regeln ist eines der Grundprinzipien von deliberativer Demokratie: „Von deliberativer Demokratie kann dann gesprochen werden, wenn die Betroffenen als die Urheber/innen der Entscheidungen auch die Adressat/innen der Beschlüsse sind bzw. ‚demos‘ und ‚kratia‘ in eins fallen“ (Richter u. a. 2016, S. 119). Doch die durch die verstellte Tür erzeugte Verbindlichkeit der Teilnahme ist eher eine Reaktion darauf, dass durch die Mitgliedschaft in der Kita ohnehin bereits geklärt ist, wer zum Demos gehört und sich daher prinzipiell den Regeln zu unterwerfen hat – nämlich die Kinder. Die Anwesenheitspflicht dient somit eher dem Einüben von Ausdauer und Konzentration sowie der Herstellung von Öffentlichkeit für die Entscheidungen. Das Flipchart verleiht der Versammlung Formalität, indem es suggeriert, dass Dinge besprochen werden, die relevant genug sind, um aufgezeichnet zu werden. Das Flipchart ist mobil und kann daher so aufgestellt werden, dass es von den im Kreis Sitzenden möglichst gut einsehbar ist. Es stellt damit sicher, dass die Debattierenden einander ansehen und feststellen können, wer was gesagt hat. Das Flipchart kann, wenn es nicht gebraucht wird, verstaut werden, wodurch das auf ihm Festgeschriebene aus dem Blick gerät. Anders als auf einer Kreidetafel lässt sich das auf ihm Geschriebene auch abnehmen und archivieren. Entscheidungsprozesse, die auf ihm festgehalten wurden, lassen sich somit zurückverfolgen und ggf. revidieren. Das Flipchart macht öffentlich, welche Argumente welcher Personen vernommen und im Protokoll festgehalten werden. Einwände und Widersprüche gegen mögliche Selektionen von Redebeiträgen können sofort erhoben werden. Nicht nur die Relevanz der Versammlung an sich, sondern auch die Relevanz einzelner Redebeiträge kann unmittelbar nachvollzogen werden. Das Flipchart allein würde möglicherweise schon ausreichen, um zu markieren, dass eine Vollversammlung stattfindet. Zusätzlich dazu ist jedoch auf ihm auch das Symbol für die Vollversammlung angebracht, das bildlich darstellt, wie die Vollversammlung idealerweise gestaltet sein sollte: egalitär und friedlich. Analog zu den Teilnehmenden der Vollversammlung, die im Raum fixiert sind, ist das Symbol laminiert und fixiert. Auch hierin drücken sich die Prinzipien Verbindlichkeit und Stabilität aus. Nach einigen Wochen erkennen die Kinder sofort und auch ohne Flipchart, dass eine Vollversammlung stattfindet, wie folgende Sequenz zeigt: Irgendwann sagt Lilo (K) zu Meret (K): „Meret, heute ist die Tafel gar nicht da“. Nach einer Weile kommt Tina (PFK) mit dem Flipchart hinein. (P.08.05.14)
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Die Kinder wissen bereits, dass das Flipchart („die Tafel“) für die Vollversammlung ein wichtiges Artefakt ist. Innerhalb weniger Wochen haben sie das notwendige rituelle Wissen erworben. Darüber hinaus zeigt sich, dass der Ritualablauf bereits in der vierten Vollversammlung wieder flexibilisiert ist. Keine Sitzung ist genau wie eine andere aufgebaut, trotzdem kann sie als ein Exemplar unter Gleichen wiedererkannt werden. Tina bringt das Flipchart herein, worauf ein Kind sagt: „Oh nein, nicht die blöde Vollversammlung!“ Ein anderes Kind sagt: „Ich mag die Vollversammlung.“ Das erste Kind sagt: „Die nervt, die Vollversammlung.“ (P.12.06.14)
Das Flipchart als Markierung für das Stattfinden einer Vollversammlung wird von den Kindern sofort erkannt. Zwei Kinder äußern ihre konvergierenden Meinungen zur Vollversammlung. Eines findet sie „blöd“ und „nervig“, das andere Kind bewertet Vollversammlungen positiv. Begründet wird keine der beiden Bewertungen, sondern sie werden einander gegenübergestellt. Es handelt sich um eine oft zu beobachtende Interaktionsform von Kindern. Diese besteht darin, abwechselnd Aussagen über sich selbst zu treffen. Sie können sich auf eigene Fähigkeiten, eigenen Besitz oder Geschmacksurteile beziehen. Dabei ist es scheinbar nicht wichtig, direkt aufeinander Bezug zu nehmen, die Aussage zu begründen oder zu einer Einigung zu gelangen, sondern es reicht aus, gesagt zu haben, was man hat oder wie man etwas findet. In jedem Fall lässt sich festhalten, dass die Kinder anhand des Flipcharts erkennen, dass eine Vollversammlung stattfindet und dass sie eine Meinung zur Versammlung haben.
Redundanzerzeugende pädagogische Ritualisierung Bei meiner ersten Beobachtung ist der Beginn der Vollversammlung durch eine redundanzerzeugende pädagogische Ritualisierung geprägt: Die Moderation wird übernommen von einer jungen, bebrillten und „hip“ angezogenen PFK. Diese fragt zunächst, was denn heute sei, worauf die Kinder sich melden. Sie ruft eines beim Namen auf und bekommt die gewünschte Antwort. Ein Kind sagt: „Das sieht man doch an dem Symbol“. Die Moderation lobt die Kinder. (P.27.03.14)
Der relativ unspezifischen Frage der Fachkraft steht das Flipchart mit dem Symbol für die Vollversammlung gegenüber. Flipchart und Symbol wurden zuvor von derselben pädagogischen Fachkraft in den Raum getragen, die nun die Frage stellt. Es ist also davon auszugehen, dass sie die Antwort auf ihre eigene Frage kennt und auf etwas Bestimmtes hinaus will. Viele Kinder zeigen trotz-
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dem mittels Handzeichen an, dass sie die Frage beantworten wollen. Sie gehen routiniert mit dieser Form der Interaktion und hinterfragen nicht, ob die Frage ernst gemeint ist. Sie melden sich, weil die Ritualisierung dies erfordert. Sie sind kompetente Teilnehmende am Ritual, sie kennen den Ablauf und nehmen die notwendigen Rollen ein. Indem sich die Kinder melden, bevor sie etwas sagen, und nicht einfach in den Raum hineinrufen, stellen sie ihren Redewunsch zurück und gehen dabei auch das Risiko ein, dass sie nicht aufgerufen werden. Somit üben die Kinder ein gewisses Maß an Selbstdisziplin aus, das ermöglicht, dass alle Teilnehmenden die Äußerung des aufgerufenen Kindes akustisch verstehen und das Plenum ggf. an einem gemeinsamen Thema arbeiten kann. Sie ordnen ihren eigenen Wunsch somit dem Fortkommen der Gruppe unter und inszenieren sich als Teil einer Gemeinschaft von Lernenden. Dies erfüllt gleichzeitig noch eine andere Funktion: Wenn die Kinder von der Moderation aufgerufen werden, erfahren sie, dass sie einen eigenen Namen haben, dass sie somit Individuen sind, die von anderen Individuen unterschieden werden. Das Sich-Melden kann darum als eine Ritualisierung der Identitätsbildung aufgefasst werden: Die Kinder lernen, dass sie gleichzeitig Individuen und Teil einer Gruppe von Lernenden mit der Fähigkeit zur Selbstdisziplinierung sind. Das Beobachtungsprotokoll expliziert an dieser Stelle nicht, was genau das aufgerufene Kind sagt, sondern interpretiert die Äußerung bereits als die „gewünschte Antwort“. Mir als Beobachterin war an dieser Stelle so klar, worauf Tina mit ihrer Frage hinauswollte, dass ich es beim Verfassen des Protokolls nicht einmal mehr wörtlich aufgeschrieben habe. Ich als erwachsene Beobachterin bin jedoch mit dieser Deutung nicht allein: Auch eines der Kinder verweist auf die Redundanz der Inszenierung des Rituals Vollversammlung. Das Symbol reicht, um zu erkennen, dass nun Vollversammlung ist, dazu bedarf es nicht noch der Frage der Fachkraft. Das Kind kritisiert somit implizit die Frage der Fachkraft, bzw. die Redundanz der Aufführung, gleichzeitig expliziert es, was hier von den Kindern erwartet wird: am Symbol erkennen, welche Situation vorliegt. Dadurch stellt es sich selbst als kompetente*n Teilnehmer*in der Vollversammlung dar und grenzt sich von den unwissenden Kindern und pädagogisierenden Erwachsenen ab. Ein allgemein gehaltenes Lob der Fachkraft – es bleibt unklar, worauf es sich bezieht – an die Kinder schließt diese Interaktion ab. Diese Abfolge aus (rhetorischer) Frage, Aufsagen der (erwünschten) Antwort und Lob oder Dank der Fachkraft als Abschluss ist eine in der Kita häufig zu
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beobachtende Ritualisierung, sie tritt in verschiedenen Situationen mit verschiedenen Interaktionspartner*innen nach dem immer gleichen Schema auf. Die Kinder werden gelobt, wenn sie sich in der VV äußern: „Das finde ich toll, dass du Bescheid sagst.“ (P.08.05.14) Es wird wieder laut und Benjamin (K) spricht sehr leise. Kerstin sagt: Schaut mal, was Samuel (K) macht! Das finde ich toll, dass du das machst! Samuel macht den Leise-Fuchs mit der Hand. (P.26.06.14) Ein Kind meldet sich, wird drangenommen und sagt, dass es schon seinen Namen schreiben kann. Amina (PFK) lobt das Kind, kehrt zu dem eigentlichen Vorschlag zurück, nämlich, dass die Ordner in ihrem Büro gelagert werden und fragt die Kinder, wie sie das finden. (P.29.10.14)
Die Rollenverteilung ist, unabhängig von den das Ritual aufführenden Personen, nach dem Kriterium des Alters differenziert: Die Frage geht von Erwachsenen aus, die Antwort kommt von einem Kind und die lobende oder dankende Evaluation der Antwort erfolgt wieder durch die erwachsene Fachkraft. Es kommt zwar vor, dass Kinder Erwachsenen Fragen stellen, deren Antwort sie bereits kennen, und dass die Erwachsenen die Antwort erraten müssen. Diese Interaktionen unterscheiden sich jedoch von der hier interpretierten Sequenz dadurch, dass die Kinder die Antwort der Erwachsenen nicht mit einem Lob quittieren. Lob wird nach beantworteten Fragen nur von Erwachsenen ausgesprochen und stets an Kinder adressiert. Das Lob macht aus einer herkömmlichen Interaktion eine pädagogische Ritualisierung. Es bestätigt, dass die antwortende Person etwas richtig gemacht bzw. gesagt hat. Die Deutungshoheit liegt bei der fragenden Person; sie entscheidet über richtig oder falsch. Das hier dargestellte Interaktionsritual hat demnach mehrere Funktionen für die verschiedenen Akteure: Erstens wird damit eine Differenzierung von Kindern und Erwachsenen bzw. pädagogischen Fachkräften anhand der Zurschaustellung eines Wissensgefälles aufgeführt. Die Kinder übernehmen dabei die Rolle von Lernenden, die Erwachsenen die der Lehrenden. Die Frage der Lehrenden bewahrt dabei zunächst eine gewisse Offenheit der Interaktion. Die Lernenden könnten prinzipiell alles Mögliche auf die Frage „Was ist heute?“ antworten. Die Frage nimmt somit nicht vorweg, wer aus der Gruppe der Lernenden den Zusammenhang zwischen dem Kontext (Gong, Sitzkreis, Flipchart, Symbol, ggf. auch Wochentag) und der Frage tatsächlich bereits herstellen kann und wer (noch) nicht. Dies können bzw. müssen die Lernenden selbst überprüfen. Die Verantwortung für das Wissen-Haben wird dadurch bei den Kindern belassen: Sie müssen selbst einschätzen, ob sie über das notwendige Wissen verfügen, ob sie es öffentlich anzeigen wollen und ebenso, ob sie es vor allen anderen äußern wollen. Die Fachkräfte/Lehrenden können sich durch die prinzipielle Offenheit
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der Frage ebenfalls rückversichern, wie viele Kinder eine Antwort auf ihre Frage haben. Dadurch ergibt sich die Chance, ihr eigenes Handeln situativ anzupassen und pädagogisch zu intervenieren. Durch das Lob der Fachkräfte können die Kinder dann selbstverantwortlich einschätzen, ob sie mit ihrer Antwort richtiggelegen hätten. Durch das Lob wird damit allerdings auch markiert, was als richtige Antwort gilt und was nicht. Die Deutungshoheit wird dadurch von den Fachkräften beansprucht und wird von den Kindern nicht angezweifelt. Insgesamt ist dieses Ritual damit als eine pädagogische Ritualisierung innerhalb des Vollversammlungsrituals anzusehen. Vorbild dafür ist das Unterrichtsgespräch. Richard Wenzl (2014) hat untersucht, wie in Grundschulklassen der „klassenöffentliche Unterricht“ organisiert ist und welche Sozialisationsfunktion er erfüllt. Er fasst zunächst einige Studien zusammen, die sich mit der Verteilung des Rederechts im klassenöffentlichen Unterrichtsgespräch befassen. Aus diesen ergibt sich für ihn ein ‚klassisches Muster‘ eines „sich endlos wiederholenden Dreischritt[s]: 1. Lehrerfrage, 2. Schülerantwort, 3. Lehrerkommentar“ (Wenzl 2014, S. 23). Genau diesen Dreischritt vollzieht Tina hier ebenfalls. Der „Lehrerkommentar“ ist das Lob, das sie ausspricht. Wenzl schreibt weiter, dass die Fragen der Lehrkraft im Unterricht in den meisten Fällen nicht darauf abzielen, einen Diskurs über problematisch gewordene Geltungsansprüche in Gang zu setzen, sondern dazu dienen, gesichertes Wissen zu vermitteln (ebd., S. 25). Auch dies spiegelt sich in Tinas Verhalten wieder: Es soll nicht verhandelt werden, ob eine Vollversammlung stattfindet oder nicht, sondern die Kinder sollen lernen, anhand der Signale oder des Wochentags zu erkennen, dass eine Vollversammlung stattfindet. Auch das Sich-Melden hat Richard Wenzl analysiert. Der Autor unterscheidet zunächst zwei Formen des Sich-Meldens: Die erste dient dem Erstellen einer Redner*innenliste und beinhaltet, dass alle, die sich melden, nacheinander aufgerufen werden. Sie ermöglicht den Sich-Meldenden die Partizipation an einem Diskurs. Die zweite Form, bei der immer nur eine Person ausgewählt wird, die dann auf die Frage antworten kann, verweist auf knappe Ressourcen (Zeit, Aufmerksamkeit), die einigermaßen gerecht verteilt werden sollen (ebd., S. 34). Bei der eingangs vorgestellten Sequenz ist letzteres der Fall: Es genügt, wenn eines der Kinder die erwünschte Antwort gibt. Mit der Einführung der Vollversammlung als Bestandteil des Morgenkreises entsteht die Notwendigkeit, die beiden Rituale voneinander zu unterscheiden. Die Moderatorin Tina macht dies, indem sie eine Art Unterrichtsgespräch inszeniert, das Redundanz sowie die Unterscheidung von Erwachsenen und Kindern anhand
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der Kategorie des Wissens erzeugt. Diese Form der Übergangsgestaltung wird von Tina beibehalten: Tina: Heute ist ja Donnerstag und was ist donnerstags immer? Einige Kinder: Vollversammlung Tina: Genau Vollversammlung. (T.10.07.14) Tina: Schließzeit und wer erinnert sich noch daran, (.) Bitte? Kerstin: Fritz, setzt du dich jetzt bitte? Tina: Was immer donnerstags ist? Fritz: Nee, ich sitz heut nicht. Chor: Vollversammlung. Tina: Genau, und ich äh-(T.21.08.14)
Auch nach der Schließzeit im Sommer erinnern sich die Kinder an die Vollversammlung und antworten kompetent auf Tinas Frage.
Methoden und Verfahren der Vollversammlung Anhand der Themen Tagesordnung und Protokollführung wird deutlich, dass die Einführung einer Vollversammlung ein Prozess ist, der vor allem die pädagogischen Fachkräfte herausfordert. Sie müssen neue Methoden und Verfahren lernen und einüben, die ihnen die kompetente Moderation von Gremien ermöglichen. In den ersten Beobachtungen finden sich noch keine Hinweise darauf, dass auf dem Flipchart eine Tagesordnung vorbereitet wurde. Sie erinnert dann an die Themen, die in der vorletzten Woche besprochen wurden und kündigt an, die Ergebnisse der AG zu referieren. Sie fragt, ob ihr die Kinder der AG dabei helfen können, diese rufen begeistert „Jaaaa!“ in die Runde. (P.27.03.14)
Die Moderation rekapituliert zum thematischen Einstieg die Besprechung der vorletzten Woche. Dies macht auf einer abstrakten Ebene deutlich, dass das, was in der Vergangenheit besprochen wurde, Relevanz für die Gegenwart und die Zukunft hat. Somit wird Verbindlichkeit hergestellt und eine Praktik der Verbindlichkeit eingeübt. Die Praktik verweist auf eine vergangene AG-Sitzung und setzt die dort getroffenen Entscheidungen für die Gegenwart relevant, wodurch sie die aktuelle Praxis der Vollversammlung in eine Tradition stellt und dadurch ritualisiert. Dann sollen die Ergebnisse der Arbeitsgruppe dem Demos präsentiert werden, also eine Öffentlichkeit dafür hergestellt werden. Demokratietheoretisch ist dies
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ein wichtiger Schritt, um sicherzustellen, dass alle Mitglieder des Demos unter den gleichen Voraussetzungen diskutieren. Die AG-Mitglieder enthalten der Vollversammlung keine Informationen vor, vielmehr werden die Argumente der AG an die Gesamtheit des Demos zurückgegeben und damit überprüf- und ggf. revidierbar gemacht. Die Verantwortung für die Herstellung von Öffentlichkeit übernimmt wie selbstverständlich die pädagogische Fachkraft. Daran zeigt sich, 1. dass die AG keine*n Sprecher*in gewählt hat und 2. dass es die Fachkraft als Pädagogin gewohnt ist, Verantwortung für die Organisation, Abläufe und Inhalte von Bildungsangeboten zu tragen, und dass sie dieses Verständnis ihrer eigenen Rolle in das neu entstehende Ritual transferiert. Eine demokratische Vollversammlung würde jedoch erfordern und nahelegen, dass sich alle Beteiligten diese Verantwortung teilen. Die Kinder, die Mitglied in der AG sind, reagieren mit zur Schau gestellter Begeisterung auf die Frage nach Hilfe. Sie stellen also die Verantwortlichkeit der Fachkraft keinesfalls in Abrede, sondern affirmieren sie. Sie zeigen gleichzeitig, dass sie motiviert sind, die Ergebnisse zu präsentieren. Nicht nur das Erarbeiten einer Tagesordnung, sondern auch die Protokollführung wird zu Beginn ad hoc vorgenommen: Die Moderation begleitet dieses Referat, indem sie am Flipchart Symbole entwickelt und aufmalt und erklärt, die für das Gesagte stehen. Diese Symbole sind teilweise sehr kleinteilig, sodass die Moderation viel Zeit benötigt, sie zu malen. Ein Kind regt an: „Mal den Menschen doch mal Gesichter!“ Auch Amina gibt Tipps, wie man die Symbole gestalten könne und verweist auf ihr Vorwissen: „Ich habe das immer so gemalt.“ (P.27.03.14)
Offensichtig wurde in der AG-Sitzung selbst kein Protokoll geführt. Erst in der Vollversammlung wird das Referat der AG-Sitzung öffentlich und parallel zum Sitzungsverlauf am Flipchart protokolliert. So wird für das Demos ersichtlich, dass es gerade über Sachverhalte informiert wird, die erinnerungswürdig sind. Gleichzeitig bleibt die Moderatorin allein verantwortlich für den Sitzungs-Ablauf und die Gestaltung des Protokolls. Während vordergründig referiert werden soll, welche Ergebnisse die Sitzung der AG hatte, wird an dieser Stelle konkret verhandelt, wie gesprochene Inhalte in einem Protokoll graphisch dargestellt werden. Es gibt zu dem Zeitpunkt der zweiten von mir beobachteten Vollversammlung noch keine ritualisierte Protokoll-Bildsprache.
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Die Moderatorin nutzt spontan kulturell vermittelte Piktogramme3, diese werden jedoch von den Kindern in Frage gestellt bzw. ergänzt: Eines der Kinder fordert, dass den „Menschen“ Gesichter gemalt werden sollen. Außerdem deutet sich, wie beschrieben, an, dass Kinder und Fachkräfte ein unterschiedliches Verständnis davon haben, wie Symbole funktionieren – ohne dass dies offen ausgehandelt würde. Obwohl die Moderatorin erklärt, was die Symbole, die sie malt, bedeuten sollen, und damit in eine lehrende Rolle verfällt, wird in dieser Sequenz das Pädagogische kurzzeitig durchbrochen: Eines der Kinder erteilt ihr einen Ratschlag zur Darstellung von Menschen. Auch die Einrichtungsleiterin gibt Anregungen zur Vereinfachung des Protokollierens. Sie verweist auf ihre eigene Handlungspraxis, gibt der Moderatorin aber zugleich die Möglichkeit, den Vorschlag ihrer Vorgesetzten verwerfen zu können und durch Experimentieren zu einer eigenen Praxis zu gelangen. Diese fast schon behutsame Vorgehensweise überrascht im Vergleich mit den vorangegangenen Gesprächen mit Amina, die in ihrer Leitungsfunktion eine starke Steuerung umsetzt bzw. umsetzen möchte (vgl. Abschnitt 4.4.6). Anscheinend bezieht sich die starke Steuerung von Amina lediglich darauf, dass überhaupt Gremiensitzungen durchgeführt werden müssen. Wie diese gestaltet werden, überlässt sie der dafür zuständigen Fachkraft. Die Protokollführung nimmt aufgrund des Aushandlungsprozesses über die zu verwendenden Symbole viel Zeit in Anspruch, die vom eigentlichen Thema abgeht. Die Moderation sagt, dass nun die Konzentration nachlasse und daher das Thema gewechselt werde. Sie fragt nach Vorschlägen der Kinder. (P.27.03.14)
Es bleibt unklar, ob und wie die Moderatorin die Ratschläge des Kindes und der Einrichtungsleiterin umsetzt. Ohne die Darstellung explizit zu einem Thema zu machen, wird das Thema gewechselt. Damit wird ein erster Punkt einer unsichtbaren Tagesordnung, der durch eine vergangene Entscheidung vorgegeben war, ohne Ergebnis abgeschlossen. Als Grund dafür wird das Nachlassen der Konzentration angeführt. Es bleibt offen, wessen Konzentration nachlässt: die der Moderation oder die der Gruppe. Ein neues Thema soll nun neue Ressourcen für die Konzentration freisetzen. Was mit dem alten Thema passiert, ob die Entscheidung also vertagt wird, oder ob es 3Damit
sind solche Piktogramme und Symbole gemeint, die für Verkehrs- oder Hinweisschilder im öffentlichen Raum genutzt werden, wie z. B. Strichmännchen, Kreise, Pfeile.
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sich ohnehin nur um eine Veröffentlichung der Entscheidung der AG handelte, bleibt offen. Mit dem Themenwechsel unterbricht die Fachkraft auch ihren Bildungsprozess und stellt ihn hintan. Sie kehrt zurück in ihre gewohnte Rolle, in der sie weiß, was zu tun ist, und die Kinder anleiten kann, anstatt Vorschläge von ihnen anzunehmen. Die Kinder protestieren nicht gegen den Themenwechsel, sondern vollziehen mit, was die Fachkraft anordnet. In der Vollversammlung am 06.05.2014, also ca. zwei Monate nach Einführung der Vollversammlung, wird zum ersten Mal mit einer von der Moderation vorbereiteten Tagesordnung gearbeitet. Das wird aus dem Beobachtungsprotokoll der darauf folgenden Sitzung deutlich: Dann geht sie [Tina] zum Flipchart und erklärt, dass sie eine Tagesordnung aufgemalt habe, weil das beim letzten Mal so gut geklappt habe. (P.12.06.14) Tina: So, dann ist heute Donnerstag, das heißt es iiiiist… Kinder: Vollversammlung! Tina: Herzlich willkommen dazu. Und weil das beim letzten Mal so gut geklappt hat, habe ich hier die Tagesordnung aufgemalt. (T.12.06.14)
Aus Sicht der moderierenden Fachkraft hat es sich also bewährt, dass eine Tagesordnung vorbereitet wurde. Konsequent nutzt sie diese Erkenntnis weiter zur Durchführung von weiteren Vollversammlungen. Entsprechend fällt es mir einige Monate später auf, wenn eine Tagesordnung fehlt: Das Symbol für die VV fehlt heute, es gibt keine Tagesordnung. Habe ich Tina überrascht? (P.02.10.14)
Im Oktober gehört die Tagesordnung bereits zum Standard für eine Vollversammlung, sodass ihre Abwesenheit auffällt. Im Beobachtungsprotokoll werden klare Erwartungsstrukturen geäußert und deren Enttäuschung artikuliert. Dass bestimmte Bestandteile des Rituals fehlen, kann daran liegen, dass die Vollversammlung nur deshalb durchgeführt wird, weil ich – möglicherweise entgegen Tinas Erwartung – anwesend bin. Im Oktober gelingt es Tina, die Themen der Kinder ins Protokoll aufzunehmen, obwohl sie selbst über etwas Anderes sprechen möchte.
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Die Kinder melden sich, um etwas zum Morgenkreis zu sagen. Narayan sagt, dass er es doof findet, dass die Kinder sich im Morgenkreis hauen. Tina (PFK) will dieses Thema erst nicht bearbeiten, weil es nicht direkt zur Frage nach der Zufriedenheit mit dem neuen Morgenkreis passt, aber dann zieht sie einen Strich im unteren Drittel des Papiers auf dem Flipchart und malt das Thema doch auf. (P.02.10.14)
Die Kinder verhalten sich in der Sequenz diszipliniert, sie zeigen durch Melden an, dass sie etwas sagen wollen. Narayan spricht an, dass ihn gewaltförmige Interaktionen zwischen Kindern im Morgenkreis stören. Er begründet dies nicht. Tinas Moderations- und vor allem auch Autoritätspraxis ist hier einerseits eine Inszenierung von Großzügigkeit. Zunächst wird das Thema des Kindes als irrelevant klassifiziert, da es nicht auf die von ihr gestellte Frage antwortet. Dann aber markiert sie durch einen Strich auf dem Flipchart, dass das Thema dennoch bearbeitet werden soll. Durch ihre Großzügigkeit wird das Thema des Kindes zu einem Thema für die Gemeinschaft. Andererseits dokumentiert sich ein fortgeschrittener Bildungsprozess. Tina gelingt es inzwischen, zwischen dem eigentlichen Tagesordnungspunkt und den Interessensäußerungen der Kinder zu jonglieren. Sie zeichnet das Thema auf, obwohl sie nicht danach gefragt hatte. Die Frage nach der Zufriedenheit deutet wiederum ein KundenDienstleister*innen-Verhältnis zwischen den Fachkräften und den Kindern an. Die Kinder sollen ihre Kundenzufriedenheit mit dem Dienstleistungsangebot der Fachkräfte, das ein Ritual darstellt, bewerten. Diese Art der Beziehungsgestaltung wird von den Kindern jedoch abgelehnt, sie treffen keine Aussagen über ihre Zufriedenheit, sondern wandeln das Thema ab in eines, das sie tatsächlich beschäftigt. Sie fragt, ob das nur beim Morgenkreis so sei, dass sich Kinder hauen. Einige Jungen um Narayan sagen, dass dies der Fall sei. Etwas später meldet sich Maria und sagt, dass sich oft Kinder hauen und dass sie das doof findet. Tina bietet an, eine Arbeitsgruppe einzuberufen wegen des Hauens. (P.02.10.14)
Die Moderatorin schreibt das Thema nicht nur ins Protokoll, sondern greift es auch verbal auf. Sie stellt eine Nachfrage, die die Antwort im Prinzip vorweg nimmt. Jedoch geben die Kinder um Narayan nicht die erwartete Antwort, die lauten würde, dass es auch in anderen Zusammenhängen passiert. Das deutet darauf hin, dass es von diesen Kindern nur im Morgenkreis als störend, weil regelverletzend, empfunden wird, wenn sich Kinder hauen, in anderen Kontexten hingegen nicht. Die folgende Äußerung von Maria hingegen zeigt, dass zumindest ein Kind es auch in anderen Kontexten unangenehm findet.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Die Diskussion darüber, ob und wann Hauen in Ordnung ist, wird nicht im Plenum fortgesetzt, sondern soll aus der Vollversammlung in die kleinere Teilöffentlichkeit einer Arbeitsgemeinschaft ausgelagert werden. Dadurch wird das Thema zwar als ein wichtiges Thema anerkannt, aber als nicht für alle Kinder gleichermaßen relevant markiert. Zudem, darauf komme ich in Abschnitt 5.4.2 noch einmal zurück, werden häufig AGs gegründet, die bestimmte Probleme lösen sollen, aber nie zustande kommen. Das Angebot, eine AG zum Thema zu gründen, ist daher im besten Fall ambivalent. Indem Tina das Thema überhaupt aufgreift und zumindest kurz andiskutiert, zeigt sie, dass sie eine Strategie für das Problem entwickelt hat, wenn die vorbereitete Tagesordnung und die aktuellen Interessen der Kinder nicht zusammenpassen. Parallel zur Verbesserung der Tagesordnung und Protokollführung wird auch mit verschiedenen Methoden experimentiert: Tina (PFK) hat fünf verschiedenfarbige DIN A4 Zettel vorbereitet, auf dem die Titel der Lieder geschrieben stehen. In der VV sollen gemeinsame Zeichen entwickelt werden, die der Wiedererkennung der Lieder dienen sollen. Tina fragt also bei jedem Lied, was man auf den Zettel malen könnte. Dabei kommt es zu großen Missverständnissen zwischen Erwachsenen- und Kinderlogik: Den Kindern ist es nicht wichtig, dass das, was auf den Zettel gemalt wird, mit dem Inhalt des Liedes zu tun hat. Sie schlagen vor, ein Pferd zu malen oder eine Kuh oder Blätter. Tina versteht das nicht, sie versucht immer, eine Brücke zu schlagen zu dem Inhalt des Liedes. Als der Vorschlag kommt, ein Pferd zu malen, fragt sie: “Ach, weil sich das auch so viel bewegt?” Ada, die den Vorschlag gemacht hat, wirkt leicht verwirrt, nickt dann aber. Die Erwachsenenlogik hilft bei dieser Aufgabe nicht unbedingt weiter: Jedes Lied, bis auf eines, hat zum Inhalt, dass alle Kinder sich bewegen. So landen auf jedem Zettel Zeichnungen von Strichmännchen, die sich bewegen. Eine Zeichnung hat außerdem noch einen Kreis aufgemalt, weil der Text “Der Kreis ist zu Ende” lautet. Dieser Vorschlag gewinnt später. Toni sitzt die ersten 10 Minuten in der Tonne in der Ecke des Raumes, in der außerdem die Bälle aufbewahrt werden. Nach einer Weile klettert er aus der Tonne heraus. Später darf er für die Abstimmung Wäscheklammern verteilen. Das klappt sehr gut, er macht es ruhig und bedächtig. Er versucht, auch mir eine Wäscheklammer zu geben, aber ich lehne ab. Die Kinder, die bereits eine Wäscheklammer erhalten haben, dürfen diese auch schon an einen Vorschlag pinnen. Dabei hält Frieda die anderen Kinder davon ab, für den Vorschlag zu stimmen, den sie ausgewählt hat. Die Erwachsenen stimmen auch mit ab, allerdings erst, nachdem alle Kinder abgestimmt haben. (P.28.08.14)
Die Sequenz dokumentiert eine Abstimmungsmethode für die Auswahl des Morgenkreis-Abschlussliedes: Auf vorbereitete Zettel, auf denen bereits die Lieder geschrieben stehen, die in der vorangegangenen Sitzung vorgeschlagen wurden, werden gemeinsam entwickelte Symbole gezeichnet. Diese Methode
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wurde von Tina schon vorbereitet, die Kinder sind also nicht an der Entwicklung passender Abstimmungsmethoden beteiligt. Jede Person – Kinder und anwesende Erwachsene – erhält eine Wäscheklammer als Stimme, diese soll an den gewählten Vorschlag geklammert werden. Die Methode lässt eine genaue Betrachtung der Vorschläge zu; die Zettel können hochgehoben und weggetragen werden, ohne dass die Stimm-Klammern verloren gehen. Dass ad hoc gemeinsam überlegt wird, was auf die einzelnen Zettel gezeichnet werden muss, damit der Vorschlag für die Kinder (die Erwachsenen können den Titel lesen) wiedererkennbar bleibt, ist prinzipiell sinnvoll, denn es zeigt sich, dass die Kinder andere Kriterien für das Wiedererkennen von Liedern nutzen würden als die Moderatorin. Das Beobachtungsprotokoll suggeriert in jedem Fall, dies durchschaut zu haben. Eine alternative Deutung wäre, dass die Kinder das Verfahren nicht verstehen und daher unpassende Vorschläge machen. So scheint Tina die Situation zu interpretieren, aber sie wendet sie pädagogisch und leitet her, warum die überraschenden Symbol-Vorschläge trotzdem passend sind. In jedem Fall kann festgestellt werden, dass die Moderatorin die Kinder zwar an den Zeichnungen beteiligen will, aber dies nicht konsequent umsetzt, weil sie alle Vorschläge der Kinder erst einmal für sich übersetzt und dann völlig andere Dinge auf die Zettel malt. Anstatt also die Symbole der Kinder aufzuzeichnen, die zwar nichts mit den Liedtiteln zu tun haben, aber den Kindern vielleicht trotzdem ein Wiedererkennen ermöglichen würden4, malt Tina ihre eigenen Ideen zu den Liedern auf. Im Protokoll suggeriere ich, dass am Ende der Vorschlag gewinnt, der noch ein weiteres, anderes Symbol verwendet: den Kreis. Dies liegt auch daran, dass die Kinder wenige Zeit vorher so begeistert von einem anderen Vorschlag waren: Eine sehr witzige Situation (für die PFK und mich) entsteht, als Tina den Vorschlag der Fachkräfte vorträgt, das Lied “I’d like to move it, move it” zu singen, das auch in dem Animationsfilm “Madagaskar” vorkommt. Als Tina also den Vorschlag macht, freuen sich viele der Kinder, ich schätze, so etwa 2/3 sehr. Sie springen auf, singen mit und tanzen. Vor allem Nemo lacht und singt und zeigt sogar, wie man die Hüften dazu bewegen muss. Als der Vorschlag nicht gewinnt und Nemos bester Freund Felix sich darüber freut, dass ein anderer Vorschlag gewonnen hat, fängt Nemo an, bitterlich zu weinen. Die pädagogischen Fachkräfte trösten ihn. (P.28.08.14)
4Jede*r,
die*der schon einmal mit einem Kind im Vorschulalter Memory gespielt hat, wird bestätigen können, dass Kinder erstaunliche Gedächtnisleistungen vollbringen.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Aufgrund dieser Geschehnisse war ich beim Verfassen des Beobachtungsprotokolls noch sehr verwundert darüber, dass ein anderer Vorschlag bei der Abstimmung gewonnen hat und habe mir das damit erklärt, dass die Zeichnungen nicht richtig seien. Da jedoch bis auf Nemo alle Kinder mit dem Ausgang der Wahl einverstanden sind, Felix sich sogar darüber freut, scheint mir diese Interpretation nicht haltbar. Das Beispiel verdeutlicht eher, dass die Mehrheit der Kinder anscheinend eine für mich überraschende Entscheidung fällt. Dass es für mich nicht vorherzusehen war, welche Entscheidung die Mehrheit der Kinder treffen würde, zeigt, wie wichtig ihre Beteiligung ist. In Bezug auf die verwendeten Symbole in Protokoll, Tagesordnung und Abstimmungsmethode fällt auf, wie schwierig es ist, gemeinsam eine ‚Schrift‘ zu entwickeln und zu ritualisieren, auch weil unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden. Aus diesem Grund wird in den Vollversammlungen viel Zeit darauf verwendet, die Symbole zu entziffern.
Spezielle Praktiken der Vollversammlung Kerstin, eine pädagogische Fachkraft, fragt ab, was Tina, die moderierende Fachkraft, zuvor mit den Kindern besprochen und dann auf dem Flipchart protokolliert hat: Kerstin fragt einzelne Kinder, ob sie an dem Flipchart die Regeln erklären könnten, die Tina vorgestellt hat. Einige der von ihr angesprochenen Kinder kommen nach vorne und geben eine Regel wieder, andere verneinen und bleiben sitzen. Für Kerstin ist klar, dass die Kinder die Regeln nicht verstanden hätten. Ich frage mich, ob sie eher noch nicht diszipliniert genug sind, um in einer Öffentlichkeit eine Regel vorzutragen. Verstehen wird gleichgesetzt mit Laut-in-der-Öffentlichkeit-Sagen. (P.08.05.14)
Bei der von Kerstin initiierten Praktik, die einer mündlichen Prüfung in der Schule ähnelt, wird das eben erst Referierte abgefragt, mit der Unterstellung, dass die Kinder es bereits vergessen oder noch nie verstanden hätten. Im Gegensatz zum üblichen Vorgehen basiert diese Prüfung nicht auf Freiwilligkeit, vielmehr werden die Prüflinge direkt von Kerstin angesprochen und müssen sich zu dieser Ansprache verhalten. Das Protokoll nimmt die Deutung vorweg, dass für Kerstin „klar ist“, dass die Kinder die Regeln nicht verstanden haben. Diese als Feststellung getarnte Deutung lässt darauf schließen, dass es bei der Wiederholung der Regeln weniger darum geht, die Regeln einzuüben, als darum, den anderen pädagogischen Fachkräften (insbesondere der Moderatorin und mir) vorzuführen, dass die Kinder das alles nicht verstehen.
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Es gelingt einigen Kindern, in aller Öffentlichkeit vor der Tafel eine der Regeln wiederzugeben bzw. das Protokoll zu entziffern. Ich als Beobachterin zweifele nicht am Verständnis der Kinder, sondern daran, ob Kerstins Methode beweist, was sie anscheinend beweisen will. Über die mündliche Prüfung innerhalb des Vollversammlungs-Rituals wird, so die von mir im Protokoll angedeutete Interpretation, nicht geprüft, ob die Kinder verstanden haben, sondern eher, ob sie sich trauen, nach vorne zu gehen und in der Öffentlichkeit zu sprechen. Das bedeutet, zum Charakter einer mündlichen Prüfung gehört nicht nur, Wissen zu haben, sondern auch, dieses Wissen öffentlich darzustellen. Diese Prüfung hat zur Folge, dass Tina in einer späteren Vollversammlung mit den Kindern gemeinsam erarbeitet, was auf der Tagesordnung steht. Heute ist Vollversammlung, die ich mit meinem Audioaufnahmegerät aufzeichne. Dazu hat Tina eine Tagesordnung vorbereitet, wie sie einleitend in der VV erzählt. Diese ist etwas kryptisch, die Kinder können sie nicht verstehen, ohne dabei pädagogisch begleitet zu werden. Das macht Tina aber, indem sie jeweils fragt: „Wonach sieht das denn aus? Was ist das für ein Symbol? Wofür steht das? Könnt ihr euch noch erinnern?“ Dann melden sich Kinder und sagen, wenn sie namentlich aufgerufen wurden, dass sie sich noch erinnern können und erklären, was das Symbol bedeutet. (P.19.06.14)
Auch einige Monate nach der ersten öffentlichen Protokollführung brauchen die Kinder Unterstützung, um die Symbole auf dem Flipchart zu verstehen. Allerdings geht aus dem Ausschnitt hervor, dass die Kinder dies gemeinsam durchaus können. Anders als Kerstin prüft Tina das Wissen der Kinder nicht ab, sondern sie unterstützt sie dabei, sich zu erinnern. So erarbeitet das Plenum auf der Basis von freiwilligen mündlichen Beiträgen, was auf dem Protokoll steht. Dabei nutzt Tina die Melde-Regel zur Verteilung der Redebeiträge. Ihre Methode ähnelt somit eher einem Unterrichtsgespräch als einer mündlichen Prüfung. Tina will nicht zeigen, dass die Kinder die Tagesordnung nicht lesen können, sondern möchte alle Kinder auf einen Stand bringen. Allerdings sind selbst im Oktober noch nicht alle pädagogischen Fachkräfte überzeugt davon, dass die Kinder entziffern können, was auf dem Flipchart geschrieben ist bzw. haben sie selbst Probleme, sich zu erinnern. Richard (PFK):
Exactly. So what did you talk about with Jenny last time? Do you remember?
178 Beate (PFK): Richard: Lucy: Richard: Lucy: Richard:
5 Darstellung der Forschungsergebnisse Worüber habt ihr mit Jenny gesprochen das letzte Mal? Könnt ihr euch daran erinnern? Raise up your hand if you know it. Lucy. Lucy. Dass wir unsere Bücher da rein tun sollen. With? Amina. Exactly. But that’s what I am not talking about. I would like to know: What does this… (er deutet auf eine der Zeichnungen auf dem Flipchart) mean
7 Sekunden Schweigen Richard: You remember? Richard wendet sich mit dieser Frage an mich. K2: Vollversammlung. Ich: Ja, das waren die Vorteile davon. Wenn die Bücher im Büro von Amina stehen. Richard: Ja. Okay? Emilia, leave her pencil alone. (2) (P.16.10.14)
Richards Frage danach, was die Kinder in der letzten Woche mit Jenny besprochen haben, leitet zum einen die Wiederholung der Inhalte ein. Die Berichterstattung aus der letzten Sitzung gibt den Kindern, die nicht daran teilnehmen konnten, die Möglichkeit, zu erfahren, was besprochen wurde, nachzufragen und ggf. neu zu diskutieren. In der Art und Weise, wie die Frage formuliert ist, dokumentiert sich überdies, dass Richard als Pädagoge selbst nicht Mitglied des Demos ist, sondern dass die Vollversammlung für die Kinder durch- oder sogar aufgeführt wird. Richard war in der letzten Vollversammlung anwesend (P.09.10.14) und könnte selbst Bericht erstatten. Das tut er nicht, sondern er eröffnet die Möglichkeiten, dass die Kinder dies übernehmen – falls sie sich erinnern. Dass sie dazu fähig sind, stellt Richard in Frage. Außerdem bekräftigt er nochmals die pädagogische Ordnung der Versammlung: Er positioniert sich als Pädagoge, der selbst nicht offenlegen muss, ob er sich erinnert. Der Pädagoge gehört also hier nicht zum Demos und muss seine Erinnerungsfähigkeit nicht in Frage stellen lassen. Beate übersetzt Richards Frage bzw. wiederholt die Frage auf Deutsch, wodurch auch sie sich aus dem Demos ausschließt. Beide Pädagog*innen sind also nicht Mitglied der Entscheidungsgemeinschaft. Im Unterschied zu Richard war Beate jedoch in der letzten Woche nicht persönlich anwesend und hat dementsprechend auch nicht mitdiskutiert.
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Ihre Simultanübersetzung widerspricht der gängigen Praxis der Kita in Bezug auf Bilingualität. Hier dokumentiert sich eine vorauseilende pädagogische Verantwortlichkeit für das Verstehen der Kinder, anstatt eines Vertrauens darauf, dass diese sich bemerkbar machen, wenn sie etwas nicht verstehen. Die Prävention von Missverständnissen, die durch Sprachprobleme ausgelöst werden könnten, erhält Vorrang vor der diskursiven Klärung von tatsächlich aufkommenden Missverständnissen. Richard fordert die Kinder auf, sich selbst zu disziplinieren, ihren Redewunsch so lange zurückzustellen, bis sie aufgerufen werden. Lucy, die zu diesem Zeitpunkt ca. 3,5 Jahre alt ist, handelt entsprechend: Sie meldet sich, wird aufgerufen und antwortet erst dann. Da an den Vollversammlungen bis zu 44 Kinder und 4 Erwachsene teilnehmen, ist es einerseits notwendig, eine Regelung zu finden, die gewährleistet, dass die Wortbeiträge auch gehört werden und nicht alle Teilnehmenden durcheinander reden. Andererseits erfordert es ein gewisses Maß an Selbstdisziplin, den eigenen Redewunsch so lange zurückzuhalten, bis der eigene Name von der*dem Pädagogin*en aufgerufen wird. Zudem ergibt sich dadurch die Gefahr, dass ein*e Andere*r bereits einen ähnlichen oder den gleichen Beitrag äußert. Der demokratische Ritualkörper ordnet sich zunächst sowohl in seinen Bewegungen als auch in den Lauten, die er äußert, der Gemeinschaft unter. Er tritt nur dann individuell in Erscheinung, wenn er entweder stört und ermahnt wird, oder diszipliniert genug ist, sich zu melden, und dann namentlich aufgerufen wird. In der Kita muss diese für Demokratierituale notwendige Selbstdisziplin zunächst durch pädagogische Rituale eingeübt werden, bis sie von den Kindern inkorporiert ist. Das pädagogische Interaktionsritual unterstützt also das Demokratieritual, schafft aber auch Widersprüche zwischen demokratischer und pädagogischer Logik. Hier zeigt sich, dass für eine solche Form des gemeinsamen Diskurses, der für demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse notwendig ist, Selbstdisziplin gefordert wird und erforderlich ist, die eingeübt werden muss – eine Verschränkung von Demokratie, Ritual und Pädagogik. Obwohl sie nicht dieselbe Sprache sprechen, verstehen sich Richard und Lucy zunächst. Lucy kann ihre Aussage auf seine englische Nachfrage hin kompetent auf Deutsch ergänzen, was Richard mit einem „exactly“ quittiert. Dann aber werden Lucys Antworten disqualifiziert. Richard gibt zu verstehen, dass er über etwas Anderes redet als Lucy. Er behauptet nun, dass er die Bedeutung einer einzelnen Zeichnung, auf die er nun deutet, wissen wolle. Er produziert damit ein Missverstehen, das durch das ungewöhnlich lange Schweigen der Versammlung bekräftigt wird.
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Insgesamt werden die Kinder in dieser Sequenz innerhalb des Demokratierituals als Lernende positioniert: Sie müssen lernen, sich zu erinnern, Englisch zu verstehen und sich zu melden, bevor sie sprechen. Die Pädagog*innen lassen dabei offen, ob sie selbst diese Fähigkeiten besitzen. Richards an mich gerichtete Frage könnte zum einen bedeuten, dass er den Aufbau des Protokolls selbst nicht mehr nachvollziehen kann und nun meine Notizen als Gedächtnisstütze benötigt. Andererseits könnte es sich um einen Versuch handeln, mich in die Verantwortung für die Moderation der Versammlung einzubeziehen. Ein Kind antwortet hier noch auf die erste Frage von Richard, die rituelle Frage nach dem Anlass der Versammlung. Das Verhalten des Kindes spiegelt wider, wie ambivalent die aktuelle Frage ist, bzw. dass unklar ist, worauf Richard hinaus will. Die Antwort des Kindes wird nicht weiter thematisiert, da ich nahezu gleichzeitig mit dem Kind antworte, dass diese Zeichnung die Vorteile der Lagerung der Tagebücher in Aminas Büro darstellt5. Richard bestätigt diese Deutung und lässt somit weiterhin offen, warum er gefragt hat, d. h. ob er sich selbst noch erinnert oder nicht. Als Erwachsener muss er sich nicht offen positionieren.
Abhängigkeit von der Moderation Anhand der Beispiele des Umgangs mit Protokollen und Tagesordnung wird deutlich, dass die Erwachsenen durch verschiedene Strategien ihre unterschiedlichen Einstellungen zur Vollversammlung und ihrer Sinnhaftigkeit ausdrücken: Tina als moderierende Fachkraft vollzieht gemeinsam mit den Kindern einen Bildungsprozess. Sie übt, Protokoll zu führen und zu lesen, sie verbessert die Vollversammlung durch die Einführung einer Tagesordnung. Sie prüft nicht das Wissen oder Verständnis der Kinder ab, sondern hilft ihnen dabei, sich anhand der Symbole auf dem Flipchart an die vergangenen Sitzungen zu erinnern. Dabei behält sie jedoch die Verantwortung für das Gelingen der Sitzung. Sie moderiert, referiert und protokolliert. Die Kinder arbeiten ihr hauptsächlich zu. Insgesamt ergibt sich dadurch der Eindruck eines Unterrichtsgesprächs.
5In
der Vollversammlung ging es darum, dass immer wieder Seiten aus den Ordnern, in dem die Kinder ihre Zeichnungen, Fotografien und Portfolios aufbewahren, herausfallen und oft nicht klar ist, wem diese gehören. Um diesem Problem entgegenzuwirken, hatte die Einrichtungsleiterin Amina vorgeschlagen, die Tagebücher in ihrem Büro zu lagern und ein Auge auf sie zu haben (P.09.10.14).
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Die pädagogische Fachkraft Kerstin hingegen tritt nicht als Moderatorin der Vollversammlung auf. Sie greift in die Moderation ein, als sie die Kinder mündlich prüft. Sie zeigt damit Skepsis in Bezug auf die Sinnhaftigkeit der Protokollführung und der Erinnerungsfähigkeit der Kinder. Indem sie die Versammlung in eine Prüfung verwandelt, führt sie vor, dass die Versammlung aus ihrer Sicht so nicht funktioniert. Die Rolle der pädagogischen Fachkraft Richard ist komplizierter. Er übernimmt zwar die Moderation der Vollversammlung, stellt aber verwirrende Fragen bzw. evaluiert die Antworten der Kinder als falsch. Richard lässt sich auf keinen Bildungsprozess mit den Kindern ein, sondern behält die Kontrolle über das Geschehen. Jenny (PFK) erzählt, dass die VV freiwillig werden soll, statt verpflichtend und dass sie möglicherweise dafür dauerhaft auf den Nachmittag verlegt werden wird. Für die Übergangszeit, in der die Kinder die VV noch kennenlernen müssen, sei es gut, sie morgens und verpflichtend zu machen, aber es sei schon sehr langweilig oder überfordernd für die Kinder. Tina (PFK), mit der ich später darüber spreche, bestätigt das. Sie sagt, sie habe in einer anderen Kita hospitiert und dort habe es wunderbar funktioniert. Kerstin (PFK) kann nur wenige Sachen dazu erklären, ihre Themen seien andere (Bewegung, Vorschule). Sie findet, dass durch Beteiligung Kleinigkeiten zu riesigen Themen würden. Ich frage sie nach dem Kinderparlament, aber ihr fällt lediglich ein, dass es mal den Wunsch nach Gardinen gegeben habe, „so wie bei Oma“, aber dass die Erwachsenen ein Veto eingelegt hätten. Es gebe ja Jalousien und einen Vorhang im ehemaligen Bewegungsraum, der inzwischen der Bauraum ist. (P.05.06.14)
Aus dem Protokoll geht hervor, dass Jenny der Vollversammlung eine so große Relevanz zuschreibt, dass sie diese den Kindern so lange verpflichtend zumutet, bis sie eine informierte Entscheidung darüber treffen können, ob sie an ihr teilnehmen wollen oder nicht. Aus organisatorischen Gründen müsste sie dafür allerdings auf den Nachmittag verschoben werden. Dann würden jene Kinder, die sich für die Teilnahme interessieren, aber nach dem Mittagessen abgeholt werden, nicht mitbestimmen könnten. Jenny scheint auszuschließen, dass die Kinder Freude an der Vollversammlung finden könnten, vernünftiger Weise einsehen würden, dass eine Teilnahme wichtig wäre, um mitbestimmen zu können, oder aber deutlich genug rebellieren würden. Die Versammlung erscheint als notwendiges Übel. Kerstin findet die Vollversammlungen im Gegensatz zu Jenny nicht einmal sinnvoll. Sie teilt Jennys Einschätzung, dass die Teilnahmeverpflichtung abgeschafft werden müsse. Auch sie selbst ist nicht motiviert, an der Vollversammlung teilzunehmen und erst recht nicht dazu, sie zu moderieren. Der Grund
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dafür ist, das zeigt der Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll, dass die Kinder ihrer Meinung nach keine vernünftigen Entscheidungen treffen. Kerstin unterscheidet zwischen der Partizipation der Kinder und der Teilnahme an Vollversammlungen. Die gremiengestützte demokratische Partizipation („formelle Mehrheitsdemokratie“ in der Vollversammlung und „non-formelle“ Mehrheitsdemokratie in den AGs, Richter u. a. 2016) führe dazu, dass unwichtige Themen aufgebauscht würden. Zudem traut sie den Kindern nicht zu, Entscheidungen zu treffen, die sie selbst vertreten kann. Sie hält daran fest, dass die Fachkräfte die Umwelt für die Kinder und nicht mit den Kindern gestalten. Zudem fasst sie die demokratische Beteiligung als einen möglichen Schwerpunkt der pädagogischen Arbeit auf und nicht als Querschnittsthema bzw. grundsätzlich andere Herangehensweise an die professionelle pädagogische Arbeit. Analog dazu, dass sie selbst für die Bewegung der Kinder zuständig ist und die Kinder auf die Schule vorbereitet, könnten andere das Themenfeld der Partizipation übernehmen, ohne dass sie selbst Verantwortung dafür übernehmen müsse. Die Fachkräfte fragen nicht danach, wer von einer Entscheidung betroffen ist, und daher mitbestimmen sollte, sondern sie fragen sich, wer eine Gremiensitzung aushält, wer dazu Lust hat, wem man das zumuten kann. Sie sehen es als zusätzliche pädagogische Aufgabe, die parallel und nicht quer zu den anderen Aufgaben verläuft. Die „großen“ Kinder müssen die Vollversammlung kennenlernen um dann zu entscheiden, ob ihnen das Angebot gefällt, die „Kleinen“ erhalten noch eine Schonfrist. Ihre eigene Betroffenheit nehmen die Fachkräfte nicht ernst. Sie erzählen zwar von einem Kinderwunsch, der durch ihr „Veto“ verhindert wurde, sehen sich aber nicht als Teil des Demos, das Konflikte demokratisch löst. Mit nur einer zuständigen Fachkraft begonnene Bildungsprozesse erleiden herbe Rückschläge, wenn eine weitere Person die Verantwortung übernimmt und nicht hinter dem Konzept steht. Was der Ausschnitt aus dem Protokoll mit Richards bereits andeutete, wird im Verlauf der Versammlung noch deutlicher, wie ich im Folgenden darstelle. Die Vollversammlung hat schon angefangen, also sage ich den dreien, dass ich jetzt nichts mehr malen werde und dass wir Richard (PFK) zuhören müssen, der eine Vollversammlung improvisiert. Richard deutet ohne Begrüßung auf das Symbol für die Vollversammlung auf dem Flipchart. Dort hängt das Protokoll der letzten Sitzung. (P.16.10.14)
Meine drei Sitznachbarinnen und ich verpassen den Anfang der Vollversammlung, weil der Übergang zwischen Frühstück/Freispiel und Gremiensitzung nicht ritualisiert, sondern nahezu unbemerkt verlief.
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Bei dem im Protokoll angesprochenen „Malen“ handelt es sich um eine rituelle Interaktion zwischen den Kindern und mir: Sie eignen sich mein Forschungstagebuch an, indem sie mir vorschreiben, was ich in das Buch zeichnen soll. Danach kommentieren sie, wie gut die Zeichnung gelungen ist und fordern mich auf, etwas Ähnliches zu zeichnen. Die Anweisungen gehen dabei immer von den Kindern aus, ich als Erwachsene bin die ausführende Kraft. In dieser konkreten Situation verweigere ich mich ihrem Befehl mit einem Hinweis auf das Setting, in dem wir uns befinden und das sich soeben geändert hat. Ich weise die neben mir sitzenden Kinder als Erwachsene und an der Vollver sammlung interessierte Forscherin auf den Beginn hin, weiche allerdings die dadurch eingeführte Unterscheidung zwischen erwachsener Ordnungsmacht und Kindern, die ermahnt werden, wieder auf, indem ich behaupte, wir alle müssten zuhören – also nicht nur die Kinder. Damit gliedere ich mich in die entstehende Gemeinschaft ein. Die moderierende pädagogische Fachkraft Richard improvisiert die Versammlung. Da ich das Beobachtungsprotokoll nach Ende der Versammlung verfasst habe, enthält es an dieser Stelle bereits einen Hinweis auf meine Interpretation des Gesamtgeschehens: Es handelt sich für mich als Beobachterin um keine richtige Vollversammlung, sondern um eine improvisierte. Laut Beobachtungsprotokoll fehlt die formelle Begrüßung der Teilnehmenden, die Tina etabliert hat. Stattdessen führt Richard eine Geste auf, die das Symbol für die Vollversammlung (ein abstrakter Kreis aus Menschen auf ein Blatt Papier gedruckt und an das Flipchart geheftet) und das Flipchart ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Die Artefakte werden durch Richards Geste mit Bedeutung aufgeladen, indem die Blicke der Teilnehmenden auf sie gelenkt werden. Im Vergleich mit anderen Beobachtungsprotokollen zeigt sich außerdem, dass neben der formellen Begrüßung auch der Gongschlag, das Begrüßungslied und eine vorbereitete Tagesordnung fehlen. Die Tagesordnung, die die Vollversammlung strukturiert und auf der sonst öffentlich sichtbar protokolliert wird, was in der Vollversammlung diskutiert wird, ist hier ersetzt durch die Fortschreibung einer bereits geführten Diskussion, auf der zunächst kein Platz für die Dokumentation eine weiteren Diskussion ist. Ich schalte das Audiogerät ein. Der folgende Abschnitt des Protokolls ist eine Verschriftlichung der Audioaufnahme, ergänzt durch meine Feld-Notizen. Richard (PFK): What does this mean? Adrian! Adrian! Kinder-Chor: Vollversammlung. Beate (PFK): Adrian? Richard: Adrian.
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K16: Vollversammlung. Beate ((Zu Adrian und dem anderen neben ihr sitzenden Kind)): Ich bin hier dazwischen gegangen, weil ihr Quatsch macht und jetzt ist der Morgenkreis. Okay? Richard: Adrian, what does this mean? Adrian (K) und ein paar andere Kinder im Chor: Vollversammlung. (P.16.10.14)
Ich wechsele von einer beobachtungsfokussierten Form der Dokumentation des Geschehens hin zu einer, die das Sprechen der Teilnehmenden ins Zentrum stellt. Meine Feldnotizen bilden ab hier nicht mehr die Basis des Protokolls, sondern dienen als Ergänzung der transkribierten Audioaufnahmen. Dies hat einerseits den Grund, dass das Protokollieren der Vollversammlungen aufgrund der Dichte der sprachlichen Äußerungen sehr schwierig ist. Andererseits habe ich zum Zeitpunkt dieser Vollversammlung bereits zahlreiche Protokolle über den allgemeinen Ablauf, die Sitzordnung etc. verfasst, sodass ich nun auf das, was sprachlich in einer Vollversammlung geschieht, fokussieren kann. Die pädagogische Fachkraft Richard beginnt mit der ritualisierten Frage nach dem Anlass der Zusammenkunft, allerdings vermittelt über die Frage nach der Bedeutung des Symbols für die Vollversammlung. Durch die Orientierung am Unterrichtsgespräch etabliert er eine pädagogische Ordnung, die für die Schule typisch ist. Gleichzeitig zur Definition der Zusammenkunft über die Klärung der Symbolbedeutung auf dem Flipchart wird das Kind Adrian von den pädagogischen Fachkräften auf doppelte Weise diszipliniert, indem es immer wieder namentlich aufgerufen und körperlich an der Interaktion mit einem anderen Kind gehindert wird. Obwohl bereits ein ganzer Chor von Kinderstimmen ruft, dass das Symbol für die Vollversammlung steht, wiederholen Richard und Beate die Frage an Adrian gerichtet, bis auch er schließlich in den Chor einfällt. Dieses pädagogische Ritual der Anrufung ist ambivalent, denn es drückt nicht nur den Anspruch an die Kinder aus, sich ein- und den Ritualregeln unterzuordnen, sondern auch den Anspruch an eine möglichst alle Kinder inkludierende Ritualgemeinschaft. Über das gemeinsame Sagen des Wortes „Vollversammlung“ wird die Ritualgemeinschaft erst hergestellt. Zuvor noch individuell in der Kita agierende Stimmträger versammeln sich im gemeinsamen Rhythmus des Artikulierens eines Wortes. Die Aufmerksamkeit der Gemeinschaft wird
6In
den Beobachtungsprotokollen und Transkripten werden Kinder, denen ich keine Namen zuordnen konnte, mit dem Buchstaben „K“ und Ziffern abgekürzt.
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gebündelt und durch die zeigende Geste auf das Flipchart mit dem Protokoll der letzten Sitzung gerichtet. Diese beiden Artefakte werden dadurch mit Bedeutung für die Gemeinschaft aufgeladen. Aus Einzelnen, die individuellen Impulsen folgen, wird eine Gemeinschaft, die dem vorgegebenen Puls der Einheit folgt, sich diesem anschließt bzw. in diesen eingeordnet werden muss. Alle Körper werden an ihrem Platz und in einer Handlung vergemeinschaftet, alle Stimmen in einem Klang gebündelt, alle Kinder werden zum Körper, dem ein Ritualleiter, ein Ein-Ordner vorsteht. Adrian wird diszipliniert, indem seinem Körper der Raum dafür genommen wird, mit dem Körper des neben ihm sitzenden Kindes zu interagieren. Beate blockiert mit ihrem im Verhältnis zu den Kindern großen Körper die Interaktion zwischen Adrian und einem anderen Kind und definiert diese somit und zusätzlich auch verbal als unerwünscht, als „Quatsch“. Sie begründet den Kindern, warum sie so vorgeht, verweist dabei auf den Rahmen der Situation und bestärkt damit nochmals ihre Definition. Sie schließt ihre Begründung mit einer vergewissernden Nachfrage, „Okay?“, die darauf hindeuten könnte, dass sie einen Raum für die Diskussion über diese Vorgehensweise eröffnen will (oder diese Möglichkeit nur simuliert) und doch unhinterfragte Zustimmung provoziert. Die Beteiligten befinden sich in einem durch das Vollversammlungsritual vorgegebenen Handlungszwang, in den alle sich einordnen müssen. Das verstehen auch die Kinder so, denn eine Antwort der Kinder auf Beates Frage bleibt aus. Die Frage lässt sich somit nicht mit „Ist das in Ordnung?“ sondern vielmehr mit „Habt ihr verstanden, was ich will?“ übersetzen. Die gesamte Handlungsabfolge ist als pädagogisches Ritual innerhalb der Vollversammlung zu interpretieren: Die Fachkraft definiert bestimmtes Verhalten als nicht angemessen, interveniert körperlich, begründet ihre Intervention und schließt mit einer Aushandlungsmöglichkeit simulierenden, real jedoch Zustimmung erheischenden Formel ab. Beide pädagogische Interaktionsrituale der pädagogischen Fachkräfte zeigen Wirkung: Adrian und das andere Kind akzeptieren die Interventionen der Fachkräfte und ordnen sich in die Ritualgemeinschaft ein, indem sie mit den anderen gleichzeitig das Wort „Vollversammlung“ sagen. Beate benennt bei ihrer pädagogischen Intervention das Ritual als „Morgenkreis“. Darin zeigt sich, wie undeutlich die Unterscheidung zwischen Morgenkreis und Vollversammlung für die zuständigen Fachkräfte ist. Die Ähnlichkeit zwischen dem pädagogischen Ritual Morgenkreis und dem vom Anspruch her demokratischen Ritual Vollversammlung führt zu einem Verschwimmen der Grenzen – zumindest für Beate, die nur aushilfsweise in der Kita ist. Die Kinder benennen das Ritual trotzdem korrekt und zeigen damit, dass sie kompetente Teilnehmende sind.
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An dieser Stelle wird deutlich, dass eine für Demokratie notwendige Freiwilligkeit der Teilnahme an der Vollversammlung zugunsten ihrer Ritualisierung suspendiert wird. Die Kinder können sich nicht entscheiden, nicht an ihr teilzunehmen, sondern fügen sich mit Hilfe pädagogischer Rituale in eine erst dadurch inklusive Gemeinschaft ein. Zu dieser Gemeinschaft dazuzugehören bedeutet, sich ihren Regeln unterwerfen zu müssen. Die Kinder akzeptieren diese weitgehend, auch wenn sie durch pädagogische Rituale an die Regeln erinnert werden müssen. Zudem muss eine Vollversammlung zwar eine Gemeinschaft konstituieren, eröffnet aber doch in ihrem Verlauf das Potenzial von Differenz und Konflikt. Zumindest im Auftaktritual wird von den Fachkräften die Vergemeinschaftung wichtiger genommen als die Differenz. Gemeinschaft wird nicht durch Vereinigung in gemeinsamen Regeln des Umgangs mit Konflikten hergestellt, sondern über eine körperlich-stimmliche Vergemeinschaftung. Die nächste Sequenz schließt an diejenige an, die ich weiter oben bereits herangezogen habe: Richards Frage, was auf dem Protokoll steht und meine Antwort, dass es um die Vorteile der Lagerung der Tagebücher in Aminas Büro ging. Richard (PFK):
Ja. Okay? Emilia, leave her pencil alone. (2) So, should we talk about this again? K1: Ja. K3: Ja. K4: Ja. Richard: Yes? You think we ought to talk about this again? Darien (K): Yes. K4: Ja. K5: Yeah. Richard: Okay. What do you wanna say about that? Gemurmel. Niemand meldet sich. (P.16.10.14)
Nach einer kurzen Bekräftigung der Korrektheit meiner Antwort – allerdings mittels eines „Ja“ und nicht eines „exactly“ – und der Frage, ob dies okay sei, übt Richard Ordnungsmacht aus, indem er meine Sitznachbarin Emilia auffordert, meinen Stift in Ruhe zu lassen. Damit wird Emilias Verhalten von ihm als störend definiert, obwohl es nicht ihn selbst betrifft. Richard spricht Emilia an, weil sie aus dem Rahmen fällt, der in sich ruhende und erst nach Aufforderung sprechende Körper benötigt.
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Die anschließende Frage, ob ‚darüber‘ noch einmal gesprochen werden solle, setzt nicht etwa die Diskussion von wichtigen Themen ein, vielmehr scheint eine Revision der Diskussion aus der letzten Vollversammlung angestrebt zu werden. Das ‚darüber‘ könnte sich auf die Vorteile der Lagerung in Aminas Büro beziehen. Es bleibt aber, da er lediglich „about this“ und „about that“ sagt, offen, worauf sich Richards Fragen beziehen. Die Diskussion des Themas „Sollen die Bücher ins Büro von Amina?“ wurde von ihm zuvor abgewehrt, obwohl er danach gefragt hatte, worüber die Kinder beim letzten Mal gesprochen hätten und genau das das Thema der letzten Sitzung gewesen war. Nun hat es den Anschein, als würde das Thema in Richtung auf die Vorteile konkretisiert, die es haben würde, stünden die Bücher in Aminas Büro. Allerdings ist diese Konkretisierung des Themas nicht eindeutig. Richards Nachfrage bezüglich der positiven Antworten der Kinder lässt sich als Überraschung interpretieren: Er hat anscheinend nicht damit gerechnet, dass die Kinder bejahen. Das deutet darauf hin, dass er sich nicht nur selbst nicht zum Demos zugehörig fühlt, sondern dass er darüber hinaus auch keinen Bedarf hat, über das Thema zu sprechen. Die Vollversammlung wird nur für die Kinder und/oder für die Beobachterin aufgeführt. Trotzdem ist in der Art, wie die Frage formuliert ist, seine eigene Beteiligung an der Diskussion vorgesehen: Er fragt nicht, ob die Kinder darüber reden wollen, sondern ob sie finden, dass „wir“, was auch die Erwachsenen/Pädagog*innen einbezieht, darüber reden sollten. In dieser Passage zeigt sich zudem eine Diskrepanz zwischen dem verbalisierten Wunsch der Kinder, über „this“ oder „that“ reden zu wollen, und dessen realer Umsetzung: Sie schweigen auf Richard Frage, was sie dazu sagen wollen, während sie vorher ihr Interesse an einer Diskussion signalisiert haben. Diese Diskrepanz spiegelt möglicherweise wider, dass Richard ihnen wiederholt Gesprächsangebote unterbreitet, die Antworten der Kinder aber disqualifiziert. Richard (PFK): Lana (K): Richard: Beate (PFK): Lana: Beate: Lana:
Guess you just wanted to say “yes”. (An Lana gewendet, die sich jetzt meldet:) Lana. Da trauen sich manche nicht, in Aminas Büro zu gehen. Aha, okay. Could you tell me, why? Kannst duWeil-Richard sagen, warum? -die da nicht rein sollen.
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Richard:
But my question was (.) do you still wanna talk about this ((er deutet wieder auf das Protokoll))? 2 Sekunden Schweigen. (P.16.10.14)
Richard unterstellt den Kindern, dass sie eigentlich nichts zu sagen haben, dass es kein gemeinsames Gesprächsthema gibt. Er äußert die Vermutung, die Kinder wollen ‚einfach nur Ja‘ sagen. Die Kinder werden dadurch wieder als Lernende/ Übende entworfen: Sie üben, ‚Ja‘ zu sagen. Die Kinder benötigen lediglich etwas mehr Zeit, als Richard und ich als Verfasserin des Protokolls ihnen zugestehen, um sich zu melden. Nach einer Weile meldet sich das Kind Lana zu Wort und erklärt eines der Argumente aus der letzten Sitzung, allerdings referiert sie einen Nachteil der Lagerung in Aminas Büro. Sie kann auf Nachfrage von Richard auch die Begründung dazu liefern: Mitunter dürfen die Kinder das Büro nicht betreten und dann sind ihnen ihre Bücher nicht zugänglich. Lana antwortet bereits auf Richard Nachfrage, während Beate noch übersetzt, d. h. sie hat die Frage verstanden. Die Bilingualität scheint somit nicht die Ursache für das hier immer deutlicher werdende Missverstehen zu sein. Richard bedankt sich danach nicht bei Lana und greift auch nicht auf, was sie sagt, sondern wiederholt seine vorangegangene Frage, indem er wieder auf das Protokoll deutet. Ebenso, wie bei seinen Fragen offen bleibt, worauf sich das „this“ und das „that“ genau beziehen, bleibt bei seiner zeigenden Geste offen, worauf sie hinweist: Die Bedeutung der Symbole auf dem Protokoll, das allgemeine Thema der letzten Sitzung (was er jedoch bereits verworfen hat) oder die Vollversammlung als Gesamtsituation. Es wird somit immer offensichtlicher, dass es keinen gemeinsamen Gesprächsgegenstand zwischen Kindern und Moderation gibt. Die Kinder versuchen, nachzuvollziehen, ob Richard ein gemeinsames Thema vorschlägt, Richard spricht ihnen ab, dass dies gelingt. Es findet keine Metakommunikation statt. Die Kinder sind kooperativ und reagieren auf Richards Fragen. Sie weisen ihm die Macht zu, zu entscheiden, ob das Thema ein gemeinsames werden könnte, anstatt selbst eines einzubringen und vehement zu vertreten. Wenn Richard das Thema ablehnt, schweigen sie. Es entsteht ein starker Widerspruch zwischen demokratischer Aufforderung zu einer freien Positionierung und Entscheidung einerseits und der pädagogischen Maßregelung von Beiträgen andererseits.
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Beate (PFK):
Äh. Die Frage: Wollt ihr nochmal über die Vor- und Nachteile sprechen? Elias (K): Ja. K4: Ja. K6: Ja. Richard (PFK): Okay, Elias. Tell us. Beate: Kannst du das einmal erklären? Elias antwortet nichts, sondern grinst nur. Richard: You just say yes but you don’t have anything to say. Elias. (P.16.10.14)
Beate interveniert und deutet damit das Missverstehen als ein Sprachproblem. Gleichzeitig übersetzt und konkretisiert sie die vage Frage von Richard. Als gemeinsamen Gegenstand schlägt sie die Fortsetzung der Diskussion der letzten Sitzung vor, allerdings dieses Mal nur bezogen auf die Kinder: Sie sagt „ihr“ und nicht „wir“. Richard reagiert nicht auf diese Konkretisierung, d. h. er widerspricht Beate nicht, obwohl er Lanas Äußerung zu genau diesem Thema vorher disqualifiziert hatte. Eines der Kinder, Elias, wird aus der Gruppe der Zustimmenden herausgegriffen und aufgefordert, seine Antwort zu explizieren. Der Ton, den Richard dafür anschlägt, ist knapp und erinnert an einen Befehl. Beates Übersetzung von Richards Aussage schwächt deren Aufforderungscharakter zwar etwas ab, denn sie macht eine Frage daraus. Allerdings ist diese den vorangegangenen Sequenzen nicht angemessen: Elias hat lediglich bejaht, dass die Gemeinschaft über die Vorund Nachteile sprechen soll und wird nun als Individuum gefragt, selbst etwas zu erklären. Mit dem „das“, was erklärt werden soll, kann darüber hinaus gemeint sein, dass sich Elias für sein Verhalten rechtfertigen soll. Elias‘ von mir ad hoc als „Grinsen“ interpretiertes Lächeln zusammen mit seinem Schweigen könnte zum einen darauf hin deuten, dass er mit Richard spielt: Ähnlich wie Richard, der vorgibt, etwas wissen zu wollen, und dann die Antwortversuche der Kinder disqualifiziert, behauptet er gemeinsam mit anderen Kindern, über etwas sprechen zu wollen, und sagt dann nichts. Ebenso kann das Schweigen und Grinsen als Verlegenheit gedeutet werden. Er wird aus der Gruppe ausgesondert und mit seinem Namen angesprochen, d. h. er wird bloßgestellt. Für die anderen Kinder wird deutlich, dass sie jederzeit ebenfalls mit Namen aufgerufen werden könnten und sich gut überlegen sollten, was sie im vermeintlichen Schutz der Gruppe äußern. Dieses pädagogische Interaktionsritual der Bloßstellung benötigt Öffentlichkeit, um wirkungsvoll zu sein. Seine
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Operationalität liegt darin, eine ganze Gruppe zum Schweigen zu bringen und die Hierarchie zwischen einer Person (Richard als Pädagoge) und einer Gruppe (ja-sagende Kinder) zu bestätigen. Elias wird nicht nur vor allen gefragt, was er zu sagen habe, sondern darüber hinaus, stellvertretend für alle Kinder, die ja gesagt haben und nun nichts beitragen, mit dem Hinweis gemaßregelt, er habe gar nichts zu sagen. Richard (PFK):
Nemo (K): Richard: Niemand meldet sich. Nemo:
Okay, kids. Everybody who wants to say anything about it, raise up this hand, please. Who would like to talk about it, raise up your hand. Wer will darüber reden. Der hebt die Hand. Exactly, Nemo. Das ist ja wie in ‘ner Pressekonferenz. (P.16.10.14)
Nach dem Maßregeln erfolgt ein weiterer Anlauf, eine Diskussion in Gang zu bringen. Nun sollen sich alle melden, die „about it“/‚darüber‘ sprechen wollen, wobei erneut unklar bleibt, worauf sich das ‚darüber‘ bezieht. Richard wiederholt die Aufforderung einmal, danach wird sie auch noch vom Kind Nemo auf Deutsch übersetzt und die Korrektheit der Übersetzung von Richard mit einem rituellen „exactly“ bestätigt. Keines der Kinder meldet sich, was darauf hindeutet, dass das pädagogische Interaktionsritual der Bloßstellung Wirkung zeigt: Die Kinder wissen jetzt, dass sie genau wie Elias zuvor, dazu aufgefordert werden könnten, sich zu erklären, wenn sie zugeben, ‚darüber‘ sprechen zu wollen. Nemos Kommentar auf das Schweigen enttarnt den Aufführungscharakter der Vollversammlung endgültig: Das Makroritual Vollversammlung wurde transformiert in das Ritual Pressekonferenz. Wie in einer Pressekonferenz müssen sich die Teilnehmenden melden, um anzuzeigen, dass sie eine Frage haben. Wie in einer Pressekonferenz wird auch in dieser Vollversammlung nicht demokratisch diskutiert, sondern es werden Fragen gestellt und Antworten gegeben. Die Fragen müssen sich auf das vorab festgelegte Thema richten, das in diesem Fall recht vage ist. Ebenso wie in einer Pressekonferenz wird um das Eigentliche herum laviert. Zudem hat die Vollversammlung, ebenso wie eine Pressekonferenz, den Charakter einer Prüfung. Allerdings sind die Verhältnisse umgekehrt: Normalerweise wird die zentrale Person auf dem Podium geprüft, die Menge der Journalist*innen stellt die Fragen.
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Hier aber werden die Zuschauer*innen geprüft und die Person am Flipchart stellt die Fragen. Dass die Wortbeiträge und Fragen zwischen englisch und deutsch übersetzt werden, ohne dass dies für die Verständigung notwendig wäre, betont den pädagogischen Inszenierungscharakter der Versammlung noch. Richard (PFK): Yup. So nobody else wants to talk about it, right? Lucy (K): Doch. Richard: What Lucy? Lucy: IchLucy bricht ab. Dann murmelt sie etwas. Dann folgen 2 Sekunden Schweigen. Beate (PFK): Was möchtest du gern dazu sagen, Lucy? Lucy schweigt weiter. Richard: It makes me really feel sad. You know I am standing here and try to talk with you about this and you don’t wanna talk about it but you say yes. And you try to make fun out of it. This is nothing about fun. This is your portfolio. Your diary. (P.16.10.14)
Schließlich stellt Richard fest, dass niemand mehr ‚darüber‘ („about it“) reden will, lässt jedoch durch eine kurze Frage am Ende offen, dagegen Widerspruch einzulegen. Lucy nutzt diese Chance und widerspricht mit einem klaren „doch“. In einem harschen Ton fragt Richard „was?“. Der Ton legt den Schluss nahe, dass er nicht erwartet, dass Lucy wirklich etwas zu sagen haben könnte. Lucy bricht ihren Redebeitrag wirklich ab, als ihre Individualität durch das Melde- und Anrufungsritual, welche durch das Aussprechen des Personalpronomens „Ich“ noch verstärkt wird, performativ hergestellt wird. Warum Lucy das tut, wird nicht ganz klar. Das Murmeln legt den Schluss nahe, dass sie sich nicht traut, laut weiterzusprechen. Dies wird auch von Beate so aufgefasst, die Lucy zum Reden ermutigt und Richards harschen Ton dadurch abschwächt. Jedoch nutzt auch die freundlichere Nachfrage von Beate nichts, Lucy schweigt weiter. Dieses Schweigen kann als Resultat der Verkettung pädagogischer Interaktionsrituale verstanden werden, die es Lucy verunmöglichen, einen Diskussionsbeitrag zu leisten. Diese Rituale kreieren insgesamt eine hohe Erwartung, das ‚Richtige‘ zu sagen – was sich bislang als unmöglich gezeigt hat. Richard führt Emotionalität auf: ‚Das macht mich wirklich traurig.‘ Mittels des nachdrücklichen Verweises auf die Traurigkeit, die das Verhalten der
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Kinder hervorruft, sollen diese zum Aufgeben des unerwünschten Verhaltens animiert werden. Richard positioniert sich als fühlender Mensch in Beziehung zu anderen Menschen, nämlich den Kindern. Er sagt nicht, dass er wütend ist, sondern er inszeniert sich als das Opfer, das sich mit der Vollversammlung und der Etablierung einer Diskussion viel Mühe macht und über das sich die Kinder lustig machen: ‚Wisst ihr, ich stehe hier und versuche mit euch darüber zu reden und ihr wollt gar nicht darüber reden, sagt aber ja. Und ihr versucht, euch darüber lustig zu machen.‘ Das Verhalten, dass die Traurigkeit auslöst ist also, Richard/ die Vollversammlung/die Tagebücher nicht ernst zu nehmen. Die Vollversammlung und das Thema Tagebücher wird von ihm als etwas entworfen, das ernst ist: ‚Es geht aber nicht um Spaß. Das ist dein Portfolio, dein Tagebuch‘. Dabei springt er von der Anrede im Plural zu einer Anrede in der zweiten Person Singular. Diese ‚Predigt‘ richtet sich an jedes einzelne Kind, nicht an die Gemeinschaft. Jedes einzelne Kind hat diese Emotion zu verantworten. Gleichzeitig distanziert sich Richard damit von den Ordnern; sie betreffen ihn selbst nicht. Die Aussage, dass die Kinder das Thema nicht ernst nähmen, steht dabei in einem Widerspruch zu dem tatsächlichen Verlauf der Vollversammlung, denn immerhin haben Lana und Lucy bereits sinnvolle Äußerungen getätigt. Beide haben einen Versuch gewagt, eine Diskussion zu führen. Auch haben sehr viele Kinder zu verstehen gegeben, dass sie an einer Diskussion interessiert wären. Zudem ergab sich in der Sitzung in der Woche zuvor eine lebhafte Diskussion über die Vor- und Nachteile der Portfolio-Lagerung (P.09.10.14). Trotzdem eskaliert die Situation. Aus meiner Sicht liegt das nicht daran, dass die Kinder das Thema nicht ernst nehmen, sondern daran, wie die Vollversammlung durchgeführt wird. Insgesamt präsentiert sich Richard den Kindern als fühlender Mensch in Beziehung, der von dem Verhalten der Kinder emotional betroffen ist. Er ist nicht mehr nur der Ritualleiter, er ist auch ein Individuum, das durch die Kinder verletzt werden kann. Zuvor waren die Kinder die Adressat*innen seiner Befehle und somit eher Objekte, nun sind sie zu Täter*innen geworden, und er selbst zum Objekt, das den Kindern ausgeliefert ist. Diese Deutung der Situation steht im Widerspruch zu der Beobachtung, dass die Kinder vorher versucht haben, sowohl seinen widersprüchlichen Aufforderungen Folge zu leisten, als auch als vernünftige Subjekte einer demokratischen Debatte zu agieren. Richard stellt das anders dar: Ausgerechnet im Verhalten der Kinder soll nun die Ursache für das Scheitern des Demokratischen liegen. Er bleibt nicht auf der sachlichen Ebene und stellt einfach fest, dass die VV nicht funktioniert, sondern er wechselt auf die Beziehungsebene und urteilt moralisch über die Kinder. Die Prozeduren, die
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eigentlich dazu führen sollen, dass demokratische Macht entsteht, werden durch Richard disqualifiziert; er übt selbst Beziehungsmacht aus, indem er den Kindern unterstellt, dass diese genau das täten, wodurch insgesamt die Forderung entsteht: Ihr müsst mir folgen, weil ihr mich sonst traurig macht. Damit sichert er seine Macht durch eine doppelte Bewegung: Er spricht den Kindern ab, dass sie korrekte Beiträge liefern und sichert sich damit Definitionsmacht und er weist ihnen die Schuld zu, ihn traurig zu machen. Er rahmt die Portfolios als für die Kinder wichtige, bedeutungsvolle Gegenstände. Die Affektaufführung von Richard ist als eine pädagogische Intervention zu bewerten, die das drohende Scheitern des Rituals verhindern soll. Nemo (K): Richard (PFK): Nemo:
Ich hätte ‘ne Frage. Yes, Nemo. Was bedeutet denn das mit dem Minus davoFragezeichen, Stopp-Zeichen? Richard: This one here? Nemo ((nickt)) Hmh. Richard: That means, that- This here is Amina, and there are moments where Amina is sitting in her office and sometimes she is on the phone and it has to be very quiet in her office and that’s why she really sometimes says: “Stop, please wait until I am finished with my phone. My phonecall.” You understand? Nemo: Ja. K2: Ja. Nemo: Nur, aber ((….)) was dies Zeichen bedeutet. Richard: This one here? (Er deutet auf eine andere Zeichnung) Nemo: Hmh. (Er nickt.) Richard: It’s that what Lana said. Nemo: Hmh, also manche trauen sich nicht, in Aminas Büro zu gehen. Richard: Exactly. Nemo: Das da über? Richard: This one here? Nemo: Hmh. (Er nickt wieder.) Richard: Does somebody know that? What it means? Do you remember? Richard wendet sich wieder an mich. Ich nicke. Richard: Okay.
194 Ich: Richard:
5 Darstellung der Forschungsergebnisse Äh. Das ist, dass das Büro so weit weg ist, dass man vergisst, dass da die Portfolios drin stehen. Exactly. As soon as you said it, I remembered. Right. (P.16.10.14)
Nemo reagiert auf Richards Affektaufführung, indem er sagt, er habe eine Frage. Er tut dies eher zurückhaltend und im Konjunktiv, es handelt sich also um ein Gesprächsangebot, dass er Richard macht. Richard reagiert darauf freundlich, trotz der dramatischen Aufführung zuvor. Nemo und Richard haben in diesem Moment die Basis der Verständigung wieder hergestellt. Unklar ist, ob Nemo die Symbolbedeutung, nach der er fragt, tatsächlich nicht weiß, oder ob er – etwa aus Mitleid mit Richard – lediglich mitspielt: Seine erste Frage ist eine Suchbewegung auf dem Protokoll. Er weiß selbst nicht so genau, nach welcher Symbolbedeutung er fragen soll, und geht daher verschiedene Zeichnungen durch: die mit dem Minuszeichen davor, die Zeichnung mit dem Fragezeichen und die mit dem Stoppzeichen. Richard schlägt ihm eine der genannten vor, Nemo bestätigt und Richard erklärt ihm die Bedeutung der Zeichnung. Sofort fragt Nemo nach der nächsten. Dies wiederholt sich zweimal. Nemo hat damit die Frage-Antwort-Richtung umgekehrt: Nun stellt er als Kind die Fragen und Richard als Pädagoge muss antworten. Bei der insgesamt dritten Frage weiß Richard die Bedeutung selbst nicht und fragt zunächst das Plenum und dann direkt mich, da ich über ein Notizbuch verfüge. Ich helfe, indem ich antworte, und er stellt sofort klar, dass er sich nun auch erinnern könne. Durch die Umkehrung der Fragerichtung wird an dieser Stelle deutlich, dass sich nicht nur die Kinder nicht unbedingt anhand des Protokolls an die Diskussion erinnern können, sondern auch die erwachsenen Pädagog*innen. Kinder und Fachkräfte üben deshalb gemeinsam, dass und wie Inhalte durch Zeichnungen repräsentiert werden können. Das Protokoll zu lesen, fällt weder den Kindern noch den Erwachsenen leicht. Mit seiner Frage-Antwort-Inszenierung rekonstituiert Nemo die Volkssouveränität und verweist auf eine vorangegangene Diskussion, deren Verlauf verdichtet und verdinglicht wurde. Der Volkswille, die Debatte und das Ergebnis sind hier dokumentiert, wenn sie auch erneut ausgedeutet und hinterfragt werden dürfen. Geltungsansprüche der demokratischen Gemeinschaft dürfen einer erneuten Prüfung unterzogen werden. Dass Nemo nicht als „Nicht-Verstehender“, sondern als nicht Einverstandener fragt, zeigt sich in seiner Hinterfragung des Arguments zum Erinnerungsproblem. Sich allerdings als „Nicht-Verstehender“ darzustellen, eröffnet dem pädagogischen Gegenüber, in seiner Rolle zu bleiben,
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nämlich ein Verstehen zu organisieren. Nemo geht in die Rolle des „Narren“, der scheinbar ahnungslos nachfragt und damit vordergründig die pädagogischen und generationellen Machtverhältnisse und Rollen bestätigt, unterschwellig jedoch eine vernünftige demokratische Reflexion und Debatte von Gleichen wieder herzustellen sucht. Nemo (K): Richard (PFK):
Ich hab nicht richtig verstanden. That the office is so far away and you totally forget where your diary is. Lana. Nemo: Also, ich würd das nicht vergessen. Lana (K): Das vergessen die Kinder, wo die Mappen sind. Richard: Exactly. (2 Sekunden Schweigen.) So. Mia, Lucy! Mia (K) und Lucy (K), zwischen denen ich sitze, kabbeln sich. (P.16.10.14)
Nemos Unverständnis bezieht sich entweder auf den Sinngehalt oder auf die Akustik. Bezüglich des Sinngehalts könnte seine Aussage bedeuten, dass er meine Ausdrucksweise oder das Argument an sich nicht verstehen kann, bzw. so tut als ob (s. o.). Richard erklärt noch einmal und zwar auf Englisch, was das Symbol bedeutet und interpretiert damit das Nicht-Verstehen als Verständnisproblem und nicht als Widerspruch gegen das Argument. Sofort danach ruft er Lana auf, die sich gemeldet hat. Nemo macht daraufhin deutlich, dass er das Argument nicht zutreffend findet und begründet das mit seinem eigenen Erinnerungsvermögen. Gleichzeitig aber wiederholt Lana das Argument noch einmal, ebenfalls als Antwort auf das von Nemo geäußerte Verständnisproblem. Richard quittiert beides gleichzeitig mit einem „exactly“, einer pädagogischen Bestätigung des vorher Gesagten. Da sowohl das Argument als auch das Gegenargument von Richard rituell bestätigt werden, wird der durch den Widerspruch potenziell entstehende Konflikt befriedet, bevor er sich entfalten kann. Danach erfolgt kein weiterer Widerspruch mehr. Stattdessen werden Mia und Lucy in einem weiteren pädagogischen Ritual von Richard zur Ordnung gerufen. Damit wird die pädagogische Ordnung, die für einen Moment das Potenzial hatte, zu einer graduell demokratischeren Ordnung des Austausches und der Prüfung von Argumenten zu werden, aktiv wieder hergestellt. Daraus folgt: Die Kinder dürfen oder können ohne die Erwachsenen bzw. entgegen den pädagogischen Ritualen keine demokratische Ordnung etablieren.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Ich: Setzt euch wieder hin. Beate (PFK): Lucy. Bitte zuhören. Mia, bitte auch zuhören. Richard (PFK): No, Mia. You know what? You will sit over here. Mia (K) setzt sich auf den Platz, den Richard ihr zuweist. Richard: Okay. So we are finished with this here then? Yeah? Do you have any other themes? (.) Alex. Do you have any other themes you wanna talk about? 6 Sekunden Schweigen. (P.16.10.14)
Alle drei Erwachsenen im Raum konzentrieren sich auf die Kinder Mia und Lucy, die sich miteinander beschäftigen, und sagen ihnen, was sie tun bzw. was sie unterlassen sollen. Ich sage ihnen, dass sie sich setzen sollen, Beate fordert sie einzeln unter Anrufung ihrer Namen auf, zuzuhören, wobei unklar bleibt, wem oder wobei sie zuhören sollen. Richard weist Mia sogar einen bestimmten Platz zu und entzieht ihr somit das Recht, selbst darüber zu bestimmen, wo und neben wem sie sitzen will. Die Erwachsenen treten als „Polizei“ (Rancière 2002) auf, indem sie die Ordnung, die eine Hierarchie zwischen Kindern und Pädagog*innen vorsieht, vertreten und aufrecht erhalten. Es wird dabei von den Erwachsenen vorausgesetzt, dass es notwendig ist, dass alle ordentlich sitzen und sich nicht mit anderen Dingen beschäftigen, ohne dass dies zum Gegenstand von Verhandlungen wird. Lucy und Mia leisten Folge und begehren nicht auf, damit erkennen sie diese Ordnung, zu der sie gerufen werden, an. Als die Ordnung in einem doppelten Sinne wiederhergestellt ist (1. Erwachsene sagen Kindern, was sie tun sollen, Kinder leisten Folge, und 2. die Sitzordnung), leitet Richard das Ende des Themas und damit das Ende der Vollversammlung ein. Fast ungeduldig fragt er: „Sind wir damit jetzt durch?“ Das kann sich einerseits auf die Vollversammlung beziehen, andererseits aber auch auf die Wiederherstellung von Ordnung. Dementsprechend bleiben seine Fragen danach, ob noch jemand ein Thema habe, unbeantwortet. Richard hat im Laufe der Versammlung mehrfach festgestellt, dass die Kinder nichts zu sagen haben und somit und durch pädagogische Interaktionsrituale performativ hergestellt, dass sie in einem übertragenen Sinne nichts zu sagen, also nicht zu bestimmen haben. Zudem spricht er eines der Kinder mit seinem Namen an, nämlich den Zwillingsbruder von Elias, und macht damit deutlich, dass er ein Auge auf jedes einzelne Kind hat. Keines der Kinder kann sich seinem pädagogisch-wachsamen Blick entziehen, nichts passiert, was Richard nicht bemerkt. Hierbei handelt es sich um eine Technik des Überwachens, wie Foucault (2000/1976)
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sie beschreibt. Denn die demokratische Sitzordnung, die eine Egalität zwischen den Diskussionsteilnehmer*innen ausdrückt, ermöglicht, dass alle jederzeit von allen gesehen werden können. Das Aufrufen eines der Kinder erinnert alle anderen an diesen Fakt. Auch dadurch wird Selbstdisziplin inkorporiert, die dafür sorgt, dass jedes einzelne Kind selbst darauf achtet, dass es ‚ordentlich‘ sitzt. Richard (PFK):
You can come any time to Beate or me or any other teacher to put something into the folder. And Nemo: Put up your pants. Thank you. So I’ll carry this ((er deutet auf das Flipchart)) away and you go ahead. (2) So, bye. Beate (PFK): @Richard@ Nemo (K): ((Zieht seine Hose hoch.)) Tschüss, Richard. Richard: Bye. Chor: Tschüss, Richard. Richard: Bye. Byebye. Ciao. Chor: Tschüss, Richard. Richard trägt das Flipchart aus dem Raum und überlässt Beate die Moderation der Vollversammlung. Ich schalte das Gerät aus. (P.16.10.14)
Zum Abschluss der Vollversammlung verweist Richard noch auf den Vorschlagsumschlag (er benennt ihn als „Folder“/‚Ordner‘), den die Kinder jederzeit durch ihn oder eine*n anderen Erwachsene*n benutzen könnten. Richard hat den Umschlag nicht dabei und auch nicht hineingeguckt. Dies ist außerdem das erste Mal im Verlauf der Versammlung, dass er ihn erwähnt. Wieder sendet Richard zwei ambivalente Botschaften. Während er signalisiert, dass es nichts zu besprechen gibt, macht er das Angebot, dass jederzeit Themen für die Vollversammlungen angenommen würden. Was danach mit den Vorschlägen passiert, ist unklar. Außerdem weist Richard en passant das Kind Nemo darauf hin, dass es seine Hose hochziehen soll: Dies ist die letzte pädagogische Intervention innerhalb der VV, die ebenfalls bloßstellend ist und Nemo und alle anderen an der Vollversammlung teilnehmenden Personen über die gesellschaftlich akzeptierten Normen ordentlicher Bekleidung informiert. Dadurch, dass Richard dieses Interaktionsritual genau an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt, nämlich vor der Öffentlichkeit macht, aktualisiert er die pädagogische Ordnung, die ihm erlaubt, Kindern vorzuschreiben, wie sie sich zu kleiden haben. Zu anderen Zeiten im selben Raum dürfen sich die Kinder entkleiden, ohne dass
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
dies gerügt oder kommentiert wird. Es ist also die Situation, das Ritual Vollversammlung, die korrekte Bekleidung erfordert. Nemo akzeptiert auch diese pädagogische Intervention unhinterfragt. Der ‚kluge Narr‘ und Demokrat Nemo wird als unwürdig Gekleideter abqualifiziert. Er wird zu einem „sans culotte“, einem Hosenlosen (nahezu) degradiert. Das impliziert: Wer sich nicht mal seiner Kleidung bemächtigen kann, darf auch nicht Macht im Ritual der demokratischen Vollversammlung beanspruchen. Richard stellt die pädagogischen Macht- und Generationenverhältnisse wieder her, die Nemo für einen Moment egalitär-demokratisch gewendet hatte. Dann bedankt sich Richard formell und trägt das Flipchart hinaus, genau wie es Tina sonst auch tut. Richard greift hier also auf den etablierten Übergang zwischen Vollversammlung und Morgenkreis zurück, wandelt diesen dynamisch ab, indem er sich mehrfach von den Kindern verabschiedet. Die Verabschiedung dauert eine Weile, immer wieder rufen Kinder ihm nach und er antwortet auf verschiedenen Sprachen. Der Morgenkreis schließt unmittelbar an, mit gleicher Besetzung (Richard kehrt, nachdem er das Flipchart herausgetragen hat, wieder zurück) und gleicher Sitzordnung, aber anderer Moderation: Beate übernimmt diese. Sich-Bedanken, Flipchart-aus-demRaum-Tragen und das Sich-Setzen der Moderation markieren, dass die Vollversammlung beendet ist. Das Makro-Ritual Vollversammlung misslingt bzw. ist improvisiert, weil einerseits bestimmte Bestandteile fehlen: Zur „richtigen“ Vollversammlung gehören die entsprechende Vorbereitung, ein ganz bestimmter Ablauf und die notwendigen Artefakte. Ganz zentral gehört eine Diskussion mit offenem Ausgang dazu. Diese wird in der hier vorliegenden Beobachtung der Szene von den Kindern eingefordert, aber von den Erwachsenen nicht eingelöst. Andererseits ist die Interaktion durchzogen von pädagogischen Ritualen, die eine Hierarchie zwischen Pädagog*innen und Kindern einführt bzw. aktualisiert. Die Kinder leisten gegen diese pädagogischen Interaktionsrituale keinen organisierten Widerstand, sondern fügen sich letztlich den Anweisungen der Fachkräfte. Mit Rancière gesprochen: Die Kinder machen durchaus Lärm, aber sie fordern keinen neuen Platz in der geordneten Gemeinschaft ein, sie beweisen dem Herrschenden nicht ihre Intelligenz. Zwar geht aus dem Protokoll hervor, dass insbesondere Nemo zu verstehen scheint, was gespielt wird, aber auch er zeigt sich äußerst kooperativ mit Richard. Auch die rituelle und alle Kinder inkludierende Gemeinschaft entsteht von Anfang an nicht selbstläufig, sondern wird mit Hilfe von pädagogischen Interaktionsritualen hergestellt. Die Freiwilligkeit der Teilnahme an der Vollversammlung wird zugunsten ihrer Ritualisierung
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disqualifiziert. Die demokratische Berechtigung der Kinder zur Mit-Sprache als Gleiche wird ausgehebelt. Dadurch wird das Ritual insgesamt von einer Vollversammlung in eine „Pressekonferenz“ transformiert, d. h. sein Frage-Antwort-Spiel wird für Kinder und Beobachterin nur ‚aufgeführt‘. Der Kommentar von Nemo macht deutlich, dass aus der Vollversammlung ein anderes Ritual geworden ist, das nicht demokratisch ist, sondern nur die einseitige pädagogische Machtverteilung demonstriert. Eine Geltungsansprüche hinterfragende Befragung ist nicht erlaubt. In Bezug auf Bilingualität zeigt das Protokoll, dass die Verständigungsprobleme nicht durch eine Übersetzung in die Mehrheitssprache Deutsch zu beheben sind, also folglich nicht daher rühren, dass Richard Englisch spricht und die meisten Kinder Deutsch. Gerade an der Stelle, an der Lana ansetzt, Richards Frage zu beantworten und Beate ihr ins Wort fällt um die Frage auf Deutsch zu übersetzen, wird deutlich, dass die Einschätzung der Fähigkeiten der Kinder durch die Erwachsenen z. T. stark an der tatsächlichen Kompetenz der Kinder vorbei gehen. Lana versteht mehr, als Beate ihr zuzutrauen scheint. Die ritualisierte Form der Vollversammlung zu wahren, ohne einen Gesprächsanlass zu haben, also eine Vollversammlung zu simulieren, bringt somit keine Demokratie, sondern schreibt eine Struktur fort, durch die die Demokratiepraxis der Beteiligung der Kinder an den sie betreffenden Themen konterkariert wird. Die Überformung des Demokratischen durch das Pädagogische führt – trotz Widerstands- bzw. Restaurierungsversuchen der Kinder – zu einer Negation des Demokratischen.
5.1.3 Wie Morgenkreis und Vollversammlung ritualisiert werden Das Ritual Morgenkreis/Vollversammlung wird mittels verschiedener Strategien ritualisiert. Da ist zum einen die Nutzung von speziellen Artefakten, die sonst in der Kindertageseinrichtung nicht für die pädagogische Arbeit mit Kindern gebraucht werden: Das Flipchart mit dem laminierten Symbol für die Vollversammlung sowie die Bildertafel als zentrales Element des Morgenkreises. Eine Traditionalisierung der Praktik wird über die Protokollführung erreicht. Das Erinnern an vergangene Diskussionen und Entscheidungen stellt die jeweilige Sitzung in einen Bezug zu vorangegangenen Sitzungen. Dadurch wird verschleiert, dass jede Woche von den pädagogischen Fachkräften neu entschieden wird, ob am Donnerstag eine Vollversammlung stattfindet oder nicht. Auch über die Bezeichnung als „Vollversammlung“ knüpft die Praktik in der Kita
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
an eine Tradition der Mitbestimmung durch sämtliche Mitglieder eines Vereins oder einer Institution an. Das Ritual ist teilweise formalisiert: Bestimmte Signale weisen auf den Beginn und das Ende hin. Die moderierende pädagogische Fachkraft spricht eine formelle Begrüßung und einige Abschiedsworte. Auch die Umgangsformen sind im Gegensatz zu Alltagspraktiken formeller: Es soll immer nur eine Person sprechen, die anderen hören zu. Durch die Bezeichnung als Vollversammlung wird das Ritual implizit als das demokratische Gremium der Institution gekennzeichnet. Die relative Geordnetheit der Zusammenkunft erzeugt eine sakrale Stimmung: Die leere Mitte in der Sitzordnung soll mit demokratischen Diskussionen oder Abstimmungsmaterial gefüllt werden – und wird von Spielzeug freigehalten. Zentrale Strategie zur Ritualisierung ist die Repetitivität: Das Ritual findet als Morgenkreis an vier bis fünf Tagen der Woche statt, als Vollversammlung vom Anspruch her „donnerstags immer“, in der Praxis an den meisten Donnerstagen. Als Morgenkreis wird es aus einer fest umrissenen Menge verschiedener Aktivitäten, die in einer je verschiedenen Reihenfolge durchgeführt werden, zusammengesetzt. Es gibt Bestandteile, die immer durchgeführt werden, wie die Vorbereitung der Angebotszeit und das Zählen der anwesenden Kinder, und solche, die je nach Dauer der fest eingeplanten Aktivitäten ergänzend durchgeführt werden, wie Lieder, Spiele oder Erzählrunden. Vor allem die Interaktionen innerhalb des Rituals sind stark reglementiert, wodurch es sich von den Alltagspraktiken unterscheidet. Die Fachkräfte erklären, fragen und bestimmen, die Kinder leisten Folge. Sie reden, wenn sie dazu aufgerufen werden, und zwar nur mit der moderierenden pädagogischen Fachkraft. Interaktionen zwischen einzelnen Kindern werden immer wieder als unerwünscht markiert – dies ist der eklatanteste Unterschied zum Alltag. Das Ritual Vollversammlung ist einerseits als eine relativ schlichte Performance zu werten. Der körperliche Ausdruck ist zurückgenommen. Es wird eine sitzende, disziplinierte Haltung eingenommen und auf disziplinierte Weise gesprochen. Andererseits wird dieser reduzierte körperliche Ausdruck manchmal systematisch unterbrochen von Spielen oder Gesängen, in denen es laut zugeht oder viel Bewegung stattfindet. Das Ritual ist daher eine Performance, die ruhige Phasen und körperlich-expressive Phasen auf eine nützliche Weise aufeinander folgen lässt.
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5.1.4 Zwischenfazit: Einführung der Vollversammlung Anhand des Umgangs mit Protokollführung und Tagesordnung wird deutlich, dass es zwischen Tina und den Kindern einen Prozess der gemeinsamen Weiterentwicklung der Vollversammlung gibt. Nach und nach wird der Morgenkreis mit Elementen von demokratischen Gremien angereichert. Zunächst wird durch Flipchart und Symbol gekennzeichnet, dass überhaupt eine Vollversammlung stattfindet, dann wird eine öffentlich sichtbare Protokollführung ergänzt und schließlich eine vorbereitete Tagesordnung eingebracht. Nach einem halben Jahr gelingt es auch, die Tagesordnung abzuarbeiten und trotzdem die tagesaktuellen Themen der Kinder aufzugreifen. Die Artefakte Flipchart und das laminierte Symbol dienen ebenso der Herstellung des rituellen Raumes wie die Sitzordnung. Die rituelle Sammlung wird durch ein gemeinsames Lied vollzogen und beendet. Die Vollversammlung wird also durch Redundanz als eine solche markiert: Gong, Flipchart, Begrüßungsformel und pädagogische Interaktionsrituale werden genutzt, um das Ritual als Vollversammlung zu klassifizieren. Dies ist insbesondere für die Abgrenzung zum Morgenkreis notwendig. Meine Auseinandersetzung mit dem Prozess der Einführung einer Vollversammlung zeigt, dass das demokratische Potential der Vollversammlung durch pädagogische Ritualisierungen gleichzeitig hergestellt und verstellt wird. Diese pädagogischen Ritualisierungen sind ‚geerbt‘: Sie werden aus dem Morgenkreis importiert, der in der Kita gut etabliert ist. Ein Problem bei der Einführung der Vollversammlung als Element des Morgenkreises ist, dass die bekannten, gut etablierten Verfahren des Morgenkreises fortgesetzt werden – mitsamt aller Praktiken, die die etablierte pädagogische Ordnung zwischen erwachsenen pädagogischen Fachkräften und Kindern aufrechterhalten. Die Vollversammlung ist deshalb von zahlreichen pädagogischen Interaktionsritualen durchzogen, die an Schule erinnern. Unterrichtsgespräche werden geführt, die manchmal den Charakter von Prüfungen erhalten. Die Zuteilung des Rederechts erfolgt durch eine pädagogische Fachkraft mit Hilfe der Melderegel; es werden hin und wieder aber auch Kinder aufgerufen, die sich nicht freiwillig gemeldet haben. Die Inszenierung eines Wissensgefälles entlang der Differenzkategorienunterscheidung Kinder versus Erwachsene verfestigt die Rollen, die die jeweiligen Gruppen einnehmen und voneinander erwarten dürfen. Anhand der von Richard durchgeführten Vollversammlung wird das besonders deutlich. Richard inszeniert das Gefälle besonders stark, indem er mehrdeutige Fragen stellt, die schwer zu beantworten sind. Immer, wenn die Kinder eine Antwort geben, evaluiert er diese
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
als falsch. Der Morgenkreis wird nur formal als Vollversammlung durchgeführt. Jegliche Versuche der Kinder, die Aufführung in eine reale Vollversammlung zu verwandeln, scheitern. Dass die Vollversammlung derart ritualisiert durchgeführt wird, führt dazu, dass die pädagogischen Fachkräfte immer wieder die Einhaltung der Formalia einfordern. Sie rufen zur Ordnung, ermahnen, loben und sanktionieren – immer wieder mit dem Verweis auf den rituellen Rahmen des Morgenkreises oder der Vollversammlung. Wie dadurch eine generationale Ordnung, die in der Kita die Form einer pädagogischen Ordnung hat, aufrechterhalten wird, zeige ich in Abschnitt 5.3.1. Die Kinder zeigen in den Beobachtungen immer wieder, wie kompetent sie an den Praktiken teilnehmen können. Auch die Zweisprachigkeit im Morgenkreis stellt für sie kein Problem dar. Gelegentlich wollen sie demokratische Diskussionen beginnen, wie etwa, wenn Nemo einem von Richard wiederholten Argument widerspricht (vgl. Abschnitt 5.1.2). In diesen Momenten zeigt sich das demokratische Potential der Versammlung: Sie bildet einen Raum, in welchem prinzipiell Platz für demokratische Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse sein könnte. Allerdings wird dies nicht systematisch von den pädagogischen Fachkräften aufgegriffen, die mehr damit beschäftigt sind, ein Ritual mit dem Namen Vollversammlung abzuhalten, als einen demokratischen Diskurs zu eröffnen. Die Kinder machen mit, was die Erwachsenen vorgeben. Dementsprechend ist ihre Rolle in Morgenkreis und Vollversammlung immer die von Helfer*innen, Assistent*innen, Lernenden, Prüflingen. Hin und wieder scheint zwar ihr demokratisches oder widerständiges Potential durch, aber alles in allem arbeiten die Kinder mit den Erwachsenen zusammen. Vor allem, wenn die Erwachsenen Affekte aufführen, sich durch die Handlungen der Kinder emotional betroffen zeigen, werden die Kinder kooperativ, wie das Beispiel mit Richard zeigt. Die Kinder selbst sind also kompetent, vor allem aber kooperativ. Unter dem Stichwort der „generationalen Ordnung“ (Alanen 1992, zit. n. Alanen 2005, S. 79) befassen sich die Kindheitssoziologie und Kindheitsforschung mit den Verhältnissen von Kindern und Erwachsenen. Unter generationaler Ordnung „sollen […] die gesellschaftlich geordneten Erwachsenen-Kind-Beziehungen verstanden werden, als ein komplementäres Arrangement zweier generationaler Kategorien (Erwachsene und Kinder), denen je andere Bedeutungen, Rechte und Pflichten gesellschaftlich zugewiesen sind“ (Bühler-Niederberger 2010, S. 36). Die Unterscheidung zwischen Kindern
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und Erwachsenen wird also nicht als naturgegeben angesehen, sondern als ein Produkt von sozialen Praktiken und Strukturen. Insgesamt geht es damit um eine „relationale Konzeptualisierung von Kindheit“ (Alanen 2005, S. 78). Beide Kategorien sind abhängig voneinander und werden gemeinsam hergestellt: „Indem Kinder und Erwachsene an den stattfindenden Praxen beteiligt sind, stehen sie zueinander in Beziehungen der Verbindung und Interaktion sowie der Interdependenz. Keine Kategorie kann ohne die andere existieren, und was eine jede von ihnen ist (ein Kind, ein Erwachsener oder irgendein Nicht-Kind), hängt von ihren Beziehungen untereinander ab“ (Alanen 2005, S. 79). Folglich werden Kinder als Akteur*innen angesehen, auch in der Aufrechterhaltung der generationalen Ordnung (Bühler-Niederberger 2010, S. 37). Leena Alanen thematisiert in diesem Zusammenhang das Handlungsvermögen von Kindern als Macht, „Ereignisse in ihrer Lebenswelt zu beeinflussen, zu organisieren, koordinieren und zu beherrschen“ (Alanen 2005, S. 80). Dieses Handlungsvermögen von realen Kindern gelte es, in Forschungsarbeiten herauszuarbeiten, und zwar, indem die generationalen Strukturen untersucht würden, aus denen die Macht der Kinder hervorgeht bzw. eingeschränkt wird (Alanen 2005, S. 80). In den von mir analysierten sozialen Praktiken wird die Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen mit den an sie geknüpften Erwartungen und Handlungsspielräumen rituell hergestellt und zwar ganz ähnlich zu einem Unterrichtsgespräch, wie es z. B. von Richard Wenzl (2014, S. 15 ff.) analytisch beschrieben wird. Entsprechend nimmt die generationale Ordnung in der Kita die Form einer pädagogischen Ordnung an. Den Begriff der pädagogischen Ordnung übernehme ich von Petra Jung (2009), die herausgearbeitet hat, dass die Aktivitäten von Erwachsenen und Kindern in Kindertageseinrichtungen zwar stets aufeinander bezogen sind, aber nur in Ausnahmefällen gemeinsam vollzogen werden. Die pädagogische Ordnung realisiert sich ihren Beobachtungen zufolge unter anderem in Interaktionen zwischen Kindern und Erwachsenen, in denen die Kinder die Rolle von Lernenden und die pädagogischen Fachkräfte die Rolle der Lehrenden annehmen, aber auch in der Organisation von Räumen, Materialien und Abläufen, die den Kindern größtmögliche Eigenständigkeit zugestehen soll (Jung 2009, 234–236; 73). Diese Rollenfestlegungen werden im Morgenkreis durch die Gestaltung der Moderation aktualisiert und gefestigt. Strukturen, die eine asymmetrische generationale oder eben pädagogische Ordnung herstellen und aufrechterhalten, werden auch durch disziplinierende pädagogische Interaktionsrituale erzeugt, wie ich im folgenden Kapitel zeigen werde.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
5.2 Disziplin im Morgenkreis Im Rahmen meiner Untersuchung von ritualisierten Praktiken der Demokratiebildung in einer Kindertageseinrichtung beobachtete ich zahlreiche Situationen, in denen die Kinder dazu angehalten waren, sich diszipliniert(er) zu verhalten. Was ich unter Disziplin verstehe, habe ich in Abschnitt 3.4.4 dargelegt. Der folgende Ausschnitt aus einem Beobachtungsprotokoll zeigt, dass diese Perspektive meine Beobachtung mitgeformt hat, und bildet den Anlass, mich mit dem Thema Disziplinierung intensiver auseinanderzusetzen: Dann sagt sie [Kerstin (PFK)]: „Ich sehe noch immer viele Spielzeuge7 auf dem Polster. Packt sie bitte auf den Boden.“ Die Kinder tun wie geheißen, aber nach einer Weile haben wieder Kinder Spielzeug in der Hand. Um sie zu disziplinieren, macht Kerstin folgendes: A. Lange angucken, B. sagen, dass es gesehen wird (Foucault lässt grüßen!), C. schweigen, bis es wieder leise wird (Schule lässt grüßen!). Dann klärt sie den Umgang mit dem Spielzeug: Die Kinder sollen fragen, bevor sie das Spielzeug der anderen Kinder benutzen. (P.05.06.14)
Indem es die Maßnahmen, die Kerstin ergreift, direkt als Disziplinierung bezeichnet, greift das Protokoll einer ausführlichen Interpretation vor. Der Fachkraft wird ein Motiv unterstellt, nämlich dass die Kinder diszipliniert werden sollen, und bestimmte Verhaltensweisen werden in einen Zusammenhang mit diesem Motiv gebracht. Diese ad-hoc-Interpretation entstand im Kontext einer regelmäßigen Anwesenheit im Feld bei gleichzeitiger Lektüre von Michel Foucaults „Überwachen und Strafen“ (Foucault 2000/1976). Diese ad-hoc-Interpretation ist mit Vorsicht zu behandeln: Sie liefert einen wichtigen Anhaltspunkt für die tiefere Analyse, in deren Rahmen muss aber kritisch hinterfragt werden, ob sie sich bestätigen lässt. In jedem Fall deutet die Motivunterstellung „um sie zu disziplinieren“ an, dass die beschriebenen Praktiken wirken und es im Morgenkreis disziplinierter zugeht. Ob dies nun Kerstins Intention ist oder lediglich eine Nebenwirkung ihrer Praktiken, lässt sich nur im Gespräch mit Kerstin feststellen. Faktisch tut sie aber etwas, das eine bestimmte Folge zeigt, die ich – mit Foucault – als Disziplinierung bezeichnen will. 7Die
Kinder dürfen in der Regel kein eigenes Spielzeug mit in die Kita bringen. Einmal im Monat am Donnerstag ist jedoch der sogenannte „Spielzeugtag“, an dem diese Regel aufgehoben wird. Am Spielzeugtag ändert sich der Ablauf des Rituals Morgenkreis, weil die Kinder ihre Spielzeuge in den Morgenkreis mitbringen, wo sie anfangs kurz besprochen werden. Nach dem Besprechen und Anerkennen des Spielzeugs werden die Kinder aufgefordert, das Spielzeug wegzulegen.
5.2 Disziplin im Morgenkreis
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Zunächst möchte ich die bereits vorgestellte Sequenz tiefergehend analysieren: Das längere Anschauen von Kindern, die Regeln übertreten, macht diesen Kindern gewahr, dass sie nicht alleine sind, sondern sich den Raum mit Anderen teilen, die ihre Anwesenheit wahrnehmen. Sie merken, dass ihre eigenen Handlungsweisen einen Eindruck auf die anderen machen, dass sie nicht egal sind. Das Gewahr-Werden der Anwesenheit Anderer führt dazu, dass die Kinder ihr Verhalten auf die Einpassung in die Gemeinschaft des Morgenkreises/der Vollversammlung ausrichten. Sie lernen, dass die Öffentlichkeit des Morgenkreises bedeutet, zu sehen und gesehen zu werden. Zudem wird eine Tätigkeit, die demonstrativ beobachtet wird, dadurch als besonders herausgestellt – als handele es sich um eine Tätigkeit, die andere verstehen oder erlernen wollen, oder eine, die andere stört. Das demonstrative Beobachten, das man mit Foucault auch als Überwachen bezeichnen kann, normiert das Verhalten also implizit. Die Überwachung des Verhaltens der Kinder wird mit der Behauptung, dass Regelbrüche gesehen würden, explizit thematisiert. Was genau als Fehlverhalten gilt, wird nicht benannt, es reicht bereits zu sagen, dass „es“ gesehen wird. Zudem kann durch diese Äußerung suggeriert werden, dass die moderierende Fachkraft alles sieht und es also nicht möglich ist, irgendetwas heimlich zu tun. Dass demonstratives Schweigen genutzt wird, um unerwünschtes Verhalten anzuzeigen, hat vielfache Implikationen: Erstens bedeutet es, dass die moderierende Fachkraft das hauptsächliche Rederecht hat. Nicht-Sprechen der Fachkraft stellt dann eine Besonderheit dar, die nur auftritt, wenn sie eine Frage gestellt hat und das Rederecht einer anderen Person erteilt, oder wenn sie auf etwas aufmerksam macht. Zweitens müssen dadurch alle Anwesenden warten, ob und wie es weitergeht, und werden somit vom Verhalten der regelüberschreitenden Person(en) betroffen gemacht. Der Ablauf wird verzögert, nachfolgende Tätigkeiten verschieben sich. Kerstin stellt drittens das erwünschte Verhalten der Kinder performativ dar, sie wird zum Vorbild. Kerstin erinnert die Kinder daran, wie sie sich verhalten sollten, wenn sie sich im Morgenkreis/in der Vollversammlung befinden. Die Kinder ahmen in dem Versuch, so zu sein wie Kerstin, ihre Handlung mimetisch nach und kommen zur Ruhe. Dies gelingt auch deshalb, weil die Kinder und Kerstin in einer respekt- bis liebevollen Beziehung stehen. Wäre dies nicht der Fall, würde sich z. B. eine fremde Person so verhalten, würden die Kinder möglicherweise nicht ruhiger werden. Die pädagogische Fachkraft erklärt den Kindern, wie sie sich untereinander zu verhalten haben. Dies schränkt die Bandbreite des möglichen Verhaltens ein und führt eine Eigentumskategorie ein: Das Spielzeug wird zum Eigentum jeweils eines einzelnen Kindes. Die Kinder sollen ihren Impuls, auf sie interessant wirkendes Spielmaterial an sich zu nehmen, kontrollieren lernen. Die Kinder
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müssen dazu immer vorab überlegen, ob ihnen das Spielzeug gehört oder nicht. Im Gegenzug können die Kinder darauf vertrauen lernen, dass sie persönliches Eigentum haben, welches ihnen nicht einfach von anderen weggenommen wird. Hier wird eine Regel zum Schutz des Eigentums aufgestellt, die im Rahmen der Vollversammlung verkündet wird. Wer die Regel aufgestellt hat, wird nicht transparent gemacht. Die Kinder sollen sie einfach befolgen. Auch in anderen Protokollen finden sich Hinweise auf disziplinierende Praktiken innerhalb des Morgenkreises/der Vollversammlung. Die Kinder werden z. B. zur Ordnung gerufen, sollen sich „richtig“ hinsetzen, Bescheid sagen, bevor sie zur Toilette gehen, oder sollen bestimmte Räume zu bestimmten Zeiten nicht betreten. Diese Abschnitte werde ich im Folgenden vorstellen und interpretieren. Die einzelnen Praktiken, die ich in Hinblick auf Disziplinierung untersuchen werde, werden in den folgenden Abschnitten dargestellt. Im Fazit am Ende des Kapitels werde ich die Ergebnisse der Analysen zusammenführen und reflektieren.
5.2.1 Ermahnen, Auffordern, Zurechtweisen Fritz (K) ist unruhig. Er rutscht immer wieder aus dem Sitzen vom Kissen auf den Boden. Dann entdeckt er, dass er auch zwischen zwei Matratzen rutschen kann. Dies wiederholt er mehrfach. Frieda (K), die ebenfalls noch nicht drei Jahre alt ist und erst seit kurzem im Großen Morgenkreis ist, macht mit. Einmal werden die beiden ermahnt. […] Fritz flitzt zur Bildertafel, guckt und setzt sich dann wieder hin. Einige Minuten später rutscht er vom Kissen auf den Boden, kniet, liegt auf dem Boden, wird ermahnt, setzt sich wieder, rutscht wieder hinunter usw. Als der Morgenkreis noch nicht ganz beendet ist, liegt er bereits hinter der Sprossenwand. Zwischendurch zuppelt er an seinen Hosenbeinen. Auch Meret (K) rutscht im Lauf des Morgenkreises auf den Boden. (P.21.08.14)
Die Sequenz beschreibt, dass die Kinder Fritz und Frieda sich bewegen, ihre Körper einsetzen. Sie handeln nicht so, wie es der große Morgenkreis aus Sicht der pädagogischen Fachkräfte erfordert. Sie machen neue Entdeckungen, was im Zusammenspiel ihres Körpers mit der Umgebung möglich ist, und wiederholen diese Praktiken gemeinsam. Für ihre Bewegungen werden sie ermahnt – eine Sanktion, die sich direkt an das Subjekt, nicht ans Verhalten richtet. Ich selbst bezeichne Fritz und nicht sein Verhalten im Protokoll als „unruhig“ und somit als abweichend von der implizit bleibenden Norm. Als Erwachsene habe ich die Norm bereits verinnerlicht und lege sie nicht nur an Fritz‘ Handeln, sondern an sein Wesen an: Er ist unruhig.
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Fritz probiert verschiedene Bewegungsmöglichkeiten aus und wird ermahnt. Auch wenn diese Ermahnungen nur kurzzeitig wirksam sind, werden sie häufig wiederholt und somit die zu realisierende Ordnung – die allerdings nicht real besteht, sondern (noch) einen Entwurf darstellt – aufgerufen. Die Handlungsabfolge aus dem Aufweichen der Sitzordnung, der Ermahnung und dem anschließenden Wiedereinnehmen der Sitzordnung wiederholt sich. Aus dem Protokoll geht nicht hervor, durch wen die Kinder ermahnt werden; der Fokus liegt auf den Praktiken der Kinder. Dadurch wird austauschbar, wer die Ermahnungen vorträgt, und eine Struktur wird deutlich, die zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheidet: Kinder sind diejenigen, die ermahnt werden. Die Ermahnungsmacht wird in meiner Beobachtung entkörpert bzw. entpersönlicht, sie wirkt ‚an sich‘. Außerdem werden weder die Aufforderung noch die Ermahnung begründet. Dies macht deutlich, dass es vorwiegend um das Aufrechterhalten von Ordnungen geht – einer Ordnung der Körper im Raum und einer Ordnung der Machtrollen bzw. -struktur zwischen den ermahnten Personen und der abstrakten Ermahnungsmacht. Dass Fritz bereits vor dem Ende des Morgenkreises nicht mehr in ihm sitzt, zeigt, dass er zumindest eingeschränkt handlungsmächtig ist – er kann durchaus entscheiden, nicht mehr die Sitzordnung einzuhalten. Allerdings kann er dies nur versteckt tun: Er klettert dafür hinter die Sprossenwand. Meret, die älter ist als Fritz und Frieda und daher schon häufiger am Morgenkreis teilgenommen hat, gelingt es ebenfalls nicht, während der gesamten Dauer die ‚korrekte‘ Sitzhaltung beizubehalten. Dies unterstreicht, dass es zumindest für eine ganze Reihe von Kindern schwierig ist, so diszipliniert zu sitzen. Immer wieder werden Kinder aufgefordert, sich normal hinzusetzen, immer wieder gleiten Kinder von den Matratzen auf den Fußboden in der Mitte des Raumes. Toni (K) darf dort bleiben und wird nicht zurechtgewiesen. (P.08.05.14) Fritz (2 und ¾ Jahre alt) sitzt nicht still, sondern rutscht von seinem Platz auf der Matte auf den Boden und turnt mit Lucy (zwischen 2 und 3) herum. Emilia (3) ist ebenfalls nicht ruhig, wird aber von Kerstin ermahnt. […] Emilia und Darien werden häufiger als andere Kinder ermahnt. (P.12.06.14) Mit den kleinen Kindern meine ich die 2- bis 3-Jährigen. Heute wurden sie von Tina (PFK) ermahnt, indem sie gesagt hat: „Das hier ist der Kreis der Großen. Zuhören!“ (P.19.06.14)
Das gemeinsame Thema dieser vier Abschnitte ist die unterschiedlich stark ausgeprägte Form der Ermahnung der Kinder durch die pädagogischen Fachkräfte, die ich als Ausdruck der Disziplinierungsmacht der pädagogischen Fachkräfte
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interpretiere. Der Grad der Ermahnung bemisst sich am Alter der Kinder und den ihnen zugeschriebenen Fähigkeiten, die jüngeren Kinder und das sogenannte Integrationskind werden weniger stark ermahnt. Zudem wird im letzten Beispiel explizit auf „die Großen“ verwiesen, die die Richtschnur für korrektes Verhalten darstellen. Es werden verschiedene Praktiken genutzt, die jeweils einen anderen Schwerpunkt setzen: „Auffordern“ führt eine Norm oder Regel ein und verlangt, dass sie eingehalten wird, „Ermahnen“ erinnert eindringlich an eine Pflicht oder ein bestimmtes Verhalten, „Zurechtweisen“ drückt die Missbilligung gegenüber der Missachtung der Regel/Pflicht/Norm aus. Die Begriffe „Ermahnen“ und „Zurechtweisen“ setzen voraus, dass eine Regel oder eine Norm bekannt ist, aber trotzdem übertreten wird. Dabei wird in der obersten Sequenz gleichzeitig die zentrale Unterscheidung zwischen normal und nicht-normal eingeführt8. Die pädagogischen Fachkräfte unterstellen mit ihren Ermahnungen, dass die Kinder wissen, was als normal gilt und was nicht. Sie unterstellen den meisten Kindern auch, dass sie sich prinzipiell ‚normal‘ verhalten könnten. Sie legen hier einen Normalitätsentwurf an die Situation an und versuchen, diesen zu verwirklichen. Sie machen dabei aber Unterschiede zwischen den Kindern. Das Verhalten von älteren oder aus ihrer Sicht weiter entwickelten Kindern wird stärker reglementiert als jenes von jüngeren Kindern oder dem sogenannten „Integrationskind“ Toni. Älteren Kindern wird mehr zugetraut und zugemutet, sie werden stärker disziplinierend normiert. Je älter und fähiger die Kinder, umso mehr Orientierung an den gültigen Normen wird vorausgesetzt und durch Ermahnungen eingefordert. Toni wird hingegen wenig bis gar nicht normierend diszipliniert. Dadurch wird er einerseits besondert, er bekommt den Sonderstatus „Integrationskind“. Andererseits ist er während des Morgenkreises anwesend und wird dadurch auch zu einem Mitglied der Gemeinschaft, d. h. er wird integriert. Durch die verschiedenen Grade an Ermahnungen drückt sich also aus, dass die Erwartungen an die Performance normalen Verhaltens mit dem Alter bzw. den zugeschriebenen Fähigkeiten steigen. Jüngere Kinder müssen weniger normal agieren und/oder lernen am Vorbild der Älteren. Ältere Kinder, die noch nicht gelernt haben, sich selbst zu disziplinieren, werden ermahnt.
8Bei
den Begriffen handelt es sich um meine eigenen Beschreibungen aus den Beobachtungsprotokollen, nicht um transkribierte wörtliche Rede. Dennoch weisen die Begriffe auf wichtige Eigenheiten des Feldes hin, denn sie entstammen der regelmäßigen Beobachtung im Feld. Die Wortwahl in Beobachtungsprotokollen ist nicht beliebig, sondern ein Zusammenspiel aus den persönlich-biographischen Erfahrungen der forschenden Person und ihrer Auseinandersetzung mit dem Feld. Festzuhalten ist, dass meine Wortwahl in den Protokollen von Vorstellungen normalen Verhaltens durchzogen ist.
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Im vierten zitierten Abschnitt ist zudem der Verweis auf die nächste Entwicklungsstufe wichtig, die die Kinder erreichen sollen: Sie sollen zu den „Großen“ gehören, indem sie sich so verhalten wie diese, also „zuhören“. Im letzten Ausschnitt geht Tina davon aus, dass die Kinder nicht zuhören; woraus sie das ableitet, bleibt unklar. Denn ob die Kinder zuhören oder nicht, ist für die Erwachsenen oft nicht ersichtlich. Auch Personen, die aufmerksames Zuhören aufführen, können mit den Gedanken weit weg sein und eben nicht zuhören. Sichtbar zuhören, also Zuhören als Performance, soll Bestandteil dieses „Morgenkreises der Großen“ sein. Die Performance des Zuhörens scheint sich nicht durch die Atmosphäre des Rituals Morgenkreis selbst zu ergeben, sondern erst die Ermahnungen scheinen dies zu ermöglichen. Die Ermahnungen reproduzieren disziplinierende Machtbeziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Diese Machtbeziehungen bringen die Kinder dazu, zu ruhigen Morgenkreis-Teilnehmer*innen zu werden. Nicht-folgsames Handeln ist den Kindern nur versteckt möglich, andern falls werden sie von den Erwachsenen ermahnt. Allerdings folgen auf die Ermahnungen keine weiteren Konsequenzen, d. h. diese werden nahezu rituell ausgesprochen. Somit dienen die disziplinierenden Ermahnungen vor allem der Aufrechterhaltung der generationalen Ordnung. Diese wird von den Erwachsenen vorangetrieben, aber die Kinder machen mit: Sie nehmen die Ermahnungen ernst.
5.2.2 Disziplinarmacht ohne Begründung ausüben Svenja (PFK) setzt Narayan, Darien und Pascal (Kinder) auseinander. Während die VV im Gange ist, steht sie auf, nimmt Narayan an die Hand und führt ihn quer durch den Raum zu einem anderen Platz. Dann macht sie das gleiche mit Darien. Pascal bleibt dort sitzen, wo er vorher auch schon saß. (P.28.08.14)
Normalerweise dürfen die Kinder selbst entscheiden, wo sie im Morgenkreis/der Vollversammlung sitzen. Hier bestimmt eine erwachsene Person den Aufenthaltsort von zwei Kindern und trennt sie räumlich voneinander. Sie tut dies nonverbal und ohne Begründung. Die Kinder protestieren nicht dagegen, sondern gehen mit. Svenja muss nicht begründen, warum sie sich so verhält. Die Kinder erkennen somit an, dass die Aufteilung korrekt ist, sie bekräftigen die rechtfertigungslose Disziplinarmacht, die Svenja ausübt und die die pädagogische Ordnung festigt. Mia und Emilia (Kinder) fummeln an meinen Ohrringen herum. „Du bist eine Prinzessin.“ Richard (PFK) befiehlt, dass sie damit aufhören sollen. (P.16.10.14.)
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Auch diese Situation ereignet sich während des Morgenkreises/der Vollversammlung. Mia und Emilia weisen mir aufgrund meines Ohrschmucks eine Rolle in einem Spiel zu, das sie beginnen. Sie sehen keine Grenze zwischen ihren Körpern und meinem. Richard verbietet ihnen, das zu tun. Ich als direkt davon Betroffene verbiete den Kindern diese Handlung nicht, bezeichne diese im Protokoll allerdings als „herumfummeln“. Darin dokumentiert sich ebenfalls eine Abwertung der Tätigkeit der Kinder. Sie wird durch diese Bezeichnung als unkoordiniert und unangenehm konnotiert. Das partikulare Interesse der Kinder an einem Spiel und an meinem Ohrschmuck soll durch den Befehl unterbunden werden. Richards Intention ist in der Szene nicht erkennbar, nur seine wiederum begründungslose Ausübung von Disziplinarmacht. Diese gilt hier nicht nur für die Kinder: Auch ich als Erwachsene (die selber beurteilen könnte, ob sie das Handeln der Kinder an ihr zulassen möchte) werde paternalistisch unter Befehl gestellt. Meine Beurteilung und mein Wille werden ebenso ausgesetzt wie die der Kinder. Die Grundlagen für die Durchführung des Rituals Morgenkreis/Vollversammlung, also zuzuhören und stillzusitzen, werden hier entsprechend wieder nicht durch das Ritual allein hergestellt, sondern durch die pädagogische Fachkraft Richard, die befiehlt. Befehlen führt eine asymmetrische Machtbeziehung zwischen Personen ein: Eine, die sagt, was zu tun sei, und andere, die dies ausführen. In nicht-hierarchischen Beziehungen sind Befehle ausgeschlossen, da kann nur gebeten oder gefragt werden. Der Befehl zielt darauf ab, das Handeln von Mia und Emilia direkt zu beeinflussen. Nachdem alle fünf Vorschläge [für das neue Abschlusslied] vorgestellt worden sind, rennen Fritz und Frieda (Kinder) zur Tür, um nach draußen zu gelangen. Svenja (PFK): “Ist doch klar, der Kreis ist zu Ende, haben wir ja gesungen”. Tina (PFK) hält die beiden auf, indem sie einfach schnell die Tür zuhält. Dann sagen beide, sie wollen zur Toilette. Tina sagt: “Aber nicht beide auf einmal. Erst du, Fritz, und dann du, Frieda.” (P.28.08.14)
Fritz und Frieda wollen mitten in einer Abstimmung über ein neues Abschlusslied für den Morgenkreis den Bewegungsraum und damit auch die Versammlung verlassen. Dieses Verhalten wird ad hoc von der pädagogischen Fachkraft Svenja rationalisiert. Svenja verbalisiert damit ihren Versuch, sich in die Kinder hineinzuversetzen: Die beiden würden nicht bewusst die Regeln verletzen, sondern handelten nach dem gewohnten, ritualisierten Ablauf. Svenja unterstellt damit, dass die Kinder nicht zwischen dem ‚richtigen‘ Abschlusslied zum Ende des Morgenkreises und dem Abschlusslied, das zu illustrativen Zwecken in Vorbereitung der Abstimmung gesungen wird,
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u nterscheiden können. Doch die Kinder begründen ihr Verhalten ganz anders: Sie wollen zur Toilette. Die Notwendigkeit, die Toilette aufzusuchen, berechtigt laut implizitem Regelwerk dazu, den Raum auch mitten im Morgenkreis/in der Vollversammlung zu verlassen9. Hieran zeigt sich ganz deutlich, dass die Erwachsene, Svenja, nicht davon ausgehen kann, zu wissen, wie die Kinder, Fritz und Frieda, denken oder was sie brauchen, sondern dass kein Weg daran vorbeiführt, sie zu fragen. Den Dialog über die Beweggründe, die zur Aktion geführt haben, führt Tina herbei. Durch Ausnutzen ihrer körperlichen Überlegenheit kann sie die zwei Kinder dazu bringen, im Raum zu bleiben und mit ihr zu sprechen, d. h. in diesem Fall: sich zu erklären. Durch das für Tina einfache und schnelle Zuhalten der Tür erzwingt sie den Dialog, in dem die Kinder den legitimen Grund für ihren Wunsch, den Morgenkreis zu verlassen, äußern. Tina lässt die beiden den Regeln gemäß zwar hinaus, teilt sie jedoch auf, sie parzelliert sie. Die Räume würden hergeben, dass beide Kinder gleichzeitig zur Toilette gehen, es gibt mehr als eine Toilettenkabine. Trotzdem dürfen die beiden nicht zusammen den Raum verlassen. Individualisiert – in der zitierten Passage nennt Tina die Kinder jeweils nochmal bei ihrem Namen – handeln Kinder disziplinierter bzw. ist es für die Erwachsenen einfacher, sie wieder zur Disziplin zu bringen. Foucault bezeichnet diese Praktik der Aufteilung von Gruppen oder „Vielheiten“ in einzelne Körper als „Parzellierung des Raumes“ (Foucault 2000/1976, S. 183). Sie dient dazu, Übersichtlichkeit herzustellen und somit einer Disziplinierung besseren Zugriff zu ermöglichen. Hier macht sie die Aufrechterhaltung der generationalen Ordnung leichter.
5.2.3 Durchsetzen der Melderegel Tina fordert die Kinder auf, sich zu melden, wenn sie etwas gefragt hat und die Kinder antworten wollen. (P.12.06.14) Kerstin sagt: Einige Kinder wollten heute doch etwas erzählen. Wer will etwas erzählen? Einige Kinder melden sich. Namentlich werden sie aufgerufen und erzählen dann vor dem ganzen Morgenkreis. (P.26.06.14)
9Allerdings
müssen die Kinder sich vorher melden und Bescheid sagen, dass sie zur Toilette wollen.
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In diesen Sequenzen wird eine Regel aktualisiert, die die Fachkraft einerseits autorisiert, zu entscheiden, wessen Antwort Gehör finden soll: Die Kinder sollen ihren Redewunsch anzeigen, indem sie sich melden. Dadurch wird die übliche Ordnung, dass die Erwachsenen Struktur und Normen vorgeben, an die die Kinder sich halten, bestätigt. Zudem wird auf einen für Prüfungen und Schulunterricht typischen Ablauf10 verwiesen: Die Lehrkraft, hier die pädagogische Fachkraft, fragt etwas, die Kinder melden sich, wenn sie antworten wollen, und warten dann, ob und bis sie aufgerufen werden, bevor sie sprechen. Sie müssen also diszipliniert sein und ihren Redewunsch so lange zurückhalten, bis sie aufgerufen werden. In der zweiten Sequenz wird deutlich, dass dies auch in Tinas bzw. Kerstins Rolle als Moderatorin des Morgenkreises/der Vollversammlung begründet liegt. Moderator*innen sind notwendigerweise autorisiert, Rederecht zuzusprechen oder abzulehnen. Es geht hier also nicht primär darum, als Erwachsene hierarchische Machtbeziehungen mit den Kindern einzugehen, sondern als Moderatorin mit dem Plenum. Die Melderegel hat die Funktion, einen geordneten Diskurs zu ermöglichen, und verbindet gleichzeitig jedes Kind mit seinem individuellen Namen. Als ‚Gegenleistung‘ dafür, dass die Kinder sich melden und abwarten, bis sie von der pädagogischen Fachkraft aufgerufen werden, erhalten sie die Gelegenheit, vor allen anderen Kindern und anwesenden Erwachsenen etwas zu erzählen, das sie wichtig finden. Sie kommen zu Wort und ihnen wird zugehört. Sie werden als eigenständige Personen mit individuellen Erfahrungen anerkannt. Dafür müssen sie ein gewisses Maß an Selbstdisziplin demonstrieren: Sie müssen ihren Redewunsch so lange zurückstellen, bis sie namentlich aufgerufen werden. Insgesamt kann die Melderegel somit als eine subjektivierende Praxis gewertet werden, die Subjektwerdung mit Selbstdisziplin verknüpft und sicherstellt, dass alle Gehör finden.
5.2.4 Zum Selbstschutz Anstiften Tina (PFK) fragt die Kinder, ob der Ton auch in ihren Ohren wehtue. Es melden sich einige Kinder, ich denke, aus Solidarität mit Kerstin (PFK). Tina sagt, dass die Kinder so etwas auch von alleine sagen müssen, wenn sie etwas stört oder sogar weh tut. (P.02.10.14)
10Richard
Wenzl (2014) analysiert die Verteilung des Rederechts im klassenöffentlichen Gruppengespräch mittels des Sich-Meldens. Aus der Zusammenfassung einiger vorhandener Studien zum Thema ergibt sich das klassische Muster eines „sich endlos wiederholenden Dreischritt[s]: 1. Lehrerfrage, 2. Schülerantwort, 3. Lehrerkommentar“, Wenzl (2014, S. 23).
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Die Sequenz bearbeitet ein Thema, das die pädagogische Fachkraft Kerstin eingebracht hatte: Das Signal zum Aufräumen, das in einer Arbeitsgruppe ausgewählt wurde, verursacht Kerstin Ohrenschmerzen, daher spricht sie es in der Vollversammlung an. Tina generiert daraufhin ein Stimmungsbild in der Vollversammlung. Da sich auf ihre Frage einige Kinder melden und damit signalisieren, dass ihnen der Ton in den Ohren weh tut, fordert Tina die Kinder auf, selbst tätig zu werden, wenn etwas passiert, was ihnen nicht gefällt oder sogar Schmerzen bereitet. Sie nimmt diese Meldungen ernst – anders als ich, die den Kindern im Protokoll „nur“ Solidarität mit Kerstin unterstellt. Tina stiftet also dazu an, sich selbst zu schützen und die eigene Betroffenheit diskursiv einzubringen. Einerseits macht sie damit die Kinder für ihr Wohl selbst verantwortlich. Andererseits bekräftigt sie damit, dass die Deutungshoheit, was genau stört oder weh tut, bei dem jeweiligen Kind liegt. Das hat den Vorteil, dass die Kinder lernen können, sich selbst zu schützen, indem sie Probleme ansprechen. Das Protokoll wagt an dieser Stelle eine Deutung der Motive der Kinder: Sie handeln nicht aus eigener Betroffenheit, sondern aus Solidarität mit Kerstin, die wiederum ihre Betroffenheit authentisch in die Vollversammlung einbringt. Diese spontane Deutung basiert auf der wiederholten Beobachtung, dass die Kinder empathisch reagieren, wenn pädagogische Fachkräfte Emotionen zeigen.
5.2.5 Ablenkungen verhindern Am Spielzeugtag bringen die Kinder eigenes Spielzeug mit in die Kita und in den Morgenkreis. Nach dem Besprechen und Anerkennen des Spielzeugs werden die Kinder wiederholt aufgefordert, das Spielzeug wegzulegen: Dann hat Kerstin (PFK) gesagt, die Kinder sollen ihr Spielzeug hinter den Rücken packen. Das haben die Kinder gemacht. Dann gab es eine kurze Absprache nur unter den Erwachsenen, dass Kerstin eine Eingewöhnung eines neuen Kindes mache. (P.19.06.14)
Auch in dieser Sequenz sollen die Kinder das Spielzeug wieder aus dem Blick nehmen und befolgen diese Anweisung auch. Die Fachkräfte nutzen den Morgenkreis, um Absprachen zu treffen, die nur für sie selbst relevant sind, während sie von den Kindern erwarten und einfordern, sich auf das Ritual zu konzentrieren. Sie halten die Regeln des Rituals weniger streng ein, als sie es von den Kindern verlangen. Sie [Kerstin] fordert die Kinder auf, ihr Spielzeug auf dem Boden abzulegen. (P.05.06.14)
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Der Ort, an dem die Kinder ihr Spielzeug ablegen sollen, variiert. An diesem Spielzeugtag sollen die Kinder das Spielzeug nicht hinter den Rücken, d. h. aus dem Blick, sondern in die Mitte des Sitzkreises auf den Boden legen, wo es von jeder anwesenden Person gesehen werden kann. Hier wird eine andere Strategie zur Disziplinierung der Kinder versucht: Wenn das Spielzeug nicht hinter den Rücken, sondern auf den Boden und damit in die Mitte des Kreises gelegt wird, kann nicht nur das Spielzeug, sondern auch jeder Versuch der Berührung des Spielzeugs durch die Kinder wahrgenommen und sanktioniert werden. Das Überwachen des Einhaltens der Regeln ist dadurch erleichtert. Dafür ermöglicht diese Variante den Kindern, das Spielzeug zu betrachten – was durch die oben genannte Strategie noch verhindert wurde. Aus der Annahme heraus, das gleichzeitige Anfassen und Ansehen der Spielzeuge könne das „Zuhören“ und „Aufpassen“ verhindern, werden in der Kita zwei disziplinierende Strategien für den Umgang mit dem Spielzeug während des Morgenkreises/der Vollversammlung praktiziert: 1. Aus dem Blickfeld verschwinden lassen mit der Möglichkeit, es heimlich zu berühren, 2. Aus dem Berührungsradius entfernen mit der Möglichkeit, es weiter zu betrachten. Insgesamt wird deutlich, dass der Morgenkreis/die Vollversammlung zwar ein Raum zum Reden über Spielzeug ist, aber keinen Raum zum Spielen lässt. Die Form des Morgenkreises wird trotz der Anwesenheit von Spielzeug beibehalten.
5.2.6 Unfolgsamkeit der Kinder Die Kinder werden immer wieder aufgefordert, ihre Spielzeuge wegzulegen, aber sie fassen sie wieder an, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. (P.02.10.14) Die Kinder haben teilweise schon wieder ihr Spielzeug in den Händen – sobald sie sich unbeobachtet fühlen, nehmen sie es auf. (P.05.06.14)
An diesen beiden Sequenzen zeigt sich, dass die Kinder das Spielzeug zwar zunächst weglegen, es dann aber doch wieder aufnehmen oder berühren. Die Protokolle erwecken den Anschein, als ließe sich das Verhalten der Kinder von mir ohne Anstrengung entschlüsseln: Ich kann scheinbar erkennen, wann sie sich unbeobachtet fühlen. Woran ich das erkenne, wird nicht expliziert. Gleichzeitig drückt diese Formulierung meinen Versuch aus, mich in die Kinder hineinzuversetzen. Es wird deutlich, dass das Soziale durch Unterscheidungen strukturiert ist, die sich in wiederholten Aufforderungen ausdrücken: Bestimmte Verhaltensweisen werden durch Aufforderungen als legitim bzw. nicht legitim klassifiziert
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und bestimmte Personen, d. h. die Fachkräfte sind befugt, diese Unterscheidung durchzusetzen. Es wird ebenfalls deutlich, dass die Kinder bei der Regelverletzung immer wieder ‚erwischt‘, d. h. gesehen, werden – nicht nur von mir, sondern auch von den Personen, die die Aufforderungen an sie richten. Die Kinder übertreten die Regel, sich nicht mit dem Spielzeug zu beschäftigen, immer wieder. Dies resultiert aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Nähe zum Spielzeug und seiner gleichzeitigen Tabuisierung. Da die Kinder, wenn sie ‚erwischt‘ werden, aufgefordert werden, das Spielzeug wegzulegen, versuchen sie, den Kontakt zum Spielzeug unbeobachtet durch die pädagogischen Fachkräfte zu realisieren. Dies gelingt ihnen jedoch regelmäßig nicht. Anstatt dass sie die Macht der Fachkräfte, ihnen den Gebrauch des Spielzeugs zu untersagen, grundsätzlich infrage stellen, übertreten sie die Regel heimlich. Durch die heimliche Regelverletzung machen sie deutlich, dass sie die Normen der Fachkräfte sowie deren Macht, Normen und Regeln aufzustellen, prinzipiell akzeptieren, aber nicht immer vollständig befolgen können oder wollen. So lernen die Kinder, dass Regeln nicht einfach nur zu befolgen oder zu missachten sind, sondern dass es darauf ankommt, sich beim Übertreten der Regeln geschickt anzustellen und möglichst nicht gesehen zu werden. Das heimliche Regelüberschreiten der Kinder hat zum Effekt, die asymmetrische Beziehung zwischen den Kindern und den Fachkräften zu bekräftigen, und weitet gleichzeitig ihren Handlungsspielraum im Umgang mit Verboten und Regeln aus. Der Umgang mit dem Spielzeug kreiert die Möglichkeit, die Selbstdisziplin der Kinder herauszufordern und zu verstärken. Neben dem heimlichen Regelbrechen lernen sie somit auch, diszipliniert im Morgenkreis/in der Vollversammlung sitzen zu bleiben, zuzuhören und aufzupassen, obwohl die Ablenkung, d. h. das Spielzeug, sichtbar oder in greifbarer Nähe befindlich ist. Fritz (K) hat ein kleines Krokodil dabei, das wirft er in die Mitte des Kreises, um es dann wiederzuholen. Kerstin (PFK) ermahnt ihn. (P.02.10.14)
Fritz übertritt in dieser Sequenz nicht heimlich, wenn er „sich unbeobachtet fühlt“, sondern demonstrativ die Regel, das Spielzeug wegzulegen. Er berührt nicht nur sein Krokodil, was eine eher schwache Überschreitung bedeuten würde, sondern wirft es von sich weg und holt es anschließend wieder zurück. Damit besetzt er spielerisch den Raum in der Mitte der Sitzordnung. Symbolisch wird dieser Raum von einem politischen Raum, der leer ist, um mit Diskussionen gefüllt zu werden, zu einem Spielraum. Als Reaktion darauf erfolgt eine Ermahnung. Im Gegensatz zur Aufforderung, die sich an das Handeln richtet, überschreitet eine Ermahnung die Grenze zum Subjekt. Nicht mehr die Handlungen
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des Subjekts werden adressiert und kritisiert, sondern sein Wesen, seine Identität. Fritz wird durch die Ermahnung dazu animiert, seine Subjektivität dem Ritual unterzuordnen, zu einem Ritual-Subjekt zu werden. Dieses Ritual-Subjekt ist ein diszipliniertes Subjekt, das richtig sitzt, zuhört und aufpasst, während des Morgenkreises/der Vollversammlung nicht mehr spielt und damit den Schritt zur nächsten Entwicklungsstufe, den „Großen“, vollzieht.
5.2.7 Ritualisiertes Unterbrechen der rituellen Ordnung Kurze Bewegungsübungen sind ein immer wieder auftauchender Bestandteil des Morgenkreises/der Vollversammlung. Sie werden spontan von den pädagogischen Fachkräften initiiert: Als es zu unruhig wird, während Kerstin (PFK) vorträgt, dass sie den Donnerstag bevorzugen würde, klatscht sie sich auf die Oberschenkel und fordert die Kinder auf, dies ebenso zu tun und dabei immer schneller zu werden. Danach sollen alle in die Hände klatschen und dabei immer schneller werden. Einige Kinder sagen dabei: „Aua, aua!“ Danach ist es wieder ruhiger und Kerstin erzählt weiter. (P.08.05.14) Immer, wenn die Kinder unruhig werden, leiten die Erwachsenen ein Bewegungsspiel ein. Danach kehrt kurz Ruhe ein. (P.12.06.14) Man merkt, sowohl in Vollversammlung als auch im Morgenkreis: Wenn es den Kindern zu lang wird, werden sie lauter und sie fangen an, sich zu kabbeln und zu berühren. Dann werden sie aufgefordert, sich hinzusetzen, ein Konzentrationsspiel wird gespielt. Das wirkt dann etwa für 3 Minuten, danach wird es wieder laut. (P.19.06.14)
Eine Bewegungsübung – im Protokoll: „Bewegungsspiel“ oder „Konzentrationsspiel“ – wird im Ablauf des Morgenkreises/der Vollversammlung immer dann von den Erwachsenen dazwischengeschaltet, wenn die Kinder lauter agieren und sich mehr berühren als sonst. Ad hoc wird das Phänomen gesteigerter Lautstärke und Interaktion im Protokoll damit erklärt, dass die Dauer der Versammlung die Konzentrationsfähigkeit der Kinder übersteigt. Diese Interpretation spiegelt wider, wie das Feld das Phänomen rahmt, d. h. sie ist beeinflusst durch die Erfahrungen, die ich während meiner längeren Anwesenheit in der Kita gemacht habe. Sie passt außerdem zu den Sequenzen in Abschnitt 5.2.1, aus denen deutlich wird, dass die Kinder die Sitzordnung nicht langfristig einhalten. Die Bezeichnung als Bewegungs- oder Konzentrationsspiel lässt bereits drei Aspekte hervortreten: Die Übungen sind spielerisch, sie erfordern Bewegungen, d. h. sie richten sich an die Körper der Kinder, und sie produzieren eine
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konzentriertere Atmosphäre. Aus den Sequenzen lässt sich auch herauslesen, dass diese Wirkung lediglich temporär ist. Der spielerische Aspekt der Übungen lässt sich aus den Protokollsequenzen nicht explizit entnehmen. Es geht aus ihnen nicht hervor, wie sehr sich die Kinder engagieren und ob sie Freude am Tun ausdrücken. Dennoch bezeichnen die Protokolle die Übungen wiederholt als „Spiele“. Da sie unmittelbar nach der Beobachtung verfasst wurden, lässt diese Bezeichnung Rückschlüsse darauf zu, dass die Kinder die Übungen meistens engagiert mitvollziehen und Freude daran haben. Die Bewegungsübungen binden die Wahrnehmung der Kinder wieder an ihre jeweiligen Körper zurück, indem sie sie etwa dazu auffordern, sich selbst auf die Schenkel und die Hände zu klatschen. Die Berührungen des eigenen Körpers vergegenwärtigen den Kindern die Körpergebundenheit ihrer Existenz. In der ersten Sequenz kommentieren einige Kinder das, was sie tun, als schmerzhaft. Dies kann spielerisch sein und einüben, dass bestimmte Handlungen Schmerzen hervorrufen. Es kann auch darauf hindeuten, dass die Kinder es zu weit treiben, dass sie in einer Art ekstatischer Entladung nicht (mehr) das richtige Maß der Ausübung der schmerzhaften Praktik finden. Es wirkt, als sei durch das Einhalten der Sitzordnung und der Gesprächsregeln für die Vollversammlung Energie angestaut, die in der Übung spielerisch durch schnelle Bewegungen und Schmerzen entladen wird. In jedem Fall vergegenwärtigt die entstehende Vergemeinschaftung den Kindern, dass sie sich den Raum mit anderen teilen, dass sie selbst Teil einer Gemeinschaft sind. Sie richten sich durch den gemeinsamen Rhythmus auf die anderen aus, passen sich an, fügen sich ein. Nach den Übungen ist die Atmosphäre deshalb ruhiger als davor. Die vor der Übung bestehende Struktur wird umgehend wieder eingenommen, verbessert und stabilisiert. Im Prinzip disziplinieren die Übungen die Teilnehmenden, sie machen sie wieder zu nützlichen Teilnehmenden des Morgenkreises/der Vollversammlung. Sie tun dies nicht über Ermahnungen oder negative Sanktionen, sondern über die oben genannten Aspekte – insbesondere über ihren körperlichen Vollzug, der einerseits individuell ist und andererseits einen Rhythmus auferlegt, der die Individuen zu einer Gemeinschaft verbindet. Die bestehenden Strukturen sind kurzfristig aufgehoben, nur um hinterher wieder konsequenter umgesetzt zu werden. Die Kinder lernen durch diese Bewegungsübungen, dass es Phasen des Ausagierens von Bewegungen und Phasen des „richtig“ Sitzens gibt, und dass diese Phasen sich im besten Fall abwechseln.
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Die Übungen werden jederzeit eingeschoben, auch wenn damit eine Handlung unterbrochen wird. Nachdem die Übung beendet ist, wird die vorangegangene Tätigkeit einfach fortgesetzt. Wieder wurde in VV und Morgenkreis oft mit Konzentrationsspielen gearbeitet, immer wenn es lauter wurde. Es war sehr laut heute, sodass einzelne Kinder sich bereits die Ohren zugehalten haben, weil sie es nicht mehr aushielten. (P.19.06.14)
Ohne Intervention durch eine Bewegungsübung wird es so laut, dass einige der Kinder sichtbar darunter leiden. Dass die am Morgenkreis Teilnehmenden durch die Bewegungsübungen diszipliniert werden, hat auch den Effekt, dass die geräuschsensibleren Kinder geschützt werden. Es wird sehr unruhig, daher ruft Kerstin (PFK) zu einem Klatschspiel auf, das beinhaltet, dass alle in bestimmte Richtungen in die Hände klatschen müssen. Danach ist es etwas ruhiger, allerdings nehmen einige Kinder ihre Spielsachen wieder in die Hände. Kerstin: „Die Spielsachen bleiben auf dem Boden!“ (P.05.06.14)
Die Bewegungsübung hat dieses Mal allerdings neben der bekannten Wirkung, dass die Atmosphäre im Raum ruhiger und disziplinierter wird, eine zweite Wirkung, die darin besteht, dass die Kinder sich wieder ihren Spielsachen zuwenden. Das eigene Spielzeug symbolisiert einerseits die individuelle Identität der Kinder, die nach der kurzen Phase des Aufgehens in der Gemeinschaft wieder stärker hervortritt. Daneben symbolisieren sie auch eine andere Tätigkeitsform, als diejenige, die durch die Bewegungsübung kurzfristig unterbrochen wird: Das Spielen. Indem sie sich also ihren Spielsachen zuwenden, drücken die Kinder aus, dass sie nicht wieder zur aktuellen Tätigkeit, dem Zuhören und ruhig Sitzen zurückkehren wollen, sondern zum Spielen. Bei einem Bewegungsspiel, das Richard (PFK) anleitet, bleibt ein anderer Fußballjunge sitzen und verschränkt die Arme vor der Brust. Die Spiele sind oft so gestaltet, dass die Erwachsenen den Kindern vorschreiben, was sie tun sollen. Dieses Mal sollen sich alle hinstellen, dann auf der Stelle gehen, laufen, joggen, rennen und mit den Füßen stampfen. Der Junge, der sitzen geblieben ist, Michel (5), sagt: “Richard darf nicht über mich bestimmen!”. Nach kurzer Zeit setzen sich einige Kinder um dieses Kind herum wieder hin. Auch bei einem anderen Spiel verweigert er sich. Da sagt Tina zu ihm, dass sie nach der Vollversammlung mit ihm darüber sprechen wolle. (P.10.07.14)
In dieser Sequenz wird zum einen genauer beschrieben, wie die Bewegungsübung abläuft: Es handelt sich um eine Abfolge von intensiver werdenden Bewegungen,
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die zunächst immer schneller und zum Abschluss geräuschvoll werden. Das Gemeinsame der Übungen (dass eine pädagogische Fachkraft „vorschreibt“, was getan werden soll) wird ebenso benannt wie der Ablauf der konkreten Übung. Wieder wird die Übung als Spiel bezeichnet. Ich möchte trotzdem bei der Bezeichnung „Übung“ bleiben, weil diese betont, wie instrumentell und streng gerahmt die Aktivität gestaltet wird. In dieser Sequenz wird zudem beschrieben, wie eines der Kinder, Michel, äußert, dass es ihn stört, dass die Bewegungsübung von der pädagogischen Fachkraft Richard geleitet wird. Michel drückt sowohl körperlich (durch das Verweilen auf seinem Sitzplatz und das Verschränken seiner Arme) als auch verbal aus, dass er sich nicht der Übung bzw. der Leitung durch Richard unterwerfen, nicht so fremdbestimmt handeln will. Seine Verweigerung hat den Effekt, dass auch andere Kinder nicht mehr mitmachen. Indem Michel die Fremdbestimmung durch Richard explizit zum Thema macht, zeigt er, sich ihrer bewusst zu sein und sie negativ zu bewerten. Interessant ist der Umgang mit der Weigerung: Sie wird nicht öffentlich behandelt, vielmehr spricht eine andere pädagogische Fachkraft Michel darauf an und fordert ihn zu einem Gespräch nach dem Morgenkreis/der Vollversammlung auf – wenn das Thema nicht mehr öffentlich besprochen werden kann. Dadurch wird der Widerstand gegen Fremdbestimmung als ein persönliches Problem von Michel oder ein Problem in der Beziehung zwischen Michel und Richard gedeutet, und das, obwohl sich andere Kinder nach dessen Kommentar ebenfalls der Übung entzogen haben. Dadurch entsteht ein Spannungsfeld zwischen der Form und dem Anliegen der Vollversammlung, ihrem demokratischen Inhalt. Die Bewegungsübungen haben den Anspruch, eine Ordnung zu stabilisieren, die (demokratische) Diskurse ermöglicht, also die Form der Vollversammlung. Wenn die stabilisierte Form aber nicht mit Inhalt gefüllt wird, mithin kein Diskurs angestrebt wird, sondern die Anliegen der Kinder („Richard darf nicht über mich bestimmen!“) unter vier Augen nach Ende der Versammlung besprochen werden, wird das Ritual Vollversammlung von seinen demokratiebildnerischen Potentialen befreit.
5.2.8 Disziplinieren mit dem Ritual begründen Kerstin (PFK) sagt: „So, jetzt packt euer Spielzeug hinter euren Rücken, denn jetzt ist Vollversammlung und ihr sollt jetzt zuhören und aufpassen.“ Die Kinder befolgen ihre Anweisung. Es ist relativ ruhig und konzentriert. (P.08.05.14)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Kerstin begründet ihre Aufforderung, das Spielzeug aus dem Blickfeld zu legen, mit der Aufgabe der Kinder, zuzuhören und aufzupassen. Kerstin tritt hier als Stellvertreterin für das Ritual Vollversammlung auf, das diese Regeln vorgibt. Es ist nicht ihr persönliches Anliegen, dass die Kinder aufpassen und zuhören, sondern dies ist für das Ritual notwendig. Das Demokratische des Rituals, wie etwa der gemeinsame Diskurs, tritt in den Hintergrund. Eine Unterscheidung zwischen „ihr“, d. h. den Kindern, und „wir“, das sind die pädagogischen Fachkräfte, wird implizit eingeführt; das Ritual wird für die Kinder vollzogen. Es geht also in diesem Moment nicht darum, dass die Kinder die eigene Meinung sagen, diskutieren oder gemeinsam Entscheidungen treffen, d. h. um einen Diskurs und daher Demokratiebildung. Vielmehr sollen die Kinder aufmerksam dem folgen, was die Moderatorin und/oder die anderen Erwachsenen sagen. Dem Protokoll ist zu entnehmen, dass das Ergebnis dieser Vorgehensweise tatsächlich eine ruhige und konzentrierte Stimmung ist. Die Kinder befolgen (zunächst) die Anweisung, ohne sie zu hinterfragen. Sie bekräftigen damit die Machtausübung durch Kerstin, die die Anweisung erteilt hat.
5.2.9 Zwischenfazit: Demokratische Gestaltung von Ritualen statt disziplinierende Rituale Sowohl Demokratie als auch Rituale sind mit der Disziplinierung von Subjekten und ihren Körpern verbunden. Die mitunter langwierigen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, die durch eine demokratische Organisationsform notwendig werden, erfordern von den Beteiligten entsprechende Kompetenzen, wie etwa Selbstregulierung und Selbstdisziplin (für einen Überblick vgl. Himmelmann 2005). In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Ritualen wird davon ausgegangen, dass Rituale dadurch disziplinieren, dass sie direkt auf die Körper der Teilnehmenden einwirken. Melanie Kuhn stellt etwa fest, dass Disziplinierung eine Funktion von Ritualen in der Kita ist: „Die Bedeutung des Moments der Körperlichkeit von Ritualen ist in zweifacher Weise zu lesen: Zum einen ist die Körperlichkeit ein formales Ritualmerkmal […], zum anderen haben Rituale die Funktion, die Körperpraktiken der Kinder zu strukturieren und zu disziplinieren“ (Kuhn 2013, S. 191). Dadurch, dass Praktiken auf bestimmte Weise körperlich aufgeführt werden, werden die für die Aufführung notwendigen Bewegungen eingeübt und die Körper diszipliniert. Neben dem Ritualmerkmal Körperlichkeit wird zudem die strikte Wiederholung als eine Erklärung für die disziplinierende Funktion von Ritualen
5.2 Disziplin im Morgenkreis
221
angesehen (Bell 1997, S. 150). Die strikte bzw. strenge Wiederholung ordnet die Singularität eines Ereignisses und einer Person dem Andauernden und Gemeinschaftlichen unter. Das Fortschreiten der Zeit wird dadurch negiert. Das Einüben von Selbstdisziplin ist ein Effekt der strengen und präzisen Wiederholung von Praktiken. Die Anonymen Alkoholiker und Zen-Buddhisten werden als Beispiele dafür genannt, wie das Individuum durch präzise Wiederholung umgeformt werden soll. Auch in der Erziehung, vor allem in der Schule, werden Wiederholungen eingesetzt, um Disziplin einzuüben und letztlich einen Sinn für die richtige Ordnung zu erwerben. Catherine Bell verweist auf die vielen verschiedenen Rituale und Ritualisierungen in der Schule, die nicht die Inhalte des offiziellen Lehrplans vermitteln, sondern eben kulturelle Werte, Selbstdisziplin und Ordnung. Positiver Nebeneffekt von präziser Wiederholung ist das vollständige Aufgehen in einer Gemeinschaft, etwa beim gemeinsamen Singen (Bell 1997, S. 150 ff.). Durch die regelmäßige Wiederholung einer ritualisierten Praktik wiederholt sich auch die Möglichkeit für die Kinder, die notwendige Disziplin zu zeigen und damit einzuüben, zu inkorporieren. Die von mir analysierten empirischen Beispiele verdeutlichen allerdings, dass das Ritual Morgenkreis/Vollversammlung kein ‚Selbstläufer‘ ist, dass also keineswegs das Ritual ‚an sich‘ schon diszipliniert. Stattdessen wird das Ritual Morgenkreis/Vollversammlung aktiv von den pädagogischen Fachkräften aufrechterhalten und vorangetrieben. Die pädagogischen Fachkräfte agieren als ‚Zeremonienmeister*innen‘, die wissen, was wann wie getan werden muss. Sie erinnern die Kinder an die Abläufe; sie fordern auf und ermahnen. Dabei führen sie ein, was im Morgenkreis/in der Vollversammlung als normales Verhalten gelten soll: körperliche Disziplin zu zeigen. Die Kinder sollen ‚ordentlich‘ sitzen, jeweils auf einem eigenen Platz und mit den Füßen auf dem Boden. Außerdem sollen sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf Sitznachbar*innen richten, sondern auf das rituelle Geschehen. Sie sollen diese Aufmerksamkeit so aufführen, dass sie von außen als Aufmerksamkeit erkennbar wird. Sie sollen nicht spielen. Verstöße gegen diese Regeln werden kommentiert und ermahnt. Je älter die Kinder sind, umso mehr wird ihnen unterstellt und von ihnen erwartet, dass sie entsprechend handeln können. Gelingt es den Kindern trotz dieser Maßnahmen nicht, Disziplin zu zeigen, werden sie und ihre Sitznachbar*innen räumlich getrennt, sie werden parzelliert (Foucault 2000/1976, S. 183). Die pädagogischen Fachkräfte in den oben analysierten Sequenzen sagen den Kindern immer wieder, was sie tun oder unterlassen sollen. Dies charakterisiert disziplinierende Machtbeziehungen im Sinne Foucaults (Vogelmann 2017, S. 9). Durch die ständigen Aufforderungen und Ermahnungen werden somit Machtbeziehungen zwischen Kindern und erwachsenen pädagogischen Fachkräften
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
tradiert und aktualisiert, die den erwachsenen Fachkräften ermöglichen, die Kinder zu normieren und zu disziplinieren – und dies für die und während der vom Anspruch her demokratischen Versammlung. Somit wird die pädagogische Ordnung, die zwischen Kindern und Erwachsenen unterscheidet, auch und gerade innerhalb der Vollversammlung aktualisiert, und zwar anhand der einseitig ausgeübten Disziplinarmacht. Dass die Vollversammlung über strikte Wiederholung ritualisiert wird, bietet den Fachkräften einerseits die Möglichkeit, Disziplinierungsmaßnahmen mit dem Rahmen des Rituals zu begründen: „Es ist Morgenkreis, ihr sollt jetzt aufpassen“. Andererseits macht die Ritualisierung in dieser Form es möglicherweise auch notwendig, dass die Fachkräfte die Kinder disziplinieren, denn das Ritual verfügt nicht über ausreichende Bindungskraft, d. h. die Kinder verhalten sich nicht automatisch so, wie es das Ritual aus Sicht der Erwachsenen vorgibt. Insgesamt eröffnet sich dadurch ein Spannungsfeld zwischen Form und Inhalt der Vollversammlung: Demokratiebildung, die sich auf deliberative Demokratie stützt, braucht die Möglichkeit gemeinsamer Bildungs- und Entscheidungsprozesse (Richter u. a. 2016, S. 115). Diese Möglichkeit muss in irgendeiner Form moderiert und sichergestellt werden. In der Kita wurde mit einer Ritualisierung der Vollversammlung als Bestandteil des ohnehin täglich stattfindenden Morgenkreises gearbeitet, die den Rahmen herstellen und schützen soll. Dadurch, dass die Form der Vollversammlung (die Sitzordnung, die Rederegeln etc.) gewahrt werden soll, werden allerdings die Inhalte verdrängt, was wiederum dazu führt, dass die Form strikter gewahrt wird. Denn gäbe es für die Kinder interessantere Inhalte, würden sie möglicherweise von sich aus zuhören. Das Ritual Morgenkreis/Vollversammlung ist darauf angewiesen, dass es mit Inhalten gefüllt wird. Indem es eine Gemeinschaft Gleicher propagiert und aufführt, die über für die Gemeinschaft Wichtiges reden, braucht es das Reden über Wichtiges. Dieses erfolgt jedoch nicht immer. Es ergibt sich die Notwendigkeit, die Kinder in ihrer Betroffenheit zu Wort kommen zu lassen, auch wenn dies zu Ungunsten der Ordnung geht. Dass mit dem rituellen Rahmen argumentiert wird, wenn die Kinder diszipliniert werden, verstellt zudem die Chance, an eine vernünftige Einsicht der Kinder zu appellieren. Disziplinierende Maßnahmen damit zu begründen, dass die Wortbeiträge von Teilnehmer*innen des Morgenkreises/der Vollversammlung kein Gehör finden können, wenn es zu laut ist, oder dass es für die Diskussion wichtig ist, einander sehen zu können, würde z. B. eine Diskussion darüber ermöglichen, welche Gesprächsregeln wirklich gelten sollen oder wie die Vollversammlung so gestaltet wird, dass sie für mehr Kinder interessant wird. Die Fachkräfte würden somit eher als Moderator*innen agieren denn als Hüter*innen
5.2 Disziplin im Morgenkreis
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einer Ritualtradition. Die Kinder würden lernen, was ihnen für die Gewährleistung demokratischer Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse wirklich wichtig ist. Sie würden also auch über die Form des Rituals mitbestimmen. Trotz dieser Einwände gegen die Disziplinierung der Kinder durch die pädagogischen Fachkräfte hat sie aber auch positive Effekte: Aus meinen Beobachtungen und Interpretationen ergibt sich, dass die Disziplinierung den Kindern überhaupt erst ermöglicht und sie dazu anstiftet, bestimmte Praktiken zu vollziehen, wie etwa sich selbst zu schützen oder einer großen Gruppe von Personen etwas über sich selbst zu erzählen. Zwar können die Kinder im Morgenkreis/der Vollversammlung nicht mehr jederzeit sprechen, dafür aber vor einem größeren Publikum, wodurch sie ihren eigenen Ideen besser Ausdruck verleihen und ganz andere Spielpartner*innen gewinnen können als ohne disziplinierende Moderation. In den ritualisierten Übungen, deren Effekt ebenfalls eine diszipliniertere Atmosphäre ist, entsteht kurzzeitig und durch die Unterwerfung unter einen gemeinsamen Rhythmus eine Gemeinschaft Gleicher, eine Communitas im Sinne von Victor Turner (2005/1969). Wenn also die Sitzordnung und die pädagogische Ordnung als Struktur begriffen werden, sind diese in der Bewegungsübung temporär aufgehoben. In der Bewegungsübung sind (fast) alle gleich – Erwachsene wie Kinder. Sie alle unterwerfen sich dem gemeinsamen Rhythmus, den die Übung vorgibt, und den Befehlen der einen pädagogischen Fachkraft, die die Übung initiiert und anleitet. Das bedeutet, dass die Disziplinierungsmaßnahmen nicht ausschließlich einschränkend sind, sondern auch Möglichkeitsräume dafür eröffnen, egalitärere Machtbeziehungen zu erleben. Die Schlussfolgerungen lauten also: Statt den Fokus darauf zu legen, wie die von den pädagogischen Fachkräften gestaltete Form und Ritualisierung der Vollversammlung aufrechterhalten werden kann, sollte der Fokus darauf liegen, dass die Kinder ihre Anliegen, ihre Betroffenheit äußern und gemeinsam mit den Erwachsenen bearbeiten können. Es scheint nötig, andere Verfahren und Methoden für demokratische Bildungs- und Entscheidungsprozesse zu finden und dann auch zu ritualisieren, die die Kinder stärker beteiligen und weniger Disziplin(ierung) erfordern. In Bezug auf den Spielzeugtag ist abschließend zu sagen, dass er in den analysierten Sequenzen zum Anlass genommen wird, eine gesellschaftlich normierte Vorstellung von Eigentumsrechten zu etablieren, die Disziplin der Kinder herauszufordern bzw. zu verstärken und gleichzeitig ihre Fähigkeiten auszubauen, Regeln heimlich zu überschreiten. Das Spielzeug lenkt damit von den Inhalten der Vollversammlung ab – allerdings vor allem die Erwachsenen, die versuchen, die normale Ordnung der Versammlung durch Ermahnungen und Aufforderungen
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
durchzusetzen. Die Anwesenheit von Spielzeug bei gleichzeitiger Tabuisierung führt den Kindern deutlich vor Augen, dass die Vollversammlung kein Spiel ist und auch keins sein soll. So entsteht ein intensiver Übungsraum für die Selbstdisziplin der Kinder.
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen Die Bearbeitung von Differenzen ist nach Zirfas und Wulf (2001) eine zentrale Funktion von Ritualen (vgl. Abschnitt 3.4.3). Zirfas und Wulf fassen darunter sowohl die Erzeugung und Festschreibung als auch die versuchte Aufhebung von Differenz (Zirfas und Wulf 2001, S. 193). Indem Rituale den vermeintlich wichtigen Aspekten des Zusammenlebens Raum und Zeit geben, legen sie gleichzeitig fest, was als wichtig gilt, welche gemeinsamen Werte gültig sein sollen. Widersprüche, Unregelmäßigkeiten und Nebensächlichkeiten werden dabei ausgeklammert (Zirfas und Wulf 2001, S. 193 f.). Melanie Kuhn (2013) bezieht sich kritisch auf diese Ritualfunktion. Sie stimmt der Konzeption von Zirfas und Wulf soweit zu, dass Rituale Differenz erzeugen, bearbeiten und festsetzen, indem sie die am Ritual Teilnehmenden zu einer Gemeinschaft mit einem ‚Außen‘ machen. Sie weist aber bei dem Punkt „Differenz aufheben“ auf die Gefahr hin, sie dadurch zu essentialisieren. Denn wenn Rituale kulturelle Differenz temporär aufheben könnten, erscheint für Kuhn diese kulturelle Differenz (zumindest in den Texten von Wulf und Zirfas) nicht mehr als performativ erzeugt (Kuhn 2013, S. 199 f.). Zum Thema Differenzerzeugung/Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen in Kindertageseinrichtungen liegen bereits ausführliche Forschungsarbeiten vor (Jung 2009; Beyer 2013; Kuhn 2013; Machold 2015; vgl. auch den Sammelband von Diehm u. a. 2017). Im Folgenden möchte ich mich trotzdem näher mit der beobachteten Differenzerzeugung auseinandersetzen, weil sie in einem Spannungsverhältnis zur behaupteten Egalität der Vollversammlung steht. Die wichtigste Differenz, deren Herstellung im Rahmen der Forschung beobachtbar wurde, ist die zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften. Dieser Unterschied wird in nahezu allen Praktiken bedeutsam, ständig inszeniert und aktualisiert. Er wurde daher in den vorangegangenen Kapiteln in den Vordergrund gestellt. Aber auch die Kategorie „Kind“ wird intern differenziert, wie ich im nächsten Kapitel zeige. Die Differenzen nach Größenkategorien werden explizit gemacht. Zudem sind andere Differenzen während der Forschung bedeutsam in Erscheinung getreten, die in der Praxis jedoch nicht expliziert werden. Mit diesen werde ich mich in Abschnitt 5.3.2 näher befassen.
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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5.3.1 Offen thematisierte Untergliederung der Differenzkategorie „Kinder“ Bei genauerer Analyse zeigt sich, dass die Kategorie „Kinder“ in mehrere Unterkategorien unterteilt wird. Diese Unterkategorien werden nicht über das biologische Alter gebildet, sondern anhand der Praktiken, die die Kinder vollziehen. Sie werden aber konkret benannt. Es gibt die „Minis“, das sind die Kinder, die im Krippenbereich den Großteil ihres Tages verbringen; diese sind untergliedert in die „Kleinen“, die beim Mittagessen viel Unterstützung benötigen, und die „Großen“, die auf größeren Hockern sitzen und weitgehend selbstständig essen können. Die Krippenkinder und zwei PFK kommen und verteilen sich um die Tische. Dabei scheinen sie sich nach Alter zu sortieren. Ein Kind wirkt unzufrieden mit seinem Platz und wird gefragt, ob es lieber bei den Großen sitzen möchte. (P.27.03.14)
Die Sequenz verdeutlicht, dass die Krippenkinder sich selbst nach einer Größenkategorie sortieren. Einem der Kinder gelingt dies nicht, es wird dann pädagogisch angeleitet, den für es passenden Platz bei den „Großen“ zu finden. Die richtigen „Großen“ sind die Kinder, die am Morgenkreis im Elementarbereich teilnehmen. Die „Vorschulkinder“ bilden eine Unterkategorie der „Großen“, die am Vorschulangebot teilnehmen. Es wird für jedes Kind individuell geregelt, an welchen Aktivitäten es in den jeweiligen Gruppen teilnehmen darf, wie also der Übergang von Krippe zu Elementarbereich gestaltet ist. Darien macht z. B. Mittagsschlaf mit den Krippenkindern, nimmt aber am großen Morgenkreis teil. Fritz wechselt während meiner Beobachtungsphase von der Krippe in den großen Morgenkreis: Fritz (K) ist noch in der Krippe, wirkt aber recht reif. Er kann sich sprachlich artikulieren. Beim Frühstück fragt ihn Kerstin (PFK), ob er heute in den großen Morgenkreis gehen wolle. Er bejaht. Nach einer Weile sagt Kerstin: „Oh Fritz, ich habe vergessen, dass heute Vollversammlung ist. Geh lieber in den kleinen Morgenkreis, die Großen reden heute ganz, ganz viel.“ (P.08.05.14)
Obwohl ich als Beobachterin konstatiere, dass Fritz bereits sehr gut sprechen kann, scheint Kerstin ihn davor bewahren zu wollen, an der Vollversammlung teilzunehmen – mit dem Argument, dass dort „ganz viel geredet“ würde. Mit ihrem Ratschlag stellt sie zum einen in Frage, dass Fritz wirklich schon zu den
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Großen gehört. Zudem scheint sie auszuschließen, dass er, obwohl er noch ‚klein‘ ist, an den Inhalten der Vollversammlung interessiert sein könnte. Die Vollversammlung wird damit als eine Praktik für die ‚noch größeren‘ Kinder, für die ganz viel Reden kein Problem darstellt, entworfen. Meret ist jetzt Vorschulkind. Heute ist das erste Vorschulkinderangebot. Dabei dürfen auch diejenigen Kinder mitmachen, die noch nicht unbedingt nächstes Jahr in die Schule müssen, also die sogenannten Kann-Kinder. Diese testen das Angebot und entscheiden in zwei Wochen, ob sie weitermachen wollen. Erst dann wird Kerstin (PFK) ein Foto der Vorschulkinder aufnehmen. (P.28.08.14)
An dieser Sequenz wird deutlich, dass das Alter der Kinder bedeutsam für ihre Zuordnung zur Kategorie „Vorschulkinder“ ist, aber nicht allein ausschlaggebend. Für die Kann-Kinder gibt es eine individuelle Regelung mit einer Übergangsfrist von zwei Wochen. Danach wird die Teilnahme am Vorschulangebot verbindlich; die Zugehörigkeit zu den Vorschulkindern wird festgeschrieben, indem eine Fotografie von ihnen angefertigt wird. In Abschnitt 5.2.1 habe ich bereits den unterschiedlichen Grad der Disziplinierung durch die pädagogischen Fachkräfte angesprochen. Dieser richtet sich u. a. danach, welcher Größen-Kategorie die Kinder zugeordnet werden. Im täglich stattfindenden Zählritual werden die Kinder oft von den Erwachsenen dazu aufgefordert, die Fähigkeiten der anderen Kinder bzw. ihre Größe einzuschätzen und sie dieser Einschätzung entsprechend als Assistent*in oder Helfer*in auszuwählen: Der Erzieher (Florian, macht Praktikum) sagt zu Emma (K), dass sie noch ein jüngeres Kind, das noch nicht so gut zählen könne, als Helferin aussuchen solle. Emma tut dies und beginnt, zu zählen. (P.27.03.14)
Bei der Auswahl des helfenden Kindes soll Emma selbst darauf achten, ein jüngeres Kind zu nehmen, das noch nicht so gut zählen kann. So werden die Kinder an das Zählen herangeführt: Sie lernen es, indem sie es gemeinsam mit einem anderen Kind machen, dem Kind „helfen“. Das zählende Kind wird als älteres, wissendes Kind ausgezeichnet, dem zuzutrauen ist, das Können der anderen Kinder einzuschätzen. Eine Mentor*innen-Beziehung zwischen dem aussuchenden und dem ausgesuchten Kind entsteht, die die Beziehung zwischen pädagogischen Fachkräften als Lehrenden und Kindern als „helfenden“ Lernenden widerspiegelt. In meinen Protokollen tritt dies häufiger auf, mit unterschiedlichen Bezeichnungen für das Kind in der unterstützenden Rolle.
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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Kerstin (PFK) ruft ein Kind auf, das ein weiteres Kind als Assistenten aufruft. (P.05.06.14) Tina (PFK) schaut und ruft ein Kind mit Namen auf, das wiederum sich ein zweites Kind aussucht zum Helfen. (P.12.06.14)
Analog zur Rollenverteilung entlang der Kategorien Kinder – Erwachsene werden innerhalb der Gruppe der Kinder Rollen verteilt. Die Kinder werden daran beteiligt, den Entwicklungsstand bzw. das Können der anderen zu evaluieren. Daher beziehen sie sich auch selbst auf die Einteilung in eine Größen-Kategorie: Tina (PFK) sagt: „Alle Vorschulkinder hängen ihr Bild neben den Vorschulraum.“ Fritz (K) sagt: „Aber ich bin auch schon groß.“ Er steht auf und zeigt, wie groß er ist. (P.12.06.14)
Fritz bemerkt, dass mit den „Vorschulkindern“ eine noch höhere GrößenKategorie angesprochen ist, und demonstriert, dass er zwar noch kein Vorschulkind sein mag, aber trotzdem schon „groß“ ist. Am Ende, wenn jedes Angebot bereits vorgestellt und Kinder zugeteilt wurden, bleiben häufig 5-7 Kinder zurück, deren Fotos weiterhin an der Fotopinnwand hängen. Das sind üblicherweise die jüngeren Kinder. (P.19.06.14)
Diese Sequenz macht deutlich, dass die jüngeren Kinder formal zu den Großen gehören, wenn sie am entsprechenden Morgenkreis teilnehmen, aber nicht unbedingt schon alle Praktiken genauso kompetent vollziehen können wie die Kinder, die schon länger dabei sind. Sie kennen weder die Abläufe des Morgenkreises noch die Praktik der Angebote. Die jüngeren Kinder müssen nach dem Übergang in den Elementarbereich erst lernen, wie der Morgenkreis und wie die Angebotszeit sowie deren Vorbereitung funktionieren. Das zeigt sich daran, dass sie sich nicht so schnell für ein Angebot entscheiden bzw. ihre Entscheidung durch ein Handzeichen sowie das Anpinnen ihres Fotos neben das gewählte Angebot öffentlich machen können. Die Vorschulkinder, die sämtliche Kategorien durchlaufen haben, versuchen, die mit der Kategorie verbundenen Privilegien zu verteidigen: Punkt 2 der TO ist die Tatsache, dass die Computerarbeitsgruppe Regeln für die Computerbenutzung auch für die Nicht-Vorschulkinder entwickeln will, aber die Regel besteht, dass die überhaupt nicht an den Computer dürfen. Deshalb soll nun ein Meinungsbild erstellt werden, darüber, ob die Kinder es in Ordnung
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
fänden, dass auch Nicht-Vorschulkinder den PC benutzen dürfen. Als Verfahren werden die Smileys genutzt. 15 Kinder sind dafür, dass der PC den Vorschulkindern vorbehalten bleibt. 1 Kind ist unschlüssig. 12 Kinder sind dagegen. Einige Vorschulkinder freuen sich, weil es für sie besser steht. Tina (PFK) sagt aber: „Das war erst einmal nur ein Stimmungsbild und das ist ja nicht so richtig eindeutig.“ Mit Hilfe eines Kindes zeigt sie, dass nur drei Stimmen Unterschied sind. Sie sagt, dass daher die richtige Entscheidung noch gefunden werden müsse. (P.05.06.14)
Die Vorschulkinder wollen die Privilegien nicht aufgeben, die mit dem Status als Vorschulkind verbunden sind. Dass also auch die Kinder – vor allem die, die bereits den Statuswechsel zum Vorschulkind vollzogen haben – ein Interesse daran haben, unterschiedliche Statusgruppen beizubehalten, zeigt diese Abstimmung und zeigen auch die Regeln, die für die Nutzung des Vorschulraums durch Nicht-Vorschulkinder aufgestellt wurden. Auf diese Regeln werde ich in Abschnitt 5.4.1 zurückkommen. Dass überhaupt solche Regeln aufgestellt wurden, zeigt, dass eine Unterscheidung von verschieden „großen“ Kindern, die mit Privilegien, aber auch Erwartungen an die Fähigkeiten verbunden ist, erwünscht ist, und zwar von Kindern und Erwachsenen.
5.3.2 Differenzen, die nicht offen thematisiert werden Neben den offensichtlichen und thematisierten Differenzen zwischen Kindern und Erwachsenen und verschieden „großen“ Kindern kommen in der Kita andere Differenzen zum Tragen, die von den pädagogischen Fachkräften nicht vor oder mit den Kindern verbalisiert werden. Während die Größen-Kategorien von Erwachsenen und Kindern gemeinsam erzeugt und aufrechterhalten werden, wird die Ordnung anhand der Kategorie des Genders11 nicht so strikt eingehalten. Ich gehe in die Küche, wo Waltraut (Haushaltskraft) und Vera (PFK) sich um den Haushalt kümmern. Vera legt mit der Hilfe von zwei Jungen Lappen und Handtücher zusammen und räumt sie anschließend weg. Außerdem trägt sie einem Jungen auf, das Obst/Gemüse auf den Servierwagen zu stellen, der anschließend in das Rondell
11Ich gehe mit Judith Butler (1991) davon aus, dass Gender keine ‚natürliche‘ oder ‚vorgängige‘ Kategorie ist, sondern performativ hergestellt wird. Insofern lässt sich eine Trennung von biologischem und sozialem Geschlecht nicht aufrechterhalten, beide Kategorisierungen werden sozial konstruiert.
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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im Flur geräumt wird, wo die Kinder sich selbst jederzeit bedienen können, dann aber im Sitzen und in der Nähe des Servierwagens essen müssen. Auf dem Servierwagen stehen außerdem Plastikbecher und eine Karaffe mit Wasser. Zum Frühstück und Mittag gibt es immer „echte“ Gläser. Auf dem Weg zum Servierwagen fällt dem Jungen die Schüssel mit den Apfelstücken herunter. Der andere helfende Junge fordert einen Besen, bekommt einen Handfeger gereicht und fegt die Apfelstücke auf. (P.26.06.14)
Den die Kita besuchenden Kindern werden verschiedene Möglichkeiten des Ausprobierens von Geschlechterrollen eröffnet. In der Küche übernehmen zwei Jungen relativ routiniert Haushaltstätigkeiten, die in Deutschland nach wie vor überwiegend von Frauen erledigt werden (Hobler u. a. 2017). Dass zwei von mir als Frauen bezeichnete Personen in der Küche arbeiten, ist nicht weiter überraschend, weil der Großteil der in der Einrichtung arbeitenden Personen weiblichen Geschlechts ist und Waltraut speziell als Haushaltskraft eingestellt ist. Der einzige festangestellte Mann der Kita, Richard, ist zwar für die Holzwerkstatt und das Fußballspielen zuständig, betreut aber auch ein Nähangebot im Atelier: Einige andere Kinder müssen an dem Projekt T-Shirt-Nähen weitermachen, diese werden von Jenny (PFK) aufgerufen und hängen ihr Bild neben Richard (PFK), der heut im Atelier ist. (P.05.06.14)
Richard betreut das Atelier, in welchem die Kinder T-Shirts nähen. Nicht nur Richard, auch der Schülerpraktikant Lukas macht ein weiblich konnotiertes Angebot: Heute wird bei der Vorstellung der Angebote vergessen, das Angebot von Lukas, dem Schülerpraktikanten, der im Rahmen des Boys‘ Day in der Einrichtung ist, vorzustellen: Dieser will im Rollenspielraum das Puppenhaus (und zwei Kinder) betreuen. Schon bei der Führung am Morgen war er sehr fasziniert von dem Detailreichtum des Hauses. Nun sind aber bereits alle Kinder verteilt, als Jenny (PFK) einfällt, dass das Angebot vergessen wurde. Deshalb sagt sie den Kindern, arbeitsteilig mit einer deutschsprachigen PFK, dass sie das Angebot vergessen hätten, dass aber Kinder jetzt noch wechseln dürfen. Da sich jedoch kein Kind meldet, das wechseln will, soll Lukas bei einem anderen Angebot hospitieren. Die Kinder dürfen auch noch später wechseln. […] Ich treffe Jenny, die noch in den Vorbereitungen steckt. Ich frage sie, was passiert, wenn Kinder sich umentscheiden und sie sagt, dass Agneta (K) mit dem Puppenhaus spielen darf, obwohl sie raus wollte, weil das Angebot schließlich vergessen worden sei. (P.27.03.14)
Lukas darf im Rollenspielraum die Aufsicht übernehmen und dort mit zwei Kindern mit dem Puppenhaus spielen. Da das Angebot bei der Vorstellung
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
v ergessen wurde, wird die normale Regel, dass die Kinder die Angebote nicht wechseln dürfen, für den Tag suspendiert und damit sowohl Lukas als auch Agneta ermöglicht, mit dem Puppenhaus zu spielen. Wenn die Kategorie des Geschlechts als bedeutsam inszeniert wird, geht dies eher von den Kindern aus, wie in der folgenden Sequenz: Letzte Woche seien Lieder ausgesucht worden, die im Morgenkreis gesungen werden sollen. Es handelt sich um Märchenlieder. Safiya (K) meldet sich und sagt, dass gestern Dornröschen nicht ordentlich gesungen werden konnte, weil Kerstin (PFK) das Lied nicht kannte. Kerstin sagt: „Ich war doch gestern überhaupt nicht da. Aber ist okay.“ Jenny (PFK) fragt, ob dann also jetzt Sleeping Beauty gesungen werden solle, die Kinder bejahen. Dann werden Kinder ausgesucht, die die Charaktere des Lieds verkörpern: Narayan wird zur Sleeping Beauty auserkoren, daraufhin lacht eine Gruppe Mädchen. Kerstin und ich fragen gleichzeitig, was daran so lustig sei. Agneta (K): „Na, der ist doch ein Junge und spielt jetzt das Dornröschen!“ Ich sage: „Na, und?“ Es findet sich noch die Böse Fee (Darien) und der Prinz. Bei der Strophe, in der der Prinz Dornröschen wachküssen soll, lachen die Jungen und rufen „Iiiiih!“. Prinz und Sleeping Beauty sehen sehr verschämt aus, sie stehen mit roten Köpfen und gesenktem Blick in der Mitte des Kreises. (P.05.06.14)
Die Figuren des Märchen-Liedes werden von Kindern verkörpert. Dabei kommt es zu Irritationen über Geschlechterrollen. Einige Kinder reagieren mit Kichern auf die Verkörperung des Dornröschens durch ein als Jungen klassifiziertes Kind. Dieses Kichern wird durch die anwesenden Erwachsenen thematisiert und die Erklärung, dass dies lustig sei, relativ lapidar durch ein „Na, und?“ disqualifiziert. Warum es komisch für einige Kinder ist, dass ein Junge eine Frauenrolle spielt, geht nicht unmittelbar aus der Situation hervor, da es nicht weiter besprochen wird. Dennoch ist festzustellen, dass die Kinder, sobald sie Ordnungsregeln aus der sie umgebenden Welt herausgearbeitet haben, an diesen festhalten und auch zeigen, dass sie sie verstanden haben. Agneta hat also gelernt, dass es Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen gibt und dass diese Unterschiede festlegen, welche Handlungsmöglichkeiten bestehen. Indem sie über den Regelbruch kichert, bekräftigt sie die symbolische Ordnungsregel: Jungen und Mädchen sind unterschiedlich, Mädchen können Prinzessinnen sein, aber Jungen nicht. Eine weitere Irritation wird durch das im Lied besungene Küssen ausgelöst. Dabei bleibt unklar, ob es das Küssen von zwei Kindern an sich oder das Küssen von zwei Jungen ist, das die Kinder dazu bringt, gespielten Ekel zu zeigen. Dass es sich nicht um echten Ekel handelt, sondern um gespielten, wird durch das gleichzeitige Lachen deutlich. Ritualisiert werden Affekte aufgeführt, die die folgenden Regeln herstellen und bekräftigen: Kinder küssen sich nicht und zwei Jungen küssen sich nicht. Das Ergebnis ist, dass die beiden Jungen, die
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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die ‚falsche‘ Generationen- und Geschlechterrollen-Performance aufgeführt haben, sich sichtlich schämen. Hiernach erfolgt keine Intervention durch die Erwachsenen, wodurch die Ordnung bekräftigt bleibt. Nicht nur Spiele oder Gesang, auch das Spielzeug, das an bestimmten Tagen in die Kita mitgebracht werden darf, bietet den Kindern Anlass, an Unterschieden festzuhalten. Kerstin (PFK) sagt, dass heute Spielzeugtag sei und dass alle Kinder ihr Spielzeug hochheben sollen. Dann benennt sie die Spielzeuge: Puppen, Plüschtiere, Bücher, Arztkoffer, etc. Das Spielzeug sieht größtenteils hochwertig verarbeitet aus. Lilo (K) tuschelt mir zu: „Guck mal, der Junge hat ein Einhorn.“ Ich sage ja. (P.08.05.14)
Das Kind Lilo stellt es als eine Besonderheit dar, dass ein Junge ein Einhorn besitzt, indem sie dies kommentiert. Sie macht ihre Verwunderung nicht vor der gesamten Gemeinschaft öffentlich, sondern flüstert es mir zu. Entweder will sie die Regeln des Rituals nicht verletzen, die eine öffentliche Debatte über das Spielzeug auszuschließen scheinen, oder es ist für sie so ungebührlich, dass ein Junge ein Einhorn hat, dass sie es nicht laut aussprechen mag. Vielleicht ist sie sich nicht sicher, ob es ungebührlich ist und wartet meine Reaktion ab. In jedem Fall scheint es etwas Besonderes für sie zu sein, dass ein Clara Junge ein Einhorn besitzt. An der Verwunderung, die es bei Lilo auslöst, zeigt sich, dass das Spielzeug für die Kinder Bedeutung für ihre Selbst-Identifikation und auch für die Identifikation von anderen hat. Aber auch anhand der Hobbies und der Bekleidung werden GeschlechterrollenUnterschiede erkannt und verhandelt: Eines der Mädchen hat ein Deutschland-Trikot an und eine Deutschlandfahne auf der Wange. Meret (K) sagt zu mir: Da drüben sitzt ein Fußball-Mädchen. (P.26.06.14)
Meret scheint es nicht selbstverständlich zu finden, dass ein Mädchen ein Fußballtrikot sowie eine Nationalflagge auf der Wange trägt, sondern kommentiert dies. Sie bezeichnet das Mädchen als „Fußball-Mädchen“ und führt dadurch eine weitere Geschlechter-Kategorie ein: Neben Mädchen gibt es noch das Fußball-Mädchen. Mitunter kollidieren die von pädagogischen Fachkräften verwendeten Bezeichnungen mit dem Verständnis der Kinder: Kerstin (PFK) benennt die Kette eines Jungen fälschlicherweise als Orden oder Medaille, der Junge sagt: „Das ist eine Kette!“ (P.08.05.14)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Die Fachkraft Kerstin trägt entweder ihre eigene Vorstellung von geschlechtsgemäßem Schmuck an einen Jungen heran oder nimmt vorweg, dass dem Jungen eine männlich konnotierte oder zumindest neutrale Bezeichnung für das Schmuckstück wichtig ist. Die gewählte Bezeichnung als eine sportliche Auszeichnung wird von dem Kind korrigiert: Der Junge besteht auf der Bezeichnung „Kette“, die eher mit Schmuck für Frauen assoziiert wird. Warum das Kind auf dieser Bezeichnung besteht, ob es zum Beispiel die Bezeichnungen „Orden“ und „Medaille“ noch nicht kennt, bleibt unklar. Deutlich wird hingegen, dass es dem Kind keinesfalls egal ist, mit welcher Bezeichnung sein Besitz von anderen belegt wird. Es identifiziert sich mit der Kette und verteidigt seine eigene Deutung. Darüber, welchen Namen die Fachkraft für die Spielzeuge wählt, trägt sie Normvorstellungen an die Kinder heran, die in diesem Fall direkt in Frage gestellt werden. Der Widerspruch des Kindes wird weder aufgegriffen noch abgewertet, sondern die Position der Fachkraft und des Kindes bleiben einander einfach gegenübergestellt – wobei das Kind durchaus das letzte Wort hat. Insgesamt zeigt sich in der Praxis des Unterscheidens zwischen Geschlechtern eine Indifferenz der Erwachsenen. Sie fordern die Kinder nicht dazu auf, sich wie Jungen oder Mädchen zu verhalten, sie greifen aber auch nicht ein, wenn von Seiten der Kinder normative Geschlechts-Kategorien eingebracht werden. Obwohl die Einrichtung bilingual ist, habe ich in der Kita eine Ungleichbehandlung von bestimmten Kindern beobachtet, die Englisch als Familiensprache sprechen. Diese Kinder sind vor allem Darien und Pascal, aber auch Narayan. In Abschnitt 5.1.1 habe ich bereits beschrieben, wie Dariens Verhalten in der Öffentlichkeit eines Morgenkreises als unerwünscht klassifiziert und sanktioniert wird, indem Darien nicht für bestimmte Angebote ausgewählt wird. Die folgenden Sequenzen wurden nicht alle im Kontext des Morgenkreises/der Vollversammlung beobachtet, sondern ereigneten sich auch im Freispiel oder der Angebotszeit. Dadurch bieten sie einen guten kontrastierenden Vergleich zu den Disziplinierungspraktiken innerhalb der ritualisierten Praktiken der Demokratiebildung. Nicht immer tritt die Ungleichbehandlung von Darien und den anderen englischsprachigen Kindern als Sanktion auf. Häufiger zu beobachten ist, dass ein Privileg der englischsprachigen Kinder achtlos in Frage gestellt wird. Wir singen das Begrüßungslied auf Englisch, wie immer. Dann, ich denke um Zeit zu schinden, fragt Amina (PFK), ob man das auch auf Deutsch singen könne. Sie übersetzt es singend auf Deutsch. Darien (K) ruft die ganze Zeit: „Nein, nein, nein!“. (P.23.10.14)
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
233
Diesen Ausschnitt aus dem Protokoll habe ich bereits in Abschnitt 5.1.1 herangezogen. Nun möchte ich auf den Protest von Darien eingehen. Die Vehemenz, mit der er sein „Nein“ wiederholt, deutet darauf hin, dass er nicht damit einverstanden ist, dass der gewohnte Ablauf verändert wird, oder dass eines der wichtigsten englischsprachigen Elemente abgewandelt und in die Mehrheitssprache Deutsch übersetzt wird. Letzteres würde bedeuten, dass das Lied als Anerkennung der anderen offiziellen Sprache der Kita fungiert, die auch die Familiensprache einer Minderheit der die Kita besuchenden Kinder ist. Durch das Singen auf Englisch können die Kinder, die im Deutschen Schwierigkeiten haben, die Erfahrung machen, dass sie etwas gut beherrschen. Diese regelmäßige positive Erfahrung sieht Darien nun in Gefahr. Eine andere Situation, in der Darien nicht übersetzen möchte, ereignet sich auch während einer Erzählrunde im Morgenkreis. Darien (K) ist dran: „With Narayan we had a party and I ate gummibears and then I was very strong and we had costumes and somebody thought I was Spiderman but I wasn’t and then I went to bed with my costume“. Die Kinder lachen. Kerstin (PFK) versteht nicht, was Darien erzählt hat. Sie fragt ihn, ob er das mal auf Deutsch sagen könne. Er verneint. Kerstin fragt Narayan (K), ob er es übersetzen könne. Narayan erzählt, was Darien gesagt hat. Die Kinder lachen wieder, als er sagt, dass Darien in seinem Kostüm ins Bett gegangen sei. (P.23.10.14)
Kerstin versteht nicht, was Darien erzählt. Die anderen Kinder schon, sie lachen mit Darien über seine Geschichte. Darien verwehrt sich dagegen, seine lustige Geschichte in der Mehrheitssprache zu erzählen. Dies könnte bedeuten, dass er es genießt, zur Abwechslung etwas zu können oder zu wissen, was Kerstin als Erwachsene nicht kann. Es könnte auch bedeuten, dass ihm die für die Übersetzung notwendigen Fähigkeiten noch fehlen, dass er noch nicht gut genug Deutsch spricht. Kerstins Frage nach dem Übersetzen überführt die Gesprächsrunde in eine Prüfungssituation, der sich Darien nicht aussetzen will. Die Situation wird schließlich aufgelöst, weil Narayan Kerstin zu Hilfe kommt und für sie übersetzt. Auch für die Beteiligung in der Vollversammlung hat die Achtlosigkeit der pädagogischen Fachkräfte Konsequenzen: Über diese Vorschläge soll nun abgestimmt werden. Dabei fällt mir auf, dass das Lied, das Darien (K) gedichtet hat, von den Fachkräften einfach umgetextet wurde, weil der Text nicht einhundertprozentig zu den Aktivitäten passt, die das Lied einleiten soll. Das Lied geht so: “Jogging, jogging, we are jogging”. Es gehen aber nicht alle Kinder joggen, manche machen auch ein Bewegungsspiel. Tina (PFK)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
hat aus Dariens Lied “Move it, move it” gemacht. Dieses Lied hat sie dann in die Abstimmung eingebracht, ohne dass sie es Darien noch einmal erklärt hätte. Ich sage ihr hinterher, dass ich das schade finde, dass sie zwar nach Vorschlägen der Kinder gefragt hat, diese dann aber in der Abstimmung nicht auftauchen. Tina ist sehr einsichtig und besorgt. Sie berichtet mit später, dass sie noch einmal zu Darien gegangen sei und ihn gefragt habe, ob neu abgestimmt werden solle, weil die Ergebnisse ja nun verfälscht seien, weil sie seinen Song verändert habe. (P.28.08.14)
Darien hat einen Vorschlag für ein neues Lied zum Abschluss des Morgenkreises gemacht, der von Tina vor der Abstimmung und ohne Rücksprache mit ihm oder anderen Kindern ‚verbessert‘ wurde. Es wurde an die Realität angepasst, dass die Kinder nicht alle joggen, sondern auch ein Bewegungsspiel möglich ist. Hinter der Änderung steckt kein Argwohn oder böse Absicht, sondern lediglich eine Achtlosigkeit, wie sich im klärenden Gespräch hinterher zeigt. Trotzdem zeigt sich, dass der Vorschlag von Darien nicht den ihm gebührenden Respekt erhält. Ob das nur daran liegt, dass er ein Kind ist oder dass Tina und Darien verschiedene Sprachen sprechen, bleibt offen. In den Beobachtungsprotokollen kommt häufiger vor, dass Darien (und Pascal) sanktioniert werden. Plötzlich hat Elias (K) einen Hausschuh in der Hand und wirft damit in Richtung Darien (K). Darien hebt ihn auf und wirft ihn zurück. So geht das hin und her. Sie werfen mit viel Kraft, sodass ich Angst bekomme, dass ein Kind getroffen wird. Ich greife aber nicht ein. Nemo (K) wirkt besorgt, er schnappt sich den zweiten Schuh, fuchtelt mit ihm in der Hand herum und beschwert sich bei Darien und Elias darüber, dass sie mit seinem Hausschuh spielen. Er fordert sie lispelnd auf, den Schuh herzugeben. Die beiden hören nicht auf ihn. Ein zweites Kind wirkt ebenfalls besorgt und steht neben Nemo. Ich beginne, mich unwohl zu fühlen, aber keines der Kinder will Unterstützung von mir. Das zweite Kind läuft aus dem Raum und Nemo sagt: „Kind XY geht jetzt und sagt es.“ Darien und Elias beschließen, den Schuh in die Balltonne zu werfen. Nemo ruft, dass sie das nicht dürfen, aber Elias wirft den Schuh in die Tonne. […] Richard (PFK) nimmt Elias und Darien, setzt sie auf die Bank und schimpft leise mit ihnen. Dabei spricht und schaut er aber hauptsächlich Darien an. (P.16.10.14)
In der Sequenz geht es eigentlich um einen Konflikt zwischen Elias, Darien und Nemo. Darien und Elias spielen mit einem Hausschuh von Nemo gegen dessen Willen Ball und werfen ihn nach der Androhung einer Sanktion schließlich in die Tonne. Der Konflikt zwischen den Kindern wird dadurch gelöst, dass ein kompetenter Erwachsener geholt wird, der nun die Aufgabe übernimmt, mit den Kindern zu schimpfen. Bei der Beobachtung dieser Praxis fällt auf, dass hauptsächlich Darien adressiert wird, obwohl Elias genauso an
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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dem Spiel beteiligt war. Er war es, der das Spiel begonnen und den Schuh in die Tonne geworfen hat. Die pädagogische Fachkraft Richard hat, anders als ich, nicht beobachten können, wie der Konflikt entstanden ist, und richtet sich nach den Erfahrungswerten mit den beiden Kindern. Dass er hauptsächlich mit Darien schimpft, zeigt, dass dieser als Verursacher von Störungen markiert ist. Auch in der Vollversammlung wird hauptsächlich Darien gemaßregelt: J1: Vollversammlung! Tina (PFK): Darien, klappt das mit dir da und Pascal? Oder musst du lieber woanders sitzen? Darien (K): A why Pascal- Maximilian was crying and then Pascal pushed meTina: Kannst du später erzählen, Darien. Kerstin (PFK): Paul, setzt du dich jetzt bitte in den Kreis? Tina: So, deswegen ich heiße euch herzlich willkommen, na- zurück nach unserer Schließzeit und zu unserer ersten Vollversammlung. Ich hab wieder eine Tagesordnung aufgestellt, das heißtDarien: Na, you goTina: Darien! Es reicht! (.) Ja? (.) (T.21.08.14)
In dieser Sequenz wird Darien gemaßregelt und erhält überdies keine Möglichkeit, sich zu rechtfertigen. Er versucht es zwar, wird aber unterbrochen mit dem Verweis darauf, dass später dafür Zeit sei. Pascal und er sollen auseinandergesetzt werden – eine übliche Praxis zum Umgang mit Konflikten unter Kindern in der Vollversammlung (vgl. Abschnitt 5.2.2). Nach einer als freundliche Nachfrage getarnten Aufforderung, sich selbst zu disziplinieren, weist Tina Darien noch einmal relativ scharf zurecht. In der folgenden Sequenz wird Feuer-Wasser-Blitz gespielt. Kinder, die ausscheiden, werden gebeten, sich hinzusetzen: Irgendwann sagt sie [Kerstin, PFK]: „Darien, setzt du dich hin bitte?“ Darien (K) setzt sich genau vor meine Füße. Er sagt zu Narayan (K), der ebenfalls bereits ausgeschieden ist: „I did not win“. Narayan: „We will be winner“. Darien: „We are not winning. Because we are so, so, so slow”. Pascal (K) kommt dazu. Darien: “We are not winning”. (P.23.10.14)
Die Kinder haben feine Antennen für die Ungleichbehandlung: Darien, Pascal und Narayan identifizieren sich nach einer Weile selbst als eine Gruppe. Darien
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
übernimmt das Angebot einer Gruppenzugehörigkeit von Narayan. Zunächst spricht er nur davon, dass er nicht gewonnen hat, dann sagt Narayan, dass sie als Gruppe noch Gewinner sein werden. Darien verneint dies und begründet das damit, dass sie viel zu langsam seien. Schließlich scheidet auch noch Pascal aus und Darien wiederholt, dass sie als Gruppe nicht gewinnen. Was weder in meinen Beobachtungsprotokollen vorkommt, noch durch die pädagogischen Fachkräfte oder Kinder thematisiert wird, ist, dass Darien, Pascal und Narayan als ‚People of Color‘ (PoC)12 eine Einrichtung besuchen, in der die Mehrheit weiß ist. Dass dies von mir in meinen Protokollen nicht expliziert wird, spiegelt wider, dass es auch von den Erwachsenen oder Kindern in der Einrichtung nicht thematisiert wird. Das heißt aber nicht, dass es nicht trotzdem wirkmächtig ist, denn in der Verschränkung mit der Differenzkategorie Familiensprache, die immerhin die zweite offizielle Sprache der Kita ist, führt es dazu, dass die Kinder sich als Gruppe sehen, die nicht gewinnt, weil sie „zu langsam ist“. Auch auf andere Weise wird deutlich, dass die Ungleichbehandlung Folgen zeigt: Alle Kinder lernen, wer im Zweifelsfall zu beschuldigen ist: Sie [Agneta, Kind] zeigt mir den Umschlag eines Pixie-Buchs, das keine Seiten mehr enthält. Ich sage ihr, sie soll den Rest suchen, bestimmt sei er noch irgendwo in der Bücherkiste zu finden. Sie findet ihn tatsächlich und zeigt ihn her. Lilli (K) kommt und setzt sich neben sie. Sie sagt: „Jetzt ist das kaputt. Wer war das? Vielleicht Darien oder Toni.“ (P.02.10.14)
Die Kinder merken, wer anders behandelt wird und integrieren dies in ihr Weltbild. Hier wird mit Darien ein Kind beschuldigt, das auch von den Erwachsenen häufig für etwas ermahnt und gemaßregelt wird. Mit Toni wird ein anderes Kind verdächtigt, das von den Praktiken besondert wird. Toni wird als „Integrationskind“ oder auch „I-Kind“ in der Kita betreut und auf der Basis der Diagnose anders behandelt als die anderen Kinder. In Abschnitt 5.2.1 habe ich dargelegt, dass er nicht wie die anderen Kinder ermahnt
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den Bezeichnungen PoC (People/Person of Color) und „Schwarz“ handelt es sich um Selbstbezeichnungen von Menschen, die Rassismus erfahren und von einer sich implizit als „weiß“ verstehenden Mehrheit als „anders“ markiert werden. Die Bezeichnungen sollen deutlich machen, dass es nicht um den Hautton oder die Haarfarbe geht, sondern um gesellschaftlich konstruierte Kategorien, die mit bestimmten Privilegien bzw. Diskriminierung verbunden sind.
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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und aufgefordert wird, sich diszipliniert zu verhalten. Darüber hinaus wird er mehr als die anderen Kinder auf den Arm oder den Schoß genommen. Manche Kinder werden häufiger aufgerufen, sich hinzusetzen und still zu verhalten. Toni als „Integrationskind“ darf mehr Unruhe in die Gruppe bringen, darf sich mehr bewegen und lauter sein. Er hat häufiger als andere Kinder Körperkontakt zu einer erwachsenen Person. (P.12.06.14)
Toni wird ein Sonderstatus zugesprochen, weil er eine Diagnose als „Integrationskind“ hat. Er muss seine Bewegungen und Lautstärke weniger als die anderen Kinder anpassen. Die Differenzkategorie „Behinderung“ wird von mir benutzt, um Unterschiede zu suchen, wodurch die Unterscheidung in meinen Protokollen bedeutsam wird. Mir ist jedoch eine Besonderung von Toni aufgefallen, bevor ich von seinem ‚Status‘ wusste: Waltraut (Haushaltskraft) bittet einzelne Kinder, fertig zu essen und dann hinaus zu gehen, weil noch so viele Kinder essen wollen. […] Ein Kind zerlegt sein Hühnerbein in winzige Stückchen, bis ihm eine PFK sagt, dass er das Stück nun essen könne, da ganz sicher kein Knochen mehr drin sei. Das Kind braucht 40 Minuten, um das Fleisch zu essen. Außerdem wird es häufiger als andere auf den Arm genommen und gestreichelt. Später erfahre ich, dass es sich um ein sogenanntes „Integrationskind“ handelt. (P.27.03.14)
Das Kind namens Toni fällt mir dadurch auf, dass es besonders lange isst und besonders zärtlich behandelt wird. Den Hinweis, dass Toni ein Integrationskind ist, erhalte ich erst später. Toni (K) sitzt die ersten 10 Minuten in der Tonne in der Ecke des Raumes, in der außerdem die Bälle aufbewahrt werden. Nach einer Weile klettert er aus der Tonne heraus. Später darf er für die Abstimmung Wäscheklammern verteilen. Das klappt sehr gut, er macht es ruhig und bedächtig. Er versucht, auch mir eine Wäscheklammer zu geben, aber ich lehne ab. […] Nachdem Toni alle Wäscheklammern verteilt hat, bleibt er in der Mitte sitzen und legt sich später sogar hin. Er wird nicht ermahnt. (P.28.08.14) Während Tina (PFK) erzählt, rutschen immer wieder Kinder auf den Boden vor ihrem Platz. Toni sitzt in der Tonne mit den Bällen. (P.02.10.14)
Anders als die anderen Kinder muss sich Toni nicht in die Sitzordnung einfügen, sondern darf in der Balltonne sitzen und sogar während der Vollversammlung seine Position wechseln. An Tonis Verhalten werden andere Normen herangetragen und deren Einhaltung weniger streng gehandhabt. Er wird seinen
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
(angenommenen) Fähigkeiten entsprechend in den Ablauf der Vollversammlung eingebunden. Es wird jedoch nicht explizit gemacht, dass und warum für Toni andere Regeln gelten. Die Bezeichnung als „I-Kind“ wird auch nur dann von den pädagogischen Fachkräften verwendet, wenn sie sich untereinander oder mit mir unterhalten.
5.3.3 Zwischenfazit zur Herstellung von Differenzen Ohne die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen gäbe es keine Notwendigkeit für die Existenz von Kindertageseinrichtungen, d. h. allein ihr Vorhandensein reproduziert die generationale Ordnung. Meine Ergebnisse zeigen, dass die generationale Ordnung innerhalb der Kita die spezifische Form einer pädagogischen Ordnung annimmt, die eben auch durch die Ritualisierungen in Morgenkreis und Vollversammlung hergestellt wird, und die durch demokratische Partizipation eigentlich transformiert werden soll. Die Analyse der Herstellung von bzw. Umgangsweise mit Differenzen zeigt, dass es verschiedene Muster der Bearbeitung gibt: Die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen sowie verschieden „großer“ Kinder wird offen thematisiert. Die Kinder werden nach verschiedenen „Größen“ kategorisiert, die mit bestimmten Erwartungen an ihr Verhalten, aber auch mit Privilegien verknüpft sind. Die Einteilung in diese Kategorien basiert auf den wahrgenommenen Fähigkeiten der Kinder. Sie werden von Erwachsenen und Kindern stets aktualisiert, die ranghöheren Größenkategorien werden als erstrebenswert dargestellt. Die Kinder beziehen sich positiv auf ‚ihre‘ Größenkategorie. Neben der Differenz Kinder-Erwachsene werden in der Kita Seitenstraße andere Differenzen relevant: Gender, Familiensprache – verschränkt mit zugeschriebener Ethnizität – und Behinderung. Der Umgang mit diesen anderen Differenzen ist im Vergleich subtiler und komplexer. Die Differenz Gender wird nicht offensiv hergestellt. Eine Klassifizierung nach dieser Kategorie wird von den Erwachsenen nicht gefördert. Selbst wenn auf ihrer Basis Konflikte entstehen, werden diese nicht aufgegriffen und diskursiv bearbeitet. Einwände der Kinder werden stattdessen – auch von mir als Forscherin – mit einem „Na, und?“ abgetan. Da die Kategorisierung nach Gender und sexueller Orientierung gesellschaftlich diskriminierungsrelevant ist, reicht es allerdings nicht aus, in der Kita Konflikte darüber, was als konform gelten kann und was nicht, abzutun, sondern es müsste in Konfliktsituationen stärker interveniert werden, um nicht gesellschaftliche Normvorstellungen unhinterfragt zu reproduzieren.
5.3 Herstellung von und Umgang mit Differenzen
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Die Herstellung der Differenz Familiensprache ist subtil, weil die Kita bilingual ist, und mit der Differenzkategorie Ethnizität verschränkt. In bilingualen Kindertageseinrichtungen in der Schweiz haben Kuhn und Neumann (2017) zum Umgang mit Mehrsprachigkeit geforscht. Sie stellen fest, dass es in den Kitas häufig ein Sprachregime gibt, das eine der beiden Sprachen (Deutsch und Französisch) bevorzugt. In den beobachteten Kitas in der Schweiz ist das – kontraintuitiv – die Sprache der Minderheit. Kuhn und Neumann legen dar, was das für Bildungsprozesse der Kinder bedeuten kann: Zum einen würden die Kinder, die als Familiensprache die Minderheitensprache sprechen, durch das Sprachregime zunächst empowert, die Mehrheitssprache würde abgewertet. Dies hätte allerdings langfristig die Folge, dass die Kinder der Minderheit die Mehrheitssprache weniger gut erlernen würden, wodurch sie möglicherweise nach dem Wechsel in die Schule im Nachteil seien. Kinder, deren Familiensprache keine der beiden Sprachen sei, würden von der Bevorzugung der Minderheitensprache kaum profitieren, weil sie diese in der Schule nicht mehr anwenden könnten und sie später als Fremdsprache neu lernen müssten (Kuhn und Neumann 2017, S. 289). In den Schweizer Kitas liegt das daran, dass die Leiter*innen von den Fachkräften verlangen, dass sie die Minderheitensprache sprechen und auch die Eltern dazu animieren (Kuhn und Neumann 2017, S. 287). In der von mir beobachteten Kita soll hingegen durch einen One Person One Language Ansatz verhindert werden, dass eine der beiden Sprachen die andere dominiert. Da jedoch alle Fachkräfte Deutsch sprechen und einige zusätzlich Englisch, können alle Fachkräfte auf Deutsch getätigte Aussagen verstehen und brauchen für englische Äußerungen mitunter eine Übersetzung. Ähnlich wie in den Beobachtungen von Kuhn/Neumann entsteht auch durch diesen Ansatz ein „generational geordnetes Sprachregime“ (Kuhn und Neumann 2017, S. 288): Die Kinder dürfen und sollen beide Sprachen sprechen, die pädagogischen Fachkräfte und die Leiterin vor den Kindern jeweils nur eine. In den ritualisierten Praktiken des Morgenkreises löst sich diese Unterscheidung auf: Hier singen alle gemeinsam auf Englisch und es ist prinzipiell Raum, etwas auf Englisch zu erzählen. Da zwar alle Fachkräfte Deutsch verstehen, aber nicht alle auch Englisch, wird die Bilingualität immer wieder in eine Richtung aufgelöst und dadurch ein Sprachregime eingeführt: Nie wird etwas vom Deutschen ins Englische übersetzt, sondern immer nur vom Englischen ins Deutsche. Das könnte ein Grund dafür sein, dass Darien die Vorschläge, seine familiensprachlichen Bestandteile des Morgenkreises/der Vollversammlung auf Deutsch zu praktizieren, ablehnt. Zudem zeigt sich ein deutliches Zusammengehörigkeitsgefühl der PoC-Jungen mit der Familiensprache Englisch. Die Differenzkategorie ‚Ethnizität‘ oder
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
‚race‘ wird im Vergleich zu den vorangegangenen überhaupt nicht thematisiert – weder von pädagogischen Fachkräften, noch von den Kindern, noch von mir in den Protokollen. Trotzdem wird durch meine Beobachtungen deutlich, dass Darien und Pascal häufig ermahnt, gemaßregelt und umgesetzt und damit anders behandelt werden. Insbesondere Darien wird sowohl von einer pädagogischen Fachkraft als auch einem Kind automatisch als Haupttäter oder Tatverdächtiger angenommen. Er wird von den Anderen von der Teilnahme an Angeboten ausgeschlossen. Basierend auf der Kategorisierung als „Integrationskind“, die verklausuliert, dass eine diagnostizierte Behinderung vorliegt, wird ein Kind dadurch, dass von ihm nicht das gleiche Maß an Disziplin abverlangt wird, besondert: Toni ist der einzige, der nicht zur Einhaltung der Sitzordnung ermahnt wird und spielen darf, während die anderen Kinder ordentlich sitzen müssen. Sowohl die Kategorie ‚Größe‘ als auch die ‚Behinderung‘ stehen in einem Zusammenhang mit den wahrgenommenen Fähigkeiten der Kinder. Im Vergleich der beiden Kategorien wird deutlich, dass die nicht als ‚behindert‘ kategorisierten Kinder als individuell unterschiedlich fähig aufgefasst werden und das sogenannte Integrationskind als ‚anders‘ fähig. Die subtilen Unterscheidungen, die vor den Kindern nicht angesprochen werden, führen dazu, dass andere Kinder diejenigen, die besondert werden, z. B. verdächtigen das Buch zerstört zu haben. Sie überführen die Differenzen in ihr Weltbild. Der Umgang mit Differenz ist eines der zentralen Dilemmata im elementarpädagogischen Alltag (Kuhn 2013, S. 214 ff.). Das Dilemma ergibt sich für die pädagogischen Fachkräfte aus der Frage, ob und wie Differenzen thematisiert oder nicht thematisiert werden sollen: „Auf der Mikroebene des pädagogischen Alltags spannt sich das Dilemma der Differenz in erster Linie entlang des Aspekts ihrer (De-)Thematisierung auf, wobei die Thematisierung von Differenz zu ihrer Besonderung beiträgt und ihre De-Thematisierung einer Nichtberücksichtigung, Ausblendung und Ausgrenzung gleichkommt“ (Kuhn 2013, S. 224). Den Status eines Dilemmas hat die Frage, weil es nicht die eine ‚perfekte‘ Lösung für die pädagogischen Fachkräfte gibt. Meine Beobachtungen zeigen, dass das Dilemma je nach Differenzkategorie unterschiedlich bearbeitet wird. Die Differenzierung nach Größe der Kinder wird offen thematisiert und dadurch transparent gemacht. Die Differenzierung nach Gender, Familiensprache, oder Behinderung wird hingegen nicht thematisiert; sie findet jedoch trotzdem Eingang in die Kita, weil gesellschaftlich nach diesen Kategorien differenziert wird.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Wie jede andere Institution sind auch Kitas von gesellschaftlichen Machtstrukturen durchzogen, die bestimmte Personenkategorien und soziale Gruppen diskriminieren bzw. diese Diskriminierung reproduzieren: „Pädagogische Institutionen und Organisationen, mehr noch: das Bildungssystem im Gesamt, sind maßgeblich beteiligt an der Re-Produktion von ungleichheitsrelevanter Differenz, mithin auch von Ungleichheit“ (Diehm u. a. 2017, S. 1). Die Unterschiedlichkeit in der Bearbeitung verschiedener Differenzkategorien hängt m.E. damit zusammen, dass auch die Kategorien, nach denen differenziert wird, unterschiedliche Qualitäten haben: Aus der Differenzkategorie Kinder oder auch „Minis“ wachsen alle irgendwann heraus. Die Kategorien sind zwar mit Ungleichheit in Bezug auf gesellschaftliche Teilhabe und Teilnahme verknüpft, aber es sind stets neue Personen – und auch nur temporär – davon betroffen bzw. damit gemeint. Bei den Differenzlinien Gender, Familiensprache und Behinderung ist das anders, ihnen entwächst man nicht ohne weiteres. Sie sind nicht in allen Situationen von Bedeutung, aber für die durch sie markierten Individuen biographisch langfristig relevant – solange sie für Diskriminierung und Ungleichheit genutzt werden. Die erzeugten Differenzen haben durchaus Auswirkungen auf die demokratische Beteiligung der Kinder in der Vollversammlung. Sie führen jedoch nicht zu systematischen Benachteiligungen der als different markierten Kinder in der Vollversammlung. Dort ist die Differenzkategorie Kinder-Erwachsene, also die generationale Ordnung entscheidend, wie ich im folgenden Kapitel zeige.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder Rancières Demokratietheorie basiert zentral darauf, dass die polizeiliche Ordnung, die festlegt, wer etwas zu sagen hat und wer nur gezählt wird, dessen Stimme aber als Lärm wahrgenommen wird, unterbrochen wird (Rancière 2002, S. 108). Im Zuge meiner Forschung wurde deutlich, dass die polizeiliche Ordnung auf der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen basiert und rituell hergestellt wird: Die erwachsenen pädagogischen Fachkräfte sind vernunftbegabt und sprechen, die Kinder werden als unvernünftige, lärmende Wesen wahrgenommen und behandelt, d. h. „unvernommen“. Gleichzeitig hatte sich die Kita aufgemacht, das Verhältnis, d. h. die pädagogische Ordnung der Kita, neu auszuloten und in der Vollversammlung die Stimme der Kinder zu vernehmen.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Formell wurde dies auch eingelöst, schaut man sich die Praktiken aber genauer an, wird deutlich, dass es den Erwachsenen trotz der Durchführung von Gremiensitzungen zur demokratischen Beteiligung der Kinder gelingt, die Anliegen der Kinder unbearbeitet zu lassen. Anhand einiger Beispiele werde ich die verschiedenen Verfahren darstellen, wie die pädagogischen Fachkräfte mit den Anliegen der Kinder in der Vollversammlung umgehen. Eines dieser Verfahren ist es, die Versammlungen mit Wiederholungen und/oder mit eigenen Themen der Erwachsenen auszufüllen (Abschnitt 5.4.1). Ein anderes Verfahren ist es, eine AG-Gründung vorzuschlagen, diese auf die nächste Sitzung zu verschieben, das zu verschleppen und schließlich das Problem ohne Gremium zu lösen (Abschnitt 5.4.2). Eine weitere Vorgehensweise ist, auf die Einhaltung des formalen Verfahrens mit einem Vorschlagsumschlag zu bestehen, statt ad hoc Themen in die Tagesordnung aufzunehmen (Abschnitt 5.4.3). Die vierte vorgestellte Verfahrensweise ist, Probleme und Anliegen als individuell zu klassifizieren und sie dialogisch lösen zu wollen (Abschnitt 5.4.3). Die letztgenannte Praktik birgt aber das Potential, dass durch eine Solidarisierung der Kinder miteinander die Anliegen doch bearbeitet werden müssen.
5.4.1 Tagesordnung und Themen der Erwachsenen ausbreiten Das am häufigsten beobachtete Verfahren des Nicht-Bearbeitens von Anliegen in der Vollversammlung ist, die für die Erwachsenen relevanten oder von ihnen eingebrachten Themen so auszubreiten, dass kein Raum mehr für andere Themen bleibt. Dies fängt bei dem gemeinsamen „Lesen“ der Tagesordnung an, geht über das Wiederholen bereits bekannter Regeln und hört beim Einbringen eigener Themen auf.
Tagesordnung lesen Die Praxis des gemeinsamen Entzifferns der Tagesordnung oder eines Protokolls habe ich bereits in Abschnitt 5.1.2 analysiert. Nun möchte ich das Thema unter einem anderen Gesichtspunkt wieder aufgreifen: Das gemeinsame Lesen übt eine gemeinsame Praxis des Protokollierens und einer tradierten Symbolsprache ein, es nimmt aber auch den eigentlichen Anliegen der Kinder Zeit. In folgendem Abschnitt wird dies sehr deutlich:
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Tina (PFK): So, deswegen ich heiße euch herzlich willkommen, nazurück nach unserer Schließzeit und zu unserer ersten Vollversammlung. Ich hab wieder eine Tagesordnung aufgestellt, das heißtDarien (K): No, you goTina: Darien! Es reicht! (.) Ja? (.) Äh, was wir heute alles besprechen wollen. (2) Soll ich das erklären oder wollt ihr das selbst erklären? Was meint ihr? Nemo (K): Bei der Musik könntest du das Felix und uns das bitte erklären. Wir wissen nicht, was das istTina ((erfreut)): Ach hallo Felix. (.) Ahja, das ist gut. Aber was ist das hier? Chor: Ein Computer. Tina: Genau, und was ist das hier? Darien (K): Circle. Nemo: Kinder. Tina: Genau. Ich möchte nochmal mit äh (.) euch über die Arbeits gruppe Kerstin (PFK): Shhhhh, Darien. Tina: für den Computer im Vorschulraum sprechen. Tina: Das zweite istNemo und andere: Holzwerkstatt. Tina: Genau. Könnt ihr euch bitte melden? Das ist mir ein bisschen lieber dann kann ich euch drannehmen und dann ist es auch nicht unfair weil ich dann auch kucken kann, dass immer andere drankommen. Kerstin: °Paul, kommst du jetzt bitte in den Kreis?° Tina: Und was ist das hier wieder für ein Zeichen, Ben? Darien: A circle. Ben (K): °Äh, die Vorschulkinder?° Kerstin: Paul, ich möchte jetzt nicht aufstehen und dich (in den Kreis setzen), °jetzt setz dich bitte in den Kreis.° Tina: Hmja? Fast, Darien: The circle. Tina: Nemo? Nemo: Das=sind Kinder. Tina: Genau. Da geht es um die Arbeitsgruppe für die Holzwerkstatt. Nemo: Genau. Tina: Die müssen wir ja auch mal anfangen. (.) Und der dritte, was bedeutet das hier? Das hat Darien schon ganz oft gesagt, was ist das hier? Darien: The circle.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Tina: Genau, ein Kreis. Und was haben wir hier? Nemo: Noten K2: Noten K3 Noten Tina: Wir haben ja unseren Morgenkreis verändert, (.) und (.) ähm. Da wollte ich einmal was mit einem Lied machen=besprechen. Aber wir fangen vorne an. Es geht um die Arbeitsgruppe für den Computer im Vorschulraum. […](T.21.08.14)
Tina macht den Kindern das Angebot, dass sie entscheiden, wer die Tagesordnung vorstellt: Sie oder alle gemeinsam. Nemo fasst das so auf, dass die unstrittigen Punkte übersprungen werden können, wodurch Zeit gespart würde, und bittet darum, einen Teil der Tagesordnung, den er (und sein bester Freund Felix) noch nicht lesen können, erklärt zu bekommen. Tina kommentiert zunächst erfreut die Anwesenheit von Felix, die sie durch Nemos Redebeitrag zum ersten Mal wahrzunehmen scheint. Danach geht sie jedoch nicht auf Nemos Versuch der Abkürzung des Verfahrens ein, sondern fängt ganz oben auf der Tagesordnung an, die Symbole zu besprechen. Sie tut dies im Modus eines Unterrichtsgesprächs. Dass es ihr bei der Zuteilung des Rederechts auf Fairness ankommt, macht sie selbst deutlich: „Genau. Könnt ihr euch bitte melden? Das ist mir ein bisschen lieber dann kann ich euch drannehmen und dann ist es auch nicht unfair weil ich dann auch kucken kann, dass immer andere drankommen“ (P.21.08.14). Tina versucht also, die Auswahl des Kindes, das antworten darf, gerecht zu machen, und führt die Einhaltung der Melderegel als Notwendigkeit dafür ein, dass dies gelingt. Die Melderegel drückt also das Prinzip der Egalität aller aus, die sich um das Rederecht bewerben. Die Tagesordnung vorzustellen, ist eine Notwendigkeit, um alle Mitglieder einer Versammlung auf den gleichen Stand zu bringen. Durch das gemeinsame Lesen wird allerdings die Praxis des Unterrichtsgesprächs ritualisiert, die eine Wissenshierarchie und ein Machtgefälle zwischen Kindern und Erwachsenen einführt: Die pädagogische Fachkraft weiß, was auf der Tagesordnung steht, sie hat sie ja auch selbst vorbereitet. Die Kinder müssen erst erarbeiten, was auf ihr steht. Auf der Tagesordnung stehen zwei Arbeitsgruppen, einmal für den PC im Vorschulraum, einmal für die Holzwerkstatt, und es geht um das Lied zum Abschluss des Morgenkreises. Auffällig ist, dass kein Raum für spontane Anfragen der Kinder vorgesehen ist.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Inhalte wiederholen Tina und Amina sind nicht da. Es wird keine Vollversammlung geben. Kerstin fragt mich scherzhaft in der Küche, ob ich denn nicht übernehmen wolle. Es sei doch ohnehin nur Wiederholung vom letzten Mal. (P.26.06.14)
Hier macht die pädagogische Fachkraft Kerstin einen Scherz darüber, dass es egal sei, wer die Vollversammlung leite, weil dort ohnehin Inhalte der letzten Vollversammlung wiederholt würden. In Abschnitt 5.1.2 habe ich analysiert, wie Richard eine gesamte Sitzung der Vollversammlung damit füllt, das Protokoll der letzten Sitzung durchzugehen. Auch diese Strategie habe ich mehrfach beobachten können, z. B. anhand der für den Vorschulraum erarbeiteten Regeln. Diese Regeln begleiten meine Forschung von Anfang an. Sie wurden in der ersten Sitzung, die ich beobachtete, bereits angesprochen. „Es geht um Regeln für die Öffnung des Vorschulraumes auch für andere Kinder. […] Regel A: Es dürfen immer die 8 Vorschulkinder und 6 weitere, kleine Kinder den Raum benutzen. Regel B: In der Angebotszeit dürfen nur die Vorschulkinder den Raum benutzen.“ (P.27.03.14).
Aus diesen zwei Regeln sind im Mai bereits sieben Regeln geworden: Bei der Abstimmung in der letzten Vollversammlung war die Mehrheit der Kinder dafür, den Vorschulraum einmal im Monat zu öffnen. Sofort wird von einem Kind ergänzt: „Aber nicht in der Angebotszeit!“ Tina stellt gemeinsam mit den Kindern ein von ihr gemaltes Plakat vor, das die Regeln illustriert, die für die Öffnung des Raumes entwickelt wurden.
1. Die Materialien, die von den Vorschulkindern selbst erstellt wurden (z. B. die Knete), dürfen von anderen Kindern grundsätzlich nicht benutzt werden 2. Es dürfen maximal 6 Kinder zusätzlich zu den 8 Vorschulkindern in den Raum. Es sollen sich nie mehr als 14 Kinder im Raum aufhalten 3. Während der Angebotszeit dürfen ausschließlich die Vorschulkinder den Raum benutzen 4. Der PC darf nur von Vorschulkindern benutzt werden 5. Das Mikroskop darf nur in Begleitung durch Vorschulkinder benutzt werden
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
6. Mit den Materialien des Raumes muss pfleglich umgegangen werden 7. Es dürfen keine Krippenkinder den Raum betreten. […] Das Plakat mit den Regeln wird Tina neben der Tür zum Vorschulraum aufhängen. Nun muss entschieden werden, welcher Tag als Besuchstag gewählt werden soll. (P.08.05.14)
In der Sitzung vom 01.05.14 wurde darüber entschieden, dass der Besuchstag nur einmal im Monat stattfinden soll. Die Regel, dass der Raum während der Angebotszeit nicht zugänglich sein soll, bleibt bestehen. In der Sitzung vom 08.05.14 wurde ein Mehrheitsentscheid über den Wochentag hergestellt. Auch im Juni werden die Regeln thematisiert: TOP 3
ächste Woche ist wieder Besuchstag des Vorschulraums. Seien allen Kindern N die Regeln dafür gegenwärtig? Tina (PFK) schlägt vor, in der nächsten VV das Plakat noch einmal durchzugehen. (P.05.06.14)
Schließlich werden sie am Besuchstag selbst noch einmal angesprochen. Tina (PFK):
Genau das ist die Überschrift, und was hieß das nochmal, was wollen wir uns nochmal angucken, Patrizia? Patrizia (K): Heute ist der Besuchertag für die kleinen Kinder. Tina: Genau. Deswegen gucken wir uns nochmal die Regeln an. ((Blättert in den Protokollen.)) Das Plakat kennt ihr ja schon, (.) Einige Kinder stöhnen auf. Tina: Wer weiß wo ihr das immer sehen könnt; Nemo (K): Vorschulraum. Safiya (K): Neben der Tür beim Vorschulraum. Mia (K): °Wo ist dein Gerät?° Ich: °Das hab ich da oben hingelegt.° Tina: Genau. Und ich fänds total toll wenn wir jetzt das einfach nochmal erklären könnten und ihr mir erklären könntet zum Beispiel (.) hier was ist das erste, (.) Meret. Meret (K): Dass die Vorschulkinder nur mit den selbstgebastelten Sachen spielen dürfen.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder Tina:
247
Genau:::, sehr gut. (.) Also. Alle Spielsachen, die die Vorschüler selbst gemacht haben, bleiben auch für die Vorschulkinder. (.) Das heißt selbstgemachte Knete selbstgemachte::: irgendwie gebaute::: (.) (T.12.06.14)
Die Regeln für den Besuchstag wurden also über mehrere Monate ausgearbeitet und thematisiert. In Etappen wurde über einzelne Regeln abgestimmt, etwa an welchem Tag der Besuchstag sein soll. Außerdem hängen die Regeln an der Tür neben dem Vorschulraum. Trotzdem bittet Tina die Kinder an dem ausgewählten Besuchstag, ihr die Regeln noch einmal zu erklären. Einige Kinder reagieren mit einem Stöhnen auf das Plakat, sie zeigen damit, dass sie das Thema nicht interessiert. Einige Kinder beteiligen sich jedoch trotzdem am Unterrichtsgespräch und geben die erwarteten Antworten. Diese andauernde Wiederholung und Weiterentwicklung der Regeln für die Nutzung des Vorschulraums illustriert Folgendes: Einige Regelungen sind so komplex, dass sie in kleine Schritte zerlegt werden müssen. Die Entscheidung darüber, ob, wie oft und an welchem Tag der Vorschulraum geöffnet werden soll, wurde in drei verschiedenen Sitzungen hergestellt. Die Wiederholung zeigt, dass Tina sich nicht sicher ist, ob die Kinder sich die Regeln merken können, selbst wenn sie an ihrer Aufstellung beteiligt waren. Die Zeit, die für die Erinnerung an und Wiederholung der Regeln verwendet wird, geht von anderen Anliegen ab. Der bekannte Modus des Unterrichtsgesprächs und die Wiederholung bekannter Inhalte nehmen in der Vollversammlung viel Zeit ein, die dann für andere Themen fehlt.
Eigene Themen ausführlich besprechen Neben der Strategie, bekannte Inhalte ausführlich zu wiederholen, habe ich auch beobachten können, dass die pädagogischen Fachkräfte ihre eigenen Themen in die Vollversammlung einbringen. Die Vollversammlung wird genutzt, um ein Ärgernis der Erwachsenen, insbesondere der Einrichtungsleiterin, anzusprechen. Thema sind die Tagebücher-Ordner der Kinder. Aus diesen fallen immer wieder Blätter hinaus, was insbesondere Malika (PFK) nervt. Sie wisse oft nicht, aus wessen Ordner das Bild stammt. (P.09.10.14)
Was im Beobachtungsprotokoll so knapp angesprochen wird, nimmt in der Praxis sehr viel Raum ein, wie durch das Transkript der Vollversammlung deutlich wird:
248 Jenny (PFK):
K5: K6: K3: (T.09.10.14)
5 Darstellung der Forschungsergebnisse Teachers in the kita have something that they want to talk to you about. Ä::: Amina, brought something we wanted to talk about (.) your (.) diaries. ((Sie hält einen Ordner hoch, auf dessen Rücken ein Foto von Lilli klebt.)) What are these? Who can say that in German? Mappen. Mappen. Mappen
Die Moderatorin Jenny beginnt die Diskussion, indem sie ein Thema vorstellt, das den Fachkräften, die auf Englisch “teachers” genannt werden, wichtig ist. Amina ist als Delegierte der Fachkräfte in der Vollversammlung anwesend und hält ein Ansichtsexemplar hoch. Dann fragt Jenny, die kurz vorher auf Englisch gesagt hat, worum es geht, um welche Art Gegenstand es sich handele. Der Beginn der angestrebten Diskussion zeichnet sich somit durch eine hohe Redundanz aus: Jenny hat bereits gesagt, worum es geht und das Objekt von Interesse präsentiert. Jenny konkretisiert ihre pädagogische Frage gleich im Anschluss als eine Frage nach der Übersetzung des Begriffs „diaries“. Drei Kinder wählen jedoch den neutraleren Oberbegriff „Mappen“ für die Tagebücher. Die Antwort ist zwar richtig, aber nicht genau die, auf die Jenny hinaus will. Diese Vorgehensweise reduziert die Redundanz und lässt die Ritualisierung weiterlaufen. Jenny (PFK): K5: Darien (K): Amina (PFK): Darien: Amina: Darien: Amina: K6: Amina: Jenny: Amina: Jenny: Meret (K): Jenny: K4:
Yeah. And what’s inside? Bilder. What you made. What you made oder you made? @(.)@ You. @(.)@ You oder you? You. Das seid ihr. You. You made. Eure sind das. Wir nennen die Tagebücher im Deutschen ne, und im Englischen, Jenny? Diaries. Oder Ich-Bücher sagen wir auch. And, they should contain? What’s inside them? Bilder. About? Fotos.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder K5: Mia (K): Jenny: Darien (K): Jenny:
249
Bilder! Bilder! Jaaaa. What kind of pictures? Writing. Parties. About parties, yes, sometimes, when we have parties at the kita, there’s pictures of those in here too;
(T.09.10.14)
Daraufhin fragt Jenny danach, was in diesen speziellen Mappen enthalten sei. Sie spezifiziert die Mappen durch ihren Inhalt. Auch auf diese Frage kennt Jenny selbst die Antwort. Eines der Kinder antwortet mit „Bilder“ und macht damit deutlich, dass es genau weiß, dass es sich nicht um einfache Mappen, sondern um die bereits so bezeichneten Tagebücher handelt. Auch Darien weiß dies und verweist darauf, dass in den Mappen das drin ist, „what you made“. Diese Aussage ist zweideutig. Es kann sich um Dinge handeln, die „you“, also die Fachkräfte, für die Kinder gemacht haben. Das „you“ kann aber auch als „man“ gelesen werden, dann handelt es sich um Inhalte, die die Kinder selbst gemacht haben. Amina versucht, über pädagogische Fragen zu konkretisieren, was Darien meint, jedoch gelingt ihr dies gerade wegen der Vorgehensweise mittels pädagogischer Fragen nicht, weil sie „you“ entweder nicht als „man“ versteht oder ihr nicht gelingt, die Differenz zwischen „du/ihr“ und „man“ in ihren Fragen zu bezeichnen. Amina betont, dass die Bücher (zu) den Kindern gehören. Sie vermittelt den Kindern, dass sie von dem aktuellen Themenvorschlag betroffen sind, weil die Bücher ihnen gehören. Dann antwortet sie selbst auf Jennys Frage, obwohl bereits deutlich wird, dass die Kinder wissen, worum es geht, und erklärt noch einmal, wie die „Mappen“ auf Deutsch korrekt bezeichnet werden. Sie fragt Jenny nach der englischen Bezeichnung, obwohl Jenny diese bereits zur Einführung benutzt hatte. Jenny wiederholt die Bezeichnung „diaries“ und wiederholt die Frage nach dem Inhalt, obwohl zwei Kinder schon darauf geantwortet hatten, dass die Ordner Bilder und selbstgemachte Sachen enthalten. Die beiden Moderatorinnen setzen die Redundanz durch Wiederholung fort. Amina demonstriert vorbildhaft, welche Antwort korrekt, d. h. erwünscht ist. Nachdem erneut gesagt wird, dass die Bücher Bilder und Fotos enthalten, fragt Jenny nach dem Inhalt der Bilder und setzt die Ritualisierung damit fort. Eines der Kinder antwortet mit einem Sujet und Jenny elaboriert diese Antwort. Nicht nur Amina, sondern auch sie konkretisiert und intensiviert das Sprechen über die Tage- oder Ich-Bücher dadurch. Über pädagogische Fragen wird Redundanz hergestellt, die wiederum eine Betroffenheit der Kinder erzeugt. Die
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Kinder engagieren sich weiterhin in dieser Ritualisierung, was darauf schließen lässt, dass sie zumindest nicht desinteressiert sind. Die Moderatorinnen müssen mit der hohen Diversität der Kinder umgehen, die zwischen 2,5 und 6 Jahren alt sind. Indem sie Redundanz und Betroffenheit herstellen, erhöhen sie die Wahrscheinlichkeit, dass möglichst viele Kinder verstehen können (wollen), worum es geht. Pauline (K) ((zu Adrian, mit dem sie sich kabbelt)): K3: Kinder: Mia (K): ((Tumult)) Pauline ((zu Adrian)): K7: Ich: Amina (PFK): Richard (PFK):
Mia: M8: Richard: Amina ((zu Pauline)): Nein! Anna. Mia: Richard: Amina: Richard:
Hör auf, Adrian.
Und Smarties? @(.)@ Oder ein Bonbon? Stop! Leise. Ihr beiden. Hört mal auf, bitte. Stop. Stop! Hört mal bitte zu. Look what Mailin, Lana, Ada and Darien are doing. What do es that mean? ((Macht das Handzeichen, das den Leisefuchs darstellt.)) Laut sein. Leisefuchs. Mia, I don’t think that’s funny. What does that mean?
Leise sein. That is the quiet fox. Hast du gehört? We are all quiet. (.) And all are listening now to Jenny.
(T.09.10.14)
Einige Kinder beschäftigen sich mit ihren unmittelbaren Sitznachbar*innen. Sie sind entweder nicht vom Thema betroffen, weil ihnen die Tagebücher egal sind, bzw. weil unklar ist, was das eigentliche Problem ist, oder sie sind gelangweilt durch die Redundanz. Andere Kinder zählen Objekte auf, die auf den Bildern von Partys zu sehen sein könnten. Sie setzen dabei das Gespräch fort, allerdings unter ihren
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
251
Bedingungen: Sie lachen und vernachlässigen die Regel, sich zu melden, und abzuwarten, bis sie aufgerufen werden. Beim Handzeichen „Leisefuchs“ handelt es sich um eine ritualisierte Antwort auf die Aufforderung, ruhig zu sein, die verschleiert, ob die Kinder sich selbst Ruhe wünschen oder lediglich der Ritualisierung entsprechend handeln. Die pädagogische Fachkraft Richard weist auf das Handzeichen hin und stellt eine pädagogische Frage danach, welcher Handlungsaufforderung es gleichkommt. Mia zeigt gleichzeitig, dass sie die Antwort kennt und dass sie die in der Frage enthaltene pädagogische Absicht ablehnt, indem sie mit dem Gegenteil des Erwünschten antwortet. Gleichzeitig mit Mia antwortet ein anderes Kind korrekt auf die Frage. Richard disqualifiziert Mias Antwort als „not funny“ – nicht lustig. Damit stellt er sie nicht als Ausdruck von Widerstand, sondern als Versuch, komisch zu sein, dar. Mias potentieller Widerstand wird dadurch verharmlost. Danach fragt Richard nochmals, was das Handzeichen symbolisiere. Erst als auch Mia die erwünschte Antwort gibt, wiederholt er sie und bestätigt sie dadurch. Während sich dies abspielt, ermahnt Amina Pauline. Auch Pauline wird gefragt, ob sie die richtige Antwort gehört habe. Damit verbunden ist die implizite Aufforderung, ruhig zu sein, die anschließend von Richard nochmals expliziert wird. Den Leisefuchs zu machen, wenn es im Raum zu laut ist, wird als erwünschte Ritualisierung dargestellt. Kinder, die sich dem widersetzen, werden durch pädagogische Fragen so lange ermahnt, bis sie mitmachen. Jenny (PFK):
Meret (K): Jenny: Mia (K): Jenny:
Amina (PFK):
((Paul meldet sich.)) (T.09.10.14)
And Meret. Actually to Meret, because she was telling me something and I could not hear a word, because you were so loud. Meret? Da sind noch, da sind Bilder drinne, wo die Kinder noch ein Baby waren. All the kids? In meiner Mappe, in meiner Mappe da ganz hinten! Ja. So, in your own diary there are pictures of yourselves. And maybe sometimes of your friends, and maybe sometimes pictures that you drew, or items that are important to you. Ja, und da sind auch manchmal ein paar leere Folien drin. Wisst ihr, was da passiert ist? Wer weiß das, was da passiert ist, warum das da so aussieht?
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Jenny, die nun durch die Intervention von sämtlichen Erwachsenen im Raum die Aufmerksamkeit der Versammlung hat, lenkt den Fokus der Aufmerksamkeit weiter zu Meret, einem der Kinder. Dabei stellt sie besonders heraus, dass die Konsequenz des Verhaltens der Kinder ist, dass sie ein anderes Kind nicht mehr verstehen kann. Die Kinder schaden somit nicht nur Jenny, sondern auch anderen Kindern, wenn sie laut sind. Meret gibt eine elaborierte Antwort des Sujets der Bilder in den Tagebüchern. Sie hat verstanden, worum es im Unterrichtsgespräch geht und macht mit. Jennys Nachfrage lässt sich als Versuch deuten, die persönliche Beziehung der Kinder zu ihren Tagebüchern herauszustellen. Sie fragt, ob Babyfotos von allen Kindern in den Ordnern sind. Mia antwortet auf diese Frage und bestätigt dadurch, dass sie einen persönlichen Bezug zu ihrem Tagebuch hat. Jenny stellt dann die Betroffenheit der Kinder vom Thema noch einmal ganz deutlich heraus: Das eigene Tagebuch, die Fotos der Kinder zusammen mit ihren Freunden, von den Kindern selbstgemalte Bilder und Dinge, die den Kindern wichtig sind. Amina ergänzt diese Aufzählung mit leeren Folien. Diese Folien haben nicht nur keinen Inhalt, sie haben deshalb auch keinen direkten Bezug mehr zu den Kindern. Sie fragt weiter pädagogisch, d. h. die Antwort kennend, warum diese Folien leer sind. Dabei hebt sie die leeren Folien als eine Besonderheit, das Resultat eines Geschehnisses, hervor. Etwas ist passiert, nun muss aufgeklärt werden, was geschehen ist. Sofort zeigt eines der Kinder an, antworten zu können. aul, weißt du das? ((Keine Antwort, Paul lässt aber Hand oben.)) P Lana. Lana (K): Weil die Bilder da verloren gegangen sind. Amina: Genau. Guckt mal, was ich hier hab. Das liegt zum Beispiel daneben. Das sind Dinge, die da rausgefallen sind, teilweise rausgerissen wurden, und das passiert manchmal auch, wenn man das gar nicht will. Aber es ist einfach tatsächlich so, dass ganz viele Sachen, die da drin sind, kaputt gehen, verloren gehen. Und dann ist das so, dass die Erwachsenen für euch hier sowas hier basteln ((Sie zeigt ein DIN A 4 Blatt mit aufgeklebten Fotos hoch, das sie zusammen mit anderen Blättern aus einem braunen Umschlag zieht.)). K8: Auch kaputt gehen. Amina: Die Erwachsenen die, – K8: Auch kaputt gehen. Amina (PFK):
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Amina: Das kann auch kaputt gehen. Einmal aufstehen, Lilli. K6: Es kann auch kaputt gehen. (T.09.10.14)
Paul meldet sich zwar, antwortet dann aber nicht. Er führt nur die halbe Ritualisierung durch. Er zeigt an, dass er die Antwort kennt, aber äußert diese dann nicht. Amina kommentiert das nicht, sondern ruft, wie in der Schule, die nächste Person auf. Lana antwortet an Pauls Stelle kompetent auf die Frage. Amina greift Lanas Antwort auf und elaboriert sie. Sie hat weiteres Anschauungsmaterial mit, das sie nun präsentiert, wie ein Beweisstück in einem Kriminalfall: eine Seite aus einem der Tagebücher. Diese Seite steht stellvertretend für viele andere Seiten, die ihrer Meinung nach herausreißen und verloren gehen, und die in dem braunen Umschlag aufbewahrt werden. Diese sind teilweise von den Erwachsenen gebastelt. Einige Kinder rufen ihr zu, dass auch diese von Erwachsenen gebastelten Sachen kaputt gehen können. Während Amina diese dramatische Krimi-Performance vollzieht, ruft sie en passant Lilli zur Ordnung. Amina (PFK): Die machen zum Beispiel so etwas für euch. ((Steht auf und zeigt das Blatt mit den Fotos im Kreis herum.)) Die machen zum Beispiel Fotos von Geburtstagspartys, von tollen Bastelaktionen, und dann schreiben sie für euch zur Erinnerung dazu, was da passiert ist. Narayan (K): Yeah. Richard (PFK): Narayan. Amina (PFK): Und dann sitzen sie im Büro und verwenden ganz viel Zeit dafür, und die fehlen dann manchmal hier im Bewegungsraum und manchmal auch auf dem Flur. Ja, da bist du drauf, ganz genau. K9: Ich bin auch drauf. Amina: Ich weiß auch nicht, wem das gehörtK8: Ich bin auch drauf. K10: Ich auch. K11: Ich bin auch drauf. Amina: Keine Ahnung. K6: Ich weiß es, das gehört mir. Amina: Wem? K6: Mir. Amina: Dir? K12: Und das da gehört mir.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Amina: Und weißt du, warum das jetzt da in dem Umschlag ist? Hast du eine Ahnung? K6: Das ist mir rausgefallen. Amina: GenauK12: Und mir ist das rausgefallen (T.09.10.14)
Amina setzt ihre Performance fort, indem sie nun im Kreis herum geht, die ausgerissene Seite zeigt und betont, wieviel Arbeit für die Fachkräfte hinter den gebastelten Seiten steckt und inwiefern die Kinder auch davon betroffen sind. Das Basteln von Erinnerungsstücken, das Teil der Bildungsdokumentation ist, wird als Dienstleistung an die Kinder dargeboten. Narayan geht darauf ein, wird aber von Richard durch Nennung des Namens zurechtgewiesen. Die Kinder schauen sich die Seite an und bemerken, dass sie sich auf den Fotos wiedererkennen. Während Amina im Kreis herumgeht, betont sie zweimal, dass sie nicht wisse, wem die Seite gehöre. Sie stellt den Kriminalfall als nicht lösbar dar. Allerdings geht dieser Plan nicht auf, weil eines der Kinder seine Seite wiedererkennt. Sofort erkennt ein anderes Kind eine andere Seite wieder. Amina lenkt ab, indem sie genau die beiden Kinder fragt, warum die Seiten nicht mehr im Ordner, sondern im Sammelumschlag sind. Die Kinder antworten wie gewünscht. Amina (PFK):
Und dann hat das irgendjemand gefunden und wusste nicht, wem es gehört. Und damit die Pädagogen die Erwachsenen nicht diese ganze Arbeit umsonst machen, haben wir uns überlegt, oder vielmehr ich hab die Idee gehabt: Wie wär es denn, wenn wir die ganzen Tagebücher ins Büro stellen, in ein Regal– Darien (K): °I don’t know.° Amina: – und ich dann, zum Beispiel, die Kinder daran erinnern kann: Guck mal, da ist was rausgefallen, das kannst du wieder reintun, also dass ich so ein bisschen dafür sorge, dass die Tagebücher heil bleiben. Elias (K): Nein. Wenn, das, man kann das doch wieder ran machen. Pauline (K) ((zu Adrian)): Hör auf, Adrian. Amina: Genau, aber das kann man nur, wenn man weiß, wo es hinge hört.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Ich ((zu Pauline und Adrian, die sich gegenseitig hauen und treten)): Ihr beiden, hört mal auf bitte. Amina: Und dann braucht man manchmal Unterstützung. Ich ((leise)): Stop, stop. Amina: Da braucht man etwas Klebstoff, weil etwas ausgerissen ist, Pauline (K): Aua. Hör auf. Ich: Stop, Adrian. Amina: Und dann sitze ich da im Büro und hab alles da, Ich ((zu Pauline)): Du auch. Stop. Richard (PFK): Adrian, Adrian. Adrian ((zu Pauline)): Stop, lass mich in Ruhe. Amina: – was man so braucht. Richard: You wanna sit over here ((klopft mit der Hand auf seine Knie, Adrian schaut kurz und geht dann zu Richard rüber und setzt sich auf seinen Schoß.)) Meret (K): Amina? Amina: Ja? Meret: Man kann das doch auch so machen – ((Geht zu Amina rüber)) Amina: Ich kann dich auch hören, wenn du von dort aus sprichst. ((Meret geht auf ihren Platz neben Fritz’ Thron zurück)) Meret: Man kann das doch auch so machen, dass man auf die Bilder die Namen raufschreibt. Amina: Das das ist auch hilfreich, wenn ihr Bilder habt, schreibt euren Namen da drauf. Wenn ihr selber nicht schreiben könnt, dann fragt ihr einen, der’s kann. (T.09.10.14)
Endlich spricht Amina aus, worum es ihr die ganze Zeit gegangen sein muss: Sie will die Tagebücher in ihrem Büro lagern. Zuvor führt sie noch zu Ende, was das Problem ist: Die Seiten fallen heraus und dann weiß niemand, in wessen Tagebuch die Seiten gehören. Bis hierhin, zum eigentlichen Vorschlag, wurde eine langwierige und emotionale Performance aufgeführt. Das Problem wurde mittels zahlreicher pädagogischer Fragen sowie Beweismaterialien erläutert. Nun endlich kommt ein Lösungsvorschlag. Darien reagiert nicht enthusiastisch auf die Lösung, sondern leise zweifelnd. Auch Elias spricht sich
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
vehement gegen den Vorschlag aus, während Amina noch Argumente nennt, die ihren Vorschlag untermauern sollen. Er begründet seine Ablehnung, indem er Aminas Argument oder Problemanalyse entkräftet: Man könne die Seiten doch einfach wieder dranmachen. Nachdem Amina auf diese Entgegnung eingeht, sie dadurch entkräftet, dass manchmal nicht klar sei, wohin die Seiten gehörten, argumentiert Meret weiter, dass die Kinder ihre Namen auf die Bilder und Seiten schreiben können. Hier findet ein Schlagabtausch zwischen Amina und den Kindern statt, der darauf hindeutet, dass die Kinder das Problem anerkennen, aber die Lösung nicht plausibel finden. Meret verleiht ihrem Redebeitrag mehr Gewicht, indem sie näher an ihre Diskussionsgegnerin herantritt, die dies jedoch abwehrt. Lucy (K): K6: Amina (PFK): Mehrere Kinder: Ella (K): K4: Meret (K): Amina: Jenny (PFK): Ada (K): Adrian (K): Jenny, Amina: Jenny:
Ich kann. Ich kann Lucy schreiben! IchDas ist super. DannIch kann auch. Ich kann Ella schreiben. Ich kann gar nicht schreiben. Ich kann Meret schreiben. Gut. So, Ich kann Ada schreiben. Ich kann Adrian schreiben. Pssst. Okay, if you want to say something you can raise your hand. ((Einige Kinder melden sich.)) Darien (K): Ich kann Darien schreiben. (T.09.10.14)
Nacheinander und Durcheinander rufen die Kinder, dass sie ihren Namen schon schreiben oder noch nicht schreiben können. Amina versucht, diese Aussagen wegzuloben, aber ohne Erfolg. Beide Fachkräfte rufen zur Ruhe und Jenny erinnert dann an die Melde-Regel. Sofort melden sich einige Kinder. Darien wiederholt, dass er seinen Namen schreiben könne. Hier eignen sich die Kinder die Redundanzerzeugung der Erwachsenen an, indem sie nacheinander die Aussage wiederholen, dass sie schon schreiben können.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Jenny (PFK): Shhh. I- Your diary. Here this is your diary and this is all the pages. This is an empty pouch and we don’t know what belongs in there and these are all the broken pages […] and so we decided that the diaries should go into Amina’s office. ((Jenny hat die ganze Zeit nebenbei protokolliert, nun deutet sie auf ihre Zeichnungen.)) This is Amina with her curly hair sitting at her desk with her keyboard and right in front of her we thought we could put the shelves that are now in the hallway with your diaries. WhatK5: Hahahahaha. Mia (K): Haha. Jenny (PFK): What do you think about that? What do you think about that idea? Pauline (K): °So sieht doch nicht Amina aus.° Jenny: Ada, what did you wanna say? Ada (K): ((unverständlich)) Jenny: Sorry, did you take your hand out? Say again? Ada: Ich kann Ada schreiben. Jenny: You can write Ada. Right. Exactly. That was one idea that you hadDarien (K): I can write my name. Jenny: - to write your name on the pages. Samuel? Samuel (K): Ich kann auch ich kann auch Samuel schreiben. Jenny: Okay. Adrian (K): Ich kann auch Adrian schreiben. Ben (K): Ich kann Ben schreiben. Jenny: Yeah. You can write your namesFelix (K): Ich kann Felix schreiben. Jenny: - onto the pages so we know, who these belong to. Right? Pauline: °Adrian kann nicht schreiben.° Jenny: So you write your name who just said now. Samuel can write his name or Ada can write her namePauline: °Ich kann Anna schreiben.° K10: Ich auch. K9: Ich kann auch meinen Namen schreiben (T.09.10.14)
Jenny erklärt anhand des Protokolls noch einmal, worum es geht. Sie erläutert ihre Zeichnungen. Die Zeichnung von Amina erntet Gelächter, Pauline findet, dass Amina nicht gut getroffen ist. Jennys Frage, die offen lässt, ob sie sich auf das Protokoll oder den Vorschlag bezieht, fordert die Kinder noch mehr dazu heraus, zu lachen. Jenny stellt den Sachverhalt allerdings anders da, als er sich bisher gezeigt hat: Sie spricht von einem Beschluss der Fachkräfte und der Leitung und wirbt nur noch um Nachvollzug: „So we decided that the
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
diaries should go into Amina’s office“ […] „What do you think about that? What do you think about that idea?“ Sie ruft einige Kinder auf, die daraufhin verkünden, dass sie auch ihre Namen schreiben können. Jenny baut das in das Protokoll ein, indem sie die Auskünfte der Kinder als Vorschlag aufnimmt, die Seiten mit Namen zu beschriften. Jenny nimmt die Aussagen der Kinder auf und wendet sie positiv um, indem sie so tut, als bezögen sie sich auf das gemeinsame Gesprächsthema. Pauline wendet ein, dass Adrian gar nicht schreiben könne, aber das wird überhört. Jenny (PFK):
So we know whose paper it is (.) But I asked you, what do you think about the idea of having the diaries in Amina’s office? Amina (PFK): Das sind eure Tagebücher. Die gehören euch. Und ihr seid Bestimmer über die Tagebücher. Wir haben uns etwas überlegt und jetzt wollen wir wissen: Wie findet ihr unsere Idee? Mehrere Kinder: Gut. K4: Doof. Amina: Was ist denn das Gute an der Idee und was ist das Schlechte an der Idee, habt ihr da Vorstellungen? ((Richard (PFK) übersetzt auf Englisch, aber leider für mich unverständlich.)) Amina: Was findet ihr gut? Was findet ihr gut daran? K3: Äh. Adrian (K): Ähm. Darien (K): Ähm. Amina: Felix zum Beispiel, Felix frage ich mal. Felix (K): Dass die direkt wieder repariert werden können. Amina: Das ist das Gute an der Idee, hmhm. Okay. K2: Oder kleben. Amina: Dass man sie gleich wieder kleben kann. Lana. Lana (K): °Weil man es reparieren kann.° (T.09.10.14)
Amina macht nun ganz deutlich, dass die Kinder darüber bestimmen, wo die Bücher gelagert werden, und es sich nur um einen Vorschlag und nicht um eine Entscheidung handele. Sie fragt nochmals in die Runde, wie dieser Vorschlag ankommt. Dabei lenkt sie von Merets Einwand ab, dass die Kinder ihren Namen auf die Zettel schreiben können, wodurch sich das angesprochene Problem direkt lösen würde. Spontan und ohne sich zu melden, rufen einige Kinder „gut“ oder „blöd“ in den Raum. Amina greift dies auf und kündigt an, Vor- und Nachteile der Lagerung in ihrem Büro zu sammeln. Es wird nicht deutlich, ob sich die Kinder, die sie aufruft, überhaupt melden. Amina wiederholt ihre Frage und
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geht dabei von einem sachlichen zu einem persönlichen Argumentieren über. Aus dem allgemeinen Guten wird das persönliche Empfinden der Kinder. Felix wiederholt, nachdem er dazu aufgefordert wurde, ein Argument, das Amina zuvor genannt hat. Daran schließt ein weiteres Kind an, mit einem weiteren von Amina genannten Argument. Lana wiederholt nochmals Felix’ und Aminas Argument. Amina (PFK): Aha. Narayan. Narayan (K): Weil man ((….)) wer das gehört. Amina: Was? Sag nochmal. Narayan: Ich weiß, wer das gehört. Amina: Wem das gehört? Narayan Ja. Amina: Samuel. Samuel (K): Ich finde es gut, dass man seinen Namen da drauf schreibt. Amina: Die Idee gefällt dir gut, ja? Maria. Maria (K): Ich finde gut, dass man darauf schreibt. Amina: Genau, da sind ja auch die Stifte, immer im Atelier, die man dann gleich verwenden kann, um den da drauf zu schreiben. Oder ihr kommt zu mir ins Büro und ich schreib ihn euch da drauf. Johanna, Johanna (K): Ich finde gut, dass man den Namen drauf schreibt. (T.09.10.14)
Als Narayan aufgerufen wird, bezieht er sich auf ein vergangenes Problem. Amina versteht nicht, fragt nach und antwortet dann nicht mehr darauf, sondern ruft das nächste Kind auf. Samuel bezieht sich eigentlich nicht mehr auf Aminas Vorschlag, sondern auf den von Meret, den Namen auf die Bilder zu schreiben. Maria und Johanna stimmen dem ebenfalls zu, indem sie die Aussage von Samuel wiederholen. Meret hat eine adäquate Lösung für das eingebrachte Problem vorgeschlagen, die nun von einigen Kindern nochmals bekräftigt wird. Amina (PFK): Wie findet ihr die Idee, dass die Bücher nicht mehr im Flur stehen, sondern bei mir im Büro. K7: Blöde. K6: Gut. Amina: Findest du blöd? Du willst die nicht im Büro haben? K6: Doch. Amina: Dann erklär mir mal, warum du die nicht im Büro haben willst. Damit ich das verstehe. K7: Weil ich dann vergesse, da rein zu gucken. Amina: Achso. Okay. Du meinst das Büro ist so weit weg und dann ist das nicht der Ort, wo du hingehst. Hmh. Emilia. Wer hatte sich jetzt noch gemeldet? So. Lucy? Lucy (K): Ich kann schon meinen Namen schreiben, weil das super-ba- byleicht ist.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Amina: Das ist gut. So, was gibt es denn für für doof, äh, Ideen dazu – Was ist denn doof daran, wenn das da steht? Johanna hat gesagt, sie möchte das mit dem Büro nämlich nicht, weil sie das vergisst, da hin zu gehen-(T.09.10.14)
Amina arbeitet an ihrem eigenen Lösungsvorschlag weiter und versucht nochmals, begründete Zustimmung oder Ablehnung zu generieren. Da jeweils mehrere Kinder gleichzeitig sprechen, überschneiden sich mitunter gegensätzliche Antworten. Amina nimmt jedoch wahr, dass eines der Kinder nicht einverstanden ist und erfragt eine Begründung für die Ablehnung. Knapp antwortet das Kind. Es bleibt unklar, ob sie das Büro oder den Ordner meint. Amina ruft Lucy auf, die nochmals wiederholt, dass sie ihren Namen schreiben kann, und sogar eine Begründung dafür liefert. Amina lobt den Kommentar weg. Jenny (PFK):
I wrote that here on the protocol ((deutet auf die Zeichnung an dem Flipchart)). Amina (PFK): Oh ja. Jenny: This is Johanna and she is thinking of her diary and she thinks: Huh, where was that again? Okay? Johanna (K): Hmh. ((Hintergrundgeräusche nehmen zu, zwei Kinder streiten sich)) Jenny: What else do you think on the negative side? What would not be good? Clara? (2) Clara (K): ((…)) K7: Aaaaah. Jenny: Sorry I- Guys, could you be quiet over here? I did not hear Clara. Clara: Ich möchte nicht da rein. Richard (PFK): She does not want to go there. Jenny: You don’t want to go inside. Okay. ((Protokolliert)) (T.09.10.14)
Jenny, die Protokollantin und eigentliche Moderatorin, verdeutlicht den Zusammenhang zwischen dem Gesagten und dem Protokoll. Es handelt sich wieder um eine etwas anders gelagerte Interpretation: Dieses Mal vergisst das Kind Johanna, wo die Tagebücher stehen. Das Argument könnte auch lauten, dass Johanna vergisst, dass die Tagebücher existieren, wenn sie nicht mehr automatisch in ihren Blick geraten. Jedoch versichert sich Jenny bei Johanna, ob sie der Wiedergabe im Protokoll zustimmt, und erhält einen
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zustimmenden Laut als Antwort. Nun setzt Jenny die Frage nach den Nachteilen fort. Im Transkript steht, dass die Hintergrundgeräusche zunehmen. Trotzdem meldet sich Clara weiterhin und äußert schließlich ein weiteres Argument, das von Richard wiederholt wird. Jenny interveniert gegen die Lautstärke, indem sie darauf verweist, dass sie als Protokollantin und Moderatorin nicht verstehen könne, was die Kinder sagen. Sie weist nicht darauf hin, dass es für alle wichtig wäre, zu verstehen. M öglicherweise fühlen sich viele Kinder trotz der dramatischen Darstellung nicht betroffen durch diese Entscheidung.
((Im Hintergrund ist es recht ruhig, einige Kinder machen Geräusche, die sich wie „hui, hui, hui“ anhören)) Amina (PFK): Okay, jetzt haben wir ein Bild, wo man sieht, dass ein Kind nicht in das Büro kommen möchte. (.) Meret hat sich gemeldet. Meret (K): Ich, ich finde, die Idee ist nicht gut, weil, weil die Kinder nicht in das Büro rein dürfen. Jenny (PFK): Aha, at times, when Amina says, I am busy – ((zeichnet Proto koll)) ((Erwachsene lachen leise)) Amina: Darf ich schon Lana fragen? Jenny: Ja. Amina: Oder möchtest du erst zu Ende malen? Jenny: Ja, ja. Amina: Lana? Lana (K): Ich finde das so blöd, weil ich, ähm, weil ich da nicht die angu cken kann. Amina: Das ist genau das Ding. Ich will nämlich, dass ihr zu mir ins Büro kommt und immer da ran könnt. Es gibt sicherlich auch mal Momente, wo ich sage, jetzt könnt ihr nicht ran, wenn ich ein Gespräch hab, zum Beispiel. Aber das ist ja nicht soooo oft, nee, also ihr sollt schon auch ins Büro kommen. Ich möchte auch einen Sessel oder ein Sofa für euch da haben, irgendwas, wo ihr euch hinsetzen könnt und euch das angucken könnt ((Kinder lachen im Hintergrund)) Richard (PFK): Fritz and Emilia, I would like you to stop. ((Fritz und Emilia lachen weiter und lauter, während sie ihre nackten Beine gegeneinander klatschen)) Amina: Okay. (T.09.10.14)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Jenny protokolliert unermüdlich auch den zweiten Vorbehalt und ruft dann Meret auf, die ein weiteres Gegenargument nennt: Manchmal dürfen die Kinder den Raum nicht betreten. Jenny wiederholt dies und erläutert gleichzeitig, wann die Kinder nicht ins Büro dürfen. Nachdem Jenny den beiden einander ausschließenden Fragen von Amina zugestimmt hat, äußert Lana ein weiteres Argument. Amina hält nun eine Gegenrede, die dieses und das davor geäußerte Argument entkräften soll. Sie äußert den Wunsch, dass sich mehr Kinder im Büro aufhalten und plant, eine Sitzmöglichkeit zu schaffen. Sie behauptet, dass die Gelegenheiten, an denen es den Kindern untersagt ist, ins Büro zu kommen, selten seien. Inzwischen spielen Fritz und Emilia mit ihren Körpern und werden von Richard zurechtgewiesen. Er benennt dafür die Kinder und sagt dann, welches Verhalten er von ihnen verlangt. Diese Intervention zeigt eine gegenteilige Wirkung. Jenny (PFK)((laut, deutlich)): I think some children don’t have patience any more to listen to, what we talked about. Can we only ask you, if it would be okay for you, to try this out for a little while and see how you like it, and if this these negative points will happen, and then we could talk about it again in a few weeks time. Would that be okay for you? Amina (PFK): Okay, ich sag nochmal in Deutsch, was Jenny gerade gesagt hat. Was haltet ihr von der Idee, dass wir jetzt sagen, wir probieren das einmal aus und dann gucken wir, ist das wirklich so? Wollen wir das einmal ausprobieren für ein paar Wochen und dann treffen wir uns wieder und gucken, ist das ein guter Plan, oder muss es doch wieder das, der Flur sein. Gut, ich würde sagen, wir machen das mal so: – Jetzt wäre es toll wenn wir rote Punkte hätten und grüne Punkte @(.)@ Jenny: Ja, exactly. Then the green, äh- (T.09.10.14)
Jenny interpretiert das Ansteigen der Lautstärke und die Unwirksamkeit der Intervention als mangelndes Konzentrationsvermögen seitens der Kinder und schlägt eine Abstimmung vor. Der Wechsel des Modus soll neues Interesse und neue Ressourcen freisetzen. Jenny schlägt eine Probezeit für die neue Ordnung vor, legt aber keinen genauen Zeitraum dafür fest, wann die Evaluation der
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
263
Probezeit stattfinden soll. Mit dieser Taktik gelingt es, den eigenen Vorschlag umzusetzen, die Vorbehalte der Kinder anzuerkennen und eine Abstimmung durchzuführen. Amina übersetzt das, was Jenny gesagt hat. Sie stellt damit sicher, dass auch die Kinder, die noch nicht so gut Englisch können, wissen, worum es in der Abstimmung geht. Die Abstimmung scheint nicht vorbereitet zu sein, denn Amina stellt fest, dass Materialien dafür fehlen. Die Kita führt seit einem halben Jahr Vollversammlungen durch und es gibt noch immer keine Utensilien für die Moderation und die Abstimmungen. An meinem letzten Beobachtungstag erst wird angekündigt, dass ein Moderationskoffer erstellt werde (P.28.10.14). Amina (PFK): Jenny (PFK): Amina:
K2: K5: K9: K3: Amina: […] Amina:
Richard (PFK): Amina: Richard: Amina: Jenny:
Also, ich bin das Büro und Jenny ist der Flur. Jenny, gehst du hinten in die Ecke? Ja. Also Jenny ist immer auf dem Flur, deshalb bleiben die, ähm, die Kinder, die jetzt- nein. Bei Jenny sind die Bücher auf dem Flur, bei mir sind sie im Büro. Wenn ihr möchtet, dass wir das mal ausprobieren, wie das ist, wenn die bei mir stehen, und ich ein bisschen mit aufpasse, dann stellt ihr euch zu mir, dann kommt ihr zu mir. Wenn ihr meint, die Tagebücher sollen auf keinen Fall ins Büro, dann stellt ihr euch zu Jenny. Habt ihr das verstanden? Ja Ja. Mhm. Ja. Ja? Also, wer möchte, dass die Bücher mal eine Weile ins Büro kommen und wir das ausprobieren, der kommt jetzt mal zu mir. Do you want to try this? Genau, und die das nicht wollen, die stellen sich zu Jenny. Hier kommen die Bücher You wanna do it? Okay? - ins Büro. So Jenny, sag noch mal, welche Position du hast. Yes. If you stand here, the diaries should stay in the hallway, where they are now. But I think, it’s quite obvious.
264 Richard: Amina: Jenny: Amina: Jenny: (T.09.10.14)
5 Darstellung der Forschungsergebnisse Benjamin. Genau, dann wollen wir einmal, ähm, zählen, Yes? Wer kann einmal zählen? Exactly.
Amina nutzt eine andere Abstimmungsmethode, die ohne Utensilien auskommt, aber gleichzeitig bewirkt, dass sie selbst und Jenny nicht mit abstimmen können. Sie und Jenny repräsentieren jeweils einen der beiden Vorschläge und die Kinder sollen sich für die Abstimmung zu der entsprechenden Person stellen. Jenny repräsentiert den Vorschlag, dem sie selbst nicht zustimmen würde. Alle anwesenden Fachkräfte wiederholen, wer für welchen Vorschlag steht. Die Kinder ordnen sich einem der Vorschläge zu. Diese Abstimmungsweise ist nicht anonym, sondern alle können sehen, wer für welchen Vorschlag stimmt. Das Auszählen soll von einem Kind übernommen werden. Die Fachkräfte sind wesentlich größer als die Kinder und könnten schnell und korrekt zählen, aber sie nutzen die Gelegenheit, Kinder das Zählen üben zu lassen. Außerdem könnte es sich dabei um einen Versuch handeln, das Ergebnis zu legitimieren. Amina (PFK):
Maria, du zählst einmal die, die hier sind, und da drüben einer vielleicht von euch? Jenny (PFK): Ja? Who would like to count the kids, who stand here? Meret, okay? Meret (K): eins ((zählt weiter…))… acht Amina: drei, vier ((zählt mit Maria und fasst dabei dem Kind, dass sie gerade zählt, auf den Kopf)) ((Richard (PFK) erklärt einzelnen Kindern, die noch sitzen, welche Optionen es gibt.)) Richard: Don’t go to Amina, go to Jenny. Jenny: Eight children. Amina: dreizehn, jetzt weiß ich nicht mehr, wen du schon gezählt hast. Maria weißt du das noch? ((Maria (K) schüttelt den Kopf)) Guck mal, wir fangen mal hier an. Wo stehst du denn? Möchtest du, dass die im Flur stehen, oder dass die im Büro stehen. Oder ist dir das egal. Ist dir egal. Gut. Bist du jetzt hier bei uns, Lilli? Stehst du hier? Ne. Lilli enthält sich. Eins, zwei ((zählt allein bis 16)). Ich hoffe, ich hab das jetzt richtig gezählt. Wieviel habt ihr? Jenny ((laut)): Clara stop. Clara just said something important. She says, she does not know.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
265
Richard: Jenny:
Shht. If she does not know, you can sit somewhere else, so you don’t have to take a position. That is a possibility, as well. ((Viele Hintergrundgeräusche. In der Traube um Amina kommt es zu Auseinandersetzungen zwischen Darien und einem anderen Kind, das Darien schubst.)) Darien (K): Aua. Amina: Vorsichtig. Vorsichtig. Jenny: Okay? That is okay. Darien: You pushed me. He pushed me. Jenny: If you say, I don’t know what I want, you can just stay somewhere else, and we don’t count you in. So, we count again, Darien: Ahahaha. Amina: So, jetzt ist mal Schluss. Jetzt bleib mal bitte stehen und zwar, ohne zu zappeln. Jenny: Okay, we have six children, who say we want it in the hallway. Amina: Genau. Was habe ich jetzt hier gezählt, wie viel sind hier, wie viel Kinder? Darien: VierK4: Sechzehn. Amina: Sechzehn habe ich gesagt, ne? Was ist denn jetzt mehr? Was ist weniger. K7: Unseres ist mehr. Amina: Unsers hier ist mehr, ne? Das würde jetzt bedeuten, wir probieren das einmal aus, und dann gucken wir, ob das wirklich eine gute Idee ist. Ist das jetzt das Ergebnis? K4 ((leidend)): Ja. (T.09.10.14)
Amina orchestriert die Auszählung. Gleichzeitig zählt in beiden Gruppen eine Person, wie viele Kinder zur Gruppe gehören. Zum einen haben sich aber noch nicht alle Kinder entschieden, einige werden durch Richard beraten, der ebenfalls nicht selbst mit abstimmt. Die Kinder stellen sich erst während des Zählvorgangs auf. Zum anderen stehen einige Kinder genau zwischen beiden Gruppen und es ist unklar, zu welcher sie gezählt werden wollen. Durch diese Komplikationen beim Auszählen stellt sich heraus, dass unklar ist, was diejenigen Kinder machen sollen, die sich enthalten. Erst aufgrund der Unschlüssigkeit von Clara ist Jenny mitten beim Auszählen motiviert, zu sagen, dass die Kinder sitzen bleiben dürfen. Durch das enge und längere Stehen in einer Gruppe beschäftigen sich die Kinder miteinander und beginnen, zu streiten und zu schubsen. Das Ergebnis wird nicht einfach festgestellt, sondern beide Gruppen verkünden, vermittelt durch die pädagogische Fachkraft, wie viele Personen sie umfassen. Dann wird pädagogisch gefragt, welche Zahl mehr sei. Dieses Mal wird
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
auf die strenge Einhaltung des Melde-Rituals verzichtet, Amina wiederholt einfach die Aussage des Kindes und stellt dann den Zusammenhang zwischen dem Ergebnis und dem Abstimmungsthema her. Eines der Kinder stimmt dem leidend zu. Entweder ist es mit dem Ergebnis unzufrieden, oder es findet die Pädagogisierung der Herleitung des Ergebnisses ermüdend, das wird nicht deutlich. K7: Amina (PFK): K4: K7: Amina: K7:
Unserer hat gewonnen, unserer hat gewonnen Wir probieren das aus. Unserer hat gewonnen Unserer hat gewonnen Und gucken in ein paar Wochen nochmal, ob das wirklich gut ist. Du hast gewonnen, du, du und ich ((Sie zeigt auf Kinder, die um Amina gestanden haben.)) Exactly. So,
Jenny (PFK): […] ((Die Kinder sollen sich wieder setzen, Amina verlässt mit dem Flipchart den Raum.)) Richard (PFK): Darien, come over here. Adrian, I would like you to sit down over here. ((Krach, Mia (K) kommt angesprungen.)) Mia: Juchu:::::. Ich: Ihr habt gewonnen. Mia: Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen ((in einem Sing sang.)) ((Pauline (K) stimmt mit ein.)) Mia: Ich hab gewonnen, ich hab gewonnen. Pauline: Ich hab gewonnen. Mia: Nein, ich hab gewonnen. Pauline: Nein, ich. Ich: Ja, und was heißt das jetzt? Mia: Nein, ich, und du nicht. Du bist sitzen geblieben. Ich: Nein. Pauline: Wir beide haben gewonnen. Mia: Ey, nicht. Nicht an meinen Arm deinen Mund. Ich: Jetzt setz dich mal wieder zurück. Richard: Now, I think we come back to our usual- (T.09.10.14)
Die Kinder freuen sich, dass sie zur Gruppe gehören, die gewonnen hat, und verkünden dies. Sie sprechen einander die Zugehörigkeit zur Gruppe der „Gewinner“*innen zu und ab. Pauline und Mia streiten sich darüber, ob sie
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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beide gewonnen haben. Gewinnen scheint den Kindern sehr wichtig zu sein, sie drücken Euphorie darüber aus. Ob sie dabei noch gegenwärtig haben, was ihr Gewinn mit den Tagebüchern zu tun hat, ist nicht klar. Nochmals fasst Amina das Ergebnis zusammen und betont dabei die Revidierbarkeit der Entscheidung. Danach verlässt sie mit dem Flipchart den Raum, was daraufhin deutet, dass die Vollversammlung beendet ist. Sie lässt die Moderatorin ohne Flipchart im Chaos, das auf die Entscheidung folgt, zurück, nachdem sie erreicht hat, was sie scheinbar von Beginn an erreichen wollte. Die gesamte Vollversammlung wirkt dadurch strategisch inszeniert. Jenny versucht, mittels eines ungerichteten „exactly“ das Rederecht wiederzuerlangen und scheitert damit. Richard greift in die Sitzordnung ein und bestimmt, dass die beiden Kinder, die zuvor während des Auszählens Streit angefangen haben, sich auf von ihm bestimmte Plätze setzen. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Amina bringt ein Thema in die Versammlung ein, das sie selbst und die Fachkräfte betrifft. Bevor es zur Vorstellung des eigentlichen Anliegens kommt, werden viele pädagogische Ritualisierungen durchgeführt, die redundant sind. Redundanz und Dramatik durch Wiederholungen, das Zeigen von Objekten und das Stellen von pädagogischen Fragen dient zum einen der Herstellung von Betroffenheit, zum anderen dem Umgang mit der Heterogenität der Kindergruppe. Die Betroffenheit vom Thema soll die Kinder dazu motivieren, mitzumachen, und möglichst alle Kinder sollen verstehen, worum es geht. Dass einige Kinder die zahlreichen Fragen, die die Fachkräfte den Kindern stellen, und deren Antwort sie kennen, durchschauen, wird insbesondere beim Leisefuchs durch Mias Antwort auffällig. Sie gibt gleichzeitig zu verstehen, dass sie die Antwort kennt und dass sie sie nicht geben will. Auch darauf sind die Fachkräfte allerdings vorbereitet, sie werten diesen zarten Hinweis auf Widerstand als einen missglückten Witz ab. Dies ist ein generelles Merkmal von Ritualisierungen: Sie verschleiern, was die Intentionen der einzelnen Personen sind, die sie durchführen. Bei Aminas Lösungsvorschlag wird nicht deutlich, ob bereits entschieden ist, dass die Bücher in Aminas Büro geräumt werden, oder ob die Diskussion offen ist. Die Kinder finden eine andere Lösung für das von Amina inszenierte Problem und heben die Umsetzbarkeit hervor, indem sie alle nacheinander sagen, dass sie bereits ihren Namen schreiben können. Auch als das Thema von Seiten der Moderatorin bereits für beendet erklärt wird, hören sie nicht damit auf, zu sagen, dass sie ihren Namen schreiben können. Dies kann als Versuch interpretiert werden, dem Vorschlag, die Seiten zu kennzeichnen, Gewicht zu verleihen und
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
quasi für ihn abzustimmen. Das aber machen die Fachkräfte nicht. Sie nehmen den Vorschlag zwar ins Protokoll auf, entkräften ihn aber dadurch, dass sie ihn nicht als zweiten Vorschlag zur Abstimmung führen. An dem Punkt, an welchem das Problem deutlich wird und die Kinder Lösungen überlegen, sind sie involviert und betroffen. Es wirkt so, als seien sie mit dem Vorschlag von Amina und den Fachkräften nicht einverstanden. Dann wird der Vorschlag trotzdem zum Hauptthema gemacht und Vor- und Nachteile gesammelt. Der Fokus der Diskussion verändert sich also, weg von einer Suche nach einer Problemlösung, hin zu einem konkreten Vorschlag, der abgewogen werden soll. Tatsächlich haben einige Kinder gute Gründe gegen den Vorschlag vorzubringen. Trotzdem wird er zur Abstimmung freigegeben. Was wann zur Abstimmung freigegeben wird, entscheiden die Erwachsenen. Die ebenfalls von den Erwachsenen gewählte Methode verhindert, dass sie selbst mit abstimmen und erfordert, seine Entscheidung öffentlich zu treffen. Sie ist verbunden mit der Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Die Sachorientierung gerät dadurch in den Hintergrund, es geht eher darum, eine Gruppe zu bilden, die mehr Personen umfasst als die andere und dadurch zu gewinnen. Die Fachkräfte geben sich zwar sehr viel Mühe, den Zusammenhang zwischen Gruppe und Standort der Bücher zu verdeutlichen, aber es bleibt unklar, ob dies bei den Kindern ankommt. Einige Kinder machen deutlich, dass sie nicht wissen, wie sie sich entscheiden sollen. Auch die Feststellung des Ergebnisses der Abstimmung wird dazu genutzt, Pädagogik zu betreiben, den Kindern etwas beizubringen. Die ‚Diskussion‘ von Aminas Entscheidung hat eine ganze Vollversammlung ausgefüllt. Damit ist das Thema allerdings noch nicht beendet, denn das von Jenny angefertigte Protokoll wird in der Woche darauf von Richard ausführlich wiederholt, wie ich in Abschnitt 5.1.2 dargelegt habe. Noch eine Woche später wird das Thema erneut aufgegriffen: Sie fragt, worüber Richard (PFK) letzte Woche mit ihnen in der VV gesprochen habe. Samuel (K) meldet sich und sagt, als er drangenommen wird: „Dass die Bücher in den Mitarbeiterraum kommen.“ Amina (PFK): „Fast richtig, aber nicht ganz. Die sollen wo anders hin. Wohin?“ Narayan (K) hat sich gemeldet, ist an der Reihe und druckst herum. Lucy (K) ruft dazwischen: „Zu Amina.“ Narayan wiederholt: „Zu Amina.“ Darien meldet sich, wird drangenommen und sagt: „Das ist, damit die Bücher nicht kaputt gehen. Ich will nicht, dass die Bücher kaputt gehen.“ Die Kinder stimmen zu, viele sagen: „Ich auch nicht.“ Narayan meldet sich und sagt: „Ich möchte nicht, dass die Bücher kaputt gehen“. Amina: „Dann sind wir
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uns ja alle einig“. Kerstin (PFK): „Dann haben wir ja bald nur noch heile Bücher.“ Clara (K): „Bei den Büchern reißen die Löcher aus, das hat eine Frau gesagt.“ Es melden sich noch mehr Kinder, die sagen, dass sie nicht wollen, dass die Bücher kaputt gehen. (P.23.10.14)
Wieder einmal wird wiederholt, was in der Sitzung zuvor besprochen wurde. Darin zeigt sich die Absurdität der Wiederholung: Bereits letzte Woche war nur wiederholt worden, was in der Woche zuvor besprochen wurde. Die Redundanzerzeugung der pädagogischen Fachkräfte wird von den Kindern hingenommen und nachgeahmt. Amina (PFK) sagt, sie würde jetzt den Raum an die Angebotstafel hängen, damit die Kinder ihre Fotos daneben hängen können. Kerstin (PFK) meint, dass es ein Foto vom Büro gebe, das sei in der Kiste. Amina holt die Kiste mit den Fotos und sucht das Büro aus. Sie lacht, als sie es sieht und sagt, dass das ja schon ganz alt sei. Die Kinder kommen angelaufen und wollen das Bild sehen. Es bleiben nur etwa 8 Kinder sitzen. Amina sagt, sie würde es jetzt an die Tafel hängen und dann könne jeweils ein Kind gucken, wie das Büro auf dem Foto aussieht. Sobald es damit fertig sei, könne es das Kind, das neben ihm sitzt, abklatschen, dann dürfe dieses Kind gucken gehen. Das dauert eine ganze Weile, weil die Kinder vor Aufregung vergessen, abzuklatschen. Eines der Kinder fängt an, etwas auf dem Bild zu zählen, die Kinder danach machen es ihm nach. Narayan (K) passt auf, dass auch richtig weitergegeben wird: „Benjamin klatschen“ Samuel (K) hat dies nämlich vergessen. Es wird lauter im Raum. Einige Mädchen rund um Ada machen den Leisefuchs. (P.23.10.14)
Auch im weiteren Verlauf der Vollversammlung nimmt das Thema viel Raum ein. Es wird zu einem kleinen Spiel für die Kinder gemacht, das einerseits pragmatisch ist, weil es allen Kindern ermöglicht, das Foto des Büros zu sehen, andererseits das Thema stark ausdehnt. Schließlich meldet sich im Morgenkreis eine Gruppe von Kindern freiwillig, um mit Amina während der Angebotszeit die Tagebücher umzuräumen. Als alle Kinder damit fertig sind, das Foto anzugucken, sagt Amina (PFK), dass sich nun die Kinder melden sollen, die Lust haben, ihr beim Umzug der Bücher zu helfen. Diejenigen, die sie abklatscht, sind dabei. Nele (K) ist die sechste, die mithelfen will. Lucy (K) darf nicht mitmachen, aber zugucken. Sofort melden sich weitere Kinder, die zugucken wollen. Amina hat Probleme, das Angebot zu begrenzen. (P.23.10.14)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Amina geht direkt in die Vorbereitung der Angebotszeit über. Dies verursacht dann auch den folgenden Kommentar von dem fünfjährigen Kind Nemo: Amina
Wir haben ja eines nicht gemacht!“ Nemo: „Vollversammlung!“ „ (P.23.10.14)
5.4.2 Rituelle AG-Gründung Eine weitere Praktik, die verhindert, dass Anliegen der Kinder in der Vollversammlung diskutiert und entschieden werden, ist die Gründung einer Arbeitsgemeinschaft: Das dritte Kind wird aufgerufen und sagt, dass es mehr in die Holzwerkstatt wolle. Andere Kinder rufen dazwischen, dass sie das auch wollen. Ein weiteres Kind sagt, dass es außerdem mehr Kinder in der Holzwerkstatt wolle, nämlich nicht mehr nur vier, sondern sechs. Ein anderes Kind ruft, dass sieben Kinder in die Holzwerkstatt gehen dürfen sollen, weil man sonst so lange draußen warten müsse. Die Moderation schlägt vor, eine AG zu gründen, um Ideen zu besprechen. Ein Kind meldet sich und sagt, dass nur vier Kinder in die Holzwerkstatt sollen, weil es sonst ein großes Gedränge gebe. (P.27.03.14)
Ein Kind eröffnet ein neues Thema: Die Holzwerkstatt. Dieses wird von den anderen begeistert aufgenommen. Verschiedene Kinder bringen verschiedene Forderungen vor, die sie zum Teil argumentativ begründen: Damit sie nicht mehr so lange warten müssen, bis sie in die Holzwerkstatt gelangen, sollen mehr Kinder die Holzwerkstatt gleichzeitig benutzen dürfen. Die Moderatorin versucht, die Diskussion aus der Vollversammlung in eine Arbeitsgemeinschaft zu verlagern. Ein weiteres Kind meldet sich und äußert ein Argument, das der vorher geäußerten Forderung widerspricht: Wenn sieben Kinder gleichzeitig in der Holzwerkstatt seien, gäbe es ein großes Gedränge. Die Kinder demonstrieren hier, dass sie dazu fähig sind, sinnvolle Forderungen an eine Öffentlichkeit heranzutragen, Argumente für und gegen diese Forderungen zu finden und generell ein gemeinsames Thema zu finden und kommunikativ zu bearbeiten. Sie nehmen nicht nur Bezug auf das Thema, sondern sogar auf die Inhalte der einzelnen Argumente, die von anderen Kindern genannt wurden. Dies wird von der Moderation nicht entsprechend gewürdigt oder gar ins Protokoll aufgenommen. Die Kinder sind enthusiastisch dabei, miteinander zu diskutieren. Diese Emotionalität und Leidenschaft irritiert die Fachkraft und sorgt dafür, dass sie lieber die polizeiliche Ordnung reinszeniert, anstatt die Kinder weiter diskutieren zu lassen. Auch der
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Vorschlag der Moderatorin wird übergangen und weiter diskutiert. Hier entsteht trotz aller ritualisierten Ordnung ein Diskurs zwischen den Kindern. Die Moderation wiederholt ihren Vorschlag, eine AG einzurichten. Jedoch wird sie unterbrochen von Amina, die sie darauf hinweist, dass zunächst eine Computerraum-AG gegründet werden müsse, wie sie letzte Woche besprochen hätten. Die Moderatorin stimmt ihr zu und sagt zu den Kindern, dass sie sich vertan habe und erst einmal eine Computerraum-AG gegründet werden solle, wie es in der allerersten Vollversammlung beschlossen worden sei. Den Themenwechsel verdeutlicht sie, indem sie Blatt für Blatt des Flipcharts nach vorne klappt, bis sie am Protokoll der 1. Sitzung ankommt. Sie fragt die Kinder, ob sie sich noch erinnern könnten. Die Kinder bejahen dies. (P.27.03.14)
Die Moderation wiederholt ihren Vorschlag, sie setzt auf die realitätsstiftende Wirkung von Wiederholungen. Darin wird sie allerdings unterbrochen von der Einrichtungsleitung, die wie bei der Protokollerstellung als Vorgesetzte und Besserwissende auftritt. Amina verweist auf eine vergangene Entscheidung, die noch umgesetzt werden müsse. Sie ergänzt also den impliziten Ablauf um einen weiteren Tagesordnungspunkt. Die Kinder hingegen zeigen ganz deutlich, dass sie Themen haben, die sie besprechen wollen. Diese Themen der Kinder werden von den Erwachsenen entweder als zeitlich oder räumlich deplatziert abgewertet. Schließlich wird noch nicht einmal Raum dafür geschaffen, das Thema weiter zur besprechen, denn es wird verhindert, eine Arbeitsgemeinschaft zu gründen. Die hierarchische Beziehung zwischen Leiterin und Moderation wird dadurch rituell bestätigt, dass der Hinweis von der einen an die andere geht, und die untergebene pädagogische Fachkraft zugibt, dass sie „sich vertan“ habe. Damit gibt sie ein öffentliches Schuldbekenntnis und rahmt die Diskussion als ihren eigenen Fehler: Sie hätte überhaupt nicht vorschlagen dürfen, die Diskussion in einer neu zu gründenden AG fortzusetzen, weil es dafür keine Zeit und keinen Raum gibt. Das Protokoll als höhere Instanz und als Ergebnis eines zurückliegenden Rituals wird herangezogen, um das Demokratische des aktuell aufgeführten Rituals suspendieren zu können und die Machtbeziehung zu festigen. Ein anderes Thema aus einer früheren Sitzung wird plötzlich bedeutsamer als das aktuelle, gerade auch, weil es ein Protokoll darüber gibt. Die Moderation bittet diejenigen Kinder, die in die AG wollen, sich zu melden. Anfänglich melden sich einige Kinder. Während die Moderation alle Kinder nacheinander beim Namen nennt, was scheinbar von einer anderen PFK protokolliert
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
wird, melden sich immer mehr Kinder, sodass am Ende 14 Kinder in der AG sind. Das Thema scheint damit beendet zu sein. Es wird nicht deutlich, ob ein Ort und ein Zeitpunkt des 1. Treffens der AG festgelegt wurden. Wie ist das also geregelt? (P.27.03.14)
Nun wird statt der Holzwerkstatt- eine Computerraum-AG gegründet, weil dieser Punkt aus einer früheren Sitzung noch offen ist. Dafür wird zunächst abgefragt, wer Mitglied der Gruppe werden möchte. Die Kinder rufen nicht in den Kreis, sondern sie melden sich, d. h. sie üben wieder Selbstdisziplin aus. Sie halten aus, dass ihrem Wunsch nicht sofort Rechnung getragen wird, sondern sie warten müssen, ob und bis sie aufgerufen werden. Dadurch, dass sie beim Namen genannt und auf einer Liste eingetragen werden, wird ihre Individualität versichert und ihre Mitgliedschaft bestätigt. Mit dem Aufrufen des letzten Kindes, das sich gemeldet hat, wird auch das Thema „Computerraum-AG“ beendet, indem zur nächsten Aktivität gewechselt wird. Mir als externer Beobachterin ist zu diesem Zeitpunkt nicht klar, ob sich die AGs immer zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort treffen oder nicht. In jedem Fall wird nichts darüber bekannt gegeben und auch nichts darüber im Protokoll der Sitzung verzeichnet. Monate später zeigt sich, dass die AG-Gründung für die Holzwerkstatt immer wieder aufgeschoben wurde: Tina (PFK) Genau. Da geht es um die Arbeitsgruppe für die Holzwerkstatt. Nemo (K) Genau. Tina Die müssen wir ja auch mal anfangen. (P.21.08.14)
Noch eine Woche später wurde das Problem bereits „gelöst“, ohne dass die AG jemals getagt hätte: Mit Tina (PFK) unterhalte ich mich später länger über AGs. […] Anlass für diese Unterhaltung ist, dass Tina nicht genügend Unterstützung erfährt vom Team, wie sie auch selbst findet. Richard (PFK) soll die Holzwerkstatt-AG leiten, macht aber stattdessen lieber häufiger die Holzwerkstatt auf, sodass das Hauptanliegen der Kinder bereits umgesetzt ist, ohne dass eine demokratische Prozedur eingeleitet oder durchgeführt wurde. (P.28.08.14)
Bei der Sequenz handelt es sich um ein Gespräch zwischen Tina und mir, das ich im Nachgang protokolliert habe. Wie in Abschnitt 5.1.2 bereits angedeutet, ist Tina hauptsächlich dafür verantwortlich, das Gremium Vollversammlung einzuführen. Sie ist sich selbst bewusst, dass ihre Kolleg*innen das Thema Partizipation in Form von Gremien nicht wichtig finden. Das zeigt sich auch daran, wie sie mit
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dem Gremium der AG umgehen: Anstatt mit den Kindern eine AG-Sitzung für die Verbesserung der Holzwerkstatt zu machen, setzt Richard einfach seine Idee davon, wie es für die Kinder besser wäre, um. Er eröffnet nicht wieder den Diskurs über gute Regeln für die Öffnung der Holzwerkstatt, obwohl die Kinder dazu viele Vorschläge zu haben scheinen, sondern befriedigt die angenommenen Bedürfnisse der Kinder, bevor es überhaupt zu einem richtigen Konflikt kommen kann.
5.4.3 Vorschläge verschwinden lassen Der Vorschlagsumschlag ist das formale Verfahren, um die Anliegen der Kinder in die Vollversammlung einzubringen. Die Moderation sagt, dass nun die Konzentration nachlasse und daher das Thema gewechselt werde. Sie fragt nach Vorschlägen der Kinder. Auf Nachfrage von Amina (PFK) sagt sie, dass sie nicht in den Umschlag geschaut habe, ob dort Vorschläge gemacht worden seien. Amina bietet an, den Umschlag zu holen und geht aus dem Raum. Sie kommt mit einem Ordner in der Hand zurück. […] Amina öffnet den Umschlag und stellt fest, dass er leer ist. Sie spricht laut ihre Verwunderung über den leeren Umschlag aus. (P.27.03.14)
Die Frage nach Vorschlägen der Kinder wird von der Einrichtungsleiterin sofort unterbrochen, indem sie das Artefakt des Umschlags einfordert. Die Themenvorschläge der Kinder sollen zunächst nicht unmittelbar in den Vollversammlungen Gehör finden, sondern über einen Vorschlagsumschlag vermittelt werden. Allerdings hat die Moderatorin diesen Umschlag nicht in die Versammlung mitgebracht. Dies wird jetzt von der Einrichtungsleiterin nachgeholt. Der Umschlag befindet sich anscheinend in einem Ordner. An dieser Stelle tritt der Ritualcharakter der Vollversammlung deutlich hervor: Ein Artefakt (der Umschlag) wird dadurch mit Bedeutung aufgeladen, dass seine Abwesenheit kommentiert wird und der Ablauf der Versammlung von ihm abhängig gemacht wird. Dann wird das Artefakt herbeigeholt und erst dann kann es weitergehen. Die Einrichtungsleiterin stellt ihre Verwunderung über den leeren Umschlag zur Schau. Das deutet darauf hin, dass die Kinder im Alltag immer wieder Dinge ansprechen, die sie betroffen machen. Trotzdem befindet sich kein Vorschlag im Umschlag. Allerdings, und das bleibt vollkommen unberücksichtigt und unkommentiert, befindet sich der Umschlag in einem Ordner eingeheftet an einem den Kindern nur bedingt zugänglichen Raum. Somit befinden sich einige Barrieren zwischen
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Kind und Vorschlagsannahmestelle: Das Kind muss einen Themenvorschlag haben und diesen entweder selbst zu Papier bringen. Dafür muss es Zugang zum Atelier bekommen und dann überlegen, wie es den Vorschlag zeichnerisch darstellen kann, und dies umsetzen. Alternativ dazu muss es eine Fachkraft finden, die gerade Zeit hat, den Vorschlag anzuhören und aufzuschreiben. Danach muss der Vorschlag noch in den Umschlag gelangen. Dafür braucht das Kind eine Person, die weiß, in welchem der vielen Ordner in mindestens zwei verschiedenen Räumen der Einrichtung der Umschlag steckt, und die den Vorschlag dort unterbringen kann. Es ist also aus meiner Sicht nicht dem Lernprozess der Kinder anzulasten, dass keine Vorschläge im Umschlag sind, sondern eher den zahlreichen Barrieren. Die zur Schau gestellte Verwunderung normalisiert hingegen das Verfahren mit dem Umschlag im Ordner. Sie stellt es als selbstverständlich dar, dass Kindervorschläge so und nicht anders gesammelt werden. Derweil sitzt Amina (PFK) mit dem Vorschlagumschlag weiter im Kreis und erhält endlich ein Blatt Papier, auf das ein Kreis gemalt ist. Der Junge, der das Bild gemalt hat, nachdem er wie in der letzten Woche auch schon daran erinnert worden ist, sagt, das sei ein Fußball. Er würde gern mehr Fußball spielen. Das wissen eigentlich schon alle, aber Amina scheint es wichtig, das Prozedere einzuhalten. Sie bedankt sich und sagt, dass sie noch etwas draufschreiben würde, wenn das okay wäre. Sie sagt laut, was sie schreiben will, nämlich Datum, Name des Vorschlagenden und auch den Vorschlag selbst formuliert sie aus. Dann steckt sie das Bild in den Umschlag und geht aus dem Raum. (P.27.03.14)
Eines der Kinder, das aus dem Bewegungsraum hinausgelaufen ist, kehrt nach einer Weile mit einem Vorschlag für den Umschlag zurück. Es hat also die Phase zwischen Morgenkreis und Angeboten genutzt, um in das Atelier zu laufen, wo Stifte und Papier bereitgestellt werden, und dort einen Kreis aufzumalen, der nach seinen Auskünften dafür steht, dass mehr Fußball gespielt werden soll. Im Beobachtungsprotokoll steht, das Kind sei in der Woche zuvor auch daran erinnert worden, den Vorschlag aufzumalen. Dies geht aus dem Beobachtungsprotokoll des Feldeintritts nicht hervor (vgl. Abschnitt 4.4). Hier klärt sich jedoch auf, warum Amina in der Vollversammlung so verwundert war, dass der Umschlag leer war: Sie hatte anscheinend erwartet, dass das Kind bereits seinen Vorschlag aufgemalt hätte. Weder das Kind, noch die Fachkräfte, noch Amina, haben aber das Thema Fußball in der Versammlung angesprochen. Hier scheint es eher darum zu gehen, ein Verfahren zu etablieren, als darum, den bereits bekannten Wunsch eines Kindes ernst zu nehmen und ihn aufzugreifen. Auf Kosten der Lösung eines realen Problems muss das Kind ein Verfahren einhalten,
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das nicht einmal von den Erwachsenen korrekt umgesetzt wird: Der Umschlag wurde erst nach Aminas Aufforderung von der Moderatorin zu Rate gezogen, sie hat vorher nicht nachgesehen, ob es Kindervorschläge gibt. Wieder wird die Handlung des Kindes mit einem rituellen Dank quittiert. Dann wird die Zeichnung ergänzt: Amina notiert schriftlich, wer den Kreis gemalt hat, wofür er stehen soll und wann er gemalt wurde. Der vom Kind gemalte Vorschlag wird gänzlich in eine für Erwachsene verständliche Sprache übersetzt. Erst dann wird er in den Umschlag gesteckt. Diese Praktik führt das Verfahren des Vorschlagsumschlags ad absurdum. Zudem ist dies das letzte Mal, dass ich den Umschlag überhaupt zu Gesicht bekomme. In der folgenden Woche kann ich nicht an der Vollversammlung teilnehmen um zu beobachten, wie genau der Vorschlag aus dem Umschlag an die Öffentlichkeit gebracht und verhandelt wird. Danach wird der Umschlag nur noch einmal thematisiert, nämlich in einer improvisierten Vollversammlung (P.16.10.14). Der Umschlag erhält durch diese Verfahrensweise eine magische Wirkung: Er lässt Vorschläge der Kinder, d. h. potentielle Probleme, verschwinden. Diese Wirkung ist dauerhaft, wie sich zeigt: Dann beginnt der Morgenkreis. Der geht so lange, bis das Aufräumlied gesungen wurde. Dann laufen die Kinder los. Es bleiben aber auch jedes Mal noch 4–6 Kinder im Bewegungsraum und sprechen mit mir, einer pädagogischen Fachkraft oder versuchen, schnell Fußball zu spielen. (P.12.06.14)
Einige Monate, nachdem der Vorschlag verschwunden ist, versuchen die Kinder, die gern Fußball spielen wollen, dies in einer liminalen Phase nach dem Ende des Morgenkreises zu tun. Dies zeigt, dass über das formale Verfahren mit dem Umschlag keine befriedigende Lösung für das Problem mit dem Fußball-Spielen gefunden wurde. Die Kinder eignen sich daher für ihr Spiel den Raum an, der ihnen bleibt. Das Thema Fußball ist damit aber noch nicht geklärt, sondern es wird durch eine weitere Strategie beendet, die ich im folgenden Kapitel beschreiben werde: Die Klärung im Dialog.
5.4.4 Problemlösung in Dialog überführen Die pädagogischen Fachkräfte sind geübt darin, einen Dialog mit den Kindern einzugehen und Probleme auf diese Weise zu lösen. Dieses etablierte, ritualisierte Verfahren der dialogischen Klärung übertragen sie auch in die Vollversammlung.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Beispiel: Fußball Das Thema Fußball wird durch den Vorschlagsumschlag nicht endgültig ‚weggezaubert‘, sondern tritt Monate später wieder auf. Fußball ist auch Anlass für Unmut bei einem Vorschulkind. Dieses sagt, dass es mit dem Schwimmen und dem verpflichtenden Vorschulangebot in der Woche gar keine Zeit habe, Fußball zu spielen. Tina (PFK) sagt, dass sie sehr gut finde, dass er das so sagen würde. Sie schlägt vor, er soll Kerstin (PFK), die das Vorschulangebot macht, genauso sagen, was er doof findet und sie bitten, früher Schluss zu machen, damit er noch Fußball spielen könne. Der Junge sagt, er würde Kerstin sagen, dass er früher raus dürfe um Fußball zu spielen. Tina sagt, dass er das so nicht sagen soll, sondern Kerstin fragen soll, ob er früher raus dürfe, um Fußball zu spielen. Der Junge nickt. (P.10.07.14)
Drei Monate nachdem das Thema Fußball in den Umschlag gesteckt wurde, wird es erneut in die Vollversammlung eingebracht. Dabei wird es behandelt, als sei es ein neues Thema: Das Kind wird öffentlich dafür gelobt, das Thema einzubringen. Ohne die anderen Kinder zu fragen, ob sie ein ähnliches Problem haben, schlägt Tina ihm sofort eine individuelle Lösung für ein strukturelles Problem vor: Das Kind soll Kerstin, die das Vorschulangebot macht, an dem das Kind verpflichtend teilnehmen muss, fragen, ob das Vorschulangebot früher beendet werden könne. Das Problem, das es anspricht, ist, dass es zu viele verpflichtende Termine in der Woche hat. Dieses Problem wird nicht bearbeitet. Stattdessen gibt ihm Tina Tipps für die Kommunikation mit Kerstin. Sie rahmt das Gespräch damit explizit nicht als gemeinsam getroffenen Entschluss, sondern als Beratung. Das Kind akzeptiert diese Vorgehensweise. Aber nicht immer gelingt es den pädagogischen Fachkräften, die Anliegen der Kinder zu individuellen Problemen zu erklären. Durch Hartnäckigkeit und die Unterstützung anderer Kinder gelingt es mitunter, ein Problem öffentlich zu verhandeln und eine gemeinsame Lösung zu finden.
Beispiel: Löwenjagd Tina (PFK): Okay! Dann machen wir schnell noch die Löwenjagd. K1: Nemo will raus. Tina: Nee. Nein. Dann setzt euch mal alle hin. Ich hab niemandem erlaubt, rauszugehen. Nemo (K): Ich mag die Löwenjagd nicht. Tina: Ja, du kannst dich melden und das sagen. (T.10.07.14)
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Tina kündigt nach einem einleitenden Okay an, jetzt „schnell noch“ ein ganz bestimmtes Spiel zu spielen. Mit okay könnte sie die vorangegangene Äußerung oder Handlung legitimieren. Das Okay kann aber auch dazu dienen, das Rederecht wiederzuerlangen und die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken. Das „schnell noch“ deutet darauf hin, dass es einen begrenzten Rahmen gibt, in den das Spielen eingepasst werden muss. Dieser Rahmen kann durch zeitliche Vorgaben oder durch die wahrgenommene nachlassende Aufmerksamkeit der Kinder gesteckt sein. Insgesamt deutet der Satz darauf hin, dass eine Entscheidung vorangegangen sein muss, dieses Spiel zu spielen, und dass diese Entscheidung jetzt unter Druck noch umgesetzt werden muss. Eines der anwesenden Kinder, das nicht namentlich zugeordnet werden kann, deutet öffentlich die Intention des Verhaltens eines anderen Kindes namens Nemo. Ohne zusätzliche Information kann diese Äußerung bedeuten, dass Nemo sich nicht traut, zu fragen, ob er hinausgehen kann. Das Kind könnte zum Beispiel der große Bruder oder ein guter Freund sein, der die körperlichen Signale von Nemo, der vielleicht selbst nicht sprechen kann, deutet und sie verbalisiert. Das Kind könnte hingegen auch den heimlichen Versuch von Nemo, sich zu entziehen, öffentlich machen wollen oder zumindest Tinas Aufmerksamkeit darauf lenken wollen. Tinas darauf folgendes „Nee“ bzw. „Nein“ lässt noch offen, ob sie die Interpretation des Kindes ablehnt oder ob sie sich auf Nemos Versuch, den Raum zu verlassen, bezieht. Erst die folgende Aufforderung an alle, sich wieder zu setzen, zeigt, dass nicht nur Nemo, sondern auch andere Kinder aufgestanden sein müssen, und das Kind somit nur Nemo angeklagt hat. Tina verwehrt den Kindern, aufzustehen und hinauszugehen. Zunächst fordert sie das von ihnen gewünschte Verhalten, sich hinzusetzen, ein, und dann demonstriert sie, dass es allein in ihrer Macht liegt, zu entscheiden, wer aus dem Raum gehen darf. Sie verweist nicht auf das Setting, das vorgibt, dass alle im Kreis bleiben, sondern auf ihre eigene Macht, zu erlauben oder zu verbieten, den Raum zu verlassen. Nemo begründet oder rechtfertigt seinen Versuch, den Raum zu verlassen, damit, dass er das Spiel nicht mag. Seine Ablehnung geht anscheinend so weit, dass er nicht einmal im Raum sein will, wenn das Spiel gespielt wird, anstatt einfach nur nicht mitzuspielen. Tina bestätigt zunächst, dass sie Nemo vernommen hat. Sie spricht ihm entweder die Fähigkeit zu, sich zu melden und seine Ablehnung zu verbalisieren, oder sie erlaubt es ihm. Da sie zuvor bereits deutlich gemacht hat, dass sie darüber bestimmt, wer den Raum verlässt, liegt der Schluss nahe, dass sie Nemo die Erlaubnis erteilt. In dieser Sequenz wird deutlich, dass die Möglichkeit zur
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demokratischen Aushandlung von dem guten Willen der pädagogischen Fachkraft, die sich als Autorität darstellt, abhängig ist. Tina stiftet dazu an, die eigenen Bedürfnisse oder Interessen verbal zu äußern, statt sich wortlos körperlich zu entziehen. Es geht also nicht (nur) darum, ihre eigene Macht zu demonstrieren, sondern Nemo einen anderen Umgang mit seinen Interessen nahezulegen. K2: K3: K4: K5: K4:
I ch auch nicht. Ich auch nicht. Ich mag die Löwenjagd. Nein. Ich mag nicht die Löwenjagd. (T.10.07.14)
Sofort, als würden sie nutzen, dass Tina eine Erlaubnis erteilt hat, sagen andere Kinder, allerdings ohne dass sie sich gemeldet hätten, wie sie zur Löwenjagd stehen. Es ist nicht klar, ob es sich um dieselben Kinder handelt, die ebenfalls versucht haben, aus dem Raum zu gelangen. In jedem Fall scheinen sie es nun legitim zu finden, ihre Meinung öffentlich zu machen. Richard (PFK): Paul, Paul, listen please. Please listen: Instead of getting a lion, how about catchingNemo (K): Leopardenjagd, die mag ich. K5: Nein. K3: Nein. Tina (PFK): Dann kEinige Kinder: Nein, nein. Richard: Listen. How aboutK2: Ich mag die Löwenjagd nicht. Tina: Hör mal, was Richard sagt. (T.10.07.14)
Die pädagogische Fachkraft Richard ruft zunächst Paul zur Ordnung, indem sie dessen Namen nennt und ihn auffordert, zuzuhören. Die anderen Kinder, die ebenfalls sprechen, werden von Richard nicht namentlich aufgerufen. Richard statuiert an Paul ein Exempel, indem er zu verstehen gibt, dass er genau wahrnimmt, wer nicht zuhört, und nicht davor zurückschreckt, Namen zu nennen und seine Wahrnehmung somit öffentlich zu machen. Dann wiederholt er seine Aufforderung, zuzuhören, und ergreift so das Rederecht. Er versucht, einen Vorschlag zu machen, wie das Spiel abgewandelt werden könnte, wird jedoch von Nemo unterbrochen, der ebenfalls indirekt einen Lösungsvorschlag macht, indem er verkündet, welches Spiel ihm gefällt. Einige Kinder
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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kommentieren Nemos und/oder Richards Vorschlag mit „nein“. Da beides in so kurzem Abstand aufeinander gesagt wird, wird nicht deutlich, worauf die jeweiligen Kinder ihr „nein“ beziehen. Möglicherweise lehnen sie das gesamte Vorhaben ab, das Spiel abzuwandeln. Richard macht einen zweiten Versuch, seinen Vorschlag auszuformulieren, den er wiederum durch die Aufforderung, zuzuhören, einleitet. Auch dieses Mal wird er unterbrochen. Eines der Kinder wiederholt Nemos Äußerung ein weiteres Mal. Ein ähnliches Festhalten am Wiederholen einer zuvor getätigten Äußerung lässt sich immer wieder beobachten. Es wirkt, als müsse jedes Kind, das eine Meinung zu etwas hat, diese erst einmal äußern, bevor zu etwas Neuem übergegangen werden kann. Tina rahmt die Äußerung jedoch als Missverständnis. Sie fordert das Kind dazu auf, zuzuhören, was Richard sagt, und suggeriert damit, das Kind habe nicht verstanden, dass Richard bereits an einem Lösungsvorschlag arbeitet. Richard (PFK): How about we catch a rabbit? Tina (PFK): Oh, eine Hasenjagd. Habt ihr schon einmal versucht, einen Hasen zu fangen? K8: Neeeeeeein. Tina: Das ist ganz schön schwierig. Richard: Liam, Liam. K9: Nein. K10: Nö. Tina: Okay, alsoRichard: Okay, now. Nemo, tell me why you don’t like it. (T.10.07.14)
Richard macht den Vorschlag, ein anderes, weniger angstbesetztes Tier zu jagen als einen Löwen. Tina wiederholt den Vorschlag auf eine Art und Weise, die an Kasperletheater erinnert. Sie scheint die Kinder motivieren zu wollen, dem Vorschlag zuzustimmen. Sie knüpft zudem eine Frage nach den persönlichen Erfahrungen der Kinder an, stellt das Spiel indirekt als Möglichkeit dar, die Erfahrung zu machen. Eines der Kinder springt entweder darauf an und antwortet ebenso wie im Kasperletheater auf Tinas Frage, oder es verneint den Vorschlag, einen Hasen statt einen Löwen zu fangen. Tina suggeriert, dass es schwer sei, einen Hasen zu fangen und versucht damit erneut, die Kinder zu motivieren. Darin dokumentiert sich, dass Kinder entweder durch die Neuheit der Erfahrung oder durch die in ihr liegenden Herausforderungen Motivation herausbilden sollen.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Richard ermahnt Liam auf eine ganz ähnliche Weise wie zuvor Paul, indem er dessen Namen nennt. Er benennt weder das erwünschte noch das unerwünschte Verhalten sondern den Träger des Verhaltens, die Person. Zwei weitere Kinder lehnen den Vorschlag ab oder widersprechen Tinas Behauptung, dass es schwierig sei, einen Hasen zu fangen. Tina sichert sich wieder das Rederecht, indem sie „okay“ sagt und beginnt, eine Schlussfolgerung zu ziehen. Dieses Mal wird sie von Richard unterbrochen, der sich ebenfalls mit einem „okay“ das Rederecht sichert und nun Nemo relativ harsch dazu auffordert, ihm eine Begründung für seine Ablehnung zu geben. Richard spricht nicht als Mitglied des Demos, das versucht, ein für alle verständliches Argument zu erfahren, sondern er spricht von sich selber in der ersten Person, als mächtiger Erwachsener zu einem Kind. Nemo soll vor allem ihm, Richard, erklären, warum er keinen Löwen jagen möchte. Nemo (K): Wegen dem lauten Schreien am Ende. K7: Oder Rabenjagd. Richard (PFK): Yelling loud at the end? Really? K9: Aber weißt du, weißt du? Tina (PFK): Ja, ein bisschen. K9: Bei Leopardenjagd ist das genauso, Nemo. Nemo: Nee, da schreit man ganz leise. K9: Nein, nur bei den Kleinen, die da im Kreis sind. (T.10.07.14)
Nemo gehorcht Richard und begründet, warum er das Spiel nicht mag. Er verweist auf die Lautstärke des Schreiens, das anscheinend am Ende des Spiels erfolgt und ihm missfällt. Ein anderes Kind macht einen weiteren Versuch, das Spiel abzuwandeln, und schlägt vor, einen Raben zu jagen. Auf diesen Vorschlag wird nicht weiter eingegangen. Stattdessen fragt Richard erstaunt nach, ob tatsächlich laut gerufen werde am Ende des Spiels oder ob das wirklich der Grund sei, weshalb Nemo es nicht spielen will. Er konzentriert sich damit ausschließlich auf Nemo. Es könnte einerseits sein, dass er das Spiel nicht gut genug kennt, um zu wissen, ob laut geschrien wird, andererseits könnte er die Lautstärke anders einschätzen als Nemo. Eine weitere Interpretation dieser Frage zielt auf geschlechtertypische Erwartungen ab: Richard könnte Nemo mit der Frage verhöhnen, zu sensibel zu sein. Es lässt sich an dieser Stelle nicht endgültig festlegen, welche Interpretation die Richtige ist. Eines der Kinder beginnt, einen Einwand zu formulieren. Es versucht zunächst mit einer rhetorischen Frage, die häufiger von Kindern als von Erwachsenen gestellt wird, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
5.4 Umgang mit den Anliegen der Kinder
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Tina interpretiert Richards Frage so, dass Nemos Gesicht gewahrt wird. Sie stimmt zu, dass bei Löwenjagd am Ende laut geschrien werde, allerdings schwächt sie die Zustimmung zu Nemo durch den Zusatz „ein bisschen“ ab. Diese Antwort richtet sich direkt an Richard. Während Tina Richard antwortet, gelingt es dem Kind Nm, seinen Einwand auszuformulieren. Es behauptet, dass bei der Leopardenjagd ebenfalls laut geschrien werde. Damit verknüpft das Kind Nemos Begründung für die Ablehnung von Löwenjagd mit dessen Vorschlag, stattdessen Leopardenjagd zu spielen, und das, obwohl zwischendurch einige andere Vorschläge gemacht wurden. Die Äußerung geht aber über eine Verknüpfung hinaus, sondern ist ein Versuch, entweder das Argument zu entkräften oder den Vorschlag von Nemo aus dem Spiel zu bringen. Nemo beharrt darauf, dass das Schreien bei der Leopardenjagd eine andere Lautstärke habe. Wieder widerspricht das Kind Nm und verweist darauf, dass der Kontext und nicht die Spielregeln vorgeben, weniger laut zu schreien. Das Spiel Leopardenjagd scheint als ein Spiel für die Minis, für den Kleinen Morgenkreis zu sein. Das Kind führt damit eine Unterscheidung zwischen großen und kleinen Kindern ein, an welche gekoppelt ist, welche Lautstärke angemessen ist. K2: Ja, weil das sehr laut ist. Nemo (K): Da ist auch ein Unterschied. Bei Leoparden muss man immerRichard (PFK): Okay, how aboutNemo: leise schreien. Stimmt‘s? Tina (PFK): Okay, vielleicht können wir uns darauf einigen, dass wir alle etwas leiserRichard: Exactly. How aboutK11: Es ist sehr laut. (T.10.07.14)
Ein weiteres Kind steigt in die Diskussion um die Lautstärke ein. Es bestätigt Nemos Einschätzung, dass die Löwenjagd sehr laut ist. Nemo beginnt, den für ihn zentralen Unterschied zwischen den beiden Versionen zu benennen, Richard redet dazwischen und versucht, sich wieder das Rederecht durch ein „okay“ zu nehmen. Er bricht jedoch ab, während Nemo weiterredet. Nemo wiederholt, dass die Essenz des Spiels Leopardenjagd darin besteht, leise zu schreien. Er stellt eine Frage nach der Korrektheit seiner Angaben, die dazu motivieren könnte, sich seiner Sicht anzuschließen, sich auf seine Seite zu stellen. Zunächst Tina und dann Richard, der ihr ins Wort fällt, schlagen einen Kompromiss vor, der die Bezeichnung des Spiels beibehält und gleichzeitig Nemos Einwand gerecht wird. Jedoch wird Richard, der mit einem rituellen „exactly“ beginnt, das sowohl sein Rederecht sichern soll, als auch Tinas Vorschlag unterstützt, von einem Kind
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unterbrochen, das sowohl nochmals wiederholt, dass Löwenjagd ein lautes Spiel ist, als auch feststellt, dass es im Kreis laut zugeht. ould you please listen? Would it help you, Nemo, if we all be C quite a bit silent? Liam (K): Nö. Nemo (K): Das ist ja die Leopardenjagd. Tina (PFK): Ja? Richard: Liam, are you Nemo? Nemo: Das leise ist ja das mit der Leopardenjagd. (T.10.07.14) Richard (PFK):
Anstatt auf die Opposition durch das Kind einzugehen, fordert Richard die Kinder nochmals auf, ihm zuzuhören. Er fragt wieder explizit nur Nemo, ob der Vorschlag das Problem löst. Dies suggeriert einerseits, dass Nemo allein ein Problem mit dem Spiel hat, obwohl anfangs deutlich wurde, dass sich mehrere Kinder entziehen wollten und mindestens ein weiteres Kind genau wie Nemo findet, dass das Spiel laut ist. Zudem haben bereits andere Kinder Vorschläge geäußert. Richard direkt an Nemo gerichtete Frage deutet darauf hin, dass Richard den Konflikt im Dialog mit Nemo individuell zu lösen versucht, wie es für den Alltag in der Kita typisch ist. An Stelle von Nemo antwortet Liam verneinend auf Richards Frage und macht die Aushandlung somit wieder zu einem gemeinsamen Problem. Indem Liam sich durch seinen Einspruch selbst ins Spiel bringt, macht er Politik im Sinne Rancières (2002). Er zeigt an, dass das Demos nicht nur Nemo und Richard umfasst, sondern dass er auch dazu gehört. Nemo elaboriert die knappe Antwort von Liam, indem er nochmal darauf verweist, dass das Spiel dann Leopardenjagd genannt werden müsse. Tina zweifelt dies entweder an oder macht zumindest deutlich, dass sie sich nicht sicher ist, ob die Lautstärke tatsächlich der zentrale Unterschied zwischen beiden Varianten ist. Richard rügt Liam indirekt durch eine rhetorische Frage dafür, dass er an Nemos Stelle antwortete. Er besteht darauf, dass Nemo allein das Problem hat/ ist und deshalb nur mit Nemo zu einer Lösung gekommen werden muss. Wieder dokumentiert sich das Vermeiden, sich und die Kinder als Demos zu denken und einen Diskurs anzustreben. Stattdessen wird eine dialogische Aushandlung zwischen einem Kind und einem Erwachsenen angestrebt. Nochmals wiederholt Nemo, dass die Leopardenjagd leiser ist als die Löwenjagd. Er beharrt regelrecht darauf. Tina (PFK): Vielleicht können wir ja die Löwenjagd machen und uns heute darauf einigen, dass wir auch ein bisschen leiser schreien? Richard (PFK): Ja.
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Tina: Wäre das in Ordnung für dich? Nemo (K): Ich mag nicht so gern Löwenjagd. Viel, viel lieber mag ich diese getupften Leoparden. Richard: You know Nemo? There are plenty of things other kids don’t like, either. But they are all still in the circle. You understand? (T.10.07.14)
Nochmals wiederholt Tina den Vorschlag, leiser zu schreien und trotzdem einen Löwen und keinen Leoparden zu jagen. Richard bekräftigt dies. Tina stellt noch einmal die Frage, ob das Nemos Problem lösen würde. Nemo antwortet nicht direkt auf diese Frage. Er scheint kein weiteres Argument gegen Löwenjagd oder für Leopardenjagd zu haben, aber mit seiner Antwort und der plötzlichen Einführung des getupften Felles könnte er Zeit gewinnen wollen, indem er vom eigentlichen Thema ablenkt. Gleichzeitig treibt er die Heraussonderung, die Richard und auch Tina betreiben, indem sie immer nur wieder ihn ansprechen, auf die Spitze und testet sie: Wenn sie nur mit ihm reden, und ihn dabei ernst nehmen, sollen sie auch ernst nehmen, dass er Leoparden lieber mag. Richard reagiert sehr abweisend auf diesen Versuch Nemos, sich dem Spiel zu entziehen. Er weist Nemo scharf zurecht, indem er suggeriert, dass Nemos Verhalten von dem anderer Kinder abweicht. Wenn anderen Kindern etwas missfällt, würden sie trotzdem im Kreis bleiben. Richard fordert Nemo also auf, sich einzufügen und etwas zugunsten des Kreises der anderen Kinder auszuhalten. Wieder wird ausgeblendet, dass nicht nur Nemo nicht Löwenjagd spielen will, dass es eine ganze Gruppe von Kindern gibt, die das Spiel ablehnen und sich darüber hinaus auch schon an der Diskussion beteiligt haben. Richard beendet seine Zurechtweisung mit der Frage, ob Nemo verstanden habe, was als rhetorische Frage interpretiert werden muss. Nemo soll sich beugen und einfügen, obwohl er sich nicht selbst aus dem Demos herausgesondert hat, sondern durch die pädagogische Intervention von Richard herausgelöst wurde. Nemo (K): Trotzdem ichRichard (PFK): I know. Nemo: Ich hab Angst vor dem. Aber das ist ja die Regel, das laute Schreien bei der Löwenjagd. Tina (PFK): Ja, aber wenn wir uns alle darauf einigen, dass wir heute ein bisschen leiser schreien, wäre das in Ordnung für dich? K4: Nein.
Liam: Nein.
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Chor: Nein. Nemo: Nein. (T.10.07.14)
Nemo widerspricht erneut mit einem „Trotzdem“, das sich auf die Gefahr der Heraussonderung aus dem Demos beziehen könnte, und wird dabei unterbrochen von Richard, der suggeriert, er wisse, was los sei. Richard stellt sich damit selbst als allwissend dar. Nun liefert Nemo ein weiteres Argument oder bekräftigt sein Ursprüngliches, indem er seine persönliche Betroffenheit einbringt. Nicht nur mag er Leoparden lieber als Löwen, er hat sogar Angst vor dem Löwen oder vor dem lauten Schreien am Ende des Spiels. Das bleibt an dieser Stelle unklar. Es wird jedoch deutlich, dass Nemo eine starke negative Betroffenheit empfindet. Des Weiteren argumentiert er gegen den Vorschlag, leise zu schreien mit einer Betonung der Starrheit der Regeln: Wenn das Spiel vorgibt, laut zu schreien, muss dies auch eingehalten werden. Tina stimmt zunächst zu, stellt dann aber heraus, dass Regeln veränderbar sind, wenn sich alle darauf einigen. Sie wiederholt nochmals den Vorschlag und fragt dann, ob das in Ordnung sei. Sie richtet sich, ebenso wie Richard, nur an Nemo und nicht an die gesamte Gruppe. Bevor Nemo antwortet, entgegnen bereits mehrere andere Kinder bzw. ein ganzer Chor von Kindern, dass es nicht in Ordnung ist. Durch ihren Widerspruch, durch ihr „Nein“, zeigen sie deutlich, dass mit ihnen zu rechnen ist, dass das Demos nicht nur Nemo und die beiden Fachkräfte umfasst. Schließlich widerspricht auch Nemo. Tina (PFK): Nemo. (4) Dann machen wirNemo (K): Stimmt, Hasenjagd ist auch gut. K4: Nein. (T.10.07.14)
Wieder einmal versucht Tina, Nemo herauszusondern und zu subjektivieren, indem sie seinen Namen nennt. Nach einer kurzen Stille, in der diese Strategie nachzuwirken scheint, scheint sie zu resignieren und einen völlig neuen Vorschlag machen zu wollen, wobei sie allerdings von Nemo unterbrochen wird, der ganz plötzlich doch zustimmt, einen Hasen zu jagen, wie es anfangs m ehrfach vorgeschlagen wurde. Nemo hat bis hierhin noch keine Stellung zu diesem Vorschlag bezogen, es waren andere Kinder, die die Hasenjagd abgelehnt hatten. Nemo lenkt nun schließlich ein, fügt sich in die Gemeinschaft. Nun ist es K4, das erneut widerspricht. Richard (PFK): So, who else had a problem with it? With the lion chasing? Tina (PFK): Okay, ichRichard: Ben. What is your problem about lion chasing? Would you like to tell us or do you want to tell me?
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Ben (K): Nein. K10: Ich hab Angst vor dem Löwen. Liam (K): Angst haben. (T.10.07.14)
Nachdem Nemos Widerstand beendet ist, wählt Richard das nächste Kind heraus, das mit ihm in einen Problemlösedialog treten soll. Tina versucht, zu intervenieren und sich das Rederecht zu sichern, aber bricht ab, als Richard Ben heraussondert. Dieser wird, ebenso wie Nemo zuvor, aufgefordert, seine Ablehnung zu explizieren, er weigert sich jedoch. An seiner Stelle antwortet ein anderes Kind, das sagt, Angst vor dem Löwen zu haben. Liam wiederholt ebenfalls, Angst zu haben. hat’s okay. So how about take a rabbit? A rabbit would be T funny. Nemo (K): Ein, ein Hase. Richard: So, I have a very good idea. We’ll do and try it with a rabbit today, okay? Chor: Ja! (T.10.07.14) Richard (PFK):
Richard geht darauf ein, dass die Kinder ihre persönliche Betroffenheit äußern und legitimiert ihre Angst vor dem imaginierten Löwen. Wieder schlägt er vor, statt dem Löwen einen Hasen zu jagen, und damit ein weniger angstbesetztes Tier. Er ergänzt Tinas Liste um ein weiteres Argument für den Hasen: Dieser ist nicht nur eine Herausforderung und etwas Neues, sondern es wäre auch noch lustig, einen Hasen zu jagen. Nemo wiederholt den Namen des Tiers auf Deutsch. Richard engagiert sich weiter und evaluiert seine Idee, einen Hasen zu jagen, als eine gute. Er lässt es so dastehen, als sei ihm die Idee eben erst gekommen. Dann schwächt er seinen Vorschlag ab, indem er das Vorhaben als einen Versuch darstellt und endet mit einem offenen okay. Diese Herangehensweise trägt Früchte. Ein ganzer Chor von Kindern ruft begeistert und zustimmend, als ob er sich von Richard plötzlichem Enthusiasmus habe anstecken lassen. Richard (PFK): Just please. All the other kids now: We will help Nemo and Ben and Ben and the other kids who are scared with the lion. We will do it with a rabbit. Tina (PFK): Okay. K4: Nein! Nemo (K): Mit dem Hasen. Richard: Ja? Okay, let’s go. (T.10.07.14)
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Richard verschafft sich zunächst Gehör, dann richtet er das Wort nochmals an alle anderen, als hätten diese den Verlauf der Diskussion nicht verfolgt. Er wiederholt seinen Vorschlag mit dem Argument, dass so den Kindern geholfen würde, die Angst vor dem Löwen haben. Einige von diesen Kindern benennt er namentlich. Sein Vorschlag ist nun jedoch nicht mehr als Vorschlag gekennzeichnet, sondern wird von ihm als die Lösung, als Feststellung oder Anweisung geäußert. Tina bestätigt dies durch ein „okay“. K4 widerspricht noch immer. Nemo w iederholt den Vorschlag auf Deutsch, als würde er davon ausgehen, dass K4 nicht verstanden hat, worum es geht. Richard gibt das Startsignal. K4s Widerspruch wird nun übergangen, weder wird K4 gefragt, noch sagt es von allein, warum es nicht Hasenjagd spielen will. Das Spiel beginnt. Das angstbesetzte Tier, der Löwe, wird in der hier vorliegenden Sequenz durch einen „flauschigen“ und langohrigen Hasen ersetzt, weil der Löwe einigen Kindern tatsächlich und nicht nur im Spiel zu viel Angst macht, und weil für eines der Kinder das laute Schreien als Ausdruck der Angst zu intensiv ist. Das Imaginäre, der vorgestellte Löwe, führt zu ganz realer Angst für die Kinder und sie versuchen, aus dem Raum zu fliehen, bevor das Spiel überhaupt beginnt. Dieser Emotionalität wird durch die pädagogischen Fachkräfte trotz des empfundenen Zeitdrucks Rechnung getragen, es wird eine Diskussion eingefordert und umgesetzt. Dabei wird zeitweise das aus dem Alltag bekannte Muster der Konfliktbewältigung, mit einem einzelnen Kind im Dialog eine individuelle Lösung zu erarbeiten, in das Gremium übertragen, wogegen jedoch Einspruch der nichtberücksichtigten Kinder erfolgt. Dieser Einspruch lässt den Versuch der dialogischen Klärung scheitern und führt dazu, dass gemeinsam eine Lösung gefunden werden muss.
5.4.5 Zwischenfazit: Kinder als Demokrat*innen Die Kinder zeigen immer wieder, dass sie dazu fähig sind, sinnvolle Forderungen an eine Öffentlichkeit heranzutragen, Argumente für und gegen diese Forderungen zu finden und generell ein gemeinsames Thema zu finden und kommunikativ zu bearbeiten (siehe Diskurs um die Holzwerkstatt, Abschnitt 5.4.2). Trotzdem wird an drei Stellen dagegen gearbeitet, die Anliegen der Kinder zu bearbeiten: am Vorschlagsumschlag, bei der AG-Gründung und im Dialog. Das formale Verfahren des Vorschlagsumschlags lässt die Anliegen der Kinder verschwinden, denn der Umschlag wird häufig im Büro der Einrichtungsleiterin vergessen, in dem er in einem Ordner aufbewahrt wird. Die Vorschläge der
5.5 Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse
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Kinder kommen entweder erst gar nicht dazu, aufgezeichnet und dort eingelagert zu werden, oder, wenn sie es doch tun, wird der Umschlag nicht in die Vollversammlung eingebracht. Insgesamt zeigt sich in den Beobachtungen eine Tendenz dazu, die Themen der Kinder nicht in der Vollversammlung zu bearbeiten, sondern ihre Äußerungen dort entweder als „Lärm“ (Rancière) oder als höchst individuelles Problem aufzufassen und zu bearbeiten. Dabei ist zu beachten, dass es in der Versammlung tatsächlich sehr laut zugeht und die Kinder sich mit ihren partikularen Interessen beschäftigen. Dies würde ich jedoch als ein Symptom dafür, dass die Erwachsenen oftmals ihre eigenen Themen in den Kreis einbringen und eine Betroffenheit der Kinder erst mühsam herstellen, auffassen (siehe Tagebuch-Ordner in Abschnitt 5.4.1). Wenn die pädagogischen Fachkräfte bemerken und berücksichtigen, dass den Kindern ein Thema wichtig ist, wird die Diskussion aus der Vollversammlung in eine Arbeitsgemeinschaft ausgelagert. Dabei gehen sie oft kleinschrittig vor: Die AG-Gründung wird auf eine andere Sitzung verschoben. Ein Termin für ein AG-Treffen wird nicht festgelegt und die in der Vollversammlung herausgehörten Bedürfnisse werden ohne Entscheid o. ä. durch die Person umgesetzt, die eigentlich das AG-Treffen leiten sollte. Trotzdem gelingt es den Kinder manchmal, wie am Beispiel der Diskussion um das Spiel Löwenjagd deutlich wird, ihre Betroffenheit in die Öffentlichkeit einzubringen und dort durch Beharrlichkeit und gegenseitigen Zuspruch zu erwirken, dass eine gemeinsame Lösung gefunden wird.
5.5 Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse Die ethnografische Forschung in der Kita Seitenstraße hat folgende Aspekte in Bezug auf Möglichkeiten und Grenzen der Ritualisierung von Demokratiebildung entdecken13 können: Die Betrachtung der Morgenkreise und Vollversammlungen aus einer ritualtheoretischen Perspektive hat gezeigt, dass es sich um zwei leicht divergierende Formen desselben Rituals handelt. Dieses Ritual wird von pädagogischen Fachkräften initiiert und geleitet. Es wird durch Gong und Gesang sowie pädagogische Ritualisierungen ein- und ausgeleitet und fügt die in der Einrichtung verstreuten Kinder des Elementarbereichs 13Im
Sinne des für die Ethnografie typischen Erkenntnisstils, wie ihn Hirschauer und Amann (1997, S. 8) beschreiben.
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
sowie die für die Durchführung zuständigen pädagogischen Fachkräfte, nicht aber alle Kinder und anwesenden Fachkräfte der Einrichtung, zu einer Gemeinschaft zusammen. Indem nur ein Teil der anwesenden Kinder am Ritual Morgenkreis teilnehmen, wird die Kategorie der „Großen“ (Kinder) eingeführt und aufrechterhalten. Das Ritual Morgenkreis ist somit auch als eine D ifferenzierungspraktik zwischen den teilnehmenden und den nicht-teilnehmenden Kindern zu verstehen. Darüber hinaus werden die Kinder intern nochmals nach „Größe“ differenziert, wobei die einzelnen Kategorien mit verschiedenen Privilegien, aber auch Pflichten verbunden sind. Auch andere Differenzen werden reproduziert und dabei unterschiedlich stark thematisiert: Gender scheint für die Kinder relevant, wird von den Fachkräften aber abgelehnt, eine Differenzierung nach Familiensprachen wird subtil reproduziert und nie thematisiert, obwohl die Kita bilingual ist. Die Differenzkategorie ‚Behinderung‘ wird ebenfalls reproduziert, aber nicht vor den Kindern thematisiert. Die szenische Gestaltung des Morgenkreises mit seiner leeren, gemeinschaftlich zu füllenden Mitte ist widersprüchlich. Die Bezeichnung Morgenkreis deutet auf einen egalitären Anspruch hin, die Sitzordnung ist in der Praxis jedoch rechteckig und daher mitnichten egalitär: Es gibt privilegierte und weniger privilegierte Sitzpositionen. Dies liegt auch in der Rolle des Flipchart begründet. Das Flipchart hat eine zentrale Rolle für den Morgenkreis. Auf ihm werden die Tagesordnung und das Protokoll festgehalten. Damit wird eine Tradition begründet, die die aktuelle Vollversammlung mit vergangenen und zukünftigen Versammlungen verbindet. Gerade, weil das Flipchart häufig im Mittelpunkt der Versammlung steht (ohne dass es räumlich im Mittelpunkt der Versammlung stehen kann, weil es dann von noch weniger Anwesenden gesehen werden könnte), ergibt sich eine Sitzordnung mit Plätzen, die das Geschehen unterschiedlich gut verfolgen lassen. Man könnte nun argumentieren, dass dadurch immerhin der Grad der Disziplinierbarkeit für manche der Plätze sinken würde, weil eben nicht alle von allen gesehen werden können. Doch neben der Fachkraft, die die Versammlung moderiert, nehmen mehrere andere pädagogische Fachkräfte am Ritual teil und helfen, die Ordnung aufrecht zu erhalten, indem sie Kinder zurechtweisen, ermahnen, umsetzen etc. Das bedeutet, alle Kinder können immer von mindestens einer pädagogischen Fachkraft gesehen werden. Neben den explizit auf eine Rückkehr zur Ordnung fokussierten Praktiken wird die pädagogische Ordnung der Kita auch durch die Moderation aufrechterhalten. Diese erfolgt, analog zum Gespräch im Schulunterricht, durch die Abfolge „Frage der Moderatorin – Antwort eines Kindes – Evaluation/Lob der Antwort“. Mithilfe der Regel, dass sich die Kinder im Gegensatz zu den pädagogischen Fachkräften melden müssen, wenn sie etwas sagen wollen, wird
5.5 Zusammenfassung der zentralen Erkenntnisse
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das Rederecht verteilt. Dabei gilt das Prinzip der Gerechtigkeit bei der Verteilung von endlichen Ressourcen. Die Selbstdisziplin, die mit der Art und Weise verbunden ist, wie in der untersuchten Kita die Vollversammlung durchgeführt wird, scheint einigen Kindern schwer zu fallen. Still auf einem Platz sitzen und nicht mit den Sitznachbar*innen interagieren scheinen besondere Herausforderungen zu sein. Die pädagogischen Fachkräfte gehen darauf ein, indem sie kurze, bewegungsintensive Unterbrechungen der Ordnung einbauen, in denen kurzfristig eine hierarchieärmere Gemeinschaft, eine Communitas im Sinne von Turner (2005/1969), entsteht. Anschließend kann die erwünschte Ordnung wieder besser beibehalten werden. Trotz dieser Interventionen ist es für einige Kinder in besonderem Maße schwierig, die Selbstdisziplin einzuhalten. In der Folge werden sie durch die pädagogischen Fachkräfte diszipliniert, was die asymmetrische generationale bzw. pädagogische Ordnung festigt. Ein Vorteil der Sitzordnung ist, dass sie eine verbindliche Entscheidung der Kinder für die Dauer der Versammlung erfordert. Die Interaktionen zwischen den Kindern beim Einnehmen der Sitzordnung zeigen, wie wichtig es für die Kinder ist, neben den ‚richtigen‘ Nachbar*innen zu sitzen. Sie bekunden damit Zuneigung, bestärken Zugehörigkeit und Freundschaftsbeziehungen oder verschärfen Konflikte. Somit scheint die Sitzordnung tatsächlich ein wichtiges „Übungsfeld und Lernziel im Bereich Sozialkompetenzen“ (Jäger u. a. 2006, S. 116) zu sein. Insgesamt zeigt sich, dass die Vollversammlung in der beobachteten Form eher ein Ritual der Vorbereitung für die Schule als ein demokratisches Beteiligungsgremium darstellt. Still sitzen, Fragen beantworten und Sich-Melden sind wichtige Kompetenzen, die in den ersten Klassen der Grundschule eingeübt werden (Wenzl 2014). In der beobachteten Kita üben die Kinder diese Kompetenzen bereits ab dem Alter von zweieinhalb Jahren regelmäßig in der Vollversammlung. Insofern ist davon auszugehen, dass die Vollversammlung, wenn sie wie beobachtet ausgestaltet wird, den Übergang in die Grundschule erleichtert. Verschiedene Praktiken verhindern, dass die Anliegen der Kinder bearbeitet werden: Die Erwachsenen wiederholen in den einzelnen Sitzungen die Inhalte der vorangegangenen oder bringen ihre eigenen Themen in die Sitzungen ein. Sollten dennoch Anliegen geäußert werden, wird deren Bearbeitung in eine zu gründende AG verschoben und dann verschleppt, oder die Kinder werden aufgefordert, ihr
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5 Darstellung der Forschungsergebnisse
Anliegen aufzumalen und in einen Umschlag zu stecken. Zudem überführen die pädagogischen Fachkräfte die Anliegen einzelner Kinder nicht ins Gremium, wo sie gemeinsam bearbeitet werden, sondern versuchen, diese dialogisch zu lösen. Die Diskussion um das Spiel Löwenjagd zeigt allerdings, dass es den Kindern durch Beharrlichkeit und Zusammenschließen gelingen kann, ihre Anliegen einzubringen und auszuhandeln. Insgesamt hat die Einführung der Vollversammlung für die Kinder durchaus einen Bildungsprozess bei der sie moderierenden pädagogischen Fachkraft ausgelöst: Im Laufe der Zeit nimmt sie die Äußerungen der Kinder als relevant wahr und in die Protokolle auf. Insofern schließt Demokratiebildung in der Kita die Erwachsene(n) ein. In Bezug auf die Demokratiebildungsprozesse der Kinder ist festzustellen, dass viele von ihnen keine Probleme haben, ihre Meinungen und Ideen öffentlich zu äußern und aufeinander zu beziehen. Sie können abwägen und abstimmen. Sie treffen dabei Entscheidungen, die für mich als Beobachterin und auch für die anderen pädagogischen Fachkräfte überraschend sind. Da die Erwachsenen die Entscheidungen der Kinder nicht vorhersehen können, besteht eine unmittelbare Notwendigkeit, Kinder zu beteiligen.
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Schlussfolgerungen und Ausblick
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Frage nach dem Verhältnis von Ritualen und Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen. Die Fragestellung war zunächst, wie in Kita-Gremien demokratische Partizipation umgesetzt wird. Im Zuge der Auseinandersetzung mit Theorie und Empirie habe ich das Thema dahingehend verschoben und konkretisiert, wie ein etabliertes Versammlungsritual zu einem Ritual der demokratischen Partizipation von Kindern transformiert wird. Diese Fragestellung ist für Theorie und Praxis nicht zuletzt deshalb relevant, weil es in der pädagogischen Praxis aus pragmatischen Gründen naheliegt, bestehende Strukturen zu nutzen, um Kindern demokratische Partizipation zu ermöglichen1. Meine Ergebnisse deuten jedoch darauf hin, dass der damit einhergehende Fokus auf eine regelmäßige und formal korrekte Durchführung von Beteiligungsgremien Probleme nach sich zieht. Um Bedingungen für gelingende demokratische Partizipation zu schaffen, scheint es daher der Mühe wert, stattdessen ein ganz neues Gremium einzuführen. Bevor ich zu den Schlussfolgerungen komme, die ich aus der Forschungsarbeit ziehe, werde ich die Struktur der vorliegenden Arbeit rekapitulieren. Ich habe im zweiten Kapitel vorgestellt, was ich im Rahmen dieser Arbeit unter Demokratiebildung verstehe, nämlich das aktive Einüben von Demokratie durch ihre praktische Umsetzung als demokratische Partizipation in der Kita. Ich habe
1Dafür
argumentiert auch Malika Boukhedcha, Beiratsmitglied des Forschungsprojekts „Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen“, indem sie im Abschlussbericht des Projekts vorschlägt, das demokratische Potential von Versammlungen, die in den Kitas ohnehin durchgeführt werden, zu stärken (in: Richter u. a. 2017, S. 231 ff.).
© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6_6
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6 Schlussfolgerungen und Ausblick
aus dem Blick auf die Institutionengeschichte abgeleitet, dass es einerseits um ein verändertes Verhältnis zwischen Kindern und Erwachsenen in pädagogischen Institutionen geht, andererseits darum, eine demokratische Gesellschaftsordnung zu sichern und aufrecht zu erhalten. Dazu gehört auch, soziale Ungleichheit im Binnenverhältnis der Kinder abzubauen, die auf diskriminierungsrelevanten Differenzkategorien basiert. Anschließend habe ich Demokratietheorien dargestellt, die für das Verständnis von Demokratiebildung in pädagogischen Institutionen hilfreich sind: Deliberative Demokratie nach Jürgen Habermas und radikale Demokratietheorien nach Chantal Mouffe bzw. Jacques Rancière (Abschnitt 2.4–2.6). Deliberative Demokratie legt den Fokus auf gemeinsame Willensbildungsprozesse, die eine rationalere, d. h. für alle Beteiligten bessere Entscheidung ermöglichen. Sie ist ein wichtiger Bezugspunkt für demokratische Partizipation in sozialpädagogischen Institutionen und trägt dem Umstand Rechnung, dass eine auf Konkurrenzmodellen basierende Demokratie als Regierungsform historisch und empirisch nicht geeignet scheint, Menschen demokratisch zu bilden und an Demokratie zu binden (vgl. Abschnitt 2.4.7). Mouffes Theorie der Agonistik stellt die Möglichkeit, einen Konsens zu finden, der nicht exkludierend wirkt, grundsätzlich in Frage. Dabei erfordert sie aber, eine Einigung darüber herbeizuführen, dass man sich zumindest immer weiter streitet und damit wechselseitig als Menschen anerkennt. Rancières Demokratietheorie erklärt, wie auch in gut eingeführten demokratischen Verfahren Machtunterschiede innerhalb des Demos durch Vernehmen bzw. Unvernehmen dessen, was die Anderen sagen, manifest werden. In Hinblick auf die gut etablierte und institutionalisierte Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen war es daher wichtig, auch subtiles AneinanderVorbei-Reden erfassen zu können. Gleichzeitig wollte ich Demokratie, anders als Rancière, nicht nur als kurzfristiges Moment des Unterbrechens der gesellschaftlichen Ordnung ansehen. Sowohl das Aufbrechen von Exklusionsmustern als auch das Überführen derselben in eine neue, demokratischere Ordnung der Beziehungen zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften wollte ich also darstellen. Im Anschluss an die Einführung in Demokratiebildung bin ich im zweiten Kapitel der Frage nachgegangen, wie Rituale als performative Praktiken zu verstehen sind. Anstelle einer eng gefassten Definition von Ritualen habe ich mit Catherine Bells praxistheoretischer Ritualtheorie dargelegt, durch welche Mechanismen Praktiken zu Ritualen gemacht werden (Abschnitt 3.3). Dann habe ich gezeigt, wie vielschichtig der Begriff Performativität aufgefasst werden kann:
6 Schlussfolgerungen und Ausblick
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Er umfasst sowohl die Betonung der Ereignishaftigkeit und des ästhetischen Einbezogen-Seins (Performance), als auch ein Versprechen an die Zukunft (Sprechakte), die Herstellung von Gender als Inkorporation und die Antwort an das Andere als Iteration. Aus der Performativität von Ritualen speisen sich ihre pädagogischen Implikationen: Christoph Wulf u. a. haben gezeigt, dass sie über Wiederholungen, die stets dynamisch sind, direkt auf die beteiligten Körper einwirken. Die beteiligten Körper erwerben diese praktisches Wissen, werden erzogen, bilden sich und erschaffen neue Realitäten (vgl. Abschnitt 3.4). Drei wesentliche Funktionen von Ritualen erschienen im Hinblick auf Demokratiebildung besonders relevant: Gemeinschaft erzeugen, Differenzen herstellen und disziplinieren. Die Erzeugung von Gemeinschaft ist ambivalent: Einerseits wird damit ein Demos als Entscheidungsgemeinschaft eingesetzt, andererseits führt die Gemeinschaftsbildung möglicherweise zu einer Aufhebung von gemeinschaftsinternen (Interessen-)Konflikten und zu einer Exklusion derjenigen, die nicht am Ritual teilnehmen. Durch die Vergemeinschaftung werden also implizit Differenzen erzeugt und gleichzeitig unverfügbar gemacht. Indem Rituale direkt auf die Körper der Teilnehmenden wirken und eine Inkorporierung der durch sie nahegelegten Bewegungen und den damit verbundenen Konzepten erfordern, disziplinieren sie die Teilnehmenden. Im dritten Kapitel habe ich mein Forschungsprogramm vorgestellt. Zunächst habe ich meine Forschungsfragen zusammengefasst, dann mit Hilfe des aktuellen Forschungsstands gezeigt, dass es bisher kein gesichertes Wissen über ritualisierte demokratische Partizipation in Kitas gibt. Schließlich habe ich die Forschungsstrategie bzw. -haltung der Ethnografie beschrieben und das Forschungsfeld vorgestellt: eine Kindertageseinrichtung mit Verfassung und neu eingeführten wöchentlichen Gremiensitzungen. In der Forschung im vierten Kapitel zeigte sich, dass ein etabliertes Ritual, der Morgenkreis, schrittweise zu einem Ritual der demokratischen Beteiligung von Kindern abgewandelt wurde. Durch die Analyse der empirischen Beobachtungen hat sich ergeben, dass die pädagogische Ordnung der Kita auch durch die Rituale aufrechterhalten wird, die die pädagogischen Fachkräfte und Kinder gemeinsam vollziehen und die im Falle der Vollversammlung darauf ausgelegt sein sollten, eben diese pädagogische Ordnung zu transformieren. Nun möchte ich aus den wichtigsten Forschungsergebnissen, die ich in Abschnitt 5.5 zusammengefasst habe, Schlussfolgerungen für Wissenschaft und Praxis ziehen und noch einmal auf die wichtigsten Fragen eingehen, die im Laufe der Arbeit aufgeworfen wurden.
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6 Schlussfolgerungen und Ausblick
6.1 Kindern mehr Demokratie zutrauen Amina: „Wir haben ja eines nicht gemacht!“ Nemo: „Vollversammlung!“ (P.23.10.14)
Dieses Zitat aus dem Protokoll einer Vollversammlung soll nochmals deutlich darauf hinweisen, dass die Kinder in demokratischen Gremien nicht nur sprachfähig sind, sondern dass sie auch bemerken, wenn die Gremiensitzung lediglich ‚pro forma‘ durchgeführt wird. Denn formal finden sich in der beobachteten Kita alle Voraussetzungen für Demokratiebildung als demokratische Partizipation der Kinder: Es gibt eine K ita-Verfassung und mit der Vollversammlung auch ein Gremium zur Sicherung der Rechte der Kinder. In der Vollversammlung gibt es eine Tagesordnung und es wird über Protokolle Öffentlichkeit hergestellt. Auf der Ebene der Institutionen sind dies wichtige Kriterien für die Umsetzung von deliberativer Demokratie in Kitas (vgl. Abschnitt 2.4.7). Vorschläge der Kinder werden auch nach einem festgelegten Verfahren ins Gremium aufgenommen. Aber gerade dieses Verfahren verhindert, dass die Kinder ihrer Stimme Gehör verleihen können, weil es Barrieren produziert: Die Kinder sind darauf angewiesen, dass die pädagogischen Fachkräfte ihnen dabei helfen, das Verfahren anzuwenden. Zudem gibt das Verfahren, wie die Ritualisierung der Vollversammlung überhaupt, den Erwachsenen ein Argument, den Kindern nicht zuzuhören: Sie sollen zuerst lernen, die Form einzuhalten. Die Fähigkeiten der Kinder, Probleme demokratisch zu lösen, werden nicht erkannt und gefördert. Neben der Institutionenebene kann nach der in Abschnitt 2.4.7 erwähnten Operationalisierung die Ebene der Interaktionen geprüft werden. Hier zeigt sich am Umgang mit Dissens, ob sich die Praxis nach demokratischen Idealen ausrichtet oder nicht. Meine Beobachtungen zeigen, dass es auf der Ebene der Interaktionen häufig gar nicht zu einem offenen Dissens kommt, und trotzdem das Anliegen, die Kinder demokratisch zu beteiligen, nicht umgesetzt wird. Somit ist das für die Operationalisierung von deliberativer Demokratie für sozialpädagogische Institutionen entwickelte Kriterium, bei Dissens einen pädagogischen Diskurs mit offenem Ausgang zu führen, zwar ein notwendiges, aber möglicherweise noch nicht hinreichendes. Hier finde ich die Theorie des Unvernehmens von Rancière hilfreich, denn damit lässt sich zeigen, dass bereits vor der Möglichkeit eines Dissens innerhalb der Vollversammlung ein Dissens darüber besteht, ob die Kinder überhaupt in Gremien sprachfähig, d. h. vernünftige Wesen sind. Das gilt nicht für Alltagssituationen, in denen die pädagogischen Fachkräfte die Äußerungen der Kinder durchaus
6.1 Kindern mehr Demokratie zutrauen
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ernst nehmen und den Kindern viel Selbstbestimmung ermöglichen2. In den Vollversammlungen jedoch hindert die pädagogische Ordnung die professionell agierenden Erwachsenen daran, die Äußerungen der Kinder als ausreichend vernünftig anzusehen. Für den Übergang hin zu einer demokratischeren Ordnung in der Kita bräuchte es, wie Nicole Doerr für andere Kontexte vorgeschlagen hat (vgl. Abschnitt 2.6), Übersetzer*innen, die als Gesandte der Kinder fungieren und den Fachkräften darlegen, dass sie sehr wohl auch in der Öffentlichkeit von Gremien sprachfähig sind. Dabei würde ein Bruch mit der pädagogischen Ordnung helfen, der nicht erfolgt, wenn die Vollversammlung lediglich als leicht variierte Form des Morgenkreises mit seinen ritualisierten Interaktionsmustern durchgeführt wird. Die vorliegende Arbeit möchte ebenfalls einen Beitrag dazu leisten, Erwachsene darin zu bestärken, Kinder auch in Gremien als vernunftbegabte Wesen anzuerkennen. Sie können dabei auf die Kooperationsbereitschaft der Kinder vertrauen. Die Kinder sehen die Erwachsenen und einander nicht als Andere, die es auszulöschen gilt, sondern sind ihnen emotional verbunden: Sobald den Kindern auf expressive Weise im Sinne einer dramatischen Performance dargelegt wird, dass ihre Handlungen bei anderen negative Gefühle auslösen, lenken sie ein. Diese Eigenschaft wird durch die Vollversammlung als Ritual bestärkt. Indem die entstehende Ritualgemeinschaft einen impliziten Konsens darüber fasst, dass sie zusammengehört und sich nicht auslöscht, stellt sie im Sinne von Mouffe den notwendigen Minimalkonsens für eine Demokratie des Agonimus her3. Eine weitere Frage der vorliegenden Arbeit war, welche Art der Ordnung bzw. welche Gemeinschaft mit welchen Ein- und Ausschlüssen in den Vollversammlungen erzeugt wird. Die Ergebnisse zeigen, dass die Ordnung komplex ist. Während die „Minis“ und der pädagogischen Fachkräfte, die nicht an der Vollversammlung teilnehmen, exkludiert werden, wird über die Vollversammlung
2Da die „informelle Konsensdemokratie“ (Richter u. a. 2016, S. 120 f.), wie wir sie in der Operationalisierung genannt haben, nicht im Vordergrund der vorliegenden Arbeit steht, kommt möglicherweise etwas zu kurz, wie umfassend die individuelle Selbstbestimmung jedes einzelnen Kindes in der Kita umgesetzt wird. 3Das ist m. E. demokratietheoretisch ein Vorteil von Vollversammlungen gegenüber Gremien, die auf der Wahl von Delegierten basieren: Es gibt nur diese eine Gemeinschaft. Daher ist zu prüfen, wer an der Vollversammlung teilnimmt und wer nicht.
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6 Schlussfolgerungen und Ausblick
symbolisch Inklusion4 hergestellt: Die Kinder des Elementarbereichs nehmen alle an der Vollversammlung teil und werden durch die gemeinsame Ritualpraxis zu einer demokratischen Entscheidungsgemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist in sich nicht egalitär strukturiert, sondern wird u. a. über verschieden ausgeprägte Disziplinierungspraktiken durch die anwesenden pädagogischen Fachkräfte untergliedert. Deshalb bleibt festzuhalten, dass die ritualisierte Form der Demokratiebildung, wie sie in der Kita Seitenstraße praktiziert wird, auch an der Herstellung von Differenzen beteiligt ist. Am offensichtlichsten sind die Differenz zwischen Kindern und Erwachsenen sowie eine innere Differenzierung der Kategorie „Kind“, die mit bestimmten Privilegien und Pflichten verbunden ist. Innerhalb der Kita nimmt die generationale Ordnung der Unterscheidung von Kindern und Erwachsenen die spezifische Form einer pädagogischen Ordnung zwischen Kindern und pädagogischen Fachkräften an, die eben auch durch die Ritualisierungen in Morgenkreis und Vollversammlung hergestellt wird, und die durch demokratische Partizipation eigentlich transformiert werden soll. In der untersuchten Kita konnten verschiedene Praktiken des Umgangs mit den durch andere, gesellschaftlich relevante Differenzkategorien ausgelösten Dilemmata beobachtet werden: Die Differenzkategorie ‚Gender‘ wird von den Kindern thematisiert und mit Emotionen belegt, aber von den Erwachsenen als irrelevant abgetan. Die Behinderung eines der Kinder wird zwar offen unter den Erwachsenen, aber nicht vor den Kindern thematisiert. Die Differenzkategorie der ‚Behinderung‘ ist also Anlass für eine Ungleichbehandlung, die für das betroffene Kind allerdings mit mehr individueller Freiheit und mehr Körperkontakt zu den Erwachsenen einhergeht. Die Differenzkategorie ‚race‘ wird nicht thematisiert, aber es gibt durchaus eine Korrelation zwischen dem Hautton, der Ungleichbehandlung der Familiensprache und der häufigeren Sanktionen bestimmter Kinder. Die Kinder merken, wer immer anders behandelt wird und überführen das in ihr Weltbild, wie ich in Abschnitt 5.3.3 dargestellt habe. An dieser Stelle scheint es daher ratsam und nötig, die bestehende individuelle Vielfalt der Kinder in der Kita anzuerkennen und auch angemessen zu thematisieren. Dem Konzept der „Vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung“ (Wagner u. a. 2006; Wagner 2017) entsprechend sollten sich die pädagogischen Fachkräfte gleichzeitig mit den eigenen Vorurteilen auseinander setzen und Diskriminierung gezielt abbauen, um sie nicht unterschwellig zu reproduzieren.
4Inklusion
verstehe ich mit Iris Beck (2016) als „eine übergreifende Zielvorstellung für alle Gruppen und für alle Felder pädagogischer und sozialer Arbeit“ (Beck 2016, S. 75).
6.2 Implikationen für die pädagogische Praxis
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Um nicht so sehr einzelne Kinder auf der Basis von gesellschaftlich gegebenen Differenzlinien als „besonders“ zu kategorisieren und für alle den Druck zur Selbstdisziplinierung zu mindern, wäre es außerdem hilfreich, gemeinsam mit allen anwesenden Kindern zu entscheiden, in welcher Form das Gremium durchgeführt werden soll. Damit könnten alle Kinder in ihren Eigenheiten und individuellen Fähigkeiten ihre Betroffenheit einbringen und mitentscheiden. Dies würde nicht nur die individuelle Vielfalt der Kinder und Erwachsenen in den Mittelpunkt stellen und anerkennen, sondern auch die demokratische Partizipation aller Kinder stärken. Hieran knüpft das folgende Unterkapitel an, das die Hinweise für eine Veränderung der pädagogischen Praxis noch einmal bündelt.
6.2 Implikationen für die pädagogische Praxis Neben den Fragen nach der Erhebung und Auswertung von Forschungsdaten ist in wissenschaftlichen Arbeiten die Frage wichtig, wer (neben der Verfasserin) von der Arbeit profitiert. Gerade im Zusammenhang mit kollaborativen oder partizipativen Forschungsansätzen, die auf eine Veränderung der pädagogischen Praxis und des wissenschaftlichen Diskurses gleichzeitig zielen, wie beispielsweise die Handlungspausenforschung (Richter u. a. 2003), wird diese Frage diskutiert. Ich habe meine Beobachtungen während des Forschungsprozesses nicht systematisch zurückgekoppelt und diskutiert. Ich habe aber immer wieder im Dialog mit den Kindern, Fachkräften und der Leiterin Veränderungen angeregt. Ich hoffe, dass ich dadurch eine Unterstützung im Vorhaben sein konnte, die demokratische Partizipation von Kindern zu befördern. Darüber hinaus möchte ich im Folgenden noch einige Implikationen für die pädagogische Praxis aus meinen Ergebnissen ableiten. Einige von diesen sind in den vorangegangenen Abschnitten bereits erwähnt worden. Die Ritualisierung von Gremiensitzungen für die Beteiligung von Kindern genügt nicht, um das Anliegen umzusetzen, demokratische Partizipation zu fördern. Zwar kann eine Ritualisierung dabei helfen, die Versammlungen regelmäßig durchzuführen, aber sie macht auch erforderlich, die Form zu wahren. Die Gremiensitzung bekommt dadurch den Charakter einer Aufführung, in der Selbstdisziplin eingeübt wird. Wenn ein etabliertes Ritual als Ausgangspunkt für die Beteiligung genutzt werden soll, muss gründlich geprüft werden, welche Aspekte des Rituals der demokratischen Partizipation der Kinder entgegenstehen könnten. Die pädagogische Ordnung der Kita fördert zwar die Eigenständigkeit von Kindern, verstellt aber in Gremien den Blick auf das Gemeinsame von Kindern
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6 Schlussfolgerungen und Ausblick
und pädagogischen Fachkräften und legt nahe, die Äußerungen der Kinder als Lärm abzutun. Daraus folgt, dass für die demokratische Partizipation von Kindern neue Gremien und Verfahren geschaffen werden sollten und mit neuen Settings, Abläufen und Interaktionsformen experimentiert werden sollte, um etablierte Gewohnheiten und Ordnungsmuster zu durchbrechen. Bei der Gestaltung dieser neuen Gremien und Verfahren sollte ein demokratischer Aushandlungsprozess darüber erfolgen, wie sie gemacht werden sollen. Dazu gehört, darüber zu verhandeln, wer an ihnen teilnimmt, wie sichergestellt werden soll, dass alle, die wollen, mitreden und -entscheiden können und wie oft und lange die Gremiensitzungen vollzogen werden sollen. Durch das demokratische Erarbeiten eines gemeinsamen Rituals würde in den Fokus gerückt, dass es um gemeinsam zu fällende Entscheidungen geht. Dies würde verhindern, dass die Gremiensitzungen von den pädagogischen Fachkräften für die Kinder durchgeführt werden. Nachdem nun Schlussfolgerungen aus den Ergebnissen der Arbeit gezogen wurden und Vorschläge für die pädagogische Praxis erarbeitet wurden, gilt es, den Nutzen der Arbeit zu reflektieren.
6.3 Reflexion der Forschung Die vorliegende Arbeit liefert einen eigenen Beitrag zur wissenschaftlichen Debatte um Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen. Trotz des gewachsenen wissenschaftlichen Interesses an Frühpädagogik und Kindertageseinrichtungen, insbesondere des Zuwachses an (ethnografischer) Forschung in und über sie, sind empirische Studien zum Thema Demokratiebildung bzw. Partizipation in Kindertageseinrichtungen bisher rar. Die Aufarbeitung des Forschungsstandes (vgl. Abschnitt 4.1) konnte dies zeigen. Die vorliegende Arbeit beschreibt und analysiert, wie demokratische Partizipation von Kindern in Gremien praktisch umgesetzt wird. Sie unterfüttert die Forderung, demokratische Partizipation strukturell zu verankern, auch wenn die Umsetzung in die Praxis bisher nicht perfekt ist. Sie bestätigt, dass demokratische Beteiligung eher aufgrund der pädagogischen Ordnung der Kita an ihre Grenzen stößt, als wegen fehlender Kompetenzen der Kinder. Immer wieder zeigt sich, dass die Kinder vernünftig aufeinander Bezug nehmen können, wie etwa am Beispiel der Holzwerkstatt (Abschnitt 5.4.2) oder an der Diskussion um das Spiel Löwenjagd (Abschnitt 5.4.4) deutlich geworden ist. Auch die Bilingualität stellt sich nicht als ein Problem für die Verständigung der Kinder dar. Da die Kinder an der Aufrechterhaltung einer pädagogischen Ordnung ebenso beteiligt sind wie die
6.4 Chancen und Grenzen der Vorgehensweise
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Erwachsenen, muss es für Erwachsene und Kinder erstrebenswert werden, die pädagogische Ordnung zu ändern. Hier könnte weiter geforscht werden, welche Aspekte die pädagogische Ordnung für die jeweiligen Gruppen attraktiv macht, um daraus Ansatzpunkte für ihre Transformation zu abzuleiten. Erste Erkenntnisse dazu wurden zwar als die produktiven Aspekte von Disziplinierung herausgearbeitet (vgl. Abschnitt 5.2.9), es könnte jedoch noch umfassender geforscht werden, warum die Kinder so kooperativ sind.
6.4 Chancen und Grenzen der Vorgehensweise Aufgabe einer Ethnografin ist, eine überzeugende Darstellung des Forschungsgegenstands zu verfassen, die ihn empirisch angemessen (d. h. für Kenner*innen wiedererkennbar), dabei aber ausreichend anders als die Akteur*innen im Feld beschreibt (Breidenstein u. a. 2015, S. 184). Dass die Verbindung von Theorie und Empirie dabei eine besondere Herausforderung ist, die pragmatisch gelöst werden kann, indem die Theorien als Werkzeuge aufgefasst werden, habe ich in Abschnitt 4.3.2 dargelegt. Eine weitere Herausforderung dabei ist, sich der Kontingenz dessen, wer was mit welchen Theorien und welchen sozialen Fähigkeiten und Markierungen in welchem Feld ethnografisch erforschen kann, bewusst zu sein und sich mit ihr zu versöhnen. Es gilt, sich auf bestimmte Aspekte zu beschränken, um einen lesbaren Text zu produzieren. Weil soziale Praxis so komplex ist, muss man als Ethnografin ständig Entscheidungen treffen, welchen Spuren man folgen will und welche man im Sande verlaufen lässt5. Insbesondere in den Zwischenfazits der Ergebniskapitel wurden daher immer nur einige Themen der Analyse weiterverfolgt, andere hingegen ausgesiebt. Für die vorliegende Arbeit wären neben den gewählten daher sicher auch andere theoretische Bezugspunkte fruchtbar gewesen: Mittels Theorien zu (pädagogischer) Autorität hätte der Blick auf ko-konstruktive Herstellungsprozesse derselben im Kontext von demokratischer Partizipation gelegt werden können, mittels Theorien zu Gerechtigkeit hätte mehr in den Mittelpunkt gestellt werden können, welche Räume die demokratische Partizipation den einzelnen Kindern zur Entfaltung ihrer Potentiale für ein gutes Leben eröffnet. Ich habe mich hingegen entschieden, die dargestellten Demokratietheorien und eine
5Das
gilt für die Frage, was man wann beobachten will, bis hin zur Frage, was man dann aufschreibt und wie man es analysiert (Breidenstein u. a. 2015, S. 89).
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6 Schlussfolgerungen und Ausblick
Konzeption von Ritualen als performativen Praktiken als Werkzeuge zu nutzen. Für weitere Forschungsvorhaben zum Thema wären die genannten anderen Perspektiven geeignet, weil sie die offen gebliebenen Fragen hätten beantworten können: Wie wird Autorität in der Kita hergestellt und beeinflusst diese die demokratische Partizipation? Welche Aspekte von Gerechtigkeit werden in der Kita verhandelt und in welchem Verhältnis stehen sie zur demokratischen Partizipation? Eine ethnografische Strategie für das zu untersuchende Phänomen zu nutzen, war dem Gegenstand angemessen. Meine eigene Einsozialisation in das Feld zeigt sich in den Beobachtungsprotokollen nämlich unter anderem durch eine Übernahme der Sprech- und Disziplinierungspraktiken von pädagogischen Fachkräften gegenüber den Kindern und durch eine Abnahme des Detailreichtums der Beschreibungen: Je alltäglicher mir die Vollversammlung wurde, umso weniger fand ich sie „der Rede wert“, ganz ähnlich wie es die Verfasser*innen der Studie „Qualität aus Kindersicht“ für die Kommunikation mit Kindern über ritualisierte Abläufe festgestellt haben (Nentwig-Gesemann u. a. 2017, S. 21 f.). Die Ethnografie kennt zwei Strategien, um diesem als „going native“ bekannten Problem entgegenzuwirken: Distanzierung durch Reflexion und durch die Auseinandersetzung mit Theorie. Auch das Verwenden eines technischen Hilfsmittels für das Aufzeichnen der gesprochenen Sprache während der Versammlungen war hilfreich, um den Blick mehr auf die Bewegungen und Gesten der Ritualteilnehmer*innen richten zu können. Dass trotzdem die gesprochene Sprache im Vordergrund der Untersuchung steht, zeigt auch, dass der Gegenstand diese Kommunikationsform nahelegt: demokratische Partizipation präferiert verbale Kommunikation. Das heißt nicht, dass die Kinder alles selbst verbalisieren müssen, was sie einbringen wollen. Die pädagogischen Fachkräfte regen die Kinder ständig dazu an und unterstützen sie dabei, sich verbal mitzuteilen. Dies habe ich z. B. unter der Überschrift „Zum Selbstschutz anstiften“ als einen produktiven Aspekt von Disziplinarmacht exemplarisch beschrieben. Meine Ergebnisse gelten zunächst nur für diese eine Kita und die dort innerhalb eines Zeitraums von etwa acht Monaten beobachteten Situationen. Die Einrichtung war klein genug, um Vollversammlungen aller Elementarkinder durchführen zu können. Meine Arbeit deckt daher die mit der Wahl von Repräsentant*innen verbundenen Aspekte von demokratischer Partizipation in der Kita nicht ab. Eine komplexere Gremienstruktur stellt andere Herausforderungen an die Moderation, an die Kinder und an die Verfahren zur Herstellung von Öffentlichkeit, zu denen die vorliegende Arbeit keine Aussagen machen kann. Sie kann jedoch zeigen, dass es prinzipiell möglich und auch sinnvoll ist, Kinder demokratisch zu beteiligen. Der Weg hin zu einem für alle gut
6.5 Fazit
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funktionierenden Beteiligungsgremium, in dem auch echte Probleme der Kinder verhandelt werden, mag lang sein, ist aber selbst schon ein demokratischer Bildungsprozess – mindestens für die pädagogischen Fachkräfte.
6.5 Fazit Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die Frage nach dem Verhältnis von Ritualen und Demokratiebildung in Kindertageseinrichtungen. Diese Frage ist bildungspolitisch und erziehungswissenschaftlich relevant, weil Kitas aufgefordert sind, frühe Formen von Demokratiebildung, -erziehung und -förderung umzusetzen, aber einerseits stark variiert, was darunter zu verstehen ist, und andererseits umstritten ist, ob Partizipation von Kindern in Form von Gremien strukturell verankert werden soll und kann. Das Zitat ganz am Anfang des Buches machte deutlich, dass die Kinder die Gremiensitzungen unterschiedlich bewerten: Einige finden die Vollversammlung „blöd“, andere „mögen“ die Vollversammlung. Das ist jedoch erst einmal kein Argument für oder gegen Gremiensitzungen, denn es unterscheidet die Demokratie mit Kindern nicht von einer reinen ‚Erwachsenen-Demokratie‘. Aus meiner Untersuchung geht auch hervor, dass die Gremien in der Praxis nicht immer das erfüllen, was sie sollen, und ihren Teilnehmer*innen dennoch demokratische Bildungsprozesse eröffnen können. Trotz aller geäußerter Kritik an der Umsetzung war es nicht Ziel dieser Arbeit, die Notwendigkeit oder die Möglichkeit von Demokratiebildung insbesondere in demokratischen Gremien in Kitas zu widerlegen, sondern problematische Aspekte in ihrer praktischen Umsetzung zu identifizieren, auch um Vorschläge zur Verbesserung generieren zu können. Der wichtigste Vorschlag dazu ist meines Erachtens schon vor mehr als einem Jahrhundert von einer Feministin und Wegbereiterin der Sozialen Arbeit gemacht worden. Jane Addams schrieb im Jahr 1902: “the cure for the ills of Democracy is more Democracy” (Addams 1902, S. 11 f.).
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© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 T. Lehmann, Demokratiebildung und Rituale in Kindertageseinrichtungen, https://doi.org/10.1007/978-3-658-31499-6
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