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German Pages X, 288 [285] Year 2020
Bürgerbewusstsein
Moritz Peter Haarmann Steve Kenner · Dirk Lange Hrsg.
Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische Aufgaben und Zugänge der Politischen Bildung
Bürgerbewusstsein Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung Reihe herausgegeben von Dirk Lange, Hannover, Germany
Bürgerbewusstsein bezeichnet die Gesamtheit der mentalen Vorstellungen über die politisch-gesellschaftliche Wirklichkeit. Es dient der individuellen Orientierung in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft und produziert zugleich den Sinn, der es dem Menschen ermöglicht, vorgefundene Phänomene zu beurteilen und handelnd zu beeinflussen. Somit stellt das Bürgerbewusstsein die subjektive Dimension von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft dar. Es wandelt sich in Sozialisations- und Lernprozessen und ist deshalb zentral für alle Fragen der Politischen Bildung. Das Bürgerbewusstsein bildet mentale Modelle, welche die gesellschaftlichen Strukturen und Prozesse subjektiv verständlich, erklärbar und anerkennungswürdig machen. Die mentalen Modelle existieren in Entstehungs- und Wirkungszusammenhängen mit der Politischen Kultur. Auf der Mikroebene steht das Bürgerbewusstsein als eine mentale Modellierung des Individuums im Mittelpunkt. Auf der Makroebene interessieren die gesellschaftlichen Bedingungen und sozialen Kontexte des Bürgerbewusstseins. Auf der Mesoebene wird untersucht, wie sich das Bürgerbewusstsein in Partizipationsformen ausdrückt. Die „Schriften zur Politischen Kultur und Politischen Bildung“ lassen sich thematisch fünf zentralen Sinnbildern des Bürgerbewusstseins zuordnen: „Vergesellschaftung“, „Wertbegründung“, „Bedürfnisbefriedigung“, „Gesellschaftswandel“ und „Herrschaftslegitimation“. „Vergesellschaftung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich Individuen in die und zu einer Gesellschaft integrieren. Welche Vorstellungen existieren über das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft? Wie wird soziale Heterogenität subjektiv geordnet und gruppiert? „Wertbegründung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, welche allgemein gültigen Prinzipien das soziale Zusammenleben leiten. Welche Werte und Normen werden in politischen Konflikten, gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und ökonomischen Unternehmungen erkannt? „Bedürfnisbefriedigung“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie Bedürfnisse durch Güter befriedigt werden. Wie wird das Funktionieren des sozioökonomischen Systems erklärt? Welche Konzept über das Entstehen von Bedürfnissen, über die Produktion von Gütern und über die Möglichkeiten ihrer Verteilung werden verwendet? „Gesellschaftswandel“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie sich sozialer Wandel vollzieht. Wie werden die Ursachen und die Dynamiken sozialen Wandels erklärt? In welcher Weise wird die Vergangenheit erinnert und die Zukunft erwartet? „Herrschaftslegitimation“: Das Bürgerbewusstsein verfügt über Vorstellungen darüber, wie partielle Interessen allgemein verbindlich werden. Wie wird die Ausübung von Macht und die Durchsetzung von Interessen beschrieben und und gerechtfertigt? Welche Konflikt- und Partizipationskonzept werden verwendet?
Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/12208
Moritz Peter Haarmann · Steve Kenner · Dirk Lange (Hrsg.)
Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische Aufgaben und Zugänge der Politischen Bildung
Hrsg. Moritz Peter Haarmann Leuphana Universität Lüneburg Lüneburg, Deutschland
Steve Kenner Leibniz Universität Hannover Hannover, Deutschland
Dirk Lange Leibniz Universität Hannover Hannover, Deutschland Universität Wien Wien, Österreich
ISSN 2626-3343 ISSN 2626-3351 (electronic) Bürgerbewusstsein ISBN 978-3-658-29555-4 ISBN 978-3-658-29556-1 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfi lmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Planung\Lektorat: Jan Treibel Springer VS ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany
Inhaltsverzeichnis
Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische. Aufgaben und Zugänge der Politischen Bildung. Eine Hinführung. . . . . . . . . . . . . . 1 Moritz Peter Haarmann, Steve Kenner und Dirk Lange Demokratie und Politische Bildung Demokratie ist Politische Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Werner Friedrichs Politische Bildung – Bildungsaufgabe mit Verfassungsrang?. . . . . . . . . . . 31 Steve Kenner Das Geschehen in der Schule ist nicht politisch neutral. Welche Parteilichkeit und Parteinahme ziemt der politischen Bildung?. . . . . . . . 49 Sibylle Reinhardt Flickenteppich Politische Bildung? Anmerkungen zu einer möglichen Zäsur der Professionsgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 Benedikt Widmaier Demokratische Haltung Politische Bildung und die Frage der Haltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Susann Gessner Soll Politische Bildung Haltungen vermitteln? Zur Kontroverse um politische Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Edwin Stiller
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Demokratisierung durch Partizipation Demokratisches Bewusstsein durch Demokratiekompetenz und Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Helen Schroeder und Lucas Valle Thiele Jugend – Politik – Partizipation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 Klaus Farin Politik machen statt Politik spielen. Plädoyer für eine politische politische Bildung in der Schule. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Reinhold Hedtke Demokratisierung durch Kooperationen? Politische Bildung, außerschulische (politische) Jugendarbeit und Schule. . . . . . . . . . . . . . . . 155 Alexander Wohnig Das Politische und das Demokratische der Politischen Bildung Die Rückkehr der Demokratie in die (Lehrkräfte)Bildung . . . . . . . . . . . . 177 Sabine Achour, Martin Lücke und Detlef Pech Inklusive Bildung als Demokratiebildung. Didaktische Vorschläge und Reflexionen für die Schule der Vielfalt . . . . . . . . . . . . . . . 189 Luisa Conti Martha Nussbaums Argument für eine lebendige Demokratie. . . . . . . . . 207 Heike Flindt Den Blick auf das Politische schärfen. Vom Umgang mit hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen in der Politischen Bildung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Vera Sperisen und Simon Affolter Die Sicht der Kinder ins Zentrum rücken. Zum Stellenwert des politischen Lernens in der österreichischen Primarstufe. . . . . . . . . . . . . . 233 Heike Krösche Ein Blick in die Praxis: Vorstellungen von Lehrenden und Lernenden zum Politikunterricht in Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Thomas Stornig
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Demokratisierung durch Politische Bildung – Ein Praxisbeispiel Politische Bildung für ein weltoffenes Deutschland. 7xjung und andere Ansätze und Erfahrungen von „Gesicht Zeigen!“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Jan Krebs und Marian Spode
Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Über die Herausgeber Moritz Peter Haarmann Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland Steve Kenner Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Dirk Lange Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland sowie Universität Wien, Wien, Österreich
Autorenverzeichnis Sabine Achour Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Simon Affolter Pädagogische Hochschule FHNW, Aarau, Schweiz Luisa Conti Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland Klaus Farin Berlin, Deutschland Heike Flindt Universität Vechta, Vechta, Deutschland Werner Friedrichs Otto-Friedrich Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland Susann Gessner Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland Moritz Peter Haarmann Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland Reinhold Hedtke Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland Steve Kenner Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland Jan Krebs Gesicht Zeigen! Berlin, Berlin, Deutschland IX
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Herausgeber- und Autorenverzeichnis
Heike Krösche Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz, Linz, Österreich Dirk Lange Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland sowie Universität Wien, Wien, Österreich Martin Lücke Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland Detlef Pech Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland Sibylle Reinhardt Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland Helen Schroeder Landesschüler*innenausschuss (LSA), Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Berlin, Deutschland Vera Sperisen Pädagogische Hochschule FHNW, Aarau, Schweiz Marian Spode Städtische Erinnerungskultur Hannover, Hannover, Deutschland Edwin Stiller Düsseldorf, Deutschland Thomas Stornig Pädagogische Hochschule Tirol, Innsbruck, Österreich Lucas Valle Thiele Landesschüler*innenausschuss (LSA), Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Berlin, Deutschland Benedikt Widmaier Haus am Maiberg, Heppenheim, Deutschland Alexander Wohnig Universität Siegen, Siegen, Deutschland
Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische. Aufgaben und Zugänge der Politischen Bildung. Eine Hinführung Moritz Peter Haarmann, Steve Kenner und Dirk Lange Politische Bildung steht im 21. Jahrhundert vor vielfältigen Herausforderungen. Von besonderer Bedeutung sind dabei die Angriffe auf Anliegen und das Selbstverständnis einer gleichermaßen kritisch-emanzipatorischen wie normativ fundierten gesellschaftlichen Allgemeinbildung. Politische Bildner*innen, die Lernende zu einer kritischen Auseinandersetzung mit demokratie- und menschenfeindlichen Positionen befähigen, sehen sich immer häufiger Anfeindungen ausgesetzt. Ziel gelingender Politischer Bildung ist aber immer die Befähigung zu einem selbstbestimmten, kritisch-reflektierten sowie grund- und menschenrechtsorientierten Denken, Urteilen und Handeln – denn darin liegen die Voraussetzungen für die Verwirklichung von Demokratie. Das Demokratische, als substantielle Dimension, beschreibt für uns das zentrale Wesensmerkmal der Politischen Bildung und basiert auf fundamentalen Werten wie Menschenwürde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität, Frieden und Freiheit. Diese Grundprinzipien legitimieren und orientieren die Lehr- und Lernarrangements der Politischen Bildung. Politische Bildner*innen sind dem demokratischen Auftrag von Gesellschaft und deren Bildungseinrichtungen
M. P. Haarmann (*) Leuphana Universität Lüneburg, Lüneburg, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Kenner · D. Lange Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_1
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verpflichtet und dürfen sich dazu nicht neutral verhalten – denn zur Demokratie gehört das Eintreten für die Verwirklichung von Grund- und Menschenrechten. Die Orientierung des politischen Denkens, Urteilens und Handelns an den Grundrechten ist nicht verhandelbar und erfordert Haltung. Die normative Dimension des Demokratischen legt das Fundament und ist zugleich Antriebskraft, um Demokratie zu verwirklichen. Demokratie bietet, als grundlegende Idee von Gesellschaft sowie als Normen- und Institutionensystem, einen Rahmen für das politisch organisierte Zusammenleben der Menschen. Sie eröffnet Teilhabemöglichkeiten, orientiert gesellschaftliches Handeln und regelt den Umgang mit gesellschaftlichen Konflikten. Das gesellschaftliche Zusammenleben unterliegt einem permanenten Wandel. Gerade weil die Grund- und Menschenrechte als Seele der Demokratie unantastbar sind, unterliegt die Demokratie als Herrschafts- und Regierungsform einem an deren fortwährende Verwirklichung orientierten, dynamischen Gestaltungsauftrag. Dies ist mit dem Anliegen verbunden, breite Teilhabemöglichkeiten zu eröffnen und für eine umfassende Verwirklichung der Grundund Menschenrechte Sorge zu tragen. Demokratisierung ist demnach ein kontinuierlicher gesellschaftlicher Prozess, mittels dem die Demokratie auf der Grundlage nicht verhandelbarer gesellschaftlicher Grundwerte immer wieder neu ausgehandelt wird. Dies drückt sich unter anderem in basisdemokratischen Interventionen der Zivilgesellschaft aus. In welchem Verhältnis die Politische Bildung heute zur Demokratie, der Demokratisierung und dem Demokratischen steht, wird in den Beiträgen dieses Sammelbandes diskutiert. Sie legen ihren Fokus auf die Frage, wie Politische Bildung auf die Herausforderungen der Gegenwart reagieren kann und welche institutionelle Verankerung Politischer Bildung notwendig ist, um dem demokratischen Auftrag von Gesellschaft hinreichend nachzukommen. Besondere Bedeutung gewinnt dabei die Auseinandersetzung mit dem Raum politischen Lernens. Dieser Raum kann sowohl als Lernraum im Sinne der zur Verfügung stehenden Zeit für Politische Bildung als auch als Freiraum für politische Teilhabe aller Akteur*innen in einem politischen Lernprozess verstanden werden. Die beitragenden Autor*innen setzen sich mit didaktischen Konzepten des Unterrichtsfaches Politische Bildung, der praktischen Erfahrung von Politik im Schulalltag, der demokratischen Teilhabe im Rahmen selbstbestimmter und selbstorganisierter Partizipationsformen sowie mit Möglichkeiten der Öffnung der Schule in die Zivilgesellschaft auseinander. Demokratie und Politische Bildung In welchem Verhältnis steht Politische Bildung zur Demokratie? Mit dieser Frage befassen sich die Autor*innen im ersten Abschnitt des Sammelbandes aus unter-
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schiedlichen Perspektiven. Politische Bildung verstanden als Wegbereiterin der Demokratie, Politische Bildung verortet in der Demokratie oder Demokratie als Politische Bildung. Mit der Frage wie Politische Bildung und Demokratie in einem theoretischen Zugang – auf Augenhöhe – gedacht werden müssen, beschäftigt sich Werner Friedrichs in seinem Beitrag Demokratie ist Politische Bildung. Wie kann Politische Bildung tatsächlich zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen? Bezugnehmend auf radikale Demokratie- und auf Bildungstheorien wird eine Perspektive skizziert, in der Demokratisierung durch die Bildung von politischer Subjektivität stattfinden kann. An diesen theoretischen Überlegungen anknüpfend untersucht Steve Kenner in seinem Beitrag Politische Bildung – Bildungsauftrag mit Verfassungsrang? in welcher Form Politische Bildung aktuell in den Verfassungen der Bundesländer verankert ist und welcher Stellenwert ihr damit strukturell als Bildungsziel beigemessen wird. Die Erkenntnisse der Analyse werden auch hinsichtlich der Gefährdungen schulischer wie außerschulischer Politischer Bildung durch (aktuelle) gesellschaftspolitische Angriffe betrachtet. Ausgehend von der Kontroverse um ein angebliches Neutralitätsgebot Politischer Bildung entwickelt Sibylle Reinhardt in ihrem Beitrag Das Geschehen in der Schule ist nicht politisch neutral. Welche Parteilichkeit und Parteinahme ziemt der Politischen Bildung? ein Konzept der Anerkennung und Achtung des Subjekts. Als richtungsweisend identifiziert sie dabei den Beutelsbacher Konsens. Schließlich nimmt Benedikt Widmaier das Verhältnis von Politischer Bildung und Demokratie(-bildung) in den Blick. In dem Beitrag Flickenteppich Politische Bildung. Anmerkungen zu einer möglichen Zäsur der Professionsgeschichte behandelt er aktuelle Herausforderungen für das Professionsverständnis Politischer Bildung. Demokratische Haltung Der zweite Abschnitt schließt an die Zugänge aus dem ersten Teil an. Die Autor*innen widmen sich kontrovers dem Begriff der „Haltung“ in der Politischen Bildung. Gerade hinsichtlich demokratiegefährdender Strömungen in der Gesellschaft fragt Susann Gessner in ihrem Beitrag Politische Bildung und die Frage der Haltung, ob und inwiefern „Haltung“ als ein Aspekt Politischer Bildung gefasst werden kann oder sollte. Darauffolgend wird von Edwin Stiller in seinem Beitrag Soll politische Bildung Haltungen vermitteln? Zur Kontroverse um politische Erziehung die Frage der Haltung zum Ausgangspunkt genommen, um das Verhältnis zwischen (Politischer) Bildung und Erziehung auszuleuchten und perspektivisch neu zu denken.
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Demokratisierung durch Partizipation Wenn Haltung zu Handlung wird – mit dieser Transformation und den damit verbundenen Herausforderungen befasst sich der dritte Abschnitt des Bandes. Eingeleitet wird dieser Abschnitt aus einer Schüler*innenperspektive auf Politische Bildung. Helen Schroeder und Lucas Valle Thiele, beide zur Zeit der Entstehung des Bandes im Landesschülerausschuss des Landes Berlin, berichten in ihrem Essay Demokratisches Bewusstsein durch Demokratiekompetenz und Partizipation von ihren Erfahrungen mit Demokratiebildung im schulischen Lernraum. Entlang der beiden Ebenen Demokratiekompetenz und Partizipation formulieren sie Gelingensbedingungen und daran anknüpfend konkrete Forderungen zur Entwicklung Politischer Bildung. Daran anschließend charakterisiert der Aktivist und Publizist Klaus Farin in einem Essay das Verhältnis Jugend – Politik – Partizipation. Er plädiert für ein Umdenken in den konventionellen institutionellen Kontexten von Jugendpolitik hinzu einer Öffnung gegenüber den Strukturen, Belangen und Kommunikationsformen Jugendlicher. Die Abhängigkeit politischer Partizipation von strukturellen Rahmenbedingungen und politischen Entscheidungen wird auch in Reinhold Hedtkes Beitrag Politik machen statt Politik spielen. Plädoyer für eine politische Politische Bildung in der Schule aufgegriffen. Für ihn steht hierbei die Auseinandersetzung mit Partizipationsmöglichkeiten und -hindernissen im schulischen Kontext im Vordergrund. Daran anknüpfend bedarf es einer Politischen Bildung, die im Sinne einer Expansion und Optimierung von Partizipationsoptionen, selbst politisch aktiv wird. Schließlich geht Alexander Wohnig in seinem Beitrag Demokratisierung durch Kooperation? Politische Bildung, außerschulische (politische) Jugendarbeit und Schule den Fragen nach, welche partizipativen Räume Politischer Bildung durch Kooperationen erschlossen werden können, welche Chancen und Probleme sich in diesen Räumen eröffnen und welches Potential sie für Demokratisierung in der Gesellschaft innehaben. Das Politische und das Demokratische der Politischen Bildung Im vierten Abschnitt werden verschiedene Lernräume Politischer Bildung im Hinblick auf den Anspruch der Demokratisierung von Gesellschaft(en) analysiert. Der universitären Lehrkräftebildung als Lernraum Politischer Bildung widmet sich der erste Beitrag in diesem Teil des Sammelbandes. Sabine Achour, Martin Lücke und Detlef Pech stellen in Die Rückkehr der Demokratie in die (Lehrkräfte)Bildung das Projekt DemosLeben vor, welches durch eine verstärkende (Re-)Implementierung von Demokratiebildung in der ersten Phase der Lehrkräftebildung einer „Entpolitisierung“ entgegenzuwirken sucht.
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Das Potenzial des Inklusionsgedankens als demokratisierende kulturelle Wende in der Schule zeigt Luisa Conti im Beitrag Inklusive Bildung als Demokratiebildung. Didaktische Vorschläge und Reflexionen für die Schule der Vielfalt auf. Konkrete Methoden und Herausforderungen eines inklusiven Kulturwandels im schulischen Alltag werden entlang der Analyse eines Dialogs aus dem Projekt SHARMED präsentiert. Einen Zugang über die praktische Philosophie unternimmt Heike Flindt in ihrem Beitrag Martha Nussbaums Argument für eine lebendige Demokratie, in welchem sie Anknüpfungspunkte zwischen demokratietheoretischen und -pädagogischen Bildungsinhalten im politischen Denken Nussbaums und Konzeptionen Politischer Bildung bzw. Demokratiebildung erörtert. Vera Sperisen und Simon Affolter (Schweiz) untersuchen in Den Blick auf das Politische schärfen. Vom Umgang mit hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen in der Politischen Bildung schulische Interaktionsprozesse zum Thema Migration als Lernraum Politischer Bildung. Die Ergebnisse ihrer empirischen Studie werden dabei auch hinsichtlich der (vagen) strukturellen Verankerung Politischer Bildung im Lehrplan diskutiert. Thomas Stornig analysiert in seinem Beitrag Politische Bildung als Vorbereitung auf demokratische Bürgerschaft? Vorstellungen von Lehrenden und Lernenden zur didaktisch-methodischen Gestaltung von Politikunterricht in Österreich anhand von qualitativen Interviews die unterschiedlichen Wahrnehmungen des schulischen Lernraums Politischer Bildung und hebt dabei die Wirkung methodischer Entscheidungen hervor. Im anschließenden Beitrag wird die Politischen Bildung in der Primarstufe in den Blick genommen. Heike Krösche untersucht in dem Beitrag Die Sicht der Kinder ins Zentrum rücken. Zum Stellenwert des politischen Lernens in der österreichischen Primarstufe die Einstellungen von Lehramtsstudierenden bezüglich Politischer Bildung, vor dem Hintergrund des Bedarfs an konkreten hochschuldidaktischen Konzepten zur Stärkung dieses Lernraumes. Demokratisierung durch Politische Bildung – Ein Praxisbeispiel Der Sammelband schließt mit einem Praxisbeispiel Politischer Bildung: Jan Krebs und Marian Spode stellen in ihrem Beitrag Politische Bildung für ein weltoffenes Deutschland das Konzept von GesichtZeigen!Für ein weltoffenes Deutschland vor und präsentieren einen außerschulischen Lernort Politischer Bildung, in dem unterschiedlichen Lerngruppen Räume zur Wahrnehmung demokratischen Handelns geboten werden. Dieser Sammelband, dem unter anderem eine mehrstufige inhaltliche Begutachtung der Texte durch die Herausgeber*innen zugrunde liegt, wäre ohne die Unterstützung durch Christiane Fischer, Mitarbeiterin am Institut für Didaktik der Demokratie (IDD) kaum möglich gewesen. Wir bedanken uns insbesondere für
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das gewissenhafte Korrekturlesen der Beiträge in mehreren Korrekturschleifen. Nicht zuletzt gilt allen Autor*innen dieses Sammelbandes ein Dankeschön für ihre Beiträge und für die konstruktive Zusammenarbeit. Allen Leser*innen wünschen wir eine anregende Lektüre.
Demokratie und Politische Bildung
Demokratie ist Politische Bildung Werner Friedrichs
Zusammenfassung
Können sich Politische Bildung und Demokratie auf Augenhöhe begegnen? Die Antwort auf diese Frage hängt sowohl vom Verständnis Politischer Bildung als auch vom Demokratieverständnis ab. In den vorliegenden Überlegungen wird mit Bezug auf die Radikale Demokratietheorie und auf die Bildungstheorie eine Perspektive skizziert. Dabei geht es insbesondere darum, Politische Bildung nicht als Dienstleisterin für vorgefertigte demokratische Anforderungsprofile zu denken. Vielmehr besteht die Demokratisierung in einer demokratischen Artikulation, d. h. Bildung von politischer Subjektivität.
W. Friedrichs (*) Otto-Friedrich Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_2
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W. Friedrichs
1 Politische Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft? Die Frage „Politische Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft?“1 zielt auf die Bedeutung Politischer Bildung für die Demokratie ab. Kann Politische Bildung wirklich als Demokratisierung einer Gesellschaft angesehen werden? Wie steht es um das Verhältnis von Politischer Bildung und Demokratie? Vorausgesetzt, dass Politische Bildung und Demokratie in einer Beziehung vermessen werden, innerhalb derer der Bildung nicht allein eine gesellschaftliche Funktion zugewiesen wird, bestünde die radikalste Antwort in einer Gleichsetzung: Demokratie ist Politische Bildung. Von der Warte eines demokratietheoretischen Standpunktes könnte diese Gleichsetzung einen anmaßenden Beiklang haben. Wird hier nicht die Politische Bildung aus ihrer zweifellos funktional wichtigen Rolle als Wegbereiterin für die Praxis der Demokratie herausgelöst und in einen gleichberechtigten Stand gesetzt? Schließlich: wenn Einrichtungen oder Praxen als „gleich“ angesehen werden, heißt das erst einmal, dass von beiden Seiten mit gleicher Berechtigung Ansprüche an die jeweils andere Seite gestellt werden können. Forderungen, die aus der Demokratie an die Politische Bildung gerichtet werden, die „Zumutungen der Demokratie“ (Buchstein 1995)2, mit denen sich die Bürger*innen auseinanderzusetzen haben, werden allenthalben herausgestellt. „Bürgerinnen und Bürger müssen konkret auf ihre Rollen und Pflichten, aber auch Möglichkeiten und Chancen in einer demokratischen Politik vorbereitet werden“ (Biedermann 2006, S. 81). Politische Bildung wird als Qualifikationsprogramm für eine funktionierende Demokratie eingestuft. Unzählige
1Titel
und thematischer Fokus der Herbsttagung der DVPB vom 15.–17. November 2018 in Berlin, auf der die folgenden Überlegungen vorgetragen wurden. Prominent wurde die Politische Bildung bereits von Schmiederer (1971, insb. S. 32 ff.) mit dem expliziten Anspruch einer Demokratisierung der Gesellschaft versehen. Schmiederer hat diesen Anspruch vor dem Hintergrund einer Kritik an bestehenden Konzeptionen Politischer Bildung entwickelt und seine Überlegungen deshalb auch als Kritik Politischer Bildung ausgeflaggt. Ohne hier in irgendeiner Hinsicht Augenhöhe zu beanspruchen, verstehen sich die folgenden Überlegungen auch in gewisser Hinsicht als Kritik an einem spezifischen Format der kursierenden, konzeptuellen Zuschnitte Politischer Bildung. 2Im Folgenden wird ein umfassender Zusammenhang thematisiert. In ihm laufen unterschiedlichste Diskussionslinien zusammen. Literaturhinweise werden daher teilweise nur kursorisch für ganze Felder gegeben, um den hier verfolgten Grundgedanken auch auf der Enge des zur Verfügung stehenden Raumes entfalten zu können.
Demokratie ist Politische Bildung
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Programmatiken, Konzeptentwürfe, Forderungen und Programme legen immer wieder Zeugnis davon ab. Umgekehrt ist Politische Bildung ohne Demokratie nicht denkbar. „In autoritären Systemen stehen an ihrer Stelle Formen staatsbürgerlicher Belehrung, die nicht Meinungsvielfalt und Diskurs, sondern Manipulation im Sinne der Herrschenden betreiben“ (Wirtz 2017, S. 74). Offenbar ist Demokratie auf Politische Bildung angewiesen und Politische Bildung auf Demokratie. Damit wäre, nach gängiger Logik, die Augenhöhe von Demokratie und Politischer Bildung nachgewiesen. Berechtigt das schon, von Politischer Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft zu sprechen? Sieht sich die Demokratie im gleichen Maße wie die Politische Bildung in der Pflicht, Forderungen ihres Gegenübers zu erfüllen? Oder schafft die Demokratie nur strukturelle Bedingungen, die der angestammten Funktion dienlich sind, bleibt aber sonst in ihrer Selbstbestimmung verschlossen für Anforderungen aus der Politischen Bildung? Letzteres scheint der Fall zu sein. Die Demokratisierungsgrade einer Gesellschaft finden ihren Niederschlag in unterschiedlichen Demokratieverständnissen, deren Schreibweisen genau nicht der Politischen Bildung entstammen (vgl. statt vieler Lembcke et al. 2012, 2016; Buchstein 2016 oder nach wie vor Schmidt 1997). Im Gegenteil: Die Politische Bildung nimmt ihrerseits an diesen Varianten Maß und spiegelt an ihnen unterschiedliche Verständnisse Politischer Bildung. „Die Demokratievorstellung enthält in der Regel eine Aussage über wünschenswerte, grundsätzliche Ziele und Wertorientierungen des politischen Handelns“ (Gagel 1979, S. 18).3 Obwohl die Demokratiemodelle und die sich daraus ergebenden Profilierungen für die Politische Bildung stark differieren, gleichen sie sich in einer Hinsicht: Aus ihnen resultieren Ansprüche, die im Angesicht krisenhafter Phänomene in der Regel noch einmal ansteigen (vgl. z. B. Lösch 2011). Allerdings kann dann nicht im umfassenden Sinne von einer „Politischen Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft“ gesprochen werden. Denn es ergeben sich aus der bereits (teil)verwirklichten Demokratisierung der Gesellschaft
3Dass sich im aktuellen Diskurs der Politischen Bildung eine gewisse Einseitigkeit in der Orientierung an einem „maximalistischen Demokratiemodell“ (Merkel 2016) verbreitet hat, ist deshalb zurecht als Mangel ausgewiesen worden (vgl. dazu Ziegler 2018). Es bleibt für die Politische Bildung von essentiellem Interesse, die Entwicklungen in der Demokratietheorie zu verfolgen (vgl. Pohl 2004) bzw. sich „ihres eigenen Demokratieverständnisses stets [zu] vergewissern“ (Lösch 2010, S. 117). Die relativ konsequente Ausblendung der Entwicklung neuer Demokratietheorien in der Breite der fachdidaktischen Diskussion kann vor diesem Hintergrund nur erstaunen.
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W. Friedrichs
„Zumutungen an den Demos“ (Juchler 2010), die mittels Politischer Bildung bewältigt werden sollen. So in den Stand einer Erfüllungsgehilfin gesetzt, macht sich die Politische Bildung sogar eher verdächtig, Steuerungsinteressen zu bedienen statt Forderungen an die Demokratie zu entwickeln.4 Um dagegen von „Politischer Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft“ sprechen zu können, müssten Anforderungen an die Demokratie auf Augenhöhe formuliert werden, die über das Anmahnen struktureller Voraussetzungen für die Praxis der Förderung politischer Kompetenzen hinausgehen. Im Folgenden soll nachgezeichnet werden, dass sich solche Forderungen erst auf der Grundlage eines spezifischen Formats Politischer Bildung zu erkennen geben und damit auch erst artikuliert werden können. Es kann nämlich zwischen einem kognitiv-lernenden und einem ästhetisch-bildenden Format Politischer Bildung unterschieden werden. In einem kognitiv-lernenden Format ist die Rolle der Politischen Bildung als Vorbereiterin der Demokratie festgeschrieben (Abschn. 2 und 3). Aus einem ästhetischbildenden Format heraus können dagegen systematische Forderungen an eine Demokratie gestellt werden, die den Bildungen5 politischer Subjektivität dienlich sind und somit einer Politischen Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft den Weg bereiten (Abschn. 4).
4Es
darf als ein Grundanliegen der Politischen Bildung bezeichnet werden, sich aus dieser Rolle herauszuwinden. Einen ihrer explizitesten Ausdrücke findet diese Sehnsucht nach Unabhängigkeit in der Ausrichtung auf das Bildungsziel Emanzipation (vgl. statt vieler den Rückblick von Hufer 2010). Die grundsätzliche Argumentationsfigur, das lässt sich prominent bei Schmiederer nachvollziehen, wird ebenfalls aus der Perspektive der Funktion der Politischen Bildung für die Demokratie entwickelt (vgl. Schmiederer 1971, insb. S. 7–32). Eine vergleichbare Anziehungskraft geht vom Freiheitsbegriff aus. Auch er verspricht, wie der Emanzipationsbegriff, sich aus dem Anforderungsprofil gesellschaftlicher Funktionalität zu befreien. Der Freiheitsbegriff wird allerdings in Regel so gedacht, dass Freiheitsrechte bereitgestellt werden und Politische Bildung dazu befähigt, diese Freiheit zu nutzen. Wie es an exponierter Stelle bei Wolfgang Sander heißt: „Politische Bildung in der Demokratie ist Anstiftung zur Freiheit. Sie vermittelt jenes Wissen und jene Kompetenzen, die es Menschen ermöglichen, ihre politischen Rechte selbstbewusst und mit der Chance auf Erfolg wahrzunehmen.“ (Sander 2007b, S. 53) Mit dieser Umschrift der Freiheit in ein gesellschaftlich bereitgestelltes Recht wird aus der behaupteten Anstiftung eine Anleitung (für eine entsprechende Kritik vgl. Geuss 2011, S. 84 ff., für den Versuch, die Freiheit dieseits einer Bereitsstellungslogik zu denken vgl. Friedrichs 2018a). 5Im Folgenden wird häufig von Politischen Bildungen an Stelle von Politischer Bildung gesprochen. Damit wird auf die existenzielle Dimension von Selbstbildungen abgehoben, auf die Konstitution des Selbst (vgl. dazu die Beiträge in v. Alkemeyer et al. 2014, für eine erste Skizze im Kontext Politischer Bildung vgl. Friedrichs 2013b).
Demokratie ist Politische Bildung
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2 Politische Bildung als Vorbereiterin der Demokratie Sowohl in der gesellschaftlichen Debatte (a), in der Politikwissenschaft (b) als auch in einem verbreiteten Selbstverständnis der Fachdidaktik (c) wird Politische Bildung als Vorbereiterin für die Demokratie eingestuft. Wenn es aber um die Möglichkeiten geht, auch in einem grundlegend-existenziellen Sinne „Politische Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft“ anzusehen und damit mehr gemeint ist als die Befähigung zur Kritik an gesellschaftlichen Verhältnissen durch Politische Bildung, muss vor allem jenes konzeptionelle Selbstverständnis Politischer Bildung auf den Prüfstand, das ihre Position als Vorbereiterin festschreibt (Abschn. 3). (ad a) In der öffentlichen Debatte kursieren viele Wahrnehmungsschemata, in denen Politische Bildung als Vorschule der Demokratie verortet ist, d. h. Educanden werden durch die Förderung spezifischer Kompetenzen befähigt, an der Demokratie teilzunehmen.6 An einer solchen Rolle nimmt kaum jemand Anstoß, weil eine gesellschaftliche Perspektive an der Frage nach der Funktion einer Einrichtung für die Gesellschaft Maß nimmt. In diesem Sinne kommt der Politischen Bildung die Funktion zu, ausgebildete Demokrat*innen bereitzustellen; in die Logik der politischen Selbstbestimmung einer Gesellschaft kann sie aber nicht eingreifen. Politische Bildung bleibt im öffentlichen Diskurs in ihre Rolle als „Dienstleisterin“ (Rudolf und Zeller-Rudolf 2004) gebannt. (ad b) Einen etwas weniger auf funktionale Erfordernisse gerichteten Blick könnte die Politische Bildung aus ihrer Hauptbezugsdisziplin – der Politikwissenschaft – erwarten, denn beide sind aus einer gemeinsamen historischen Bewegung hervorgegangen. Die Politikwissenschaft entstand im Kontext der Bemühungen um die Reeducation, weil sich die Staatsrechtswissenschaft und die Geschichtswissenschaft mit ihren eher autoritären Staatsverständnissen als Bezugswissenschaften für eine geistige Erneuerung der Deutschen vor dem Hintergrund ihrer Rollen im Nationalsozialismus nicht eigneten (vgl. Mohr 1997, S. 14 f.). Damit
6Zweifellos
trägt auch die in der gesamten Breite vorgenommene Kompetenzorientierung dazu bei, dass die Politische Bildung in den Stand einer die Demokratie vorbereitenden Praxis gesetzt wird. Mehr noch: eine allein kompetenzorientierte Politische Bildung droht allein spezifischen Steuerungsinteressen dienstbar zu sein (vgl. dazu etwa Gelhard 2018a, b) und läuft damit Gefahr, politische Aufklärung einer Funktionalität zu opfern (vgl. Hufer 2008; Gantschow und Meyer-Heidemann 2014). Dieser Aspekt muss an anderer Stelle vertieft werden.
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lässt sich die Politikwissenschaft in der Anfangsphase ihrer Entwicklung mit Bezug auf ihre Gründungmotive „als Bildungswissenschaft charakterisieren“ (ebd., S. 17) – eine explizit auf Vermittlung demokratischer Werte eingerichtete Fachrichtung (vgl. dazu auch Detjen 2018). Die darauffolgende Wandlung der deutschen Politikwissenschaft in eine „forschungsorientierte akademische Disziplin“ hatte dann allerdings die „Emanzipation von der politischen Bildung“ (Gabriel 2004, S. 27) zur Grundlage (vgl. dazu auch Detjen 2016).7 Damit einher geht ein Selbstverständnis der Politikwissenschaft als Lieferantin kognitiver Erkenntnisse für die Didaktik der Politik. Gefragt sei dabei – aus politikwissenschaftlicher Perspektive – die sozialwissenschaftliche Kompetenz, d. h. die „Bereitstellung empirischer Befunde über die Funktionsabläufe, Funktionsvoraussetzungen und Funktionsstörungen verschiedener politischer Systeme“ (Buchstein 2004, S. 59). Im Gegenzug solle sich die Politische Bildung von dem Anspruch verabschieden, essenziell zu einer Demokratisierung der Gesellschaft beizutragen. „Von der politischen Bildung verlangt eine solche Orientierung, sich von der Idee zu verabschieden, dass es primär ihrer bedürfe, damit aus jungen Menschen gute Demokraten werden“ (ebd.). D. h. Fluchtlinie wären nicht die Politischen Bildungen von Subjektivität, sondern die Unterweisung zukünftiger Demokrat*innen nach den durch die Politikwissenschaft diagnostizierten Erfordernissen des Systems. (ad c) Nun hätte die Politische Bildung gute Gründe, sich einer solchen Forderung zu widersetzen. Aufgegeben werden soll schließlich die zentrale Leitidee, dass zuallererst durch die Politische Bildung Demokrat*innen entstünden. Statt sich aber gegen solche Anforderungen zur Wehr zu setzen, werden sie in Teilen der Politikdidaktik sogar noch in die Konzeption Politischer Bildung eingetragen: Im Politikunterricht finden Informationsverarbeitungsprozesse (Gesetzmäßigkeiten) von politischen Inhalten statt. Der Kontext ist die situationsbezogene Anwendung politischer bzw. politikwissenschaftlicher Begrifflichkeiten. Im Unterricht wenden Schüler/-innen und Lehrer/-innen politische Begriffe an. Die Politikdidaktik interessiert sich für den Erwerb und die korrekte/falsche Verwendung politischer
7Gewissermaßen
als Reflex auf diese Entwicklung versucht die Politikdidaktik zu wissenschaftlicher Eigenständigkeit zu gelangen. Ihre Eigenständigkeit leitet die Politikdidaktik konsequenterweise daraus ab, dass die Politikwissenschaft nicht mehr als alleinige Bezugsdisziplin gilt, sondern in der wissenschaftlichen Politikdidaktik breitere wissenschaftlichkonzeptionelle Bezüge hergestellt werden. (vgl. Oberle 2017; Detjen 2004 oder Sander 2013).
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Begriffe und Argumentationen. Sie kann sich in Abgrenzung zur Pädagogik und Psychologie oder Soziologie auf den Ausschnitt der fachlichen Inhalte beziehen. Die Kriterien hierfür erhält sie aus der Politikwissenschaft. Die Beschreibung von Lernschwierigkeiten, Lernerfolg und -misserfolg, altersgerechter Umsetzung des konzeptuellen Wissensaufbaus sowie die Auswahl der Fachkonzepte etc. sind genuin politikdidaktische Aufgaben. (Weißeno 2016, S. 162)
An einem solch informationstheoretischen Zuschnitt Politischer Bildung lassen sich idealtypisch Grundannahmen ablesen, die ein kognitiv-lernendes Format kennzeichnen. Im Zentrum stehen hier Schüler*innen, die Begriffe erwerben. Das heißt, es wird von einem gegebenen (und nicht erst sich bildenden) Subjekt ausgegangen, das politische Begriffe erwirbt, also Wissen erlernt. Dass durch Begriffe validierbare Aussagen über einen Gegenstandsbereich ermöglicht werden sollen, impliziert, dass von einem positiv beschreibbaren und damit auch abbildbaren bzw. repräsentierbaren Gegenstandsbereich Politik ausgegangen wird. Damit sind fünf Grundannahmen ausgemacht, die einem kognitiv-lernenden Format Politischer Bildung zugrunde liegen: 1) ein zentriertes Subjekt, 2) das lernend einem 3) positiven (im Sinne von darstellbaren) Politikbereich gegenübertritt, so dass 4) Wissen innerhalb eines 5) validierbaren Repräsentationsverhältnisses erworben wird. Das kognitiv-lernende Format ist dabei nicht alleiniges Kennzeichen naiv-informationstheoretischer Konzepte Politischer Bildung. Es unterliegt als Blaupause auch deutlich elaborierteren Ausarbeitungen – das Spektrum reicht von Konzeptionen, die vom Bürgerbewusstsein ausgehen, bis zu Entwürfen aus der kritischen Politischen Bildung.8 Unterschiede in der Bewertung des Verhältnisses von Demokratie und Politischer Bildung zeigen sich in der theoretisch-praktischen Aspiration. Zuweilen wird das kognitiv-lernende Format als bequemer Rückzugsraum ausstaffiert und darin sogar als wissenschaftlicher Fortschritt verklärt (Goll 2018). Dieser erstaunliche „Mangel an wissenschaftshistorischer Reflexion“ (Bellmann und Müller 2011, S. 19; vgl. dazu auch MeyerHeidemann 2014) lässt sich Ansätzen aus der kritischen Politischen Bildung, der genetischen und hermeneutischen Politikdidaktik oder den didaktischen Rekonstruktionen des Politikbewusstseins nicht nachsagen. In ihnen wird das
8Relativ
umstandslos ließen sich die Grundannahmen z. B. auch in Sanders Charakterisierung der Politikdidaktik rekonstruieren: „Politikdidaktik als interdisziplinäre Sozialwissenschaft untersucht politisches Lernen empirisch und konzeptionell mit dem Erkenntnisinteresse, die Bedingungen für die Möglichkeiten von Lernprozessen aufzuklären, die die politische Mündigkeit der Lernenden fördern“ (Sander 2013, S. 12).
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„Primat der politischen Selbstverwirklichung“ dem „Primat der demokratischen Systemadaption“ (Lange 2008a, S. 431) vorangestellt. Allerdings drohen auch hier die Grundannahmen des kognitiv-lernenden Formats diesen Kernanspruch subversiv zu unterlaufen, weshalb ihre Reflexion erst recht angezeigt erscheint.
3 Grundannahmen eines kognitiv-lernenden Formats Politischer Bildung Auch wenn die fünf genannten Merkmale letztlich ein zusammenhängendes Gefüge ergeben und darin aufeinander verweisen, werden sie im Folgenden getrennt rekonstruiert. 1. Subjektivität als einen Schlüsselbegriff Politischer Bildung anzusehen, dürfte kaum auf nennenswerten Widerspruch stoßen. Als Emanzipationsformel gestartet, bringt das Prinzip der Schüler*innenorientierung zum Ausdruck, dass Politische Bildung immer im Ausgang von und für Subjekte gedacht wird. Dabei wird der Subjektbegriff durchaus unterschiedlich verwendet. So findet sich einerseits „die Unterstellung, dass die Einzelnen Subjekte sind, […] andere betonen hingegen die Subjektwerdung [Herv. im Orig., W.F.]“ (Bünger 2010, S. 318). Dennoch kann bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze festgehalten werden, dass überwiegend von einem zentrierten Subjekt ausgegangen wird. Das heißt, das Subjekt ist von einem imaginierten, letztlich selbstpräsenten Zentrum aus Autor*in seiner Selbst. Das gilt für jene Ansätze, in denen Subjekte in einem Trivialmodell als Empfänger von Informationen vermessen werden, aber auch für komplexere Konzeptionen, in denen die Subjektwerdung stärker betont wird. So stehen in der genetischen Politikdidaktik zwar die „Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden“ (Petrik 2007) am Ausgangspunkt der Betrachtung, jedoch ohne diese Werdensprozesse in dezentrierten Konstellationen zu denken, d. h. ihnen eine genealogische Wendung zu geben. Das Subjekt bleibt Autor*in seiner Selbst, das über eine „Metakognition“ (ebd., S. 52) die eigenen Werdensprozesse steuert (oder darin kompetent gemacht werden soll). 2. Die zentrierte Autor*innenschaft des Subjekts ist auch der Ausgangspunkt für die Interpretation Politischer Bildung als Lernprozess. Politische Bildung wird selbst dort, wo der Begriff der Bildung explizit thematisiert wird, nicht als Bildung eines Selbst gelesen. Sondern das Selbst ist immer schon (als zentriertes Subjekt) gegeben, d. h. gebildet, und eignet sich danach lernend die Welt an. „Bildung als bewertetes und bewertendes Lernen ist ein offener
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Prozess der möglichst selbstbestimmten und selbstbewussten Aneignung lebensnotwendiger Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten“ (Meueler 2013, S. 52). Diese Aneignung „lebensnotwendiger Kenntnisse“ bezieht sich auf „inhaltsbezogene Aufgabenfelder der politischen Bildung“ (Sander 2007a, S. 313 ff.), die dann als „institutionenkundliches Lernen“, „ökonomisches Lernen“, „historisches Lernen“, „moralisches Lernen“, „interkulturelles Lernen“, „europabezogenes Lernen“ oder „globales Lernen“ schematisiert werden (vgl. ebd.). Politisches Lernen schleicht sich also nicht durch einen Seiteneingang in die Konzeption Politischer Bildung ein, sondern wird in programmatischer Absicht mit Politischer Bildung gleichgesetzt. Lernprozesse werden dabei im Anschluss an Piaget aufgeschlüsselt: Subjekte haben ein grundsätzliches Interesse, in ihren Wahrnehmungen im Einklang mit der Welt zu stehen. Dieses Äquilibrium kann gestört werden, was geschieht, wenn die vorhandenen kognitiven Konzepte nicht ausreichen, um Erfahrungen zu verarbeiten. Es kommt entweder zu einem „conceptual growth“ oder zu einem „conceptual change“ der wahrnehmungserzeugenden Kategorien (vgl. statt vieler Lange 2008b). 3. Mit der kognitiv-lernenden Figuration Politischer Bildung entsteht fast zwangsläufig die Anforderung, Politik vor allem in ihren sichtbaren und damit positivierbaren Anteilen zu fokussieren. Schließlich muss angegeben werden können, was gelernt werden soll. An einem „weiten“ Politikbegriff, der auch die „beabsichtigte gemeinsame Bewältigung zwischenmenschlicher Situationen“ (Sutor 1984, S. 62)9 einschließt, wird die mangelnde Konkretion und Abgrenzbarkeit bemängelt. Ein solcher Politikbegriff reiche nicht aus, „die Handlungen, Prozesse und Gebilde hinlänglich zu erfassen, die gemeinhin unter dem Politikbegriff subsummiert werden“ (ebd., S. 63). Gegen unklare Abgrenzungen gelte es, eine Logik des Politischen auszumachen, die in dem „gleichzeitigen Wirksamwerden […] der drei Dimensionen Form, Inhalt und Prozess des Politischen“ (Massing 2013, S. 102) bestünde. Dieses Verständnis wurde zwar genau für jene begriffliche Enge kritisiert (vgl. statt
9Vor
dem Hintergrund der hier untersuchten Grundannahmen ließe sich fragen, ob der „weite“ Politikbegriff nicht eigentlich noch zu eng ist, insoweit ein weiter Politikbegriff erst dann wirklich weit wäre, wenn die öffentliche, menschliche Konstitution demokratischer Subjekte miteingeschlossen wird und nicht schon zentrierte Subjekte vorausgesetzt werden. Es ginge dann nicht um die „Bewältigung von Situationen“, sondern um die Bildung des demokratischen Selbst: „Der Mensch ist an sich weder endlich noch öffentlich, weil er nicht an sich selbsthaft ist. Endlichkeit und Öffentlichkeit bestimmen den Menschen nur dann in seiner lebenspraktischen Gegenwart, wenn es ihm glückt, gemeinschaftlich sein Selbst zu bilden.“ (Marten 1988, S. 12).
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vieler Himmelmann 2007): Der Lerngegenstand Politik sei gerade in dieser Zuspitzung zu abstrakt, sodass er nicht mehr tauge, um einen elementaren Zugang zur Demokratie zu vermitteln. Doch auch die demokratiepädagogische Kritik bleibt bei der positivistischen Fassung des Lerngegenstandes, wenn sie die spezifischen Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens fokussiert. „In ihr [der Demokratiepädagogik, W.F.] gehe es um konkrete Verhaltensweisen der Menschen wie Gewaltverzicht, Zivilität, Fairness, Toleranz, Solidarität, Kooperation und zivilgesellschaftliches Engagement“ (Wohnig 2017, S. 27). 4. Damit hebt die überwiegende Mehrzahl der Konzeptionen Politischer Bildung auf ein positives, i. S. von darstellbares Gegenstandsfeld Politik ab. Seit der Umstellung auf eine Kompetenzorientierung ergibt sich aus dieser Schreibweise von Politik das Ziel, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass sich Schüler*innen kompetent in diesem Feld bewegen können. Als notwendige Bedingung dafür wird die Vermittlung von Orientierungswissen angesehen (vgl. GPJE 2014). Im fachdidaktischen Denken wird eine solche Wissensbasierung nicht kurzschlüssig als Informationsübertragung missverstanden, sondern als topologische Anordnung, Reflektion und „Relationierung von Wissensformen“ (Grammes 1998, insb. S. 57 ff.). Diese erfolgt durch systematische Bezüge auf den Alltag des Subjekts, weil andernfalls „kein Bewusstsein, sondern nur Wissen […] aufgebaut“ (Lange 2002, S. 357) werde. Auf solche Weise können domänenspezifische Wissensformen als Fachkonzepte (Weißeno et al. 2010) oder (unter angemessener Berücksichtigung subjektiver Interpretationsleistungen) als Basiskonzepte (Autorengruppe_Fachdidaktik 2011) ausgewiesen werden. Obwohl fachdidaktisches Denken mit Hilfe von Basiskonzepten einen naiven Wissensbegriff weit übersteigt, bleibt die Orientierung am „Wissen als Konzept“ (Sander 2009, S. 57) erhalten. 5. Letzteres erlaubt, dass an der Evaluierbarkeit wissensbasierter Konzepte festgehalten werden kann und damit Fehlvorstellungen ausgewiesen werden können. „Fehlvorstellungen bzw. Fehlkonzepte (misconceptions) sind Abweichungen vom Fachkonzept, die sich als falsch kennzeichnen lassen und für die ein Konzeptwechsel nötig ist“ (Weißeno et al. 2010, S. 50). Jegliche Einschätzung, ob es sich bei einer Vorstellung um eine Fehlvorstellung (von etwas) handelt, wird von einem Repräsentationsverhältnis autorisiert: Stimmt die Vorstellung mit der Sache überein oder nicht? Die dem Repräsentationsparadigma inhärente Idee der Widerspiegelung bildet so etwas wie die übergreifende Klammer des kognitiv-lernenden Ansatzes, nach deren Modell ein (zentriertes) Subjekt der Welt in einem dualistischen Verhältnis gegenübertritt und sich Erkenntnisgegen-
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stände lernend aneignen kann, indem es mentale (beurteilbare) Modelle bildet (für eine kritische Rekonstruktion dieser Idee vgl. nach wie vor Rorty 1987). Aus dem Zusammenwirken der fünf Grundannahmen im kognitiv-lernenden Format Politischer Bildung ergibt sich eine einschlägige Stellung der Politischen Bildung gegenüber der Demokratie: Ein gegebenes Subjekt wird mit einer Demokratie konfrontiert, über die es Orientierungswissen erlangen muss, um Demokratiekompetenzen zu erlangen. Letztere können erreicht werden, wenn die mentalen Modelle (Konzepte) den einschlägigen Basiskonzepten zur Demokratie entsprechen. Politischer Bildung kommt die Aufgabe zu, dieses Repräsentationsverhältnis herzustellen – als Vorschule zur demokratischen Beteiligung.
4 Grundannahmen eines ästhetisch-bildenden Formats Politischer Bildung Mit dem kognitiv-lernenden Format wäre das Verhältnis der Politischen Bildung zur Demokratie also in Richtung Demokratie aufgelöst: Politische Bildung wäre das Mittel zur Erreichung spezifischer Zwecke, die sich aus einem vorgegebenen Demokratieverständnis ergeben. D. h. durch die Festlegung auf ein kognitiv-lernendes Format wird der eigene Zweck – die Bildungen politischer Subjekte – verdeckt. Die Politische Bildung entfremdet sich von sich selbst.10 In einer Zuspitzung dieses Formats könnten solche Entfremdungseffekte sogar verstärkt werden, insoweit Bildungsanlässe in die Nähe von technologischen Vollzügen geraten bzw. – entfremdungstheoretisch formuliert – eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi 2016, S. 20) entsteht. Deshalb sollte zum kognitiv-lernenden Format ein ästhetisch-bildendes Format ergänzt werden.11 Damit würde man einem verschobenen diagnostischen
10Diese
Entfremdungseffekte Politischer Bildung von sich selbst lassen sich insbesondere in der Abschattung der Bildungsprozesse in der Politischen Bildung aufzeigen (vgl. dazu Friedrichs 2013a) oder im Verkennen des Politischen in der Politischen Bildung (vgl. dazu Friedrichs 2019). 11Ein in vieler Hinsicht vergleichbares Grundargument entwickelt Meyer-Heidemann (2015, insb. S. 207 ff.), der den Vorgang der Selbstinterpretation mit Taylor bildungstheoretisch etwas weniger grundlegend als „Selbstinterpretation“ ausliest.
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Horizont gerecht: die Politische Bildung kann als Demokratisierung der Gesellschaft nicht gelingen, wenn sie sich allein auf die Aufhebung eines Wissensdefizits kapriziert. Sie muss gleichermaßen Entfremdungsprozessen – die sich in unterschiedlichsten Verdrossenheiten zeigen12 – entgegenwirken. Damit soll nicht romantisierenden oder gegenaufklärerischen Gefühlslagen das Wort geredet oder oberflächlichen Forderungen nach mehr Menschlichkeit entsprochen werden. Die Entfremdungstheorie kann nur Ausgangspunkt eines ästhetisch-bildenden Formats Politischer Bildung sein, wenn zwei Probleme vermieden werden: „einerseits ihr Essentialismus und ihre […] Orientierung an einer Vorstellung von ‚Wesen‘ oder Natur des Menschen […]; andererseits das Versöhnungsideal, das Ideal spannungsfreier Einheit“ (ebd., S. 20). Politische Bildung würde demzufolge 1) ein dezentriertes Subjekt (und kein gegebenes) annehmen, das sich 2) politisch bildet. Diese Bildungen, innerhalb einer 3) als sinnliche Ordnung verstandenen Politik, erfolgen 4) im Medium Sinn. Der Rahmen ist durch 5) ein Immanenzfeld von Subjekt und Welt gegeben. Auch hier gilt, dass die Grundannahmen des ästhetisch-bildenden Ansatzes aufeinander verweisen, teilweise sogar auseinander hervorgehen, hier aber dennoch seriell zur Darstellung kommen sollen. 1. Die genetische Perspektive auf ein werdendes Subjekt (klassisch bei Piaget) lief schon immer Gefahr, einer Schimäre aufzusitzen, soweit sie einen (transzendentalen) subjektiven Kern hinter der Wandelbarkeit der Erscheinungen annahm. Selbst wenn man aus transzendentallogischen Gründen annehmen müsste, dass ein der Erfahrung unzugängliches transzendentales Ich den Bewusstseinszusammenhang eines jeden Subjekts überhaupt erst stiftet, ist dieses nicht zu hypostasieren. Vielmehr ist auch von diesem anzunehmen, dass es „verinnerlicht“ (Adorno 1995, S. 39) wurde, insofern es genuin im Zusammenhang gesellschaftlicher Praxis entsteht. Ein dezentriertes Subjekt ist somit nicht eines, das sich in der Vielfalt seiner Erscheinungsweisen zu verlieren droht. Sein vermeintlicher innerer
12Es ist seit einiger Zeit zu einer Trivialdiagnose geworden, dass Entfremdung und Verdrossenheit korrelieren (vgl. z. B. Huth 2004, S. 242 f.). Diese Diagnose ist allerdings in ihrer verbreiteten Form zu undifferenziert (vgl. dazu z. B. Partetzke 2018, S. 7 ff.) und damit wenig anschlussfähig für die Politische Bildung. Aussichtsreicher wäre dagegen ein Anschluss an gouvernementale Praktiken der Erzeugung des Selbst, wie es sich zum Beispiel bei Oberprantacher (2011) angedeutet findet.
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Kern ist vielmehr auch ein Effekt komplexer gesellschaftlicher Spiegelungsverhältnisse (für das Beispiel sex/gender vgl. statt vieler immer noch Butler 1991, insb., S. 25 ff.). Dabei soll mit dem Verlust eines inneren subjektiven Kerns nicht kurzschlüssig der fast totzitierten Formel vom Tod des Subjekts entsprochen werden. Es ist auch in der Politischen Bildung weiterhin von subjektiv zurechenbaren Motiven, Emotionen, Entschlüssen, Urteilen usw. auszugehen. Nur ist all das in einer genealogischen Perspektive als Produkt einer komplexen, subjektiv-gesellschaftlichen Praxis zu verstehen. 2. Damit verändert sich die Diagnose der Entfremdung. In einer bis heute wohltradierten Fassung wurde Entfremdung immer als eine Dezentrierungsbewegung aufgefasst. Wirkmächtig stellte schon Schiller in seinen Briefen zur ästhetischen Erziehung eine Entzweiung der harmonischen Kräfte der menschlichen Natur fest, die es wiederherzustellen gelte (vgl. z. B. Schiller 1965, S. 26 f.). Bildung gilt dabei spätestens seit Humboldt als „Rückweg aus der Entfremdung“ (Buck 1984), wobei sich das Einheitsversprechen als „humanistische Illusion“ (Schäfer 1996) erwies. Und nicht nur das: vielmehr zeigte zunehmend jener Glaube an die Erreichbarkeit einer eigentlichen Ganzheit seine entfremdenden Züge. In einem „Jargon der Eigentlichkeit“ kann „man“ angeben, „wer man eigentlich ist“ – womit „der geschichtliche Stand ins reine Menschenwesen verlegt [wird]“ (Adorno 1965, S. 56). Politische Bildung kann deshalb ihren eigenen Zweck bildungstheoretisch nur erreichen, indem sie Politische Bildungen als fortgesetzte konstitutive Artikulation im Sinne einer Ausprägung von Welt- und Selbstverhältnissen fokussiert (und nicht allein als Erfassen von Lerngegenständen).13 Bildung muss also insoweit dezentriert gedacht werden, als dass erstens zunächst vermittels solcher
13Eine
solchermaßen angedachte bildungstheoretische Fundierung der Didaktik der Politik wird inzwischen wieder vereinzelt gefordert (vgl. z. B. Rucker 2014). Dass sich diese Forderung nicht so recht Gehör verschaffen kann, liegt auch daran, dass sich die Didaktik der Politischen Bildung – auf der Grundlage der Annahmen des kognitiv-lernenden Ansatzes – an einer Vorstellung von Wirksamkeit orientiert (vgl. Reinhardt 2018), die wiederum eine quantifizierbare Operationalisierbarkeit des Bildungsbegriffes impliziert, die aber nicht umstandslos möglich ist (vgl. dazu Dreßler 2014). Deshalb müssten, als sechster Unterschied in den hier gegenübergestellten Ansätzen, noch Ideen von Wirksamkeitsformaten thematisiert werden. Der ästhetisch-bildende Ansatz setzt mit seinen hier angeführten Grundannahmen nämlich einen qualitativen Begriff der Wirksamkeit voraus (Jullien 2006, 1999), der sich eher am „Zaudern“ (Vogl 2014) oder Zögern (vgl. Ruhloff 2006) orientiert denn an der Ausführung; eher an der Strategie als an der Methode.
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Artikulationen das entsteht, was späterhin als „eigentliches Selbst“ ausgewiesen werden kann. Letzteres aber zweitens in einer „unmöglichen Übereinstimmung des Selbst“ (Thompson 2009, S. 16) verbleibt.14 3. Solche Bildungen politischer Subjektivität finden nicht im Niemandsland statt. Diesseits einer genetischen Perspektive der Transformation bestehender Subjektivität können sie als Artikulationsvorgänge begriffen werden. Artikulation allerdings nicht im Sinne einer Mitteilung eines vorher schon gegebenen Subjekts, sondern als Hervorbringung eines „homo articulans“ (Jung 2009, S. 22) – Sein heißt Ausgedrücktsein (vgl. dazu Deleuze 1993). Damit kommt der Artikulation selbst, ihren Formen, Möglichkeiten und Begrenzungen, eine erheblich gestiegene Bedeutung zu; d. h. es muss davon ausgegangen werden, dass eine „sinnstrukturierte Realität […] kein bloßes Hilfsmittel für spezifisch menschliche kognitive Operationen, sondern deren essentielle Verkörperung ist“ (Jung 2009, S. 91). Damit wird politische Verfasstheit einer Gesellschaft unter dem Aspekt der „Aufteilung des Sinnlichen“ (Rancière 2008) von Interesse. Politik wird hier als eine Gesellschaftsordnung figuriert, die die Erscheinungs- bzw. Artikulationsbedingungen festlegt und damit auch entscheidend dafür ist, wer sich überhaupt artikulieren bzw. politisch bilden kann. „Der Politik liegt mithin eine Ästhetik zugrunde, die jedoch nicht das Geringste mit jener ‚Ästhetisierung der Politik‘ im ‚Zeitalter der Massen‘ zu tun hat, von der Benjamin spricht. […] Wenn man nach einer Analogie sucht, kann man diese Ästhetik im Sinne Kants als System der Formen a priori auffassen […], insofern sie bestimmen, was der sinnlichen Erfahrung überhaupt gegeben ist.“ (ebd., S. 26) Politik wird damit nicht auf ihrer „Oberfläche“, der Zusammenstellung positivierbarer (im Sinne von darstellbarer) Handlungen, Prozesse und Inhalte ausgelesen, sondern hinsichtlich der von ihr bereitgestellten Möglichkeiten, welche Ereignisse erscheinen,
14Hinter
dieses erreichte Niveau der Bildungsphilosophie fällt Sander (2018) mit seinem aktuellen Bestimmungsversuch zurück, indem er erstens Bildung durch seine Bezüge auf die Tradition zurück ins „Medium Kultur“ (Bollenbeck 1996) zurückverschiebt und zweitens die subjekttheoretischen Erträge aus der posthumanistischen Diskussion verkennt, weil er die „Selbstlosigkeit“ eines „antithetischen Bildungskonzepts“ (Ballauf 2000, S. 104 ff.) als sinnhaft transzendentale Zusammenhangslosigkeit versteht (vgl. insb. Sander 2018, S. 82 f.).
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welche Politischen Bildungen sich ereignen können – Politik ist „Regel ihres Erscheinens“ (Rancière 1997a) und in diesem Sinne undarstellbar (vgl. dazu auch Marchart 1998). 4. Die im ästhetisch-bildenden Format Politischer Bildung angesprochene existentielle Dimension Politischer Bildungen findet nicht im Medium Wissen statt. Damit wird der Ausgangspunkt eines zu behebenden Wissensdefizits hinfällig. Vielmehr werden die Politischen Bildungen danach bewertet, ob in ihnen ein Weltverhältnis gelingt, ob sich in ihnen ein Gemeinsinn ausdrückt. „Zentral ist die Idee einer Differenz zwischen gelingenden und misslingenden Weltverhältnissen, die sich nicht am Ressourcen- oder Verfügungsreichtum […] festmachen lässt, sondern am Grad der Verbundenheit mit oder Offenheit gegenüber anderen Menschen (und Dingen)“ (Rosa 2016, S. 53). Im Unterschied zu kognitiven Lernprozessen erfolgen die Politischen Bildungen im Medium Sinn. Nicht gegebene, zentrierte Subjekte reflektieren ihr Wissen so, dass sie sich einer Kolonialisierung ihrer Lebenswelt erwehren können. Stattdessen werden Politische Bildungen ermöglicht, in denen ein gemeinsamer Sinn artikuliert werden kann. Es geht nicht allein darum, sich an der Demokratie kompetent zu beteiligen (auf der Grundlage von konzeptuellem Wissen), sondern sich demokratisch zu artikulieren – einen „Mit-Sinn“ (Nancy 2010) herzustellen. 5. Eine solche Praxis der Artikulation lässt sich nicht im Repräsentationalismus abbilden. Sie kann nicht richtig oder falsch sein (im Sinne einer Übereinstimmung). Politische Bildungen von Subjektivität treten der Demokratie nicht „gegenüber“, sie fallen mit ihr zusammen. „Demokratie hat und braucht keinen anderen Grund als sich selbst, denn sie ist nichts anderes als die Form, die sich das Volk gibt.“ (Saar 2013, S. 395). Man kann also auf keinen externen Grund zeigen, vielmehr muss sich der Grund immer von neuem zeigen. Politische Bildungen als Ausprägungen eines demokratischen Selbstund Weltverhältnisses lassen sich nur in einem Immanentismus15 beschreiben, weil auch das Selbst erst Ergebnis eines Weltkontaktes ist.
15Mit
Immanentismus ist hier nicht Immanenzphilosophie gemeint. Vielmehr bezeichnet es ein „transzendentales Feld“ (Deleuze 1996, passim), das dem Subjekt und dem Objekt vorausgeht. Die Selbst- und Weltverhältnisse sind dann in auf einer Erscheinungsebene jenseits des Subjekt-Objekt-Dualismus zu beschreiben (vgl. dazu Wiesing 2015, S. 117 ff.).
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5 Demokratie für Politische Bildung Im ästhetisch-bildenden Zuschnitt der Politischen Bildung ergibt sich ein anderes Verhältnis von Politischer Bildung und Demokratie. Wenn sich (dezentrierte) Subjekte zuallererst als demokratisch-sinnhafte Form bilden müssen, kann es vor den Politischen Bildungen keine Demokratie geben. Vielmehr ist „die Demokratie im Allgemeinen eine Subjektivierungsweise des Politischen“ (Rancière 1997b, S. 98). Solche Subjektivierungsweisen sind nur sinnhaft im Moment ihres Ausdrucks zugänglich, wenn sich der Gemeinsinn zeigt: „Ein Demokratisch-werden, das nicht mit faktischen Rechtstaaten zusammenfällt“ (Deleuze 1996, S. 131). Es kann also festgehalten werden, dass im kognitiv-lernenden Format Anforderungen aus dem demokratischen Vollzug entsprochen wird. In der Politischen Bildung werden Kompetenzen geschult, um praktisch vorgegebenen Erfordernissen gerecht zu werden. Dabei geht es um die demokratische Praxis im vollen Sinne, also auch um deren kritische Erneuerung. Politische Bildung ist hier Vorschule für die Demokratie. Im ästhetisch-bildenden Format Politischer Bildung werden politische Subjektivierungen im Medium der Unbestimmtheit des Politischen16 fokussiert. Gelingende demokratische Selbst- und Weltverhältnisse zeichnen sich durch ihren geteilten Sinn aus (s. o.) und bringen Demokratie überhaupt erst zur Erscheinung. „Demokratie existiert auf Grund der Existenz einer besonderen Erscheinungssphäre eines Namens und eines Subjekts. Dieses nennt sich im Fall der athenischen Versammlung demos“ (Rancière 1997b, S. 99). Politische Bildungen gehen hier der Demokratie voraus.17 Das heißt, erst in der hier skizzierten Doppelung, in einem kognitiv-lernenden und einem ästhetisch-bildenden Format, befindet sich die Politische Bildung mit der Demokratie auf Augenhöhe, kann im vollen Sinne von der Politischen Bildung als Demokratisierung der Gesellschaft gesprochen werden. Dabei sind die beiden Formate nicht nach tradierten Lektüremustern in ein Innen-Außen-Verhältnis zu bringen, nach der jedem „äußeren“ Handeln eine „innere“ Selbstbestimmung zur Seite gestellt werden müsste (für eine entsprechende Argumentation vgl. Litt 1948). Denn dann würde das ästhetisch-bildende Format wieder in den Sog demokratischer Anforderungsprofile geraten – etwa mit Forderungen nach
16Hier
wäre erneut darauf hinzuweisen, dass auf das Politische abgestellt wird, wie es in der Debatte um die Differenz von Politik und dem Politischen erörtert wird (vgl. für die inzwischen umfassende Diskussion beispielhaft Bedorf 2010; Marchart 2010). 17Grundzüge dieser Idee, dass Politische Bildungen die demokratische Selbstbestimmung einer Gesellschaft ermöglichen, finden sich schon bei Sontheimer (1963, insb. S. 16 f.).
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innerer Bejahung oder emotionaler Zugewandtheit. Unter Berücksichtigung aller erläuterten Grundannahmen ist Politische Bildung demgegenüber als eine Doublette aus kognitiv-lernenden und ästhetisch-bildenden Formaten zu verstehen, die genau darin der Doppelbedeutung der Demokratie als „Institution und Aufgabe“ (Abendroth zit. nach Salomon 2014, S. 73) entspricht. Demokratie ist Politische Bildung!
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Politische Bildung – Bildungsaufgabe mit Verfassungsrang? Steve Kenner
Zusammenfassung
Der Beitrag befasst sich mit der Frage, inwiefern bei politischer Bildung von einem Bildungsauftrag mit Verfassungsrang ausgegangen werden kann. Dabei wird zunächst unter anderem auf Grundlage einer gemeinsamen Erklärung der Kultusministerkonferenz das Bildungsziel politische Bildung skizziert. Anschließend werden die 16 Landesverfassungen der Bundesländer daraufhin analysiert, welchen Stellenwert sie der politischen Bildung beimessen. Die Erkenntnisse dieser Untersuchung werden ins Verhältnis zu den gesellschaftspolitischen Angriffen auf die schulische und außerschulische politische Bildung gesetzt.
1 Hinführung Demokratie ist die einzige staatlich verfasste Gesellschaftsordnung, die immer wieder neu gelernt werden muss. Dies gilt nach dem Soziologen Oskar Negt (2018, S. 21) sowohl für Kinder als auch für Jugendliche, junge Erwachsene und bis ins hohe Alter. Demokratie muss dabei immer wieder neu erlernt werden. Damit ist aber nicht gemeint, dass das bestehende politische System mit den
S. Kenner (*) Leibniz Universität Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_3
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S. Kenner
gegenwärtigen gesellschaftspolitischen Macht- und Herrschaftsverhältnissen hinzunehmen ist (Kenner und Lange 2018, S. 9). Vielmehr orientiert sich dieses Verständnis von politischer Bildung am Mündigkeitsbegriff von Theodor W. Adorno. Er betonte, dass Mündigkeit das Ziel von Erziehung ist und dies nicht bedeuten kann, dass Erziehung dabei stehen bleibt, „well adjusted people“ (Adorno 1971/1966, S. 109) zu produzieren. Das Ziel mündiger Bürger*innen impliziert dabei nicht zwangsläufig das Ziel politischer Aktivbürger*innen. Wenngleich alle das gleiche Recht auf Teilhabe haben, so obliegt es dem Individuum, in welcher Weise es davon Gebrauch macht. Diese Entscheidung allerdings bedarf nicht nur des Rechts auf Teilhabe, sondern vor allem der Befähigung zur Teilhabe (Kenner 2018). Die Politikdidaktikerin Sibylle Reinhardt erklärt deshalb politische Bildung zu einem Teil von relevanter Allgemeinbildung, die nicht von „privater Beliebigkeit“ (Reinhardt 2018, S. 16) geprägt sein darf. Um dies zu gewährleisten, wird in der Politikdidaktik seit Jahrzehnten intensiv an Lehr- und Lernsettings geforscht. In dem vorliegenden Beitrag sollen allerdings nicht die Zugänge, Konzepte und Modelle des politischen Lernens im Vordergrund stehen, sondern vielmehr die rechtlichen Rahmenbedingungen. Dabei erhebt der Text nicht den Anspruch einer rechtswissenschaftlichen Analyse, sondern soll vielmehr dazu dienen, der Frage nachzugehen, inwiefern politische Bildung und das Lernen für die Demokratie im Bildungssystem der Bundesrepublik Deutschland verankert ist. Immer wieder ist diesbezüglich die Rede vom Verfassungsrang, den die politische Bildung innehabe (vgl. Detjen 2015). Im Folgenden wird zunächst herausgearbeitet, inwiefern politische Bildung als Bildungsziel definiert werden kann. Daran anschließend werden die Ergebnisse einer Untersuchung der 16 Landesverfassungen skizziert. Im Fokus steht dabei die Frage, welchen Stellenwert politische Bildung in den Landesverfassungen einnimmt. Darauf aufbauend werden potenzielle Gefahren einer fehlenden verfassungsrechtlichen Verankerung der politischen Bildung dargestellt. Eine besondere Rolle nimmt dabei auch die non-formale politische Bildung ein. Ziel der Untersuchung ist es, die Notwendigkeit eines klaren Bekenntnisses zur schulischen und außerschulischen politischen Bildung offenzulegen.
2 Politische Bildung als Bildungsziel Über die meisten Parteigrenzen hinweg sind sich Bildungspolitiker*innen über die Bedeutung und Notwendigkeit von politischer Bildung als Bildungsziel in formalen und non-formalen Lernsettings einig. Die rechtliche Verankerung ist diesbezüglich allerdings nicht eindeutig und schützt politische Bildung nur in Teilen der Bundesrepublik vor der Abschaffung. Bildung liegt in der föderal strukturierten
Politische Bildung – Bildungsaufgabe mit Verfassungsrang?
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Bundesrepublik im Hoheitsbereich der Länder. Dies führt dazu, dass bildungspolitische Entscheidungen in den 16 Bundesländern oftmals sehr unterschiedlich geregelt werden. Dies betrifft auch die politische Bildung. Allerdings konnten sich die Bildungsminister*innen der Länder zuletzt im Jahr 2018 auf eine gemeinsame Erklärung zur Demokratiebildung einigen. In dieser Erklärung heißt es: Schule kann und soll sich als Ort erweisen, an dem Demokratie als dynamische und ständige Gestaltungsaufgabe – auch im Spannungsfeld unterschiedlicher demokratischer Rechte – reflektiert und gelebt wird. Die Thematisierung von Diversität und Ambiguitätstoleranz sind grundlegende Voraussetzungen für den Erfolg historisch-politischer Bildung in der Schule. (KMK 2018, S. 2 f.)
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, sollten in Deutschland alle Menschen im Laufe ihres Lebens mit politischer Bildung in formalen, non-formalen oder informellen Settings in Berührung kommen. Gewährleistet werden soll dies unter anderem mit der Verankerung der politischen Bildung in den Landesverfassungen (Kenner 2020).
3 Politische Bildung in den Landesverfassungen Der Politikdidaktiker Joachim Detjen (2015) verweist darauf, dass es in Deutschland nur zwei schulische Unterrichtsfächer bzw. zentrale schulische Aufgaben mit Verfassungsrang gibt. Hervorzuheben ist dabei der Religionsunterricht, der im Grundgesetz verankert ist. In Artikel sieben (Satz 2) ist festgelegt, dass Eltern über die Teilnahme ihres Kindes am Religionsunterricht bestimmen dürfen. Das Unterrichtsfach Religion ist an den öffentlichen Schulen ein ordentliches Schulfach, so regelt es das Grundgesetz (GG, Art. 7/Satz 3). Der Verfassungsrang, und somit der Schutz vor Abschaffung, ist für das Unterrichtsfach Religion in Deutschland damit deutlich. Für politische Bildung ist dieser Verfassungsrang bis heute weniger klar definiert. Es handelt sich bei politischer Bildung nur in Ausnahmefällen um ein verfassungsrechtlich klares Bekenntnis zum Unterrichtsfach. Auch als Bildungsziel ist politische Bildung weder im engeren noch im weiteren Sinne in allen Landesverfassungen festgeschrieben. Für die im Folgenden dargestellte Kategorisierung des Bildungsauftrages wurden die 16 Landesverfassungen der Bundesländer daraufhin untersucht, inwiefern politische Bildung Teil des Bildungsauftrages ist und somit tatsächlich Verfassungsrang hat. Die untersuchten Landesverfassungen in ihrer jeweils aktuellen Form, mit einem Verweis auf die Online-Verfügbarkeit des Textes, finden sich zur Vollständigkeit der Angaben im Quellenverzeichnis. Für die Analyse wurden die folgenden vier Ebenen herausgearbeitet:
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1. Politische Bildung als Unterrichtsfach 2. Politische Bildung als zentrales Bildungsziel Kodiert nach Begriffen wie: Demokratieverständnis, Achtung vor der Überzeugung und der Würde des*der anderen, Rechtstaatlichkeit etc. 3. Politische Bildung als Bildungsziel im weiteren Sinne Kodiert nach Begriffen wie: Gemeinwohlorientierung, Toleranz, guter Umgang miteinander 4. Politische Bildung ohne Verfassungsrang
Bundesland
1
Baden-Württemberg
2
Bayern
3
Berlin
4
Brandenburg
5
Bremen
6
Hamburg
7
Hessen
8
Niedersachsen
9
Mecklenburg-Vorpommern
10
Nordrhein-Westfalen
11
Rheinland-Pfalz
12
Saarland
13
Sachsen
14
Sachsen-Anhalt
15
Schleswig-Holstein
16
Thüringen
PB als Bildungsauftrag
PB als Unterrichtsfach
PB als Bildungsauftrag im weiteren Sinne
PB nicht in der Verfassung
Politische Bildung – Bildungsaufgabe mit Verfassungsrang?
35
Zumeist wird in den Landesverfassungen politische Bildung als „zentrales Bildungsziel“ formuliert. Innerhalb der 16 Landesverfassungen ist politische Bildung nur in zweien als Unterrichtsfach verankert. Wenngleich mit zwei unterschiedlichen Bezeichnungen, sichern die Länder Baden-Württemberg (Gemeinschaftskunde; Landesverfassung Baden-Württemberg Artikel 21, Satz 2) und Nordrhein-Westfalen (Staatsbürgerkunde; Landesverfassung NRW Artikel 11) das Unterrichtsfach Politische Bildung vor der Streichung von den Stundentafeln. Auch als klares Bildungsziel – unabhängig vom Unterrichtsfach – ist politische Bildung nicht in allen Bundesländern verankert. Zehn Bundesländer (Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Saarland und Thüringen), und damit weniger als Zweidrittel der Bundesländer, haben politische Bildung als klares Ziel in der Landesverfassung festgeschrieben. Zentrale Begriffe der Landesverfassungen sind u. a. Bildung auf „Grundlage demokratischer Werte und Prinzipien“, Erziehung zu „demokratischer Haltung und Gesinnung“, „Rechtstaatlichkeit“, „Achtung vor der Überzeugung und der Würde des bzw. der Anderen“ u. v. m.
3.1 Politische Bildung als zentrales Bildungsziel Im Folgenden sind die Auszüge aus den Landesverfassungen der zehn Bundesländer aufgeführt, die darauf schließen lassen, dass politische Bildung hier einen Verfassungsrang hat. Kursiv markiert sind dabei die Schlüsselbegriffe. Landesverfassung Baden-Württemberg Artikel 12 (1) Die Jugend ist in Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe, zur Brüderlichkeit aller Menschen und zur Friedensliebe, in der Liebe zu Volk und Heimat, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen. Artikel 21 (1) Die Jugend ist in den Schulen zu freien und verantwortungsfreudigen Bürgern zu erziehen und an der Gestaltung des Schullebens zu beteiligen.
Landesverfassung Bayern Artikel 131 Ziele der Bildung (1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden. (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht
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S. Kenner vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft und Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt. (3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen. (4) Die Mädchen und Buben sind außerdem in der Säuglingspflege, Kindererziehung und Hauswirtschaft besonders zu unterweisen.
Landesverfassung Brandenburg Artikel 28 (Grundsätze der Erziehung und Bildung) Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern.
Landesverfassung Bremen Artikel 26 Die Erziehung und Bildung der Jugend hat im Wesentlichen folgende Aufgaben: (1) Die Erziehung zu einer Gemeinschaftsgesinnung, die auf der Achtung vor der Würde jedes Menschen und auf dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit und politischer Verantwortung beruht, zur Sachlichkeit und Duldsamkeit gegenüber den Meinungen anderer führt und zur friedlichen Zusammenarbeit mit anderen Menschen und Völkern aufruft. (2) Die Erziehung zu einem Arbeitswillen, der sich dem allgemeinen Wohl einordnet, sowie die Ausrüstung mit den für den Eintritt ins Berufsleben erforderlichen Kenntnissen und Fähigkeiten. (3) Die Erziehung zum eigenen Denken, zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun.
Landesverfassung Nordrhein-Westfalen Artikel 7 (1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. (2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zur Verantwortung für Tiere und die Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung.
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Landesverfassung Rheinland-Pfalz Artikel 33 Die Schule hat die Jugend zur Gottesfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit, zur Liebe zu Volk und Heimat, zum Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt, zu sittlicher Haltung und beruflicher Tüchtigkeit und in freier, demokratischer Gesinnung im Geiste der Völkerversöhnung zu erziehen.
Landesverfassung Saarland Artikel 30 Die Jugend ist in der Ehrfurcht vor Gott, im Geiste der christlichen Nächstenliebe und der Völkerversöhnung, in der Liebe zu Heimat, Volk und Vaterland, zu sorgsamem Umgang mit den natürlichen Lebensgrundlagen, zu sittlicher und politischer Verantwortlichkeit, zu beruflicher und sozialer Bewährung und zu freiheitlicher demokratischer Gesinnung zu erziehen.
Landesverfassung Sachsen Artikel 101 (1) Die Jugend ist zur Ehrfurcht vor allem Lebendigen, zur Nächstenliebe, zum Frieden und zur Erhaltung der Umwelt, zur Heimatliebe, zu sittlichem und politischem Verantwortungsbewußtsein, zu Gerechtigkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, zu beruflichem Können, zu sozialem Handeln und zu freiheitlicher demokratischer Haltung zu erziehen.
Landesverfassung Thüringen Artikel 22 (1) Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde des Menschen und Toleranz gegenüber der Überzeugung anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und die Umwelt zu fördern.
Einen Sonderfall stellt die Landesverfassung von Hessen dar. Hier findet zwar das Unterrichtsfach Politische Bildung keine Erwähnung, dafür aber das Schulfach Geschichte.
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Landesverfassung Hessen Artikel 56 (4) Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit. (5) Der Geschichtsunterricht muß auf getreue, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein. Dabei sind in den Vordergrund zu stellen die großen Wohltäter der Menschheit, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur, nicht aber Feldherren, Kriege und Schlachten. Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden.
Außerdem hervorzuheben ist die Formulierung des „christlichen Sittengesetzes“ aus der Landesverfassung des Saarlandes als Grundlage für das Elternrecht, die Bildung und Erziehung ihrer Kinder mitzubestimmen. Landesverfassung Saarland Artikel 26 Unterricht und Erziehung haben das Ziel, den jungen Menschen so heranzubilden, dass er seine Aufgabe in Familie und Gemeinschaft erfüllen kann. Auf der Grundlage des natürlichen und christlichen Sittengesetzes haben die Eltern das Recht, die Bildung und Erziehung ihrer Kinder zu bestimmen.
Diese und vergleichbare Formulierungen wie die Erziehung zur „Ehrfurcht vor Gott“ sind in mehreren Landesverfassungen verankert, erscheinen in der heutigen Gesellschaft irritierend und dem Anspruch einer religiös-weltanschaulichen Neutralität des Staates zu widersprechen.
3.2 Politische Bildung als Bildungsziel im weiteren Sinne In zwei Bundesländern (Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt) lassen sich Bezüge für eine Verankerung von politischer Bildung im weiten Sinne identifizieren. Hier wird deutlich, dass politische Bildung nicht explizit im Sinne einer Bildung für die Demokratie verankert ist, sondern vor allem auf Konzepte wie „soziale Verantwortung“, „Toleranz“ und „Gemeinschaftsgefühl“ rekurriert. Diese Konzepte lassen sich im Sinne des sozialen Lernens unbestritten
Politische Bildung – Bildungsaufgabe mit Verfassungsrang?
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als Teilelemente der politischen Bildung begreifen, ein klares Bekenntnis zu politischer Bildung im Sinne eines politischen Lernens, der Anerkennung von Menschenwürde und demokratischer Überzeugung ist allerdings nicht abzuleiten. Landesverfassung Mecklenburg-Vorpommern Artikel 15 (4) Das Ziel der schulischen Erziehung ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die aus Ehrfurcht vor dem Leben und im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen.
Landesverfassung Sachsen-Anhalt Artikel 27 (Erziehungsziel, Ethik- und Religionsunterricht) (1) Ziel der staatlichen und der unter staatlicher Aufsicht stehenden Erziehung und Bildung der Jugend ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern und gegenüber künftigen Generationen zu tragen.
3.3 Politische Bildung ohne Verfassungsrang In vier Bundesländern (Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein) ist politische Bildung weder als Unterrichtsfach noch als zentrales Bildungsziel oder im weiteren Sinne verfassungsrechtlich festgeschrieben. Schleswig-Holstein nimmt dabei noch eine besondere Rolle ein, denn in der Landesverfassung des Bundeslandes ist in Artikel 10 der Schutz der Kinder und Jugendlichen hervorgehoben. Hier heißt es: Landesverfassung Schleswig-Holstein Artikel 10 (Schutz von Kindern und Jugendlichen) (1) Kinder und Jugendliche stehen unter dem besonderen Schutz des Landes, der Gemeinden und Gemeindeverbände sowie der anderen Träger der öffentlichen Verwaltung. (2) Bei der Schaffung und Erhaltung kindgerechter Lebensverhältnisse ist dem besonderen Schutz von Kindern und ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen Rechnung zu tragen. (3) Kinder und Jugendliche sind Träger von Rechten. Sie haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung, auf Bildung, auf soziale Sicherheit und auf die Förderung ihrer Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten.
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Diesen Artikel kann man durchaus so interpretieren, dass zu seiner Erfüllung politische Bildung für Kinder und Jugendliche dringend erforderlich sei. Es ist allerdings nicht explizit als Bildungsziel formuliert. Damit ist politische Bildung in Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein weder als Unterrichtsfach noch als Schulprinzip oder außerschulische Aufgabe vor der Abschaffung geschützt. Bei einem Viertel der deutschen Bundesländer hat politische Bildung demnach keinen Verfassungsrang. Diese Analyse offenbart das Spannungsverhältnis, in dem sich politische Bildung in Deutschland befindet. Bildungspolitiker*innen aller Länder betonen die Bedeutung von politischer Bildung, die strukturellen und rechtlichen Rahmenbedingungen allerdings divergieren. An dieser Stelle sei erwähnt, dass eine Nicht-Nennung der politischen Bildung in der Landesverfassung nicht gleichzusetzen ist mit einer Vernachlässigung dieses Bildungsziels. Niedersachsen beispielsweise räumt der politischen Bildung auch als Unterrichtsfach einen großen Stellenwert durch verhältnismäßig viel Unterrichtszeit ein und Berlin hat jüngst das Unterrichtsfach Politische Bildung wieder als eigenständiges Unterrichtsfach auf der Stundentafel der Schüler*innen verankert (vgl. Gökbudak und Hedtke 2019).
3.4 Braucht politische Bildung eine verfassungsrechtliche Verankerung? Dennoch ist es von großer Relevanz, sich mit der verfassungsrechtlichen Verankerung der politischen Bildung in der Bundesrepublik zu befassen. In den vergangenen Jahren hat sich eine rechtspopulistische Bewegung etabliert und mit der sogenannten „Alternative für Deutschland“ (AfD) auch eine Partei, die einfache Antworten auf komplexe Frage liefert und mit dieser populistischen Strategie Grundprinzipien einer multiperspektivischen und kritischen politischen Bildung unterläuft. Im Mai 2019 hat die AfD im sächsischen Parlament einen Gesetzesentwurf (Sächsischer Landtag 2019) vorgelegt, der eine staatliche Finanzierung der politischen Bildung im Land vollständig unterbinden soll. Wörtlich heißt es darin: Es ist verboten, Zuwendungen aus Mitteln des Freistaates Sachsen oder seiner Gebietskörperschaften für Zwecke der staatspolitischen Meinungs- und Willensbildung, der Demokratieerziehung oder anderer Formen der politischen Bildung außerhalb der gesetzlich geregelten Parteienfinanzierung zu gewähren. (AfD-Fraktion im Sächsischen Landtag 2019, S. 4)
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Dies würde für eine Vielzahl von Trägern der außerschulischen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung das Ende ihrer jahrzehntelangen Arbeit bedeuten. Dieser Vorstoß ist glücklicherweise kaum erfolgversprechend. In jedem Fall bedarf es für eine Streichung der politischen Bildung als Bildungsziel einer Zweidrittelmehrheit im Sächsischen Parlament. Denn nicht nur die Schule unterliegt dem Bildungsauftrag, auch die Erwachsenen- und Volksbildung. Der Rechtswissenschaftler Hans Hugo Klein (2004, S. 64), von 1983 bis 1996 Richter am Bundesverfassungsgericht, betont, dass sich auch die non-formale Bildung in vielen Landesverfassungen wiederfindet. Er verweist darauf, dass die Annahme berechtigt sei, dass „soweit politische Bildung Gegenstand der Erwachsenenbildung ist, die für die Schule genannten Erziehungsziele ebenfalls verbindlich sind“. (Ebd., S. 52) Darüber hinaus ist die außerschulische politische Bildung auch im Feld der Kinder- und Jugendhilfe und den entsprechenden Trägern durch die Bestimmungen im Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII) geschützt. Die Gefahr einer fehlenden Verankerung in den Landesverfassungen liegt nicht zwangsläufig darin, dass politische Bildung marginalisiert wird, allerdings besteht dazu die Möglichkeit. Politische Bildung als eine wichtige Aufgabe aller Bildungseinrichtungen darf aber nicht abhängig vom Wohlwollen der jeweils Regierenden sein. Nur eine feste Verankerung in der Landesverfassung schützt die politische Bildung vor der Abschaffung. Dies gilt insbesondere für Berlin, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Es ist zu vermuten, dass sich in den kommenden Jahren in diesen Bundesländern ein Diskurs über die Verankerung der politischen Bildung in der Landesverfassung entfalten könnte. Der Landesverband Niedersachsen der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) fordert aktuell in einem offenen Brief an die Niedersächsische Landesregierung und den Landtag die Aufnahme politischer Bildung in die Landesverfassung. Vorgeschlagen wird den Artikel 4 „Recht auf Bildung“ um folgende Sätze zu ergänzen. 1Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, selbständiges kritisches Denken, Urteilen und Handeln, die Achtung der Würde der Menschen in Anerkennung der Menschenrechte, der Demokratie und der Freiheit, dem Willen zu sozialer Gerechtigkeit, Friedfertigkeit im Zusammenleben aller Menschen und Verantwortung für die Umwelt zu fördern. 2Ihr Ziel ist die Stärkung des konsequenten Eintretens gegen jedwede Form von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit sowie die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger. 3Dieser Bildungsauftrag wird in allen öffentlichen Schulen durch ein ordentliches Unterrichtsfach sowie durch demokratische Schulentwicklung erfüllt und ist zugleich Grundlage für die außerschulische politische Bildung. (DVPB Niedersachsen 2020)
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4 Außerschulische politische Bildung – ein gefährdeter Freiraum? Die schulische, aber auch die non-formale politische Bildung wurde in den vergangenen Jahren immer wieder infrage gestellt. Hervorzuheben sind hierbei die Debatten über ein vermeintliches Neutralitätsgebot an Schulen, die Einflussnahme des Innenministeriums auf die Arbeit der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) und die Aberkennung der Gemeinnützigkeit von Vereinen und Initiativen der Zivilgesellschaft, die politische Bildung als eines ihrer Kernaufgaben begreifen. Diese Angriffe auf die politische Bildung werden im Folgenden, gemeinsam mit der Frage, wie politisch politische Bildung (siehe hierzu auch den Beitrag von Reinhold Hedtke in diesem Band) sein darf, erläutert. Neutralität ist kein Bildungsziel der politischen Bildung. Von politischen Bildner*innen eine politische Neutralität zu erwarten, wie es rechtspopulistische Strömungen in Deutschland derzeit propagieren (siehe u. a. Sibylle Reinhardt in diesem Band), widerspricht dem Grundverständnis von politischer Bildung in einer freiheitlichen Demokratie. Politische Bildner*innen müssen für gelingende Bildungsarbeit einen angstfreien Raum schaffen, sie müssen multiperspektivisch komplexe Themen erschließen und dürfen dabei nicht überwältigend agieren. Aber diese Grundprinzipien versagen es ihnen nicht, sich selbst zu positionieren. Im Gegenteil. Ein offener, angstfreier Lernraum lässt dies explizit zu. Außerdem ist von politischer Bildungsarbeit zu erwarten, dass die beteiligten Akteur*innen undemokratische, menschenverachtende Äußerungen nicht unwidersprochen lassen (Cremer 2019). Ausgangspunkt für die politische Bildung sind die Grund- und Menschenrechte. Diesen Rechten können und dürfen politische Bildner*innen nicht neutral gegenüberstehen. Politische Bildung ist in Deutschland durch erstarkende rechtspopulistische Strömungen, wie beispielsweise die in Kap. 3 zitierte Gesetzesinitiative der AfD oder die AfD-Meldeportale für Lehrkräfte (siehe hierzu u. a. DVPB/GPJE/DVPW 2018; Reinhardt 2019), gefährdet. Für die außerschulische politische Bildung geht aber auch Gefahr von einer zunehmenden staatlichen Einflussnahme auf ihre Inhalte aus. Zuletzt haben zwei Fallbeispiele für große Aufmerksamkeit gesorgt. In einem ersten Fall geht es um die gezielte Einflussnahme von Politiker*innen auf Bildungsmaterialien und Veranstaltungen. Eine wichtige Akteurin in diesem Feld ist die Bundeszentrale für politische Bildung (BpB). Diese Institution fördert Modellprojekte, Fachtagungen, Vernetzungstreffen, organisiert Kongresse, veröffentlicht fachwissenschaftlich relevante Schriften und Bildungsmaterialien. Dabei agiert die BpB weitgehend unabhängig. Letztlich handelt es sich bei der
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BpB aber um eine nachgeordnete Behörde im Geschäftsbereich des Bundesinnenministeriums. Kontrolliert wird sie von einem Kuratorium aus 22 Mitgliedern des Deutschen Bundestages. In den letzten Jahrzehnten gelang es der Bundeszentrale weitgehend, die Rolle der politischen Bildung in Deutschland überparteilich und unabhängig zu stärken. Doch in den vergangenen fünf Jahren kam es zu schwerwiegenden Eingriffen in die alltägliche Arbeit der BpB durch das Bundesinnenministerium. Im Jahr 2015 forderte der damalige Innenminister Thomas de Maizière (CDU) die BpB auf, das von ihr herausgegebene Buch „Ökonomie und Gesellschaft“ mit Materialien für die schulische und außerschulische politische Bildung nicht weiter zu vertreiben. Das Material wirft einen multiperspektivischen Blick auf ökonomische Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland und nimmt dabei explizit auch die Perspektiven von Ausbeutung durch marktwirtschaftlich begründete Abhängigkeitsverhältnisse in den Blick. Dies führte offenbar zu Unmut bei dem Lobbyverband der Arbeitgeber*innen, denn der Entscheidung zum Vertriebsverbot des Materials war ein Schreiben von Peter Clever (2015), Geschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), an den Innenminister vorausgegangen. Die Tatsache, dass der Bundesinnenminister unmittelbar Einfluss auf die Veröffentlichungen der BpB nimmt und dabei Interessenvertretungen der Wirtschaft diese Entscheidungen prägen, sorgte für große Entrüstung. Viele Medien griffen diese direkte Einflussnahme durch das Ministerium auf. Wenige Monate später nahm de Maizière seine Entscheidung zurück, und das Material durfte unverändert weiter vertrieben werden. Nur vier Jahre später kam es im Jahr 2019 erneut zu einem Vorfall der direkten Einflussnahme durch den Bundesinnenminister auf die Arbeit der BpB. Diesmal verbot der amtierende Innenminister Horst Seehofer (CSU) die Teilnahme des kritischen Aktionskünstlers Philipp Ruch vom „Zentrum für Politische Schönheit“ am Bundeskongress Politische Bildung 2019. Dieser wird von der Bundeszentrale für politische Bildung (BpB), der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) und dem Bundesausschuss politische Bildung (bap) veranstaltet. Philipp Ruch und das Zentrum für Politische Schönheit sind für ihre durchaus polarisierenden Kunstaktionen bekannt. Im Jahr 2016 organisierte das Kollektiv beispielsweise die Aktion „Flüchtlinge fressen“. Sie bauten eine Arena mit Tigern in Berlin auf und kündigten an, dass sie hier Geflüchtete den Tigern zum Fraß vorwerfen würden, um den politischen Entscheidungsträger*innen und der Bevölkerung vor Auge zu führen, was passiert, wenn sichere Fluchtrouten nach Europa versperrt werden. Der Anlass für diese Aktion war u. a. der Deal zwischen der Europäischen Union und der Türkei zum Verbleib der Kriegsflüchtlinge in
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der Region. Die Ausladung des Künstlers Philipp Ruch begründete das Bundesinnenministerium damit, dass es keinen Einfluss auf ein laufendes Verfahren nehmen wollte. Erst Wochen später stellte sich heraus, dass gegen das Künstlerkollektiv seit Monaten im Geheimen ermittelt wurde. Veranlasst wurden die Ermittlungen durch den Staatsanwalt Martin Zschächner, der in der Vergangenheit mit fragwürdigen juristischen Entscheidungen und seiner Nähe zur rechtspopulistischen AfD aufgefallen ist. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung habe er wiederholt Verfahren wegen Volksverhetzung einstellen lassen und der AfD Geld gespendet (Prantl 2019). Das Verfahren gegen Philipp Ruch wurde eingestellt, doch es bleibt eine abstrakte Stigmatisierung. Ganz konkret aber wurde dem Künstler die Möglichkeit genommen, sich einem kritischen Diskurs seiner Kunst auf dem Bundeskongress Politische Bildung zu stellen (Kenner 2020, S. 127). Als ein letztes Beispiel für die aktuellen Bedrohungen sei der Entzug der Gemeinnützigkeit vom globalisierungskritischen Netzwerk ATTAC durch ein Urteil des Bundesfinanzhofes genannt. Das Bündnis ist in Deutschland sehr aktiv und beschreibt als eines seiner Vereinsziele die Bildungsarbeit. Tatsächlich organisiert ATTAC Bildungsakademien, erstellt Bildungsmaterialien und leistet über Referent*innen Beiträge bei externen Bildungsveranstaltungen. Dennoch wurde dem Verein die Gemeinnützigkeit aberkannt. In der Begründung heißt es unter anderem: Politische Bildungsarbeit von gemeinnützigen Vereinen muss in „geistiger Offenheit“ (Bundesfinanzhof 2019, V R 60/17) geschehen. Diese wird ATTAC abgesprochen, da sie sich u. a. für eine Finanzmarkttransaktionssteuer einsetzt. Das Bündnis darf nunmehr keine Spendenquittungen ausstellen. Das unabhängige Finanzierungskonzept, basierend auf Spenden, ist damit gefährdet. Politische Willensbildung solle vor allem von den Parteien ausgehen, heißt es im Urteil des Bundesfinanzhofs weiter. Mit dieser Urteilsbegründung sind viele Träger und Initiativen der außerschulischen politischen Bildung, wie beispielsweise gewerkschaftsnahe Vereine, massiv gefährdet. Eine ausführliche Beschreibung des Einzelfalls und die davon abzuleitenden Gefahren für die Trägerlandschaft sind der Stellungnahme „Das gefährliche Bildungsverständnis des Bundesfinanzhofes – zur Bedeutung des ATTAC-Gemeinnützigkeitsurteils für die politische Bildungsarbeit“ des Forums für kritische politische Bildung (FkpB) zu entnehmen. Die Entscheidung hat schon wenige Monate später schwerwiegende Folgen für die ersten Vereine. So haben Finanzämter u. a. Campact und dem soziokulturellen Zentrum DemoZ in Ludwigsburg die Gemeinnützigkeit aberkannt. Sie berufen sich dabei auch auf das ATTAC-Urteil.
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5 Braucht es ein klares verfassungsrechtliches Bekenntnis für die politische Bildungsarbeit? Politische Bildung ist ein weitgehend anerkanntes Bildungsziel und dennoch nur bedingt ausreichend von Angriffen und der Abschaffung geschützt. Ein Blick in die Landesverfassungen offenbart, dass das Unterrichtsfach Politische Bildung nur in zwei Bundesländern und das Bildungsziel in weniger als Zweidritteln der Landesverfassungen verankert ist. Dabei beziehen sich die Formulierungen in diesen Ländern zumeist auf die schulische Bildung und lassen damit zumindest Interpretationsspielraum in Bezug auf eine verfassungsrechtliche Verankerung der außerschulischen politischen Bildung. In den letzten Jahren wurden immer wieder große Programme zur Förderung der politischen Bildung aufgelegt (u. a. „Demokratie leben“). Wenn schulische und außerschulische politische Bildung allerdings nachhaltig und langfristig wirken soll, muss sie konsequent gefördert und vor Angriffen geschützt werden. Auch vor dem Hintergrund einer inzwischen zunehmenden politischen Kraft, die die politische Bildung zur Disposition stellt, ist eine Verankerung in allen Landesverfassungen dringend geboten.
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Landesverfassung von Schleswig-Holstein vom 02.12.2014 in der Fassung mit der letzten Änderung vom 19. Dezember 2016. Zugriff über: https://kurzlink.de/LV-SH. Zugegriffen: 08. Oktober 2019. Landesverfassung des Freistaates Thüringen vom 25. Oktober 1993 in der Fassung mit der letzten Änderung vom 11. Oktober 2004. Zugriff über: https://kurzlink.de/LVThueringen. Zugegriffen: 08. Oktober 2019.
Das Geschehen in der Schule ist nicht politisch neutral. Welche Parteilichkeit und Parteinahme ziemt der politischen Bildung? Sibylle Reinhardt Zusammenfassung
Meldeportale von AfD-Fraktionen in Landtagen behaupten ein Neutralitätsgebot für die Schule. Dem wird hier der Beutelsbacher Konsens als Richtschnur für das Handeln im Unterricht entgegen gesetzt. „Parteilichkeit“ und „Parteinahme“ werden als historische Kontroverse dargestellt und für die Gegenwart kontextualisiert und konkretisiert. Demokratie im Schulleben wird durch das Konzept der Anerkennung (Honneth) theoretisiert und an Beispielen differenziert konkretisiert. Leben und Lernen brauchen sich wechselseitig! Dabei ist die Achtung des Subjekts eine Leitlinie: Überwältigen kann auch die Gruppe und nicht nur eine Lehrkraft oder eine Situation. Die Demonstration aus der Schule heraus ist eine politische Aktion, die strukturell keine Lernsituation abgibt. Sie bedarf der Reflexion im Unterricht, was auch für „Fridays for Future“ gilt.
S. Reinhardt (*) Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Halle, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_4
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1 Eine politische Partei fordert politische Neutralität der Schule Im Herbst 2018 hat die Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) im Stadtstaat Hamburg gefordert, Schule und Lehrende und Lernende sollten im Unterricht das „Neutralitätsgebot“ befolgen und – so dürfte die Wirkung auf viele Lehrende sein – zum Beispiel die AfD als Partei nicht kritisch thematisieren (lassen). Bei Verstößen von Lehrenden gegen „das staatliche Neutralitätsgebot“ stünde – wenn Gespräche nicht Abhilfe schaffen – das elektronische Meldeportal an die AfD-Fraktion zur Verfügung. Sie werde die anonyme Meldung eventuell an die Aufsichtsbehörde weiterleiten. Der Hintergrund für die Aktion seien immer wieder auftauchende Berichte von „plumpem AfD-Bashing über fehlerhaftes und unsachliches Unterrichtsmaterial“ und Aufrufen zu „Demonstrationen gegen die AfD“. Indoktrination schade am meisten den Lernenden und dem Schul- und Unterrichtsklima, das dann nicht mehr zum offenen Aussprechen von Meinungen einlade. „Von der Aktion ‚Neutrale Schulen Hamburg‘ geht daher die zentrale Botschaft aus: Kein Schüler in Hamburg soll Angst haben, im Unterricht seine Meinung zu sagen!“1 Das Handeln der AfD-Fraktion in Hamburg (in anderen Ländern sind ebenfalls Portale geschaltet worden, z. B. in Sachsen-Anhalt) ist in der Schilderung von Sorgen verständlich, aber nicht in seiner Konsequenz der anonymen Kurz-Petze. Das kann als Denunziation begriffen werden, Angst machen und Lehrende von jeglichem politischen Unterricht abschrecken. Zwei zentrale Fehler finden sich in der Argumentation der AfD-Fraktionen: das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot wird falsch angewandt und die Eigenart unterrichtlicher Interaktionen wird völlig verkannt (ausführlicher Reinhardt 2019a). Anfang des Jahres 2018 hat das Bundesverfassungsgericht in einem Urteil die Organklage der AfD gegen die damalige Bundesministerin für Bildung und Forschung beschieden: „Verletzung des Rechts einer Partei auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb durch Pressemitteilung einer Bundesministerin“ (Bundesverfassungsgericht 2018a). Wenige Jahre zuvor hatte das Ministerium in einer öffentlichen Äußerung von der Teilnahme an einer Demonstration der AfD in Berlin abgeraten. In dem Urteil des Gerichts werden die „Offenheit des Prozesses der politischen Meinungsbildung“ und die gleichberechtigte
1In diesem Absatz verwendete Zitate entstammen der Internetpräsenz der AfD Fraktion des Hamburger Senats. Zugriff über: https://afd-fraktion-hamburg.de/aktion-neutrale-schulenhamburg/. Zugegriffen: 03. Mai 2019.
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Teilnahme der politischen Parteien am politischen Wettbewerb betont (Bundesverfassungsgericht 2018b, Rn. 42). Denn die Wähler und Wählerinnen sollen ihr eigenständiges Urteil fällen können. Dabei müssen sie auf die Neutralität der Spielregeln und der Rahmenbedingungen rechnen können (vgl. Bundesverfassungsgericht 2018b, Rn. 44). Politische Bildung hat zur Aufgabe, die Mündigkeit der (künftigen) Bürger und Bürgerinnen zu fördern, dass sie ihre eigene Stimme entwickeln und ausdrücken werden. Demokratie-Lernen bedarf der Auseinandersetzung über Möglichkeiten, denn die Wahl ist die Sache der einzelnen Wählenden und Politische Bildung hat ihr Subjekt-Interesse zu wahren. Im Unterricht muss also die Kontroverse über unterschiedliche Positionen ausgetragen werden, ohne dass indoktriniert wird. Dies ist seit Jahrzehnten als „Beutelsbacher Konsens“ (1976) ein Anker der PolitikDidaktik (vgl. Widmaier und Zorn 2016; Reinhardt 2018, Abschn. 2.6 und 2.7). Der Beutelsbacher Konsens mit seinen drei Punkten des Verbots der Überwältigung, des Gebots der Kontroverse und der Orientierung am Interesse der Schülerin bzw. des Schülers als Subjekt operationalisiert für die unterrichtlichen Interaktionen das Neutralitätsgebot, das für die Institution Schule als staatlichem Rahmen für Bildungsprozesse gilt (zum Neutralitätsprinzip vgl. Eckertz 2019). Und natürlich formulieren Landesgesetze Bildungsziele und Werte – statt neutral abseits zu stehen. Und natürlich sind Lehrende auch Bürger und Bürgerinnen dieses demokratischen Staates – würden sie schweigen, würden sie lügen. Auch hätten sie keine politische Identität entwickelt, sie könnten dieses Ziel politischer Bildung nicht als Exempel leben und würden auf ihr Grundrecht der Freiheit der Meinungsäußerung verzichten. Bei all dem stellen sie sich durchaus infrage und geben nicht etwa autoritativ die Richtung vor. Sie missionieren nicht, sondern sie mäßigen sich im Interesse der freiheitlichen Bildung ihrer Lernenden. Unterricht ist wesentlich ein personales Verhältnis von Lehrenden und Lernenden und der Lernenden untereinander. Interaktionen im Unterricht sind komplex und die Verständnisse von Szenen im Unterricht sind vielfältig. Von all dem ahnt die AfD offensichtlich nichts. Deshalb macht sie Lehrende zu Neutra und verfolgt sie per Portal.
2 Die historische Kontroverse um Parteilichkeit und Parteinahme In den Jahren vor der Tagung in Beutelsbach 1976, dessen Ergebnis der oben skizzierte Beutelsbacher Konsens war, ist die Gefahr der Indoktrination im Unterricht in der Didaktik der politischen Bildung lebhaft diskutiert worden
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(z. B. Reinhardt 1976/2014). Eine Kontroverse zwischen Giesecke und Sutor spitzte zu: Während Giesecke Politische Bildung in den historischen Kontext von Emanzipation stellte und daraus ihre politische Parteilichkeit für die jeweils Unterprivilegierten folgerte (Giesecke 1972, S. 126 ff.), sah Sutor in den Konkretisierungen von Giesecke Absurdität oder die Anmaßung der rechten Lehre. Denken in Alternativen sei geboten bis zum eindeutigen Grenzfall der Verletzung von Menschenrechten und Prinzipien der Demokratie, wenn Politische Bildung parteilich sein müsse (Sutor 1974, S. 18 ff.; vgl. auch Sutor 1973, S. 333 ff.). Für beide war Indoktrination illegitim, Parteilichkeit aber war umstritten. Hilligen versuchte 1975 zu vermitteln, konnte aber mit seinen drei Optionen vielleicht Konsens auf abstrakter Ebene formulieren, nicht aber für die Ebene politischer Entscheidungen konkreter Streit- und Problemfragen (Hilligen 1975, S. 52 und 175; vgl. auch 1985, S. 70 und 163 ff.).2 Ein Zwischenfazit kann lauten: Parteilichkeit ist grundsätzlich für die Prinzipien der freiheitlich-demokratischen Grundordnung geboten, aber konkrete Streitfragen verlangen jeweils konkrete Parteinahmen – und die sind kontrovers. Das demokratische System garantiert die Offenheit der Parteinahme durch die Subjekte. Ihre Freiheit wird durch die rechtsstaatliche Demokratie geschützt – so wie sie die Demokratie vor ihren Feinden schützen müssen (wehrhafte Demokratie). „Parteilichkeit“ blieb aber schillernd in seiner Bedeutung. Während Hilligen (nach Gagel 2000, S. 285) mit Parteilichkeit die absolute Setzung von Urteilen verband und Parteinahme offen für Kritik blieb, bezeichnete Giesecke (1999) mit Parteilichkeit auch dauerhafte Einstellungen und mit Parteinahme die situationsbezogene Entscheidung von Fall zu Fall. Das zweite Zwischenfazit kann lauten: Wir können auch zwischen relativ dauerhaften Grundorientierungen von Individuen, also festeren Einstellungen oder Werthaltungen, als Parteilichkeit(en) und dem jeweils konkreten Parteinehmen in einer konkreten Kontroverse unterscheiden. Gagel hat ein weiteres Verständnis von Parteilichkeit erwähnt, nämlich die pädagogische Zuwendung der Lehrkraft zu seinen Lernenden mit dem Ziel symmetrischer Kommunikation „im Eintreten für die Belange der Schüler“. Dem kontrastiert er ein anderes Rollenverständnis von Lehrkräften, nämlich die „Neutralität gegenüber politischen Kontroversen“ (1983, S. 152 f., 2000, S. 282 f.). Erwähnt sei ein weiteres Konzept von Parteilichkeit, das hier aber nicht
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der Nachzeichnung der Kontroverse bei Gagel (1983) und Reinhardt (1988), speziell zu Giesecke vgl. Pohl (2014).
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ausgefaltet wird, nämlich der gesellschaftspolitische Klassen-Standpunkt in einer marxistischen und leninistischen Tradition (vgl. Grammes et al. 2006, S. 284 f.). In allen diesen Diskussionen war die Perspektive auf das Handeln der Lehrenden einerseits negativ: sie sollen und dürfen nicht indoktrinieren bzw. überwältigen. Diese Perspektive musste aber positiv gewendet werden: was denn dann? Die Antwort war der zweite Grundsatz des Beutelsbacher Konsenses, nämlich die Kontroverse. Aber auch dieser Grundsatz muss weiter konkretisiert werden: Kontrovers-Unterricht ja, aber wie denn? Gagel (2000, S. 286 f.) hat Fragen der Glaubwürdigkeit der Lehrenden, der Toleranz und der Interventionen aufgenommen (im Anschluss an Reinhardt 1988). Diese Perspektive auf das professionelle Handeln von Lehrkräften kompliziert die Verwendung der Begriffe noch einmal, denn Lehrende sind nicht einfach nur Staatsbürger-Subjekte mit aller persönlicher Freiheit, sondern sie sind tätig in ihrer Funktion in einer Institution mit einem Bildungsauftrag der Allgemeinheit.
3 Bin ich oder handele ich neutral – parteilich – parteinehmend – kontrovers? Allmählich kam in den Diskussionen immer deutlicher die Unterscheidung von Ebenen zum Tragen: Die Ebene des verfassungsmäßigen staatlichen Systems ist eine andere als die der staatlichen Institution, hier der Schule, und diese ist zu unterscheiden von den Interaktionen im Unterricht mit dem Ziel politischer Bildung, die den Lernenden als Individuen auf ihrem Weg zu subjektiver Mündigkeit helfen will. Als Testfrage spiele ich jetzt für mich als Person die oben aufgeworfenen Begriffe durch und frage mich, ob bzw. wo und wann ich neutral oder parteilich oder Partei nehmend oder kontrovers diskutierend bzw. intervenierend sein könnte. Ich bin als Staatsbürgerin nicht neutral, denn ich stehe für das System der rechtsstaatlichen Demokratie ein, bin also parteilich in grundsätzlichen Fragen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und nehme in konkreten Streitfragen häufig Partei. Auch bin ich in dem Sinne parteilich, dass ich eine Grundorientierung seit Jahrzehnten als SPD-Mitglied dauerhaft verfolge, was mich aber nicht in allen Einzelfällen an die Positionen meiner Partei bindet – da sehe und diskutiere ich oft Kontroversen. Und als Lehrerin ging es mir nicht nur um meine Selbstverwirklichung, sondern um die Entfaltung der Kompetenzen „meiner“ Lernenden. An dieser Stelle kompliziert sich alles. Denn nun geht es nicht mehr um lediglich eine Person, sondern um institutionell gerahmte Bildungsprozesse für viele.
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Dafür brauchen wir den Beutelsbacher Konsens, denn er operationalisiert das staatliche Neutralitätsgebot, das durch Urteile des Bundesverfassungsgerichtes besonders zur Religionsfreiheit wiederholt formuliert worden ist (Bundesverfassungsgericht 2015; vgl. Eckertz 2019). Das staatliche Neutralitätsgebot garantiert (vgl. oben, Punkt 1) die Chancengleichheit politischer Parteien im politischen Wettbewerb um die Stimmen der Bürger und Bürgerinnen. Politische Bildung hat zur Aufgabe, in die Auseinandersetzungen der Parteien zu verwickeln und so wahlfähig zu machen. Die Kontroversen müssen ausgetragen werden, ohne dass die Einzelnen überwältigt werden, damit sie ihre eigene Position finden können – so der Beutelsbacher Konsens. Dieser Konsens muss wiederum konkretisiert werden, wie Kontroverses auf geregelte und nicht subjektiv verletzende Weise in die Interaktionen gelangt. Alle fachdidaktischen Prinzipien der politischen Bildung und die ihnen zugehörigen Unterrichtsmethoden (Reinhardt 2018, Teil II) verbürgen Kontroversität – bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Zugriffe auf Politik und der Zugänge der Lernenden zum Gegenstand Politik – und schützen damit vor Indoktrination und Überwältigung (durch Lehrende, durch das Lehrmaterial, durch die Lerngruppen, durch eine übermächtige öffentliche Meinung usw.). Sie dienen der Selbstbildung der Lernenden und sie repräsentieren die Dialektik von Konflikt und Konsens im demokratischen System. Ich als Lehrerin inszenierte professionell – so gut ich es konnte – diese Lernwege, reflektierte sie theoretisch und diskutierte mögliche Fallstricke mit meinen Schülern und Schülerinnen, mit Eltern und Kollegen und Kolleginnen. Wir können also sagen, dass wir Kontroversen im Unterricht verwirklichen und damit nicht neutral, aber in der Rahmung neutral gegenüber unterschiedlichen Positionen verfahren. Wir können auch sagen, dass unsere Lernenden Kontroversen und ihre eigene Positionierung üben (für die Entdeckung und Prüfung ihrer dauerhaften Orientierungen und Loyalitäten ist dabei der politische Kompass nützlich3). Sie können in den Lernwegen der Konfliktanalyse und
3Die didaktische Konzeption eines politischen Kompass, die Andreas Petrik entwickelt und in der Methode der Dorfgründung eingesetzt hat, hilft bei der Suche nach dauerhaften Orientierungen und Loyalitäten (Parteilichkeit), damit Lernende sich selbst erkennen und – auch durch das Ertragen und Austragen von Kontroversen – entwickeln können. Die Längsachse benennt die Entscheidungs-Konfliktlinie zwischen den Werten Selbstbestimmung und Autorität, die Querachse benennt die Verteilungs-Konfliktlinie zwischen den Werten Wirtschaftsfreiheit und soziale Gleichheit. Mit diesem Kompass können aktuelle Streitfragen verortet werden, Subjekte können sich selbst und Klassen können ihre streitigen Diskussionen klären und befragen, Ideen-Gebäude können idealtypisch als Liberalismus, Konservatismus, Sozialismus und Anarchismus identifiziert werden (Petrik 2013, S. 156–217).
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Problemstudie oder Fallstudie und den anderen Methoden ihre Positionen finden, ihre Emotionen einbringen und beides in Reflexionen integrieren. Sie können also politische Menschen werden. Wir können auch sagen, dass sie im Falle des Gelingens demokratischen Unterricht erfahren – sei es für glückliche Momente oder auch für kürzere oder längere Dauer. Die fachdidaktischen Prinzipien und Methoden helfen also bei der Inszenierung des Unterrichts für die Demokratie, denn kein autoritäres System würde auch nur eines von ihnen propagieren: Konflikt-, Problem-, Handlungs-, Zukunftsorientierung, das genetische sowie das Fallprinzip wie auch die politisch-moralische Urteilsbildung und die Wissenschaftspropädeutik verfahren gegen Indoktrination und für Kontroversität im Interesse der Subjekte.
4 Das Schulleben als Ort d emokratisch-politischen Handelns4 Die Wege der Partizipation der Lernenden in Schule und Unterricht sollen Erfahrungen ermöglichen, die – strukturell gesprochen – den Handlungsmöglichkeiten im demokratischen System entsprechen. Für den Unterricht geben, wie gesagt, die fachdidaktischen Prinzipien mit ihren Unterrichtsmethoden professionelle Anregungen. Für das Schulleben insgesamt ermöglicht das Konzept der Anerkennung von Axel Honneth (1994) die theoretische Verortung verschiedener Ebenen und dann von Einzelerscheinungen (vgl. May 2018). Drei Muster der Anerkennung sind für Menschen und ihr Zusammenleben zu unterscheiden: Liebe und Freundschaft bedeuten Zuwendung und Sympathie in den Beziehungen weniger Menschen. Sie sind notwendig partikular, also auf zwei oder wenige Menschen begrenzt, sie sind exklusiv und schließen andere aus. Die fast unverbrüchliche Loyalität sichert dem Individuum einen vertrauensvollen Platz im konkreten Gefüge der kleinen Gruppe mit jener Qualität der Bindung, die – so Honneth (1994) – der Person „Selbstvertrauen“ gibt. Solidarität ist das zweite Muster der Anerkennung, das aus dem wechselseitigen Beitrag zum gemeinsamen Leben und Arbeiten resultiert. Symmetrische wechselseitige
4Die konzeptionellen Zusammenhänge für die folgenden Überlegungen werden ausführlicher in Reinhardt (2018) dargelegt: Kap. 2: Mündige Bürger – Ziele der politischen Bildung. Kap. 3: Jugend und Politik. Kap. 4: Demokratie-Lernen. Kap. 7: Handlungsorientierung.
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Wertschätzung im geteilten Kontext des Lebens gibt dem Einzelnen die auch gefühlsmäßige Gewissheit, als wertvoll anerkannte Leistungen erbringen zu können. „Selbstschätzung“ des Individuums wird ermöglicht. Das dritte Muster – und hier wechselt auch die Sprache deutlich in eine abstrakte Sphäre – ist Recht. Das moderne Recht überschreitet die kooperativen Rechte und Pflichten konkreter Gemeinwesen und verallgemeinert sie zur höchst anspruchsvollen Reziprozität der Staatsbürger und Staatsbürgerinnen. Diese Subjekte, die sich wechselseitig gleich achten, kennen sich gar nicht! An die Stelle partikularer oder kooperativer Beziehungen ist die universale Zuschreibung gleicher Wertigkeit getreten. Sie schlägt sich im gleichen Wahlrecht aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen nieder und in ihrer Gleichheit vor dem Gesetz. Diese Anerkennung im und durch Recht verschafft dem Individuum „Selbstachtung“. In der Schule finden wir alle drei Formen der Anerkennung. Freundschaft und Sympathie können in der Gleichaltrigengruppe erfahren werden, auch die Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden kann von Respekt und Freundlichkeit getragen sein (auch wenn sie nicht partikular erscheinen darf). Soziale Wertschätzung kann in der Klasse und in der Schule erfahren werden, wenn Lernende sich für das Gemeinwesen engagieren können. Dann aber muss ein qualitativer Sprung folgen: Die kognitive Verstehensleistung der Achtung aller anderen demokratischen Subjekte und die dadurch mögliche Selbstachtung liegt nicht mehr „nahe“. Ganz im Gegenteil: die gleiche Achtung für Fremde und Ferne bedarf der abstrakten kognitiven Operation und der universalistischen moralischen Wertung. Beides erfolgt nicht automatisch im Alltag und im zivilen Leben. Bei manchen Jugendlichen und in Ansätzen auch bei Kindern mag das so sein, aber nicht immer und nicht für alle Bereiche des Lebens. Hierfür ist die größere Chance der Förderung durch den Unterricht gegeben: Verstehen, Denken und Urteilen werden bei allen Methoden der fachdidaktischen Prinzipien so angeregt und entfaltet, dass kognitive Abstraktionen und moralische Universalisierungen in den Horizont des Möglichen gelangen. Das Zwischenfazit lautet: Leben und Lernen in und für die Demokratie brauchen sich wechselseitig. Dieses Fazit ist für beide Richtungen zu durchdenken. Das Lernen in der Schule braucht – nicht ständig, aber falls möglich – den Gang ins Leben, und zwar in die Politik. Demokratische Politik ist die verfassungsgemäße Herstellung gemeinsamer Beschlüsse für die Regelung der gemeinsamen Angelegenheiten. Partikulare und kooperative Unternehmungen – also soziales Handeln – verbürgen nicht politisches Lernen. Denn die konkreten Gemeinschaften können auch Kameradschaften mit dem Ziel der Abwehr aller Fremder sein. Partikulare Beziehungen können einen Führer oder eine Führerin
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und ihre Gefolgsleute bedeuten. Deshalb brauchen die konkreten Bezüge die reflexive Aufarbeitung, bei der demokratische Maßstäbe angelegt werden können. Wenn Lernende aus der Schule heraus gehen in Betriebe, in Vereine oder gemeinnützige Institutionen wie die AWO – egal, ob für Praktika oder für zivilgesellschaftliches Engagement oder für Anschauung – dann ist die Aufarbeitung im Unterricht notwendig. Denn wenn beispielsweise die soziale Hilfe für alte Menschen in einem Altersheim deren Kommentare zu Pflegestufen (also letztlich zum Sozialstaat) hervorruft, dann erklären sich die sachlichen Zusammenhänge und die moralischen Bezüge nicht von selbst. Nur mit einem Transfer dieser sozialen Lernerfahrungen in politische (Entscheidungs-)Prozesse ermöglicht soziales Engagement auch politische Lernerfahrungen (Reinhardt 2009). Wenn Lernende – so ist die andere Richtung – sich im Unterricht beispielsweise mit Gesetzgebung beschäftigen, dann kann dies in schneller Form als zu lernende Institutionenkunde erfolgen, aber auch in nachdrücklicher Form der Interaktionen mit der Methode der „Bürgeraktion“. Hierbei sucht die Lerngruppe selbst ihren Gesetzes-Wunsch, entwirft den Gang ihrer Recherchen, führt diese durch und schließt eventuell eine politische Aktion durch Kontakte zu Abgeordneten, durch Leserbriefe und durch Briefe an politische Parteien und anderes mehr an. Hierbei taucht die zentrale Frage wieder auf: Wie kann der Subjekt-Status der einzelnen Lernenden gegen Überwältigung gewahrt werden? Politische Aktionen sind insofern schlechte Lernsituationen, als die gemeinsame Aktion die Einigkeit für das politische Ziel braucht und das verlässliche Einstehen für und das zuverlässige Verfolgen von Verabredungen, die nicht dauernd in die zweifelnde Reflexion geraten dürfen. Die gemeinsame Aktion bringt die Gratifikationen der emotionalen Nähe, der Solidarität und der Sichtbarkeit der entschiedenen Überzeugung. Häufig kann eine klare „Wir versus Die“–Beziehung formuliert werden, was die Gruppe noch einmal intern festigt. Eine legitime politische Aktion in der Schule oder aus ihr heraus setzt voraus, dass der Gegenstand vor der Aktion streitig hätte diskutiert werden können oder kontrovers bearbeitet worden ist. Und die Probleme sozialer Überwältigung durch Lehrende, durch Lernende oder durch eine vorherrschende öffentliche Meinung müssen diskutiert werden. Mitglied einer Lerngruppe zu sein und sein zu wollen darf keine Verpflichtung für eine politische Aktion ergeben. Die gruppendynamischen Prozesse sind schwierig und vielleicht mächtiger als die Autorität einer Lehrerin oder eines Lehrers. Relativ einfach ist die Situation, wenn wir von einem gemeinsamen Interesse einer Schulklasse ausgehen können, für das sie anschließend politisch tätig werden. So war die politische Aktion einer Bremer Schulklasse „Ibrahim muss bleiben!“ (Stein 2007, S. 171 ff.) ein glaubwürdiges Eintreten der gesamten
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Klasse für ihren Mitschüler. Der Vorstoß meiner fünften Klasse für die Änderung der Buszeiten zielte auf ihr klares Interesse. Die Aktion meiner 10. Klasse für Gesetzesverschärfungen gegen Rechtsradikalismus war teils die Aktion der ganzen Klasse, teils die Aktion der Mehrheit. In diesem Fall hatte die Klasse sorgfältig überlegt, wer welchen Standpunkt vertrat. Die Demonstration von Schülerinnen und Schülern unseres Gymnasiums gegen den Golf-Krieg 1990/1992 war von der Schülervertretung (SV) mit veranstaltet worden und wurde von vielen Jugendlichen, nicht allen, mit getragen (Autorengruppe Fachdidaktik 2016, S. 30 f.). Die Position der Lehrkraft ist komplizierter zu bestimmen. Vielleicht ist sie Gleiche unter Gleichen, vielleicht hilft sie bei der Organisation, vielleicht ist sie bremsende Kraft, vielleicht stößt sie Reflexionen an. Die Demonstration gegen den Golf-Krieg habe ich gegen meine eigene Überzeugung begleitet, weil sehr junge Schüler und Schülerinnen teilnahmen und ich beruhigen wollte. Die Briefe meiner 10. Klasse für die Gesetzesverschärfungen habe ich nicht mit unterzeichnet – aber nur deshalb, weil niemand mich aufgefordert hatte: die Aktion war die Aktion der Klasse. Abstrakte Beurteilungen konkreter Vorgänge sind nicht möglich. Die Kriterien des Beutelsbacher Konsenses sind auch bei der Betrachtung politischer Aktionen im schulischen Zusammenhang hilfreich: Verbot der Überwältigung, Gebot der Kontroverse, Achtung des Subjekt-Status der einzelnen Lernenden.
5 … und was ist „Friday for Future“? Ich erlebte am Freitag, dem 25. Januar 2019, in Berlin diese Begegnung: Meine Straßenbahn zum Hauptbahnhof wurde gestoppt, ich musste gehen. Dabei begegnete ich vielen jungen Menschen, die allein oder in Gruppen aus der Richtung des Bahnhofs kamen und zu einer Demonstration liefen. Sie skandierten „Friday for Future“ und forderten wirklichen Klimaschutz und tatsächlichen Ausstieg aus der Kohle. Manche ihrer Plakate waren ganz unbeholfen gemalt (zu kleine Schrift, zu helle Farben), hier waren junge Menschen im politischen Aufbruch, die vorher wohl noch nie demonstriert hatten – großartig! Sie nannten ihre Aktion „Streik“ – denn sie versäumten am Freitagmittag die Schule. Schulstreik als Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, war in Schweden durch die Schülerin Greta Thunberg seit August 2018 eingesetzt worden und hatte sich in vielen Ländern bei diesen Jugend-Protesten verbreitet. Der Erfolg ist riesig, die Aktionen beeindrucken viele Menschen und auch politische Parteien.
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Merkwürdig ist nun, dass diese jungen Leute sich selbst und ihre Mitmenschen bestreiken. Denn Bildung, zumal die fast ausschließlich öffentlich finanzierte Bildung wie in Deutschland, ist ein Allgemeingut. Es wird finanziert durch Steuergelder und kommt allen Generationen und allen sozialen Schichten (hier als Beispiele für Ungleichheiten genannt) zugute. Weder der wirtschaftliche Erfolg dieses Landes noch seine Bemühungen um Demokratie und seine Versuche um gesellschaftliche Zivilisierung sind ohne Bildung denkbar. Die Steuergelder wiederum kommen auch von den ärmeren und jüngeren Teilen der Bevölkerung, denn Mehrwertsteuer zahlen alle. Aber das ist auch gar kein Streik, sondern es ist ein Akt zivilen Ungehorsams (Reinhardt 2019b). Fraglich ist auch, ob diese Demonstrationen „politisch“ genannt werden können. Denn das typische Merkmal demokratischer Politik in pluralen Gesellschaften ist ihre Konflikthaftigkeit auf dem Weg zu politischen Entscheidungen: Interessen, Werte und Einschätzungen kollidieren häufig. Fast immer bringen Demonstrationen nur bestimmte Werte und Interessen zum Ausdruck, aber der wunderbare Slogan „Zukunft“ behauptet hier eine Klarheit, die mitnichten gegeben ist (vgl. Bischoff 2019). Der universalen Moral muss die konkrete Politik folgen. Die jungen Menschen setzen sicherlich voraus, dass ihre Eltern auch künftig bezahlte Arbeitsplätze finden und dass ihre Wohnungen auch künftig beheizt sein werden. Der Idealismus der Demonstrationen braucht die Ergänzung des politischen Realismus, Gesinnung braucht Verantwortung. Dann kann die Brücke aus der moralischen Demonstration zur Politik für das Allgemeinwohl gesucht werden. Das Thema „Klimaschutz“ und „Nachhaltige Wirtschaft“ oder „Kohleausstieg“ muss zum Thema politischer Bildung werden, weil Bildung Reflexionen und also Abwägen und Streiten ermöglicht. Der Weg zur Aufmerksamkeit über den „Streik“ gegen Schule schadet dem Anliegen und provoziert Konflikte um ein ganz anderes Thema, nämlich die Reaktion staatlicher Institutionen auf das „Schwänzen“ (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung 01.03.2019, S. 1, S. 8; Mitteldeutsche Zeitung 19./20. Januar 2019, S. 12 – nur als Beispiele). Das Thema verschiebt sich zum banalen Eigennutz und diese Verschiebung vermindert die Relevanz des Eintretens junger Menschen für den Klimaschutz. Aber die aufklärende Dialektik von Konflikten zeigt sich auch hier, weil Äußerungen aus der Fraktion der Alternative für Deutschland (AfD) in Sachsen-Anhalt einmal mehr ihre Aggressivität im Umgang mit politischen Gegnern belegen. Laut Mitteldeutscher Zeitung vom 8. Februar 2019 (S. 2) forderte der Fraktionsvorsitzende Hans-Thomas Tillschneider, dass Fehlende im Unterricht bei wiederholtem Fernbleiben für ihre Teilnahme an Pro-KlimaDemonstrationen von der Polizei abgeholt und in die Schule gebracht werden
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müssten. Ein anderer AfD-Landtagsabgeordneter sah in den Demonstrationen unerträgliche Instrumentalisierung von Kindern und linke Lehrer als Drahtzieher der Bewegung. Dies alles passt zu der Äußerung von Herrn Tillschneider am 6. Februar 2019 in Halle (Saale) bei einer Tagung der Landeszentrale für politische Bildung und der Professur für Didaktik der Sozialkunde, als er sich gegen eine Ausweitung der Schulstunden für Sozialkunde (wie hier im Lande das Fach heißt) aussprach. Der Kreis schließt sich: Melde-Portale für Meldungen gegen Lehrende und der Ruf nach der Polizei gegen politische Aktionen Lernender sind Versuche Zwangsmittel gegen Andersdenkende einzusetzen. Deren Denken und Handeln mag umstreitbar sein, aber den Streit durch „Neutralität“ oder „Zuführung“ beenden zu wollen, statt in Interaktionen und Konflikten zu bearbeiten – was Politische Bildung erfordert – ist nicht entschiedenes Eintreten für Bildung für die Demokratie.
Literatur Autorengruppe Fachdidaktik (2016). Was ist gute politische Bildung? Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Bischoff, M. (2019). Kontroverse „Braunkohle-Ausstieg“. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), Heft 2, (S. 251–259). Bundesverfassungsgericht (2018a). Verletzung des Rechts einer Partei auf Chancengleichheit im politischen Wettbewerb durch Pressemitteilung einer Bundesministerin. Pressemitteilung Nr. 10/2018 vom 27. Februar 2018. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/DE/2018/bvg18-010.html. Zugegriffen: 18. September 2019. Bundesverfassungsgericht (2018b). Chancengleichheit von Parteien, Urteil vom 27. Februar 2018, 2 BvE 1/16. https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Entscheidungen/DE/2018/02/es20180227_2bve000116.html. Zugegriffen: 30. April 2020. Bundesverfassungsgericht (2015). Kopftuchverbot für Lehrkräfte, Beschluss vom 27. Januar 2015, 1 BvR 471/10, 1 BvR 1181/10. Eckertz, R. (2019). Das Bundesverfassungsgericht zur staatlichen Neutralität. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), Heft 2, (S. 261–269). Gagel, W. (1983+2000). Einführung in die Didaktik des politischen Unterrichts (1. und 2. Auflage). Opladen: Leske + Budrich. Giesecke, H. (1972). Didaktik der politischen Bildung („Neue Ausgabe“). München: Juventa Verlag. Giesecke, H. (1999). Parteinahme, Parteilichkeit und Toleranzgebot. In W. W. Mickel (Hrsg.), Handbuch zur politischen Bildung (S. 503–506, textgleich mit der Auflage von 1988). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Grammes, T., Schluß, H. & Vogler, H.-J. (2006). Staatsbürgerkunde in der DDR. Ein Dokumentenband. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
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Hilligen, W. (1975). Zur Didaktik des politischen Unterrichts 1. Ein Studienbuch. Opladen: Leske + Budrich. Hilligen, W. (1985). Zur Didaktik des politischen Unterrichts. Opladen: Leske + Budrich. Honneth, A. (1994). Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. May, M. (2018). Didaktik politisch-demokratischer Bildung als Gegenstand in der universitären Lehramtsausbildung im Jenaer Modell der Lehrerbildung. In C. Deichmann & M. Partetzke (Hrsg.), Schulische und außerschulische politische Bildung. Qualitative Studien (S. 49–64). Wiesbaden: Springer VS. Petrik, A. (2013). Von den Schwierigkeiten, ein politischer Mensch zu werden. Konzept und Praxis einer genetischen Politikdidaktik (2. erweiterte und aktualisierte Auflage). Opladen: Barbara Budrich. Pohl, K. (2014). Gesellschaftstheorie in der Politikdidaktik. Die Theorierezeption bei Hermann Giesecke. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Reinhardt, S. (1976/2014). Wie politisch darf der „Politik“-Lehrer sein? Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) – Beilage zum „Parlament“ 1976, B. 8 / 76 vom 21.02.1976, S. 25–35 – abgedruckt in Reinhardt, S. (2014). „Ich freue mich, dass Sie Spaß am Politik-Unterricht haben“ hrsg. von T. Grammes & A. Petrik (S. 100–116). Opladen: Barbara Budrich. Reinhardt, S. (1988). Kontroverses Denken, Überwältigungsverbot und Lehrerrolle. In W. Gagel & D. Menne (Hrsg.), Politikunterricht. Handbuch zu den Richtlinien NRW (S. 65–73). Opladen: Leske + Budrich. Reinhardt, S. (2009). Schulleben und Unterricht – nur der Zusammenhang bildet politisch und demokratisch. Zeitschrift für Pädagogik, Heft 6, (S. 860–871). Reinhardt, S. (2018). Politik-Didaktik. Handbuch (7. überarbeitete Auflage). Berlin: Cornelsen Verlag. Reinhardt, S. (2019a). Jagd auf Lehrer statt Beutelsbacher Konsens. Kommentar zum Portal „Neutrale Schulen“ der AfD in Hamburg. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), Heft 1, (S. 13–19). Reinhardt, S. (2019b). Fridays For Future – Moral und Politik gehören zusammen. Gesellschaft – Wirtschaft – Politik (GWP), Heft 2, (S. 159–162). Stein, H.-W. (2007). Demokratisch handeln in der Schule und „große Politik“ – Mission impossible? In W. Beutel & P. Fauser (Hrsg.), Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft (S. 171–198). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Sutor, B. (1973). Didaktik des politischen Unterrichts (2. Aufl.). Paderborn: Schöningh Verlag. Sutor, B. (1974). Plädoyer für einen pluralen Ansatz in den Curricula politischer Bildung. In Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Curriculum-Entwicklungen zum Lernfeld Politik (S. 11–28). Schriftenreihe 100. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung. Widmaier, B. & Zorn, P. (Hrsg.). (2016). Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.
Flickenteppich Politische Bildung? Anmerkungen zu einer möglichen Zäsur der Professionsgeschichte Benedikt Widmaier
Zusammenfassung
Vor allem die non-formale politische Bildung scheint in Deutschland in einer Phase des Umbruchs zu sein. Das wird deutlich an theoretischen Debatten aber auch an strukturellen Veränderungen. In den vergangenen Jahren häufen sich synonyme Begriffe für politische Bildung die zu einer neuen terminologischen aber auch konzeptionellen Unübersichtlichkeit geführt haben. Parallel dazu sind durch gut ausgestattete staatliche Förderprogramme neue institutionelle Trägerstrukturen in der außerschulischen politischen Jugendund Erwachsenenbildung aufgebaut worden. Beide Entwicklungen könnten das lange geteilte Selbstverständnis der Profession nachhaltig verändern und eine tiefergehende und nachhaltige Zäsur in der Geschichte der politischen Bildung nach 1945 einläuten. Es wäre erstaunlich, wenn ausgerechnet die Politische Bildung von dem gesellschaftlichen Modernisierungsdruck der letzten Jahre verschont geblieben wäre oder bleiben sollte. Die Ausgangsthese meiner folgenden Ausführungen ist es deshalb, dass insbesondere die non-formale Politische Bildung unter diesen Druck geraten ist und sich in der Folge möglicherweise auch strukturell dauerhaft und tiefgreifend verändern wird. Die Themen, die ich dabei streife, mögen zunächst etwas unsortiert wirken. Das ist aber der Situation geschuldet, die sich
B. Widmaier (*) Haus am Maiberg, Heppenheim, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_5
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als neue Unübersichtlichkeit oder als Flickenteppich über die Politische Bildung ausbreitet. Man weiß zurzeit nicht mehr so genau, was Politische Bildung eigentlich ist oder sein soll. Bisher galt Politische Bildung in der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte, ja als ein Garant des Wirtschafts- und Demokratiewunders in Deutschland nach 1945. Dieser wertschätzende Blick auf die Profession hat sich seit einigen Jahren verändert. Insbesondere um die Jahrtausendwende hatte Politische Bildung spürbar an Bedeutung verloren und bis heute muss sie sich einigen kritischen Anfragen stellen. Zuletzt hat etwa der Geschäftsführer des Deutschen Kulturrates, Olaf Zimmermann, in einer Jahresbilanz für 2017 vermessen und ungeschminkt vorgeschlagen, die kulturelle Bildung müsse „die politische Bildung aus ihrem Dornröschenschlaf wecken“ und dafür solle aus dem Flaggschiff der politischen Bildung, der Bundeszentrale für politische Bildung, eine „Bundeszentrale für Kulturelle und Politische Bildung“ werden. Das „könnte spannende Synergieeffekte schaffen“ – so Zimmermann (https://www.kulturrat.de/wp-content/ uploads/2017/11/Wochenreport_KW-44.pdf). Ähnlich unverblümt klingt es, wenn Thomas Pfeiffer, Mitarbeiter des Verfassungsschutzes in Niedersachsen, dafür plädiert Politische Bildung in das „Aufgabenportfolio des Verfassungsschutzes einzubeziehen“, zumal in der Extremismusprävention des Verfassungsschutzes „keine geringeren Standards als in der professionellen politischen Jugend- und Erwachsenenbildung“ gelten würden (Pfeiffer 2010, S. 78 f.). Solche Projekte der „friedlichen Übernahme“ einer angeblich zahnlosen Politischen Bildung mögen die Spitze des Eisbergs einer grundsätzlichen Kritik an der Leistungsfähigkeit der politischen Jugend- und Erwachsenenbildung sein. Auf diese Herausforderung muss die Profession aber reagieren. Das kann nur sukzessive und durch gründliche Evaluationen und Weiterentwicklungen der Politischen Bildung geschehen und braucht Zeit und Ressourcen. Ich selbst werde mich vor diesem Hintergrund im Folgenden vor allem auf einige Aspekte konzentrieren, die im Zuge der aktuell dominanten sogenannten „extremismuspräventiven Demokratieförderung“ zu diskutieren sind. Zunächst werde ich 1) die Genese der Demokratieförderung nachzeichnen und an den Beispielen des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ und des immer wieder ins Gespräch gebrachten Demokratiefördergesetzes zeigen, was der Stand, die bereits eingetretenen Konsequenzen und die möglichen Perspektiven einer Demokratieförderung in Deutschland sind. Danach will ich 2) deutlich machen, dass die frühere Eindeutigkeit, was denn Politische Bildung ist und sein soll, u. a. durch eine neue Unübersichtlichkeit von vermeintlich synonymen Begriffen gründlich ins Wanken geraten ist. Im letzten Teil werde ich 3) einige Anmerkungen zum Thema „Neutralitätsgebot“ machen, weil sich die darum entstandene Debatte
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meines Erachtens besonderes gut eignet, deutlich zu machen, dass die Dinge komplexer sind, als sie zunächst erscheinen. Statt ein zusammenfassendes Schlusswort zu liefern, werde ich am Ende ein weiteres Thema ansprechen, das mir tagesaktuell vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesfinanzhofs zur Gemeinnützigkeit von Attac wichtig erscheint. Das Urteil sollte meines Erachtens Anlass zu einer stärkeren rechtstheoretischen Reflektion über grundsätzliche Fragen der Politischen Bildung geben.
1 Extremismuspräventive Demokratieförderung Niemand würde bestreiten, dass Demokratie in Deutschland ein hohes Gut und deren Förderung ein wichtiges bildungspolitisches Projekt ist und bleiben sollte. Die aktuell wichtigste Variante der Förderung von Demokratie, die sogenannte „extremismuspräventive Demokratieförderung“, ist aber nicht nur ein bildungspolitisches Programm, sondern im Kern auch ein sicherheitspolitisches Projekt. Die Idee des „erzieherischen Verfassungsschutzes“ ist eng mit der Geschichte der staatlichen Politischen Bildung in der Bundesrepublik in den 1950er-Jahren verknüpft (vgl. Widmaier 2018b). Das sehr affirmative Konzept war über Jahrzehnte in Vergessenheit geraten, wenngleich der Politischen Bildung im Kontext einer streitbaren und gegen Extremist*innen abwehrbereiten Demokratie immer auch eine präventive Rolle zugeschrieben wurde. Nicht ganz zufällig ist die Bundeszentrale für politische Bildung, deren Gründungsgeschichte sehr eng mit der Idee eines erzieherischen Verfassungsschutzes verbunden war, noch in den 1990er-Jahren als „politisch-pädagogische Hüterin der ‚streitbaren Demokratie‘“ beschrieben worden (Jaschke 1991, S. 226). Spätestens seit Anfang der 1990er-Jahre ist das Thema der antiextremistischen (politischen) Bildung wieder mit Macht auf die Agenda gesetzt und besonders gefördert worden. Seither sind immer wieder Programme, insbesondere zur Bekämpfung und Prävention von Rechtsextremismus, aufgelegt worden. Ausgangspunkt waren 1991 die fremdenfeindlichen Ausschreitungen und Exzesse in Hoyerswerda. Insbesondere in den neuen Bundesländern, in den alten hätte die Politik wahrscheinlich eher auf die alten korporatistischen Strukturen zurückgegriffen, wurden daraufhin vor allem zivilgesellschaftliche Initiativen im Rahmen umfangreicher staatlicher Top-Down-Programme in ihren Aktivitäten gegen Rechtsextremismus unterstützt. Das erste Programm war ab 1992 das „Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt“, dem folgten „kompetent. für Demokratie“, „VIELFALT TUT GUT“ und aktuell das (ab 2020 voraussichtlich auf Dauer gestellte) Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ (vgl. Roth 2010;
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Regiestelle Vielfalt 2011; Behn et al. 2013; Greuel und König 2014). Mit Abstand das größte und umfangreichste Programm ist aktuell aber das Bundesprogramm „Demokratie leben!“, auf dessen Entstehungsgeschichte hier kurz eingegangen werden soll. Nach den fremdenfeindlichen und rassistischen Morden, Mordversuchen und Sprengstoffanschlägen des NSU in den 2000er-Jahren wurden im Bundes- und in Landtagen NSU-Untersuchungsausschüsse eingesetzt, in deren Folge das Thema der Extremismusbekämpfung und –prävention eine ganz neue Bedeutung bekam. Als eine wichtige Aufgabe der Extremismusprävention galt von nun an auch die sogenannte Demokratieförderung. Der NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages hat beispielsweise in seinem Abschlussbericht kurz vor der Bundestagswahl 2013 eine „Kontinuierliche Unterstützung für Demokratieförderung“ empfohlen (Deutscher Bundestag 2013, S. 865 f.). Dabei solle auch die „präventive[n] Bildungsarbeit gegen Rassismus und Rechtsextremismus“ weiterentwickelt werden (ebd., S. 866). Im Verlauf des umfangreichen Berichts wird die Bedeutung von Politischer Bildung in diesem Kontext näher beschrieben und es werden folgende Maßnahmen angeregt: • „Die Demokratieerziehung in Kita, Schule, Universität, Berufsschulen, aber auch in der sonstigen Erwachsenenbildung, z. B. an Volkshochschulen [zu] verstärken, • Politische Bildung [zu] stärken statt [zu] kürzen. Politische Bildung ist Zukunftsvorsorge für unsere Demokratie, • Demokratieerziehung [zum] Thema der pädagogischen Ausbildung für ErzieherInnen, LehrerInnen und andere Fachkräfte [zu] machen: Demokratieerziehung muss obligatorischer Bestandteil des Curriculums werden. Dabei sollen auch Kompetenzen im Umgang mit rechtsextremen Wortergreifungsstrategien und Nazihetze im Netz vermittelt werden.“ (Ebd., S. 1041) Im Koalitionsvertrag für die 18. Legislaturperiode (2013–2017) wird das Thema wieder aufgenommen und die „Umsetzung der einmütig beschlossenen Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses“ als Eckpfeiler zur Bekämpfung des Rechtsextremismus dargestellt. Dabei wird zum ersten Mal deutlich der politische Wille artikuliert, dass die bestehenden Programme „langfristig finanziell sichergestellt […], auf bundesgesetzlicher Grundlage […] weiterentwickelt sowie neue Strukturformen […] etabliert“ werden sollen (Bundesregierung 2013, S. 108). Mit der „Strategie der Bundesregierung zur Extremismusprävention und Demokratieförderung“ (BMFSFJ 2016a) ist das Thema endgültig ganz oben
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auf die politische Agenda in Deutschland gesetzt worden. Seit 2015 wird diese Strategie bereits mit dem Programm „Demokratie leben! Aktiv gegen Rechtsextremismus, Gewalt und Menschenfeindlichkeit“ umgesetzt. Die Ausstattung des vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) verantworteten Programms ist schnell angestiegen und 2017 noch einmal verdoppelt worden, sodass dort zwischen 2017 und 2019 jährlich Fördermittel in Höhe von 104 bis 115 Mio. EUR pro Jahr zur Verfügung stehen (vgl. dazu insgesamt: www.demokratie-leben.de). Im Frühjahr 2017 überraschte dann das Bundesinnenministerium (BMI) mit konkreten Plänen für ein weiteres Programm zur Extremismusprävention. Dieses „Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus“ ist im Jahr 2018 angelaufen und gleichfalls mit 100 Mio. EUR ausgestattet (vgl. Bundeshaushaltsplan 2018/Einzelplan 17, S. 17). In der Strategie der Bundesregierung wie auch in den beiden Programmen spielen (Lippen-)Bekenntnisse zur Politischen Bildung eine wichtige Rolle. Demnach soll mit der Strategie zur Extremismusprävention „Demokratieförderung“ betrieben werden, wobei „Angebote, Strukturen und Verfahren, die demokratisches Denken und Handeln stärken“ durch „entsprechende Bildungsprozesse“ angeregt werden sollen. Der reklamierte „diskursive […] Demokratieschutz“ beruhe darauf, „dass gesellschaftliche und politische Akteure in einer Demokratie mit aufklärenden Argumenten ihre Werte darlegen und verteidigen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die politische Bildung.“ (BMFSFJ 2016a, S. 11). „Politische Bildung, interkulturelles Lernen und Demokratiearbeit“ wird folgerichtig unter den Handlungsfeldern der Strategie an erster Stelle genannt (ebd.: S. 19 ff.). Auch im zukünftigen Nationalen Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus wird Politische Bildung prominent gesetzt. Das erste Konzeptpapier dafür betont die „Notwendigkeit pluraler politischer und religiöser Deutungsangebote“, wobei „politische Bildung als Instrument für gesellschaftliche Teilhabe eine wichtige Rolle“ spiele (BMI 2017, S. 1 f.). Auch wenn die Bundesregierung in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zum Thema „Bürgerbeteiligung und Zivilgesellschaft“ im Februar 2019 behauptet hat, dass ein Entwurf für ein „Demokratiefördergesetz“ nicht vorliege, ist das nur die halbe Wahrheit (Bundestags Drucksache 19/7972, S. 3). Tatsächlich plant vor allem die SPD seit langem, das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ in eine dauerhafte Förderstruktur möglichst im Rahmen eines Gesetzes zu überführen. Bereits 2016 hatte die damalige Bundesministerin Manuela Schwesig mehrfach, u. a. auf dem Demokratiekongress im November 2016, ein „Demokratiefördergesetz [als] die Grundlage dafür [beschrieben], dass wir zusammen mit Ihnen, den Expertinnen und
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Experten, den Engagierten vor Ort, den erfahrenen Trägern, die Zivilgesellschaft und die Demokratie dauerhaft stärken. Mit einem solchen Gesetz können wir die Mittel verstetigen und die Planungssicherheit schaffen, die wir alle brauchen.“ (BMFSFJ 2016c) Danach sind zumindest in den Fachgremien der Jugendhilfe mehrfach Entwürfe für ein Demokratiefördergesetz aufgetaucht, zuletzt auch verbunden mit der ausdrücklichen Aufforderung des damaligen Staatssekretärs im BMFSFJ, Ralf Kleindiek, diese nun auch fachlich zu diskutieren und dem Ministerium dazu Rückmeldungen zu geben (vgl. entsprechend: Widmaier 2017). Tatsächlich taucht das Vorhaben eines Demokratiefördergesetzes dann aber 2018 in der Koalitionsvereinbarung der neuen Bundesregierung nicht mehr auf. Die neue Bundesjugendministerin, Franziska Giffey, nutzte aber die Gunst der Stunde und setzte nach den fremdenfeindlichen Ereignissen in Chemnitz im September 2018 das, wie gesagt, vor allem von der SPD gewünschte Demokratiefördergesetzes wieder auf die politische Agenda (vgl. etwa Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 05.09.2018). Zu dem im Herbst 2017 vorgelegten Entwurf eines Demokratiefördergesetzes habe ich an anderer, leicht zugänglicher Stelle einige verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und politikdidaktische Bedenken vorgetragen (Widmaier 2017). Völlig unabhängig davon, ob die „extremismuspräventive Demokratieförderung“ im Rahmen eines Gesetzes auf Dauer gestellt wird oder nicht, hat bereits das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ einen einschneidenden institutionellen Strukturwandel der non-formalen Politischen Bildung eingeleitet (dazu ausführlich Widmaier 2018a). Die sehr starke Wirkung auf Inhalte und institutionelle Strukturen hat vor allem damit zu tun, dass das Bundesprogramm mit 115 Mio. EUR im Vergleich zu anderen Förderprogrammen der Politischen Bildung extrem gut ausgestattet ist. Dazu kommen in fast allen Bundesländern eigene extremismuspräventive Demokratieförderprogramme. In Hessen ist das Landesprogramm „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“ beispielsweise mit etwa 5 Mio. EUR ausgestattet. Nicht zu vergessen das „Nationale Präventionsprogramm gegen islamistischen Extremismus“ mit ca. 100 Mio. EUR (vgl. Bundeshaushaltsplan 2018/Einzelplan 17, S. 17). Um eine Vergleichsgröße zu haben: die Bundeszentrale für politische Bildung hat zwischen 2016 und 2018 einen Gesamthaushalt von ca. 50 bis 60 Mio. EUR p. a., darin enthalten ca. 10 bis 12 Mio. EUR für die Förderung der politischen Erwachsenenbildung der zivilgesellschaftlichen Träger (Bundeshaushalt 2018/Einzelplan 06, S. 266 und 270).
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2 Paradigmenwechsel oder neue Unübersichtlichkeit Betrifft dieser Strukturwandel vor allem die Trägerstruktur der non-formalen Politischen Bildung, ist der damit verbundene offensichtliche Paradigmenwechsel von einer auf bürgerschaftliche Mündigkeit zielenden Politischen Bildung (vgl. dazu Kloubert 2018) hin zu einer auf Prävention von Extremismus zielenden Demokratieförderung von Bedeutung für die Politische Bildung insgesamt. Denn dieser Paradigmenwechsel wird, so meine Hypothese, wenn er ungebremst weitergeht, auch nicht Halt machen vor der schulischen Politikdidaktik. Dafür spricht eine sich zunehmend durchsetzende Begrifflichkeit von mit „Demokratie“ verbundenen Komposita, die damit einhergeht, „Demokratie“ und nicht mehr „das Politische“ als den eigentlichen zentralen Gegenstand und Kern der Politischen Bildung zu sehen (vgl. zu der schon lang anhaltenden Debatte zwischen der Politischen Bildung und der Demokratiepädagogik u. a. die frühen kritischen Anfragen von Juchler 2005; Sander 2007). Die wissenschaftlich-pädagogische Debatte über Politische Bildung hat sich seit Anfang der 2000er-Jahre mindestens partiell in eine entsprechend antipolitische Richtung entwickelt. Peter Fauser und Wolfgang Edelstein stellten damals in einem Gutachten, das Ausgangspunkt eines großen (schulischen) Modellprojekts mit dem Titel „Demokratie lernen und leben“ war, eine Verbindung zur Politikverdrossenheit der Jugend her (Edelstein und Fauser 2001, S. 11 f.). Für sie war klar, dass man „auf politisches Interesse [der Jugend] im weiteren Sinne […] bei einem Programm ‚Demokratie lernen und leben‘ nicht setzen“ könne (ebd., S. 14). Sie sprachen weiterhin von Entpolitisierung, Verdrossenheit, Distanz, Ausgeliefertsein, extremer Komplexität der Politikmaterie, Ohnmacht sowie Korruptionsverdacht. So zeichneten Fauser und Edelstein unkritisch ein die Politik und das Politische diskreditierendes Gesamtbild nach. Statt eine politisch-pädagogische Gegenstrategie zur Rehabilitierung der Politik und des Politischen zu entwickeln, favorisieren sie den Begriff der „Demokratie“ und lieferten damit eine Begründung für eine neue „Demokratiepädagogik“: Demokratie bezeichne „eine historische Errungenschaft“. Sie als „Lebensform, als Gesellschaftsform und als Regierungsform“ zu erhalten, hänge „von dem Wissen, den Überzeugungen und der Bildung aller“ ab. Im Vergleich zur negativen Beschreibung des Erfahrungsraums Politik heißt es pathetisch, „Demokratie wird erfahren durch die Verbindung von Zugehörigkeit, Mitwirkung, Anerkennung und Verantwortung.“ (Ebd., S. 18)
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Mit dem BLK-Programm „Demokratie lernen und leben“ der und-Länder-Kommission für Bildungsplanung und Forschungsförderung, B durchgeführt zwischen 2002 und 2007 etablierte sich die Demokratiepädagogik. Sie wurde 2005 durch einen eigenen Verband, die Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik (DeGeDe), nachhaltig abgesichert. Die DeGeDe besetzte u. a. erfolgreich wichtige Felder der politischen Frühsozialisation, wie das Demokratielernen im Kindergarten, den Klassenrat in der Grundschule, aber auch das Lernen durch Engagement (Service Learning) im Jugendalter und damit Praxisfelder, die die Politische Bildung nicht im Blick hatte. Insofern war sie von Anfang an eine sinnvolle pädagogische Ergänzung im Sinne eines „epigenetischen Entwicklungsmodells“ (Krappmann 2000, S. 80 f.), in dem Politische Bildung aufbauen kann auf Grundlagen, die durch demokratiepädagogische Erziehung und Bildung gelegt werden (vgl. auch Widmaier 2019). Nach der Etablierung der Demokratiepädagogik tauchten weitere Begriffe auf, die gewissermaßen synonyme oder ergänzende Termini für Politische Bildung sind. Soweit das für die 2000er-Jahre nachweisbar ist, benutzte die Erziehungswissenschaftlerin Viola B. Georgi zum ersten Mal in einer ihrer Publikationen die vier Begriffe Demokratielernen, Demokratiebildung, Demokratieförderung und Demokratiepädagogik synonym, ohne diese voneinander abzugrenzen (Georgi 2006, insbes. S. 11 ff.). Dem Großtrend folgte im Jahr 2009 dann die Kultusministerkonferenz (KMK) mit einem Beschluss zur „Stärkung der Demokratieerziehung“ – der 2018 in einer überarbeiteten Version erschienen ist – und fügte so der Reihe der Begriffe von Georgi einen weiteren Terminus hinzu. Auch im Papier der KMK gehen diese Begriffe quasi synonym durcheinander. Es wird davon gesprochen, dass „Demokratielernen […] Grundprinzip in allen Bereichen [der] pädagogischen Arbeit“ der Schule und dass „Demokratieerziehung […] Aufgabe aller Fächer“ sein soll. Die „Realisierung von Demokratieerziehung und demokratischer Schulkultur [solle ein] Kriterium von Schulentwicklung“ sein (Sekretariat der KMK 2009, S. 3 f.). Last but not least sei auf eine Publikation mit dem Titel „Demokratiedidaktik“ hingewiesen (Lange und Himmelmann 2010). Die beiden Herausgeber sind für die hier vorgestellte Entwicklung wichtige Protagonisten. Gerhard Himmelmann hat mit seinem Buch „Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform“ (2001) eines der wichtigsten frühen Referenzwerke der Demokratiepädagogik verfasst. Und Dirk Lange war 2013 als Professor für Didaktik der Politischen Bildung der maßgebliche Initiator und Gründer des „Instituts für Didaktik der Demokratie“ an der Leibniz Universität Hannover (www.demokratiedidaktik.de).
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Erziehung, Bildung, Förderung, Lernen, Didaktik und Pädagogik sind jeweils für sich genommen bereits komplizierte, komplexe Begriffe, die sinnvollerweise voneinander zu unterscheiden sind. Erst recht stellen sich Fragen nach den Bedeutungen der Worte, wenn all diese Begriffe mit der Vorsilbe „Demokratie“ zu neuen Komposita verbunden werden. Ein Standardwerk zu Demokratie-Theorien, auf das auch in der Politischen Bildung gerne zurückgegriffen wird, stellt für die Moderne acht, für die Gegenwart fünfzehn weitere Demokratietheorien vor. Dabei können wir davon ausgehen, dass es sich bereits um eine sehr reduzierte Auswahl handelt (Massing et al. 2012). Alleine die arithmetisch hoch gerechnete Kombination aus politikwissenschaftlichen Demokratie- und erziehungswissenschaftlichen Bildungsbegriffen ist so groß, dass wir auf die Frage, was denn aus dieser neuen Unübersichtlichkeit zusammengesetzter Begriffe in reflektierte Theorie und Praxis politischer Bildung im 21. Jahrhundert transferiert werden könnte/sollte, kaum auf eine schnelle Antwort hoffen können. Aus den bisherigen Ausführungen ist deutlich geworden, dass den Begriffen wie Demokratielernen, Demokratiebildung, Demokratiedidaktik, Demokratieerziehung und Demokratieförderung, vielleicht mit Ausnahme der Demokratiepädagogik, weder theoretisch noch praktisch ausgearbeitete pädagogische Konzepte zugrunde liegen. Deshalb ist es meines Erachtens kein Zufall, dass die Bundesregierung in ihrer „Strategie […] zur Extremismusprävention und Demokratieförderung“ von 2016 zwar eine Begriffsbestimmung wagt, am Ende aber auf die altbewährte Politische Bildung zurückgreift und sie als erstes Handlungsfeld der Demokratieförderung benennt: Die Bundesregierung versteht unter Demokratieförderung Angebote, Strukturen und Verfahren, die demokratisches Denken und Handeln stärken, eine demokratische politische Kultur auf Grundlage der wertegebundenen Verfassung fördern und entsprechende Bildungsprozesse und Formen des Engagements anregen. Dazu gehören zum einen Maßnahmen, die demokratieförderliche Rahmenbedingungen und Strukturen aufrechterhalten und verbessern, beispielsweise in Form des Ausbaus von Beteiligungskulturen und –verfahren sowie die Stärkung von Personen in ihrer Urteilskraft und Teilhabe in demokratischen Prozessen und in ihrer Handlungskompetenz gegenüber demokratiefeindlichen Haltungen. Einen wichtigen Beitrag hierzu leistet ein diskursiver Demokratieschutz, der darauf beruht, dass gesellschaftliche und politische Akteure in einer Demokratie mit aufklärenden Argumenten ihre Werte darlegen und verteidigen. Eine besondere Rolle spielt hierbei die politische Bildung. (BMFSFJ 2016b, S. 11)
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3 Staatliches Neutralitätsgebot und Politische Bildung In jüngster Zeit wird in der Politischen Bildung eine auch durch die extremismuspräventive Wende vorangetriebene Debatte über das sogenannte „staatliche Neutralitätsgebot“ geführt. In der schulischen Politischen Bildung ist das Thema vor allem durch die von der AfD inszenierten öffentlichen Plattformen angestoßen worden, auf denen Schüler*innen sich melden sollen, wenn in ihrem Unterricht vermeintlich einseitig wertend über die AfD informiert wird (vgl. Reinhardt 2019). In der non-formalen Politischen Bildung wird die Debatte geführt, weil die zivilgesellschaftlichen Institutionen, die aus staatlichen Förderprogrammen zu Extremismusprävention, beispielsweise dem Programm „Hessen – aktiv für Demokratie und gegen Extremismus“, gefördert werden, in den Förderverträgen auf ein staatliches Neutralitätsgebot verpflichtet werden (vgl. Bechtold 2018). Verglichen mit der seit einigen Jahren geführten Diskussion über ein staatliches Neutralitätsgebot in religiös-weltanschaulichen Fragen (Stichwort „Kopftuchverbot“), die zum Teil auch entsprechend benannte Gesetze nach sich gezogen haben (z. B. das Berliner Neutralitätsgesetz), scheint es mir unumgänglich, die Anwendung des Begriffs der „staatlichen Neutralität“ im Feld der Politischen Bildung einer differenzierenden Kritik zu unterziehen. Der Begriff der „Neutralität“ ist nicht ohne Weiteres eins zu eins vom Thema des Zusammenlebens unterschiedlicher Religionsgemeinschaften im säkularen Staat, und die dort garantierte negative und positive Religionsfreiheit, auf die Frage der (neutralen) Vermittlung von Politischer Bildung zu übertragen. Wenngleich eine sorgfältige Aufarbeitung der Debatte zur weltanschaulichreligiösen Neutralität interessante Erkenntnisse für die Auseinandersetzung mit weltanschaulich-politischer Neutralität liefern könnte. Ein grundlegender theoretischer Klärungsbedarf wird u. a. daraus deutlich, dass der Gesetzgeber in einigen auch für unseren Kontext der Bildungsarbeit relevanten Gesetzen ohne Zögern „politische, religiöse und weltanschauliche Neutralität“ undifferenziert in eine Reihe gestellt hat. So schreibt etwa das Hessische Schulgesetz vom 03.05.2018 in § 86 Abs. 3 „Lehrkräften in Schule und Unterricht [vor], politische, religiöse und weltanschauliche Neutralität zu wahren“. Die Spannung, die in einer solchen Vorgabe im Bezug auf außerschulische Bildungsbereiche und wichtige Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft steckt, wird deutlich, wenn wir dem Hessischen Schulgesetz beispielsweise die Formulierung der Satzung der Volkshochschule der hessischen
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Region Kassel gegenüberstellen, in der es in § 1 Abs. 4 heißt, dass „den pädagogischen Mitarbeitern/-innen […] die Freiheit der Lehre im Rahmen der Verfassung gewährleistet“ wird. Mit den unterschiedlichen Aufträgen einer staatlichen Schule und einer kommunalen (staatlichen) Volkshochschule allein, ist diese Spannung meines Erachtens jedenfalls nicht hinreichend zu (er)klären. Inzwischen haben sich 2017/2018 zahlreiche zivilgesellschaftliche und wissenschaftliche Organisationen mit öffentlichen Stellungnahmen zum Thema „Neutralitätsgebot“ in der Politischen Bildung zu Wort gemeldet (vgl. DVPB/ Hessen 2017; AKSB, AdB, DBJR, GPJE et al. jeweils 2018) und es liegen einige Gutachten von Wissenschaftlichen Diensten des Bundestags und von Landtagen (vgl. etwa Iwers 2018; Wissenschaftliche Dienste 2015) sowie andere Sachverständigen-Gutachten zum Thema vor (etwa Gundling 2017 mit Blick auf Hochschulen und Hufen 2018 mit Blick auf die Jugendbildung). Dennoch wird die Diskussion meines Erachtens sehr eng geführt und bräuchte – bei allem Respekt für rechtsstaatliche Klarheit – jenseits juristischer Begutachtung, und in Anbetracht der Bedeutung des Themas für die Entwicklung der Demokratie in Deutschland, einen erweiterten Blick auf die bildungs- und gesellschaftspolitischen Aspekte von „Neutralität“. Dazu können hier nur einige Anstöße gegeben werden, die sich zunächst auf einige wenige verfassungsrechtliche, demokratietheoretische und politikdidaktische Aspekte beschränken müssen. Aus verfassungsrechtlicher Sicht sollte, wie bereits gesagt, überprüft werden, in wieweit Analogien zwischen religiöser Neutralität und politischer Neutralität des Staates überhaupt sinnvoll herzustellen sind. Immer noch ist im Hinblick auf die religiöse Neutralität an das Diktum des Verfassungsrechtlers Ernst-Wolfgang Böckenförde (1930–2019) von 1964 anzuknüpfen. Allerdings scheint mir ein Analogieschluss zu der dort aufgeworfenen Frage, ob der „freiheitlich, säkulare Staat […] von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann“ (Böckenförde 2006, S. 71), hin zur Frage der politischen Neutralität – etwa der Politischen Bildung – nicht einfach zu vollziehen. Die Frage die das Böckenförde-Theorem aufwirft kann aber durchaus übertragen und ähnlich gestellt werden: Wie kann/muss eine der Idee der Demokratie „entgegenkommende Lebenswelt“ – so eine in praktischer gesellschaftspolitischer Absicht variierende Formulierung bei Jürgen Habermas (Habermas 1998, S. 366) – also eine allgemeine politische Sozialisation in einer postmodernen globalisierten Welt ausgestaltet sein, die die Grundlage schafft für einen demokratischen Habitus und eine mündige Bürgerschaft? (vgl. dazu Widmaier 2019) Verfassungsrechtlich meint „politische Neutralität“ im engeren, und in unserem Kontext möglicherweise eigentlich relevanten Sinne, „Chancengleichheit der Parteien“ (vgl. dazu auch: Hufen 2018). Darauf hat das Bundesverfassungsgericht
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(BVerfG) u. a. in einem Urteil vom 27.02.2018 hingewiesen. Die AfD hatte erfolgreich gegen das Bundesministerium für Bildung und Forschung geklagt, weil dieses mit dem Slogan und einer Pressemitteilung mit dem Titel „Rote Karte für die AfD“ Menschen von der Teilnahme an einer Demonstration der AfD abhalten wollte. Schon der erste Leitsatz des Urteils des BVerfG zeigt ein gewisses Dilemma und damit die Unklarheit der Begriffe: „Auch außerhalb von Wahlkampfzeiten erfordert der Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien die Beachtung des Gebots staatlicher Neutralität.“ (vergl. dazu und zum folgenden BVerfG vom 27.02.2018, 2 BvE 1/16) Die in diesem Urteil des BVerfG durchgängig mehr oder weniger synonym benutzen Begriffe „Chancengleichheit der Parteien“ und „Neutralität des Staates“ schaffen wenig Klarheit im Hinblick auf die Frage, was denn „staatliche Neutralität“ über Chancengleichheit der Parteien hinaus bedeutet. Eine weitere Formulierung am Ende des entsprechenden Urteils macht das noch einmal deutlich, wenn etwas kryptisch davon gesprochen wird, dass das „Neutralitätsgebot“ des Staates aus „dem Grundsatz der Chancengleichheit der Parteien“ fließe. Der Verfassungsrechtler Friedhelm Hufen, der auf einer Tagung der Träger der Demokratieförderung in Hessen 2018 einen Vortrag zum Thema „Politische Jugendbildung und Neutralität“ gehalten hat, kommt in einer meines Erachtens zentralen Passage zu folgendem Schluss: Dass „die privaten Empfänger öffentlicher Mittel Grundrechtsträger, nicht Grundrechtsadressaten sind und bleiben. Ihre Äußerungen werden durch die Finanzierung nicht selbst hoheitliche Maßnahmen.“ (Hufen 2018, S. 219) Die freien Träger der Jugendbildung begeben sich „schon gar nicht […] durch die Annahme staatlicher Finanzierung aus dem Schutzbereich einschlägiger Grundrechte hinaus.“ Die Grundrechte, „wie Meinungs-, Religions-, Kunstfreiheit usw. schützen sie vor überzogener staatlicher Einflussnahme. Die Kontrolle kann insofern nur Rechts- und nicht Inhaltskontrolle sein.“ (ebd.) Damit sind wir bei der Frage der demokratietheoretischen Grundlegung der „Neutralität“ im liberalen Verfassungsstaat angekommen. Dass sich liberale Gesellschaften und Staaten weltanschaulich und politisch neutral verhalten sollten, um so ihrem freiheitlichen Anspruch gerecht zu werden, scheint ein „neutralistisches Selbstmissverständnis“ zu sein (vgl. zum Begriff und zum Folgenden u. a.: Schwaabe 2018, insbes. S. 285). Ohne das hier vertiefen zu können, ist die dahinter stehende Kernfrage insbesondere in der Debatte zwischen den auf der einen Seite stärker wertorientierten, auf ethische gemeinschaftliche Normen hin orientierten, kommunitaristischen Demokratietheorien und den auf der anderen Seite freiheitsorientierten, auf staatliche Neutralität ausgerichteten liberalen Demokratietheorien, deutlich gestellt worden: Schafft der Staat nur
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einen rechtsstaatlichen Rahmen, der die Freiheit und Selbstbestimmung der Bürger*innen in religiösen, weltanschaulichen und politischen Fragen schützt, oder soll er dabei auch von einer (Zivil-)Gesellschaft getragen werden, die ein Set an gemeinsamen Werten teilt und im Zweifelsfall auch verteidigt. Tatsächlich ist diese kommunitaristisch orientierte politische Philosophie, dass es geteilte und im Zweifelsfall auch zu verteidigende Werte gibt, Grundlage des demokratischen Selbstverständnisses und damit auch des gesellschaftlichen Zusammenlebens und des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Die sogenannte „streitbare Demokratie“ (Jaschke 1991), die sich gegen ihre antidemokratischen Feinde zur Wehr setzt, ist historisch aus dem antifaschistischen Gründungskontext Westdeutschlands entstanden und durch den dann entstehenden Antikommunismus gestärkt worden. Bei aller Kritik im Detail ist das bis heute die demokratietheoretische Basis der Bundesrepublik. Die in diesem Rahmen entstehende Spannung zwischen den liberalen Freiheitsrechten der Bürger*innen auf der einen Seite und der Notwendigkeit gemeinsam geteilter Werte auf der anderen Seite, ist immer wieder neu zu justieren. Der aktuelle Engagementbericht 2017 hat dazu mit einem „Plädoyer für die (Bürger-)Tugend“ interessante Anregungen geliefert (Deutscher Bundestag 2017, S. 98–107), die anschlussfähig sind an die Debatte über „Bürgerbilder“ in der Politischen Bildung (vgl. Widmaier 2007).
4 Schlussbemerkungen: Rechtstheoretische Leerstelle in der Politischen Bildung Der Bundesfinanzhof hat vor wenigen Tagen in einem Urteil, das sich eigentlich mit der Frage der Gemeinnützigkeit von Attac beschäftigt, auch einige wichtige Anmerkungen zur Politischen Bildung gemacht. Im Urteilt ist u. a. zu lesen, dass „politische Bildung […] auf die Schaffung und Förderung politischer Wahrnehmungsfähigkeit und politischen Verantwortungsbewusstseins sowie auf die Diskussion politischer Fragen ‚in geistiger Offenheit‘ [zielt].“ (Bundesfinanzhof 2019, Rn 27). Soweit ich das überschauen kann, fehlt es in den Fachdebatten der Politischen Bildung an fachwissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit relevanten juristischen Fragestellungen. Diese Leerstelle zu schließen, erscheint mir für die aktuelle Gemengelage im gesellschaftlichen und fachwissenschaftlichen Diskurs dringend geboten. Um das abschließend inhaltlich etwas anzufüttern: Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem jüngsten Urteil im NPD-Parteiverbotsverfahren die NPD
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zwar als verfassungswidrige Partei beschrieben, sie aber nicht verboten. Stattdessen hat das BVervG die „ständige geistige Auseinandersetzung zwischen den einander begegnenden sozialen Kräften und Interessen, den politischen Ideen und damit auch den politischen Parteien“ als den „richtigen Weg zur Bildung des Staatswillens“ beschrieben (BVerfG vom 17.01.2017, 2 BvB 1/13, Rn 542). Aus Gründen eines „Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes“ sei es vorzuziehen, die NPD nicht zu verbieten, sondern mit „sonstigen politischen und administrativen Mitteln“ zu bekämpfen. Dazu gehören u. a. die öffentliche Aufklärung und die politische Auseinandersetzung (ebd. Rn 606). Die Begriffe der „geistigen Offenheit“ und der „geistigen Auseinandersetzung“ tauchen in Urteilen des BVerfG mit Relevanz für aktuelle Debatten in und um die Politische Bildung wiederholt auf. Für die aktuelle Diskussion über die vermeintliche Gültigkeit eines „staatlichen Neutralitätsgebots“, auch für freie Träger der Politischen Bildung, könnte etwa ein Blick in das „Lüth Urteil“ von 1958 interessant sein. Das für die Rechts- und Verfassungsgeschichte der Bundesrepublik bedeutende Urteil wird schon mal als „wichtigste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes überhaupt“ dargestellt (Roellecke 2009). In dieser Entscheidung des BVerfG ist zum ersten Mal das Grundrecht auf „freie Meinungsäußerung“ ausführlich beschrieben worden, das für das heutige Verständnis einer freiheitlichen und demokratischen Ordnung zentrale Bedeutung hat, das aber interessanterweise in der klassischen und immer wieder reproduzierten Definition der sogenannten „freiheitlich demokratischen Grundordnung“ aus dem Urteil des BVerfG zum Parteiverbot der SRP von 1952 (noch) nicht auftaucht (vgl. dazu Widmaier 2017). Dieses Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, so das BVerfG im Lüth Urteil 1958 sei „schlechthin konstituierend“ für unsere Staatsordnung, denn „es ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist.“ (BVerfG vom 15.01.1958, 1 BvR 400/51, Rn 31) Last but not least wird im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur öffentlichen Finanzierung der Stiftungen der politischen Parteien 1986 gefordert, dass diese ihre Aufgaben in der politischen Bildung eigenverantwortlich, selbständig und unabhängig von den Parteien „in geistiger Offenheit“ wahrzunehmen haben. Forschungsfragen an der Schnittstelle von Politischer Bildung und Rechtswissenschaften bzw. Rechtsgeschichte mit Verbindung zu unseren oben dargestellten Themen gibt es also reichlich. Es wäre beispielsweise nicht nur reizvoll, sondern wichtig für die weitere Debatte in der Profession der Frage nachzugehen, wie das „staatliche Neutralitätsgebot“, die „geistige Offenheit“ und die „geistige Auseinandersetzung“ mit wichtigen Themen in der Gesellschaft ins Verhältnis zu setzen sind und zu diskutieren, was politisch und/oder juristische hier stärker wiegt.
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Demokratische Haltung
Politische Bildung und die Frage der Haltung Susann Gessner
Zusammenfassung
Die mit der Verbreitung antidemokratischer Haltungen zusammenhängenden Fragestellungen berühren aktuelle wie grundsätzliche diskursive Herausforderungen politischer Bildung. Auch wenn gesamtgesellschaftlichen Problemlagen nicht allein mit Politischer Bildung begegnet werden kann, verfügt sie doch über das Potenzial, Bildungsprozesse zu initiieren, die ein tiefergehendes Verstehen im Sinne demokratischer Urteils- und Handlungsfähigkeit ermöglichen.
1 Einleitung Die Kategorie Haltung spielt in der Politischen Bildung bisher kaum eine Rolle. Der Begriff Haltung taucht im Kontext der schulischen politischen Bildung gelegentlich auf, und zwar insbesondere dann, wenn der politische Alltagsdiskurs seine Aufmerksamkeit auf gesellschaftliche Krisen – wie den zunehmenden Populismus und die Verbreitung antidemokratischer Haltungen – richtet. In diesem Kontext ist auch in der Politischen Bildung viel die Rede von ‚Haltung zeigen‘ und ‚Haltung haben‘. Tagungsthemen lauten etwa ‚Haltungen‘, oder ‚Haltung im pädagogischen Setting‘, und Forschungsverbünde untersuchen
S. Gessner (*) Philipps-Universität Marburg, Marburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_6
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z. B. ‚antidemokratische Haltungen im Kontext von Sozialisation und Bildung‘ (Forschungsverbund Antidemokratische Haltungen). Die damit zusammenhängenden Fragestellungen berühren aktuelle wie grundsätzliche diskursive Herausforderungen Politischer Bildung. Auch wenn gesamtgesellschaftlichen Problemlagen nicht allein mit Politischer Bildung begegnet werden kann, so kann dennoch nach Interventions- und Präventionsmöglichkeiten Politischer Bildung gefragt werden. Und es kann gefragt werden, ob und inwiefern die Kategorie ‚Haltung‘ eine Kategorie der Politischen Bildung sein kann und welche Überlegungen und Anschlüsse sich daraus ergeben. Über die alltagssprachliche Verwendung und Konnotation hinaus soll zunächst der Begriff ‚Haltung‘ selbst kursorisch in den Blick genommen werden. Zwei Beispiele zeigen, wie und in welchem Kontext in der Politischen Bildung auf ‚Haltung‘ verwiesen wird und welche möglichen und zu diskutierenden Anschlüsse sich hieraus für die Politikdidaktik ergeben.
2 Was ist Haltung? Der Versuch, Haltung als Kategorie zu bestimmen, erfolgt bisher vor allem in der Philosophie (Kurbacher und Wüschner 2016; Kurbacher 2016). In sozialwissenschaftlichen Kontexten wird der Begriff zumeist in seinem Alltagsverständnis verwendet. Im Folgenden sollen einige wenige Aspekte zur Begriffsbestimmung angesprochen werden, die für den hier interessierenden Zusammenhang von Politischer Bildung und Haltung weiterführend sein können. Reiner Becker (2019) beschreibt Haltung – neben Wissen (z. B. Fachwissen in der jeweiligen Domäne) und Können (methodisches Knowhow) – als eine Facette bzw. Dimension professioneller pädagogischer Handlungskompetenz. Allerdings lässt sich die Dimension Haltung nicht so leicht beschreiben: Haltung als Dimension einer professionellen Handlungskompetenz bezieht sich nicht auf die Haltung zu einzelnen Fragen, sondern auf Grundhaltungen und wertorientierte Einstellungen. Eine ‚Haltung haben‘, als Teildimension von Haltung, fragt dann nach den individuellen normativen Grundlagen und Werteorientierungen […]. (Ebd., S. 360)
Und ‚Haltung zeigen‘ ist daher – so Becker – auch „kein Synonym für sogenannte ‚Soft Skills‘, die sich als Bestandteil professioneller Handlungskompetenz allein operationalisieren lassen“ (ebd., S. 368). Vielmehr ist „Haltung ein Relationsphänomen“ (Kurbacher und Wüschner 2016, S. 5) und bezeichnet „eine grundlegende menschliche Bezüglichkeit, die immer eine Wechselwirkung
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der Bezüge zwischen Anderen, dem Selbst und der Welt ist. […] Neben den Dimensionen Wissen und Können […] ist nicht die Haltung, sondern die Entscheidung, Haltung zu zeigen, handlungsleitend […]“ (Becker 2019, S. 368). Aus einer systemischen Perspektive nähert sich Johannes Herwig-Lempp (2019) dem Haltungsbegriff und verweist auf dessen nicht unmittelbare Zugänglichkeit: Wie so vieles andere, mit dem wir uns befassen und was für uns alltäglich und wirklich zu sein scheint (z.B. Schwerkraft, Instinkt, Evolution, Widerstand, Macht, Autonomie, Eigensinn – um nur einige wenige Beispiele zu nennen), sind sie [Haltungen, S.G.] abstrakt. Als ‚Haltung‘ verstehen wir in der Regel eine (‚innere‘) Einstellung, die wir zu einem Menschen oder einem Sachverhalt haben. Wir können sie nicht unmittelbar sehen oder begreifen, sondern wir ziehen aus beobachtbarem Verhalten (jemand spricht oder verhält sich in einer bestimmten Weise) Rückschlüsse auf diese Haltung. […] Wir können all diese Haltungen nicht anfassen, glauben aber zugleich zu wissen, worum es geht, wenn wir von ihnen sprechen, fast so, als ob es sich damit um etwas ‚Begreifbares‘, real Existierendes handeln würde. (Ebd., S. 293 f.)
Haltung wird hier als Ergebnis persönlicher Perspektiven und Ansichten beschrieben. Haltungen sind dabei Ausdruck individueller und subjektiv getroffener Entscheidungen, die aber durchaus durch andere Personen und Gruppen beeinflussbar sind. Letztlich ist aber die Frage, für welchen Ansatz, d.h. für welche Theorien, Methoden und damit Haltungen ich mich in einer bestimmten Situation entscheide, […] ‚eine prinzipiell unentscheidbare [Frage]‘, d.h. sie kann nicht prinzipiell (d.h. objektiv und allgemeingültig für alle) entschieden werden, sondern nur von jedem und jeder selbst und auch immer wieder von Neuem – abhängig allein von den Subjekten selbst, ihren Ansichten und Überzeugungen, ihrer jeweiligen Situation und dem Kontext, in dem sie sich momentan erleben. Dazu gehören Fragen wie: Was halte ich für gut und richtig? Was halte ich für wahr? Woran glaube ich? Woran will ich glauben? – Sie sind nicht generell zu beantworten. (Ebd., S. 294)
3 Politische Bildung als Arbeit an Haltungen? – zwei Beispiele Beispiel 1: Anja Besand (2017) fragt, was das Auftauchen von Pegida und der zunehmende Rechtspopulismus für die Verfasstheit Politischer Bildung bedeuten. Unter dem Titel „Mit welcher Haltung machen wir unsere Arbeit?“ (Besand 2017, S. 104) adressiert sie die Akteur*innen Politischer Bildung:
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S. Gessner Die Frage, mit welcher Haltung politische Bildung ‚gemacht‘ werden soll, hat sich in der Geschichte der politischen Bildung wiederholt gestellt. Dass sie in diesen Tagen virulent wird, hat viel mit den Verschiebungen zu tun, die wir in den letzten Monaten nicht nur in unserem Land, sondern in Europa oder ganzen Welt beobachten können. (Ebd.)
Vor dem Hintergrund der damit verbundenen Verunsicherung fragt Besand u. a. nach dem Verhältnis von Professionalität und Emotionalität und stellt fest, dass das Rationalitätsparadigma der Politischen Bildung zu leichtfertig übersieht bzw. übersehen hat, dass „die Auseinandersetzung mit politischen Fragen grundsätzlich emotional fundiert ist und dass aus diesem Grund Emotionen auch aus politischen Bildungsprozessen nicht herauszuhalten sind“ (ebd., S. 109). Anknüpfend an Besands Überlegungen kommt es in diesem Zusammenhang „nicht so sehr auf eine normative Regulierung des Verhältnisses von Gefühl und Verstand [an], sondern darauf, dass der Spielraum für eine dynamische Balance dieses Verhältnisses sich in dem Maße erhöht, wie der Freiheitsgrad im Sich-Verhalten zu diesem Verhältnis wächst“ (Müller 2004, S. 105). Schule und Unterricht sind voller Emotionen, jedoch wird selten über sie gesprochen – „zumindest nicht kommunikativ-konsequent, ohne Scheu vor schwierigen Themen und peinlichen Einsichten“ (Schulz-Hageleit 2011, S. 11). Gerade die (oft unterdrückte) Mitsprache von Emotionen in Denk-, Lern- und Entwicklungsprozessen ist didaktisch zu integrieren. Den Lehrkräften kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Bedeutung zu. Peter Schulz-Hageleit geht von der These aus, dass Lehrer*innen in der Lage sein müssen, mit den emotionalen Äußerungen – auch inakzeptablen, wie etwa abwertenden und rassistischen Äußerungen – pädagogisch umzugehen. Zugleich müssen sie aber auch ein Bewusstsein dafür haben, dass „Emotionen, sowohl in der bewusst gemachten eigenen Erfahrung als auch auf der Inhaltsebene, gut geeignet sind, Lernprozesse der historisch-politischen Bildung zu fördern und dementsprechende Kompetenzen (etwa die der demokratisch reflektierten Parteinahme) zu stützen“ (ebd., S. 10). Lehrer*innen werden hier zu maßgeblichen „Schaltstellen im Geflecht der emotionalen Interaktionen“ (ebd.). Insbesondere die emotionale Stabilität der Lehrperson hebt Schulz-Hageleit für das Gelingen von Unterricht hervor und wendet sich damit gegen ein einseitig verkürztes Verständnis von Unterrichtskompetenz, das didaktisches Handeln auf die funktional erlernbare Vermittlung von Inhalten reduziert. Gerade die Beziehungsebene, also die emotionale Interaktion zwischen der Lehrperson und der Klasse, wirkt sich auf das Gelingen von Unterricht aus, ohne aber empirisch messbar zu sein und damit unmittelbar in die Unterrichtsplanung einbezogen werden zu können.
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Letztlich darf es nicht darum gehen, das Emotionale gegen das Kognitive auszuspielen, „sondern nur um eine Integration von beiden Dimensionen in der Persönlichkeit des Lehrers oder der Lehrerin, die sozusagen ein Recht auf einen persönlichen, das Emotionale integrierenden Unterrichtsstil haben“ (ebd., S. 13). Denn eine „Denkerziehung“ ohne eine emotional-moralische Beteiligung bleibt eine „intellektualisierte Luftnummer, die ohne den Aufwind von Emotionen (Sympathien und Antipathien, Wünsche, Empörungen usw.) in sich zusammenfallen muss“ (ebd., S. 22). Auch wenn Politische Bildung und ihre Didaktik die Gesellschaft nicht ‚heilen‘ oder umkrempeln kann, so kann doch darauf geachtet werden, dass Defizite und Fehlentwicklungen didaktisch nicht noch bestätigt und verstärkt werden. Als Trend zur exzessiven Intellektualisierung, in der Gefühle als ‚Konstrukte‘ überhaupt nicht mehr ernst genommen, sondern nur noch scharfsinnig ‚dekonstruiert‘ werden, ist die Gefahr nicht zu unterschätzen. Gewiss werden Gefühle historisch-politisch manipuliert, provoziert, gelenkt, verdrängt usw., aber das ist eben nicht die ganze Geschichte und vor allem nicht die Gegenwart im Klassenzimmer. (Ebd., S. 25)
Beispiel 2: Für das zweite Beispiel bedarf es eines Blicks in die Zeit nach 1945, in der die Diskussion um die Institutionalisierung Politischer Bildung im Schulwesen (wieder) beginnt. Das ist insofern interessant, als dass es damals insbesondere um die Frage nach der Demokratisierung des deutschen Bildungswesens ging. Vor allem das US-amerikanische Konzept der Re-Education spielt hier eine bedeutende Rolle: Schon die Erhaltung einer Demokratie fordert von jedem einzelnen Bürger Wissen und klares soziales Zielbewußtsein. Wieviel mehr gilt dies für ihren Aufbau von Grund aus! […] Das einzige und beste Werkzeug, um noch im gegenwärtigen Geschlecht in Deutschland eine Demokratie zu errichten, ist die Erziehung. (Vorschläge der amerikanischen Erziehungskommission vom 20.9.46, zit. n. Borcherding 1965, S. 66)
Um im Nachkriegsdeutschland Erfahrungen mit einer demokratischen Lebensform zu vermitteln, strebte die US-amerikanische Besatzungsmacht eine breit angelegte demokratische Erneuerung der Schule an (kooperativer Unterrichtsstil, Gesamtschulsystem, Schüler*innen-Mitbestimmung, neues Unterrichtsfach). Politische Bildung wurde als Aufgabe der ganzen Schule gedacht. Vor diesem Hintergrund wurde ein Theoriekonzept interessant, das einen völligen Neubeginn in der politischen Erziehung beabsichtigte: Friedrich Oetinger (Theodor Wilhelm)
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forderte mit „Wendepunkt der politischen Erziehung“ (Erstauflage 1951) eine Abkehr von der Orientierung am Staat.1 Nicht mehr staatsbürgerliche Erziehung, sondern der soziale Lebenszusammenhang solle im Mittelpunkt stehen: Demokratie als Lebensform. Und Erziehung sollte auf mitbürgerliche Kooperation und auf partnerschaftliches Verhalten in konkreten sozialen Lebenszusammenhängen (Familie, Schule, Gemeinde, Freizeit) hin ausgerichtet sein (Sander 2010, S. 88 f. und S. 113 ff.; Grammes 2011, S. 52): Das Ziel aller politischen Volkserziehung – in der Familie, in der Schule, in den Jugendorganisationen, in den Betrieben und Berufssituationen – sollte so meinen wir, die Erziehung der Menschen zu partnerschaftlicher Haltung sein. Wir verstehen unter ‚Haltung‘ einen ‚geistig-körperlichen, durch Erlebnis und Erfahrung organisierten Zustand der Bereitschaft, der die Antwort des Individuums auf alle ihm begegnenden Situationen beeinflusst‘. Haltung ist mehr als bloße Gesinnung. (Oetinger 1956, S. 158)
Die Idee demokratischen Lernens wird seither im Kontext Politischer Bildung weiterentwickelt und diskutiert. So argumentiert beispielsweise Gerhard Himmelmann (2017), dass die Schule ein Lernort der Demokratie sein kann, in der Demokratie nicht nur kognitiv-abstrakt als Herrschafts- bzw. Regierungsform im Politikunterricht zum Thema wird, sondern im Kontext der Schul- und Unterrichtskultur für Schüler*innen auch als Gesellschaftsform und als Lebensform erleb- und erfahrbar werden soll. Die dahinter liegende zentrale Frage lautet: Wie gelingt eine „echte Verknüpfung aus gelebter sozialer Erfahrung und ihrer politischen Analyse, eine erfahrungsorientierte Kategorialbildung mittels politischer Elementarphänomene?“ (Petrik 2013, S. 82). Die Diskussion darum, ob und wie ein Lernen in sozialen Zusammenhängen (Demokratie als Lebensform bspw. im Kontext einer partizipationsorientierten demokratischen Schulkultur) zugleich auch im engeren Sinne politisches Lernen ermöglichen kann, ist seither eine diskursive Frage der Politischen Bildung und ihrer Didaktik (vgl. bspw. Reinhardt 2009; Sander 2007).2 Auf diese Frage soll hier aber nicht näher eingegangen werden. Interessanter erscheinen mir in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Studie der F riedrich-Ebert-Stiftung ‚Sprichst du Politik?‘ (Arnold et al. 2011). Hier wurden 16–19-Jährige zur 1Zur
Biographie Friedrich Oetingers (Theodor Wilhelm) und zu seiner Verstrickung in den Nationalsozialismus siehe Grammes (1998) und (2011). 2Die empirische Studienlage kommt hier zu unterschiedlichen Ergebnissen, die einerseits die Transferthese widerlegen (Reinhardt 2009) und anderseits durchaus Wirkungen und Synergieeffekte beschreiben können (vgl. bspw. Wohning 2017).
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Politischen Bildung befragt. Einige ausgewählte Ergebnisse sollen kurz vorgestellt werden: • es gibt eine Grundbereitschaft bei Jugendlichen zum Mitdenken, • bildungs- und milieuunabhängig existiert ein Bewusstsein für Notwendigkeit politischer Informiertheit, • Schüler*innen wollen mehr Politikunterricht, • auf die Frage hin, wo Jugendliche mit Politik in Berührung kommen, geben 74,2 % der Jugendlichen an ‚in der Schule‘ und dann erst mit 68 % ‚in den Medien‘, • Politische Bildung in der Schule ist ein Schlüsselfaktor für Politische Bildung (Interesse und Auseinandersetzung mit Politik), • Politikunterricht in der Schule ist auch ein Korrektiv zu mitgebrachten Haltungen (Hervorh. S.G.) (z. B. aus dem Elternhaus) und kann andere, neue Perspektiven überhaupt erst eröffnen. Gerade der letzte Punkt ist bedeutsam, denn Schule kann – ähnlich wie in der Öffentlichkeit – einen Raum bereitstellen, in dem Kinder und Jugendliche auf allgemeines Wissen, aber auch auf Menschen anderer sozialer Herkunft, mit anderen Überzeugungen treffen, um sich über zentrale Fragen der Gesellschaft auseinanderzusetzen (Nohl 2018, S. 77). Gerade im Politikunterricht, in dem es um politisch-gesellschaftliche Fragestellungen geht, die immer auch mit der eigenen Verortung und Haltung in der Welt zu tun haben, können durch Kommunikation die pluralen Sichtweisen über persönlich bedeutsame gesellschaftspolitische Themen transparent werden, und auch Haltungen werden verhandelbar (Gessner 2014, S. 293). Grundlagentheoretisch interessant für die Politische Bildung ist hier die Frage, wie (politische) Haltungen überhaupt entstehen, wie sie sichtbar gemacht und in schulischen politischen Lern- und Bildungsprozessen einer Reflexion zugänglich gemacht werden können. Dazu lohnt es sich, zwischen politischem Lernen und Politischer Bildung zu differenzieren: In Bezug auf das politische Lernen im Politikunterricht liegen zahlreiche Forschungen zu Schüler*innen-Vorstellungen zu unterschiedlichsten Gegenstandsbereichen vor (z. B.: Was denken Schüler*innen über Rechtsextremismus (vgl. Fischer (2013), Migration (vgl. Lutter 2005) oder Menschenrechte (vgl. Heldt 2017). Ausgehend von einem lerntheoretischen Paradigma gehen diese Studien der Frage nach, wie identifizierte Fehlkonzepte bzw. problematische Konzepte durch kognitiv bessere Konzepte ersetzt werden können (politisches Lernen).
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Politische Bildung demgegenüber verweist auf die Entwicklung politischer Grundorientierungen bzw. Haltungen, also auf die Art und Weise, in der politische Probleme behandelt werden, und in biografischen und milieuspezifischen Erfahrungen des/der Betroffenen und seine/ ihre Handlungspraxis eingebettet sind; als solche sind sie implizit und nicht immer der reflexiven Vergegenwärtigung zugänglich. Empirische Studien haben gezeigt, dass die politischen Meinungsäußerungen und Perspektiven Jugendlicher nur im Zusammenhang mit ihren Sozialisationserfahrungen ganz grundsätzlicher Natur zu verstehen sind (Nohl 2009, S. 300).
Es ist fraglich, ob sich die politischen Einstellungen und Perspektiven Jugendlicher durch die Vermittlung von Wissen unmittelbar beeinflussen lassen: Die Art und Weise, wie man politische Probleme angeht und diskutiert (etwa in einer gerechtigkeitsorientierten, einer relativistischen oder auch einer fundamentalistischen Sichtweise), lässt sich indes durch die Vermittlung von (kommunikativem) Wissen (z.B. über den Holocaust oder über die Lage von Migranten) nicht unmittelbar beeinflussen. Politische Bildungsarbeit muss an dieser Stelle auch die Erfahrungshintergründe in Betracht ziehen, innerhalb derer diese politischen Grundorientierungen entstehen. (Nohl 2009, S. 301)
Es geht also darum, zu berücksichtigen, dass Handlungspraxen immer vor dem Hintergrund je spezifischer biografischer und milieuspezifischer Erfahrungen von Menschen verstanden werden müssen (ebd., S. 300 f.). Als ein Beispiel dafür lassen sich die Ergebnisse der Mitte-Studie (Zick et al. 2016) anführen, die zeigen, dass es hohe Zustimmungswerte zu Demokratie und demokratischen Werten gibt, sich diese aber nicht in Haltungen und im Selbstkonzept der Menschen widerspiegeln. Etwas holzschnittartig könnte das Verhältnis von Lernen und Bildung in diesem Zusammenhang folgendermaßen zusammengefasst werden: „Politisches Lernen heißt z. B., sich Wissen über das politische System der Bundesrepublik anzueignen und in das eigene Konzeptsystem zu übernehmen. Demgegenüber verweist Politische Bildung auf die Formierung politischer Grundorientierungen [Haltungen, S.G.]“ (Nohl 2009, S. 301). Der explizite Verweis auf Bildung in diesem Kontext ist m. E. auch für die Politische Bildung weiterführend und liegt in der Frage, welche Möglichkeitsräume für politische Bildungsprozesse im Sinne der Transformation von Welt- und Selbstverhältnissen sie für Jugendliche überhaupt bereitstellt (vgl. dazu bspw. Koller 2006, 2012). Der schulischen Politischen Bildung und den durch sie initiierten bzw. in ihr situierten Bildungsprozessen kommt dabei eine zentrale Rolle zu, die es Jugendlichen ermöglichen
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kann, Chancen zur Transformation zu nutzen. Unter Bildung wird dann weit mehr als die bloße Aneignung von Wissen und die Vermittlung kulturellen Kapitals verstanden. Bildungsprozesse vollziehen sich vielmehr dann, wenn Menschen Erfahrungen machen, zu deren Bewältigung ihre bisherigen Mittel und Möglichkeiten nicht ausreichen. Bildungsprozesse bestehen diesem Verständnis zufolge also in der Entstehung neuer grundlegender Formen oder Figuren des Welt- und Selbstverhältnisses in Auseinandersetzung mit Problemen, zu deren Bearbeitung die Figuren des bisherigen Welt- und Selbstverhältnisses nicht geeignet sind (Koller 2006, S. 196).
Bildungsprozesse unterscheiden sich von Lernprozessen dadurch, dass nicht nur neue Informationen aufgenommen und angeeignet werden, sondern eine Veränderung der Art und Weise stattfindet, in der Informationen verarbeitet werden. Bildungsprozesse können demnach als höherstufige Lernprozesse verstanden werden, bei denen sich der Umgang mit Wissen in grundlegender Weise verändert und neue Selbst- und Weltentwürfe hervorgebracht werden (ebd., S. 197). Wie eine Theorie solch transformatorischer politischer Bildungsprozesse konzeptionell zu fassen ist, gilt es erst auszuarbeiten. Dazu wäre zu klären, wie sich neuartige Erfahrungen als Anlässe für Bildungsprozesse genauer bestimmen lassen. Zu fragen wäre beispielsweise, ob es im Zusammenhang mit gesellschaftlichen und historischen Konstellationen typische Herausforderungen gibt, zu deren Bearbeitung politische Bildungsprozesse erforderlich sind, und „welche begrifflichen Konzepte geeignet sind, um die Grundfiguren des Weltund Selbstverhältnisses von Subjekten, als deren Transformation Bildung hier verstanden wird, theoretisch zu erfassen“ (ebd.). Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen die Transformationsprozesse von Welt- und Selbstverhältnissen näher beschrieben werden. Neben den Verlaufsformen und Bedingungen solcher Bildungsprozesse muss es vor allem darum gehen, wie transformatorisch Neues entsteht, das nicht einfach aus dem bisherigen Welt- und Selbstverhältnis abgeleitet werden kann (ebd.). Forschungsmethodologisch ergibt sich für die Politische Bildung und ihre Didaktik die Frage, wie politische Grundorientierungen bei Jugendlichen sichtbar gemacht werden können, um in politischen Lern- und Bildungsprozessen überhaupt erst reflektiert und bearbeitet werden zu können. Zu denken ist dabei an Forschungsmethodologien, die nicht nur inhaltsanalytisch arbeiten, sondern im Sinne rekonstruktiver Forschungslogik, Theorie nicht „von oben“ auf das Datenmaterial stülpen, sondern Theorie in der Forschung selbst begründen und systematisch gesellschaftliche und individuelle Kontextbedingungen einbeziehen
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(Przyborski und Wohlrab-Sahr 2010, S. 186). Die Frage ist nämlich, ob und wie schulische Politische Bildung bzw. deren strukturelle Ausgestaltung Jugendlichen bildungsermöglichende Umweltbedingungen bietet, um Entwicklungspotenziale des Welt- und Selbstverhältnisses auszuloten und um ‚innere Räume‘ und adoleszente Entwicklungsaufgaben produktiv zu bearbeiten oder im Gegenteil dazu führt, dass sich bestimmte Haltungen, Konflikte und Einstellungen im negativen Sinne verstärken.
4 Abschließende Bemerkungen Björn Milbradt (2018) geht in seinem Buch „Über autoritäre Haltungen in ‚postfaktischen‘ Zeiten“ davon aus, dass die These der Ausbreitung autoritärer Haltungen auf die Krisenhaftigkeit der gegenwärtigen Gesellschaft zurückzuführen sei, zu kurz greift. Milbradt argumentiert, dass Menschen nicht einfach nach einem Reiz-Reaktions-Schema funktionieren und auf Krisen nicht mit Autoritarismus reagieren müssen (ebd., S. 39). Er vermutet, dass sich in der Bereitwilligkeit zur Regression tiefergehende Tendenzen zeigen, die durch Rechtspopulismus aktiviert und verstärkt werden können, aber lange vor ihm entstanden sind (ebd., S. 201). Vielmehr sieht er im gegenwärtigen Populismus einen Mangel an Urteilsfähigkeit (ebd., S. 187), was damit zu tun habe, dass „weite Teile der Gesellschaft […]Aufklärungs- und Wahrheitsansprüche längst aufgegeben hätten“ (ebd., S. 207). Erfahrung und Reflexion werden durch die Anstrengungslosigkeit der bloßen Meinung ersetzt, was letztlich zur Erstarrung von Weltbildern und Haltungen führt. Nicht nur, aber gerade für die intentionale Politische Bildung stellt sich die Frage, wie hier zu intervenieren wäre und wie der komplizierte und langwierige Prozess von Erkenntnis, Erfahrung, Komplexität, Unwissenheitserfahrungen konzeptuell initiiert und unterstützt werden kann. Dazu darf Politische Bildung aber nicht instrumentell und funktionalisiert als „Feuerwehr“ zur Behebung gesellschaftlicher Krisen angefragt und auf Präventionsarbeit und schnelle Gegenstrategien reduziert werden.
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Politische Bildung und die Frage der Haltung
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Soll Politische Bildung Haltungen vermitteln? Zur Kontroverse um politische Erziehung Edwin Stiller
Zusammenfassung
Der Beitrag beginnt mit dem aktuellen Streit, ob politische Bildung neutral sein müsse oder vielmehr Haltungen vermitteln sollte. Es folgt ein kurzer historischer Rückblick auf die Geschichte der politischen Erziehung nach 1945. Argumentationslinien der Kontroverse um politische Erziehung werden vorgestellt, das spezifisch deutsche Begriffspaar „Erziehung“ und „Bildung“ auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin untersucht sowie Konturen zeitgemäßer politischer Erziehung skizziert und zur Diskussion gestellt. Der Beitrag plädiert nachdrücklich für mehr staatliche Verantwortung im Bereich der politischen Erziehung.
1 Einleitung „Es gibt daher in Zeiten, in denen allerorten von wachsender politischer Apathie gesprochen und sogar die Gefahr einer ‚Postdemokratie‘ an die Wand gemalt wird, keinen, aber auch keinen Grund, nicht die von Kant, Durkheim und Dewey begründete Tradition noch einmal wiederzubeleben und die öffentliche Erziehung als zentrales Organ der Selbstreproduktion von Demokratien zu begreifen“
E. Stiller (*) Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_7
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(Honneth 2012, S. 439). Auf diese Mahnung von Honneth hat weder die Politikdidaktik noch die Erziehungswissenschaft ernsthaft reagiert. Im Jahr 2018 fragt Ralf Pauli in der Wochenzeitung Die Zeit: „Wie erzieht man Demokraten?“ (Pauli 2018, S. 61). Es ist kein Zufall, dass aktuell nach politischer Erziehung gefragt wird und nicht wie sonst nur nach Politischer Bildung. Sieben Jahre nach dem Honneth-Plädoyer für die Wiederbelebung öffentlicher Erziehung geht es nicht mehr nur um wachsende politische Apathie oder um die Gefahr einer Postdemokratie, sondern es geht aktuell – national und international – um offene Feindschaft gegenüber einer demokratischen, pluralistischen, liberalen Gesellschaft. Trotz dieser offensichtlichen Bedrohungen der demokratischen Grundwerte wird die Frage, ob staatliche Schulbildung Haltungen vermitteln soll (bzw. muss), nach wie vor kontrovers diskutiert. Vor diesem Hintergrund führt der Beitrag in die Debatte um politische Erziehung ein, vollzieht einen historischen Rückblick – besonders bezogen auf Nordrhein-Westfalen – und entwirft im Weiteren auf der Basis eines zeitgemäßen Erziehungsbegriffs konstruktive Perspektiven für eine politische Erziehung zur Demokratie. Aus Sicht des Autors wird es Zeit, einen überzogenen staatlichen Neutralismus zu überwinden, das eigene Verhältnis zur staatlichen Ordnung zu überdenken und Menschen in der Schule gleichermaßen durch Erziehung wie durch Bildung für das aktive Eintreten für Demokratie, Menschenrechte und eine offene, pluralistische Gesellschaft zu gewinnen!
2 Zur aktuellen Notwendigkeit, neu über politische Erziehung nachzudenken Es sind in der Geschichte der Politischen Bildung immer wieder extremistische Vorfälle und bedenkliche Entwicklungen auf dem rechten Rand des politischen Spektrums, die die Forderung nach mehr Politischer Bildung oder politischer Erziehung auslösen. Hakenkreuz-Schmierereien Ende der 50er und Anfang der 60er Jahre brachten Adorno zu seiner programmatischen Aussage, dass zentrales Ziel aller Erziehungs- und Bildungsarbeit die Verhinderung eines neuen Auschwitz sei (vgl. Ahlheim und Ahlheim 2018, S. 22 ff.). Der Autor dieses Beitrags war Moderator und Moderator*innentrainer in einer landesweiten Fortbildungsmaßnahme des Landes Nordrhein-Westfalen in den 90er Jahren, die er als Reflex auf die Brandanschläge von Mölln und Solingen wertet. Walter Gagel stellte zu Beginn des BLK-Modellversuchs „Demokratie lernen und Leben“ im Jahr 2002 die Frage, ob Deutschland nach 1945 nichts oder nicht genug gelernt habe und es Zeit für eine neue „Reeducation“ sei (vgl. Gagel 2002, S. 6) Im Eskalationsjahr der rechten Exzesse und dem weltweiten Erstarken
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rechtsnationalistischer autoritärer Bewegungen 2018 schließlich wurde die Frage einer demokratischen Erziehung erneut gestellt und selbst die sonst schwerfällige KMK reagierte schnell mit entsprechenden Beschlüssen zur Stärkung der politisch-historischen Bildung und der Demokratieerziehung (KMK 2018a, b). Bislang bleibt es aber wie in der Vergangenheit bei Appellen und vereinzelten „Feuerwehr-Maßnahmen“; dabei wäre es an der Zeit, neu über das Verhältnis von Staat und demokratischer Erziehung und Bildung nachzudenken. Denn – so die Eingangsthese: In Zeiten der Demokratiegefährdung ist staatliche Neutralität oder wertbezogene Zurückhaltung staatlicher Bildungseinrichtungen kein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems.
3 Historischer Rückblick: Politische Bildung und Erziehung nach 1945 Im Jahr 1939 formulierte John Dewey – auch vor dem Hintergrund der Entwicklungen im nationalsozialistischen Deutschland – seine Vision einer kreativen Demokratie, die sowohl Ausdruck wie auch Bedingung individueller Lebensführung in einem freiheitlichen Sinne ist: „In einer Zeit, als sich tiefe Schatten über demokratische Werte in der Welt legten, brachte Dewey im berühmten Aufsatz, der anlässlich seiner 80. Geburtstagsfeier im Jahre 1939 verfasst wurde, ihr Wesen mit den moralischen Kategorien der personalen Weise des individuellen Lebens – „democracy is a personal way of individual life“ – zum Ausdruck. Weil die Demokratie nicht nur ein äußerlicher Mechanismus der politischen Institutionen, sondern das allgemeine Lebensideal darstellt, braucht sie eine angemessene Erziehung und allgemeine Ausbildung der Bürger für ihre Werte.“ (Bariṧić 2010, S. 38). Demokratie war für Dewey ein „gemeinsames Experiment der Lebensverbesserung“ (ebd., S. 50). In der Erziehung sah Dewey das wesentliche Werkzeug zur Förderung sozialen Fortschritts sowie zum Erhalt und zur Erneuerung der Gesellschaft (vgl. ebd., S. 37 ff.).1 Von solch einem Demokratiebild und Erziehungsoptimismus beseelt, bereiste die „Amerikanische Erziehungskommission“ im August 1946 den amerikanischen Sektor des Nachkriegsdeutschlands, um Grundlagen für eine
1Im
angloamerikanischen Sprachraum steht der Begriff „Education“ für Erziehung und Bildung. Im Werk von Dewey lassen sich sowohl für den Terminus „Erziehung“ wie auch für den Terminus „Bildung“ Bedeutungen aufzeigen. Barišić verdeutlicht das durch die Begriffe ‚allgemeine Ausbildung‘ und ‚angemessene Erziehung‘.
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Reeducation zu legen und gesellschaftliche Reformen anzustoßen, die einen Rückfall in die Barbarei des Nationalsozialismus verhindern sollte. Im Bericht der amerikanischen Erziehungskommission heißt es: Um in der Form der repräsentativen Regierung voll wirksam zu werden, muß die neue Demokratie ihren Geist der Gegenseitigkeit tief hineinsenken in die Familie. Er muß den Spielplatz der Jugend durchdringen, hoch hinauf in die Kirche reichen, die einfachsten Lebensvorgänge gestalten. Die Schule, für alle Kinder bestimmt, wird der fruchtbare Mittelpunkt, von dem, wie die Speichen des Rades, Geist und Methode ausstrahlen, um das gesamte Kulturleben der besonderen Gruppen zu formen. Wahrhaftig, Demokratie ist nicht ein Dogma, von dem einen als Formel aufgestellt, von anderen als Schema verehrt; sie ist der Geist der Menschlichkeit, der nirgendwo ungestraft vernachlässigt werden darf (Die neue Zeitung 1946, S. 9 ff.).
Auch die Lehrer*innenbildung sollte in diese demokratische Erziehung einbezogen werden: „Der Lehrer – jeder Lehrer! – muß zugleich zum Staatsbürger erzogen werden, zu einem wohlgeprägten Mitglied der Gesellschaft, das den ihm zukommenden Teil der öffentlichen Pflichten erfüllt und vielleicht etwas mehr tut” (ebd. S. 34). Auch die Debatte um die nordrhein-westfälische Verfassung wurde mit diesem Impetus einer grundlegenden Neuorientierung öffentlicher Schulen geführt. So wurde von Beginn an sowohl über Staatsbürgerkunde als auch über staatsbürgerliche Erziehung debattiert. Der Verfassungsausschuss formulierte parteiübergreifend im Jahr 1949 den Konsens, „dass die Kinder bereits im frühen Alter nicht nur in einem nur theoretisch-demokratischen Geist erzogen werden, sondern dass sie auch sehr frühzeitig lernen, die Instrumente der Demokratie zu handhaben“ (Heusch und Schönenbroicher 2010, S. 147). Mit diesem Doppelauftrag – staatsbürgerliche Bildung und staatsbürgerliche Erziehung – wollte der Verfassungsausschuss 1949 zum Ausdruck bringen, dass eine institutionenkundliche Unterweisung allein der historischen Situation nicht gerecht wird. Parteiübergreifend wurde im Verfassungsausschuss dafür plädiert, dass staatsbürgerliche Erziehung „auf das Wecken einer echten Gesinnung und eines inneren Erlebens“ auszurichten sei und „den ganzen Unterricht mit dieser Gesinnung durchbluten“ (zit. nach Reinhardt 1992, S. 40 f.) solle. Der nordrhein-westfälische Landtag beschloss daher in der Verfassung vom 28. Juni 1950: „In allen Schulen ist Staatsbürgerkunde Lehrgegenstand und staatsbürgerliche Erziehung verpflichtende Aufgabe“ (Verf. NRW, Art. 11) und im Schulordnungsgesetz hieß es: „Die Jugend soll fähig und bereit werden, sich im Dienste an der Gemeinschaft, in Familie und Beruf, in Volk und Staat zu bewähren. In allen Schulen ist Staatsbürgerkunde Lehrgegenstand und staatsbürgerliche Erziehung verpflichtende Aufgabe. Unterricht und Gemeinschaftsleben der Schule sind so
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zu gestalten, daß sie zu tätiger und verständnisvoller Anteilnahme am öffentlichen Leben vorbereiten“ (SchOG NRW, § 1, Abs. 4). Der erste Paragraph des Schulordnungsgesetztes schloss mit der Vorgabe: „Erzieher kann nur sein, wer in diesem Geiste sein Amt ausübt“ (SchOG NRW, § 1, Abs. 7). Ziel ist also eine Erziehung zu aktiven Staatsbürger*innen, auch im Sinne eines präventiven Verfassungsschutzes (vgl. Löwer et al. 2002, S. 175), ohne dass hier ein Bürger*innenleitbild staatlicherseits vorgegeben wird (vgl. Heusch und Schönenbroicher 2010, S. 149). Neben dem Doppelauftrag zur demokratischen Erziehung und Bildung erteilt die Landesverfassung mit dem Artikel 7 einen umfassenden allgemeinen Erziehungsauftrag, der überwiegend politische Erziehungsziele umfasst: „(1) Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor der Würde des Menschen und Bereitschaft zum sozialen Handeln zu wecken, ist vornehmstes Ziel der Erziehung. (2) Die Jugend soll erzogen werden im Geiste der Menschlichkeit, der Demokratie und der Freiheit, zur Duldsamkeit und zur Achtung vor der Überzeugung des anderen, in Liebe zu Volk und Heimat, zur Völkergemeinschaft und Friedensgesinnung“ (Verf. NRW, Art. 7). Politische Erziehungsaufträge in Verfassungen und Schulgesetzen werden von Verfassungsjurist*innen, aber auch Fachdidaktiker*innen als „soft law“ (Scherb 2008, S. 79 ff.) verstanden, die sich nicht rechtsverbindlich operationalisieren lassen und deren Erreichung sich der Messbarkeit entzieht. Daher wird es in Verfassungskommentaren auch primär in die Verantwortung der Lehrkräfte gelegt. Über seinen stark appellativen Charakter hinaus ist es aber als verbindlicher Auftrag an die Schule als System zu verstehen. Aktuelle Verfassungskommentare gehen davon aus, dass der Auftrag zur staatsbürgerlichen Erziehung nicht durch die Herausgabe von Schülerzeitungen oder Schüler*innenmitwirkung erledigt ist, da hierdurch nur eine Minderheit der Schüler*innen erreicht werden könne. Vielmehr müssten alle Schüler*innen die Möglichkeiten der praktischen Umsetzung ihrer staatsbürgerlichen Rechte kennenlernen (vgl. Heusch und Schönenbroicher 2010, S. 148). Politische Erziehungsaufträge befinden sich in einem Spannungsverhältnis zum elterlichen Erziehungsrecht und den Grundrechten der Schüler*innen. Den Beutelsbacher Konsens kann man in diesem Sinne auch als „eine Transformation verfassungsrechtlicher Minimalkonsensforderungen auf die Ebene des politischen Unterrichts“ (Scherb 2008, S. 81) verstehen. Auch an den deutschen Universitäten wurde über Erziehung zur Demokratie als Bestandteil des Studiums zwischen 1945 und dem Anfang der 50er Jahre intensiv und kontrovers diskutiert (vgl. Detjen 2016). Schließlich setzte sich aber ein szientistisches Wissenschaftsverständnis durch, in dem politische Erziehung, aber auch Politische Bildung als Element in einem Studium Generale keinen Platz hatte.
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Die Bedingungen in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre, Verfassungsaufträge zur demokratischen Erziehung und Bildung umzusetzen waren sehr schwierig. Das Schulsystem befand sich im Wiederaufbau, die Entnazifizierung im Schulbereich war weitgehend ausgeblieben (u. a. wegen des Lehrer*innenmangels), Politische Bildung oder politische Erziehung als verbindlicher Lehrgegenstand im Studium der angehenden Lehrkräfte war nicht vorgesehen und es gab keine entwickelten Studiengänge für sozialwissenschaftliche und vor allem politologische Inhalte (vgl. Detjen 2016, S. 48 ff.). So kann man z. B. erst in der Einführung der Richtlinien für den Politischen Unterricht in Nordrhein-Westfalen im Jahr 1973 einen systematischen Versuch der Schulpolitik sehen, dem Verfassungsauftrag gemäß Art. 11 der Landesverfassung Rechnung zu tragen, indem neben der Entwicklung von politischen Fähigkeiten auch die Entwicklung von Bereitschaften als normative Dispositionen angestrebt wurden.2 Im Jahr 2001 wurden die Richtlinien für den Politischen Unterricht von der Rahmenvorgabe Politische Bildung abgelöst.3 Damit wurde auch der letzte Versuch, in Nordrhein-Westfalen den politischen Erziehungsauftrag systematisch umzusetzen, durch ein Konzept der Kompetenzorientierung abgelöst, das die Entwicklung von Verhaltensbereitschaften als „normative Überlast“ (Sander 2001/2002, S. 39) ablehnte. Gagel kennzeichnete diesen Vorgang als „Entpädagogisierung“ (vgl. Gagel 2001/2002, S. 48). Sabrina Keit dagegen bewertete diese Änderung der curricularen Vorgaben in ihrer Aufarbeitung der Geschichte der Politischen Bildung in NRW als „Normalisierung“ (vgl. Keit 2017, S. 290). Aus heutiger Sicht muss allerdings bezweifelt werden, dass der Verzicht auf politische Erziehung eine Normalisierung darstellt. Vielmehr drängt sich die Frage auf, ob der Staat hierdurch nicht auf fahrlässige Weise auf den ursprünglich geplanten präventiven Verfassungsschutz verzichtet hat. Diese Abkehr von dem Anspruch, dass schulische Bildung auch systematisch versuchen muss, auf die politischen Dispositionen der nachfolgenden Generationen Einfluss zu nehmen, ist kennzeichnend für die Geschichte der Politischen Bildung in Deutschland insgesamt. Mit Ausnahme der jüngsten Vergangenheit ist Adorno einer der letzten politischen Denker, der sich explizit und prägnant für politische Erziehung ausgesprochen hat. Nicht umsonst trägt seine prominente Abhandlung von 1966 den Titel „Erziehung nach Auschwitz“
2Vgl.
den Qualifikationskatalog der Richtlinien, abgedruckt in Stiller (2017, S. 47). die Dokumentation des Ablösungsprozesses in Politisches Lernen Heft 4/2001 – 1/2002.
3Vgl.
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und nicht „Bildung nach Auschwitz“. Offensichtlich ging es Adorno um den subjektiven Faktor, die Selbstreflexion, die Haltung der Widerständigkeit. Adorno hatte den Auschwitz-Prozess gegen 20 SS-Verbrecher, der am 20.08.1965 zu Ende ging, intensiv verfolgt und seit 1959 an Erzieherkonferenzen der „Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit“ teilgenommen (vgl. Ahlheim und Ahlheim 2018, S. 24 f.). In seinen Vorträgen und Interviews thematisierte er die ausgebliebene Zivilisation der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Gegen die „Kälte der gesellschaftlichen Monade“ (Adorno 1971, S. 90) setzte er die Erziehung zur Mündigkeit. Zwischen 1945 und 1950 gab es einen breiten Konsens bezogen auf die grundlegende Erneuerung der politischen Strukturen und der politischen Erziehung, der seinen Niederschlag in Grundgesetz und Länderverfassungen fand (vgl. oben). Der Verfassungsanspruch der politischen Erziehung wurde aber in einem parteiübergreifenden Konsens bis heute nicht bzw. nicht umfassend umgesetzt. Dies sollte sich ändern! Marcelo Caruso und Stefan Johann Schatz konstatieren: „Sowohl die Ersetzung von Erziehung durch Bildung als auch die Ersetzung der Staatsbürgerlichkeit durch einen eminent demokratischen Begriff des Politischen zeugen von den Möglichkeiten belangreicher Transformationen in der Konzeption schulischer und außerschulischer Unterweisung in der Bildungsgeschichte“ (Caruso und Schatz 2018, S. 11).
4 Kritik Axel Honneth an der überzogenen Neutralitätsposition des Staates Axel Honneth kritisierte 2012 in seinem Eröffnungsvortrag zum Kongress der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft, dass „die Schule nur noch mit der Aufgabe der Anerziehung eines ‚zivilen Minimums‘“ beauftragt werde und dass „das staatliche Neutralitätsgebot derart restriktiv“ ausgelegt werde“ (Honneth 2012, S. 434). Er forderte, dass in Zeiten politischer Apathie und drohender ‚Postdemokratie‘ Erziehung wieder als „…zentrales Organ der Selbstreproduktion von Demokratien zu begreifen“ (ebd., S. 439) sei. Honneth erinnert an die lange Tradition der engen Verknüpfung von politischer Philosophie und Pädagogik, von Demokratie- und Erziehungskonzept: „Für Kant ergab sich die Parallele zwischen Regierungs- und Erziehungskunst aus der Überlegung, dass es sich bei beiden um gesellschaftlich geschaffene Einrichtungen handelt, die in den unterschiedlichen Dimensionen der Gattungsund der Individualgeschichte, der Phylo- und der Ontogenese dieselbe Aufgabe zu leisten haben; sie müssen uns durch geschickte Wahl der Mittel und
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Methoden, eben durch eine Art von ‚Kunst‘, darin unterrichten können, wie das eine Mal ein Volk von Untertanen, das andere Mal ein seiner Natur noch unterworfenes Kind aus dem Zustand der Unmündigkeit in den der Freiheit zu versetzen sei“ (ebd., S. 429). Gute Erziehung und republikanische Staatsordnung seien komplementär aufeinander angewiesen (vgl. ebd., S. 430). Besonders Dewey hat diesen Ansatz aufgegriffen und ausgebaut, daher war es nach 1945 für die amerikanische Besatzungsmacht selbstverständlich, diesen Zusammenhang als Grundlage ihrer Reeducation zu wählen. Mit der Reeducation endete auch die enge Verbindung von politischer Philosophie und Pädagogik. Die Idee einer demokratischen Erziehung verlor ihre normative Selbstverständlichkeit (vgl. ebd., S. 434). Stattdessen wurden – so Honneth – elterliches Erziehungsrecht und staatliche Neutralitätspflicht in einem Maße überbetont, das jede Parteilichkeit des schulischen Unterrichts – etwa für Demokratie und Menschenrechte – als problematisch und verwerflich angesehen wurde (vgl. ebd.).Die Position von Honneth ist im deutschen Diskurs sowohl in der Erziehungswissenschaft wie auch in den Disziplinen der sozialwissenschaftlichen Bildung lange Zeit unbeachtet geblieben. In Zeiten sich verschärfender multipler Krisen beginnt sich dies langsam zu ändern. Der Frankfurter Sozialphilosoph Julian Culp macht dies im Anschluss an die Argumentation von Honneth deutlich: Es ist so gesehen geradezu offensichtlich, dass eine demokratische Gesellschaft eine Art von Bildungs- und Sozialarbeit benötigt, welche Menschen zu Bürgerinnen und Bürgern formt, die über grundlegende demokratische Kompetenzen bzw. Fähigkeiten verfügen. Die soziale und politische Relevanz der Bildungs- und Sozialarbeit besteht also darin, dass diese dazu beitragen können, die politisch-kulturellen Voraussetzungen für ein vernünftig funktionierendes demokratisches politisches Gemeinwesen zu schaffen (Culp 2013, S. 17 f.).
Culp betont, dass gerade in Zeiten der Herausforderung des weltanschaulichen Pluralismus die Wertbasis einer offenen, pluralen, aber menschenrechtsbasierten Gesellschaft durch Bildung immer wieder hergestellt werden muss: „Gerade deswegen darf eine demokratische Gesellschaft nicht darauf verzichten, in öffentlichen Institutionen wie eben jenen Einrichtungen der Bildungs- und Sozialarbeit bestimmte moralische Einstellungen zu fördern. Andernfalls verschwindet eine auf fortwährende Selbsterneuerung angewiesene demokratische politische Kultur, auf welcher eine demokratische Herrschaftsform basiert“ (ebd., S. 21). Eine weitere aktuelle Herausforderung stellt nach Culp die Transnationalisierung dar, die es erforderlich macht, auch mithilfe von Erziehung und Bildung die Entwicklung von transnationalen politischen Identitäten zu
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unterstützen, um die Stabilität einer weltoffenen Gesellschaft gegen Nationalismus und Ressentiments zu verteidigen. Entschiedene Unterstützung der Position von Honneth und Culp findet sich auch bei Vertretern der Demokratiepädagogik. So fordert Kurt Edler: „Demokratiepädagogik und mit ihr eine sich normativ verstehende ‚Didaktik der Sozialwissenschaften‘ müssen sich vielmehr wie ein schwarz-rot-goldener Faden durch die gesamte Lehrkräftebildung ziehen – vom ersten Semester an“ (Edler 2018, S. 97). Eine Gegenposition in der Erziehungswissenschaft wird von Dietrich Benner vertreten: „In Demokratien, in denen die Regierung durch die Opposition und beide durch eine diskutierende Öffentlichkeit kontrolliert werden, sind Staatserziehung und Staatspädagogik gleichermaßen unerwünscht und verboten“ (Benner und Stepkowski 2011, S. 114). Damit stellt Benner sich offen gegen die schulischen Erziehungsaufträge in den Verfassungen fast aller Bundesländer4 (vgl. Reuter 2003, S. 32 f.). Auch in der sozialwissenschaftlichen Bildung ist die ablehnende Position gegenüber politischer Erziehung prominent vertreten. So geht Georg Lind davon aus, dass die Entwicklung von politischen Haltungen reine Privatsache sein müsse: „Haltungen, Orientierungen und Werte haben keinen Platz im Kompetenzbegriff! Eigene Haltungen und Orientierungen zu haben, ist ein Menschenrecht. Sie sind in einer Demokratie vor dem Eingriff des Staates (Schule) geschützt. (…) Dieses Wollen anzuregen und zu nähren, sollte das Hauptziel der demokratischen Schule sein“ (Lind 2016, S. 16). Hagen Weiler bestreitet sogar das Recht des Staates Erziehungsziele vorzugeben, die über reine Verhaltenserziehung als Voraussetzung für Bildung hinausgehen und die politische Haltungen betreffen (vgl. Weiler 2003, S. 10 ff.). Stattdessen plädiert er wie Lind für eine sozialwissenschaftliche Bildung, die die Entwicklung von politischen Haltungen ganz in die inneren Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung der Lernsubjekte legt. Verfassungsjurist*innen teilen diese Position des Juristen und Sozialwissenschaftlers nicht (vgl. Reuter 2003, S. 29 f.). Die Vorbehalte gegenüber politischer Erziehung sind u. a. bedingt durch die historische Belastung mit NS-Erziehung und DDR-Staatspädagogik (vgl. Benner 2001, S. 7), hängen aber auch mit der Diskreditierung von Erziehung und der Idealisierung von Bildung durch Erziehungswissenschaft und Fachdidaktik zusammen.
4Ausnahmen
Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein. Vgl. Reuter (2003, S. 32).
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5 Exkurs: Erziehung und Bildung – spezifisch deutsche Begriffsdebatte „Erziehung ist eine Zumutung, Bildung ein Angebot“ (Lenzen und Luhman 1997, S. 7) Diese Gegenüberstellung von Lenzen und Luhmann ist typisch für den Umgang mit diesem spezifisch deutschen Begriffspaar seit den 60er Jahren: Bildung werden alle positiven Attribute zugeordnet. Sie führe zur Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung. Bildung wird als aktiver Prozess des Subjekts begriffen, Erziehung als die passive Formung. Hinzu kommt, dass die Geschichte des Begriffs Erziehung – seine etymologischen Wurzeln – Erziehung als Zucht, als Gezerre und Gezogenwerden, bestenfalls als Befreiung aus der Unfreiheit als zentrale Bedeutung transportiert und so Erziehung als ein Übel erscheint, das es zu überwinden gilt. Eine solch negative Konnotation des Begriffs kann kaum zu einer positiven Praxis führen. Auch eine negative Dialektik – die Hoffnung, dass die Negation zum Positiven führe – kann am negativen Bedeutungshof nichts ändern. „Bildung“ dagegen wird verklärt und idealisiert, ohne dass kritisch geprüft wird, unter welchen realen Rahmenbedingungen sich „Bildungsprozesse“ in Post-PISA-Zeiten abspielen: Zentrale Prüfungen, übervolle Curricula, einengende Prüfungsvorgaben lassen „Bildung“ nicht als Hort der Freiheit erscheinen, sondern erzeugen eine Teaching-to-the-Test-Lernkultur, die wenig mit dem ursprünglichen Bildungsbegriff zu tun haben. Sie unterstützen eher Anpassung und „Bulimie-Lernen“ als eine Bildung zur Selbstbestimmung.5 Ein zeitgemäßes Verständnis von Erziehung müsste der Demokratisierung der gesellschaftlichen Erziehungsverhältnisse seit den 70er Jahren Rechnung tragen: Erziehung ist zunehmend gewaltfrei, dialogisch und partnerschaftlich ausgerichtet. Eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen konstatierte für die Zeit zwischen 2007 und 2015 einen deutlichen Rückgang der Jugendkriminalität und machte als eine zentrale Ursache für diesen Trend die zunehmend gewaltfreie Erziehung verantwortlich. Seit dem Ende der 70er Jahre gäbe es einen starken Wandel der elterlichen Erziehungskultur und der Rückgang der Jugendkriminalität könne als „Friedensdividende für gewaltfreie Erziehung“ verstanden werden (Pfeiffer et al. 2018, S. 35 ff.). Jugendliche sehen ihre Eltern – dies zeigen die Shell-Studien seit den 80er Jahren (vgl. zuletzt Deutsche
5Polemisch
könnte man das Zitat von Lenzen & Luhmann umkehren: „Bildung“ unter dem PISA-Regime ist eine Zumutung, Erziehung ein dialogisches Angebot!
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Shell-Studie 2016, S. 51 ff.) – überwiegend als Vorbilder und wollen ihre zukünftigen Kinder genauso oder ähnlich erziehen wie ihre Eltern, daher sehen diese Generationen Erziehung auch nicht mehr als Zumutung, sondern betrachten sie als Modell für eigene Lebensgestaltung sowie das eigene Erziehungskonzept. Die UN-Konvention für Kinderrechte aus dem Jahr 1989 stärkt die Subjektposition von Kindern und Jugendlichen in Erziehungsprozessen. Sie sind vom Lebensbeginn an als Subjekte anzuhören und zu beteiligen. Deutschland hat die Kinderrechtskonvention im Jahr 2010 vollständig übernommen, ist aber von einer konsequenten Umsetzung der Konvention weit entfernt. Lothar Krappmann, Soziologe am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, hat 2016 gemeinsam mit Erziehungswissenschafler*innen und Erziehungspraktiker*innen ein Manifest (vgl. Krappmann 2016, S. 17 ff.). veröffentlicht. Er appelliert an die pädagogische Öffentlichkeit und an die staatlichen Bildungsadministrationen, dass der gesamte Erziehungs- und Bildungsbereich seine Erziehungs- und Bildungsziele neu an der UN-Kinderrechtskonvention ausrichten müsse. Das Manifest ist für die Pädagogische Bildung deshalb sehr interessant, weil es den Gedanken der Bildung zur Gestaltung eines Lebens auf der Grundlage der Menschenrechte als Leitmotiv aufnimmt und zum Ausgangspunkt von Bildungsplanung macht. Die entscheidend neue Perspektive für die Gestaltung von Bildung ist die staatliche Verpflichtung, Kinder im Sinne der UN-Konvention als handlungsfähige Subjekte anzuerkennen und Bildung als Grundlage guten Lebens zu begreifen. Kinder und Jugendliche sind in diesem Verständnis zu befähigen, Kompetenzen als gesellschaftliche Gestaltungspotenziale zu entwickeln und Bildungsprozesse umfassend mitbestimmen und mitgestalten zu können. Die Autor*innen des Manifests gehen von einem Verständnis von Schule als Lebensund Erfahrungsraum aus, in dem lebensrelevantes Handeln im Hier und Jetzt der Schule erlebt und trainiert werden kann. Daher ist eine demokratische Schulkultur, Demokratie in Schule lernen und leben zu können, Anerkennung und Solidarität in der Schule erfahren zu können, genauso grundlegend wie der konstruktiv anerkennende Umgang mit Vielfalt. In der Dialogischen Fachdidaktik Pädagogik versuchen Heinz Dorlöchter und ich den Erziehungsbegriff zeitgemäß als • Subjekt-Subjekt Beziehung von zwei „gleichberechtigten, jedoch ungleich handlungs- und damit verantwortungsbegabter Menschen“ (Brumlik 2013, S. 7), • normativ bedingten Prozess, der in advokatorischer Absicht (vgl. ebd.) intentional auf Zukunft, die Interessen und das Wohl des Kindes bezogen ist,
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• einen durch Respekt, Solidarität und advokatorische Ethik bestimmten Prozess, • in dem zugleich die Unverfügbarkeit und Unhintergehbarkeit der Person sowie ihre Erziehungsbedürftigkeit und Bildsamkeit vorausgesetzt wird • und Erziehung als stetigen Ausbalancierungsprozess von Individualitäts- und Anpassungserwartungen verstanden wird. Bei allen Kompetenz- und Machtdifferenzen in der grundsätzlich asymmetrischen pädagogischen Beziehung ist diese nur als Interaktion und nicht als Herstellungsoder Wachstumsprozess denkbar. In diesem Interaktionsprozess werden, wie in der Abbildung (Abb. 1) veranschaulicht, Individualitäts- und Anpassungserwartungen ausgehandelt. Dies soll nicht verschleiern, dass der pädagogische Bezug immer anfällig ist für alle Formen des Missbrauchs. Hierbei handelt es sich aber um Formen der Verletzung von Kinderrechten bzw. Menschenrechten, die auch strafrechtlich belangbar sind und es handelt sich nicht um Erziehung. Die Begriffe Bildung und Erziehung stehen in der Kritik, werden z. T. aber auch synonym benutzt – beide Prozesse entwerten den Bedeutungsgehalt. Ein reflexives Begriffsverständnis muss also versuchen, sie neu – auf der Basis veränderter Menschenbilder und aktualisierter Wertmaßstäbe – zu bestimmen.
Abb. 1 Erziehung als Aushandlungsprozess. (© Stiller und Dorlöchter 2017, S. 28)
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Alfred Schäfer hat in seiner Philosophie der Bildung die Perspektiven auf die Begriffe neu geordnet: „Beide orientierten sich an der ‚Persönlichkeit‘, an der Vorstellung eines autonomen und selbstverantwortlichen Subjekts. Die Bildungstheorie zeichnet sich allerdings gegenüber der pädagogischen Denkweise durch einen Perspektivenwechsel aus. Während diese handlungstheoretisch vorgeht und Erziehung als einen Prozess intentionaler und verantwortlicher Steuerung der Personwerdung eines anderen begreift, den sie aus der Perspektive des zielorientierten Erziehers darstellt, setzt die Bildungstheorie anders an. Sie betrachtet die Personwerdung unter dem Gesichtspunkt der Eigenaktivität des sich Bildenden: Bildung, so könnte man vielleicht sagen, ist immer Selbstbildung. Aus diesem Perspektivenwechsel resultiert eine kritische Einstellung gegenüber pädagogischen Fremdbestimmungsansprüchen. Bildung steht ihrem Verständnis nach immer schon auf der Seite der möglichen Autonomie des Heranwachsenden. Deshalb findet sich in bildungstheoretischen Argumentationen immer ein kritisches Potenzial gegenüber pädagogischen Verantwortungs- und Steuerungsansprüchen“ (Schäfer 2005, S. 153 f.). In der Debatte um politische Erziehung und Politische Bildung finden sich dieselben Begriffsverständnisse wie in der Allgemeinen Pädagogik: „Die Politische Bildung unterscheidet sich von der demokratischen Erziehung dadurch, dass sie nicht einfach nach Anpassung der Bürgerinnen und Bürger an Bestehendes strebt. Sie unterliegt nicht dem Primat der demokratischen Systemadaption, sondern dem Primat der politischen Selbstverwirklichung mündiger Bürgerinnen und Bürger“ (Lange 2008, S. 431). Auch hier dominiert ein negativ konnotierter Erziehungsbegriff und ein idealistisch verklärter Bildungsbegriff. Nach Detjen (vgl. Detjen 2016, S. 19) richtet sich politische Erziehung auf die Prägung und Förderung von Einstellungen, Motivationen und habituellen Dispositionen und die Politische Bildung auf die Aneignung oder Vermittlung kognitiver Inhalte und Fähigkeiten. Erziehung wird grundsätzlich mit Affirmation gleichgesetzt und Affirmation wird ausschließlich negativ und ablehnenswert gesehen. Gernod Röken ist einer der wenigen Autor*innen die auch den Begriff der politischen Erziehung weiter verwenden und ihn gegenüber der Politischen Bildung abgrenzen (vgl. Röken 2011, S. 200 ff.). Seine enge Anlehnung an die Position von Benner führt aber auch dazu, dass er jegliche Form von Affirmation ablehnt, was die Perspektivität seines Ansatzes sehr einschränkt. Dabei hat bereits Adorno darauf aufmerksam gemacht, dass Individuen, aber auch Gesellschaften auf ein Mindestmaß an Affirmation angewiesen sind: „Erziehung wäre ohnmächtig und ideologisch, wenn sie das Anpassungsziel ignorierte und die Menschen nicht darauf vorbereitete, in der Welt sich zurechtzufinden. Sie ist aber genauso fragwürdig, wenn
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sie dabei stehen bleibt und nichts anderes als ‚well adjusted people‘ produziert, wodurch sich der bestehende Zustand, und zwar gerade in seinem Schlechten, erst recht durchsetzt. Insofern liegt im Begriff der Erziehung zu Bewusstsein und Rationalität von vornherein eine Doppelschlächtigkeit. Vielleicht ist sie im Bestehenden nicht zu bewältigen, jedenfalls dürfen wir ihr nicht ausweichen“ (Adorno 1971, S. 109). In einem zeitgemäßen Verständnis von politischer Erziehung müssen Affirmation (gegenüber dem N icht-Verhandelbaren6) und Kritik (dem stetigen Bemühen um weitere Demokratisierung) in der Balance sein. Im aktuellen KMK-Beschluss „Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule“ wird politische Erziehung in der Überschrift genannt und der Erziehungsauftrag der Schule wird erwähnt (KMK 2018a, S. 5), aber nicht expliziert. Der Beschluss bestätigt aber die Nicht-Verhandelbarkeit der Grundprinzipien unserer politischen Ordnung und bekräftigt den Auftrag an alle in Schule pädagogisch Tätigen, die demokratischen Werte und Haltungen offensiv zu vertreten und zu verteidigen. Der KMK-Beschluss zur Menschenrechtbildung hat in der Überschrift Menschenrechtserziehung durch Menschenrechtsbildung (gegenüber Vorläufer-Beschlüssen) geändert, erteilt aber explizit den Auftrag „zu einer menschenrechtssensiblen und -fördernden Haltung zu erziehen“ (KMK 2018b, S. 3). In den KMK Beschlüssen ist also der Umgang mit dem Begriffspaar Erziehung und Bildung nicht konsistent und klar. Sie sind aber dennoch ein deutliches Zeichen, dass die Notwendigkeit erkannt wurde, die Bemühungen um die politische Integration der nachfolgenden Generationen zu verstärken. In ihrem Handbuch-Beitrag zur politischen Erziehung unterscheiden Grammes und Welniak (2012, S. 677) drei Funktionen politischer Erziehung: • Herrschaftslegitimierung (affirmativer Gesinnungsunterricht), • Mission („Feuerwehraktionen“ Politischer Bildung in Krisensituationen), • Mündigkeit (Primat des Subjekts vor der Politik). Demgegenüber kennzeichnen die Autoren Politische Bildung durch die drei Elemente des Beutelsbacher Konsenses (Überwältigungsverbot, Kontroversprinzip, Subjektorientierung). Auch hier wird Affirmation vollständig abgelehnt und der NS- oder DDR-Pädagogik bzw. der Staatsbürgerkunde des Kaiser-
6Grundrechte,
Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat stehen unter Veränderungsschutz nach Art. 79 (3) GG und sind nicht daher verhandelbar.
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reichs zugeordnet. Die Kategorie Mündigkeit öffnet aber den Blick für ein subjektorientiert-dialogisches Erziehungsverständnis, das allerdings nicht weiter ausgeführt wird. Die Autoren identifizieren auf fünf Ebenen Möglichkeiten politischer Erziehung (vgl. ebd., S. 679 f.): 1. Interaktions- und Kommunikationsformen: Erziehungsstil. Autorität, Disziplin, Freiheit und Verantwortung in Verhandlung mit der Erwachsenengeneration, 2. Fachunterricht in der sozialwissenschaftlichen Fächergruppe: Reflexion, Simulation sowie reales politisches Handeln, 3. Fächerübergreifender Unterricht (politische Erziehung als Unterrichtsprinzip: Partizipation der Lernenden, Aneignung und Präsentation von Wissen, 4. Schulverfassung: Schüler*innenmitbestimmung, Klassenrat, 5. Öffnung zum zivilgesellschaftlichen Umfeld: Service-Learning, Projektlernen. Nach Grammes und Welniak „gestaltet der lernende Mensch die lernende Gesellschaft“ (ebd., S. 681) durch politische Erziehung. Sie warnen, dass politische Erziehung sich nicht an erziehungsstaatlichen Idealen orientieren solle und dass die nachfolgende Generation nicht für die Interessen der Erwachsenen funktionalisiert werden solle. Dennoch beschreiben sie Möglichkeiten politischer Erziehung, die einen Beitrag zur Selbstkonstitution der demokratischen und offenen Gesellschaft leisten kann. Gemeinsamkeiten und Unterschiede Politischer Bildung und politischer Erziehung lassen sich zeitgemäß, wie in der Tabelle (Tab. 1) vorgeschlagen, neu ordnen: Das Modell des politischen Mindsets aus der ICCS-Studie 2016 (Abs und Hahn-Laudenberg 2018, S. 7 ff.) wurde hier mit berücksichtigt, weil es das einzige aktuelle Outcome-Modell politischer Erziehung und Politischer Bildung ist, das in einer ganzheitlichen Betrachtung Wissensbestände, Einstellungen und Werte, Identitätsdimensionen und praktische Partizipation als Einheit von denkenden, wertenden und handelnden Personen zusammenführt. Außerdem teilen die Autor*innen der Studie die Auffassung, dass die politische Erziehung und Politische Bildung zur Demokratie eine Zukunftsaufgabe darstellt: „Wenn die Auseinandersetzung mit der Demokratie im Sinne des immer neuen Hervorbringens von Demokratie, als Teil einer Erziehung zur Demokratie in Zeiten gemäßigter Diskurse als eine wichtige Aufgabe der Schule für die Nachhaltigkeit eines demokratischen Systems betrachtet wird, so gilt dies umso mehr in Zeiten der Infragestellung von bislang weitgehend akzeptierten Grundlagen. Schule wird angesichts der aktuellen Problemlagen wieder stärker auf ihr Potenzial
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Tab. 1 Gemeinsamkeiten und Unterschiede politischer Bildung und politischer Erziehung Bildung
Erziehung
Menschenbild
Unverfügbarkeit und Unhintergehbarkeit der Person Relationalität, Reflexivität, Produktivität
Allgemeine Zielsetzung
Mündigkeit als gemeinsames Ziel von Erziehung und Bildung Selbstbildung und Selbsterziehung in Subjekt – Subjekt – Beziehungen
Perspektive
Eigenaktivität (im Rahmen von Formatierungspraktiken) Selbstbezug
Intentionale Einflussnahme Personaler Bezug
Politisches Mindset als Ensemble von Wissen, Haltung, Identität und Handeln
Wissen + Argumentieren Identität
Einstellungen + Werte Partizipation
Spezielle Hervorbringung
Singularity (Reckwitz) Individualität, Eigenwohl Pluralität
Generality (Reckwitz) Sozialität, Gemeinwohl Verantwortung
befragt, den gewaltfreien und verbindenden Umgang mit Konflikten, Toleranz und wechselseitige Anerkennung angesichts einer diversifizierten Schülerund Lehrerschaft einzuüben. Der Frage, wie es Schule und Unterricht gelingen kann, Schüler*innen in der Entwicklung ihrer Kompetenzen und politischen Identitäten zu unterstützen, um eine mündige Orientierung und Partizipation zu ermöglichen, darf als bedeutsame Zukunftsfrage betrachtet werden“ (Abs und Hahn-Laudenberg 2018, S. 13). Reckwitz hat in seiner Studie „Die Gesellschaft der Singularitäten“ darauf hingewiesen, dass wir es im globalisierten und digitalisierten Zeitalter mit einer auf die Spitze getriebenen Individualisierung der Gesellschaft zu tun haben – mit allen Chancen und Risiken. Zugleich macht er darauf aufmerksam, dass gerade in Zeiten der Singularitäten eine Krise des Allgemeinen entsteht, was als Pendant zum „doing singularity“ ein „doing generality“ erfordert (vgl. Reckwitz 2017, S. 429 ff.). Hieran sollten sich politische Erziehung und Politische Bildung beteiligen.
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6 Politische Erziehung heute „Wie sollen wir es schaffen, unsere Staatsbürger und Migranten zu überzeugen, dass die Demokratie etwas Tolles ist und es meistern kann, die weltweiten Probleme zu lösen, wenn politisch niemals eine solche Stimmung vermittelt wird?“ (Jugendliche*r zitiert nach Probst 2017, S. 79). Demokratische Grundüberzeugungen entstehen nicht von selbst, gerade in Zeiten multipler Krisen und Gefährdungen. Vielmehr müssen politische Erziehung und politische Bildung diese demokratischen Grundüberzeugungen gezielt fördern. Zunächst soll der Gang der Argumente noch einmal zusammengefasst werden, um die Basis für eine Neubewertung und Neuausrichtung politischer Erziehung zu ermöglichen: • Die aktuelle gesellschaftliche und politische Situation erfordert eine Neubestimmung und Neuausrichtung von Politischer Bildung und politischer Erziehung. • Nach 1945 gab es einen breiten Konsens, dass politische Erziehung für die Neukonstituierung eines demokratischen Deutschlands unverzichtbar ist. • Der Begriff der politischen Erziehung wurde in den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen weitgehend diskreditiert und durch einen Bildungsbegriff ersetzt, der politische Haltung gänzlich als Privatsache deklariert und politische Erziehung als affirmativen Übergriff denunziert. • Ein zeitgemäßer Erziehungsbegriff geht davon aus, dass Erziehung nie ein Prozess der ‚Herstellung‘ oder ein Prozess des ‚Wachsen-Lassens‘ sein kann, sondern immer und grundsätzlich ein interaktiver Prozess des Aushandelns. • Politische Erziehung ist daher dialogisch auszurichten. Die ‚Erzieher*innenseite‘ muss aber auf die offensive Vertretung unverhandelbarer Bestandteile unserer politischen und gesellschaftlichen Ordnung vorbereitet sein und überzeugende und stimmige Handlungskonzepte entwickeln. Die Schulpädagogin Ilona Esslinger-Hinz verlangt von der Schule ein klares normatives Bekenntnis zu ihrem Erziehungs- und Bildungsauftrag. Ausgehend von der Prämisse, dass man nicht nicht erziehen kann und abgeleitet aus einem anthropologisch-bildungstheoretischen, einem entwicklungspsychologischem und einem gesellschaftlichen Begründungsstrang stellt sie Zielperspektiven für schulische Erziehung und Bildung auf. In einem ganzheitlichen Verständnis umfassen sie kognitive, emotionale, soziale und handlungsbezogene Kompetenzen, die alle darauf gerichtet sind, das Einstehen für Demokratie und Menschenrechte mit Nachdruck zu fördern. (vgl. Esslinger-Hinz 2018, S. 45)
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Alle Zielperspektiven wären ebenfalls aus einem vierten Begründungsstrang, dem verfassungs- und menschenrechtlichen Begründungsstrang zu legitimieren. Diese Zielperspektiven betreffen alle fünf von Grammes und Welniak skizzierten Ebenen politischer Erziehung, sind aber aus der Perspektive der Allgemeinen Pädagogik bzw. Schulpädagogik formuliert. Ausgehend von den Debatten der sozialwissenschaftlichen Fachdidaktik und in der Tradition von Adorno, Honneth u. a. könnten folgende Akzentuierungen explizit politischer Erziehung entwickelt werden: • Ermutigung, Ermunterung und Unterstützung beim Aufbau einer demokratischen politischen Identität, • Ermutigung, Ermunterung und Unterstützung einer Bereitschaft zur aktiven Bürgerschaft, zur Übernahme von gesellschaftlicher Verantwortung und politischem und sozialem Engagement, • Förderung personaler Kompetenzen: Selbstreflexion, Subjektstärkung, Widerspruchs- und Widerstandsfähigkeit, • Förderung sozialer Kompetenzen: Perspektivübernahme, Empathie, Anerkennung, Solidarität, Kooperation und Kollaboration, • Förderung emotionaler Kompetenzen: Emotionssensibilität (vgl. Petri 2018, S. 123 ff.), Empathie, Mitgefühl, • Förderung einer demokratischen Streitkultur: Ambiguitätstoleranz, Konfliktfähigkeit, Streitkultur, Fairness. Für diese Akzentuierungen politischer Erziehung sind die Fächer der sozialwissenschaftlichen Fächergruppe Referenzfächer mit besonderer Bedeutung, d. h. der sozialwissenschaftliche Fachunterricht hat hier eine Leit- und Orientierungsfunktion. Zugleich betreffen sie im Kern die Interaktion von Lehrenden und Lernenden, die Schulkultur, fächerübergreifende Projekte und außerschulische Aktivitäten. Lehrkräfte sind zunehmend bereit, demokratischer Wertorientierung und demokratischer Werterziehung eine größere Bedeutung zuzumessen – dies zeigt die aktuelle Studie der Universität Tübingen: „Insgesamt verdeutlichen die Befunde der Studie ‚Wertorientierungen und Werterziehung von Lehrerinnen und Lehrern in Deutschland‘ dass sowohl Eltern schulpflichtiger Kinder als auch Lehrerinnen und Lehrer das Thema ‚Werte‘ als sehr wichtig empfinden und eine Diskussion über die Werte mit Blick auf die aktuelle gesellschaftliche Situation in Deutschland als notwendig erachten (…) Auch eine große Anzahl an Bildungsund Erziehungszielen, in denen sich zentrale Werte und Normen der Gesellschaft widerspiegeln und die in den Landesverfassungen sowie Schulgesetzen verankert
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sind, erfährt durch die Eltern sowie durch Lehrerinnen und Lehrer eine hohe Zustimmung“ (Drahmann et al. 2018, S. II f.). Die Zustimmungswerte für explizit politische Werterziehung liegen zwischen 80 % und 90 %. In der Studie werden vier „Werterziehungsstile“ (vgl. ebd., S. 6 ff.) vorgestellt: • „Der romantische Werterziehungsansatz“ (setzt auf die Hilfe zur Selbstentfaltung von Werthaltungen, Lehrpersonen stellen nur das Material der Auseinandersetzung mit Werten zur Verfügung), • „Der technologische Wertvermittlungsansatz“ („direct teaching“ kognitive Belehrung), • „Der entwicklungsfördernde Werterziehungsansatz“ (Kohlberg-Ansatz, Bearbeitung von Dilemmata), • „Der Vorbildansatz“ (Lehrpersonen als glaubwürdige Modelle für die vertretenen Werte). Die von der Universität Tübingen initiierte Befragung der Lehrkräfte ergab in didaktisch-methodischer Hinsicht eine Präferenz für den an Kohlberg orientierten Ansatz: Die Lehrerinnen und Lehrer verwenden insbesondere den Ansatz der progressiven Moralerziehung im Unterricht, um Werte zu vermitteln bzw. eine Auseinandersetzung mit diesen zu fördern. Der Ansatz der technologischen Wertevermittlung und der Vorbildansatz werden im Vergleich zur progressiven Moralerziehung weniger häufig eingesetzt und der romantische Werterziehungsansatz wird am wenigsten durch die befragten Lehrerinnen und Lehrer im eigenen Unterricht zur Anregung einer Auseinandersetzung mit Werten angewandt (ebd., S. 27).
Eine einseitig auf die Dilemma-Methode setzende Unterrichtspraxis wird aber den Herausforderungen der gegenwärtigen Situation nicht gerecht. Hilfreich erscheint hier die Orientierung an der Philosophie der Verantwortung von Hans Joas sowie seinen Hinweisen für die erfolgreiche Umsetzung im Schulbereich. Joas geht davon aus, dass Werterziehung bzw. Wertevermittlung immer als Aneignungsprozess betrachtet werden muss. Werte können nicht verordnet werden, sondern sie werden vom wertenden Subjekt in einem Selbstbildungsund Selbsttranszendenzprozess angeeignet, aber unter unmittelbarer Co-Verantwortung, Anleitung und Modell-Sein der Lehrkräfte. Joas nennt dafür fünf Gelingensbedingungen: 1. Es muss personal glaubwürdig vermittelt werden, 2. Die Institution muss einen glaubhaften Rahmen bieten,
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3. Eine Erfahrungsbasis muss gegeben sein, 4. Es muss in fachliche Kontexte eingebettet sein und 5. Probleme in der Wertevermittlung müssen als Chance der kritischen Prüfung gesehen werden (Vgl. Joas 2006, S. 8 f.). Diese Gelingensbedingungen entsprechen durchaus den von Grammes und Welniak skizzierten Ebenen politischer Erziehung und können daher auch eine gute Prüfgrundlage für die Neukonstitution politischer Erziehung sein.
7 Ausblick Wenn man den Auftrag zur politischen Erziehung in den Verfassungen der meisten Bundesländer – hervorgehoben hier Nordrhein-Westfalen mit dem Doppelauftrag staatsbürgerliche Bildung und staatsbürgerliche Erziehung – sowie die Konkretisierungen in den Schulgesetzen der Länder beim Wort nimmt und nicht nur als veraltete rhetorische Überbleibsel aus der Nachkriegszeit betrachtet, dann hätte dies weitreichende Konsequenzen: • Jede Schule ist Demokratieschule!7 • Jede Schule ist Schule ohne Rassismus! • Jede Lehrkraft ist Demokratielehrkraft! Daher brauchen wir eine demokratische Grundbildung in allen Phasen der Lehrer*innenbildung. Neue Lehrplangenerationen müssen den demokratischen Bildungs- und Erziehungsauftrag als Fundament für curriculare Planungen begreifen und dürfen es nicht bei rhetorischen Einleitungsfloskeln belassen. Um möglichst viele junge Menschen für das aktive Eintreten für Demokratie, Menschenrechte und eine offene, pluralistische Gesellschaft zu gewinnen, sollte über das Verhältnis von politischer Erziehung und Politischer Bildung neu nachgedacht werden.
7Nicht
nur ausgewählte Programmschulen, die sich dem Demokratieanspruch freiwillig verbunden fühlen.
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Demokratisierung durch Partizipation
Demokratisches Bewusstsein durch Demokratiekompetenz und Partizipation Helen Schroeder und Lucas Valle Thiele
Zusammenfassung
In diesem Essay berichten wir Schüler*innen von unseren Erfahrungen mit Demokratiebildung an Schulen und knüpfen dies an konkrete Forderungen. Bei der Frage nach einer Stärkung der Demokratiebildung an Schulen sind für uns zwei Betrachtungsebenen entscheidend: Demokratiekompetenz und Partizipation. Nur wenn diese beiden grundlegenden Bedingungen hinreichend ausgeprägt sind, ist es möglich, ein demokratisches Bewusstsein unter allen Schüler*innen zu schaffen. Insgesamt beobachten wir, dass das Thema der Demokratiebildung derzeit einen hohen Stellenwert genießt und hoffen, dass dieser nicht verloren geht, sondern weiterhin gestärkt wird. Wenn wir auf die Welt blicken, sehen wir zunehmendes Misstrauen in die Demokratie, wir sehen ein Erstarken autoritärer und antidemokratischer Tendenzen. Wir sollten uns nicht fragen, ob mehr Demokratiebildung notwendig ist, sondern wie sie umzusetzen ist. Allen von uns ist klar, dass sich etwas ändern muss. Zwar genießt das Demokratieprinzip im Grundgesetz Ewigkeitsgarantie, doch sollten wir uns bewusst machen, dass die Demokratie keine Selbstläuferin ist, sondern von den Menschen lebt, die sich für sie einsetzen. Deshalb müssen wir uns alle selbst in der Pflicht sehen, für eine starke und lebendige Demokratie einzutreten. Wir Jugendlichen sind die Zukunft H. Schroeder (*) · L. Valle Thiele Landesschüler*innenausschuss (LSA), Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_8
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unserer Gesellschaften, weshalb gerade die Schule als geschützter Raum eine zentrale Rolle für die Demokratiebildung einnimmt.
1 Demokratiekompetenz 1.1 Das Schulfach Politische Bildung Es gibt keine weitere Forderung, die der Landesschüler*innenausschuss mit so einer Kontinuität und Hartnäckigkeit trug, wie die eines eigenständigen Schulfaches politische Bildung. Wenngleich wir mit unserem Anliegen Erfolg hatten, wird noch immer häufig nach der Notwendigkeit eines separaten Faches gefragt. Beginnen möchten wir unsere Argumentation mit einer persönlichen Erfahrung aus der Praxis. Im September 2016 sitze ich in der ersten Stunde meines ersten Politikunterrichts. “Was ist Föderalismus?” ist die erste inhaltliche Frage, die uns gestellt wird. Neben mir meldet sich noch ein anderer Schüler, ansonsten niemand. Es ist vermutlich einer der prägenden Momente, in denen mir klar wird, wie schlecht es um unsere politische Bildung steht. Auf meiner Schule weiß im 11. Jahrgang kaum jemand, was Föderalismus bedeutet. Was mich schockierte war den Initiator*innen von “Politik als Schulfach” schon lange aufgefallen: Es fehlt Schüler*innen an politischen Grundkenntnissen.
In seiner Anfangsphase führte die Initiative „Politik als Schulfach“ eine Umfrage zur politischen Bildung an Berliner Oberschulen durch. 80 % der Schüler*innen konnten nicht korrekt beantworten, was der Unterschied zwischen Erst- und Zweitstimme bei der Bundestagswahl ist. Die Deutung dieser und weiterer Umfrageergebnisse ist klar: Der Stand der politischen Bildung an unseren Schulen ist katastrophal. Doch warum ist das so? Die Antwort wirkt trivial, doch wird sie kaum ein*e Berliner Schüler*in bestreiten: Wir erfahren kaum politische Bildung in der Schule. Zwar war Politische Bildung bislang offiziell mit einem Drittel im Fächerverbund mit Geschichte integriert, doch wird das Fach in diesem Verbund praktisch kaum bis gar nicht unterrichtet. Diese Ausblendung der politischen Bildung lässt sich einigen Lehrkräften gewiss vorwerfen, jedoch besteht in dieser Konstellation viel eher ein grundsätzliches Problem. Zwei Fächer in einem zu unterrichten, geht nach unserer Erfahrung immer mit der Gefahr einher, dass eines der Fächer vernachlässigt wird. Zwar ist der fächerübergreifende Aspekt zwischen Geschichte und Politik besonders stark, doch sind beide Fächer so wichtig, dass ein unabhängiges und umfassendes Unterrichten
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beider Gebiete verbindlich gewährleistet werden muss. Aus dieser Überzeugung entstand 2011 die Initiative „Politik als Schulfach“, deren Forderung seit 2014 vom Landesschülerausschuss Berlin mitgetragen wird. Wir sind überzeugt, dass gerade Unwissen über ein System Misstrauen diesem gegenüber hervorruft. Niemand lässt sich für ein System begeistern, das er*sie nicht versteht. Wenn in der Schule, deren maßgebliche Aufgabe es ist, uns Schüler*innen im Prozess der Mündigkeitsbildung zu begleiten, nicht der Grundstein für ein allgemeines Demokratieverständnis gelegt wird, kann man nicht erwarten, dass eine Generation aufwächst, die sich interessiert und beteiligt. Jede*r einzelne Schüler*in muss mit der Beendigung der gesetzlichen Schulpflicht über das Wahlrecht, die Wahl- und Partizipationsmöglichkeiten und vor allem über die grundlegenden Werte und Prinzipien der Demokratie aufgeklärt sein. Neben dieser Informationsgrundlage müssen in gutem Politikunterricht ebenso verschiedene Methoden erlernt werden. Diese müssen es Schüler*innen ermöglichen, Zusammenhänge zu hinterfragen, zu diskutieren und sich eine eigene Meinung zu bilden. Die Differenzierung zwischen Objektivität und Subjektivität, beeinflussenden, vielleicht sogar manipulierenden Meinungen, sowie das Abwägen von Argumenten und Werten sind für ein gutes Demokratieverständnis notwendige Kompetenzen. Im Januar 2018 wurde nach intensiven Diskussionen die Einführung eines eigenständigen Faches Politische Bildung beschlossen. Zwar gibt es berechtigte Kritik an der Lösung, doch bewerten wir die Einführung dennoch als großen Erfolg und sind gespannt auf die Umsetzung ab dem Schuljahr 2019/2020. Zusätzlich ist die Tatsache, dass es sich dabei um eine erfolgreiche Schüler*inneninitiative handelt, sehr positiv hervorzuheben. Es ist ein gutes Beispiel für gelungene Partizipation auf einer hohen Ebene und zeigt uns und anderen Schüler*innen, dass wir etwas bewegen können. Außerdem haben wir daraus gelernt, wie langwierig demokratische Prozesse sein können und wie wichtig es ist, hartnäckig zu bleiben. Von der Gründung der Initiative 2011 bis zur Einführung des eigenständigen Fachs Politik im Sommer 2019 dauerte es insgesamt 8 Jahre, in denen die Forderung von verschiedenen Schüler*innen kontinuierlich vertreten wurde. Abschließend möchten wir noch betonen, dass wir uns auf diesem Erfolg keineswegs ausruhen dürfen. Denn Demokratiebildung ist nicht unbedingt gleich gute Demokratiebildung und für eine umfassende Demokratisierung von uns Jugendlichen ist noch einiges zu tun.
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1.2 Demokratiekompetenz in anderen Fächern In Fächern jenseits der Gesellschaftswissenschaften machen wir vor allem zwei Beobachtungen: Erstens werden viele Chancen Demokratiebildung zu leisten, nicht genutzt. Zweitens weist unser Unterricht noch immer ein großes Defizit auf, wenn es um das kritische Hinterfragen von Zusammenhängen geht. Es gibt kein Fach, das nicht politisch ist. Gerade in Fächern, von denen man es nicht erwartet, zeigen sich ausgezeichnete Möglichkeiten, die Inhalte mit politischen Fragen zu verknüpfen. In Physik zum Beispiel bieten sich Einheiten zu Themen wie Atomwaffen und der Verantwortung der Wissenschaft an. Auch grundsätzliche Fragen, wie die nach der Sinnhaftigkeit von Grundlagenforschung, sind sehr politisch. Im Deutschunterricht und den Fremdsprachen sehen wir durchaus die Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen. Im Fach Englisch befasst man sich im zweiten Semester beispielsweise umfassend mit dem „American Dream“ und setzt sich kritisch mit seiner Aktualität auseinander. Leider stellen wir aber fest, dass solche Themen meist Gegenstand des Unterrichts in der Oberstufe sind und in der Mittelstufe kaum angesprochen werden. Der zweite Aspekt des kritischen Denkens ist allgemein zu verstehen und lässt sich auf alle Fächer anwenden. Natürlich ist ein grundlegendes Wissen in jedem Unterrichtsfach erforderlich, doch wünschen wir uns einen verstärkten Fokus auf kritisches Denken. Der Großteil unseres Mathematikunterrichts besteht zum Beispiel darin, strukturiert Schemata abzuarbeiten, die jedoch nur selten hinterfragt werden. Ein gutes Beispiel ist ebenfalls der Deutschunterricht. Wir lernen seit der Grundschule etliche Regeln der Rechtschreibung und Grammatik, die wir unkritisch zu befolgen haben. Erst im 11. Jahrgang stellt sich dann die Frage, ob es überhaupt „gutes Deutsch“ gibt und welche Rolle kontextabhängige Konventionen für unsere Sprache spielen. Wir fordern keineswegs, alles zu relativieren und überhaupt nicht mehr Rechtschreibung zu lernen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Inhalten eines Faches muss zwar dem Alter angemessen erfolgen, darf aber nicht erst in der gymnasialen Oberstufe erfolgen, von der ein Großteil der Schüler*innen ausgeschlossen ist. Kritisches Denken ist für uns ein grundlegender Schlüssel zu Mündigkeit und Demokratiebildung.
1.3 Demokratiebildung und digitale Bildung Einen besonderen Schwerpunkt möchten wir auf das kritische Hinterfragen moderner Technologien setzen, das im Angesicht der Digitalisierung immer
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relevanter wird. Unsere Gesellschaft durchläuft eine digitale Transformation, von deren Folgen kein Lebensbereich ausgenommen ist. Von der Vorhersage von Straftaten bis hin zur Frage, wen wir daten und wen nicht; immer mehr Entscheidungen werden automatisiert durch Computer gefällt. In dieser Zeit der Digitalisierung und Automatisierung dürfen wir nicht aufhören zu fragen, was hinter diesen Technologien steckt. Blindes Vertrauen stellt hier eine große Gefahr dar. Denn natürlich hat die Digitalisierung auch direkte Auswirkungen auf unsere Demokratie. Alternative Fakten, Filterblasen, Social Bots, etc. wirken direkt auf den Inhalt und die Form unserer Diskurse. Andererseits sind auch die großen Chancen, die die Digitalisierung für unsere Demokratie darstellt, nicht auszublenden. Chancen erleben wir im Rahmen unserer Schüler*innenvertretungsarbeit zum Beispiel darin, dass Umfragen unter Schüler*innen deutlich schneller organisiert werden können. Auch das gemeinsame Arbeiten, wie zum Beispiel an diesem Essay durch ein Online-Dokument, kann effizienter gestaltet werden. In jedem Fall haben die neuen Medien einen enormen Einfluss auf unsere Demokratie, sowohl im Positiven als auch im Negativen. Deswegen ist es eine wichtige Aufgabe der Schule, Aufklärung zu leisten. Nur so wird ein reflektierter Umgang mit den neuen Medien sichergestellt und die Chancen, die der digitale Wandel mit sich bringt, können bestmöglich genutzt werden. Statt sich aber im Unterricht kritisch damit zu beschäftigen, reagieren viele Schulen leider mit einer Ausblendung des Themas, zum Beispiel durch pauschale Handyverbote. Wir sprechen uns deutlich gegen solche Verbote aus. Sie machen den Umgang für die Schule zwar einfacher, doch verlagern sie bestehende Probleme in erster Linie, anstatt sie zu lösen. Schule sollte ein Spiegel der Gesellschaft sein und uns auf unser späteres Leben vorbereiten. Daher ist digitale Bildung für eine erfolgreiche Demokratiebildung essentiell.
2 Partizipation Wir sind der Überzeugung, dass Demokratie an den Schulen selbst gelebt werden muss. Wenn wir mündige, aktiv gestaltende Mitglieder unserer Gesellschaft werden sollen, ist es wichtig, dass wir schon früh die Erfahrung machen, etwas bewegen zu können, dass unsere Stimme gehört wird und etwas zählt. Natürlich muss dies in einem dem Alter angemessenen Rahmen stattfinden, doch gibt es in unseren Augen keine „Untergrenze“, bei der die Partizipation anfangen sollte. Selbst Vorschulkinder können an Prozessen wie der Spielplatzplanung sehr gut
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beteiligt werden. Partizipation macht Demokratieerziehung möglich, die jedoch nicht „von oben verordnet“, sondern selbstwirksam ist. Beteiligung schafft nicht nur die Erfahrung, etwas bewegen zu können, sie macht es uns auch möglich, demokratische Prozesse kennenzulernen. Wir lernen, unsere Forderungen zu formulieren, zu begründen und vor allem gemeinsam zu diskutieren. Wir lernen, Pluralismus zu würdigen und Kompromisse zu finden. Partizipation ist in unseren Augen sogar mehr als nur ein Mittel zur Demokratiebildung. Sie hat auch einen selbstständigen Wert und tut der Schulgemeinschaft gut. Sie führt dazu, dass wir einander besser zuhören und Probleme ans Licht kommen, die ohne die Schüler*innenperspektive nicht erkannt werden. Natürlich stellt sich auch die Frage nach den Grenzen der Partizipation. Obwohl der Begriff zu Recht sehr positiv konnotiert ist, lässt sich problematisieren, wie mit einer Beteiligung von Schüler*innen umzugehen ist, die zum Beispiel rassistische Ziele verfolgen. Hierzu vertreten wir eine klare Position: Wir sind überzeugt, dass Beteiligung auf der Grundlage des Grundgesetzes und der Menschenrechte erfolgen muss. Insbesondere, wenn die Würde des Menschen verletzt wird, kann und muss Partizipation unterbunden werden. Zusätzlich ergibt sich dabei aber auch eine große Chance in der Aufdeckung antidemokratischer Denkweisen bei Schüler*innen. Nur durch das Erkennen solchen Gedankenguts kann auch ein Diskussionsprozess angestoßen werden, der diese Haltungen gezielt problematisiert und entkräftet. Somit hat Partizipation auch ein großes Potenzial, präventiv gegen die Radikalisierung von Schüler*innen zu wirken. Erfolgt die Partizipation auf Basis des Grundgesetzes und der Menschenrechte, ist sie in unseren Augen grundsätzlich zu gewähren und zu befürworten. Selbst wenn wir die Ziele einer Schüler*innengruppe, die sich zum Beispiel gegen den Kohleausstieg engagiert, persönlich nicht teilen, so ist es gut, dass es zu diesem Engagement kommt. Auch hier ist die starke Wechselwirkung zwischen Partizipation und Diskussion zu betonen. Wir brauchen eine Schulgemeinschaft, in der kontrovers und respektvoll über verschiedenste Themen diskutiert wird. Aus diesem Grund sprechen wir uns auch für ein allgemeinpolitisches Mandat für Schüler*innengremien aus. Gerade weil die Idee der Partizipation in der Theorie so fruchtbar ist, drängt sich natürlich die Frage nach dem Stand der gegenwärtigen Umsetzung auf. Wir stellen einerseits fest, dass Schüler*innenbeteiligung an Relevanz gewonnen hat und viele Schulen nach außen tragen, bei ihnen würde die Beteiligung von Schüler*innen einen sehr großen Stellenwert einnehmen. Andererseits sehen wir sehr viele Defizite in der Beteiligung von Schüler*innen. Natürlich kann man dies nicht pauschalisieren und es gibt einige Schulen, an denen Schüler*innenpartizipation
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sehr gut ausgeprägt ist. Insgesamt sehen wir jedoch großen Handlungsbedarf. Es gibt viele Schulen, in denen sich die Schüler*innenvertretungen zum Beispiel gar nicht konstituieren oder an denen sie nur eine Art „Pseudofunktion“ einnehmen. Hierbei ist interessant, dass die Unterstützung von Schüler*innenbeteiligung oft an deren Form geknüpft ist. Wenn es um die Mithilfe bei Schulprojekten oder um die Renovierung des Klassenraumes geht ist Partizipation oft gerne gesehen. Sobald es aber um inhaltliche Forderungen geht, etwa zu Themen wie Hausaufgaben oder zum Einsatz digitaler Medien im Unterricht, stoßen Schüler*innen oft auf große Widerstände. Ein großes Problem besteht sicherlich in der unzureichenden Sensibilisierung von Lehrkräften und Schulleiter*innen dafür, dass Partizipation etwas Wichtiges und Gutes ist. Dies äußert sich vor allem darin, dass die Anliegen der Schüler*innen häufig nicht ernst genommen werden. An vielen Stellen ist ein Bewusstseinswandel erforderlich, der durch eine stärkere Verankerung des Themas in Ausbildung und Fortbildung des Schulpersonals bewirkt werden kann. Dieser Bewusstseinswandel sollte auch eine verstärkte Würdigung von Engagement zur Folge haben. Oft wird engagierten Schüler*innen gesagt, sie würden ihre Prioritäten falsch setzen und sollten sich besser auf die Schule konzentrieren. Und natürlich ist es auch eine Frage der Prioritätensetzung. Aber hier kann und muss die Schule ein deutliches Zeichen setzen und engagierte Schüler*innen stärken. Denn Schule ist mehr als nur das Erlernen von Wissen. Die Kernaufgabe von Schule sollte Persönlichkeitsbildung sein, insbesondere die Bildung zu mündigen Persönlichkeiten, die mit großem Gestaltungswillen aktiv für ihre Überzeugungen eintreten. Neben der Sensibilisierung des Schulpersonals auf der einen Seite bedarf es auf der anderen Seite aber auch einer besseren Aufklärung der Schüler*innen über ihre eigenen Rechte. Viele Schüler*innen wissen weder, dass Partizipation ihr Menschenrecht ist, noch, welche Möglichkeiten sie konkret zur Mitwirkung haben. Auch über die Gremienstrukturen innerhalb der Schule und über diese hinaus wird nur selten ausreichend informiert, obwohl dies laut Schulgesetz obligatorisch ist. Hier könnte eine Verbesserung zum Beispiel dadurch erzielt werden, dass dies nicht nur im Schulgesetz, sondern auch in den Rahmenlehrplänen verankert wird. Dies könnte gegebenenfalls im neuen Fach Politische Bildung erfolgen. Neben diesen Ebenen der Sensibilisierung und der Aufklärung müssen für erfolgreiche Partizipation an Schulen auch bestimmte Rahmenbedingungen geschaffen werden. Wir fordern zum Beispiel, dass jede Schüler*innenvertretung ein eigenes Budget hat, um unabhängig Projekte auf die Beine stellen zu können. Auch personell sollten die Vertretungen gestärkt werden. Die Begleitung von
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Schüler*innenvertretungen kann durch Lehrkräfte, Sozialpädagog*innen oder auch externe Unterstützer*innen realisiert werden. Es muss dabei aber darauf geachtet werden, dass die Schüler*innenvertretung lediglich begleitet und nicht bevormundet wird. Diese drei Grundpfeiler – Sensibilisierung des Schulpersonals, Aufklärung der Schüler*innen und Schaffung struktureller Rahmenbedingungen – müssen sich vor allem durch eines auszeichnen: Verbindlichkeit. Partizipation darf nicht vom Engagement weniger Mitglieder der Schulgemeinschaft und damit von Zufall und auch sozioökonomischen Hintergründen abhängen. Zu einer demokratischen Schule gehört, dass der Demokratie verbindlich Zeit, Raum, Geld, Personal und Struktur gegeben wird. Erst verbindliche Regelungen ermöglichen Partizipation in ihrer notwendigen Stärke und Kontinuität.
Jugend – Politik – Partizipation Klaus Farin
Zusammenfassung
Der Beitrag setzt sich mit dem Stellenwert auseinander, den Politik und politische Partizipation im Alltag von Jugendlichen einnehmen. Ausgehend von dem empirisch gestützten Befund, dass konventionelle Formen politischer Partizipation unter den Jugendlichen wenig verbreitet sind, wird das Verhältnis von Jugendlichen zum Politischen bestimmt. Dabei wird deutlich, dass sich Jugendliche in unterschiedlichen gesellschaftlichen Räumen und Szenen engagieren, in denen sie Partizipation, Zivilcourage, Haltungen und Verantwortung erproben. Gefordert wird, dass sich politische Bildner*innen mit den für Jugendlichen relevanten gesellschaftlichen Räumen und Kulturen und den aus diesen erwachsenden unverfassten Formen politischer Partizipation auseinandersetzen. Waren 1990 noch rund 2,4 Mio. Bürger*innen in Parteien organisiert, sind es heute nur noch 1,2 Mio. (Statista 2019a). „Volksparteien“ gibt es in Deutschland schon lange nicht mehr – unter anderem, weil ihnen schon seit den 1990er Jahren die Jugend ausgeht. Der Anteil der unter 21-jährigen Mitglieder in den aktuell im Bundestag vertretenen Parteien liegt zwischen 0,5 % (CSU) und 3,5 % (Linke). Nur 0,06 % (CSU) bis 0,40 % (Linke) der unter 21-Jährigen sind in diesen Parteien (bzw. deren Jugendorganisationen) repräsentiert (Niedermayer 2017;
K. Farin (*) Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_9
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Niedermayer 2018, S. 27 ff.). Jugendliche und Parteien scheinen in nicht miteinander verbundenen Parallelwelten zu leben. Das offensichtlich geringe Interesse von Jugendlichen an Parteien kann man bedauern, muss man aber nicht. Man kann es auch als kritisches Verbraucher*innenverhalten interpretieren: Wenn ein Produkt nichts taugt, kauft man es nicht. Wenn es gekauft werden soll, muss es eben entsprechend verbessert werden. Und je weniger Menschen dieses Produkt kaufen, desto größer wird der Druck, es zu verbessern. So gesehen kann Nichtwählen durchaus ein konstruktiver politischer Akt sein. Den Willen zur Veränderung sehe ich bei den Parteien allerdings nicht. Parteien agieren immer noch nach dem Motto „Politik ist nur für Erwachsene“. Es ist ein Skandal, dass nicht längst alle Menschen ab 14 Jahren – wie es beispielsweise der Präsident des Kinderhilfswerks und der Bundeszentrale für politische Bildung Thomas Krüger (Binner et al. 2017) und die Jugendringe (Deutscher Bundesjugendring 2019) fordern wählen dürfen – straf- und religionsmündig ist man hingegen mit diesem Alter. Übrigens auch nicht im rot-rot-grün regierten Land Berlin. Obwohl alle Parteien der Regierungskoalition in ihren Partei- und Wahlprogrammen mindestens ein Wahlrecht ab 16 Jahren fürs Abgeordnetenhaus forderten, wie es in mehreren Bundesländern für Landtagswahlen bereits gültig ist, haben sie als Regierende bisher keinen ernsthaften Schritt unternommen, wenigstens dies gesetzlich zu realisieren (Zawatka-Gerlach 2019). Glaubwürdigkeit sieht anders aus. Die alten weißen Männer, die uns überwiegend immer noch regieren (Brunner et al. 2018), teilen ihre Macht ungern mit den Jungen, mit Frauen, mit Migrant*innen. Die „Argumente“, warum Jugendliche nicht wählen können, sind oft die gleichen wie vor 100 Jahren bei dem Versuch der Abwehr des Frauenwahlrechts. Behauptet wird, dass sie noch nicht kompetent seien, das komplexe politische Geschehen nicht überblicken und vor allem rein emotional entscheiden würden (Niedersächsischer Landtag 2008, S. 791 f.). Man müsse sie also quasi im eigenen Interesse davor schützen, Fehler zu begehen und vielleicht die Falschen zu wählen. Diese patriarchale Grundhaltung zur Jugend und damit zur Demokratie allgemein ist unübersehbar ein Konsens aller im Bundestag vertretenen Parteien. Auf die Idee, zukünftig aus den gleichen Gründen auch AfD-Wähler*innen das Wahlrecht abzuerkennen, ist dagegen offenbar noch niemand gekommen – vielleicht, weil die Partei in der Regel bei Männern zwischen 35 und 59 Jahren am Stärksten abschneidet (Decker 2018). Obwohl die Jungen sich weder für Parteien noch die parlamentarische Praxis interessieren, haben sie durchaus klare Haltungen zu den relevanten gesellschaftlichen Fragen
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der Gegenwart: Rassismus, Flucht, Frieden, Umweltschutz, Menschen- und Tierrechte, Gerechtigkeit (Shell Deutsche Holding 2015; BMU 2019). Dennoch werden immer wieder Studien publiziert, die vor der Jugend warnen: Sie sei „unpolitisch“ oder „politik-distanziert“, lehne die Demokratie ab bzw. könne mit diesem Wort schlicht nichts anfangen. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt entsprechender Behauptungen wird dabei erstens geflissentlich die Frage übergangen, ob sich die Erwachsenen gegenüber der Demokratie engagierter zeigen. Zweitens stellt sich die Frage, was die Erwachsenen zur Demokratie-Bildung der Jugendlichen beitragen. Wo erleben Jugendliche denn in ihrem Lebensalltag Demokratie? In den Betrieben, als Azubis und junge Angestellte? In den Universitäten? Dort hat in den letzten Jahren die Verschulung und neoliberalistische Neustrukturierung (Bologna-Prozess etc.) die vielfältige Engagementkultur der Studierenden weitgehend vernichtet. In der Schule, die immer noch zu den autoritärsten Institutionen dieses Landes gehört und trotz vieler toller Gegenbeispiele strukturell bis heute nicht gelernt hat, eine Anerkennungskultur zu etablieren, die weiterhin eine gnadenlose Auslese inszeniert, deren Kriterien nicht einmal nur die individuellen Leistungen der einzelnen Schüler*innen sind, sondern zu einem großen Teil die Herkunftsmilieus ihrer Eltern: Aus Akademiker*innenkindern werden wieder Akademiker*innen, Arbeiter*innenkinder bleiben Arbeiter*innen und Kinder mit familiärer Migrationsgeschichte müssen besser sein als ihre deutschstämmigen Mitschüler*innen, um dieses Handicap zu überwinden und z. B. eine Empfehlung für das Gymnasium zu bekommen (Klein und Liegmann 2018; Himmelrath und Greiner 2017). Wo sollen Jugendliche also lernen, die Worthülse Demokratie mit Inhalten zu füllen, wenn ihnen in weiten Teilen ihres Lebensalltags diese Demokratie vorenthalten wird, sie über relevante Themen und Bereiche selbst ihres eigenen Lebens nicht mitentscheiden dürfen, ihre Bereitschaft zum Engagement nicht abgerufen wird, ihre Teilhabe und Mitwirkung nicht gefragt ist? „Bei Fridays For Future habe ich in wenigen Wochen mehr über Demokratie gelernt als in meiner ganzen Schulzeit“, erklärt eine Berliner Aktivistin der selbstorganisierten Schüler*innenbewegung im Rahmen einer Veranstaltung. Gegenüber der Kritik der mangelnden demokratischen Teilhabemöglichkeiten im Alltag ließe sich einwenden, dass es doch Tausende für Jugendliche aufgelegte Partizipationsprojekte gebe. In der Tat: Noch nie gab es so viel staatliche Förderung, Ideensammlungen und Maßnahmen einer entsprechenden Demokratieförderung. Irgendwo einen Projektantrag erfolgreich einzureichen, ohne darin das Wort Partizipation fett hineinzuschreiben, ist nahezu aussichtslos. Und wenn man sich die Fachtagungen und in Hochglanzbroschüren und Blogs
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präsentierten Projekte ansieht, entdeckt man wirklich phantasievolle Ideen und Themen, innovative Methoden und oft auch mit viel Kreativität und großem Engagement aller Beteiligten umgesetzte Projekte. Und doch stellen immer mehr Anbieter*innen fest, dass es mitunter sehr schwierig ist, Jugendliche zu finden, die bereit wären, bei diesen tollen Projekten mitzuwirken. Auch wenn es dazu keine offiziellen Statistiken gibt wissen Praktiker*innen, die sich in diesem Bereich bewegen, dass immer mehr Projektvorhaben an mangelnder Beteiligung scheitern und der Aufwand, Jugendliche für Projekte zu gewinnen, immer größer wird. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein zentraler Grund ist sicher, dass der Tag nun einmal nur 24 h hat und Jugendliche schon ziemlich viele andere Dinge zu tun und Probleme zu bewältigen haben. Neben dem schulischen Stress üben viele Jugendliche einen Nebenjob aus, sind Mitglied in Sportvereinen, Jugendverbänden oder informellen Jugendkulturen oder besuchen Jugendmusik- und -kunstschulen. Und natürlich konkurrieren all diese Engagementprojekte auch mit den Freizeitangeboten des kommerziellen Marktes: allein über drei Millionen Menschen, zumeist jüngere, nehmen zurzeit als Spieler*innen an E-Sport-Turnieren teil (Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware e. V. 2017, S. 14.). Die weitreichend partizipativ ausgerichtete Medienwelt des 21. Jahrhunderts (Instagram, YouTube, WhatsApp, Snapchat, Facebook, Twitter etc.) ist ebenfalls ein enormer Zeitfresser. Jugendliche überlegen sich heute schon sehr genau, wofür sie ihre karge Freizeit investieren. Wenn sie sich engagieren, erwarten sie Sinn und Spaß, wollen sie Respekt von Anfang an, der Weg ist ebenso wichtig wie das Ziel. Sie wollen wissen: Was bringt mir das, wenn ich dort oder dort mitmache? Welche Leute treffe ich dort? Kann ich dort interessante Kontakte knüpfen, neue Freunde gewinnen? Bin ich überhaupt erwünscht? Werde ich dort so wie ich bin respektiert? In meiner Ästhetik, mit meiner Sprache? Aber auch: Wie ehrlich gemeint ist die Einladung zur Mitwirkung? Kann ich auch über die Inhalte und Ziele mitentscheiden? Oder werde ich eher gebraucht, um „oben“ getroffene Entscheidungen umzusetzen und zu verbreiten? Wer mal eine Parteiversammlung der ehemaligen „Volksparteien“ besucht hat, kennt die Antworten auf diese Fragen und weiß daher, warum sich nur so wenig Jugendliche für diese Form des Engagements begeistern lassen. Zu bedenken ist auch, dass „die Politik“ durch die Privatisierung einstmals staatlicher Dienstleistungen (Telefon, Post, öffentlicher Verkehr, zahlreiche Universitäten, Bibliotheken, große Teile des Schulwesens usw.) zu einem realen Bedeutungsverlust des Staates für den jugendlichen Alltag geführt hat. Die Distanz von Jugendlichen gegenüber der Politik weiter verstärkt hat auch
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die zunehmende Verlagerung von Entscheidungsstrukturen auf die EU-Ebene bei gleichzeitig nicht abreißenden Berichten über gewaltige Ausmaße ökonomischer Misswirtschaft (Verschwendung, Fehlplanungen, Korruption), für deren Beseitigung in Krisensituationen vonseiten der Politik plötzlich Milliarden Euro zur Verfügung gestellt werden („Bankenkrise“), nachdem es immer hieß, für die Renovierung des maroden Bildungssystems oder die lokale Jugend- und Kulturarbeit sei kein Geld da. Der Begriff Politik ruft bei ihnen heute überwiegend Assoziationen wie Korruption, Egoismus, Doppelmoral, Langeweile und Uneffektivität hervor; Politiker*innen gelten als unehrlich und doppelzüngig (selbst Millionenhonorare kassieren und über „soziale Ungerechtigkeit“ schwadronieren) oder unfähig und allein schon kulturell/ästhetisch als jugendfreie Berufsgruppe (Schneekloth 2015, S. 179 ff.). Und während Partizipationsprojekte blühen und seit der Wiedervereinigung von Bund und Ländern Demokratieförderprogramme in bisher nie gekanntem Ausmaß für die Politische Bildung, die Kultur- und Jugendarbeit aufgelegt wurden, verloren zeitgleich auch in den neuen Bundesländern zahlreiche Dörfer und Kleinstädte durch „Eingemeindungen“ ihre lokale Selbstbestimmung und damit auch Möglichkeiten ehrenamtlicher Partizipation. Über 20.000 Dörfer und Kleinstädte wurden inzwischen seit dem Start der kommunalen Gebietsreformen im Jahr 1965 aufgelöst und damit mehr als 300.000 ehrenamtlich in der Kommunalpolitik engagierte Menschen aus Kostengründen aus ihrem Engagement verdrängt (Henkel 2016, S. 15). Eindeutiger können die dafür verantwortlichen Politiker*innen und Parteien ihre Einstellung zur Demokratie und zum politischen Engagement ihrer Bürger*innen kaum zum Ausdruck bringen. Überdies sind Projekte eben nur Projekte: kurzzeitig angelegte Auszeiten aus der weitgehend demokratiefreien gesellschaftlichen Realität der Jugendlichen, pädagogische Spielwiesen, deren Implementierung in die zukünftige Lebenswelt der mitwirkenden Jugendlichen nicht vorgesehen ist. Das ist vielen Jugendlichen zu wenig. Sie reagieren mit hohem Misstrauen auf Angebote aus einer Erwachsenenwelt, die immer wieder aufs Neue ihre Unglaubwürdigkeit darlegt. Demokratie und Partizipation funktionieren nicht als date – jeden Freitag von 15 bis 18 Uhr: Partizipationsprojekt im Jugendklub; einmal die Woche im Religions- oder Ethikunterricht ganz offen über Alles reden –, demokratische Teilhabe muss ein grundlegender Bestandteil des Alltags werden. In der Schule, am Arbeitsplatz, in der Universität, im Stadtteil – überall, wo Jugendliche leben und über für Jugendliche relevante Dinge entschieden wird, müssen selbstverständlich Jugendliche mitentscheiden und mitwirken dürfen – nicht nur unverbindlich mitreden, sondern auch Zugriff auf finanzielle Ressourcen und Etats erhalten. Und das bedeutet eben auch und in erster Linie: Wir Alten müssen bereit
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sein, einen Teil unserer Macht abzugeben. Oder politischer formuliert: Der Staat muss abrüsten, Politiker*innen und vor allem Regierende wieder bereit sein, „mehr Demokratie (zu) wagen“ (Willy Brandt) und die Zivilgesellschaft, die in Sonntagsreden mindestens so häufig wie „die Jugend“ beschworen wird, zu stärken, nicht pädagogisch zu umstellen, die enorme Misstrauenskultur gegenüber den Bürger*innen und vor allem der Jugend zu beenden. Politische Bildung muss implementiert werden in eine allgemeine Demokratisierung (nicht nur) jugendlicher Lebenswelten. Im Augenblick erleben wir in vielen Bereichen das Gegenteil. Vor allem die Bundesregierung missbraucht Förderungen vielfach dazu, den zivilgesellschaftlichen Trägern, die von staatlicher Förderung abhängig sind, die sogenannte „Extremismusprävention“ aufzuzwingen und politische Wohlgefälligkeit einzukaufen. Engagierte Initiativen und Kulturschaffende werden zum Beobachtungsobjekt des Verfassungsschutzes und unmittelbar aus dem Innenund Familienministerium heraus werden Träger und Projekte initiiert, „Wölfe im Schafspelz sozusagen, staatliche Organisationen, die sich als Nichtregierungsorganisationen verkleiden, um ihre Interessen durchzusetzen, und mit so vielen Smokescreens arbeiten, dass ein normaler Mensch kaum erkennen kann, mit wem er es wirklich zu tun hat“ (Fleischhauer 2018, S. 154). Auf diese Weise werden staatliche Initiativen zu NGOs und Initiativen der Zivilgesellschaft umgelogen, wodurch kritische und echte NGOs von den Fördertöpfen verdrängt werden. Kleine, basisorientierte lokale oder regionale Initiativen profitieren von den Millionen, die derzeit im Rahmen staatlicher Förderprogramme verteilt werden, so gut wie gar nicht. Schon das Ausfüllen der einschlägigen Antragsformulare stellt eine hohe bürokratische Hürde für sie dar. Natürlich können engagementwillige Jugendliche auch bei den Pfadfindern, im christlichen Chor oder bei der Freiwilligen Feuerwehr wirken (und viele tun das ja auch). Ihr Engagement ist überwiegend nicht grundsätzlich antiinstitutionell gemeint. Studien der letzten Jahre registrieren ein (wieder) ansteigendes Interesse von Jugendlichen an Politik – jenseits von Parteien und Parlamenten (Gille 2018, S. 17; Statista 2019b). Dass der Aufschwung jugendlichen Engagements bisher an Parteien, Gewerkschaften, Amtskirchen und zahlreichen traditionellen Jugendverbänden spurlos vorbeiweht, hat seine Ursache nicht in der Politik- und Institutionenfeindlichkeit der Jugend, sondern in der Jugendfeindlichkeit der Politik und der Institutionen – in ihrer Erstarrung zwischen taktischen Geplänkeln, tradierten Alt-Herren-Ritualen, bürokratischen Endlosschleifen und der Forderung nach bedingungsloser Anerkennung einer Autorität, die gar nicht oder nur historisch begründet wird und nicht tagtäglich neu verdient werden muss. Wenn Junge und Ältere von „Respekt“ reden, meinen
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sie in der Regel etwas völlig Unterschiedliches. Für die Jungen ist Respekt keine Einbahnstraße in Richtung einer automatischen Ehrerweisung der Älteren, sondern etwas, was sich jeder unabhängig vom Alter selbst erarbeiten muss. „Wie es in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.“ Für knapp 20 % der Jüngeren sind Jugendkulturen – nicht Kirchen, traditionelle Jugendverbände und Vereine – der bevorzugte Ort ihres Engagements, ihrer Freizeitgestaltung und – vor allem für die unter 18-Jährigen – ihrer Identitätsfindung. Natürlich sind Jugendkulturen stets auch Konsumkulturen. Doch trotz aller Kommerzialisierung sind sie zumindest für die Kernszene-Angehörigen vor allem eine attraktive Möglichkeit des eigenen kreativen Engagements. In diesen jugendkulturellen Netzwerken kommt oft alles zusammen, was Jugendliche fasziniert: Musik, Mode, Körperkult, Peerstrukturen und selbstbestimmtes Engagement, eben: Spaß und Sinn. Jugendkulturen sind vielseitig und ganzheitlich, temporär und lebensweltlich orientiert. So existiert heute ein dichtes Netzwerk jugendlichen Engagements, das, schon allein aufgrund seiner Kommunikationswege (Web 2.0, Party-Zentralen als News Boxes) weitgehend unbemerkt von älteren Jahrgängen, stets spontan, aber sehr effektiv eine Vielzahl von Aktivitäten entfaltet. Noch nie waren so viele Jugendliche kreativ engagiert wie heute – in jeder Stadt gibt es heute Rapper*innen, B-Boys und -Girls, Sprayer*innen, Beatboxer und DJanes. Tausende von Jugendlichen produzieren Woche für Woche an ihren PCs Sounds – in aller Regel ist der einzige Lohn, den sie dafür erwarten und bekommen, Respekt. Noch nie gab es so viele junge Punk- und Metal-Bands wie heute. Auch die Sportszenen jenseits der traditionellen Vereine – von den Boarderszenen über Parcours bis zu den Juggern – boomen. Diese Jugendkulturen sind nicht nur identitäre Spielwiesen, sondern immer auch Orte des informellen Lernens und gesellschaftlichen Handelns, in denen Jugendliche Engagement erproben, Zivilcourage lernen, Verantwortung übernehmen und Haltungen entwickeln. Dennoch werden sie auch von der Politischen Bildung – wenn man sich etwa die aktuellen Bildungsangebote ansieht – als lebendige Orte der Demokratiebildung und -entwicklung nicht ernstgenommen. Dabei entsteht und gedeiht auch politisches Engagement im engeren Sinn fast immer jenseits von Parteien und Verbänden – und wird von diesen in ihrer selbstreferenziellen Erstarrung zumeist erst wahr- und ernstgenommen, wenn bereits die Mainstreammedien großflächig darüber berichten, wie erst jüngst die sog. Freitagsdemos der Schüler*innen beispielhaft illustrierten. Von einer 15-jährigen Schülerin in Schweden initiiert, demonstrieren bei den „Fridays for Future“ seit Januar 2019 auch in Deutschland Woche für Woche Tausende von Schüler*innen während der Schulzeit für eine andere Klimapolitik. Harald Welzer sieht darin
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möglicherweise „den Anfang einer neuen Jugendbewegung“: „Wir haben es mit einer neuen politischen Generation zu tun. Auf der Unteilbar-Demo in Berlin im vergangenen Jahr waren von den 240.000 Demonstranten die Hälfte sehr jung. Auf den Seebrücke-Demos gegen die Kriminalisierung der Seenotrettung sind sie alle jung – da sind kaum Ältere dabei. Auch bei den diversen anderen Demos, die es im vergangenen Jahr gegeben hat, für Demokratie, für offene Gesellschaft usw., sehen wir sehr viele junge Leute“ (Kühn 2019). Jugendpolitik, -verbände, Vereine, die Jugendliche zukünftig erreichen wollen, werden umdenken müssen. Nicht die Jugendlichen werden sich den Strukturen, Traditionen, Kommunikationskulturen der Älteren anpassen müssen, sondern die alten Strukturen den Jungen. Statt „Runden Tischen gegen Gewalt“ u. Ä. werden sich Initiativen gründen müssen, die ernsthaft darüber nachdenken: Wie können wir die Lebensqualität der Jungen in unserer Gemeinde verbessern? Was können wir für – und nicht gegen – Jugendliche tun?
Literatur Binner, S., Eyermann, B. & Matthiesen, H. (2017). „Ich bin für Wählen ab 14“. Interview mit bpb-Präsident. Internetpräsenz des General-Anzeiger Bonn, Pfad: https://www. general-anzeiger-bonn.de/news/politik/ich-bin-fuer-waehlen-ab-14_aid-43246379. Zugegriffen: 30. September 2019. Brunner, K., Ebitsch, S., Endt, C., Hosse, J., Schories, M., Witzenberger, B. & Zajonz, M. (2018). Volk und Vertreter. Internetpräsenz der Süddeutschen Zeitung, Pfad: https://projekte.sueddeutsche.de/artikel/politik/bundestag-diese-abgeordneten-fehlene291979/. Zugegriffen: 30. September 2019. Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (2019). Jugendstudie: Engagement für den Klimaschutz geht weiter. Pressemitteilung Nr. 137/19 (16.08.2019). https://www.bmu.de/pressemitteilung/bmub-jugendstudie-umwelt-undklimaschutz-ist-fuer-viele-junge-menschen-ein-zukunftsthema/. Zugegriffen: 30.09.2019. Bundesverband Interaktive Unterhaltungssoftware (2017). BIU Fokus: eSports. Aus der Nische ins Stadion. BIU. https://www.game.de/wp-content/uploads/2017/08/game_ Fokus_eSports_2017.pdf. Zugegriffen: 30. September 2019. Decker, F. (2018). Wahlergebnisse und Wählerschaft der AfD. Bundeszentrale für politische Bildung. http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/ afd/273131/wahlergebnisse-und-waehlerschaft. Zugegriffen: 30. September 2019. Deutscher Bundesjugendring (2019). Das Wahlalter muss sinken. Pressemeldung 1/2019 (18. Januar 2019). https://www.dbjr.de/fileadmin/Grafiken/wahlalter/DBJR-PMWahlalter-190118.pdf. Zugegriffen: 30. September 2019. Fleischhauer, W. (2018). Das Meer. München: Droemer. Gille, Martina (2018). Jugend und Politik – ein schwieriges Verhältnis. DJI Impulse. Das Forschungsmagazin des Deutschen Jugendinstituts, 1/18, S. 16–19. https://www.dji.de/ fileadmin/user_upload/bulletin/d_bull_d/bull119_d/DJI_Impulse119_PolitischeBildung. pdf. Zugegriffen: 30. September 2019.
Jugend – Politik – Partizipation
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Politik machen statt Politik spielen. Plädoyer für eine politische politische Bildung in der Schule Reinhold Hedtke
Zusammenfassung
Die Voraussetzungen für politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen hängen von politischen Rahmenbedingungen und Entscheidungen ab. Eine auf wirksame politische Partizipation zielende Bildung muss politisch werden, die politischen Hindernisse öffentlich thematisieren und Veränderungen der partizipationsrelevanten Politiken und Strukturen fordern. Eine politische politische Bildung verlangt die Expansion von Partizipationsoptionen, die Optimierung der realen Partizipationsbedingungen und den Abbau von Partizipationshindernissen. Die Akteur*innen der politischen Bildung müssen politisch werden und die fehlenden oder unzureichenden Voraussetzungen für ihre Partizipationsarbeit in den Schulen auf die Tagesordnung setzen. Eine wesentliche Voraussetzung für egalitäre politische Partizipation ist die gemeinsame Schule für alle.
R. Hedtke (*) Goethe-Universität Frankfurt, Frankfurt, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_10
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1 Einleitung Angesichts der großen Herausforderungen der Gegenwart steht Partizipation anscheinend weit oben auf der öffentlichen und politischen Agenda, sie wird als unzureichend beklagt, als dringend förderungsbedürftig bewertet und als völlig selbstverständlich eingefordert.1 Politische Akteur*innen aller Ebenen, zivilgesellschaftliche Organisationen, private unternehmensnahe Stiftungen und viele andere setzen sich für mehr Partizipation ein. Fakt ist aber: die politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in Deutschland ist äußerst begrenzt. Das betrifft die Partizipation in Öffentlichkeit und Politik ebenso wie die in der Schule, und es gibt kaum Anzeichen dafür, dass die derzeit populären Partizipationspolitiken auf eine ernsthafte Umverteilung von politischer Entscheidungsmacht zugunsten von Kindern und Jugendlichen zielen. Das gilt auch und erst recht für die Schule. Kinder und Jugendliche können zwar kommunizieren, öffentlich aktiv werden und zur Meinungsbildung beitragen. Sie können verantwortliche Akteur*innen adressieren und politische Maßnahmen verlangen. Sie können kollektiv agieren und in zivilgesellschaftlichen Organisationen und Initiativen mitarbeiten. Sie können sich vornehmen, demnächst die eine Partei zu wählen oder die andere auf keinen Fall oder überhaupt gar keine. Aber sie haben hier und heute in aller Regel keinerlei politische Entscheidungsmacht, mit der sie Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gestalten können – sieht man einmal von Ausnahmen ab, in denen das Wahlalter abgesenkt wurde. Insgesamt verfügen Kinder und Jugendliche also über keine bis minimale politische Gestaltungsmacht. Bisher bleibt allerdings auch die Partizipation hier und jetzt in der Schule bescheiden. Die Erfahrung von echter, ernsthafter und effektiver politischer Partizipation bleibt dem schulischen und außerschulischen Alltag der Schüler*innen fremd. Vor dem Hintergrund des Spannungsverhältnisses zwischen anspruchsvoller Partizipationsrhetorik und bescheidener Partizipationsrealität sowie den Herausforderungen der Partizipation durch ökonomische und politische Ungleichheit diskutiere ich nach einer kurzen Klärung des hier verwendeten Partizipationsbegriffs (1) die folgenden Fragen: (2) Was wäre eine politisch-partizipative
1Einige
Teile dieses Beitrags beziehen sich auch auf einzelne Passagen aus Hedtke (2019, 2020 ).
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Schule? (3) Was ist demgegenüber eine ökonomisch regierte Schule? (4) Welche Voraussetzungen müssen für eine partizipative Schule erfüllt sein? (5) Was kann eine politische politische Bildung tun, die die Partizipation von Kindern und Jugendlichen auch als politische Aufgabe begreift?
2 Zum Partizipationsbegriff Partizipation ist weder Selbstzweck noch Selbstläufer. Deshalb muss man die allgemeine Forderung nach mehr Partizipation ebenso wie eine undifferenziert partizipationsoptimistische Position ablehnen, denn der Partizipation „wohnt nicht per se ein emanzipativer, radikal-reformerischer Charakter inne“ (Sack 2019, S. 672). Mehr Partizipation an sich ist kein Garant für mehr Demokratie, bessere Umsetzung der Menschenrechte, bessere Lebensverhältnisse, gerechtere Verwirklichungschancen oder mehr Selbstbestimmung. Damit sind schon wichtige Bewertungskriterien für Partizipation benannt. Ein weiterer wichtiger Maßstab für die Partizipation in der Demokratie ist die Gleichheit der politischen Beteiligung der Bürger*innen, ein anderer die Gleichheit der sozialen und sozioökonomischen Verwirklichungschancen aller Bürger*innen als eine wesentliche Voraussetzung für die gleiche politische Partizipation. Mit größerer Reichweite geht es um die von ihrem Rechtsstatus unabhängige Beteiligung und Gleichheit aller Personen in einer Gesellschaft. Die Palette der Definitionen und der Legitimation von Partizipation ist breit. Dazu habe ich mich an anderer Stelle geäußert, Texte dazu sind online zugänglich, deshalb beschränke ich mich hier auf wenige Stichpunkte (Hedtke 2016a, b, 2019, 2020). Bei den demokratietheoretischen Legitimationen unterscheidet man bekanntlich Begründungen von Partizipation in der Schule mit Bezug auf Demokratie als Herrschaftsform – also als politische Partizipation – von solchen mit Bezug auf Demokratie als Lebensform, d. h. als gesellschaftliche Teilhabe (Himmelmann 2004; kurzer Überblick bei Sauerwein 2019). Beide Legitimationstraditionen haben einen instrumentalistischen Charakter: Demokratie muss von Kindern und Jugendlichen erlernt werden, um das jeweilige demokratische System zu reproduzieren oder ein demokratischer Habitus muss durch demokratische gesellschaftliche Praxis als Voraussetzung von Demokratie erworben werden. Aus anerkennungstheoretischer Perspektive auf Partizipation treten dagegen gleiche Rechte, gerechte Verfahren, Mitwirkung und Mitbestimmung in den Vordergrund (z. B. Hafeneger 2002; Scherr 2002). Das passt besser zum hier bevorzugten Konzept politischer Partizipation.
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Den Begriff Partizipation verwende ich mit einer starken Bedeutung. Partizipation heißt dann, dass es um das Teilen von Macht und Entscheidung über Regeln und Ressourcen mit dem Ziel der Beteiligungsgleichheit sowie um Fragen geht, die die Beteiligten selbst als wichtig oder als substanziell betrachten (Roberts 2008, S. 7). Je weniger diese Kriterien erfüllt sind, desto mehr handelt sich um Placebo-Partizipation, die unterschiedliche politische Funktionen haben kann. Das scheint in der Schule häufig der Fall zu sein. Die Sozialwissenschaften bieten eine Pluralität von Partizipationstheorien und Partizipationskonzepten, zu Partizipation und Partizipationspolitik herrscht wissenschaftliche Kontroversität (Roberts 2004, S. 315–320; Pateman 1970). So ist etwa umstritten, welche Bereiche die Partizipation betreffen soll, zielt sie nur auf Politik, auf Politik und Gesellschaft oder auch auf die Wirtschaft? Die unterschiedlichen Demokratiemodelle definieren die Ziele und Formen von Partizipation unterschiedlich, sie verlangen unterschiedliche partizipative Kompetenzen. Sie legen auch eine jeweils andere Wertebasis zugrunde (vgl. Sack 2013, S. 17–29). Daraus folgen unterschiedliche Strategien und Formen von Partizipationspolitik (vgl. Salomon und Studt 2014, S. 174–178). Aber auch unterschiedliche Vorstellungen von guter Bürgerschaft, also Bürgerschaftsnormen, führen zu unterschiedlichen Typen von Partizipation (Bolzendahl und Coffé 2013). Weitere Differenzierungen sind erforderlich, wenn man über Partizipation spricht. Zunächst spielt die Richtung von Partizipation eine Rolle. Es gibt Partizipationspolitik und Partizipationsbildung „von oben“, die vom Staat oder z. B. in der Schule von der Schulleitung ausgehen. Dem stehen Forderungen nach mehr Mitbestimmung „von unten“ gegenüber, die die Bürger*innen selbst vorbringen. Hinzu kommen Partizipationsbewegungen „von außen“, die von Nicht-Bürger*innen getragen werden (Olson 2013). Die Partizipation von außen gewinnt an Bedeutung, weil in vielen Ländern statistisch relevante Minderheiten der dauerhaften Wohnbevölkerung keine Staatsbürger*innen sind. Schließlich wird mehr, bessere oder andere Partizipation aus ganz unterschiedlichen politischen Motiven gefordert. Die einen hoffen auf ein reibungsloseres Funktionieren der etablierten Institutionen (Zimenkova 2013a). Dazu passen Affirmation und Anpassungslernen. Andere erwarten aus advokatorischer Sicht, dass Bevölkerungsgruppen, die bisher wenig Gehör finden, nun ihre Interessen besser vertreten können. Wieder andere sehen mehr politische Partizipation als Mittel gegen soziale, politische oder wirtschaftliche Ungleichheit. Schließlich setzen einige ganz instrumentalistisch darauf, dass das soziale Engagement der Bevölkerung nun die Lücken füllt, die der Rückbau des Sozialstaats gerissen hat. Dazu passen beispielsweise viele Formen des Service Learning (Zimenkova 2013b).
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Mir geht es hier vor allem um Partizipation als eine der eigenen Interessen bewusste, ferner auch advokatorische, andere oder allgemeine Interessen wahrnehmende, egalitäre, effektive Beteiligung an politischen Entscheidungen über die Gestaltung von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Dabei können sich theoretisch, institutionell und praktisch repräsentative mit direkten Formen der Partizipation mischen. Ich plädiere für eine starke Ausweitung der Partizipation sowohl hinsichtlich der Bereiche, insbesondere der Mitbestimmung in der Wirtschaft und hier vor allem in Betrieben und Unternehmen, als auch hinsichtlich der Gegenstände, dort etwa über Investitionen, Produktionsverfahren und Produktqualität (vgl. Sack 2019). Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass sich das Subjekt bildet, transformiert und emanzipiert, indem es mit anderen interagiert, und sehe Partizipation als einen kollektiven Prozess, der zur Subjektbildung in Form von Interaktion unter den Partizipierenden und mit Dritten beiträgt (Sack 2019, S. 679). Insofern unterscheidet sich mein Verständnis von politischer Partizipation prinzipiell vom Typ tendenziell isolierter individueller Wahlentscheidungen, die etwa von Rational-Choice-Ansätzen und insbesondere der Mikroökonomie betont werden, und vom Typ einer individualisierenden politischen Urteilsbildung, die in der Politikdidaktik vertreten wird (vgl. z. B. Juchler 2014, S. 289 f.). Nicht nur die politische Bildung des Subjekts, sondern der individuelle Bildungsprozess insgesamt ist unauflöslich in soziale Beziehungen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet (Scherr 2002, S. 30 f.). Die Verantwortung für die politische Partizipation in der Demokratie liegt bei der Politik: Partizipation ist der Demokratie-Auftrag an die Politik. Sie hat Entscheidungsmacht und verfügt über Mittel, Partizipation zu fördern oder zu behindern, zu begrenzen oder zu erweitern. Selbstverständlich gilt auch hier der Vorbehalt der nur bedingten politischen Steuerbarkeit von Gesellschaft und Individuen. Das betrifft auch die Partizipation als Institution und Verfahren, Gegenstand und Gelegenheit, Praxis und Produkt im Rahmen von schulischer Bildung und der Organisation Schule. Partizipationspolitik ist wichtig, denn grundsätzlich kommt der Kinderund Jugendpartizipation potenziell eine wichtige Rolle für Selbstbestimmung, Interessenpolitik und Verbesserung der Verteilungsposition zu. Tatsächlich fungiert sie aber eher als Instrument der Passung und Integration der Kinder und Jugendlichen in die etablierten Verhältnisse (BMFSFJ 2017, S. 41, 108 f.). Trotz „eigenständiger Jugendpolitik“ für die 12- bis 27-Jährigen sind Jugendliche und junge Erwachsene Betroffene einer „Repräsentationskrise“, insofern sie in etablierten Strukturen und Verfahren nur begrenzt partizipieren (können) (ebd., S. 5, 113). Kinder- und Jugendinteressen sind strukturell „schwache Interessen“,
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die im politischen Prozess kaum zur Wirkung gebracht werden können. Die politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen ist also ein ungelöstes politisches Problem.
3 Die politisch-partizipative Schule Über Ursachen und Förderinstrumente von konventioneller und unkonventioneller politischer und zivilgesellschaftlicher Partizipation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen gibt es eine ganze Reihe methodisch elaborierter empirischer Studien einschließlich groß angelegter internationaler Vergleiche. Sie klären über Zusammenhänge auf und mögen im Rahmen des Möglichen auch Informationen für empirisch informierte partizipationspolitische Entscheidungen liefern, die an einer effektiven und effizienten Steuerung der Schüler*innen in Richtung bestimmter Partizipationsleistungen interessiert sind. In diesem Sinne ist es politisch und wissenschaftlich populär, Partizipation in der Schule vorrangig auf ihren messbaren Effekt auf politische Partizipation in der Zukunft auszurichten, sie als Instrument dafür einzusetzen und bevorzugt damit zu legitimieren. Aus meiner Sicht verfehlt diese Perspektive aber einen entscheidenden Punkt: Partizipation als Kultur. Meine Position ist, Partizipation als demokratische Alltagskultur hier und jetzt und als eine Praxis anzuerkennen, die auf der wechselseitigen Anerkennung der politischen Teilhaberechte der von Entscheidungen Betroffenen basiert. Die Anerkennung der Person schließt ihre Instrumentalisierung aus. Die partizipatorische politische Praxis in der demokratischen Schule – sei es in repräsentativen oder direkten Formen – verkörpert dann eine Beteiligungskultur, die die Schüler*innen als eine Dimension des selbstverständlichen Schulalltags erleben und erfahren können, dessen Teil sie sind und den sie durch ihr Tun und Denken reproduzieren und weiterentwickeln. Ebenso kann es eine politisch-kulturelle Selbstverständlichkeit sein, dass ein demokratisches Gemeinwesen, das auf hohe, häufige, relevante und gleiche politische Partizipation setzt, Schulen als ebensolche Gemeinwesen versteht und organisiert, sodass sich die Demokratie in der demokratischen Schule spiegelt. Dabei hat die kulturelle Dimension immer eine institutionell-rechtliche Basis, anspruchsvolle Partizipationskulturen gründen auch auf harten, durchsetzbaren Partizipationsrechten der Schüler*innen und anderer Beteiligtengruppen. Politische Partizipation als Schulkultur kann dann insofern zur Bearbeitung von Herausforderungen der Gegenwart beitragen, als sie erstens die Teilhabe der Kinder und Jugendlichen am Diskurs über diese Herausforderungen durch
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politische Bildung in der Schule fördert, sie zweitens in Strategien und Techniken der öffentlichen Intervention trainiert und praktisch partizipativ befähigt sowie drittens Partizipation mehr oder weniger permanent praktiziert, übt, verinnerlicht, reflektiert und revidiert. Es versteht sich fast von selbst, dass die großen gesellschaftlichen Herausforderungen nicht nur in den Fächern der sozialwissenschaftlichen Domäne auf die Tagesordnung gehören. Was heißt politisch-partizipative Schule konkret? Politische Partizipation lernen, verlangt zunächst Zeit zum Lernen, man braucht also mehr politische Bildung in der Schule, was nicht notwendigerweise heißt, man benötigt mehr Fachunterricht. Denn die partizipationsbezogenen Aufgaben von schulischer politischer Bildung und die Aufgaben von schulbezogener und schulischer Partizipationspolitik sind keineswegs deckungsgleich. Für die politische Bildung ist politische Partizipation Gegenstand und Zielvorstellung. Für die Schule ist Partizipation Politik und Institution, sei es in den durch die Schulverfassung definierten Gremien und institutionalisierten Verfahren oder in der informellen, eingelebten Praxis der Beteiligung an Entscheidungen über Schulangelegenheiten und Unterricht. Die politische Partizipationskultur an Schulen kann weit über den Rechtsrahmen hinausgehen, aber auch weit hinter dessen Möglichkeiten zurückfallen. Sie kann den Rahmen der Institution Schule auch überschreiten und allgemeinpolitisch werden. Die demokratische Schule ist die Aufgabe aller schulischen Akteur*innen und insbesondere aller Lehrer*innen. Sie schließt die politische Partizipationskultur ein. Die Lehrkräfte der politischen Bildung haben hier eine besondere Rolle ausschließlich durch ihre besondere fachliche Expertise für politische Partizipation und – wenn sie sich das zur Aufgabe machen wollen – die Rolle der professionellen Verteidigung von realer Partizipation sowie des Störenfrieds, der Scheinpartizipation und fehlende Mitbestimmung auf die Tagesordnung setzt. Ein wichtiger Beitrag der Expert*innen für politische Bildung betrifft die Aufklärung über und die Befähigung zur Partizipation. Dazu gehört, dass sie die unterschiedlichen theoretischen und kollektiven mentalen Modelle von demokratischer politischer Partizipation präsent machen und den Kindern und Jugendlichen zeigen, welche alternativen politischen Optionen damit für sie verbunden sind. Partizipation ist ein selbstverständlicher Gegenstand der Bildung: Förderung von Wissen und Können für Partizipation, Institutionalisierung von partizipativen Praktiken in Bildungseinrichtungen, politische Kommunikation über Partizipation, Entwicklung einer persönlichen Position zu Partizipation, politisches Handeln zur Verbesserung partizipativer Institutionen und zur Expansion von Partizipation.
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Partizipation lernt man vermutlich besser direkt, also durch Partizipieren. Aber gesetzlich wird den Schüler*innen in der Organisation Schule und im Unterricht in den Bundesländern eine recht geringe Entscheidungsmacht eingeräumt, die insbesondere über die Schulkonferenz und die Vertretung der Schüler*innen institutionalisiert ist. Das gilt sowohl für die Gegenstände, über die Schüler*innen entscheiden oder mitentscheiden dürfen, als auch für ihre Stimmrechte in nach Statusgruppen repräsentativ zusammengesetzten Organen. In der Schulkonferenz verfügen die Lernenden in der Regel bestenfalls über eine Drittelparität. Demgegenüber steht die Forderung, für das Partizipieren-Lernen partizipative Strukturen mit kodifizierten Mitbestimmungsrechten der Schüler*innen zu verlangen, eine Ausweitung des bisher recht beschränkten Geltungsbereichs von Mehrheitsentscheidungen und eine paritätische Partizipation, bei der die Schüler*innen über mindestens die Hälfte der Stimmen verfügen. Das steigert die Macht der Schüler*innen in den repräsentativen Gremien und stärkt den Ernstcharakter von Partizipation. Wenn man den oben angedeuteten Begriff von Partizipation teilt, dann kann man das Potenzial für die kollektive Erfahrung von Partizipation und für die Entwicklung einer Normalitätserwartung gegenüber Partizipation nur dann mobilisieren und ausschöpfen, wenn es sich um institutionalisierte, echte, gleiche Partizipation an relevanten Angelegenheiten handelt und die Partizipierenden über eine Entscheidungsmacht verfügen, mit der sie sich im Prinzip auch gegen andere durchsetzen können, insbesondere gegenüber der Schulleitung, den Lehrkräften oder den Eltern. Das impliziert, dass eine Schule mit einer demokratischen Partizipationsstruktur die Abgabe von Entscheidungsmacht der Lehrkräfte an die Schüler*innen verlangt, vor allem aber deutliche Machtverluste aufseiten der Schulleitung bewirkt. Denn sie wurde in den letzten beiden Jahrzehnten im Zuge der Politik einer höheren Eigenverantwortlichkeit der Schulen erheblich gestärkt. Das geschah übrigens in bewusster Abwendung von einer Kultur demokratischer Partizipation zugunsten einer Leitungskultur, die sich am Leitbild des Managements von Unternehmen orientiert. Damit ist das Problem des wenig demokratischen ständischen Repräsentationsprinzips nach Gruppen (Lehrkräfte, Eltern, Schüler*innen) in der der Schulkonferenz und anderen Gremien natürlich noch nicht gelöst. Nicht zuletzt erfordert politische Partizipation in der Schule auch eine viel stärkere Öffnung und Dezentralisierung der Bildungspolitik, da dies eine Voraussetzung für die lokale, sinnhafte und wirkungsmächtige Partizipation der Lernenden etwa an Entscheidungen über Schulprofil, Fächerangebot, Themen, Projekte, Prüfungsformen und -inhalte ist. Denn ganz allgemein verlangt
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Partizipation auch in der Schule, dass relevante Alternativen existieren. Entscheidungen zwischen diesen Alternativen erfolgen im Grundsatz kollektiv, und alle haben das gleiche Recht auf Beteiligung. Dabei kommt prinzipiell das Mehrheitsprinzip oder das Konsensprinzip zur Anwendung. Das bringt eine für alle verbindliche Entscheidung hervor, die kollektiv geltende Regeln setzt und/oder kollektiv verfügbare Ressourcen verteilt.
4 Die ökonomisch regierte Schule Für den Soziologen Richard Münch gehört die neue schulische Managementkultur zur Umsteuerung auf die „ökonomische Regierung der Schule“, die er als Folge der Durchsetzung des New Public Management, also der Leitung öffentlicher Einrichtungen mit betriebswirtschaftlichen Methoden aus der Privatwirtschaft und deren Steuerung durch Kennzahlen, Vergleiche und Wettbewerb auf Quasimärkten, auch im Bildungssystem beschreibt (Münch 2018, S. 13 ff.). Schulen sollen ihre Leistung dadurch steigern, dass sie in einen Marktwettbewerb gestellt werden, weil der „Markt das beste Instrument zur Leistungssteigerung ist“ (Münch 2018, S. 17). Tatsächlich setzen demokratisch nicht oder schwach legitimierte Akteur*innen wie Wirtschafts- und wirtschaftsnahe Organisationen wie die OECD oder unternehmensnahe Stiftungen wie die Bertelsmann Stiftung ihre Konzepte durch Unterlaufen oder Beeinflussung demokratischer Prozesse sowie unter Ausschluss politischer Partizipation der Betroffenen durch (vgl. Morgan und Shahjahan 2014). Beispiele sind die „PISA-Studien“ für die OECD und Projekte wie Selbstständige Schule oder „Eigenverantwortliche Schule mit Qualitätsvergleichen“ für die Bertelsmann Stiftung (vgl. Initiativkreis Bildung 1999, S. 33–39). Solche Managementmodelle reduzieren den direkten Einfluss von Ministerium und Schulaufsicht, geben den Schulen mehr Entscheidungsfreiheit, insbesondere Budget- und Personalkompetenz einschließlich Lehrkräfterekrutierung sowie dezentrale Auswahl von Lerninhalten einschließlich der Entwicklung von Schulprofilen. Zugleich führen sie neue Steuerungsformen ein, vor allem den marktförmigen Wettbewerb zwischen Schulen, die nun attraktive „Bildungsangebote“ machen und darum konkurrieren sollen, wer die Dienstleistung „Bildung“ am besten „produziert“. Die Schulen werden evaluiert, ihren „Erfolg“ sollen Kennziffern messbar, vergleichbar und öffentlich darstellbar machen. Kennzahlen, Benchmarking, Vermarktlichung und wachsender Einfluss privatwirtschaftlicher Akteur*innen verkleinern den Raum der demokratischen Steuerung und erweitern den Raum der privaten Steuerung (vgl. Dreier 2018).
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Wenn die Bildungsadministration unter diesen Bedingungen der einzelnen Schule mehr Autonomie gewährt, dann transformiert sie die herkömmliche, d. h. demokratische (Parlament), bürokratische (Ministerium, Schulaufsicht) und professionelle (Lehrkräfte) Regierung der Schule zu deren Selbstregierung, überträgt die Kontrolle nun auf scheinbar objektive Kennzahlen, Vergleiche und Wettbewerb und sorgt dafür, dass das neue System „wiederum in die Selbstregierung der Schulleitungen und Lehrkräfte im Wettbewerb um die jeweils bessere Dienstleistung umgemünzt“ wird (Münch 2018, S. 17). Das hat gravierende Folgen für die politische Partizipation. So wie sich Kapitalismus und Demokratie nicht besonders gut vertragen (vgl. Merkel 2014), so passen auch die Schule als Unternehmen und die demokratische Partizipation in der Schule schlecht zueinander. Je mehr Schulen nach dem Leitbild privatwirtschaftlicher Unternehmen geführt werden, je stärker Schulleitungen unternehmerisch handeln (sollen), je ausgeprägter ihr Selbstverständnis das von Manager*innen ist, umso undemokratischer wird die Schule. Das gilt jedenfalls dann, wenn man ihren demokratischen Charakter als einzelne Organisation daran messen will, wie viel Entscheidungsmacht in dieser Organisation Schule die dortigen Schüler*innen sowie die dortigen Lehrkräfte konkret haben. Dabei ist es nachrangig, ob diese Partizipation an der Macht in der Schule durch repräsentative Formen oder unmittelbar und direkt erfolgt. Unerheblich dafür ist es auch, dass Schulen bereits in das System einer Mehrebenendemokratie von Bund, Ländern und Kommunen integriert, damit demokratisch legitimiert sind und kein natürliches, sondern ein politisch zu begründendes Recht auf lokale Autonomie haben. Diese kann dann managerial oder partizipativ ausgelegt und genutzt werden. Die manageriale Schule hat aber immer eine hierarchische Struktur, und die hierarchische Entscheidung ist im Grundsatz das Gegenteil von politischer Partizipation. Freiwillig praktizierte Besprechungen und Beratungen mit Betroffenen sind kein angemessener Ersatz für Partizipation, sondern obrigkeitlich bewilligte Beteiligung bis auf Widerruf. Im Durchschnitt gilt die Formel, je autonomer die Schulleitung, desto heteronomer der Alltag von Schüler*innen und Lehrer*innen. So wie die ökonomische Regierung der Schule und die Managerialisierung der Schulleitung, so gefährden auch Bildungsungleichheit und sozioökonomische Ungleichheit die politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen. Damit geraten die Voraussetzungen von politischer Partizipation in den Blick, von denen ich hier drei kurz anspreche: Bildungsgleichheit, möglichst geringe sozioökonomische Ungleichheit und politische Gleichheit.
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5 Voraussetzungen von Partizipation Gleichheit im Bildungssystem im Sinne von gleichen Chancen auf Zugang zu Bildung ist eine erste Voraussetzung für demokratische Partizipation und politische Deliberation, die dem Prinzip der politischen Gleichheit verpflichtet sind. Ungleichheit in der Bildung erzeugt ungleiche Partizipationschancen und Partizipationsaktivitäten. Das gilt bereits für Sprach- und Argumentationsvermögen als Voraussetzung für Partizipation, die immer mit öffentlicher Kommunikation verknüpft ist. Wie bei deliberativen Ansätzen findet man auch bei partizipativen Ansätzen „in den praktischen Verfahren eine deutliche soziale Selektivität und Bevorzugung von ‚Gebildeten‘“ (Sack 2019, S. 679). Dazu habe ich an anderer Stelle eine asymmetrische politische Bildung für politisch-repräsentativ und sozioökonomisch benachteiligte Gruppen von Kindern und Jugendlichen vorgeschlagen, die eine fachlich fundierte und praktisch wirksame Interessenorientierung und Interessenkompetenz aus Sicht der Jugendlichen selbst bevorzugt (Hedtke 2020). Im Folgenden skizziere ich zunächst kurz die Hemmnisse für Partizipation vonseiten des Bildungssystems und dann die Hindernisse im sozioökonomischen System. Das ist nötig, weil die politische und fachdidaktische Debatte über Partizipation daran krankt, dass sie die systemischen Voraussetzungen von Partizipation verdeckt. Bildungsgleichheit bedeutet in unserem Zusammenhang, dass im Gegensatz zur in Deutschland immer noch weit verbreiteten Praxis Kinder und Jugendliche möglichst lange gemeinsam eine Schule besuchen sollen, statt schon früh in unterschiedliche Bildungsgänge aufgeteilt zu werden. Dafür spricht natürlich auch die Anerkennung der Zusammengehörigkeit und Gleichberechtigung aller Gesellschaftsmitglieder, die in der gemeinsamen Schulzeit ihren unmittelbaren praktischen und ihren symbolischen, ja emblematischen Ausdruck findet. Dem Prinzip der politischen Gleichheit korrespondiert seine bereichsspezifische Anwendung im Prinzip der Bildungsgleichheit. Sie durchzusetzen fordert übrigens kein Opfer in der Dimension von Effektivität und Effizienz, denn der in Deutschland oft beschworene Trade-off zwischen Effizienz und Gleichheit bzw. Gerechtigkeit lässt sich offensichtlich empirisch für das Bildungssystem nicht nachweisen (vgl. Heisig und Solga 2015). Dagegen gibt es selbstverständlich einen Trade-off zwischen Bildungsgleichheit einerseits und Privilegierung bei der sozialen Positionierung der Gesellschaftsmitglieder andererseits. Ein weiteres Argument spricht für Bildungsgleichheit im Sinne einer möglichst langen gemeinsam verbrachten Schulzeit für alle. Die gemeinsame Schule – klassisch als Gesamtschule bezeichnet – bietet allen jungen Gesellschaftsmitgliedern
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tagtäglich die Gelegenheit, gemeinsame politische Angelegenheiten der Schule, der Gemeinde oder des Landes miteinander zu verhandeln, weil sie nicht bereits im Alter von zehn Jahren auf unterschiedliche Schulformen verteilt und so implizit und faktisch vorwiegend nach sozioökonomischen sowie ethnischen Kriterien separiert werden. Die gemeinsame Schule macht dagegen die Werte der repräsentativpartizipativen Demokratie zum Maßstab für die institutionelle Struktur des Bildungssystems – und natürlich für seine Fächer und Inhalte. Eine zweite Voraussetzung ist ein möglichst geringer Grad an sozioökonomischer Ungleichheit (vgl. zum Folgenden Hedtke 2020). In Deutschland ist die sozioökonomische Ungleichheit im internationalen Vergleich relativ hoch. Sie ist vor allem das Ergebnis von staatlicher Politik, des politischen Einflusses von Wirtschaftseliten und Wirtschaftsverbänden, der Geld- und Investitionsmacht von Konzernen, Superreichen und privaten Stiftungen, der Kommunikationsmacht von unternehmensnahen Think Tanks und Medien sowie nicht zuletzt von fehlender Gegenmacht und schwacher Gegenöffentlichkeit. Sozioökonomische Ungleichheit erzeugt Ungleichheit bei politischer Repräsentation und Partizipation und eine strukturelle Benachteiligung unterer Einkommensgruppen bei politischen Entscheidungen, nicht zuletzt, weil die unteren Schichten in Parlamenten schlecht repräsentiert sowie an der politischen Partizipation nur schwach beteiligt sind. Hinzu kommt, dass Globalisierung, Finanzialisierung und Vermarktlichung die politische Macht von Wirtschaftseliten und Kapitaleigentümer*innen weiter stärken und den politischen Einfluss von Verlierergruppen und von ihnen nahestehenden Organisationen wie den Gewerkschaften schwächen („Unterschichtsexklusion“; z. B. Kocka und Merkel 2015, S. 330 f.). Politische Partizipation und sozioökonomische Ungleichheit stehen also in einem negativen Wirkungszusammenhang. Politische Bildung über Partizipation und bildungsförmige Befähigung zur Partizipation müssen deshalb immer die Thematisierung von Ungleichheit einschließen. Schließlich ist drittens die politische Gleichheit eine wesentliche Partizipationsbedingung. Die vorstehend genannten Faktoren der sozioökonomischen Ungleichheit sind im Grundsatz die Ursachen der politischen Ungleichheit, die vor allem zulasten der unteren Schichten und der nachwachsenden Generation geht. Politische Ungleichheit hängt mit sozioökonomischer Ungleichheit zusammen. Sozioökonomische Gleichheit oder zumindest gleiche sozioökonomische Verwirklichungschancen sind eine wichtige Voraussetzung für Gleichheit in der politischen Partizipation.
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6 Politische politische Bildung und Partizipation Die schulischen und außerschulischen Voraussetzungen für politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen hängen also zu einem erheblichen Teil von politischen Rahmenbedingungen und Entscheidungen ab. Eine auf politische Partizipation zielende und an Wirksamkeit interessierte politische Bildung kann sich nicht darauf beschränken, sich damit nur im Unterricht und in den Entscheidungsstrukturen der Schule zu beschäftigen. Sie muss vielmehr politisch werden, die politischen Hindernisse öffentlich thematisieren und erhebliche Veränderungen der partizipationsrelevanten Politiken und Strukturen fordern. Eine politische politische Bildung verlangt nicht nur eine Expansion von Partizipationsoptionen, sondern ebenso die Optimierung der realen Partizipationsbedingungen und den Abbau von Partizipationshindernissen. Wenn die hier grob skizzierte Analyse im Grundsatz zutrifft, dann müssen die Akteur*innen der politischen Bildung politisch werden und die fehlenden oder unzureichenden Voraussetzungen für ihre Partizipationsarbeit in den Schulen auf die Tagesordnung setzen. Angesprochen sind insbesondere die organisierten Akteur*innen wie wissenschaftliche und professionelle Fachverbände, aber auch Bundeszentrale und Landeszentralen für politische Bildung sowie die Vielzahl zivilgesellschaftlicher Einrichtungen politischer Bildung. Gegenüber den Kommunen können auch die Schulen partizipationspolitisch aktiv werden. Die Grundrichtung einer solchen partizipationspolitischen Agenda lautet: Rückbau des gegliederten Schulsystems zugunsten einer langen gemeinsamen Schulzeit für alle Kinder und Jugendlichen (Gesamtschule). Solange weiterhin ein mehrgliedriges Schulsystem mit systematischen sozial selektiven Effekten existiert, kann eine asymmetrische Partizipationsbildung zugunsten der unterprivilegierten und weniger privilegierten Lernendengruppen sinnvoll oder sogar notwendig sein; sie schließt eine stark asymmetrische Mittelverteilung ein (vgl. Hedtke 2020). Ganz generell müssen dann partizipationsrelevante Ressourcen bevorzugt in das berufliche Schulsystem investiert werden. Die Forderung nach einer gemeinsamen Schule für alle hat auch deshalb für die politische Partizipation eine zentrale Bedeutung, weil das unter gegenwärtigen gesellschaftlichen Bedingungen der einzige Raum ist, in dem im Grundsatz alle Gesellschaftsmitglieder dauerhaft versammelt sind, gemeinsame Erfahrungen machen, kollektive Werte entwickeln und politisch kommunizieren, streiten entscheiden (lernen) können.
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Ebenso wichtig ist eine deutliche Reduktion sowohl der sozioökonomischen Ungleichheit wie der politischen Ungleichheit, da beide die gleiche politische Partizipation in der Demokratie behindern. Ohne Zweifel ist das ein extrem anspruchsvolles politisches Projekt. Wenn aber „die individuelle Ressourcenausstattung (Bildung, Einkommen), die soziale Rolle, die institutionellen Möglichkeiten und subjektiven Einstellungen als maßgeblich für politische Beteiligung angesehen“ werden (Sack 2019, S. 672 f.), dann muss man Gleichheit als Leitidee für Bildungs-, Einkommens-, Vermögens-, Steuer- und Sozialpolitik stärken. Die Akteur*innen der politischen Bildung können zu ihrer Verbreitung dadurch beitragen, dass sie sich nicht partizipationspolitisch für die Steigerung funktionaler Partizipation instrumentalisieren lassen, sondern die Verantwortung für politische Partizipation immer wieder auch an die Politik zurückverweisen. Eine nachdrückliche und nachhaltige Einforderung der politischen, rechtlichen und sozioökonomischen Voraussetzungen für gleiche Partizipation wird auf heftigen Widerstand stoßen, auch weil sie unvermeidlich das prekäre Verhältnis von repräsentativ-partizipativer Demokratie und Privatwirtschaft/Kapitalismus auf die politische Tagesordnung setzt. Politische Bildung macht dann Politik, in der Schule, im Bildungssystem und in der „richtigen“ Politik. Sie fördert und aktiviert Kinder und Jugendliche, ihre Interessen und die Gleichheit ihrer Verwirklichungschancen durch politisches Partizipieren voranzubringen. Sie erklärt die Stärkung sozioökonomisch und politisch benachteiligter Gruppen zu ihrer Angelegenheit und setzt sich auch politisch dafür ein. Sie fordert und fördert eine Politik, die gegen politische Ungleichheit kämpft, und trägt selbst nach Kräften dazu bei. Die politische politische Bildung verlässt das Schonraumklima der Partizipation mit Spielcharakter und praktiziert Partizipation in konflikthaften politischen Ernstsituationen, in den man reale Probleme verhandelt und reale Entscheidungen trifft. Dann können Kinder und Jugendliche Politik machen statt Politik spielen lernen.
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Demokratisierung durch Kooperationen? Politische Bildung, außerschulische (politische) Jugendarbeit und Schule Alexander Wohnig Zusammenfassung
Der Beitrag fokussiert auf der Basis von bestehender Forschung und eines aktuellen Forschungsprojektes des Autors die Fragen: Können Kooperationen demokratisierungsunterstützende Bildungsprozesse bei jungen Menschen anstoßen? Wenn ja, welche? Können Kooperationen demokratisierende Wirkungen für die Institution Schule haben? Wenn ja, welche? Dabei wird u. a. auf die Raumtheorie zurückgegriffen, um Chancen aber auch Probleme von Kooperationen zwischen Schulen und außerschulischen Partnern zu skizzieren. Fallstudien aus dem Projekt „Politische Partizipation als Ziel der politischen Bildung“ fokussieren Aspekte wie ‚den Raum‘ der Kooperation, Erfahrungen der ‚Besonderung‘ und der Selbstbestimmung von Schüler*innen und die Frage, was in Kooperationen ‚erlaubt‘ ist. Abschließend werden Möglichkeiten von Kooperationen für demokratisierungsunterstützende Bildungsprozesse, u. a. für die Arbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen, beschrieben.
A. Wohnig (*) Universität Siegen, Siegen, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_11
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1 Einleitung: Kooperationen als Gewinn für Alle? In der Diskussion um demokratische Schulentwicklung und Demokratisierung von Schule sowie um die Frage danach, welchen Beitrag politische Bildung zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen kann, geraten immer wieder Kooperationen von Schulen mit Akteur*innen der Jugendarbeit (Nörber 2004) in den Fokus. An solche Kooperationen werden hohe Erwartungen geknüpft (Bendig 2018, S. 1): Sie gelten u. a. als ein möglicher Garant der Demokratisierung und als innovatives Setting, das in den Alltagsbetrieb der Schule integriert werden kann. Dort sollen Schüler*innen demokratische Erfahrungen und Bildungsprozesse ermöglicht werden, da es vor allem in der außerschulischen Jugendbildung möglich sei „demokratische Werte plastisch erfahrbar [zu] machen“ (Kleine 2010, S. 164). Kleine merkt an, und dies zeigt die hohen Erwartungen und Hoffnungen, die mit der außerschulischen Jugendarbeit verbunden sind: „Es steht nicht weniger auf dem Spiel als das Vertrauen in die Demokratie.“ (Ebd.) Kooperationen finden auf unterschiedlichsten Ebenen statt. In der Ganztagsschule vor allem zwischen Schulakteur*innen und der Jugendhilfe, aber auch mit Sportvereinen und Trägern der politischen Bildung. Hier können Kooperationen als zusätzliches Angebot von Schulen in Anspruch genommen werden oder bieten Kompetenzen, wenn etwa neue Anforderungen an Schule gestellt werden und neue Themen integriert werden müssen. Dies gilt bspw. für B aden-Württemberg, wo Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) seit 2016/2017 eine im Bildungsplan vorgeschriebene Leitperspektive ist. Diana Grundmann hat in einer Studie betont, die „Öffnung der Schule und Kooperationen mit außerschulischen Partnern“ sei ein „wichtiger Schlüssel für die erfolgreiche Verankerung von Nachhaltigkeit in Schulen“ (Grundmann 2017, S. 196). Hier gelten Kooperationen auf mehreren Ebenen – z. B. inhaltlich, pädagogisch, methodisch – als gewinnbringend für eine demokratische Schulentwicklung, da die außerschulischen Partner*innen andere Kompetenzen sowie eine besondere Pädagogik und Methodik ein- und mitbringen und unter anderen institutionellen Voraussetzungen arbeiten, als dies in der Schule der Fall ist. Allgemein wird davon ausgegangen, dass Kooperationen jedoch für alle Akteur*innen gewinnbringend sind: Den Schüler*innen eröffnen sie neue/andere Möglichkeiten und Erfahrungen mit Bildung und Lernen, für Schulakteur*innen stellen sie eine Entlastung dar und diese können wiederum den Schüler*innen neue/andere Erfahrungen ermöglichen, für außerschulische Akteur*innen bieten sie ein Betätigungsfeld, einen Zugang zur Zielgruppe und Möglichkeiten, ‚ihre Themen‘ zu behandeln. Zudem werden von der Bildungspolitik vielfältige
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normative und programmatische Anforderungen an Schulkooperationen gestellt, die allesamt das Positive in den Vordergrund stellen (vgl. Münderlein 2014). Aus Sicht der politischen Bildung lässt sich daran anschließend auf mindestens zwei Ebenen fragen, welche Demokratisierungspotenziale in Kooperationen von Schulen mit Trägern und Akteur*innen der außerschulischen politischen Bildung liegen: (A) Können Kooperationen demokratisierungsunterstützende Bildungsprozesse bei jungen Menschen anstoßen? Wenn ja, welche? (B) Können Kooperationen demokratisierende Wirkungen für die Institution Schule haben? Wenn ja, welche? Mit letzterer Frage verbunden ist die Thematisierung des Selbstverständnisses und des Rollenverständnisses der beteiligten Akteur*innen, insbesondere der Profession der außerschulischen politischen Bildung. Denn hier stellen sich weitreichende Fragen, die die Autonomie dieses Feldes tangieren: Ist es die Aufgabe außerschulischer politischer Bildung, Schulentwicklung zu betreiben? Inwiefern verändert sich das Selbstverständnis von Akteure*innen der außerschulischen politischer Bildung, wenn diese sich auf Kooperationen mit Schule und damit auf die Logiken der Institution Schule ‚einlassen‘? Zu beiden Fragen liegen wenige Forschungserkenntnisse vor. Während auf der Ebene der ersten Frage Vermutungen angestellt werden – so wurde bspw. auf einer Tagung mit dem Titel „Wann, wenn nicht jetzt? – Politische Bildung in der Schule“1 das genannte Thema direkt mit einer Hoffnung bzw. einer vermuteten Wirkung verbunden und behandelt unter der Überschrift „Kooperationen mit außerschulischer Bildung, Politische Bildung auch als Empowerment für Benachteiligte und von Ausgrenzung Bedrohte“ –, wird die Ebene der zweiten Frage in der schulischen politischen Bildung nahezu nicht diskutiert, während sie in der außerschulischen politischen Bildung Grund für Selbstreflexionen ist. Im Folgenden wird beiden aufgeworfenen Fragen auf der Basis weniger Schlaglichter auf bereits bestehende Forschung (Abschn. 1) und eines Forschungsprojektes des Autors (Abschn. 2) nachgegangen und im Fazit zusammengeführt und -gefasst. Der Fokus liegt dabei oft auf der Schule und den Möglichkeiten, diese zu demokratisieren. Es sei jedoch schon an dieser Stelle angemerkt, dass über
1Aus
dem Programm der Tagung „Wann, wenn nicht jetzt? Politische Bildung in der Schule“ (19.–21.10.2018), Zugriff über: https://cloud.akademie-hofgeismar. de/2018/116359.pdf. Zugegriffen: 25. April 2019.
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die zweite Frage eine Debatte in Praxis und Wissenschaft wünschenswert wäre, die das Selbstverständnis und die Logik der außerschulischen Akteur*innen auch aus deren Perspektive in den Mittelpunkt stellt. In den Forschungsarbeiten, die solche Kooperationen untersuchen (für einen Überblick zu Kooperationen in der politischen Bildung vgl. Becker 2017), wird betont, dass diese oftmals als Dienstleistungen gesehen werden. Nörber bspw. spricht von einem ungeklärten Verhältnis zwischen Dienstleistung und Partnerschaft in Kooperationen von Jugendarbeit und Schule (Nörber 2004, S. 434 ff.), oftmals sei nicht von Kooperation zu sprechen, da der Dienstleistungscharakter zu stark sei (Voigt et al. 2018, S. 45). Zudem führen Kooperationen einseitig zu Ent- und Belastung und es besteht eine große Asymmetrie zugunsten der Schule u. a. in Bezug auf eingesetzte Ressourcen (vgl. Münderlein 2014, S. 237 ff.; 2018). Es ist zu vermuten, dass ein Raum zum Austausch zwischen Schule und außerschulischen Akteur*innen fehlt, in denen kritisch über Selbst- und Rollenverständnis gesprochen werden kann (vgl. etwa Chehata und Thimmel 2011, S. 46; Wohnig 2017b, S. 39; Züchner 2017, S. 29; Zschiesche 2004, S. 963).
2 Kooperationen und Demokratisierung: Kritische Nachfragen und Potenziale Auffällig ist, dass die jüngere Forschung zu Kooperationen von außerschulischen Akteur*innen und Schule sich oftmals im Kontext der Ganztagsschuldebatte auf Kooperationen bezieht, die in der Schule stattfinden, insbesondere mit einem Fokus auf die Jugendhilfe und auf Kooperationen zu bestimmten Themen, wie etwa Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE), Kinderrechtebildung oder Globales Lernen. Im Folgenden werden einige ausgewählte Forschungsergebnisse referiert, die eine Bedeutung für die Frage nach den Möglichkeiten von Demokratisierung in Kooperationen aufweisen und sich mit den Kooperationsräumen (Abschn. 2.1), mit Möglichkeiten der Demokratisierung (Abschn. 2.2) und mit der Schule als Ort für außerschulische politische Bildung (Abschn. 2.3) befassen. Im Fazit werden diese mit den Ergebnissen der eigenen Forschung aus Abschn. 2 in Verbindung gebracht.
2.1 Räume der Kooperation Regina Münderlein hat ausführliche Forschungsarbeiten zu Kooperationen von Ganztagsschulen mit Akteur*innen der Jugendhilfe geleistet. Von Wichtigkeit ist
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u. a. die Bedeutung von ‚Räumen‘, die sie herausstellt. Es existierten unterschiedliche Räumlichkeiten und Raumverständnisse im Selbstverständnis von Schule und außerschulischer politischer Bildung: Der Einsatz von ‚Raum‘ hat für Jugendbildungsakteure in Schulkooperationen eine dezidiert pädagogische Bedeutung. Von Schulakteuren wird Schulkooperation als Zugewinn an Raum und als physische Ressource verstanden. In Bezug auf professionelle Rollen stellt Kooperation für Schulakteure […] eine Entlastung, für Akteure der Jugendarbeit eine Verdoppelung der Anforderungen dar. (Münderlein 2014, S. 240–241)
Schulakteur*innen haben ein Raumverständnis, das auf einen funktionalen Raum und außerschulische Akteur*innen eines, das auf einen p ädagogisch-performativen Raum zielt. (Ebd. 238). Es lässt sich also eine Dichotomie bezüglich des Raumverständnisses feststellen, die in ihren Grundsätzen für demokratische Schulentwicklung ein Problem darstellen kann. Im Sinne eines „Neuen Materialismus“ (Goll et al. 2013) können auch Materialitäten in Schule und außerschulischer Bildung untersucht werden. Gebhard et al. (2015) schreiben in der Einleitung eines Schwerpunktheftes der Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung: Der Umgang mit, der Gebrauch von Räumen wird hier […] als Wechselwirkung untersucht, in der der Raum weder nur objektiv vorhanden noch nur als subjektiv konstruiert erscheint, sondern deutlich wird, wie sich Raum und Subjekte wechselseitig bedingen. (Gebhard et al. 2015, S. 7)
Zu berücksichtigen ist also, dass Schulraum und außerschulischer Bildungsraum sowie die darin agierenden und professionell handelnden Akteur*innen, sich unterscheiden. Diese Räume wirken auf die in ihr pädagogisch handelnden Akteur*innen sowie die Lernenden. Damit Kooperationen überhaupt ‚funktionieren‘, gilt es, diese Raumverständnisse zu reflektieren und nach Möglichkeiten der Transformation zu suchen. Dies muss in Kooperationen ausgehandelt werden. So formuliert Münderlein (2014, S. 241–243) etwa Checkfragen für beteiligte Kooperationsakteur*innen, die deutlich machen, was es zu reflektieren gilt. Für schulische Akteur*innen schlägt Münderlein u. a. folgende Checkfrage vor: „Haben wir und ein Bild von der Bedeutung des ‚pädagogischen Raumes‘ für die Sozialpädagogik gemacht?“ (Münderlein 2014, S. 242) Für außerschulische Akteur*innen lautet eine Frage: „Bedeutet Schulkooperation für uns, dass nur (wir als) sozialpädagogische Akteure methodischen und inhaltlichen Input geben? Oder kann ich mir auch vorstellen, dass die Lehrkraft/die Lehrkräfte
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dem Kooperationspartner (uns) etwas vermitteln könnten (z. B. in Bezug auf Gruppenleitung)?“ (Ebd.). Die Ergebnisse verweisen auf Problematiken und praktische Herausforderungen in Bezug auf beide oben gestellten Fragen: zu (A)
zu (B)
I n Kooperationen handelnde Akteur*innen, die sich dem Ziel der Demokratisierung von Schule verschreiben, müssen sich der unterschiedlichen Logik und Verständnisse von Raum bewusst sein. Demokratisierungsunterstützende Bildungs- und Lernkonzepte sowie -prozesse aus dem außerschulischen politischen Bildungsraum können nicht – so wie oft suggeriert – problemlos und ohne Konflikte in den schulischen Raum übertragen werden
2.2 Schule als Ort politischer Bildung für Jugendarbeiter*innen Aus der Sicht der (Offenen) Jugendarbeit sind Kooperationen oft Orte, an denen politische Bildung stattfindet. Dies kann jedoch auch einem verengten Blick auf die eigene alltägliche Praxis geschuldet sein. Stefanie Kessler konnte anhand der Analyse eines Fallbeispiels aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in einem explorativen Forschungsprojekt zeigen, dass Jugendarbeiter*innen aufgrund eines sehr institutionellen und konventionellen Verständnisses von Politik und politischer Bildung letztere nicht in ihre offene Arbeit integrieren, sondern sie in Verbindung mit Kooperationsprojekten mit Schulen durchführen. Oft fehle es solchen Akteur*innen an einem Bewusstsein dafür, Anlässe für politisches Lernen in der Praxis zu erkennen (Kessler 2018). Dafür ist aber festzustellen, dass in Angeboten der Jugendarbeit sehr basisdemokratisch gearbeitet wird. Dies bedeutet in Bezug auf Frage A: zu (A)
S chulkooperationen schaffen Akteur*innen der außerschulischen Jugendarbeit einen Raum für demokratisierende politische Bildung
2.3 Außerschulische Impulse zur Demokratisierung von Schule Rebekka Bendig untersucht Lernprozesse in der Grundschule anhand des Lerngegenstandes „Kinderrechte“ und arbeitet den Beitrag für Lernen und
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Kompetenzerwerb durch die Kooperation mit Partner*innen aus Nichtregierungsorganisationen und der Jugendhilfe heraus. Es geht also um Kooperationen, die in der Schule stattfinden. Sie behandelt die Frage, welchen Mehrwert Kooperationen für die Lernenden haben und welche Wirkungen auf Lernprozesse festgestellt werden können. Bendig entwickelt die These, dass Schule und außerschulische Partner*innen „sich für den Lernbereich Globales Lernen ergänzen und in gemeinsamer Bildungsverantwortung ihre jeweiligen Kompetenzen einbringen“ (Bendig 2018, S. 115). Sie arbeitet drei Handlungsebenen heraus, in denen die außerschulischen Partner*innen „den schulischen Blick auf Lernprozesse um den Aspekt ‚Lernen und Leben‘“ erweitern. Zwei davon betreffen den Bereich „Demokratisierung“ unmittelbar. Diese sind: 1. Schulkultur: Partizipation und Umsetzung der Kinderrechtskonvention im Schulalltag, 2. Öffnung von Schule: Zivilgesellschaftliches Engagement und kommunalpolitische Mitgestaltung. (Bendig 2018, S. 304)
Bendig betont, außerschulische Partner*innen könnten der Schule Impulse geben, und zwar u. a. durch: die Vermittlung einer Haltung, die kinderrechtskonform ist und auf die Ressourcen der Kinder eher als auf die Defizite blickt, […] vielfältige Methoden des erfahrungsbasierten und handlungsorientierten Lernens mit allen Sinnen, die auch solche Kinder anspricht, die schulisch betrachtet eher leistungsschwach erscheinen, […] die Gestaltung von lernfreundlichen Rahmenbedingungen – Projektform und Aussetzung des 45 Minuten-Taktes, […] einen konsequenten Lebensweltbezug, u.a. durch die Ausweitung des Lernortes über das Klassenzimmer hinaus [… und] den Status des Externen, der per se eine erhöhte Aufmerksamkeit erhält. (Bendig 2018, S. 305)
Die Ergebnisse verweisen auf positive Möglichkeiten in Bezug auf beide oben gestellten Fragen: zu (A)
bene der handelnden Akteur*innen: In Kooperationen können E außerschulische Partner*innen Bildungs- und Lernverständnisse schulischer Akuter*innen erweitern und demokratisieren. zu (B) Ebene der Institution: Die spezifischen Kompetenzen der außerschulischen Akteur*innen können in Kooperationen Räume der Demokratisierung – auch in der Schule – schaffen
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3 Demokratisierung in Kooperationen? Empirische Erkenntnisse aus einem partizipativen Forschungsprojekt zum politischen Handeln von Schüler*innen Die Befähigung von Menschen zum politischen Handeln gilt als ein zentrales Ziel politischer Bildung. Im schulischen Politikunterricht steht dabei das Lernen über politisches Handeln im Mittelpunkt, während tatsächliches Handeln, verstanden als Bildungs- und Lerngelegenheit sowie als Artikulationsmöglichkeit eines politischen Urteils, weniger präsent ist. Im Modellprojekt „Politische Partizipation als Ziel der Politischen Bildung“ wird ein Möglichkeitsraum geschaffen, in dem junge Menschen, begleitet durch außerschulische politische Pädagog*innen, politische Aktionen planen, durchführen und reflektieren können. Konkret kooperiert in dem Modellprojekt in einer Tandemstruktur jeweils ein*e Politiklehrer*in mit einer Einrichtung der außerschulischen politischen Bildung. In einem ersten außerschulischen politischen Bildungsseminar können Schüler*innen an einem politischen Thema arbeiten und eine Aktion dazu planen. Anschließend verlassen sie den außerschulischen Bildungsort und führen die Aktion durch. Zur Reflexion des gesamten Vorgehens und der Aktion(en) findet ein zweites Seminar statt. Inwiefern die Inhalte und Aktionen sowie Aktionsideen im schulischen Unterricht und in der Schule allgemein, bspw. von der betreuenden Lehrperson, aufgegriffen werden, ist unterschiedlich. Im Sinne einer erfolgreichen Kooperation ist es jedoch sinnvoll, dass die Lehrpersonen Räume schaffen, in denen die Schüler*innen die in der außerschulischen Bildung begonnenen Projekte weiterführen und verwirklichen können. Das Modellprojekt wird mithilfe eines partizipativen Settings beforscht (ausführlich dazu in Mack und Wohnig 2019). Dabei wird u. a. den Forschungsfragen nachgegangen, welche Bildungs- und Lerngelegenheiten in der Ermöglichung politischen Handelns bei jungen Menschen entstehen und wie diese angeleitet, begleitet und reflektiert werden können. Zudem werden Bedingungen eruiert, unter denen Kooperationen zwischen Schulen – und hier insbesondere dem Politikunterricht – und außerschulischen politischen Bildungsträgern gelingen können. Einige empirische Erkenntnisse aus der Forschung im Modellprojekt sollen im Folgenden, durch fragmentarische Einblicke in vier Fallstudien Hinweise auf die beiden Fragen nach den Demokratisierungspotenzialen und demokratisierungsunterstützenden Bildungsprozessen in Kooperationen geben. Die ersten beiden Fallstudien verweisen schwerpunktmäßig auf die Bedeutung des Raumes in
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Kooperationen (vgl. Abschn. 2.1 und 2.2), die letzten beiden Fallstudien auf Möglichkeiten demokratisierender Bildungserfahrungen in Kooperationen (vgl. Abschn. 2.3).
3.1 „Den Raum Schule verlassen“: Gemeinsame Intention von Kooperationen Ein interessanter Befund betrifft die subjektiven Einstellungen von an Kooperationen beteiligten Personen in dem beforschten Modellprojekt. Mit den Erfahrungen der Kooperation betonen die Lehrer*innen, dass es in den Räumen der außerschulischen politischen Bildung möglich sei „in einer anderen Umgebung zu lernen“. Die Schüler*innen sollten durch die Kooperationen sehen, dass Lernen und Erfahren auch ‚anders‘ als in der Schule möglich sei. In der Betonung des Anderen wird eine direkte Gegenüberstellung der Orte mitsamt ihrer Logiken vorgenommen. Die Lehrer*innen charakterisieren dieses Andere durch verschiedene Eigenschaften: Bildung und Lernen findet statt ohne Lehrplan, ohne Noten, ohne Zeitmangel, konkret durch Handeln statt abstrakt/ rein kognitiv, an einem schöneren Ort, mit Verpflegung und Anerkennung der Personen sowie mit Menschen, die sich über mehrere Tage um die Gruppe kümmern. Hier öffnen sich, so das Verständnis der Lehrer*innen, Räume für demokratische Bildungs- und Lernprozesse. Am Projekt beteiligte außerschulische politische Bildner*innen beschreiben als Ziel der Kooperationen, dass Schüler*innen „aus dem Raum Schule rauskommen“ und „den Raum Schule verlassen“. So äußert ein außerschulischer politischer Bildner, Schüler*innen würden in Seminaren der außerschulischen politischen Bildung erkennen, dass sie dort „anders mal denken [können] und die merken das durch den Raumwechsel. Es braucht […] dieses Erleben und die Symbolik auch“. Eine außerschulische politische Bildnerin beschreibt die Problematik des Zusammenkommens zweier unterschiedlicher Räume und Raumlogiken: „Also unsere Seminare können gelingen, weil die Lehrer nicht dabei sind und die [Schüler*innen] nochmal einen anderen Raum haben, um sich zu artikulieren und NICHT bewertet werden und so weiter und dann gehen sie aber zurück in die Schule und dann […] wird es wieder von den Lehrern übernommen.“ Hier zeigen sich Intention und Ziel der an Kooperationen beteiligten Akteur*innen: Kooperationen sollten Schüler*innen ein anderes und demokratischeres Lernen als das schulische sowie andere und demokratischere Erfahrungen ermöglichen. Dieses Lernen und diese Erfahrungen finden am Ort
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der außerschulischen politischen Bildung statt, und damit außerhalb des Raums Schule. Für die Frage, inwiefern politische Bildung zur Demokratisierung der Gesellschaft und der Schule beitragen kann, bedeutet dies, dass außerschulische Bildungsträger in Kooperationen mit Schule demokratische Bildungs- und Erfahrungsräume schaffen, dass diese jedoch nicht zwangsläufig Schule verändern. Sie schaffen für Schüler*innen und Lehrer*innen Gelegenheiten, um ‚das Andere‘ kennenzulernen und es womöglich in Schule einzufordern bzw. in Ansätzen zu realisieren. Die Denkmuster werden von den Lehrer*innen und außerschulischen Pädagog*innen in Gruppendiskussionen geäußert. Diese finden im Modellprojekt jährlich in zwei Gruppen – alle am Projekt beteiligten Lehrer*innen und alle am Projekt beteiligten außerschulischen Pädagog*innen – statt. Es zeigt sich, dass die Akteur*innen sich durch diesen Austausch das Raumverständnis in seiner Unterschiedlichkeit bewusst machen können. Demokratisierendes Potenzial identifizieren sie in Kooperationen vor allem außerhalb der Schule. Zudem werden Probleme des Übergangs von Bildungs- und Lernprozessen sowie von Projekten von einem zum anderen Raum identifiziert und damit bearbeitbar gemacht.
3.2 Was ist erlaubt? Schulische Logik und außerschulischer Bildungsraum Subjektorientiertes Arbeiten und demokratische Organisation von Bildungsprozessen bedeutet im Selbstverständnis außerschulischer politischer Bildung auch, dass die Teilnehmenden in Seminarangeboten an sie betreffenden Themen arbeiten, die sie im Idealfall selbst wählen können. Dies stellt in der Regel eine Differenz zu den Schulerfahrungen von Schüler- aber auch Lehrer*innen dar. In Interviews berichten am Modellprojekt beteiligte Schüler*innen, dass sie die Differenz zwischen außerschulischen Seminaren und dem schulischen politischen Lernen unter anderem über die Frage erleben, von wem die Themen gesetzt werden. Schüler*innen erkennen die Unterschiede zum schulischen Lernen schnell und betonen darin eine Stärke der Kooperationen, was schulische Akteur*innen wiederum als Bereicherung von Schule beschreiben (s. o.). Die außerschulischen Akteur*innen formulieren den Anspruch, dass Themen zugelassen werden, die die Teilnehmenden selbst einbringen und zu denen sie einen subjektiven Zugang haben. An diesem Selbstverständnis können Konflikte in der Kooperation mit Schule entstehen, wenn die gewählten Themen für die Lehrpersonen oder die Institution Schule ein Problem oder eine Gefahr darstellen,
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wenn diese als nicht in den Schullalltag integrierbar aufgefasst werden. Dieses potenzielle Problem muss nicht real vorhanden sein, es reicht, wenn die Lehrperson es als ‚möglich‘ identifiziert. Ein Fall aus dem Modellprojekt zeigt dies recht deutlich: Eine Gruppe von ca. zehn Schüler*innen eines Leistungskurses Politik der 12. Klasse, wählt im außerschulischen politischen Bildungsseminar „Cannabis-Legalisierung“ als potenzielles Thema und ändert den Titel aufgrund antizipierter Probleme der Schule mit dem Inhalt selbstbestimmt in „Drogen in der Gesellschaft“. Nach einiger Zeit der Beschäftigung mit möglichen Schwerpunkten der Arbeit, in der deutlich wird, dass die Schüler*innen auf politisch-gesellschaftliche Folgen einer Legalisierung – Entkriminalisierung, Wirtschaftswachstum, Behandlung von Krankheiten usw. – hinweisen wollen, meldet sich die Lehrperson zu Wort: Ich will mich ungern hier so als Spielverderber aufspielen, aber ich sehe jetzt momentan, das, was wir hier machen, hat Außenwirkungen für unsere Schule […] Wir haben MOMENTAN in unserer Schule […] ein riesen Drogenproblem, das bei der siebten Klasse anfängt und bis in die Oberstufe geht. Wir haben gerade ein paar Schüler verloren [durch Schulverweise] und ich weiß nicht, ob es das richtige Zeichen wäre jetzt in unserer Schule über die Legalisierung [Lachen der Gruppe] von Cannabis. Ähm, es könnte natürlich […] sein, dass ich das jetzt in irgendeiner Form beeinflusse, hier dieses Projekt, was nicht so gut ist, aber ich wollte dieses Argument nur mal kurz in den Ring werfen. Ich bin, ich bin, ich bin für eine offene Diskussion. Ich weiß nur […] nicht ob der Zeitpunkt, jetzt über die Legalisierung von Drogen zu sprechen, das richtige Thema für UNSERE SCHULE wäre, weil wir da gerade gegen ein […] Stigma versuchen an zu arbeiten.
Der Lehrer beruft sich in seiner Intervention auf ein Kollektivsubjekt, dem auch die Schüler*innen angehören: unsere Schule. Für die Schule und hier insbesondere ihren Ruf sind alle verantwortlich. Das Interesse der Lehrperson wird zudem als Gesamtinteresse postuliert und die Schüler*innen, die die Aktion als Legalisierungskampagne durchsetzen wollen, werden durch die Betonung des Pronomens „unsere“ als potenziell außerhalb des Kollektivsubjekts Stehende definiert, da sie gegen das Interesse der Schule handeln möchten. Die Lehrperson artikuliert ein Bewusstsein für die Problematik der Intervention, letztendlich wird die sehr machtvolle schulische Intervention aber pädagogisiert: Die Beschäftigung mit der Thematik wird nicht direkt verboten und die Rolle des potenziellen Spielverderbers und gleichzeitig der Lehrperson wird als „nicht gut“ markiert. Gleichzeitig wird jedoch sehr eindrücklich auf die Wahrnehmung der Verantwortung aller Schulangehörigen gepocht, gegen das Stigma der Schule zu kämpfen.
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Mit der Intervention hält die Logik der Schule Einzug in den außerschulischen Raum. Auch die Bemühungen der außerschulischen Pädagog*innen, in dem Interessenskonflikt zu vermitteln und die Argumentation der Schüler*innen und deren Themenwahl ernst zu nehmen, ändert an dieser Situation wenig. Spätestens mit dem Vorschlag der Lehrperson: „vielleicht könnte man einfach das Projekt ein bisschen umbenennen, also nicht Richtung Cannabis-Legalisierung, sondern Drogenprävention oder sonst irgendwas“, wird das Interesse der Schüler*innen an der Thematik dem Interesse der Lehrperson, der Schulleitung und der Schule untergeordnet. Die Schüler*innen erkennen die für sie entstehende Problematik: „Wir [Schüler*innen] wollen sie [Lehrperson] ja da auch nicht in irgendwelche Schwierigkeiten bringen.“2 In der Konsequenz arbeiten die Schüler*innen an einem Aufklärungsprojekt zum Thema Drogen, das nie verwirklicht wird. Ein Schüler, der bei der Themenfindung und der Verteidigung des Themas besonderes Engagement und Wissen gezeigt hat, zieht sich immer mehr aus der aktiven Gruppenarbeit heraus und erscheint nicht zum zweiten außerschulischen Seminar.
3.3 Kooperationen als Ort der ‚Besonderung‘ und von selbstbestimmten Bildungserfahrungen In der Regel nehmen Klassenverbände an der Kooperation im Modellprojekt „Politische Partizipation als Ziel der politischen Bildung“ teil. An einer Hauptund Realschule jedoch wurde eine jahrgangsübergreifende Arbeitsgemeinschaft (AG) für die Jahrgangsstufen sieben bis neun geschaffen. Die zwei betreuenden Lehrkräfte sprachen Schüler*innen an, die sie als politisch interessiert identifizierten. Von diesen besuchten 13 freiwillig mit der AG außerschulische Bildungsseminare und arbeiteten in der Schule an einer Aktion. Somit war das Prinzip der Freiwilligkeit, ein Kernkonzept der außerschulischen politischen Bildung, das sonst im Modellprojekt außer Kraft gesetzt wird, scheinbar hergestellt. Der Fall zeigt jedoch auch, dass ein solcher Prozess eine Form der ‚Besonderung‘ schafft und multiple ‚Wir-Sie-Konstruktionen‘ bei den beteiligten Schüler*innen herstellt, wie bspw. auch Forschungsarbeiten zum Netzwerk „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ zeigen (Guthmann 2011).
2Ähnlich
äußert eine andere Schülerin: „[F]alls wir es machen aber wirklich nur […] so eine Art Drogenaufklärung, aber ich weiß nicht, wie das [die Lehrperson] sieht, ob das dann doch auch zu viel ist, aber auf jeden Fall nicht mehr unter der Überschrift [CannabisLegalisierung] so wie wir es am Anfang angefangen haben.“
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Durch die Exklusivität der Teilnahme wird ein besonderer Status der engagierten Schüler*innen geschaffen, der wiederum mit einem besonderen Status, die diese Schüler*innen bei Lehrer*innen der Schule und teilweise auch bei weiteren Schüler*innen bekommen, einhergeht. Teile der weiteren Schüler*innen der Schule reagieren mit Ablehnung auf diese Exklusivität und ‚Besonderung‘, was manche der ‚engagierten Schüler*innen‘ in eine besondere öffentliche Rolle in der Schule bringt, mit der sie einen Umgang finden müssen. So berichtet eine Schülerin von einem komischen Gefühl: „[I]rgendwie auf einmal kennen mich so die Leute in der Schule, das find ich ganz komisch. Zum Beispiel auch als mir das Mädchen […] hinterhergerufen hat, dass ich so hässliche Klamotten trage und so was, als wir stehen geblieben sind, hat die mich so angeguckt: ‚Ah, du bist doch [Name der Schülerin] oder?‘ Und […]das halt öfter schon, dass mich so Leute ansprechen: ‚Hey, [Name der Schülerin]‘. Und ich kenn die so gar nicht und dann denk ich mir so: ‚Okay so, das ist komisch irgendwie‘.“ In Reaktion auf den neuen und besonderen Status, der teilweise erfahrenen Ablehnung durch andere Schüler*innen in der Schule und dem eigenen Engagement, nehmen die Schüler*innen, die eine Aktion gegen Rassismus und Ausgrenzung an der Schule initiieren, Wir-Sie-Unterscheidungen in folgenden Varianten vor: • Wir, die Engagierten – Sie, die Nicht-Engagierten • Wir, die Antirassist*innen – Sie, die Rassist*innen • Wir, die Vernünftigen – Sie, die Unvernünftigen Diesen als problematisch anzusehenden Abgrenzungen stehen empowernde, äußerst selbstbestimmte und weitreichende politische Bildungsprozesse und Aktionen gegenüber, die die Schüler*innen dieser Haupt- und Realschule auch anhand von Ungleichheitsdimensionen reflektieren. Ein Schüler betont, er habe erfahren und sei der Überzeugung, „dass […] halt nicht […] nur Gymnasialschüler so was bewirken, sondern auch wir […] Oberschüler so was bewirken können, wir von dem Projekt überzeugen können.“ Abgrenzung und Besonderung geht in diesem Fall einher mit Empowerment und Selbstbestimmung in demokratischen Bildungs- und Lernprozessen einer kleinen Peergroup von Lernenden. Diese kann im Sinne einer Community von Gleichgesinnten verstanden werden. Politisch empowernde Bildungsprozesse, die für diesen Fall nicht ausführlich beschrieben werden können, bilden den Kern des nächsten Falles.
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3.4 Politisches Empowerment bildungsbenachteiligter Jugendlicher in Kooperationen Kooperationen mit außerschulischen Bildungsträgern werden von Schulen als externe Bereicherung genutzt, um Erfahrungs- und Bildungsmöglichkeiten zu schaffen, die in der Schule im Regelbetrieb nicht erreicht werden können (Becker 2017, S. 11). Im Modellprojekt sind dies erstens die Gelegenheit zu politischem Handeln in einem von den Schüler*innen selbstbestimmt als wichtig und subjektiv betreffend definierten sowie sie interessierenden Themengebiet. Zweitens die Möglichkeit politisch empowernde, d. h. ermächtigende und den Grad der Autonomie und Selbstbestimmung erhöhende Lern- und Bildungsangebote zu erleben. Die Schüler*innen sollen Gelegenheit erhalten, sich als selbst Handelnde zu erleben, selbstbestimmt und pädagogisch begleitet Aktionen zu planen, durchzuführen und zu reflektieren und dadurch ihr Recht auf politische Partizipation wahrzunehmen (lernen). Im letzteren Fall gilt es auf die Selbst- und Fremdzuschreibungen bezüglich des politischen Interesses und des Rechts, politisch in der Öffentlichkeit zu erscheinen, die unterschiedliche Schüler*innengruppen ‚mitbringen‘, Rücksicht zu nehmen. Hier zeigen Fallstudien aus dem Modellprojekt und ein Blick in schon geleistete Forschungsarbeiten, dass bildungsbenachteiligte junge Menschen die Fremdzuschreibung, sie seien politisch desinteressiert, wenig politisch engagiert und ebenso nicht berechtigt, im öffentlichen Raum politisch zu sprechen, als eine Selbstzuschreibung übernehmen (Zeuner 2017, S. 46). Um auf diese Problematik zu reagieren, hat Christine Zeuner die Wichtigkeit des Konzeptes der politischen Grundbildung betont. Dabei gilt das gemeinsame politische Handeln von Menschen in Anknüpfung an deren Interessen als zentral, denn in diesem können sie sich „politisches Wissen und politische Handlungsfähigkeit und damit Politikkompetenz aneignen“ (ebd., S. 48). Es geht dabei nicht um messbare und prüfbare Kompetenzen, sondern um einen selbstbestimmten Lern- und Aneignungsprozess, „deren Inhalt sich aus gesellschaftlichen Zielsetzungen und daraus folgenden politischen Aktivitäten ergeben“ (ebd.). Politisches Handeln ist in diesem Verständnis sowohl ein Ziel politischer Bildung als auch der Weg zu politischer Bildung. Jede*r Einzelne sollte daher dazu befähigt werden, „sich selbst im Verhältnis seiner Umgebung zu sehen, seine Möglichkeiten und auch seine Beschränkungen zu erkennen und an ihrer Überwindung zu arbeiten“ (ebd., S. 51). Allen Menschen sollte die Möglichkeit
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gegeben werden, die Ziele Autonomie, Mündigkeit, Emanzipation und Selbstbestimmung erreichen zu können, was vor allem für solche Menschen gilt, die eine oben beschriebene negative Fremdzuschreibung als Selbstzuschreibung übernommen haben. Kooperationen, wie in dem Modellprojekt „Partizipation als Ziel der politischen Bildung“, können solche Räume schaffen, indem subjektund sozialraumorientiert und mit der realen Möglichkeit auf eigenes politisches Handeln gearbeitet wird. Da bildungsbenachteiligte Jugendliche „[z]wischen politische[n] Themen und ihrer Lebenswelt […] oft keinen Bezug herstellen“ können, halten sie „einen Großteil der politischen Begrifflichkeiten, Themenfelder oder Sachverhalte für sich persönlich für irrelevant“ (Kohl und Calmbach 2012, S. 21). Mit einem „weiten“ Politikbegriff jedoch können bildungsbenachteiligte Jugendliche als potenziell politisch interessierte Menschen begriffen werden, die ein Interesse an Ungerechtigkeiten im eigenen Umfeld haben, ihre Lebensräume gestalten wollen, in ihrer eigenen Sprache und mit Bezug zu ihren eigenen Themen Sprachrohre suchen und sich auch persönlich „für eine konkrete (soziale) Sache im Nahraum […] engagieren“ (ebd., S. 23) und sich politisch für ein Ziel einbringen. Die Chancen für demokratisierungsunterstützende Erfahrungen und Lernund Bildungsprozesse, die sich in Kooperationen eröffnen, haben sowohl mit der Logik und des Verständnisses des Bildungsraums der außerschulischen politischen Bildung, als auch mit den realen Handlungserfahrungen, die dort möglich werden, zu tun. Dies kann anhand der Darstellung eines Falles einer Klasse in einem Bildungsgang zur Berufsvorbereitung illustriert werden. Es handelt sich bei der Kleingruppe um drei männliche Schüler zwischen 17 und 18 Jahren, die ohne einen Schulabschluss die Regelschule verlassen haben. In einem Projekt behandeln sie, nach einer pädagogisch angeleiteten Sozialraumanalyse, das Thema „Klimaschutz“ und möchten zu diesem Zwecke 17 Mülleimer aufstellen, die mit den Logos der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen gestaltet werden sollen. Im Laufe der Aktion, die die Schüler durch die inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema „Klimaschutz“, den Nachhaltigkeitszielen und den Verantwortlichkeiten zum Klimaschutz in ihrer Kommune vorbereiten, kommen sie mit verschiedenen Entscheidungsträger*innen aus Politik und Verwaltung in Kontakt, die ihre Aktionsidee ablehnen und stattdessen versuchen, sie von der klimafreundlichen Politik der Kommune oder von der Verwirklichung einer Serviceleistung für die Stadt zu überzeugen. Das vermeintliche ‚Scheitern‘ wird von den Schülern reflektiert und die insgesamt drei außerschulischen politischen Bildungsseminare werden als „einfach perfekt“ beschrieben. Die Gründe für diese Bewertung liegen vor allem in der erfahrenen positiven Anerkennung der Jugend-
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lichen im außerschulische Raum3 und dem Machen erster Erfahrungen in Bezug auf politisches Erscheinen in der Öffentlichkeit. In dem Projekt wird das Recht auf politische Partizipation nicht nur wahrgenommen, sondern ein Raum geschaffen, in dem dieses formal zwar bestehende, aber nie eingelöste Recht von den Schülern zum ersten Mal eingeübt werden kann; ein Ort demokratisierungsfördernder Erfahrungen.4
4 Fazit: Demokratisierung auf institutioneller und pädagogischer Ebene In Abschn. 1 wurden Forschungsergebnisse zu Kooperationen beschrieben, die auch auf Kooperationen in Schule, zwischen Jugendarbeit und Schule, eingehen. In Abschn. 2 wurden erste Ergebnisse aus der Forschung zu einem Kooperationsprojekt von außerschulischen politischen Akteur*innen mit Schulen beschrieben, die schwerpunktmäßig außerhalb von Schule stattfinden. Es kann festgestellt werden, dass auf beiden Ebenen – Kooperationen mit dem Schwerpunkt in Schule, und Kooperationen mit dem Schwerpunkt außerhalb von Schule – ähnliche Herausforderungen und Probleme bestehen. Im Folgenden werden die Ergebnisse in Hinblick auf ihre Implikationen für die eingangs formulierten beiden Fragen zusammengefasst. Die vier Fallstudien zu Kooperationen von Schule und außerschulischer politischer Bildung verweisen auf 1. die von Lehrer*innen und außerschulischen politischen Bildner*innen geteilte Intention, den Raum Schule in Kooperationen zu verlassen und die damit verbundenen positiven Erwartungen, aber auch auf die Tatsache, dass es für außerschulische politische Akteur*innen problematisch ist, wenn bei der Überführung der Bildungsprozesse und -ergebnisse in die Schule wieder die
3Diese
Anerkennung hat verschiedene Ebenen, die durch die Rahmenbedingungen der außerschulischen Bildung gefördert werden (offenes Arbeiten an den Interessen der Teilnehmenden, keine Bewertung usw.). Dazu gehören auch scheinbar banale Aspekte, wie die Tatsache, dass sich in den Seminartagen viele Menschen um die Teilnehmenden kümmern und diese versorgen. Den Ort der außerschulischen politischen Bildung machen dadurch auch Dinge, wie die Versorgung mit Essen aus. Ein Schüler aus der benannten Gruppe äußert: „Hier [in der außerschulischen Bildungsstätte] gibt’s sogar Essen, oh mein Gott.“ 4Die Fallstudie kann ausführlicher in Kenner und Wohnig 2019, i. E. nachgelesen werden.
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dort herrschende funktionale Raumlogik wirkt. Zur Reflexion der unterschiedlichen Raumverständnisse unter den an Kooperationsprojekten beteiligten Akteur*innen, braucht es ebenso Räume; 2. die Problematik, dass die schulische Logik in Kooperationen in die außerschulischen Räume Einzug erhält und dadurch demokratische Lern- und Bildungsprozesse einschränkt/einschränken kann; 3. die Möglichkeit, in Kooperationen Freiräume für politisches Empowerment, selbstbestimmte Bildungsprozesse und wirkliches politisches Handeln zu schaffen, dass aber auch Prozesse der ‚Besonderung‘ von Schüler*innen einsetzen können; 4. die besondere Stärke für die Arbeit mit bildungsbenachteiligten Jugendlichen, die durch die Logik des außerschulischen Raumes wirkt, u. a. da in Kooperationen wirkliches politisches Handeln als Ziel und als Weg zum Erreichen des Zieles gelten kann. In Bezug auf die diesem Aufsatz zugrunde liegende erste Frage, lässt sich festhalten: Kooperationen bieten vielfältige Möglichkeiten, um demokratisierungsunterstützende Bildungsprozesse anzustoßen: • Kooperationen können einen neuen Raum schaffen, in dem schulische Raumlogiken (kurzzeitig) außer Kraft gesetzt werden und dadurch Möglichkeiten für radikal subjektorientiertes und demokratisches Lernen eröffnen. Dafür bedarf es einer Bewusstmachung der Logik des ‚anderen‘ Raumes, u. a. um zu verhindern, dass schulische Raumlogiken in Kooperationen in den außerschulischen Raum restriktiv übergreifen. • Besonders für bildungsbenachteiligte Jugendliche können Kooperationen Räume und Gelegenheiten schaffen, um das Recht auf politische Partizipation handelnd einzufordern und sich im politische Erscheinen im öffentlichen Raum zu üben. Auch für das „Recht zu Erscheinen“ (Butler 2016) müssen Gelegenheiten geschaffen werden. Dies gilt gerade für Menschen, denen dieses Recht, bspw. durch die Auswirkungen sozialer Ungleichheit, Zugangsprobleme aufgrund eines anderen Habitus usw., abgesprochen wird, bzw. die es sich selbst absprechen. • In Kooperationen und vor allem in den Räumen der außerschulischen politischen Bildung, kann reales politisches Handeln stattfinden. Sie können ein ‚Experimentierfeld‘ für junge Menschen und für die Demokratie sein. Allerdings lässt sich mit Blick auf die zweite Frage auch kritisch fragen: Inwiefern ist es Aufgabe von Kooperationen und damit auch von außerschulischen
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politischen Bildungsakteur*innen, Demokratisierung von Schule zu unterstützen oder gar zu initiieren? Fallbeispiele zeigen, dass die Überführung demokratischer Bildungserfahrungen aus dem außerschulischen in den schulischen Raum auf Probleme stoßen kann. Soll die außerschulische Bildungsintervention an schulische Prozesse angedockt werden oder diese unterstützen, soll eine Kooperation also ein wirkliches Zusammenarbeiten an einem Ziel darstellen, so tritt die Problematik der verschiedenen Raumlogiken noch deutlicher zutage. Aus Sicht außerschulischer (politischer Bildungs-) Akteur*innen ist weitergehend zu fragen, welchen Einfluss es auf ‚ihr‘ Feld und Selbstverständnis hat, wenn sie nahezu durchweg als Kooperationspartner*innen – und meistens in Kooperationen, wie die Empirie zeigt, als Dienstleister*innen – von Schule gesehen werden. Bei aller Diskussion von Gelingensbedingungen von Kooperationen, in der auf kritisch Punkte verwiesen und gefordert wird, man solle sich ‚auf Augenhöhe begegnen‘, spielt diese grundsätzlichere Frage kaum eine Rolle. Regina Münderlein (2014) stellt in ihrer Forschung fest, dass in Kooperationen selten ein „ganzheitlich pädagogischer Ansatz“ (ebd., S. 244) praktiziert wird, dass „keine innovativen pädagogischen Konzeptionen als Handlungslogiken angelegt wurden. Vielmehr führten die Akteure beider Institutionsformen bestehende pädagogische Intentionen weiter und nutzten dazu Schulkooperationen als Korrelat/ Pendant“ (ebd., S. 238), also als Ergänzung. Die häufig antizipierten Synergieeffekte in Kooperationen sind offensichtlich institutionell nicht zu erwarten, solange nicht bei der beteiligten Lehrperson pädagogische Erfolge erfahrbar geworden sind und damit eine förderliche Erfolgsdynamik angestoßen wurde. Daher wäre eine Erweiterung der Ressourcen und Kompetenzen für diese Brückenpersonen bedeutsam. Gleichzeitig steht außer Frage, dass individuelles kooperatives Verhalten allein fehlende Strukturen und Rahmenbedingungen für Kooperationen nicht nachhaltig ausgleichen kann. (Münderlein 2014, S. 244)
In dem beforschten Modellprojekt zeigt sich jedoch auch – ähnlich in der Forschung zu einem anderen Kooperationsprojekt (Wohnig 2017a, S. 225–230) –, dass Lehrer*innen in Kooperationen vielfältige Lern- und Bildungsprozesse erleben, die dafür sprechen, dass Kooperationen auf Schule insofern demokratisierend wirken, als dass sie bei einzelnen Lehrpersonen das Bewusstsein bspw. für subjekt- und lebensweltorientierte Didaktiken und Methoden erweitern, die dann Bedeutung für ihr pädagogisches Handeln in der Schule erlangen. Dadurch ändert sich der schulische Raum nicht weitreichend; schulische Logiken werden nicht außer Kraft gesetzt. Aber: Durch das Ermöglichen von demokratisierungsunterstützenden Bildungsprozessen in Kooperationen können diese eine demokratisierende Wirkung auch auf Schule haben.
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Das Politische und das Demokratische der Politischen Bildung
Die Rückkehr der Demokratie in die (Lehrkräfte)Bildung Sabine Achour, Martin Lücke und Detlef Pech
Zusammenfassung
Der Beitrag erläutert das Projekt „Demos Leben“ (Demokratiebildung in der 1. Phase der Lehrkräftebildung).
1 Bildung für Demokratie – wo ist sie geblieben? Eine Einleitung Warum finanziert die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Familie, Jugend, konkret der Projektleiter (Mario Dobe) für Inklusion, ein Pilotprojekt wie „Demos Leben“ an der Freien Universität und der Humboldt Universität zu
S. Achour (*) · M. Lücke Freie Universität Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Lücke E-Mail: [email protected] D. Pech Humboldt-Universität zu Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_12
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Berlin?1 Mit diesem Projekt existieren für die Demokratiebildung in der Lehrkräftebildung an Freien Universität Berlin und der Humboldt Universität zu Berlin zwei Jahre Mittel für drei wissenschaftliche sowie drei studentische Mitarbeiter*innen und Sachmittel zur Finanzierung von Projekten und projektexterner Expertise. Zielsetzung ist die (Re-)Implementierung von Demokratiebildung in der 1. Phase der Lehrkräftebildung in Berlin. Eine im Vorfeld stattgefundene Analyse der Studien- und Prüfungsordnungen (Achour und Lücke 2016) hat gezeigt, dass verschiedenste Fragen und Angebote zum Thema aus der universitären Lehrkräftebildung als Querschnittthema fast verschwunden, zumindest stark reduziert worden sind: Was erfordert das Zusammenleben in offenen Gesellschaften? Was heißt eigentlich Demokratie? Wie sieht eine demokratische Schul- und Unterrichtskultur aus? Wie werden junge Menschen handlungsfähige Demokrat*innen? Was sind Gefahren für die Demokratie? Warum werden bestimmte soziale Gruppen besonders diskriminiert, insbesondere im Kontext zunehmender Vielfalt? Dass es sich dabei nicht nur um ein Desiderat an Berliner Universitäten handelt, belegen verschiedene Studien (z. B. im Kontext migrationsbedingter Vielfalt: Roth und Wolfgarten 2018). Dass sich diese Entwicklung auch auf die Demokratiebildung an Schulen auswirkt, zeigt eine entsprechende Lehrkräftebefragung von Gerold und Schneider aus dem Jahr 2018: Das Ausmaß schulischer Demokratiebildung ist ganz überwiegend als mäßig einzustufen. Lediglich bei 3,4 Prozent der Befragten kann eine hohe Intensität schulischer Demokratiebildung beobachtet werden. (…) Themen und insbesondere Formate der Demokratiebildung [kommen] eher weniger zum Einsatz. Zudem werden den Schülerinnen und Schülern demokratische Kompetenzen nur eingeschränkt vermittelt. (Schneider und Gerold 2018, S. 8)
Voraussetzung für die schulische Demokratiebildung ist laut den Autoren u. a., wenn diese in der Aus- und Fortbildung der jeweiligen Lehrkraft hoch war und die Lehrkräfte über die für Demokratiebildung relevanten Kompetenzen verfügen. (Ebd.). Das Schwinden gesellschaftlicher und damit zusammenhängender pädagogischer Fragestellungen und insgesamt eine „Entpolitisierung“ des Lehramtsstudiums lässt sich möglicherweise mit der „PISA-Wende“ in Zusammenhang setzen. Kompetenzen der Lernenden in den MINT-Fächern und Deutsch erhielten eine
1Projekthomepage:
https://demosleben.hypotheses.org. Zugegriffen: 10. Oktober 2019.
Die Rückkehr der Demokratie in die (Lehrkräfte)Bildung
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besondere – auch notwendige Aufmerksamkeit –, welche der Förderung und Unterstützung einer demokratischen Haltung von Schüler*innen und Lehrer*innen in diesem Maße nicht zuteil wurde. Das hat sich auch auf die Strukturen der Lehrkräftebildung in allen Phasen, auf die Relevanz der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer an den Schulen (z. B. auf das Stundenkontingent, vgl. für die Politische Bildung: Hedtke und Gökbudak 2018, 2019) sowie deren Bedeutung für die Unterrichtskultur im Sinne einer demokratisch-partizipatorischen (Teilhabe) oder auch politisch-historischen (z. B. Umgang mit antisemitischen Äußerungen) ausgewirkt. Demokratiepädagogische Ansätze (z. B. Demokratieprojekte, Klassenrat etc.) an Schulen, die Anfang der 2000er Jahre im Rahmen des BLK-Projektes „Demokratie lernen“ gefördert wurden (Beutel und Fauser 2007), konnten den beschriebenen Trends kaum entgegenwirken, weil auch diese nicht nachhaltig in die Lehrkräftebildung verankert worden sind. Im Grundschulbereich ist das gesellschaftsbezogene Feld letztlich so stark vernachlässigt, dass selbst die Desiderate bislang kaum fundiert beschrieben werden können. Um das Themenfeld v. a. in der 1. Phase der Lehrkräftebildung wieder zu implementieren, fördert der Berliner Bildungssenat dieses Vorhaben im Rahmen des Pilotprojekts Demos Leben. Dabei verfolgt das Projektleitungsteam, bestehend aus Prof. Dr. Sabine Achour und Prof. Dr. Martin Lücke (Politik- und Geschichtsdidaktik an der FU Berlin) und Prof. Dr. Detlef Pech (Sachunterrichtsdidaktik/Direktor der Professional School of Education an der HU Berlin) eine universitäts- und phasenübergreifende Perspektive und sucht – vor dem Hintergrund des Mittelgebers als Projektleiter für Inklusion – auch eine entsprechende Rahmung im Sinne einer barrierefreien Teilhabe für alle. Der Beitrag beginnt mit bildungspolitischen Motiven zur Förderung der Demokratiebildung, stellt die Zielsetzungen des Projektes sowie die bisher umgesetzten Ansätze vor.
2 Förderung der Demokratiebildung: die bildungspolitische Motivation Die bildungspolitische Reaktion zur Förderung von Demokratiebildung lässt sich anhand folgender Entwicklungen exemplarisch umreißen:2
2Vgl.
z. B. die Erläuterungen auf der Homepage zum Projekt „Demokratie Leben“ des BMFSFJ: https://www.demokratie-leben.de/ueber-demokratie-leben.html. Zugegriffen: 04. August 2019.
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• Die Zunahme menschenfeindlicher Einstellungen. • Medienberichte über antisemitische, antimuslimische, homophobe und andere Vorfälle von menschenfeindlichen Übergriffen an Schulen. • Deutungs- und Identitätsangebote online und offline von salafistischer Seite und dem IS für muslimische und nichtmuslimische Jugendliche. • Eine anwachsende Attraktivität des Rechtspopulismus und rechter Gruppen wie der Identitären Bewegung („Neue Rechte“) in Deutschland und Europa. Diese Entwicklungen lassen sich als eine „Flucht ins Autoritäre“ (Decker und Brähler 2018) bezeichnen und als einen gesellschaftlichen Trend der letzten Jahre empirisch beobachten. Laut der gleichnamigen Studie stimmen 40 % der Befragten autoritären Aussagen zu. Es zeigt sich eine große Bereitschaft zur Unterordnung; ebenso wird im Namen des befürworteten Autoritarismus die Abwertung Anderer gefordert. So haben menschenfeindliche Einstellungen gegenüber Menschen muslimischen Glaubens, Sinti*ze und Rom*nja und Asylsuchenden in den letzten Jahren zugenommen. Auch antisemitische Einstellungen, v. a. des sekundären Antisemitismus, sind weiterhin deutlich erkennbar. Neben dem Hang zum Autoritären haben rund 30 % der insgesamt Befragten ein Gefühl von mangelnder Anerkennung als Person bzw. Bürger*in zweiter Klasse zu sein. Für die Institution Schule und die Lehrkräftebildung ergeben sich daraus zentrale Handlungsansätze: die Förderung der Anerkennung und Wertschätzung von Vielfalt, Pluralismus, Grund- und Menschenrechten sowie die Förderung von Mündigkeit und Teilhabefähigkeit. Nur wenn Schule im Sinne Deweys (2000) als ein Ort erlebt wird, der (politisches und gesellschaftliches) Handeln als mündiges Subjekt möglich macht, an dem Konflikte unter Anerkennung von Vielfalt und Pluralismus ausgetragen werden und dies wertgeschätzt wird, besteht die Chance, dass sie dem Ausprägen eines autoritären Charakters (Adorno et al. 1950) entgegenwirken kann. Vor dem Hintergrund dieser Herausforderungen und Handlungsbedarfe fühlen sich Lehrkräfte und Schulleitungen nur bedingt kompetent, bildungspolitisch wenig unterstützt und strukturell dafür kaum ausreichend ausgestattet. Nicht zuletzt spiegelten die verunsicherten Reaktionen auf die sog. AfD-Meldeportale von Lehrkräften, Schulleitungen und Schüler*innen bis hin zu Bildungsministerien deutlich wider, dass die Institution Schule und ihre Akteur*innen in Bezug auf Fragen der demokratischen Haltung und Handlungsfähigkeit Unterstützung benötigen. (Vgl. Koschmieder und Koschmieder 2019). Auf die beschriebenen gesellschaftlichen Entwicklungen reagierte das Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) 2015 mit
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einem bundesweiten Fokus – allerdings für den außerschulischen Bereich – mit dem sehr breit angelegten Bundesprogramm „Demokratie leben“ und fördert Initiativen und Vereine, die sich für Demokratie und gegen Menschenfeindlichkeit einsetzen. Die hohen Fördersummen stärken nach Jahren der begrenzten Finanzen die beteiligten Träger in ihrer Arbeit sehr. Allerdings wird auch kritisch gesehen, dass sich die finanzielle Unterstützung von Projekten nicht in gleicher Weise auf die existierenden Regelstrukturen erstreckt (Achour 2018). Ebenso gilt der zugrunde liegende Präventionsbegriff als nicht unproblematisch, da politische und Demokratiebildung die Mündigkeit und Emanzipation aller verfolgt, weniger politisches Fehlverhalten korrigieren will (vgl. Achour und Gill 2019).3 Dagegen waren die Reaktionen und Maßnahmen auf bildungspolitischer Länderebene für die Schulen sowie die Lehrkräfteaus- und -weiterbildung eher verhalten und aufgrund des Bildungsföderalismus auch wenig konzertiert. Eine erste sichtbare Reaktion der Kultusministerkonferenz zeigte sich darin, 2018 ihre Empfehlung zur Demokratieerziehung zu aktualisieren. Auf ihrer Homepage wird seitdem der Begriff Demokratiebildung verwendet. Im Zuge von Lehrplanreformen in den letzten Jahren fand die Demokratiebildung z. B. in Berlin/Brandenburg, BadenWürttemberg und Schleswig-Holstein Eingang als verbindliche Querschnittsaufgabe aller Unterrichtsfächer. Dabei wurde „Demokratiebildung“ als bildungspolitischer Begriff in dieser Form bisher wenig verwendet. Neben dem systemorientierten Terminus der „Demokratieerziehung“ existierten v. a. der der „politischen Bildung“, über das Schulfach hinausgehend als „Prinzip aller Fächer“, sowie seit Ende der 1990er Jahre der des „Demokratie-Lernens“ aus der erziehungswissenschaftlichen Demokratiepädagogik (vgl. Himmelmann 2001). D. h., der Begriff befindet sich zurzeit in einem definitorischen Prozess (vgl. Kenner und Lange, erscheint 2020) und muss zu den anderen sowie zu affinen Ansätzen ins Verhältnis gesetzt werden, wie beispielsweise: Menschenrechtsbildung, Bildung für Nachhaltige Entwicklung/Globales Lernen, Diversity-Education, „interkulturelles“ Lernen, historisch-politisches Lernen, Medienbildung, Friedensbildung, Europabildung, antirassistische Bildung, aber auch Sprachbildung und Inklusion i. S. einer barrierefreien Teilhabe für alle. Das ist auch eine inhaltliche Frage im Projekt Demos Leben, da etliche der affinen Themen qua Basiscurricula in Berlin/ Brandenburg eigene Querschnittsaufgaben mit voraussichtlich jeweils ausformulierten Handlungs- und Orientierungsrahmen sind oder sein werden.
3Vgl.
Fußnote 2.
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Mit dem Wissen, dass solche Vorgaben nur dann nachhaltig in der Institution Schule implementiert und umgesetzt werden, wenn diese schon in der Lehrkräftebildung eine Rolle spielen, wird das Pilotprojekt Demos Leben von der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie für zwei Jahre finanziert. Die Projektleitung liegt bei den Autor*innen dieses Beitrages und wird an der Humboldt Universität zu Berlin sowie an der Freien Universität durchgeführt.
3 Wie kommt die Demokratiebildung in die Lehrkräftebildung? Zielsetzungen von Demos Leben Die zentrale Zielsetzung von Demos Leben besteht darin, dass zukünftige Lehrer*innen bereits in der 1. Phase der Lehrkräftebildung, also in ihrem Studium an den Berliner Universitäten, nicht nur allgemein, sondern auch fachbezogen in Hinblick auf Fragen von Demokratiebildung qualifiziert werden. Daher werden strukturelle und evaluative Modelle entwickelt, wie für alle lehramtsrelevanten Studienfächer die Implementierung von Demokratiebildung realisiert werden kann. Wenn Demokratiebildung und demokratisches Lernen explizit thematisiert werden sollen, müssen vorab als Grundlage jene kategorial zentralen Momente von Demokratiebildung analysiert und zusammengetragen werden, die die Inhalte und Handlungsfelder in der ersten Phase der Lehrkräftebildung illustrieren. Darüber hinaus werden mögliche Implementierungsstrukturen zur Verankerung von Demokratiebildung sowohl in den Studien- und Prüfungsordnungen sowie im gegenwärtigen Lehrangebot als auch ggf. exemplarische Konkretisierungen in einem Fach an der HU und FU Berlin konzipiert: Module z. B. im sogenannten Wahlbereich, Kooperationen von Didaktiken sowie mit der Zweiten Phase der Lehrkräftebildung. Hierzu erfolgt in erster Linie eine Zusammenarbeit mit Fachseminarleitungen, mit denen bereits in der Ersten Phase kooperiert wird, etwa im Rahmen der Fachberatungen im Praxissemester oder in Kooperationsprojekten des gesellschaftswissenschaftlichen Fächerverbundes. Schließlich werden Beteiligungsstrukturen auch in fachlicher Hinsicht etabliert. D. h., es erfolgen Kommunikations- und Partizipationsprozesse hinsichtlich der Querschnittsaufgabe Demokratiebildung durch Einbezug der verschiedenen Statusgruppen innerhalb der Universitäten, um auf die nachhaltige Implementierung vorzubereiten. Die beteiligten Projektpartner*innen an FU und HU bringen dabei eine breite Expertise ein, welche zur Beratung weiterer Fächer und deren Fachdidaktiken bei
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der Umsetzung genutzt wird. Die HU konzentriert sich mit den Vorarbeiten von Detlef Pech v. a. auf Herausforderungen der Demokratiebildung für das Grundschullehramt. Martin Lücke und Sabine Achour von der FU Berlin haben einen besonderen Fokus auf das Themenfeld in der Oberschule sowie der Berufsschule. Im Rahmen der Sachunterrichtsdidaktik an der HU wurden seit Einführung einer neuen Studienstruktur 2015 bereits mehrfach Studienprojekte zur Demokratiebildung realisiert (Pech und Achenbach 2017). Hier handelt es sich um ein Veranstaltungsformat mit hohem Workload (10 CP), aber geringerer Präsenzzeit an der Hochschule (2 SWS). Die Studierenden im 6. Bachelorsemester haben die Aufgabe, ein eigenes kleines Vorhaben zur Demokratiebildung zu entwickeln, mit einer Gruppe von Kindern zu realisieren und auszuwerten. Parallel hierzu wurden über das Projekt der HU aus der Qualitätsoffensive Lehrerbildung „FDQI-HU“ Bausteine für eine inklusions- und fachorientierte Lehrkräftebildung entwickelt, in der Partizipation zu den zentralen Strukturmerkmalen gehört (vgl. Frohn et al. 2019) und die nun in den Fächern, so auch im Sachunterricht, zum Ausgangspunkt weiterer Lehrveranstaltungsplanung genommen und konkretisiert werden mit demokratiebildenden und diskriminierungssensiblen Momenten. Die Politikdidaktik (Sabine Achour) an der FU Berlin agiert mit ihrer originär politikwissenschaftlichen und didaktischen Expertise für Fragen der Demokratiebildung. Hier fließen v. a. Ergebnisse zu Fragen von migrationsbedingter Vielfalt, Sprachbildung, Inklusion, Ideologien der Ungleichwertigkeit im Kontext von schulischer, aber auch außerschulischer politischer Bildung ein. Durch ihre Position als Berliner Landesvorsitzende der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung verfügt sie über ein breites Netzwerk politischer und zivilgesellschaftlicher Akteur*innen im Feld. Die Didaktik der Geschichte an der FU Berlin (Martin Lücke) hat bereits erfolgreich ein Wahlmodul zu geschlechtlicher und sexueller Vielfalt in das Curriculum der ersten Phase der Lehrkräftebildung implementiert. Diese Erfahrungen können aufgegriffen werden, wenn es darum geht, ein weiteres sogenanntes Querschnittsthema zu implementieren. Daneben gerät auch die Geschichte der Demokratie zum expliziten Lerngegenstand, einer Überlegung folgend, dass nur das, was wir als im historischen Wandel begriffen empfinden, auch als gegenwärtig bedroht und damit verteidigungswürdig angesehen wird. Aufgegriffen werden ferner Konzepte zur Verzahnung von Menschenrechtsbildung und historischem Lernen, die bereits am Arbeitsbereich im Rahmen des Projektes „CHANGE – Human Rights Education meets History Learning“ erstellt wurden.
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4 Projektstand und erste Ergebnisse Erste Ergebnisse lassen sich in folgende Schwerpunkte differenzieren: a) Implementierung im Studium als Querschnittsangebot für alle Lehramtsstudierenden sowie konkret fachdidaktische Angebote, b) wissenschaftliche Begleitung und c) „Lobby-Arbeit“ und Außendarstellung des Projektes. a) Implementierung im Studium Im Wintersemester 2018/2019 konnte eine Vortragsreihe zum Thema „Demokratie und Schule: Pluralismus fördern“ gemeinsam mit der Dahlem School of Education (DSE: Zentrum für Lehrkräftebildung an der FU Berlin) geplant werden. Diese wird für die folgenden Semester weiterentwickelt. Inbegriffen waren Workshops zur Prävention von Antisemitismus, Rechtsextremismus und Rechtspopulismus, Rassismen, Diskriminierungen, Machstrukturen, antimuslimischen Rassismus und Islamismus sowie eine Veranstaltung zu gewaltfreier Kommunikation. Weitere Workshops sind in der Planung. Die Workshops fanden z. T. in Kooperation mit verschiedenen Trägern der außerschulischen Bildungsarbeit statt, sodass es hier ein Anliegen ist – auch aufgrund der Bedeutung für die spätere Tätigkeit als Lehrkräfte (Elverich 2017) sowie der Betonung im Rahmenlehrplan –, nachhaltige Strukturen durch langfristige Kooperationen aufzubauen. Fachdidaktisch wird das Thema Demokratiebildung in die Lehre im BA und MA integriert. Hierbei liegt die Herausforderung weniger bei der Lehre der Projektbeteiligten als darin, das Themenfeld in Kooperation mit weiteren Fachdidaktiken (z. B. Biologie, Mathematik) umzusetzen. Ein weiterer Schritt besteht in der Verzahnung mit der 2. Phase der Lehrkräftebildung hinsichtlich der Demokratiebildung, wofür Kooperationen mit assoziierten Fachseminarleitungen die Entwicklung, Durchführung und Evaluation von Unterrichtsprojekten zur Demokratiebildung ermöglichen. Schließlich wird die Partizipation von Studierenden durch Kooperationen wie mit der studentischen Initiative „Kreidestaub“4 realisiert, welche Angebote zu Themen wie „pädagogische Haltung“ und Inklusion konzipieren und durchführen. Im Idealfall können solche studentischen Formate nachhaltig in die Strukturen der DSE implementiert werden. In diesem Sinne agiert das Projekt Demos Leben an der FU eng mit der Dahlem School of Education, da langfristig Angebote für alle Lehramtsstudierenden zentral koordiniert werden müssen. Im 4Vgl.
Eigendarstellung des Vereins Kreidestaub e. V. Zugriff über: https://kreidestaub.net. Zugegriffen: 04. August 2019.
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Fokus stehen bei der Zusammenarbeit somit der Netzwerkaufbau, die Angebotsentwicklung und Fragen der nachhaltigen Implementierung. Zur partizipativen Gestaltung und breiten Diskussion wird eine AG Demokratiebildung an der FU Berlin eingerichtet. An der HU Berlin wurde zunächst eine umfassende Analyse der vorliegenden Ordnung im Bereich des Grundschullehramts mit Blick auf Anknüpfungspunkte zu Fragen der Demokratiebildung durchgeführt. In Kooperation mit dem Projekt FDQI-HU und der AG Diskriminierungskritische Lehre der Sachunterrichtsdidaktik inklusive Lehrenden des Faches wird neben der Fortführung und Weiterentwicklung der Studienprojekte „Demokratiebildung in der Grundschule“ eine exemplarische Konzeption zunächst für das erste Studienjahr erarbeitet, um beispielhaft in einem Fach konsequent Ansätze der Demokratiebildung in der fachlichen Lehre zu realisieren und zu evaluieren, um Möglichkeiten der strukturellen Verankerung aufzuzeigen. b) Wissenschaftliche Begleitung Um einen Überblick über die konkrete Situation zum Thema Demokratiebildung zu erhalten, führt die Politikdidaktik eine Studie an Berliner Schulen durch. Eingebunden ist die Befragung in die bundesweite Studie „Die Relevanz von politischer Bildung und Demokratiebildung an Schulen“, an der ca. 3330 Schüler*innen teilgenommen haben und welche von der F riedrich-Ebert-Stiftung finanziert wurde (Achour und Wagner 2019). Für Berlin konnten knapp 500 Schüler*innen befragt werden (Achour et al., erscheint 2020), die Berliner Sonderbefragung wurde u. a. mit Mitteln aus Demos Leben bestritten. Ebenfalls wird zurzeit der Orientierungs- und Handlungsrahmen (OHR) Demokratiebildung für Berlin/Brandenburg entwickelt. Um hier von Anfang an eine konstruktive Verknüpfung von 1. und 3. Phase der Lehrkräftebildung sowie eine synergetische Begriffsdefinition zu verfolgen, wissenschaftliche Ergebnisse und Bedingungen der Lehrkräfteaus- und -weiterbildung zu berücksichtigen, existiert eine enge Zusammenarbeit zwischen Demos Leben und der Arbeitsgruppe des OHR, welche vom Landesinstitut für Schule und Medien Berlin/ Brandenburg bei der Umsetzung begleitet wird. In Anknüpfung an das Projekt „CHANGE – Human Rights Education meets History Learning“ erstellt der Arbeitsbereich Didaktik der Geschichte an der FU Berlin zudem ein Konzept zur Integration von Demokratiebildung, historischem Lernen und Demokratiegeschichte. Dazu wird bereits im Sommersemester 2019 ein gemeinsames Modul mit der Professur für Zeitgeschichte (Paul Nolte) durchgeführt, das im Pflichtbereich des Lehramtsmasters angesiedelt ist. Einige der
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Studierenden transferieren ihre Erkenntnisse dann auch in ihre Arbeit im Praxissemester im Herbst/Winter 2019/2020. Hier erfolgt eine Kooperation mit dem Berliner Walther-Rathenau-Gymnasium, das einen Profilschwerpunkt im Bereich der gesellschaftswissenschaftlichen Fächer hat. Die Sachunterrichtsdidaktik der HU ist mit dem Projekt Demos Leben von Beginn an beteiligt an der im März 2019 gegründeten Arbeitsgruppe „Demokratiebildung/Politische Bildung“ der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterricht (GDSU). Damit ergibt sich die Möglichkeit, die Ergebnisse und Positionen des Projekts von Beginn an in die Entwicklung der Grundlagen einer Fachgesellschaft einfließen zu lassen. c) „Lobby-Arbeit“ und Außendarstellung des Projektes Alle drei Projektleitungsmitglieder verfolgen eine breite Lobbyarbeit und konnten sich bisher bei folgenden Akteur*innen und Organisationen für das Thema im Rahmen verschiedener Veranstaltungen einsetzen: Vodafone Stiftung, Bundeskanzler-Willy-Brandt-Stiftung. Bundeszentrale für politische Bildung, Deutscher Bundestag, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berliner Landeszentrale für politische Bildung, LISUM Berlin/Brandenburg.
5 Ausblick Mit Ende des Projektes werden die Ergebnisse zusammengefasst und zurzeit aktiv an finanziellen Möglichkeiten zur strukturellen Implementierung sowie deren wissenschaftlicher Begleitung gearbeitet. Denn: Demokratie vererbt sich nicht automatisch. Demokratie muss man lernen. Ein Leben lang (vgl. Negt 2018, S. 21).
Literatur Achour, S. (2018). Die „Gespaltene Gesellschaft“. Herausforderungen und Konsequenzen für die politische Bildung. Aus Politik und Zeitgeschichte, 13–14/2018, (S. 40–46). Achour, S. & Gill, T. (2019). „Liebe Gefährder …“ Extremismus-Prävention als politische Bildung? Journal für politische Bildung, 2/2019, S. 32-36. Achour, S. & Wagner, S. (2019). „Wer hat, dem wird gegeben.“ Politische Bildung an Schulen. Bestandsaufnahme, Rückschlüsse und Handlungsempfehlungen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung. Achour, S., Jordan, A. & Höppner, A. (erscheint 2020). Zwischen Status Quo und State of the Art. Politische Bildung und Demokratiebildung an Berliner Schulen. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.
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Achour, S. & Lücke, M. (2016/ unveröffentlicht). Strategiepapier zur Implementierung der Querschnittaufgabe „Demokratiebildung“ in der Lehrkräftebildung an den Berliner Universitäten. Berlin. Adorno, T. W., Frenkel-Brunswik, E., Levinson, D. J. & Sanford, R. N. (1950). The Authoritarian Personality. New York: Harper & Brothers. Beutel, W. & Fauser, P. (Hrsg.) (2007). Demokratiepädagogik. Lernen für die Zivilgesellschaft. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Decker, O. & Brähler, E. (Hrsg.) (2018). Flucht ins Autoritäre. Rechtsextreme Dynamiken in der Mitte der Gesellschaft. Gießen: Psychosozial-Verlag. Dewey, J. (2000). Demokratie und Erziehung. Eine Einleitung in die philosophische Pädagogik (Hrsg. und mit einem Nachw. von Jürgen Oelkers). Weinheim: Beltz. Elverich, G. (2017). Die Kooperation schulischer und außerschulischer politischer Bildung als Ansatzpunkt der Rechtsextremismusprävention. In S. Achour & T. Gill (Hrsg.), Was politische Bildung alles sein kann (S. 141–152). Schwalbach Ts.: Wochenschau Verlag. Frohn, J., Brodesser, E., Moser, V. & Pech, D. (Hrsg.) (2019). Inklusives Lehren und Lernen. Allgemein- und fachdidaktische Grundlagen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag. Hedtke, R. & Gökbudak, M. (2019). Ranking Politische Bildung 2018. Politische Bildung an allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe I. im Bundesländervergleich. Working Paper 9. Bielefeld: Fakultät für Soziologie – Didaktik der Sozialwissenschaften. Hedtke, R. & Gökbudak, M. (2018). Ranking Politische Bildung 2017. Working Paper 7. Bielefeld: Fakultät für Soziologie – Didaktik der Sozialwissenschaften. Himmelmann, G. (2001). Demokratie Lernen: als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Kenner, S. & Lange, D. (i.E. vor. 2020). Demokratiebildung. In S. Achour, M. Busch, C. Meyer-Heidemann & P. Massing (Hrsg.), Wörterbuch Politikunterricht. Frankfurt a. M.: Wochenschau Verlag. Koschmieder, C.& Koschmieder, J. (erscheint 2019). Wider das Märchen von der Neutralität. Wie Schule mit der AfD umgehen sollte. In S. Achour, J. Schedler, G. Elverich & A. Jordan (Hrsg.), Rechtsextremismus in Schule, Unterricht und Lehrkräftebildung. Wiesbaden: VS Verlag. Negt, O. (2018). Gesellschaftspolitische Herausforderungen für Demokratiebildung. In S. Kenner & D. Lange (Hrsg.), Citizenship Education. Konzepte, Anregungen und Ideen zur Demokratiebildung (S. 21–25). Frankfurt a.M.: Wochenschau Verlag. Pech, D. & Achenbach, C. (2017). Demokratiepädagogik in der Lehrerbildung: „Demokratie Lernen“ im Sachunterricht an der Humboldt-Universität Berlin – ein Erfahrungsbericht. In D. Smolka (Hrsg.), Integration als Leitungsaufgabe. Konzepte und Beispiele für Schulen (S. 281–283). Köln: Carl Link Verlag. Roth, H.-J. & Wolfgarten, T. (2018). Studienangebote in Interkultureller Bildung. Vom Zusatzstudium zum Masterprogramm. In I. Gogolin, V. B. Georgi & M. Krüger-Potratz (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik (S. 587–590). Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag. Schneider, H. & Gerold, M. (2018). Demokratiebildung an Schulen – Analyse lehrerbezogener Einflussgrößen. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung.
Inklusive Bildung als Demokratiebildung. Didaktische Vorschläge und Reflexionen für die Schule der Vielfalt Luisa Conti Zusammenfassung
Wachsende soziale Ungleichheit und das Erstarken rechter Strukturen stellen unsere Gesellschaft heute vor große Herausforderungen. Es stellt sich die Frage wie Kinder und Jugendliche fit gemacht werden können, einerseits autoritärem Gedankengut zu wiederstehen und andererseits tragende Pfeiler einer echten partizipativen Demokratie zu werden. Eine mögliche Antwort ist eine kulturelle Wende der Inklusion, verwirklicht über einen konkreten Paradigmenwechsel in der Schule. Nach einer theoretischen Einführung zum Zusammenhang von Kultur, Demokratie und Dialog, werden konkrete Methoden präsentiert, mit deren Hilfe ein inklusiver Kulturwandel in der Schule gelingen kann. Anhand der Analyse eines Dialogs aus dem Projekt SHARMED (www.sharmed.eu) werden konkrete Möglichkeiten und Herausforderungen bei der Umsetzung im pädagogischen Alltag präsentiert.
L. Conti (*) Friedrich-Schiller-Universität Jena, Jena, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_13
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1 Einführung Im Jahr 2015 wurde der Beschluss der Kultusministerkonferenz (KMK) und der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) in einer Gemeinsamen Empfehlung „Lehrerbildung für eine Schule der Vielfalt“ veröffentlicht. Mit dem Titel „Inklusion: Teilhabe und Bildungserfolg für alle ermöglichen“ (HRK & KMK 2015, S. 2) beginnt der erste, einleitende Abschnitt, in dem erklärt wird, dass die Schule ein Bildungsangebot gestalten soll, das allen Schüler*innen nicht nur den Bildungserfolg ermöglicht, sondern auch ihre „soziale Zugehörigkeit und Teilhabe“ (ebd.) fördert und „jedwede Art der Diskriminierung“ (ebd.) vermeidet. Diese Beschlüsse führen den angestrebten gesellschaftlichen Wandel fort, der 2009 durch die Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention – Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – initiiert wurde. Das Leitbild der Inklusion – „[e]s geht […] nicht darum, dass sich der oder die Einzelne anpassen muss, um teilhaben und selbst gestalten zu können. Es geht darum, dass sich unsere Gesellschaft öffnet, dass Vielfalt unser selbstverständliches Leitbild wird.“ (Bentele 2009, S. 2) – wird konsequent zu Ende gedacht und als normierendes Prinzip der gleichberechtigten Partizipation aller Menschen angenommen und im schulischen Kontext mit Blick auf Lehrer*innenbildung umsetzbar gemacht. In diesem Beitrag wird die konkrete Umsetzung des Inklusiven Ansatzes im schulischen Kontext näher betrachtet. Im ersten Kapitel wird die These diskutiert, dass inklusive pädagogische Praxis Demokratiebildung bedeutet. Dazu wird neben dem Zusammenspiel von Inklusion und Demokratie der Zusammenhang zwischen Inklusion und Dialog thematisiert, wobei diese Überlegungen vor dem Hintergrund unserer heterogenen Gesellschaft angestellt werden. Dabei wird die Bedeutung dieser theoretischen Diskussion für die pädagogische Praxis nicht außer Acht gelassen: Die so aufgebaute Triade stellt den theoretischen Rahmen dar, um die Tragweite der didaktischen Überlegungen und methodischen Vorschläge nachvollziehen und bewerten zu können, die in diesem Beitrag präsentiert werden. Sie stammen aus dem ERASMUS + Projekt SHARMED (SHARed MEmories and Dialogues1), das die Autorin in Zusammenarbeit mit Kolleg*innen der italienischen Universität Modena e Reggio Emilia und der britischen Universität Suffolk konzipiert und
1Vgl.:
Projektseite des ERASMUS + Projektes SHARMED: www.sharmed.eu. Zugegriffen: 10. April 2019.
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von Anfang 2016 bis Ende 2018 durchgeführt hat. In dieses Aktionsforschungsprojekt waren ca. 1000 Schüler*innen involviert: insgesamt 48 dritte bis sechste Schulklassen haben – in den drei Ländern gleich verteilt – teilgenommen. Im Rahmen von vier Workshops wurden die Schüler*innen eingeladen und dabei begleitet, anhand eines mitgebrachten Fotos über frei ausgewählte Momente ihres Lebens zu erzählen und mit ihren Mitschüler*innen in Dialog zu treten. Durch die Verzahnung verschiedener empirischer Methoden2 wurde einerseits diese konkrete didaktische Verbindung von visuellen Medien und Storytelling im Hinblick auf inklusionsrelevante Aspekte analysiert, und andererseits die konkrete Ausführung der dialogischen Prozessmoderation untersucht. Welche soll die Rolle von Lehrpersonen in der „Schule der Vielfalt“ sein und inwiefern ist das Verständnis von Lehre als dialogische Prozessmoderation bzw. -begleitung fruchtbar? Nach der Diskussion dieser Fragen im ersten Kapitel, werden im zweiten Kapitel die Chancen und Herausforderungen der Bilder-Methode zur Förderung inklusiver Lernprozesse herausgearbeitet. Anhand der Analyse eines Dialogs, der im Rahmen eines der SHARMED-Workshops stattgefunden hat, wird exemplarisch gezeigt, welchen Einfluss die Prozessmoderation auf die Teilhabe der Schüler*innen hat und welche Schwierigkeiten sich in der Praxis ergeben.
1.1 Demokratie – Inklusion – Dialog Ziel dieses Kapitels ist es, die dialogische Prozessmoderation bzw. -begleitung als eine besondere Form der Lehre vorzustellen, die demokratiebewusste und -fähige Bürger*innen hervorbringt. Die Idee, dass das Prinzip der Inklusion, konsequent umgesetzt, zu einer Demokratisierung unserer Gesellschaft führt, inspiriert den vorliegenden Artikel. In den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen stellen zahlreiche Studien unterschiedlicher Disziplinen eine Kluft zwischen dem Teil des Dēmos mit und dem ohne Kratós (Macht) fest, die eine Diskrepanz zwischen dem Prinzip der Demokratie und seiner praktischen Umsetzung zeigt (Bofinger et al. 2015; Baader und Freytag 2017). Der aktuell besonders offensichtliche Vertrauensverlust in die Demokratie kann ursächlich an den wachsenden
2Pre-
und Post-Test in Form eines Fragebogens, Evaluationsbogen, Fokusgruppen mit Schüler*innen und Interviews mit Lehrer*innen und Workshopleiter*innen.
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sozialen U ngleichheiten festgemacht werden, wobei „soziale und politische Exklusion nicht nur die Legitimation von Demokratie infrage stellen, sondern auch ihre nachhaltige Akzeptanz und Stabilität. Soziale Demokratie ist in erster Linie eine politische Verfassung der garantierten sozialen Inklusion“ (Krell et al. 2012, S. 17). Der Verlust der Fähigkeit traditioneller Instanzen, wie Parteien oder Kirchen, schichtenübergreifend zu vermitteln, erklärt, warum die gesellschaftliche Ungleichheit mittlerweile ein besonders hohes Risiko für die Demokratie darstellt (ebd.). Der Kontrast aber zwischen einerseits „der sinkenden Wahlbeteiligung, der nachlassenden Bereitschaft zu klassischem politischen Engagement, dem Mitgliederschwund der Volksparteien und dem zu beobachtenden Vertrauensverlust in die Problemlösungskompetenzen der Politik“ und andererseits der „wachsenden Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern[, die sich] für konkrete Anliegen engagieren möchten und mehr Partizipation einfordern“ (Struck 2012, S. 7) zeigt zunächst, dass ein Teil des Dēmos an sich doch Interesse hat, sich einzubringen, also den Kratós, der ihm zusteht, tatsächlich in Anspruch zu nehmen. Gerade die offizielle, institutionelle Annahme des Prinzips der Inklusion als Leitbild für unsere Gesellschaft öffnet Wege zu einer gerechteren, direkteren und einflussreicheren Beteiligung der bisher Ausgeschlossenen. Sie stellt einen wichtigen Wendepunkt in der Geschichte des Umgangs der Institutionen mit gesellschaftlicher Ungleichheit dar:3 die asymmetrische gesellschaftliche Teilhabe wird öffentlich anerkannt, als unerwünscht gedeutet und der Kampf dagegen durch die Veränderung der Institution selbst wird zum Ziel erklärt. Durch die Einführung von Inklusion als Leitbild ist jede Institution angehalten, sich neu zu denken: sie soll für Alle zugänglich werden. Diesen Perspektivenwechsel tiefer zu verstehen, ihn zu verinnerlichen und ihn erfolgreich zu verwirklichen, sowie das dazu notwendige Loslassen alter Denkmuster und die kritische Überprüfung der üblichen Strukturen und Prozesse, stellt eine große Herausforderung dar. Der Preis, um den gespielt wird, ist die Demokratie. Wenn Inklusion zu scheitern droht, heißt das, dass die durchgeführten Änderungen am System nicht reichen oder nicht passend waren und daher neue Wege beschritten werden müssen. Notwendig, um sich auf diesen Weg zu machen, sind Mut und die Bereitschaft, Altes und Bekanntes hinter sich zu lassen, und der Wille, eigene Privilegien abzugeben.
3Eine
Wende, die durch ein weiteres Erstarken der AfD in den Parlamenten in Gefahr geraten könnte.
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Dieser Artikel zielt darauf ab, einen der Wege aufzuzeigen, auf dem das Ziel ‚inklusive Schule‘ erreicht werden kann. Dazu gilt es zunächst zu klären, was mit ‚inklusiver Schule‘ genau gemeint ist. Der oben geführten Argumentation zufolge verwandelt sich unsere Gesellschaft durch den inklusiven Wandel in ein System, das von jedem Mitglied potenziell gleich stark mitgestaltet werden kann. Die Schule stellt selbst einen Bereich dieses Systems dar und soll somit ebenfalls von den eigenen Mitgliedern aktiv mitgestaltet werden. In der inklusiven Schule werden einerseits Räume geöffnet, damit sich alle einbringen können. Andererseits werden die Schüler*innen dort empowert, damit sie die Chance der Partizipation tatsächlich wahrnehmen können. Es geht also um mehr als um die Individualisierung des Unterrichts: Es geht um ein Umdenken der Rolle der Lehrenden und der Lernenden und um die Umdeutung des Lernprozesses. Den hier vertretenen dialogischen Ansatz kennzeichnen die folgenden Elemente: 1) Differenz (der Perspektiven; der Akteur*innen); 2) erwünschter Ausdruck dieser Differenz; 3) hierarchiefreie Mitgestaltung aller Beteiligten des gemeinsamen Prozesses (Conti 2012, S. 101 ff.). Diese Kernmerkmale des Dialogkonzeptes überlappen sich mit denen der Inklusion, die auch vom Wunsch der Beteiligung Aller über ihre Besonderheiten hinaus getrieben ist. Entstanden als Forderung im Kontext des Kampfes zur Anerkennung der Rechte von Menschen mit Behinderungen zur barrierefreien Partizipation in allen gesellschaftlichen Bereichen lädt Inklusion zu einem Perspektivenwechsel ein, der selbst – wie in der Einleitung skizziert – diesen ursprünglichen Rahmen sprengt: Warum sollen nur die exkludierenden Mechanismen aufgehoben werden, die die Partizipation von Menschen mit Behinderung erschweren? Zweck der Einführung des Konzeptes der Inklusion in die öffentliche Debatte ist die Gestaltung einer anpassungsfähigen Gesellschaft, die allen ihren Mitgliedern gehört und allen gleich gehört.4 Die Annahme, die dem Inklusionsgedanken in seiner erweiterten Bedeutung zugrunde liegt, ist gesellschaftliche Heterogenität, eine Annahme, die durch den dialogischen Ansatz weitergeführt wird: Differenz ist nicht nur kein Grund, weniger aktiv sein zu dürfen, sondern ist selbst ein Grund, warum Menschen aktiv sein sollten. Die Andersartigkeit bringt einen Mehrwert, der verschwendet wird, wenn sie nicht zum Ausdruck kommt. Gerade in Lernkontexten ist es daher besonders sinnvoll, den Ausdruck solcher Vielfalt zu ermöglichen und zu begleiten: gerade darin liegt ein besonderes Lernpotenzial.
4Zur
kritischen Diskussion der Frage, inwiefern Inklusion in einem kapitalistischen System verwirklicht werden kann, siehe: Becker (2015); Gruber (2016); Leinenbach (2015).
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Wichtig ist dabei hervorzuheben, dass nicht nur Gruppen, sondern auch Menschen selbst durch eine innere Heterogenität charakterisiert sind, ihre Identität ist facettenreich, sie wird in der Interaktion mit dem Umfeld ständig weiterentwickelt. Dabei bewegen sich Menschen in zahlreichen Kontexten, in denen sie sich kulturelle Codes aneignen, originell reproduzieren und dadurch auch verändern. (Conti 2012, S. 133 ff.) Menschen mit Migrationserfahrung oder -hintergrund tragen viel mehr in sich als diese Erfahrung oder diesen Hintergrund – was auch immer dies bedeuten soll5 –, so wie Menschen mit Behinderung viel mehr sind als ihre Behinderung. Was Menschen, und somit Schüler*innen, mit sich bringen, ist also weit mehr als das, was auffällig ist. Durch eine reflektierte, vorurteilsbewusste, stärkeorientierte Haltung sollen Schüler*innen gefördert werden, ihr Potenzial auszuschöpfen, das mit ‚dem auffälligen Merkmal‘ vielleicht verknüpft ist, vielleicht aber auch völlig unabhängig davon ist. Schlüsselbegriff dazu ist Agency, also die Entscheidungsmacht der Schüler*innen über die eigenen Handlungen. Wenn ihre Agency gefördert wird, können Schüler*innen autonom zwischen verschiedenen Handlungsoptionen entscheiden, wichtige Aufgaben übernehmen, selbst bestimmen, welche Facette ihrer Identität sie hervorheben wollen, Verantwortung tragen, eigene Meinungen entwickeln und äußern, Einfluss auf den Prozess und das Umfeld nehmen (vgl. Baraldi und Iervese 2014). So können Schüler*innen in der Auseinandersetzung miteinander gemeinsam Lernprozesse entstehen lassen, die zu ihnen individuell passen. Die Agency offenbart sich im Rahmen von Kommunikationsprozessen und ihre Wirksamkeit hängt von der kommunikativen Situation ab. Die Moderation des kommunikativen Prozesses spielt dabei eine zentrale Rolle. Unter dialogischer Prozessmoderation bzw. -begleitung ist also eine auf die Förderung der Agency gerichtete Handlungskoordination zu verstehen. Inklusion im Klassenraum zu verwirklichen, bedeutet zusammenfassend eine Kultur des Dialogs zu etablieren, durch die alle Schüler*innen in die Lage versetzt werden, die eigene und die gemeinsame Lernerfahrung mitzugestalten. Dies ist ein Prozess, in dem Wissen nicht nur von Lehrenden zu Lernenden weitergegeben wird, sondern vor allem auch unter den Lernenden selbst, wobei auch die sogenannten Lehrkräfte zu Lernenden werden. Somit wird das Lehren als Begleitung eines Lernprozesses verstanden werden, der durch bestärkte und befähigte Lernende bestritten wird. Da Lernprozesse von Kommunikation durchdrungen sind, ist die inklusive Haltung nicht nur durch passende didaktische
5Dazu
siehe: Badawia et al. (2003).
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Methoden zu verwirklichen, sondern auch durch dialogische Kommunikation. Lehren ist demnach als Moderation dialogischer Lernprozesse zu verstehen. Indem Schüler*innen als „agents of experiences rather than simply undergoers of experiences“ (Bandura 2001, S. 4) in die Lage versetzt werden, Mehrwert für den Gruppenprozess zu schöpfen, erfahren sie Anerkennung und Wertschätzung. Sie lernen, dass sie zählen, dass ihr Beitrag wichtig ist, dass der Ausdruck ihrer Perspektive und Meinung erwünscht ist, auch wenn sie eine*r von vielen sind. Umgekehrt lernen sie, dass gerade diese Vielfalt es ihnen ermöglicht, den eigenen Horizont zu erweitern, was eine Offenheit und positive Einstellung gegenüber Diversität mit sich bringt. Weit über das Erlernen von Inhalten und die Entwicklung von Fachkompetenzen hinaus fördert die inklusive, dialogische Lehre die Entfaltung von Bürger*innen, die die passende Haltung und die passenden Kompetenzen haben, unsere komplexe, dynamische, heterogene Gesellschaft kreativ und kohäsiv mitzugestalten.6 Ganz im Gegensatz zur traditionellen Schule, in der suggeriert wird, dass die Wirklichkeit, „bewegungslos, statisch, abgezirkelt und voraussagbar“ (Freire 1971, S. 73) sei, erleben Schüler*innen einer tatsächlich inklusiven Schule Wirklichkeit als einen Prozess, „der fortwährender Verwandlung unterworfen ist.“ (Ebd., S. 78). Eine Dynamik, die gerade durch menschliche Handlung geprägt wird. In der Pädagogik der Autonomie sind Schüler*innen im Gegensatz zur Pädagogik der Unterdrückten „nicht länger brave Zuhörer – sie sind nunmehr die kritischen Mitforscher im Dialog mit dem Lehrer.“ (Ebd., S. 85). Dabei können divergierende Erkenntnisse konkurrieren, wobei Autorität keine Rolle in der Gültigkeit der Argumente spielt. (Ebd., S. 84) Wie die von dem brasilianischen Pädagogen und Philosophen ausgewählten Begriffe – Unterdrückung vs. Befreiung – zeigen, erkennt Freire auch eine enge Verbindung zwischen gesellschaftlicher Teilhabe und Gestaltung von Lernprozessen in der Schule. Insbesondere fokussiert er, wie wir es mit der Einführung des inklusiven Wandels der Gesellschaft tun, auf den Teil des Dēmos, der eigentlich über keinen echten gestalterischen Kratós verfügt. So schreibt er: In Wahrheit sind jedoch die Unterdrückten keineswegs ‚Randerscheinungen‘, keineswegs Menschen, die ‚außerhalb‘ der Gesellschaft leben. Sie waren schon immer ‚innerhalb‘ – innerhalb der Struktur, die sie zu ‚Wesen für ein Anderes‘ (Hegel) machte. Die Lösung besteht nicht darin, sie in die Struktur der Unterdrückung zu
6Setzt
man dieses inklusive Paradigma konsequent um, führt es notwendigerweise zu grundsätzlichen Veränderungen auch in den strukturellen Bedingungen der Schule.
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‚integrieren‘ sondern diese Struktur so zu verändern, daß sie ‚Wesen für sich selbst‘ werden können. (Freire 1971, S. 77)
Das Konzept der Inklusion hat also eine lange Geschichte und es ist auffällig, dass es gerade jetzt zum offiziellen Leitbild einer paninstitutionellen Veränderung wird, da unser politisches System durch rechtspopulistische Parteien und Strömungen immer stärker unter Druck gerät. Die niedrige Beteiligung an politischen Prozessen und an zivilgesellschaftlichen Strukturen der unteren Bildungs- und Einkommensschichten (vgl. Krell 2012, S. 14) kann als Symptom für die erlernte Annahme interpretiert werden, in Bezug auf die Veränderung der eigenen Wirklichkeit ohnmächtig zu sein. Die resultierende Frustration kann zu einer Identifizierung mit charismatischen Anführer*innen populistischer Bewegungen führen, wobei die erlösende Illusion entsteht, so selbst aktiv und wirkmächtig zu sein (vgl. Freire 1971, S. 82). Die Verwirklichung einer inklusiven Schule ist demnach nicht nur wünschenswert, sondern auch dringend geboten: „Demokratie braucht [ja] Demokraten“ (Friedrich Ebert nach Struck 2012, S. 7).
2 Bilder – Erinnerungen – Erzählungen Begünstigt oder benachteiligt? Nach dieser semantischen Linie werden Kinder und Jugendliche in der noch nicht inklusiven Schule unterschieden. Hier sind die Begünstigten diejenigen, die die passenden Kompetenzen haben, um aus dem im Kern standardisierten, normalen Unterricht viel mitnehmen zu können, und die Benachteiligten diejenigen, die ohne besondere Unterstützung weniger oder gar nicht davon profitieren können. Diversität wird somit ein Merkmal der nicht Normalen und impliziert die Herausforderung, diese Diversität zu überwinden, damit die Schüler*innen bestimmte Kompetenzen erwerben und Inhalte aufnehmen können (vgl. Trautmann und Wischer 2011). Um einen Perspektivenwechsel zu fördern und Diversität von einem Defizit Einiger in eine vorteilhafte Eigenschaft Aller zu verwandeln, ist das in der Einleitung genannte Projekt SHARMED entstanden. SHARMED legt den Fokus auf das zu selten wahrgenommene, kommunizierte und ausgelebte Bereicherungspotenzial, das Heterogenität mit sich bringt, und lädt Pädagog*innen ein, Raum dafür zu schaffen. Dazu wurde eine Methode konzipiert und getestet, durch die alle Schüler*innen als Expert*innen auf der Bühne stehen. Mit dem Ziel, die Erzählung der eigenen
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Erinnerungen zu fördern, wurden die Schüler*innen darum gebeten, ein Bild7 mitzubringen – dabei waren sie völlig frei in der Auswahl. Das einzige Kriterium war, dass das Bild mit einer für sie wichtigen Erinnerung verbunden ist, die sie gerne mit ihrer Klasse teilen möchten. Um die Agency der Schüler*innen während der Selbstoffenbarung und des daraus entstehenden Austausches mit den Mitschüler*innen zu sichern, wurde der Prozess dialogisch moderiert. Es musste darauf geachtet werden, alle Schüler*innen in die Lage zu versetzen, sich so viel wie möglich mitzuteilen, wobei eine ausgewogene TeilnahmeDynamik zwischen eher dominanten und eher zurückhaltenden Schüler*innen angestrebt wird. Durch die Anwendung dieser Methode sollten die festgefahrenen Partizipationsstrukturen der noch nicht inklusiven Schule aufgebrochen werden: im Hintergrundfragebogen, der einige Monate vor den Workshops von den involvierten Schüler*innen ausgefüllt wurde, hatten 40 % der Befragten in Deutschland angegeben, dass nicht alle Mitschüler*innen die gleichen Chancen zur Meinungsäußerung haben. Die Prozessmoderation wurde von externen Personen übernommen, die Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit Schulklassen haben und sich mit dem dialogischen Ansatz identifizieren. Den Lehrer*innen wurde eine Beobachtungsrolle zugewiesen, wodurch sie ihre Schüler*innen in einem anders gestalteten kommunikativen Kontext erleben konnten. Sie konnten ihre Schüler*innen dadurch mit einem anderen Blick betrachten und erfuhren gleichzeitig, welche konkreten Erfahrungen die Einzelnen gemacht hatten, die möglicherweise in den Unterricht einfließen können. In Bezug darauf, was ihm an SHARMED gut gefallen habe, sagte ein Schüler ganz explizit „Wir waren mal die Experten nicht die Lehrer“. Gerade das Gefühl, ernst genommen und gehört zu werden, sowie anerkannt und wertgeschätzt zu sein, hat sich als zentraler Motivationsantrieb der aktiven und kreativen Partizipation herauskristallisiert. Durch welche Handlungen erfolgt aber die Vermittlung dieses Gefühls? Um zu verstehen, wie die dialogische Begleitung sich konkret ausgestalten lässt, wurden über die Hälfte der insgesamt 384 Workshopstunden aufgezeichnet und konversationsanalytisch untersucht. Durch die Analyse konnten Faktoren und Techniken erkannt werden, die sich positiv auf den dialogischen Prozess auswirken und solche, die seine Entfaltung verhindern. Anhand des folgenden Dialogs können einige dieser Faktoren und Techniken
7Anstatt
eines eigenen Bildes, konnten die involvierten Schüler*innen auch ein Bild aus dem Internet oder einen Gegenstand mitbringen.
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ganz konkret aufgezeigt werden, und es ergibt sich ein Einblick in unsere Arbeit und die daraus entstanden, frei zur Verfügung stehenden Materialien8. Der für diesen Beitrag ausgewählte Dialog9 hat im Frühjahr 2017 in einer 5. Klasse einer Gemeinschaftsschule in Sachsen-Anhalt stattgefunden. Es war der zweite Workshop, den die externe Prozessmoderatorin in der Klasse durchführte. Am betreffenden Tag hatten sich Zweierteams gebildet, die aus den Bildern aller Klassenkamerad*innen gemeinsam jeweils ein Bild auswählten, anschauten und vor den Anderen präsentierten. Im Anschluss daran korrigierte und ergänzte die Person, die das Bild mitgebracht hatte, die Beschreibung, erzählte die damit verbundene Erinnerung und beantwortete mögliche weitere Fragen. In dieser Sequenz stellen M4 und M5 das Bild von F6 vor, welches aus zwei Bildern besteht, die denselben Ort in Aleppo darstellen, einmal vor und einmal während des Kriegs. Der gesamte Austausch findet im Stuhlkreis statt und ist 8 min lang. Im Fokus der folgenden Analyse stehen die Handlungen der Workshopleiterin (WL), die – wie oben erklärt – die Aufgabe hatte, den Prozess dialogisch zu moderieren und zu begleiten. Welche Handlungen wirken förderlich in Bezug auf die Agency der Schüler*innen und auf den gemeinsam bestrittenen Lernprozess und welche nicht?10 Nachdem im ersten Kapitel argumentativ gezeigt wurde, dass die inklusive Gestaltung des Unterrichts einen dialogischen Umgang mit den
8Wichtiger
Output des Projektes ist ein interaktives Archiv, durch das alle Pädagog*innen Zugriff auf zahlreiche Bilder haben, die im Projekt in Deutschland, Großbritannien und Italien vorgestellt worden sind. Abhängig von den erhaltenen Genehmigungen wurden zu den Bildern auch die schriftliche (eingescannten Text) oder mündliche (Videoaufzeichnung) Beschreibung der damit verbundenen Geschichte verlinkt. Es finden sich auch Videos von ausgewählten Dialogprozessen, wie dem, der hier vorgestellt wird. Das Archiv liegt auf der Plattform www.glocal-campus.org und ist Passwort geschützt, um den Missbrauch der Materialien zu vermeiden. Um die Zugangsdaten zu erhalten, schreiben Sie von Ihrer beruflichen Mailadresse an: [email protected]. 9Eine Videoaufzeichnung des Dialogs finden Sie im SHARMED-Archiv (s. Fußnote 6), während hier die Transkription des Dialogs zur Verfügung gestellt wird, in der die wichtigsten nonverbalen Aspekte angegeben sind. Legende der Transkription: M# = JungeCode; F# = Mädchen-Code; GL = Gastlehrerin; (.) kurze Pause; ((Beschreibung der relevanten nonverbalen Kommunikation)); (?) nicht verständliche Äußerungen. 10Die im Rahmen der von SHARMED gewonnenen Erkenntnisse stehen in Form eines MOOCs (Massive Open Online Course) zur Verfügung: https://www.sharmed.eu/deutschland/lernplattform/mooc/. Es handelt sich um 8 kurze Videos, in denen Anhand verschiedener Dialoge, die Auswirkungen der verschiedenen Techniken diskutiert werden. Auch übergreifende Themen, wie Kompetenz im Umgang mit Diversität, werden dort behandelt.
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Schüler*innen impliziert, wird an dieser Stelle untersucht, wie die dialogische Haltung sich konkret in bestärkende Handlungen übersetzen lässt. Der Austausch über das Bild beginnt wie folgt: 1. M4: Also, dieses Bild, also, das ist das Land Syrien und die Stadt da heißt Aleppo und und ähm auf dem ersten Bild sieht man noch, dass hier alles heile ist, dass da auch noch Menschen laufen, dass hier auch so ein Riesenturm ist und ähm dass hier auch Autos, Mopeds, und alles noch schön ist. Auch hier so ein paar Bäume. Und das wirkt da noch wie ne normale Stadt. 2. M5: Und unten ist ähm, da war bestimmt Krieg, man sieht hier auch einen Panzer und da ist alles kaputt, also ich glaub- wir glauben, dass das das Vorher-Foto und das das Nachher. Ähm. Die ganzen Häuser sind auch kaputt und der Turm äh ist auch kaputt. 3. M4: Also hat alles auch aus Trümmern und man stellt sich auch vor, dass man auch jetzt nicht gerne leben möchte und auch keinen Urlaub dort machen möchte. 4. ((Einige Kinder sagen näää)) 5. WL: Ich hab grade von den anderen auch ganz viel, „nä“ gehört, wie geht’s euch, wenn ihr das Foto seht? Würdet ihr da gerne Urlaub machen wollen? 6. ((Kinder verneinen)) Die Prozessmoderatorin ist eine ausgebildete interkulturelle Mediatorin und wie es in der Mediation üblich ist, spiegelt sie den Schüler*innen häufig Gefühle und formuliert Aussagen. So besteht auch ihr erster Beitrag darin, die spontane Reaktion einiger Zuhörender aufzunehmen, die mit der Verbaläußerung „nää“ bekräftigen, dass sie an einem solchen Ort keinen Urlaub machen wollen würden. Sie schließt die rhetorische, geschlossene Frage an: „würdet ihr da gerne Urlaub machen wollen?“. Sie erweckt den Eindruck, überprüfen zu wollen, ob die Aussage der Erzählenden (kein Urlaubsort) in der gesamten Klasse Zustimmung findet. Zweck dieser Fragen kann nicht die Entstehung einer kontroversen Diskussion sein, da niemand Urlaub im Kriegsgebiet machen möchte. Hingegen scheinen sie eher darauf abzuzielen, einen ersten einfachen, gemeinsamen Konsens über ein schwieriges Thema zu schaffen. Gleichzeitig kann sie den Erzählenden durch das Spiegeln und Umformulieren zeigen, dass sie ihnen aufmerksam zuhört und ernst nimmt, was sie sagen. Die Trivialität ihrer Aussage, die sie durch Wiederholen und Überprüfen verstärkt, schafft aber auch gleichzeitig eine gewisse Dissonanz: die absurde Assoziation Kriegsort-Urlaub sowie auch ihre sinngemäße Kehrform Kriegsort – hässlicher/gefährlicher Ort – kein
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Urlaubsort könnten für diejenigen, für die dieser Kein-Urlaubsort das eigene Zuhause war, verletzend wirken. Die erwartete Bestätigung, dass tatsächlich kein Mensch dort Urlaub machen möchte, kommt. Sie wiederholt sie und schließt erneut die vorige Zwischenfrage an: „Geht’s euch gut, wenn ihr das Bild seht?“, die wieder zu keinem weiteren Schritt führt. Der Prozess scheint zu stocken. Worauf die Moderatorin hinaus möchte, ist unklar. Vielleicht möchte sie den negativen Emotionen, die Krieg auslöst, ausreichenden Raum geben, vielleicht ist sie verunsichert und weiß nicht, wie sie am besten weitermachen soll. Vielleicht will sie das Tempo etwas drosseln, damit die Erzählenden oder Zuhörende die Chance haben, sich autonom einzubringen, und nicht sie entscheidet, wohin der Dialog führen soll. Diese letzte Vermutung ergibt sich aus der Beobachtung des gesamten Prozesses: M6 reagiert auf die Frage und sagt, dass er vor einem fahrenden Panzer Angst hätte. Die Gastlehrerin nimmt diese Aussage auf, fokussiert nicht auf die Emotionen, sondern auf das Erleben eines echten Panzers und fragt nach, ob jemand Erfahrung damit hat. Vermutlich hatte sie die Hoffnung, dass die Person, die das Bild mitgebracht hat, oder andere geflüchtete Schüler*innen über die eigene Erfahrung berichten. Aber sowohl an dieser, wie auch an den darauf folgenden Stellen bringen sich andere sechs Kinder ein, (M1, M3, M6, M7, F7 und M8), die selbst keine Fluchterfahrung haben und überwiegend positive Assoziationen mit Panzern äußern (z. B. Panzer selbst gefahren, Vater war Panzerpilot, Ausflug zum Panzermuseum, Beobachtung von Panzern auf dem Testgelände, Besuch einer Ausstellung). Die bedrückte Atmosphäre löst sich komplett auf, als die Prozessmoderatorin die subtil zu spürenden Gefühle spiegelt und fragt: „Das hat dann Spaß gemacht euch ne?!“ Dies wirkt wie eine Befreiung: der letzte Erzähler lacht glücklich, sein Nachbar stellt eine Panzerkugel, die fliegt und explodiert, dar. Krieg ist wieder das, was er für die meisten Kinder und Jugendlichen in Deutschland bedeutet: ein Spiel in der Phantasiewelt. Mittels rhetorischer Fragen führt die Workshopleiterin den Kontrast vor Augen zwischen ihrer Phantasiewelt und der auf dem Foto abgebildeten Realität: „Das ist wahrscheinlich kein Museum da ne?“ und „auch kein Testgelände“, und gibt somit einen Impuls, den ein Schüler annimmt und mit der Sprache der Videospiele und TV-Shows bestätigt: „Das ist real life“, was die Moderatorin durch Wiederholen betont. Die Atmosphäre ist wieder nüchtern und Krieg kann wieder ernsthaft thematisiert werden. In diesem Kontext öffnet sie den Raum für Fragen. Der Wirbel von aufregenden Erinnerungen, die im ersten Teil des Dialogs ausgelöst wurden, hat sich aber noch nicht gelegt: zwei Schüler wollen noch von ihren Erfahrungen im Panzermuseum berichten, wobei der Zweite seiner Beschreibung eine kritische Reflexion zufügt: „als die im Einsatz waren, […] das war eventuell
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auch, wo Leute von gestorben sind“. Bevor aber jemand auf diese Aussage eingeht und das Wort ergreift, der Krieg in real life erlebt hat, wird Raum für Fragen an die Erzählenden geschaffen: die Erzählenden werden als Experten des Bildes behandelt. Dies ist einerseits förderlich für ihre Agency, gleichzeitig setzt es aber die wahre Expertin in ihrer Rolle herab. In der Gruppe wurde zum Zweck der Förderung des autonomen Handelns der Lernenden die Regel eingeführt, dass diejenigen die erzählen, den Anderen selbst das Wort erteilen. So ruft M4 M6 – das Kind des Panzerpiloten – auf, welches seine Zweifel ausdrückt, ob auf den Bildern wirklich derselbe Ort zu sehen ist. Dieses Hinterfragen wirkt aus mindestens drei Gründen störend: zum einen wird dadurch die Aufmerksamkeit von dem wichtigen Thema Krieg hin zu einem oberflächlichen Aspekt gelenkt, dessen Klärung in Bezug auf die Entwicklung des Austausches irrelevant ist. Zweitens wird dadurch der Expertenstatus der Erzählenden hinterfragt, die sich das Foto bei der Vorbereitung ihrer Erzählung sorgfältig angeschaut haben. Drittens wird dadurch indirekt auch die Kompetenz der Schülerin hinterfragt, die das Bild mitgebracht hat: auch wenn sie sich noch nicht dazu geäußert hat, ist sehr wahrscheinlich, dass sie damit die Zerstörungskraft von Krieg thematisieren möchte. Die Prozessmoderatorin nutzt nicht die eigene hierarchische Position aus, um den Schüler zurechtzuweisen, sondern lässt die Schüler*innen die Situation auflösen: Durch einen Prozess kollektiver Intelligenz wird die Annahme der Erzählenden bestätigt, dass auf den Bilder derselbe Ort zu sehen ist. Dies wirkt sich auch auf das Selbstbild der Erzählenden als kompetente Menschen positiv aus. Nachdem schnell überprüft wird, ob hiermit alle offenen Fragen beantwortet worden sind, wird mit „einem großen Dankeschön“ und einem Applaus seitens der Gruppe die erste Sequenz des Austauschprozesses abgeschlossen. Die Prozessmoderatorin hat sich bisher geduldig und aufmerksam gezeigt, und ausreichend Raum dafür gegeben, dass mehrere Schüler*innen die eigenen Gedanken und Erinnerungen äußern konnten. Durch Spiegeln und Wiederholen von Aussagen hat sie zudem einerseits Nähe und Aufmerksamkeit gezeigt und andererseits eine selbstbestimmte Weiterführung des Dialogs stimuliert. Die zweite Sequenz beginnt wie folgt: 53: WL: Okay, wollt ihr das Fo- äh Foto wieder in die Mitte legen und dann fragen wir doch mal denjenigen, dem das Bild gehört, derjenigen, der das Bild gehört, ob du uns da vielleicht noch mal mehr zu sagen möchtest.
Die Korrektur von „derjenige“ hin zu „diejenige“, was dann in einer direkten Ansprache mündet, lässt vermuten, dass die Prozessmoderatorin erst in dem Moment versteht, wessen Bild es ist. Es folgt darauf die direkte Bitte an F6: „ob
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du uns da vielleicht noch mal mehr zu sagen möchtest“ (eigene Hervorhebung). Aus dem Kontext heraus scheint der Einsatz des Pronomens „uns“ darauf abzuzielen, das Stattfinden der Erzählung im vertrauten Kreis zu betonen, stellt allerdings erst mal die Schülerin der Gruppe gegenüber. Das Wort „vielleicht“ und die Nutzung des Präteritum Konjunktiv „möchtest“ zeigen eine gewisse Unsicherheit seitens der Prozessmoderatorin darüber, ob die Schülerin tatsächlich etwas zum mitgebrachten Bild erzählen möchte, bzw. scheint sie besorgt zu sein, ob die Schülerin sich frei fühlt, darüber etwas zu erzählen oder sich dagegen zu entscheiden. Das Adverb „mehr“ hebt hervor, dass schon Vieles zum Bild gesagt worden ist. Aus dem semantischen Kontext kann etwa interpretiert werden: Keine Sorge, du brauchst nicht unbedingt was zu sagen, Vieles wurde ja schon gesagt. Auch wenn es gut gemeint ist, könnte damit eine gewisse Überflüssigkeit ihres möglichen Beitrags vermittelt werden. Es könnte aber auch sein, dass die Prozessmoderatorin gerade durch dieses „mehr“ die besondere Position der Schülerin wertschätzen will: sie kann Dinge erzählen, die sicherlich noch nicht gesagt worden sind. Es ist unklar, wie die Schülerin die Frage versteht, offensichtlich ist aber, dass sie sich vorbereitet hat und sich freut, ihre Erfahrungen mitteilen zu können. In ihrem einen Beitrag fügt sie sieben verschiedene Aussagen zusammen: 1) sie kommt aus Syrien; 2) sie wohnte in Aleppo; 3) sie hat das Foto aus dem Internet; 4) sie hat Bomben fallen sehen; 5) sie hat Angst gehabt; 6) sie findet es schlimm, dass sie flüchten musste; 7) sie hofft, es wird in Syrien bald Frieden herrschen. Es ist auffällig, dass die bisher sehr aufmerksame Prozessbegleiterin keine dieser Aussagen aufnimmt und umformuliert, gar kein Gefühl spiegelt, und weder selbst eine Nachfrage hat, noch einen Raum für Fragen Anderer öffnet. Nach einem minimalen Zeichen aktiven Zuhörens („mhm“), bedankt sie sich. Nach einer kurzen Pause fragt sie, ob das Bild tatsächlich ein Vorher-Nachher-Bild ist. Dadurch erkennt sie die Schülerin als Expertin des Bildes an und gibt ihr das letzte Wort dazu, während sie gleichzeitig M6 zeigt, dass er ernst genommen wird. Sie hat einerseits die Chance entstehen lassen, die anderen Schüler*innen zu bestärken, die dann auch explizit beglückwünscht werden, als F6 die ziemlich offenkundige Vermutung bestätigt. Sie hat aber andererseits die großartige Chance verpasst, aus den sieben Botschaften von F6 einen bereichernden Lernprozess entstehen zu lassen und die Agency der geflüchteten Schülerin zu stärken. Etwas, was sie auch nicht nachholt. Nach der Bestätigung der richtigen Interpretation des Bildes seitens der anderen Schüler*innen, wartet sie kurz, falls jemand an dieser Stelle Fragen an F6 hat. Gleich darauf stellt sie selber eine weitere, mit der vorigen verknüpften, aber noch trivialere Frage: was sie eingetippt habe, um das Foto zu finden. F6 erklärt ihr es freundlich. Die Moderatorin entscheidet, dass
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dies das Ende des Dialogprozesses ist und hält eine kleine zusammenfassende Ansprache: 61: WL: Ah ja, das war dir wichtig ne, dass du das mal (.) Mhm. Klasse, merk das auch grade in der Stimmung ja. Ich kann beobachten, dass wir jetzt alle Recht angespannt sind hier ja. Ist so ein bisschen Gefühl von: „Ahh.“, wie schon gesagt, ja da möchte man kein Urlaub machen, das ist kein schönes Gefühl, wenn man auf das Bild guckt. Herzliches Dankeschön auch an dich, dass du uns das rausgesucht hast und die Erinnerung mit uns teilst. Danke.
Sie weist folgende Elemente auf: 1. Die Vermutung, dass es F6 wichtig war, ihre Stadt zu zeigen bzw. Krieg zu thematisieren bzw. über ihre Erfahrung zu berichten. Da nur der ersten Teil des Satzes ausgesprochen worden ist („das war dir wichtig ne, dass du das mal“) kann man nicht genau sagen, was sie sagen wollte. Dabei ist gerade die Tatsache, dass ihr zum ersten Mal die Wörter fehlen, aussagekräftig und kann als weiteres Zeichen ihrer Unsicherheit gedeutet werden. Gleichzeitig muss der Aspekt hervorgehoben werden, dass sie betont, wie wichtig es der Schülerin selbst war, anstatt zu sagen, wie wichtig es für die Anderen gewesen ist. Die Tatsache, dass der Fokus auch in der zweiten kurzen Sequenz zu jeder Zeit bei den Schüler*innen ohne Migrationserfahrung bleibt, sowie die Tatsache, dass die Workshopleiterin keine Chance verpasst, um deren Agency zu stärken, sie aber nur die banalste Chance wahrnimmt (vorher-nachher-Bild), um die von F6 zu stärken, lässt auch vermuten, dass es neben der benannten Unsicherheit einen weiteren Faktor gibt, der den unausgeglichenen Aufmerksamkeitsfokus unbewusst beeinflusst: Macht. F6 ist nicht deutscher Herkunft anders als die anderen, die sich aktiv beteiligen.11 Natürlich kann F6 den anderen etwas beibringen, unklar ist aber, ob dies die Prozessmoderatorin so schnell realisiert, wie im Fall der Wissensvermittlung von einem Weißen gegenüber einer Gruppe von People of Colour12. Auch im zweiten Element des Abschlussbeitrags bleibt bezüglich der Gefühle die Aufmerksamkeit bei der Gruppe: „wir [sind] jetzt alle recht angespannt“. Diese Aussage macht einerseits F6 verantwortlich, da sie das Bild mitgebracht hat. Gleichzeitig ist wieder ein Kontrast zwischen der Spiegelung der Gefühle „der Gruppe“
11Dies
ist nicht das einzige Beispiel im Corpus. Schwarz und Weiß werden hier nicht vermeintliche Hautfarben beschrieben, sondern aus der Kolonialgeschichte entstehende politische und soziale Positionen. Dazu siehe: Danielzik et al. (2013, S. 15).
12Mit
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und der Ausblendung der Gefühle von F6 festzustellen. Das 3. Element der Ansprache ist eine Weiterentwicklung des Zweiten: die Gastlehrerin will das Gefühl der Anspannung besser erklären und bezieht sich dazu auf eine oben diskutierte, problematische Aussage des Schülers, der das Bild vorgestellt hat: „da möchte man kein Urlaub machen“. Anschließend betont sie, dass das Bild negative Emotionen entstehen lässt. Das darauf folgende „Herzliches Dankeschön auch an dich […]“ zeigt, dass sie der Schülerin F6 eher mit Empathie begegnen möchte, anstatt ihr einen Vorwurf zu machen. Das „auch“ in diesem 4. Element des Abschlusses zeigt, dass sie es wieder, und somit bis zum Ende nicht schafft, alleine auf sie zu fokussieren: die Anderen werden immer mitgedacht. Die Tatsache, dass sie genau spezifiziert, wofür sie sich bedankt (dass sie das Foto rausgesucht hat und dass sie die Erinnerung „mit uns“ teilt) und abschließend erneut „Danke“ sagt, lässt erkennen, dass sie der Offenbarung der Schülerin einen großen Wert beimisst. Besonderes Merkmal dieser Prozessbegleiterin ist ihre stark wertschätzende Haltung. Daher ist es hier unklar, ob sie sich einfach deshalb bei der Schülerin F6 bedankt, weil sie das immer macht, weil sie glaubt, es hat die Schülerin besonders viel Überwindung gekostet, oder weil sie ihren Beitrag besonders wichtig fand. Da sie die seltene Chance nicht wahrgenommen hat, eine Person zu Wort kommen zu lassen, die Krieg erlebt hat und eindeutige Zeichen gibt, dass sie darüber erzählen möchte, ist eher zu vermuten, dass sie die Schülerin bis zum Ende schützen möchte und ihr aus diesem Grund ihre Agency abspricht. Der Widerstand der Prozessmoderatorin könnte aber auch an der eigenen Angst liegen, über Krieg zu sprechen, eine Erfahrung, die sie selbst nicht gemacht hat und mit der sie daher kommunikativ nicht umzugehen weiß. Eine weitere Interpretationsmöglichkeit wäre, dass sie den anderen Kindern zwar die Realität des Krieges nahe bringen will, ohne sie aber mit genaueren Details zu konfrontieren. Was hinter dieser Differenz ihrer Haltung und Handlung in der ersten Sequenz – 50 Zeilen lang – und in der zweiten – 10 Zeilen lang! – steckt, kann nicht endgültig geklärt werden. Was aber festgehalten werden kann, ist, dass die Förderung der Agency der Schüler*innen durch Kommunikation passiert: ein bewusster, reflektierter Einsatz von gewissen Kommunikationstechniken kann es Lehrenden ermöglichen, die Agency aller Schüler*innen gleichermaßen zu fördern. Unabdingbar dazu ist die Entwicklung von Kompetenzen im Bereich der dialogischen Prozessmoderation und der Interkulturalität, die eine rassismuskritische Selbstreflexion zum Kern hat. So könnten alle Schüler*innen, auch die mit Fluchterfahrung, wie F6, bestärkt werden und ihre Erfahrungen zugunsten Aller verstärkt zur Geltung kommen.
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3 Fazit In diesem Artikel wurde argumentiert, dass die Einführung von Inklusion als Leitbild unserer Gesellschaft eine wichtige Chance darstellt, unser demokratisches System zu stärken: durch dieses Prinzip werden alle Bürger*innen als Dēmos erkannt und ihnen wird Kratós (Macht) zugewiesen, das Gemeinschaftliche aktiv und kreativ mitzugestalten. Dazu muss sich die Gesellschaft, beginnend bei ihren Institutionen, drastisch ändern, ihre Mitglieder brauchen die dazu notwendige Haltung und die entsprechenden Kompetenzen. Die Verbreitung einer Kultur des Dialogs kann der Schlüssel ihrer erfolgreichen Verwirklichung sein, dadurch wird die Besonderheit Aller anerkannt und wertgeschätzt, ihr persönlicher Ausdruck erwünscht und möglich gemacht und ihr Einfluss mit dem der Anderen ausbalanciert. Dazu muss sowohl die Schule als auch das Konzept des Lehrens und das damit verbundene Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden neu gedacht werden. Mit diesem Beitrag wurde gezeigt, wie stark Pädagog*innen durch ihre alltägliche Handlung die Entfaltung der Agency von Schüler*innen Tag für Tag ermöglichen bzw. verhindern, und wie sehr davon abhängt, ob Heterogenität zu einer Chance für die Lerngruppe wird oder nicht. Einerseits lässt sich an Interaktionen wie der hier beschriebenen beispielhaft zeigen, welches große Potenzial in solchen Methoden steckt, andererseits wird aber auch deutlich, dass die Effektivität in Bezug auf eine Verbesserung der Inklusion stark von der Haltung und Kompetenz der Lernbegleiter*in abhängt und die diesbezüglichen Herausforderungen nicht zu unterschätzen sind. Nötig für eine signifikante Verbesserung an den Schulen wären daher sowohl die Entwicklung und Implementierung von Fortbildungskonzepten für Lehrer*innen und die Verankerung des Paradigmas und entsprechender Methoden in der Lehrer*innenbildung als auch eine damit einhergehende größere Sensibilisierung für das Thema bis hin zu einer Hegemonie einer inklusiven und anti-hierarchischen Schulkultur.
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Martha Nussbaums Argument für eine lebendige Demokratie Heike Flindt
Zusammenfassung
„Wie kann Politische Bildung zur konstruktiven Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels beitragen?“ Um diese Frage zu erörtern, ist es hilfreich, Martha Nussbaums politisches Denken heranzuziehen. Sowohl ihr demokratiepädagogischer Zugang als auch ihre originelle Weise, demokratietheoretische Grundlagen zu reflektieren, zielen darauf ab, Demokratien konstruktiv zu gestalten. Nussbaum konstatiert, dass sich Bildungsinstitutionen zu sehr den Zielen wirtschaftlicher Entwicklung verschreiben, ohne zu durchdenken, wie kritisch diese Engführung sein kann. In dieser Perspektive entwickelt die Amerikanerin demokratiestärkende Bildungsinhalte und untermauert diese mit reformpädagogischen Ansätzen. Da politisch gebildete Gesellschaften – so Nussbaum – selbst ihren Wohlstand besser sichern können als profitorientierte Gesellschaften, werden in dieser Forschungshinsicht die Tragfähigkeit und der Nutzen substanzreicher politischer Bildung zu erörtern sein.
H. Flindt (*) Universität Vechta, Vechta, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_14
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1 Einführung „Wie kann demokratische Politische Bildung zur konstruktiven Gestaltung des gesellschaftlichen Wandels beitragen?“ Diese und weitere Fragen zur Zukunft und Entwicklung demokratisch orientierter politischer Bildung bestimmen die aktuellen Agenda Settings verschiedener Fachtagungen und Fachdiskussionen. Die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) brachte im Januar 2018 einen darauf Bezug nehmenden Appell mit der Kernaussage heraus, den Demokratie-Auftrag von Schulen zu erfüllen und politische Bildung damit zu stärken. „Politische Bildung meint eine an demokratischer Praxis orientierte gesellschaftliche Allgemeinbildung“ (DVPB 2018, S. 1). Sie meint somit auch die Befähigung zum demokratischen politischen Handeln. Um sich dieser zentralen Aufgabe anzunähern, wird in diesem Artikel die Situation der Kompetenzbereiche der politischen Bildung kurz aufgezeigt und mithilfe politischer Theorie insoweit aufgeschlüsselt, dass sie einen praktischen Zugang eröffnet und somit Anknüpfungspunkte an eine fachdidaktische Diskussion ermöglicht. Dazu wird die zeitgenössische Denkweise der Politiktheoretikerin Martha Nussbaum herangezogen und ihr demokratiestärkender Bildungsansatz mit der politischen Bildung verbunden.
2 Herausforderungen politischer Bildung Bei der Betrachtung derzeitiger Herausforderungen politischer Bildung ist gerade das Herausbilden demokratiestärkender politischer Fähigkeiten in aktueller Beziehung zu einer pluralistischen, globalisierten und wirtschaftlich orientierten Welt bedeutsam, um ein tragfähiges Profil in der politischen Bildung zu bewahren. Globalisierung und technischer Fortschritt erfordern zunehmend, dass ökologische, ökonomische und soziale Herausforderungen im internationalen Kontext angegangen werden müssen. Nationale Politik muss schließlich darauf abgestimmt werden und kann deshalb für die Betroffenen Verunsicherung bringen. Daraus erwachsen schließlich vielfältige Konflikte, die in Form von Ungleichheit, Populismus, Migration und Konsumismus in Erscheinung treten können (Internationale Arbeitsorganisation 2004, S. 2 ff.). Ein diesbezüglicher Wandel ist somit auf allen gesellschaftlichen Ebenen zu beobachten. Auf der Makroebene der Gesellschaftsstruktur, auf der Mesoebene der Institutionen und Gemeinschaften und auf der Mikroebene der Individuen (Weymann 1998, S. 14 f.). Wichtige Effekte, die diesen Wandel vorantreiben sind
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die ökonomischen Triebkräfte der kapitalistisch-liberalen Marktwirtschaft und die Technisierung (Geißler 2014, S. 458). Beide führen auch Umbrüche in der Wissens- und Bildungsgesellschaft herbei, bei denen soziale und gesellschaftliche Themen eher zurückgedrängt werden, was eine gesellschaftliche Orientierungslosigkeit begünstigt und auf Dauer die Grundlagen einer demokratischen Existenz der Bürger*innen gefährdet (Negt 2018, S. 25; Nussbaum 2012, S. 20). Diese und weitere strukturelle Wandlungsprozesse bebildern die Notwendigkeit einer zeitgemäßen politischen Bildung die sich neben einem theoretischen Fundament auch an Wissen in Form von gesellschaftlichem Wissen orientiert und nicht von der dynamischen Lebenswelt der Lernenden losgelöst ist. Um der Aufgabe zu begegnen, soll die demokratiepädagogische Herangehensweise angeführt werden. Sie soll jedoch nicht als Alternative zur politischen Bildung verstanden, sondern als zusätzliches Argument für politische Bildung wahrgenommen werden (Sander 2011, S. 120 f.; Quentmeier 2014, S. 40 f.).
3 Kernkompetenz der politischen Bildung Eine politische Bildung bildet im besten Sinne politische Fähigkeiten und Fertigkeiten und fördert die Vernetzung sozialer, ökonomischer und politischer Bezüge. Wichtige Kompetenzen bilden dabei die Analyse-, Urteils- und Handlungskompetenz sowie methodische Fähigkeiten. Im Folgenden wird insbesondere das politische Handeln in den Fokus genommen, für das alle oben benannten Fähigkeiten relevant sind. Politisches Handeln ist durch Mitwirkung, Teilhabe und Gestaltung gekennzeichnet, die ihrerseits wichtige Grundsätze einer demokratischen Gesellschaft sind. Politisches Handeln ist durch eine Reihe kognitionspsychologischer Verarbeitungsmuster geprägt. Persönliche Fähigkeiten, wie etwa Wahrnehmungen, Gedanken und Tätigkeiten werden in koordinierter Weise eingesetzt, um entweder Ziele zu erreichen oder sich von nicht lohnenden oder entfernten Zielen zurückzuziehen. Politisches Handeln im Bezugssystem einer politischen Ordnung lässt sich in kommunikatives politisches Handeln und in partizipatives politisches Handeln unterscheiden. Kommunikatives politisches Handeln bedeutet, dass im sozialen Umfeld Gespräche über Politik stattfinden. Partizipatives politisches Handeln ist Handeln durch politikbezogene Aktivitäten (Massing 2012, S. 26). Eine Förderung dieser Form von Empowerment kann den Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen erhöhen und es ihnen ermöglichen ihre Gestaltungsspielräume wahrzunehmen und zu nutzen. Doch die Schwierigkeit, die die Politische Bildung dabei hat politisches Handeln bei Lernenden anzubahnen, liegt auf der Hand, wenn weiter im Sinne einer
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Ökonomisierung der Bildung verfahren wird und dadurch die Bedeutung von „nicht-marktkonformen“ Schul- und Studienfächern abnimmt. Hieraus ergibt sich eine Tendenz, dass sich aus autonomen Bürger*innen zuletzt passive Marktteilnehmer*innen entwickeln, die schließlich auch Demokratie und Teilhabe selbst gefährden (Nussbaum 2012, S. 16). Eine Verdichtung demokratischer Fähigkeiten und politischer Handlungsbefähigung im Sinne eines Empowerments, die einen konstitutiven Beitrag für die Entwicklung einer pluralistischen, weltbezogenen Gesellschaft autonomer Individuen leisten kann und sehr wohl die ökonomische Komponente mit einschließt, ist ein dynamisches Ziel politischer Bildung.
4 Nussbaums politische Fähigkeiten als Argument für eine lebendige Demokratie Politische Fähigkeiten bilden in originärer Weise den normativen Kern der Erziehungsphilosophie der Amerikanerin Martha Nussbaum. Nussbaums Standpunkt in der praktischen Philosophie bilden der Multikulturalismus, der Ansatz der World Citizenship und die internationale Gerechtigkeit. Nussbaum ist durch den Capabilities Approach, den Fähigkeiten Ansatz, den sie gemeinsam mit dem Ökonomen Amartya Sen in den 1980er Jahren entwickelt hat, international bekannt geworden (Nussbaum 1999, 2007). Dieser Ansatz verfolgt zwei zentrale, wenn auch aufeinander verweisende Ziele. Zum einen die Formulierung einer fundamentalen Gerechtigkeitstheorie, basierend auf einer definierten menschlichen Würde und zum anderen die Operationalisierung einer von ihr entwickelten Theorie eines guten menschlichen Lebens. Nussbaums Verständnis von Würde geht insofern über das von Kant und Rawls hinaus, als sie diese nicht nur auf der rationalen, sondern auch auf der emotionalen und sozialen Ebene betrachtet. Ihre normative politische Anthropologie als konkrete Ausformulierung einer Konzeption des Guten muss ihrer Meinung nach zwangsläufig zum Nachdenken über Bildungs- und Erziehungsfragen führen. Anders gesagt: Nussbaum denkt vom Ziel her und argumentiert welche Bildung notwendig ist, um dorthin zu gelangen (Nussbaum 1999). Hieraus entwickelt sie ihren Fähigkeiten Ansatz und konstatiert, dass die Möglichkeiten, die diesen Fähigkeiten innewohnen eine hinreichende Voraussetzung für das gute Leben sind. Dieser Zusammenhang ist entscheidend, um ihre Theorie in die Diskussion einzubetten. Wenn der Staat also für jeden Bürger Bildungsmöglichkeiten bereitgestellt hat, […] können weitergehende Bestrebungen den Menschen vernünftigerweise selbst überlassen bleiben, da diese aufgrund der schon erreichten Fähigkeiten gute Voraussetzungen haben, sie weiterzuentwickeln. (Nussbaum 1999, S. 64).
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Auch wenn sich der Fähigkeiten Ansatz den universalistischen Ansätzen zuordnen lässt, so vertritt Nussbaum einen starken Individualismus, den sie vor dem Hintergrund einer demokratischen Existenz der Bürger*innen skizziert. „Die modernen Demokratien sind jedoch Gesellschaften, in denen die Bürger sich über die Bedeutung und die letzten Ziele des menschlichen Lebens keineswegs einig sind“ (Nussbaum 2012, S. 23). Damit macht sie deutlich, dass die von ihr entwickelten Fähigkeiten auf den Schultern ihrer normativen Theorie stehen, sie zeigt aber auch, dass deren individuelle Aufarbeitung eben nicht einheitlich sein kann und schließlich auch nicht soll, da sie die Möglichkeiten sich frei und kritisch zu äußern als hohes Gut politischer Aktivität einordnet (Nussbaum 2011, S. 21). Ihre inzwischen breit aufgestellten theoretischen Grundlagen bieten auch Anknüpfungspunkte an die politische Bildung in Deutschland. In ihrer Streitschrift, „Nicht für den Profit – Warum Demokratie Bildung braucht“ (Nussbaum 2012), konstatiert sie, dass eine rein auf ökonomischer Lebensweltperspektive basierende Bildung, eine Engführung bedeutet und knüpft an die hierzulande skizzierten Problemfelder an, wenn sie darlegt, dass geisteswissenschaftliche Disziplinen vom Primarbereich bis hin zur universitären Bildung zusammengestrichen werden, um „brauchbare, anwendungsorientierte und gewinnbringende Fächer [zu] fördern“ (Nussbaum 2012, S. 16). Nussbaums Werk ist ein Plädoyer für eine verantwortungsvolle Erziehung zu demokratischen und selbstbestimmten Gemeinschaften und einen kritisch-reflexiven und kompetenten Umgang mit dem Politischen, das sich sowohl über ihre originelle Weise, demokratietheoretische Grundlagen zu reflektieren als auch über ihren praktischen Zugang auszeichnet. Aus dieser lebensweltorientierten Perspektive entwickelt die Amerikanerin demokratiestärkende Bildungskonzepte und untermauert diese mit reformpädagogischen Ansätzen. Diese – so Nussbaum – sorgen langfristig dafür, Demokratien zu stabilisieren und konstruktiv weiterzuentwickeln (Nussbaum 2012). Nussbaum benennt zentrale politische Fähigkeiten, deren pädagogische Anbindung notwendig ist, um Empowerment zu erreichen. • Critical thinking – Die Fähigkeit zum kritischen Denken. • World Citizenship – Die Fähigkeit über lokale Bindungen hinaus zu denken und die Probleme der Welt als Bürger*innen der Welt anzugehen. • Narrative Imagination – Die Fähigkeit sich in die Lage eines anderen Menschen zu versetzen.
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Nussbaum greift in ihren Ausführungen auf Reformpädagogen wie Dewey oder Tagore zurück und bringt auf diesem Weg nicht nur kulturelle Betrachtungsweisen zueinander, sondern vereint damit auch Elemente der praktischen Bildung, die sich anwendungsorientiert und in Form von Fachwissen zeigt, mit Aspekten der persönlichen Bildung, die durch soziale Kompetenzen sichtbar wird, um aufgeklärte und engagierte Bürger*innen hervorzubringen (Nussbaum 2012, S. 22 f.). So ist die Fähigkeit zum kritischen Denken bei Nussbaum durch die Bezugnahme auf die sokratische Form des Argumentierens geprägt. Das Beurteilen von Aussagen und Darlegungen nach Korrektheit der Fakten ist zentraler Bestandteil dieses Vorgehens und elementare Voraussetzung, um mit Anderen in einen respektvollen Dialog zu treten und zu friedlichen Lösungen zu gelangen. Critical Thinking ist demnach eine entscheidende Fähigkeit für politisch handelnde Individuen und Gesellschaften, denn insbesondere bei unkritischen Menschen besteht das Problem, dass sie leicht beeinflussbar und zum Beispiel für populistische Ideen empfänglich sind. Die Fähigkeit sich als Bürger*in dieser Welt zu begreifen umfasst verschiedene Aspekte. Zum einen sollen Menschen sich nicht nur als Teil einer bestimmten Gruppe oder Nation sehen, sondern verstehen, dass Menschsein etwas ist, was allen Menschen gemeinsam ist. Zum anderen ist eine Bewusstmachung von kommunikativen Hindernissen, wie etwa unterschiedlichen Interessen, sprachlichen Schwierigkeiten und kulturellen Besonderheiten, eine wesentliche Voraussetzung, um etwa gemeinsame Ziele zu erkennen oder tragfähige Beschlüsse zu fassen. Der Kontakt mit anderen Wertvorstellungen und das Wissen um globale Zusammenhänge sind für Nussbaum deshalb entscheidend für die Herausbildung einer weltbürgerlichen Gesinnung. Die dritte Fähigkeit, die Narrative Imagination berührt die Empathie, eine erweiterte Urteilskraft, die ermöglicht, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und die Emotionen und Wünsche dieser Person zu verstehen. „We may become powerful by knowledge, but we attain fullness by sympathy“ (Tagore 1959, S. 116). Hier beruft sich Nussbaum sowohl auf neueste Erkenntnisse der kognitiven Psychologie als auch auf die bereits angeführten Vertreter der Reformpädagogik. Gemeinsam ist den Ergebnissen beider Disziplinen, dass kognitives Wissen allein nicht zum Lernerfolg führt, sondern dass für den Lernprozess die Erfahrungen, die mit einer Situation verbunden sind, eine ebenso bedeutende Rolle einnehmen. Nussbaum sieht hier eine Verbindung zu Literatur und Kunst, denn dort können verschiedene Rollen und Perspektiven eingenommen werden, wodurch eine verbindende Form zwischen Freiheit und Gemeinschaft ohne Hierarchie entsteht (Nussbaum 1997, 2012).
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5 Verknüpfung zur aktuellen fachdidaktischen Diskussion Demokratie-Lernen Vor dem Hintergrund, dass Nussbaum die Bedeutung der politischen Fähigkeiten für das Funktionieren einer gestaltbaren Demokratie diskutiert, ist die Anbindung der Diskussion an einen demokratiepädagogischen Bildungsansatz naheliegend. In der fachwissenschaftlichen Diskussion in Deutschland ist Demokratielernen bereits in verschiedenen Konzeptionen in den Fokus gerückt worden. Insbesondere der Ansatz von Gerhard Himmelmann, Demokratie-Lernen in Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform aufzuschlüsseln, findet dabei derzeit Zustimmung. Dieser Ansatz zielt nicht ausschließlich auf den kognitiven Umgang mit Demokratie und Politik als Staatsform ab, sondern auf ein Lernen, das von der Lebenswelt der Lernenden ausgeht. Erst wenn eine demokratische Grundhaltung entstanden ist, kann auf diesen Erfahrungen fachliches Lernen aufbauen (Himmelmann 2001). Daraus lässt sich ein Verständnis von Demokratie-Lernen ableiten, dass folgende Bereiche umfasst: • den Erwerb von Kenntnissen über die Demokratie. • den Erwerb von Kompetenzen für die Demokratie. • das Lernen durch die Demokratie im Kontext gemeinsamer Erfahrungen. Während in frühen Lernjahren wenig fachliche Kenntnisse über die Demokratie als Fundament ausreichend sind, wird das Faktenwissen mit zunehmendem Alter bedeutsamer. Andersherum verhält es sich mit der Kompetenz für die Demokratie, die sich aus persönlichen und moralischen Voraussetzungen entwickelt. Diese ist bereits vor Beginn der Schulzeit bedeutend und sollte deshalb früh entwickelt und gefördert werden. Gemeinsame Erfahrungen können in sozialen Interaktionen entstehen und kennzeichnen vor allem die stets hohe Bedeutung des Lernens durch die Demokratie. Alle drei Bereiche stehen in einer Wechselbeziehung zueinander, wenngleich sie dem Alter der Lernenden entsprechend unterschiedlich gewichtet betrachtet werden (Himmelmann 2017, S. 24). Die Verbindung zwischen der politischen Theorie von Nussbaum und Himmelmanns fachdidaktischer Konzeption besteht durch die von ihnen begründete Notwendigkeit eines weiten Politikbegriffs. Jegliches Wissen über das gesellschaftliche Zusammenleben ist demnach davon betroffen. Hieraus ergeben sich auch in den Schlussfolgerungen für die pädagogische Aufbereitung Parallelen (Himmelmann 2001, S. 23 f., 2018, S. 26 f.). Für die Bildung von Empowerment ist schließlich ein zielgerichtetes Erlernen erforderlich. Dies
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umfasst neben praktischer Bildung, wie Lesen, Schreiben und Fachwissen eben die Aspekte der persönlichen Bildung, die Nussbaum explizit in ihren politischen Fähigkeiten beschreibt und die durch Himmelmanns ganzheitliches Lernkonzept ermöglicht werden. Insbesondere der Prozess der Selbstbemächtigung, also der Wahrnehmung und Nutzung von Gestaltungsspielräumen und Ressourcen, steht dabei im Fokus beider Entwürfe. Diese Form der Pädagogik beinhaltet lebenspraktische Bezüge zu demokratischen Werten, wie Zivilcourage und Teilhabe, die über eine Sachkenntnis hinausgehen und bereits früh angebahnt werden sollen (Himmelmann 2017, S. 17; Nussbaum 2012, S. 102).
6 Schlussbetrachtung Die Probleme und Herausforderungen, denen sich politische Bildung heute gegenübersieht, sind vielfältig. Insbesondere die Fragen ob und wie Demokratie gelernt werden kann und was dies wiederum für die politische Bildung bedeutet, bilden den Fokus dieser Darstellung. Für die Beantwortung dieser Fragen, können die von Martha Nussbaum identifizierten notwendigen Kompetenzen für eine mündige Teilhabe als Bürger*in einer Demokratie herangezogen werden. Diese Kompetenzen lassen sich pädagogisch implementieren. Hierzu bietet der von Himmelmann vorgestellte Ansatz Demokratie-Lernen eine Perspektive. Eine derartige Pädagogik soll Fachwissen und Persönlichkeitsentwicklung berücksichtigen und damit das Wissen stärker in der Lebenswelt verankern. Diese Art von Empowerment ermöglicht einen erhöhten Grad an Autonomie und Selbstbestimmung im Leben von Menschen und ist mit den Fähigkeiten Critical Thinking, World Citizenship und Narrative Imagination verknüpft. Dies fördert Mitwirkung und gesellschaftliche Gestaltung und unterstreicht somit einen demokratiestärkenden Bildungsansatz, der auf eine Vertrauens- und Verantwortungskultur als Gegenentwurf zu destabilisierenden demokratiegefährdenden Entwicklungen abzielt.
Literatur DVPB – Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (2018). Appell der Deutschen Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) Demokratie-Auftrag von Schule erfüllen, Politische Bildung stärken! http://dvpb.de/wp-content/uploads/2018/01/d735e1efbb8ed a503c44356c1a894035.pdf. Zugegriffen 27.November 2018. Geißler, R. (2014). Die Sozialstruktur Deutschlands (7. Aufl.). Wiesbaden: Springer VS.
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Himmelmann, G. (2001). Demokratie-Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Himmelmann, G. (2017). Demokratie-Lernen in der Schule. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Himmelmann, G. (2018). Demokratie als Gesellschaftsform – Politische Bildung und Zivilgesellschaft. In S. Kenner & D. Lange (Hrsg.), Citizenship Education (S. 26–37). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Internationale Arbeitsorganisation. Weltkommission für die soziale Dimension der Globalisierung. (2004). Eine faire Globalisierung. Chancen für alle schaffen. Genf: Internationales Arbeitsamt. Massing, P. (2012). Die vier Dimensionen der Politikkompetenz. Aus Politik und Zeitgeschichte, 46/47, (S. 23–29). Negt, O. (2018). Gesellschaftspolitische Herausforderungen für Demokratiebildung. In S. Kenner & D. Lange (Hrsg.), Citizenship Education (S. 21–25). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Nussbaum, M. (1997). Cultivating Humanity. A classical defense of reform in liberal education. Cambridge: Harvard University Press. Nussbaum, M. (1999). Gerechtigkeit oder das gute Leben. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Nussbaum, M. (2007). Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership. Cambridge: Harvard University Press. Nussbaum, M. (2011). Creating Capabilities. The Human Development Approach. Cambridge: Harvard University Press. Nussbaum, M. (2012). Nicht für den Profit – Warum Demokratie Bildung braucht. Überlingen: Tibea Press. Quentmeier, M. (2014). Politische Bildung mit neuen Konzepten? Politik unterrichten, 29 (1/2014), (S. 37–49). Sander, W. (2011). Kompetenzorientierung als Forschungs- und Konfliktfeld der Didaktik der politischen Bildung. In Autorengruppe Fachdidaktik (Hrsg.), Konzepte der politischen Bildung. Eine Streitschrift (S. 113–126). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Tagore, R. (1959). Personality. London: Macmillan. Weymann, A. (1998). Sozialer Wandel. Theorien zur Dynamik der modernen Gesellschaft. Weinheim/München: Juventa.
Den Blick auf das Politische schärfen. Vom Umgang mit hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen in der Politischen Bildung Vera Sperisen und Simon Affolter Zusammenfassung
‚Migration‘ ist an Deutschschweizer Schulen ein beliebtes Unterrichtsthema, um die Schüler*innen im Sinne einer grundrechtsbasierten und antirassistischen Bildung für Werte wie Toleranz und Offenheit zu sensibilisieren. Empirische Ergebnisse zeigen, dass dieser Unterricht entgegen den Zielen der Lehrpersonen zu einem „Doing Difference“ und damit zur weiteren Segregation im Klassenzimmer führen kann. Im Aufsatz wird geklärt, wie solche schulischen Interaktionsprozesse ablaufen und welche alternativen Zugänge die Politische Bildung bietet. Dabei wird der Situation Rechnung getragen, dass Politische Bildung im Lehrplan nur vage verankert ist. Didaktiker*innen und Lehrpersonen für Politische Bildung, welche den Demokratie-Auftrag der Schule ernst nehmen, haben sich gegenwärtig besonders mit Fragen zur Polarisierung der Gesellschaft zu beschäftigen. In den vergangenen Jahren kam es namentlich bei der öffentlichen Debatte um ‚Migration‘, ‚Integration‘ und ‚(kulturelle) Identität‘ zu Diskursverschiebungen, welche die
V. Sperisen (*) · S. Affolter Pädagogische Hochschule FHNW, Aarau, Schweiz E-Mail: [email protected] S. Affolter E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_15
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Spaltung und Segregation der Gesellschaft stark vorangetrieben haben (Achour 2018). Dies gilt sowohl für die Schweiz, für Europa wie auch für Gesellschaften mit demokratischen Staatsformen weltweit. Mit diesen Transformationsprozessen muss sich die Politische Bildung in Zukunft verstärkt auseinandersetzen. Obwohl die Politische Bildung in Deutschschweizer Schulen wenig institutionalisiert ist, definieren Lehrpersonen bereits heute zeitliche und inhaltliche Räume zur Auseinandersetzung mit politischen Fragestellungen. Das Themenfeld ‚Migration‘ ist dabei ein beliebtes Unterrichtsthema, allerdings läuft dieser Unterricht aufgrund fehlender fachdidaktischer Konzepte permanent Gefahr, durch natio-ethno-kulturelle Zuschreibungen (Mecheril 2003) die Segregation weiter voranzutreiben. Anhand des Fallbeispiels einer aktuellen Unterrichtssequenz zeigen wir die Fallstricke dieser pädagogischen Praxis auf und entwerfen eine alternative Strategie, wie anhand des Themenfelds fundamentale Fragen der Politischen Bildung erschlossen werden können. In der Politischen Bildung sollte es um eine sachliche, transparente und grundrechtbasierte Auseinandersetzung um den Demos gehen. Wer gehört zu welchem ‚wir‘? Wer soll ‚wir‘ in Zukunft sein? Und wie steht es um die (politischen) Rechte Aller?
1 Leerstelle Politische Bildung? Zur Situation in der deutschsprachigen Schweiz Die Politische Bildung in der Schweiz ist im Vergleich zu Deutschland oder Österreich wenig institutionalisiert (Ziegler 2011, 2017). Daran ändert auch die weitreichendste Lehrplanreform in der Geschichte der schweizerischen Volksschule nur wenig. Im neuen Lehrplan 21, der spätestens ab 2021 für alle deutschsprachigen Kantone gilt, wird es bis auf eine kantonale Ausnahme kein Fach für Politische Bildung geben. Im Fächerkonglomerat ‚Räume – Zeiten – Gesellschaften‘ (Geographie/Geschichte mit Staatskunde) finden Anliegen der Politischen Bildung mit einzelnen Kompetenzformulierungen marginalen Raum. Gleichzeitig erscheint die Politische Bildung im Lehrplan explizit als ‚überfachliches Thema‘, welches in allen Fächern – vom Sport- bis hin zum Französischunterricht – Berücksichtigung finden soll. Diese Ausgangslage ist einerseits einschränkend und problematisch, weil sich die Didaktik nicht auf die Förderung von Bildungsprozessen innerhalb eines institutionell abgegrenzten Faches konzentrieren kann. Andererseits bietet der überfachliche Zugang die Möglichkeit, unterschiedliche Lehrpersonen mit den Zielsetzungen der Politischen Bildung vertraut zu machen und didaktische
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Konzepte zu entwickeln, welche auch in anderen Fachbereichen einen Zugang zu Fragestellungen der Politischen Bildung ermöglichen. Die wichtigste Grundbedingung dieses anspruchsvollen Anliegens, ‚fachfremde‘ Lehrpersonen zum Unterrichten von Politischer Bildung zu befähigen, ist eine fundierte Ausund Weiterbildung für solche Vermittlungsprozesse. Zudem sind didaktische Konzepte und Unterrichtsmaterialien gefragt, welche Möglichkeiten und Werkzeuge für den überfachlichen Zugang bieten. In der heutigen Praxis an Schweizer Schulen ist weder das eine noch das andere gewährleistet. Die Ausbildung von Lehrpersonen für die Politische Bildung ist minimal. Insbesondere auf der Sekundarstufe I, auf welche unser Forschungsprojekt fokussiert, findet in den aktuellen Ausbildungsgängen keine breite und keine vertiefte Auseinandersetzung mit entsprechenden Lernprozessen statt. Dasselbe gilt für die Weiterbildungen: Von Lehrpersonen der Sekundarstufe I wird keine inhaltliche und didaktische Qualifizierung in diesem Feld erwartet und es bestehen auch kaum Möglichkeiten zur Weiterbildung in der Didaktik der Politischen Bildung. Die vage Verankerung im Lehrplan und die fehlende fachliche Ausbildung von Lehrpersonen hat zur Folge, dass Lehrer*innen die Politische Bildung häufig als zusätzliche Herausforderung in einem von Bildungsaufträgen bereits übersättigten Berufsalltag wahrnehmen. Im Prozess der Einführung des Lehrplan 21 sind mehrere Lehrmittel erschienen, welche sich dem Status quo der Politischen Bildung an Deutschschweizer Schulen annehmen und Unterrichtsmaterialien für das Fächerkonglomerat ‚Räume – Zeiten – Gesellschaften‘ anbieten (Marti et al. 2017; Bariswyl et al. 2016; Fuchs et al. 2016). Die Lehrmittel behandeln die Politische Bildung explizit, aber nachgelagert, neben historischen und geographischen Themen und Perspektiven. Diese Schwerpunktsetzung entspricht durchaus der Konzeption des Lehrplans 21. Für die zweite wichtige Verankerung der Politischen Bildung im Lehrplan 21 – dem überfachlichen Zugang – fehlen entsprechende fachdidaktische Konzepte bisher gänzlich und es sind auch keine Materialien vorhanden, in welchen politische Themen in praxisgerechter Form aufbereitet sind. Das Desiderat, den überfachlichen Zugang ernst zu nehmen, ist aus zwei Gründen drängend: Erstens, weil die aktuelle Verankerung im Lehrplan 21 explizit danach verlangt. Der Lehrplan wird in dieser Form für einen längeren Zeitraum gelten, weshalb die Didaktik sich auf diese Gegebenheit einzustellen hat. Zweitens, weil die gängige Schulpraxis eigensinnig ist und sich, auch unabhängig vom Lehrplan, niemals konsequent an die starren Logiken der Fachlichkeit hält. Egal ob mit oder ohne neuen Lehrplan: Themen und Kompetenzen der Politischen Bildung wurden und werden in Zukunft auch in anderen Fächern
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vermittelt. Wie empirische Erkenntnisse zeigen, fehlen den Lehrpersonen dabei klare didaktische und fachliche Konzepte (Hedinger und Schneider 2018; Waldis et al. 2017). Dort wo dieses Bewusstsein fehlt, besteht die Möglichkeit, dass ausgerechnet durch die ‚Politische Bildung‘ solche Lehr-Lern-Prozesse und Subjektivierungsprozesse angestoßen werden, die den eigentlichen Zielen der Politischen Bildung zuwiderlaufen. Beispielsweise dem Ziel, Rassismus zu thematisieren und rassistischer Diskriminierung entgegenzuwirken.
2 Politische Bildung ‚mit Migrationshintergrund‘ Die Ausführungen in diesem Beitrag beziehen sich auf Erkenntnisse, welche wir aus dem vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Forschungsprojekt ‚Doing/Undoing Difference in Politischer Bildung – eine praxeologische Unterrichtsstudie‘ gewonnen haben. In unserem Forschungsprojekt besuchen wir Schulklassen im dritten Zyklus (7.–9. Klasse), wenn nach Selbstdefinition der Lehrpersonen Politische Bildung zum Themenfeld ‚Migration‘ unterrichtet wird. Die Unterrichtssequenz wird videographiert und im Anschluss findet ein Gruppengespräch mit rund sechs Schüler*innen statt, um den Unterricht gemeinsam zu reflektieren. Zudem werden in einem stimulated recall ausgewählte Unterrichtssequenzen mit den Lehrpersonen nachbesprochen und sie werden zu ihren Konzepten und didaktischen Zielen des beobachteten Unterrichts befragt. Im Forschungsprojekt steht die Frage im Zentrum, wie im Unterricht der Politischen Bildung mit Zugehörigkeitsordnungen umgegangen wird, respektive wie sich diese in der pädagogischen Praxis manifestieren. Wie wir seit vielen Jahren wissen, sind Schüler*innen mit attestiertem ‚Migrationshintergrund‘ auch an den öffentlichen Schulen benachteiligt. Wie statistisch festgestellt werden kann, erzielen sie tiefere Schulabschlüsse (Bundesamt für Statistik 2019). In verschiedenen Studien wurden bisher zahlreiche Begründungen hierfür gefunden: So spielt die familiäre Herkunft der Schüler*innen eine bedeutende Rolle bei Einstufungsempfehlungen der Lehrpersonen (Naguib et al. 2015), Schüler*innen können aufgrund ihrer Herkunft in der Klasse ausgeschlossen werden (Diener 2016), die Monolingualität der Schule wirkt sich auf Leistungen beinahe über alle Fächer hinweg aus (Jäger 2011) und es fehlt an pädagogischen Antworten auf die eingeschränkten Handlungsmöglichkeiten aufgrund der strukturellen Diskriminierung (Mey 2008). Die Schüler*innen ‚mit Zuwanderungssymptom‘ – wie dies Paul Mecheril (2014) in einem Referat zynisch genannt hat – werden in der schulischen Praxis wiederkehrend als ‚Andere‘ adressiert (Kalpaka 2006).
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Hier setzt das Forschungsprojekt ein, indem wir die interaktionistische Herstellung von Differenz in der pädagogischen Praxis untersuchen. Das ethno-methodologische Theorem des Doing Difference (West und Fenstermaker 1995; Fenstermaker und West 2001) stellt dabei insofern die theoretische Grundlage dar, als dass es einen praxeologischen Zugang ermöglicht, um die Reproduktion von Ungleichheitsverhältnissen in der schulischen Praxis zu erforschen. Zugleich sollen durch die Unterrichtsbeobachtungen auch didaktische Zugänge erschlossen werden, welche eine kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen ermöglichen. In dem zugehörigkeitstheoretischen Zugang fokussieren wir in dem Projekt auf natio-ethno-kulturelle (Nicht-)zugehörigkeit. Unter dem Begriff der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit verstehen wir im Sinne Paul Mecherils eine Markierung von Differenz, die ihre Wirkungsmacht gerade aus den verschwommenen, unklaren und wechselseitigen Verweisen auf ‚das Nationale‘, ‚die Ethnizität‘ und ‚das Kulturelle‘ zieht (Mecheril 2003). Es handelt sich um eine Imagination, die ein diffuses natio-ethno-kulturelles ‚Wir‘ einem natio-ethno-kulturell verfassten ‚Nicht-Wir‘ entgegensetzt. Das Gegenüber wird über diese Kategorisierung „erzeugt, gedacht, definiert, festgeschrieben und der Behandlung durch uns zugänglich gemacht“ (ebd., S. 160). So wird über die Festschreibung des ‚Anderen‘ ein ‚Wir‘ generiert. Natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen bilden den Ordnungsrahmen ab (Normen), in welchem Zugehörigkeit und damit auch Differenz geordnet, strukturiert und hierarchisiert ist und der wiederum strukturierend wirkt. Durch Zugehörigkeitserfahrungen wird diese nicht starre, aber durch Routine gefestigte Wissensordnung erlebt und von den Individuen in verdichtete, abstrahierte Zugehörigkeitsverständnisse gefasst – die wiederum die zukünftigen Handlungen und Erfahrungen strukturieren (vgl. Mecheril und Hoffarth 2009). Es handelt sich dabei um eine Zuschreibung von Differenz, entlang welcher sich gesellschaftliche Ungleichheit strukturiert und fortschreibt. Sie ist (auch) unabhängig von der Staatszugehörigkeit der Schüler*innen wirkmächtig (vgl. auch Espahangizi et al. 2016). In aller Regel fühlen sich Lehrpersonen aus berufsethischen Gründen den Prinzipien der Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichtet (Bloch 2014). Sie folgen damit dem moralischen Grundprinzip der Gleichheit, das qua Verfassung und Schulgesetzgebungen verbindlich gilt: Alle Schüler*innen müssen als Gleiche behandelt werden. Gleichzeitig sollen Lehrpersonen – dem moralischen Grundprinzip der Gerechtigkeit folgend – auf die Bedürfnisse des Kindes, auf dessen familiäre Situation, dessen Biographie, dessen Möglichkeiten und Interessen eingehen. Dies bedeutet, dass die unterschiedlichen Lebensgeschichten und
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Lebensrealitäten der Schüler*innen eingeordnet und das pädagogische Setting daran so weit als möglich angepasst werden. Bildung in der Migrationsgesellschaft steht deshalb vor der Herausforderung, die natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen zu berücksichtigen, ohne diese in der pädagogischen Praxis zu verfestigen. Hier zeigt sich bei der Analyse der von uns besuchten Unterrichtssequenzen, dass es den Lehrpersonen vielfach an Konzepten fehlt, um die Thematik im Unterricht zu behandeln. Eine Auseinandersetzung mit ‚dem Migrationskomplex‘ (Jain und Randeria 2015; Espahangizi 2015) findet in der Institution Schule statt, wie sich in unserem Forschungsprojekt zeigt. Was dabei aber fehlt, ist ein didaktischer Zugang, welcher eine kritische Auseinandersetzung mit hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen ermöglichen würde. Der Unterricht ist primär vom didaktischen Prinzip der Orientierung an den Adressat*innen geleitet, weshalb die (zugeschriebene) natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit in den Vordergrund rückt: Die Schüler*innen werden als Kulturvertreter*innen angerufen, um ein gegenseitiges Verständnis zu fördern. Damit verschiebt sich der Unterrichtsinhalt aber zugleich weg von einer kritischen Auseinandersetzung mit der Thematik zu einem Doing Difference.
3 Fallbeispiel: „Im Urlaub daheim“ Im Rahmen des Forschungsprojekts haben wir eine Schulklasse der Sekundarstufe I besucht, die in einer ländlichen Kleinstadt mit Zentrumsfunktion von zwei engagierten und für Migrationsthemen sensibilisierten Lehrpersonen unterrichtet wird. Zum Zeitpunkt der Unterrichtsvideographie hat sich die Schulklasse bereits seit mehreren Wochen mit den Themen ‚Migration‘, ‚Rassismus‘ und ‚Heimat‘ auseinandergesetzt und in diesem Zusammenhang auch eine Ausstellung des Museums Stapferhaus in Lenzburg besucht.1 In dieser thematischen Ausstellung mit dem Titel „Heimat. Eine Grenzerfahrung“ wurde ein multiperspektivisches Heimatkonzept vermittelt. Die Ausstellungsmacher*innen richteten sich mit ihrem Angebot sehr explizit an Schulen. Sie boten entsprechende Führungen an und erarbeiteten umfangreiche Unterrichtsmaterialien zur Vor- und Nachbearbeitung des Museumsbesuchs. Das der Ausstellung zugrunde liegende Heimatkonzept wird in diesen Materialien wie folgt beschrieben:
1Im Internet unter: https://www.stapferhaus.ch/ausstellung/bisherige-ausstellungen/. Zugegriffen: 22. Januar 2019.
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Die vorliegenden Materialien bieten Anlass, mit Jugendlichen über persönliche und gesellschaftliche Vorstellungen von Heimat zu diskutieren. Darüber, was uns Menschen und unsere Welt ausmacht, welche Grenzen wir brauchen und in welcher Heimat wir zusammenleben wollen. Die Unterrichtseinheiten regen an, über persönliche und gesellschaftliche Lebensentwürfe nachzudenken, über individuelle und kollektive Identitäten. (Stapferhaus Lenzburg 2017, S. 3)
Mit diesem Verständnis rücken die Austellungsmacher*innen vor allem das subjektive Gefühl für Heimat ins Zentrum der Betrachtungen: Heimat ist für die wenigsten ein Ort auf der Landkarte. Für die meisten ist Heimat ein Gefühl. Ein Gefühl zwischen Sehnsucht und Freiheit, zwischen Geborgenheit und Verlustangst, zwischen Verbundenheit und Entfremdung. (Stapferhaus Lenzburg 2017, S. 8)
Damit wird ein zentrales Ziel der Ausstellung benannt: Die verschiedenen, subjektiv geprägten Perspektiven auf Heimat sollen zur Disposition gestellt werden. Damit verbunden sollen auch die Zugehörigkeitsordnungen und Zugehörigkeitszuschreibungen, welche mit Heimat verbunden werden zum Gegenstand einer Auseinandersetzung werden. In der von uns videographierten Unterrichtsstunde füllen die Schüler*innen einen Steckbrief aus, den die Lehrpersonen diesen Unterrichtsmaterialien des Stapferhaus entnommen haben. Der Steckbrief enthält Rubriken wie „Heimat ist für mich…“ oder „Ein Geruch und/oder ein Geräusch, der/das für mich Heimat bedeutet“ (Stapferhaus Lenzburg 2017, S. 84). Im Anschluss an die individuelle Arbeit werden im Plenum einzelne Antworten von Schüler*innen vorgelesen und kommentiert. Die Lehrperson fokussiert daraufhin auf die Frage, welche Geräusche Heimat bedeuten. Die entsprechenden Antworten werden von den Schüler*innen vorgelesen: LP: M hm (bejahend)/Jetzt von den die Geräusche, die möchte ich gerne von jedem nochmal hören, von allen. S6 startest du? S6: Keine. Also ja. LP: Mhm (bejahend) S7? S7: Ehm also wenn ich aus dem Haus gehe, gerade den Bach und ehm wenn Schnee liegt, also das Geräusch also auf unserem Hausplatz, wenn ich in den Schnee trete, dieses Knacken. S8: Eh wenn mich in Bosnien am Morgen die Tiere aufwecken. SuS: (lachen) LP: Schön
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Die Unterrichtssequenz wird sehr offen eingeleitet. Die Lehrerin fragt nach Geräuschen, welche für die Schüler*innen Heimat bedeuten und bezieht sich damit auf das multiperspektivische Heimatkonzept, wie es in den Unterrichtsmaterialien des Museums zum Ausdruck kommt. Bereits bei der zweiten Wortmeldung wird deutlich, in welche Richtung die Schüler*innen bei dieser Frage assoziieren: Die Schülerin verortet – im wahrsten Sinne des Wortes – das Heimatgeräusch auf ihrem ‚Hausplatz‘. Das Geräusch bekommt einen Ort. Damit steht es in einem gewissen Widerspruch zum multiperspektivischen Heimatkonzept, bei welchem die Emotionen der Heimatlichkeit jenseits von Raum und Zeit situiert werden. Die geographische Lokalisierung des Heimatgeräusches wird vom nächsten Schüler aufgegriffen, der sein Geräusch, dasjenige der Tiere am Morgen, „in Bosnien“ verortet. Mit dieser Aussage wird das Zuordnungsmuster der ersten Schülerin übernommen und erfährt zugleich eine Umdeutung: Die Lokalisierung des Geräusches ist nicht mehr an einen bestimmten Ort gebunden, sondern wird viel allgemeiner im Teilstaat Bosnien lokalisiert. Es ist anzunehmen, dass der Schüler selber eine vergleichbar präzisere Vorstellung vom Ort des Geräusches hat. Beispielsweise auf dem Hof seiner Verwandten. Mit der Bezugnahme auf nationalstaatliche Kategorien ist aber das Zuordnungsmuster festgelegt, nach welchem das Gespräch in der Folge strukturiert ist: S9: Bei mir das genau gleiche. Vor allem die Hühner. LP: In der Türkei dann? S9: Ja. S10: Ich habe kein Geräusch. S11: Die Stimmen der Familie. S12: Ehm. Denke also [das] Geräusch von den Autos auf den Straßen, oder Leute die schreien, also. Ja weil man (uvs.). LP(S12): Und du hattest noch Benzingeruch gell, das kam noch vor? S12: ja. LP: Gut. S1: Ehm wenn ich meine Familie höre. LP: Mhm (bejahend). S2: Ah ehm die Stimme von Vögel. S3: Ehm die Hühner, ehm die Hunde, und ehm allgemein Natur, also von Wind und so. LP(S3): Aber dann reden wir nicht von [Schulort], sondern? S3 Nein von Kosovo. LP Und bei dir (zu S8) war es Bosnien oder?
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S8: Ja. LP(S12): Und bei dir wars Afghanistan. S12: Ja. LP: Und das find ich noch spannend, du (S3) bist hier geboren und du (S8) bist hier geboren und du auch (S9), das weiß ich ja, ehm aber die Geräusche, die erinnern euch dann wenn ihr noch im Urlaub daheim seid. Oder S9? S9: Ja. S8: Schon Als nach den bosnischen Tieren wieder Hühner genannt werden, beginnt die Lehrperson die nationalstaatliche Lokalisierung explizit einzufordern: „In der Türkei dann?“. Die Schülerin bestätigt ihre Vermutung. Mit der Übernahme des Zuordnungsmusters durch die Lehrperson wird dieses zugleich generalisiert. Die Lehrperson nimmt die Zuordnung von nun an selber vor, indem sie das Geräusch aufgrund der familiären Migrationsgeschichte der Schülerin der Türkei zuordnet. Nach weiteren Wortmeldungen verschiedener Schüler*innen fasst die Lehrperson dann das Zuordnungsmuster zusammen. Sie definiert die nationale Verortung der genannten Geräusche entlang der jeweiligen familiären Migrationsgeschichten und lässt dies durch die Schüler*innen verifizieren. Schließlich lässt sie das Zuordnungsmuster auch nicht unkommentiert und betont, dass sie dies „noch spannend“ findet. Dabei hält sie fest, dass die Schüler*innen „hier geboren“ sind, sie die Geräusche aber an den „Urlaub daheim“ erinnern. Nun wendet sich die Lehrperson zwei Schülern zu, deren Migrationserfahrung noch nicht weit zurückliegt. Wir erfahren, dass einer bis vor kurzem in Afghanistan lebte und dass der zweite vor zwei Jahren aus Polen in das Dorf dieser Schule migriert ist: LP: B ei ihm ist es wieder was anderes, beim S12, der ist ja nicht hier geboren. Was [ist] bei dir (S4)? Du bist ja auch in Polen geboren, hast ja auch sehr lang dort gewohnt, [die] ganze Kindheit und Anfang deiner Jugendlichkja, Jugendlichkeit. C: (Schulglocke läutet). LP: Wir machen das noch fertig, habt dann lieber noch bisschen länger Pause. S4: Also Kirchenglocken (uvs.). LP: Mhm (bejahend) sind es die Kirchenglocken in…? S4: Die hört man fast überall, in jeder Stadt. Jede ganze Stunde. LP: Mhm (bejahend). S5: Ich hab keine Geräusche.
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LP: G ut. Bei mir sind es, wenn ich hier, seit ich hier wohne, morgens die Kuhglocken in [Schulort]. Die hört man, und zu Hause noch, damals, eh das Vogelzwitschern. Das du (S2) auch geschrieben hast. Genau. Wenn ich dann mal zu Hause bin und das höre, denk ich, ja stimmt, das ist so, erinnert mich an früher./Ihr habt gleich die Pause. LP: Ehm ich möchte das gerne dass ihr das, ehm dass wir das im Laufe des Tages, wir sind ja heut Nachmittag noch da, dass wir das untereinander hier irgendwo in der Klasse noch ein Platz finden und noch aufhängen. Ist gut? Dann habt ihr jetzt Pause und bis später. (SS gehen aus dem Schulzimmer) Der Schüler verweigert sich dem Zuordnungsmuster, wie es sich im Laufe der Sequenz verstetigt hat. Für ihn bedeutet der Klang von Kirchenglocken Heimat – egal wo. Dies lässt die Lehrperson in diesem Moment aber nicht mehr gelten. Sie hakt nach, um die Lokalisierung des Geräuschs zu erfragen: „die Kirchenglocken in…?“. Der Schüler lässt sich aber nicht auf die Frage ein und entgegnet, dass man Kirchenglocken „fast überall [höre], in jeder Stadt, jede ganze Stunde“. Die Unterrichtssequenz schließt die Lehrperson mit einer persönlichen Aussage ab. Sie unterscheidet bei den eigenen Heimatgeräuschen zwischen einem Geräusch vom aktuellen Wohnort (‚Kuhglocken‘) und einem von „zu Hause noch, damals“. Damit hat die Lehrperson die Unterrichtszeit etwas überzogen, der Unterricht wird offiziell beendet und die Schüler*innen verlassen das Schulzimmer. Die Unterrichtssequenz ist symptomatisch dafür, wie mit natio-ethnokulturellen Zugehörigkeitsordnungen im schulischen Unterricht umgegangen wird. Die Lehrpersonen wählen gezielt einen Zugang, von welchem sie sich eine engagierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Thema erhoffen. Der Ausstellungsbesuch und der multiperspektivische Zugang über Heimat lässt dies zu. Die Unterrichtssequenz macht aber die Hegemonie natio-ethno-kultureller Zugehörigkeitsordnungen deutlich. ‚Heimat‘ – obwohl hier mit dem Kontext von Geräuschen konfrontiert – wird im Unterricht unmittelbar als Konzept natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit gelesen. Im Schulzimmer besteht ein geteiltes Wissen bezüglich der Zugehörigkeitsordnungen. Die Aufeinanderfolge von Fragen der Lehrperson und von Antworten der Schüler*innen verläuft bis auf wenige Irritationsmomente reibungslos. Die genannten Geräusche werden jeweils lokalisiert und bei Schüler*innen mit familiär-biographischen Bezügen zu anderen Nationalstaaten als der Schweiz mehrheitlich auf ebendiese bezogen. Aus zugehörigkeitstheoretischer Perspektive fühlen sich die Schüler*innen daher offensichtlich als ‚Migrationsandere‘ adressiert. Die Verortung eines Geräuschs in einem Nationalstaat – wie etwa das Geräusch von türkischen Hühnern – ist grundsätzlich
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erklärungsbedürftig. Im vorliegenden Heimatkontext ist diese Antwort aber für alle Anwesenden sinnlogisch nachvollziehbar, weil sie sich entlang des hegemonialen Diskurses bewegt. Gleichzeitig besteht bezüglich des nationalstaatlichen Referenzrahmens aber ein struktureller Unterschied zwischen den Schüler*innen im Raum. Die Schülerin beispielsweise, welche das Geräusch des Schnees auf dem Hausplatz mit Heimat in Verbindung bringt, erwähnt eben gerade nicht, dass sich dieser Hausplatz in der Schweiz befindet. Es eröffnen sich hier zwei Gruppen: Solche, die ihre Heimat nationalstaatlich verorten (außerhalb der Schweiz) – und solchen, die es nicht tun (innerhalb der Schweiz). Sowohl die ‚Anderen‘ wie auch die ‚Hiesigen‘ markieren sich selber oder werden in diesem binären Raum markiert. Entweder durch die nationalstaatliche Verortung, oder durch die nationalstaatliche Nicht-Verortung. Dieses Beispiel verweist auf die zweifache Strukturiertheit von Zugehörigkeitsordnungen. Erstens lässt sich das Wissen über natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit als diffuse Zugehörigkeitsmatrix denken, in welchem sich Wissenselemente über Nationalität(en), Kultur(en) und Religion(en) ineinander verschränken und zur Orientierung im Alltag dienen. Dort wird dieses diffuse Wissen beim Austausch mit unseren Mitmenschen in Zugehörigkeitszuschreibungen übersetzt – sowohl Selbst- wie auch Fremdzuschreibungen. Stellen sich also Fragen rund um Heimat, wie sie in diesem Unterricht angesprochen werden, wird Wissen rund um diese angelernte Zugehörigkeitsmatrix aktiviert. Schüler*innen wissen also, wenn die Lehrperson von Heimat spricht, dann will sie etwas über meine ‚nationale Herkunft‘ wissen. Und sie wissen auch – wenn meine ‚Herkunft‘ nicht migrationsanders ist, muss ich diese nicht explizit lokalisieren. Dies führt zum zweiten Strukturmerkmal von natio-ethno-kultureller Zugehörigkeit: Sie ist auch strikt binär organisiert. In dieser Logik exisitiert ein Ordnungsschemata von ‚hiesigen‘ und ‚anderen‘ Kindern. Ob ein Kind als ‚hiesig‘ oder ‚migrationsanders‘ – sprich ‚mit Migrationshintergrund‘ gilt, wird an Parametern wie beispielsweise der familiären Migrationsbiographie, den Sprachkenntnissen, der Hautfarbe oder dem Nachnamen festgemacht. Der Begriff des ‚Migrationshintergrunds‘ dient dabei als Kategorie zur Einordnung und Differenzierung dieser beiden Gruppen. Die Zuschreibung ‚mit Migrationshintergrund‘ haftete als Stigma der Fremdsetzung auch all jenen an, welche ihr ganzes Leben in derselben Gesellschaft verbracht haben wie diejenigen ‚ohne Migrationshintergrund‘. Zuschreibungen kultureller Andersartigkeit, wie beispielsweise diejenigen des wiederkehrenden Herkunftsdialogs (Battaglia 2000), stellen eine permanente Markierung von Fremdheit dar. Solche interaktionistisch hervorgebrachten Differenzkonstruktionen (Doing Difference) von bestimmten
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‚Anderen‘ in Gegensatz zu einem unbestimmten ‚Wir‘ verunmöglichen für betroffene Menschen die bedingungslose soziale, politische und wirtschaftliche Teilhabe, da sie stets der Subjektivierung als ‚Migrationsandere‘ unterliegen. Diese Subjektivierung ist eine wirkmächtige Artikulation von ‚Rassismus ohne Rassen‘ (Balibar und Wallerstein 1992; Hall 2002), welcher die aktuellen Migrationsgesellschaften durchdringt: Migration(-shintergrund) ist eine bedeutende Differenzkategorie, welche Ungleichheit produziert und Ungleichbehandlung legitimiert. Dies betrifft auch schulische Situationen, in welchen Lehrpersonen aus einer antirassistischen und grundrechtsbasierten Haltung heraus handeln. Ohne dass Lehrpersonen in irgend einer Form eine rassistische Haltung einnehmen oder vermitteln wollen, legitimieren sie durch die Reproduktion von exkludieren Strukturen ungewollt eine strukturelle Form der rassistischen Diskriminierung. Das Fallbeispiel macht deutlich, dass die Subjektivierung als ‚Migrationsandere‘ in eine geteilte Wissensordnung eingeschrieben ist. Die Schüler*innen können sich dieser spezifischen Anerkennung nicht entziehen, denn sie legt den Handlungsraum fest, in welchem sie sich bewegen können. Im Gegenteil: In den allermeisten Fällen sind Schüler*innen daran mitbeteiligt, diese Wissensordnung zu reproduzieren. In diesem Zusammenhang ist die Wortmeldung des Schülers bemerkenswert, welcher abschließend im Unterricht gezielt von der Lehrperson aufgrund seiner zeitnahen Migrationserfahrung aufgerufen wird. Obwohl er direkt als ‚Migrationsanderer‘ angerufen wird, entzieht er sich dieser Zuschreibung, indem er sich explizit auf die ursprüngliche Fragestellung bezieht. Für ihn bedeutet der Klang von Kirchenglocken Heimat. Damit bricht er mit dem im Unterricht etablierten Zuordnungsmuster. Die Lehrperson versucht dies durch die Nachfrage „Kirchenglocken in…?“ wieder herzustellen, was er mit der Bemerkung, dass man dies „in jeder Stadt, zu jeder vollen Stunde“ höre, verweigert. Es zeigt sich in diesem Aushandlungsprozess in eindrücklicher Weise, dass es für den betroffenen Schüler eine Anstrengung erfordert, um sein persönliches Stigmamanagement (Goffman 2005) in dieser Situation durchzusetzen. In diesem letzten Beispiel des Stigmamanagements, wie auch in der Bemerkung der Lehrperson, dass sie die Verortung der Geräusche „im Urlaub daheim“ vieler Schüler*innen „spannend“ finde, zeigt sich, dass eine kritische Auseinandersetzung mit den hegemonialen Zugehörigkeitsordnungen durchaus möglich ist. Um diese beiden Irritationsmomente aber im Unterricht konstruktiv nutzen zu können und die erwünschten Lernprozesse anzustoßen, braucht es ein gefestigtes Konzeptwissen, das hier in die Unterrichtssituation übersetzt werden kann. Dabei – so wollen wir hier abschließend ausführen – wäre eine fachdidaktische Herangehensweise der Politischen Bildung hilfreich.
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4 Neue Perspektiven mit der Politik-Brille erschließen Die Aussage der Lehrperson, dass sie die Heimatbezüge aus dem „Urlaub daheim“ noch spannend finde, ist ein idealer Anknüpfungspunkt, um die von den Schüler*innen erwähnten Vorstellungen von Heimat – welche sich bekanntlich an hegemoniale Zugehörigkeitsordnungen orientieren – zur Disposition zu stellen. Wie eine solche Auseinandersetzung im Unterricht geführt werden kann, soll hier anhand der Politik-Brille (Schneider und Sperisen 2019, S. 19–22) aufgezeigt werden. Die Politik-Brille ist ein analytisches Modell für Lehrende und Lernende und soll helfen, das Politische an Sachthemen zu erkennen und gemeinsam herauszuarbeiten. Ausgehend von einem Unterrichtsthema oder einer Alltagssituation an der Schule eröffnen sich so politische Perspektiven auf Themenfelder, die zuvor unter Umständen unpolitisch erschienen sind. Als ‚Brillengläser‘ der Politik-Brille werden die Basiskonzepte der Politischen Bildung nach Wolfgang Sander (vgl. Sander 2013, S. 95–104) verwendet.2 Basiskonzepte bilden laut Sander den fachlichen ‚Kern‘ der Politischen Bildung. Sie lassen sich als Knotenpunkte in einem Wissensnetz darstellen, welche stetig differenziert und weiter verknüpft werden können. Diese Knotenpunkte – also die Vorstellung von ‚Macht‘, ‚System‘, ‚Recht‘, ‚Öffentlichkeit‘, ‚Gemeinwohl‘ und ‚Knappheit‘ – helfen uns, (politische) Erfahrungen, Ereignisse und neu gewonnenes Wissen einordnen und interpretieren zu können. Es handelt sich bei Basiskonzepten somit nicht um Unterrichtsinhalte, sondern um Wissen, welches Lehrpersonen und Lernenden hilft, die politische Dimension an den Unterrichtsinhalten zu erkennen, zu verallgemeinern und in ein Verhältnis mit anderen Sachverhalten zu setzen. So kann beispielsweise anhand des Brillenglases ‚Öffentlichkeit‘ darüber diskutiert werden, wie Zugehörigkeit in den Medien verhandelt wird. So etwa, indem mediale Debatten über die Zusammensetzung von Fußballnationalmannschaften gemeinsam zusammengetragen und besprochen werden. Anhand der PolitikBrille kann mit dem Basiskonzept ‚Recht‘ auch der Frage nachgegangen werden, wie Zugehörigkeit(en) über Bürgerrechte eigentlich geregelt sind. Welche Staatsbürgerschaften haben wir? Wie kamen wir dazu? Welche Handlungsmöglichkeiten
2Wir
beziehen uns hier auf die Basiskonzepte von Wolfgang Sander, da wir in diesen ein großes Potenzial auch für eine Umsetzung in der pädagogischen Praxis sehen. Es lassen sich aber auch alternative Konzeptionen von Basiskonzepten beiziehen, wie sie in der Fachdidaktik der Politischen Bildung zahlreich entwickelt worden sind.
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und Handlungsgrenzen sind damit jeweils verbunden? Wie kommt es historisch überhaupt, dass es Staatsbürgerschaften gibt? Wie habe ich es mit meiner Staatsbürgerschaft? Fühle ich mich durch – oder auch ohne – Staatsbürgerschaft der Mehrheitsgesellschaft dieser Gesellschaft, in der ich lebe, zugehörig? Fühle ich mich hier3 daheim? Wovon hängt dieses Gefühl ab? Das jeweilige Thema muss nicht durch alle Brillengläser einzeln betrachtet werden. Es können diejenigen Brillengläser bzw. Basiskonzepte zur Hilfe genommen werden, welche sich für das Thema, die Schüler*innen oder den Unterrichtsverlauf anbieten. Zudem ist es hilfreich, wenn bei der Perspektivierung immer auch der Bezug zu den Schüler*innen und zum Hier und Jetzt mitberücksichtigt wird. Entscheidend für den Lernprozess der Schüler*innen ist es, dass die Lehrperson die politische Perspektive bewusst einbringt. Dies impliziert, dass sie die Basiskonzepte kennt und mit dem Unterrichtsthema in Verbindung bringen kann. Die Lehrperson muss aber nicht auf alle Sachfragen eine qualifizierte Antwort haben. Im Gegenteil, das gemeinsame Erarbeiten von Antworten entspricht dem kompetenzorientierten und konstruktivistischen Lernansatz. Auf die hier betrachtete Unterrichtssituation angewendet, wäre eine mögliche Anschlussbemerkung der Lehrperson, dass sie die eigene Irritation ernst nimmt und mit den Schüler*innen deshalb explizit auf die von ihnen formulierten Heimatkonzepte eingeht: „ In den Formulierungen wird deutlich, dass Heimat mehrheitlich ein Land ist. Was bedeutet das? Kann ein Land Heimat sein und warum? Was bedeutet es, wenn der eigene Wohnort nicht als ‚Heimat‘ verstanden wird? Kann Heimat auch etwas anderes als ein Land sein?“ Damit wäre der nötige Boden geebnet, um die zentralen Fragen bezüglich Zugehörigkeitsordnungen besprechen zu können und die Diskussion in ein Verhältnis zur eingangs beschriebenen gesellschaftlichen Segregation stellen zu können.
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3Mit
‚hier‘ kann die Schule, der Wohnort, das Land oder auch anderes gemeint sein.
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Die Sicht der Kinder ins Zentrum rücken. Zum Stellenwert des politischen Lernens in der österreichischen Primarstufe Heike Krösche
Zusammenfassung
Die von Dagmar Richter geprägte Formulierung „Politische Bildung von Anfang an“ macht deutlich, dass politische Lernprozesse in der Primarstufe einen zentralen Beitrag zum Bestand und zur Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft leisten. Dem steht jedoch gegenüber, dass sich der formale und der tatsächliche Stellenwert des politischen Lernens an österreichischen Volksschulen stark unterscheiden. Um das zu ändern, braucht es schon in der Lehramtsausbildung konkrete hochschuldidaktische Konzepte. In einer ersten Annäherung wurden zu diesem Zweck Lehramtsstudierende zu ihren Einstellungen zur Politischen Bildung in der Primarstufe befragt. Zentrales Ergebnis war, dass die Studierenden den derzeitigen Stellenwert des Gegenstandsbereiches in der Schule als gering einschätzen und gleichzeitig bereit sind, sich als zukünftige Lehrerinnen und Lehrer für politische Lernprozesse zu engagieren.
H. Krösche (*) Private Pädagogische Hochschule der Diözese Linz, Linz, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_16
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1 Einleitung Kinder sind in der Schule, der Familie oder Gemeinde von politischen Entscheidungen betroffen, bei denen sie oft kein Mitspracherecht haben. Dagegen war der bekannte Arzt, Schriftsteller und Pädagoge Janusz Korczak (1878–1942) davon überzeugt, dass Kinder selbstbestimmt leben können. Dementsprechend organisierte er das 1912 von ihm übernommene Waisenhaus für jüdische Kinder in Warschau nach demokratischen Prinzipien. Zentrale Elemente der Beteiligung der Heimkinder an der Selbstverwaltung des Hauses bildeten vor allem das Kinderparlament und das Kindergericht (vgl. Hebenstreit 2017, S. 74 ff.; Kerber-Ganse 2009, S. 131 f.). Korczak gilt zurecht als „Pionier“ der Kinderrechte (Kerber-Ganse 2009, S. 36). Seine Ideen fanden letzten Endes Eingang in das Übereinkommen über die Rechte des Kindes (Convention on the Rights of the Child, CRC), die sogenannte Kinderrechtskonvention, die am 20. November 1989 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen verabschiedet wurde (vgl. Hebenstreit 2017, S. 234 ff.; Kerber-Ganse 2009, S. 71 ff.). Mit Ausnahme der USA haben alle Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen dieses Übereinkommen unterzeichnet (vgl. Netzwerk Menschenrechte o. J.). In der Konvention sind die Rechte von Kindern und Jugendlichen in insgesamt 54 Artikeln festgelegt. Grundlage bilden vier allgemeine Prinzipien, darunter die Berücksichtigung der Meinung des Kindes, die in Artikel 12 wie folgt formuliert ist: „Die Vertragsstaaten sichern dem Kind, das fähig ist, sich eine eigene Meinung zu bilden, das Recht zu, diese Meinung in allen das Kind berührenden Angelegenheiten frei zu äußern, und berücksichtigen die Meinung des Kindes angemessen und entsprechend seinem Alter und seiner Reife.“ (UN-Kinderrechtskonvention Art. 12, Abs. 1 zit. n. Netzwerk Menschenrechte o. J.). Obwohl der Text der Konvention auf den Begriff „Partizipation“ verzichtet, wird der Artikel 12 in der Regel als Artikel für das Recht des Kindes auf Beteiligung interpretiert (vgl. Kerber-Ganse 2009, S. 197 ff.). Kinder dabei zu unterstützen, sich ihrer eigenen Meinung bewusst zu werden und diese in einem weiteren Schritt auch artikulieren zu lernen, sollte eine zentrale Aufgabe des politischen Lernens in der Grundschule sein. Dafür muss die Schule als Institution den Kindern Raum für ihre Sicht der Dinge geben und sie mit ihren Meinungen und Fragen ernstnehmen sowie in weiterer Folge ihnen ein aktives Mitspracherecht in Belangen, von denen sie unmittelbar betroffen sind, einräumen. Dazu gehört des Weiteren, schon die jungen Schüler*innen mit politischen Konzepten und Begriffen vertraut zu machen. Die Herausforderung
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besteht darin, „gesellschaftliche und damit politische Fragen auf einem basalen Niveau zu thematisieren bzw. so zu stellen, dass sich SchülerInnen zu selbständigem Denken (und Handeln) eingeladen fühlen.“ (Kühberger und Windischbauer 2010, S. 15). Davon scheint der Unterricht in der österreichischen Primarstufe jedoch noch weit entfernt zu sein (vgl. Mittnik 2016). Somit wird im Folgenden der Frage nach dem Stellenwert des politischen Lernens in der Volksschule nachgegangen. Nach einer kurzen Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand zur Relevanz einer „Politischen Bildung von Anfang an“ (Richter 2007) und den Rahmenbedingungen für politisches Lernen in der österreichischen Primarstufe wird der Blick auf die Lehramtsausbildung gerichtet. Dabei wird von der Annahme ausgegangen, dass Lehramtsstudierenden als Multiplikator*innen und künftige Akteur*innen im Unterricht eine Schlüsselfunktion für einen Bedeutungszuwachs politischer Sachverhalte und Methoden in der Praxis zukommt. Um mittelfristig Implikationen für die Lehramtsausbildung ableiten zu können, wird in diesem Beitrag auf der Grundlage einer empirischen Voruntersuchung zunächst aufgezeigt, wie Lehramtsstudierende den Stellenwert der Politischen Bildung in der Volksschule einschätzen und inwieweit sie bereit sind, sich in ihrem späteren Berufsleben für politische Lernprozesse zu engagieren.
2 „Politische Bildung von Anfang an“ – Eine Bilanz 2.1 Exemplarische empirische Erkenntnisse „Politische Bildung von Anfang an“ ist eine inzwischen viel verwendete Formulierung, die gleichzeitig ein klares Statement beinhaltet. Damit wird deutlich, dass politisches Lernen in der Primarstufe seinen festen Platz hat und einen zentralen Beitrag zum Bestand und zur Weiterentwicklung einer demokratischen Gesellschaft leistet. Geprägt wurde der Ausdruck durch einen von Dagmar Richter herausgegebenen Sammelband, in dem Peter Massing (2007, S. 19) feststellt, dass Politische Bildung in der Grundschule „nicht nur möglich, sondern auch notwendig“ sei. Diese Notwendigkeit wird durch Untersuchungen sowohl zum politischen Interesse als auch zum politischen Wissen von Kindern im Grundschulalter unterstrichen (vgl. Deth et al. 2007; Dondl 2013; Blöcker und Hölscher 2014; Götzmann 2015). So wurde die häufig zu hörende Aussage, dass Kinder sich nicht für Politik interessieren würden, inzwischen empirisch widerlegt. Vielmehr beginnen politische Lernprozesse bereits im Kindergartenalter, wie Studien
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aus den USA zeigen (Reeken 2012, S. 18). Für Deutschland wurde im Zuge des Projektes „Demokratie Leben Lernen“ (Deth et al. 2007) eine Befragung von Grundschulkindern im ersten Schuljahr zu ihren politischen Einstellungen durchgeführt und festgestellt: „Kinder interessieren sich bereits für Politik und nehmen gerne und (meistens) aufmerksam die Möglichkeit wahr, Erwachsenen ihre Meinungen und Einstellungen zu politischen und gesellschaftlichen Sachverhalten mitzuteilen (…)“ (Abendschön und Vollmar 2007, S. 221 f.). Berücksichtigt werden müsse dabei jedoch, dass dieses Interesse noch nicht komplexere Sachverhalte des politischen Prozesses betreffe (ebd., S. 211). Deutlich ist auch der Einfluss von Medien und Elternhaus auf das politische Verständnis von Grundschulkindern. Problematisch ist, dass Kinder den Medienangeboten eher Einzelfakten entnehmen, Hintergründe und Zusammenhänge erschließen sich ihnen dagegen eher nicht. Dieses Rezeptionsverhalten ist laut der Studie nicht dazu geeignet, demokratische Grundhaltungen zu entwickeln (ebd., S. 222). Vor allem wenn Kinder nur bruchstückhafte Informationen über kriegerische Konflikte oder Terror aufnehmen und ihre Fragen und Ängste von Erwachsenen nicht aufgegriffen werden, kann das Auswirkungen auf ihre soziale Entwicklung haben (Richter 2015, S. 160). Auch das Elternhaus wirkt sich offensichtlich prägend auf das politische Interesse aus. Abendschön und Vollmar kommen zu dem Ergebnis, dass Kinder politischen Belangen weniger Beachtung schenken, wenn der Stellenwert politischer Themen im Elternhaus gering ist (Abendschön und Vollmar 2007, S. 222). Des Weiteren zeigen Forschungen zum politischen Wissen von Kindern, dass schon Vorschulkinder politische Vorgänge in ihrer Alltagswelt wahrnehmen. Politische Kenntnisse werden demnach vor allem außerhalb des Unterrichts erworben und sind laut Richter vom sozioökonomischen Umfeld, dem Bestehen eines Migrationshintergrundes, der Mediennutzung und der Sprachfähigkeit abhängig (Richter 2015, S. 161). Dementsprechend lernen Kinder noch nicht systematisch, sondern „erklären […] sich die Welt aus Ermangelung an alternativen Modellen oft selbst“ (Kühberger und Windischbauer 2010, S. 13 f.). Ob man in diesem Zusammenhang wie Kühberger und Windischbauer den „Aufbau von einseitigen oder falschen Konzepten“ (ebd.) befürchten muss, ist fraglich. Eine solche Annahme beinhaltet eine undifferenzierte Sicht auf Schüler*innenvorstellungen als „Fehlkonzepte“, was in der Didaktik der Politischen Bildung umstritten ist (vgl. Autorengruppe Fachdidaktik 2011). Außer Frage steht jedoch der Einfluss früher politischer Sozialisationserfahrungen auf die Entwicklung sozialer und politischer Partizipationsbereitschaft (Abendschön und Vollmar 2007, S. 205 f.).
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Ähnlich fallen auch die Ergebnisse einer Studie zu den Lernvoraussetzungen von Schüler*innen aus, die 2014 an fünf Wiener Volksschulen durchgeführt wurde (vgl. Mittnik 2016, S. 23–40). Hier wurde bestätigt, dass Schüler*innen über grundlegende Konzepte u. a. zu den Gegenstandsbereichen Umweltschutz, Toleranz, solidarisches Zusammenleben und Kinderrechte verfügen. Darüber hinaus wurde festgestellt, dass die Schüler*innen auch „über ein Grundwissen [verfügen], dass zentrale Elemente des Zusammenlebens staatlich geregelt werden.“ (ebd., S. 38) Dazu heißt es weiter: Sie können nicht nur zwischen Regeln und Gesetzen unterscheiden, sondern sie leben sich auch in politische Funktionen ein und geben an, welche Gesetze sie erlassen würden. Lediglich die konkretere Zuordnung der zentralen Charakteristika von Demokratie ist mit Sicherheit ausbaufähig. (ebd.)
Die letzte Einschränkung verwundert dabei kaum, ist doch schon der Begriff Demokratie an sich für Kinder im Volksschulalter sehr theoretisch bzw. abstrakt und müsste schrittweise und kindgerecht im Unterricht erarbeitet werden.
2.2 Der Stellenwert der Politischen Bildung in der österreichischen Primarstufe – Rahmenbedingungen Die exemplarischen empirischen Ergebnisse verdeutlichen den Bedarf an altersgerechten schulischen Angeboten der Politischen Bildung. Dabei ist die Diskrepanz zwischen den empirisch ermittelten Lernvoraussetzungen und der Unterrichtspraxis sowohl in Deutschland als auch in Österreich immer noch groß. Dass die Anzahl didaktischer Ansätze sehr überschaubar ist, wie Götzmann konstatiert (Götzmann 2015, S. 74), trifft für beide Länder gleichermaßen zu. Zugleich mangelt es an gesicherten empirischen Erkenntnissen hinsichtlich der praktischen Umsetzung der Politischen Bildung in der deutschen und österreichischen Primarstufe (Richter 2015, S. 161). Das „stiefmütterliche[…] Dasein“ des politischen Lernens führt Götzmann auf die „doppelte Verortung“ in der Sachunterrichtsdidaktik einerseits und der Politikdidaktik andererseits zurück (Götzmann 2015, S. 74). Tatsache ist, dass sich der formale und der tatsächliche Stellenwert der Politischen Bildung an österreichischen Volksschulen stark unterscheiden. Vergleichsweise spät wurde in Österreich mit dem Grundsatzerlass von 1978 Politische Bildung als Unterrichtsprinzip eingeführt (vgl. Zeilner 2011, S. 84 ff.).
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Dieses Prinzip gilt bis heute für alle Schultypen, alle Schulstufen und alle Unterrichtsgegenstände (vgl. Bundesministerium für Bildung und Frauen 2015). Für die Volksschulen heißt das, dass Politische Bildung zwar kein eigener Unterrichtsgegenstand, aber als fächerübergreifendes Prinzip im Lehrplan klar verankert ist. Deutlich wird das bereits anhand des Allgemeinen Bildungsziels der Volksschule, dessen zentrale Punkte lauten: Die jungen Menschen […] sollen zu selbstständigem Urteil und sozialem Verhältnis geführt, dem politischen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Wirtschafts- und Kulturleben Österreichs, Europas und der Welt Anteil zu nehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken. Humanität, Solidarität, Toleranz, Frieden, Gerechtigkeit und Umweltbewusstsein sind tragende und handlungsleitende Werte in unserer Gesellschaft. Auf ihrer Grundlage soll jene Weltoffenheit entwickelt werden, die vom Verständnis für die existenziellen Probleme der Menschheit und von Mitverantwortung getragen ist. Dabei hat er Unterricht aktiv zu einer den Menschenrechten verpflichteten Demokratie beizutragen sowie Urteils- und Kritikfähigkeit, Entscheidungs- und Handlungskompetenzen zu fördern. (Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2012, S. 9)
Trotz dieses fachübergreifenden Ziels ist „der eigentliche Ort politischen Lernens“ (Reeken 2012, S. 6) in Österreich genauso wie in Deutschland der Sachunterricht. Im österreichischen Lehrplan für den Sachunterricht werden sechs Erfahrungs- und Lernbereiche unterschieden, wobei kein eigener Bereich zur Politischen Bildung berücksichtigt wird. Vielmehr sind die meisten Bezüge zur Politischen Bildung im Erfahrungs- und Lernbereich „Gemeinschaft“ auf der Ebene der Klassengemeinschaft zu finden. Weitere Berührungspunkte zu politischen Sachverhalten gibt es in den Erfahrungs- und Lernbereichen „Raum“ und „Wirtschaft“ (vgl. Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung 2011). Innerhalb der genannten Bereiche bleibt die Formulierung des Lehrstoffes hinsichtlich politischer Themen und Prozesse vage, sodass die Notwendigkeit einer konkreten Verankerung der Politischen Bildung im österreichischen Sachunterrichtslehrplan auf der Hand liegt. Besonders deutlich wird diese Notwendigkeit vor dem Hintergrund, dass das Verhältnis von sozialem und politischem Lernen didaktisch umstritten ist. Die Kontroverse um einen möglichen Transfer vom Sozialen ins Politische reicht bis in die Nachkriegszeit zurück (vgl. Reinhardt 2009, S. 119 f.). Inzwischen zeigen empirische Daten, „dass soziales und politisches Lernen nicht kongruent sind und dass kein automatischer Transfer vom Sozialen zum Politischen
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stattfindet.“ (ebd., S. 120), sondern es vielmehr eine Differenz zwischen privatem und öffentlichem Raum gibt (ebd., S. 122). Allerdings sollte damit die soziale Komponente politischen Lernens keineswegs negiert werden, denn Politik ist ein vielschichtiger Begriff, der neben der formalen und inhaltlichen Dimension auch politische Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung beinhaltet, die Grundlage des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind (Kühberger und Windischbauer 2010, S. 14 f.). Kritisch zu sehen ist jedoch, wenn politisches auf soziales Lernen reduziert wird und das Potenzial zur expliziten Erarbeitung politischer Themen und Fragestellungen ungenutzt bleibt. Dafür spricht auch, dass trotz einer Intensivierung der Diskussion um die Relevanz der Politischen Bildung in den Schulen im Zuge der Herabsetzung des aktiven Wahlalters auf 16 Jahre in Österreich (2007) die Bilanz für die Volksschulen immer noch ernüchternd ist. So stellt Philipp Mittnik fest, dass Politische Bildung an österreichischen Volksschulen „keinen besonders hohen Stellenwert“ habe (Mittnik 2016, S. 23). Um das zu ändern, brauche es neben einer Überarbeitung des Lehrplans ein passendes Kompetenzmodell, wie Mittnik fordert, denn das österreichische Kompetenz-Strukturmodell werde den besonderen Anforderungen der Primarstufe nicht gerecht (ebd., S. 38). Es belegt lediglich die berechtigte Kritik von Dagmar Richter, dass d idaktisch-methodische Ansätze der Sekundarstufe auf das vermeintliche Niveau der Primarstufe heruntergebrochen werden (Richter 2015, S. 160). Zentraler erscheint in diesem Zusammenhang jedoch, wie bereits erwähnt, die Stärkung der Politischen Bildung im Lehrplan für den Sachunterricht. Auf schon länger existierende Forderungen nach kindergerechten Konzepten für das politische Lernen oder nach Partizipationsmöglichkeiten, die dem Kenntnisstand und den Fähigkeiten der Kinder angepasst sind (Abendschön und Vollmar 2007, S. 223), wird schon seit einigen Jahren mit der Publikation von Unterrichtsmaterialien reagiert. Dabei bleibt eine Problematik noch unbeachtet, die Dagmar Richter formuliert hat: „Ohne explizite Thematisierung verkommen auch gut gemeinte Unterrichtsprinzipien zu antrainierten Verhaltensregeln, die für Schüler*innen bedeutungslos bleiben.“ (Richter 2015, S. 159) Dafür ist die Klassensprecherwahl als klassische Methode demokratischen Lernens das beste Beispiel. In österreichischen Volksschulen eher selten durchgeführt, finden Klassensprecher*innenwahlen in der Sekundarstufe 1 zwar regelmäßig statt, aber das Potenzial der Methode wird kaum als Anlass genutzt, um die politischen Dimensionen wie z. B. die Bedeutung von freien Wahlen für demokratische Gesellschaften explizit zu thematisieren. Ausreichend Unterrichtsmaterial stellt zu diesem Zweck u. a. die Bundeszentrale für politische Bildung zur Verfügung (vgl. z. B. Eberhard und Toyka-Seid 2017).
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Somit erscheint ein weiterer Aspekt zentral für den geringen Stellenwert der politischen Bildung in der Primarstufe in Österreich: Der Bereich bekommt zu wenig Raum in der Lehrer*innenausbildung (Kühberger 2016, S. 42). Auch dieser Punkt ist bereits mehrfach angesprochen und empirisch belegt worden. So vermutet Dagmar Richter für Deutschland ein „Professionalisierungsdefizit bei Lehrkräften“ (Richter 2015, S. 162). Für Österreich hat die Studie „Politische Bildung in Volksschulen und Schulen der Sekundarstufe 1 in Wien“ aus dem Jahr 2014 diese Vermutung bestätigt (Larcher und Zandonella 2014). Die umfassende Untersuchung ging u. a. den Fragen nach, was Lehrer*innen daran hindert, Politische Bildung auszuüben, und worin sie Schwierigkeiten beim Unterrichten politischer Themen und Prozesse sehen. Für die Volksschule waren folgende Antworten besonders häufig vertreten:1 Der umfangreiche Lehrplan lasse keine Zeit. Es könnte als Parteiwerbung in der Schule genützt werden. Die Kinder seien noch zu jung. Es gebe keine Ausbildung zur Politischen Bildung und es sei Kritik vonseiten der Eltern zu befürchten (Larcher und Zandonella 2014, S. 23). Der Zeitmangel aufgrund des umfangreichen Lehrplans ist für einen Großteil der Befragten (53 % „sehr“ und „ziemlich“) der Haupthinderungsgrund, politische Fragestellungen in den Unterricht einzubauen. Christoph Kühberger hat in diesem Zusammenhang zu Recht die Befürchtung geäußert, dass aufgrund der „Fülle an Bereichen, welche die Primarstufendidaktik abzudecken hat“, Politische Bildung auch in Zukunft nur marginal vertreten sein wird (Kühberger 2016, S. 42, Fn. 3).
3 Die Einstellung von Lehramtsstudierenden zum politischen Lernen in der Volksschule – Eine Annäherung 3.1 Methodischer Rahmen Aus den genannten empirischen Ergebnissen ergibt sich aber auch ein Auftrag für die Lehrer*innenausbildung, denn der bestehenden Skepsis lässt sich am ehesten entgegenwirken, indem schon Studierende für die Bedeutung früher politischer Lernprozesse sensibilisiert werden. Zu diesem Zweck muss sich jedoch zunächst
1Die
Stichprobe bestand aus 5655 Volksschullehrer*innen. Auf der fünfstufigen Skala konnte gewählt werden zwischen: sehr, ziemlich, wenig, gar nicht, keine Angabe.
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die Frage gestellt werden, welche Einstellungen Lehramtsstudierende zur Politischen Bildung in der Primarstufe vertreten. Dieser Frage wurde mittels einer ersten empirischen Untersuchung im Wintersemester 2017/2018 nachgegangen. Die durchgeführte Fragebogenerhebung hatte den Charakter einer Voruntersuchung und gilt aufgrund des Designs und der Stichprobe nicht als repräsentativ. Ihre aus diesem Grund nur punktuellen Ergebnisse verstehen sich als erster inhaltlicher und methodischer Zugang, auf dessen Grundlage die Fragestellung und das Erhebungsinstrument weiterentwickelt werden sollen. Durchgeführt wurde die Befragung im Zuge der Lehrveranstaltung „Mensch und Raum/ Politische Bildung“, die im dritten Semester der Ausbildung zum Primarstufenlehramt an der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz stattgefunden hat. Die Gestaltung des Fragebogens wurde so gehalten, dass das Ausfüllen durch Ankreuzen der Antwortmöglichkeiten zügig möglich war. Dementsprechend wurden überwiegend geschlossene Fragen konzipiert, die auf einer fünfstufigen numerischen Rating-Skala zu beantworten waren. Enthalten waren zudem dichotome Fragen, deren Beantwortung an zwei Stellen durch eine offene Frage präzisiert werden konnte. Um die Übersichtlichkeit zu erhöhen, war der Fragebogen in folgende drei Bereiche unterteilt: 1. Politisches Interesse und Informationsverhalten 2. Politische Bildung in der Volksschule 3. Allgemeine Angaben zur Person (Alter, Geschlecht, Hochschulreife erlangt an welcher Institution) Insgesamt haben alle 123 Studierenden, die an der Lehrveranstaltung teilgenommen haben, den Fragebogen beantwortet, der mit Hilfe von Excel ausgewertet wurde. Von diesen Studierenden waren 113 weiblich und 8 männlich (zwei Teilnehmer*innen haben keine Angaben gemacht). Das Durchschnittsalter der Teilnehmer*innen lag bei 22. Genau die Hälfte der Befragten hat ihre Hochschulreife an einer Allgemeinbildenden Höheren Schule (AHS) erlangt. Die Befragung wurde bewusst gleich zu Beginn des ersten Termins der Lehrveranstaltung durchgeführt, d. h. es hatte noch keine Auseinandersetzung mit der Thematik stattgefunden. Es ging also vordergründig um die Frage, welche Einstellungen die Studierenden zum politischen Lernen in der Volksschule in den ersten Semestern ihres Studiums mitbringen. Im Folgenden werden zentrale Ergebnisse kurz zusammengefasst.
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3.2 Politisches Interesse und Informationsverhalten Das Interesse an Politik wurde in einer fünfstufigen Skala von „sehr stark“ bis „überhaupt nicht“ erhoben, wobei 48 % der Befragten ihr Kreuz in der Mitte machten (Stufe 3). Dasselbe Bild ergibt sich beim Informationsverhalten, wobei hier die Stufen genauer verbalisiert wurden und somit 50 % der Teilnehmer*innen angaben, einmal pro Woche die aktuelle politische Entwicklung zu verfolgen. Ergänzt wurde diese Frage durch eine Erhebung der hauptsächlich verwendeten Informationsquellen. Hier überwog das Fernsehen mit 81 %, gefolgt von Internet und Apps mit 72 %. Tageszeitungen wurden von nur 46 % der Studierenden als bevorzugte Informationsquelle angegeben. Einerseits überraschen der verhältnismäßig geringe Anteil der Presseberichterstattung und die entsprechend hohe Nutzung des Internets zur Informationsbeschaffung vor dem Hintergrund des veränderten Nutzungsverhaltens im Zuge des digitalen Wandels kaum. Andererseits geht aus der Jugend-Medien-Studie von 2017 hervor,2 dass die Bedeutung des TV-Gerätes bei Jugendlichen abnimmt (Education Group 2017), während sich vier Fünftel der befragten Studierenden über das Fernsehen zu politischen Sachverhalten informieren. Zu berücksichtigen ist dabei, dass die Frage zu den Informationsquellen offen formuliert war, also keine festen Antwortkategorien zur Verfügung standen, und mehrere Angaben gemacht werden konnten. Ergänzt wird dieses Informationsverhalten durch politische Diskussionen im Freundes-, Bekannten- oder Familienkreis, die bei einem Großteil der Befragten (47 %) einmal pro Woche stattfinden. Interessant sind die Ergebnisse zur Selbsteinschätzung des politischen Vorwissens, wie Abb. 1 zeigt. Auf die Frage: „Wie gut kennen Sie sich mit den Institutionen des politischen Systems in Österreich aus?“ kreuzten auf der Skala von „sehr gut“ (1) bis „überhaupt nicht“ (5) die Meisten die Stufe 3 und 4 an (s. Abb. 1). Trotz dieser eher vorsichtigen Selbsteinschätzung gaben fast alle Befragten (99 %) an, dass für sie die Beteiligung an Wahlen wichtig sei. Es zeigt sich also ein sehr hohes Bewusstsein für diese zentrale Form der Teilhabe am demokratischen System. Gleichzeitig fällt die große Skepsis der Umfrageteilnehmer*innen
2Für
die 5. Jugend-Medien-Studie im Auftrag der Education Group wurden 2017 500 oberösterreichische Jugendliche zwischen 11 und 18 Jahren zu ihrem Freizeit- und Medienverhalten befragt. Die Ergebnisse sind abrufbar unter: https://www.edugroup.at/ innovation/forschung/jugend-medien-studie/detail/5-ooe-jugend-medien-studie-2017.html. Zugegriffen: 17. Januar 2019.
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243
Abb. 1 Einschätzung des eigenen Vorwissens hinsichtlich der Institutionen des politischen Systems in Österreich
gegenüber der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre auf, wie aus Abb. 2 hervorgeht. Auf der fünfstufigen Skala von „sehr sinnvoll“ bis „überhaupt nicht sinnvoll“ kreuzten 33 % Stufe 3, 28 % Stufe 4 und sogar 17 % Stufe 5, also „überhaupt nicht sinnvoll“ an (s. Abb. 2). In Zusammenhang mit dieser Frage wäre es zweckmäßig, auch die Gründe für die Vorbehalte zu erheben. Setzt man das Ergebnis in Bezug zur Selbsteinschätzung der politischen Kenntnisse, kann eine Wechselwirkung der geringen Vertrautheit mit dem politischen System in Österreich mit der Skepsis gegenüber dem niedrigen Wahlalter angenommen werden. Wie wichtig es ist, den Stellenwert der politischen Bildung im Curriculum der Primarstufe stärker und konkreter zu verankern, macht das letzte Ergebnis aus dem Bereich „Politisches Interesse und Informationsverhalten“ deutlich. Die Frage: „Welcher Stellenwert wird der Politischen Bildung in Ihrem Studium durch Lehrveranstaltungsleiter*innen zugeschrieben?“ konnte wieder auf einer fünfstufen Skala von „sehr hoher Stellenwert“ bis „überhaupt keinen Stellenwert“ beantwortet werden. Abb. 3 ist zu entnehmen, dass 44 % der Befragten die Stufe 3 und 27 % die Stufe 4 ankreuzten. Dem stehen insgesamt nur 24 % gegenüber, die den Stellenwert hoch bis sehr hoch einschätzen (s. Abb. 3).
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Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre 45 40
Anzahl Antworten
35 30 25 20 15 10 5 0 1
2
3
4
5
Antwort (1 sehr sinnvoll/5 überhaupt nicht sinnvoll)
Abb. 2 Meinung hinsichtlich der Herabsetzung des Wahlalters auf 16 Jahre
Abb. 3 Einschätzung des Stellenwerts Politischer Bildung im Studium durch jeweilige LVA-Leiter*innen
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3.3 Politische Bildung in der Volksschule Der zweite zentrale Bereich der Untersuchung betraf konkret die Politische Bildung in der Volksschule. Hierbei ging es um eine Einschätzung des Stellenwertes des politischen Lernens in der Primarstufe, die Vertrautheit mit Methoden und die Bereitschaft, sich einmal selbst für politische Inhalte zu engagieren. In einer ersten Frage sollten die Studierenden angeben, wie wichtig ihrer Meinung nach Politikunterricht in der Schule allgemein sei. Das Ergebnis ist sehr positiv, denn 34 % gaben an, dass Politikunterricht „sehr wichtig“ sei und weitere 46 % wählten die nächste Stufe aus (Stufe 2). Ergänzend dazu beantwortete kaum einer der Umfrageteilnehmer*innen den Punkt, ob Politische Bildung bereits im Volksschulalter beginnen sollte mit „grundsätzlich nein“, sondern 55 % mit „grundsätzlich ja“ und 44 % mit „ja, aber erst in der Grundstufe II“.3 Der aktuelle Stellenwert des politischen Lernens an den Volksschulen wird dagegen als sehr gering eingeschätzt. Gefragt war einerseits eine Einschätzung anhand Beobachtungen in der Schulpraxis, wobei über die Hälfte die Stufe 4 (also einen geringen Stellenwert) ankreuzte. Anderseits sollte eine Einschätzung auf der Grundlage von Schulbüchern vorgenommen werden, die jedoch dasselbe Ergebnis brachte. Dementsprechend ist die Zufriedenheit mit dem derzeitigen Stellenwert der Politischen Bildung an Volksschulen gering, wie Abb. 4 zeigt. Auf der Skala von „sehr zufrieden“ bis „überhaupt nicht zufrieden“ bewegen sich die meisten Antworten in den Stufen 3 (35 %) und 4 (46 %) und sogar 10 % haben hier die Stufe „überhaupt nicht zufrieden“ ausgewählt (s. Abb. 4). Zu berücksichtigen ist sicher, dass die Studierenden zum Zeitpunkt der Untersuchung noch am Beginn ihres Studiums standen und eventuell mit weiterem Studienverlauf und tieferen Einblicken in die Schulpraxis das Ergebnis etwas anders ausfallen würde. Ernüchternd ist dagegen das Ergebnis auf die Frage, ob die Studierenden mit Methoden des politischen Lernens vertraut seien, die von 89 % mit „nein“ beantwortet wurde. Das ist neben der zurückhaltenden Beantwortung der Frage nach der Vertrautheit mit den Institutionen des politischen Systems in Österreich ein Indiz dafür, dass Studierende kaum Kompetenzen in der Politischen Bildung mitbringen. Es lässt sich vermuten, dass Methoden wie die Klassensprecher*innenwahl, der Klassenrat oder Schüler*innenparlamente durch-
3Der
österreichische Lehrplan für den Sachunterricht gibt den Lehrstoff getrennt nach Grundstufe I (1. und 2. Klasse) und Grundstufe II (3. und 4. Klasse) an.
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Abb. 4 Zufriedenheit mit dem derzeitigen Stellenwert Politischer Bildung an Volksschulen
aus bekannt sind, hier aber nicht auf das politische Lernen bezogen werden. Das unterstreicht die Forderung von Dagmar Richter nach einer expliziten Thematisierung (Richter 2015, S. 159), um eine bewusste Wahrnehmung und in weiterer Folge Anwendung politischer Methoden zu bewirken. Im Fragebogen konnten ergänzend zu diesem Aspekt Methoden frei, also ohne vorgegebene Antwortkategorien aufgelistet werden, wobei die bereits genannten am häufigsten vertreten waren. Ganz vereinzelt wurden auch Podiumsdiskussionen, Abstimmungen und die Zukunftswerkstatt ergänzt. Interessant wäre in diesem Zusammenhang, durch eine Befragung in einem höheren Semester zu erheben, ob ein Kompetenzzuwachs im Studium stattgefunden hat. Abschließend sollte angegeben werden, wie sehr die Studierenden bereit seien, sich als zukünftige Lehrer*innen in ihrer Klasse für Politische Bildung zu engagieren. Das Ergebnis geht aus Abb. 5 hervor. Die fünfstufige Skala reichte von „sehr große Bereitschaft“ bis „überhaupt keine Bereitschaft“. Hierzu kann festgestellt werden, dass diese Bereitschaft hoch bis sehr hoch ist. 22 % der befragten Studierenden haben die Stufe 1, 47 % die Stufe 2 und 28 % die Stufe 3 angekreuzt (s. Abb. 5).
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Abb. 5 Eigene Bereitschaft für ein Engagement hinsichtlich politischer Bildung als zukünftige Lehrer*innen
4 Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Lehramtsstudierende der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz dem politischen Lernen in der Primarstufe grundsätzlich eine hohe Bedeutung zumessen und gleichzeitig ihre Bereitschaft signalisieren, sich später als Lehrer*innen in ihren Klassen für Politische Bildung zu engagieren. Demgegenüber steht, dass der derzeitige Stellenwert politischer Fragestellungen vonseiten der Lehramtsstudierenden in Volksschulen eher gering und im eigenen Studium eher als durchschnittlich eingeschätzt wird. Die Notwendigkeit, Politische Bildung stärker und praxisnah in der Ausbildung zu verankern, wird somit offensichtlich. Dabei sind die Studierenden bereits jetzt Multiplikatoren, die Wissen und Erfahrungen aus den Lehrveranstaltungen an die Praxisschulen weitergeben. Methodisch erfüllen die Umfrageergebnisse erst einmal die Funktion einer Vorstudie, auf deren Grundlage die Problemstellung weiter differenziert werden soll. Dazu gehört die Konkretisierung der Frage nach den politischen Kenntnissen und Fähigkeiten der Studierenden oder auch nach den Wünschen und
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Bedürfnissen für eine gute Ausbildung. Befragt wurde zudem lediglich ein einziger Jahrgang einer Institution in Oberösterreich. Um ein differenzierteres und auch repräsentatives Bild zu erhalten, muss die Stichprobe ausgeweitet werden. Des Weiteren ist eine Weiterentwicklung des Fragebogens notwendig, in dem aus der Theorie abgeleitete Items verwendet werden. Eine Möglichkeit hierfür wäre das Einbeziehen des Perspektivrahmens für den Sachunterricht der Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts e. V. (GDSU). Das Ziel soll letzten Endes eine konkrete Implementierung der Erhebung in die Lehrer*innenausbildung sein. Fest steht dabei bereits jetzt, dass eine Sensibilisierung für die Bedeutung frühen politischen Lernens weniger notwendig ist, als eine systematische Vorbereitung in fachdidaktischer und inhaltlicher Hinsicht für den Gegenstand Politische Bildung in der Primarstufe.
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Ein Blick in die Praxis: Vorstellungen von Lehrenden und Lernenden zum Politikunterricht in Österreich Thomas Stornig
Zusammenfassung
Vor dem Hintergrund, dass in Österreich bereits 16-jährigen das Wahlrecht zugestanden wird, erscheint Politische Bildung als besonders dringliche Aufgabe von Schule. Nachdem bislang kaum Erkenntnisse zur didaktisch-methodischen Umsetzung von Politikunterricht vorliegen, ana lysiert die auf qualitativen Interviews beruhende Studie Vorstellungen von Lehrkräften sowie von Schülerinnen und Schülern. Hierbei werden einerseits Professionalisierungsdefizite deutlich. Andererseits zeigt sich, dass Lehrkräfte unterschiedliche Vorstellungen darüber besitzen, wie Politische Bildung konzipiert werden soll. Dementsprechend werden vier Typen von Lehrkräften identifiziert. Schülervorstellungen verweisen darauf, dass Politikunterricht mehrheitlich als wertvoll verstanden wird, wenn er Gelegenheit zur Diskussion und zum Einbringen von Schülerperspektiven ermöglicht, während ein zu stark lehrergesteuerter, auf Wissensvermittlung basierender Unterricht negativ aufgefasst wird.
T. Stornig (*) Pädagogische Hochschule Tirol, Innsbruck, Österreich E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_17
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1 Einleitung Nachdem Demokratie mehr als alle anderen Herrschaftsformen auf der Mitwirkung von Bürger*innen am politischen Prozess beruht, verlangt sie von den Regierten politische Einsichten und politisches Engagement (vgl. Nie et al. 1996, S. 11). Aus normativer Perspektive sollen Bürger*innen entsprechende Ressourcen und Fähigkeiten durch die Politische Bildung entwickeln, die folglich als Notwendigkeit für die Demokratie angenommen werden muss (vgl. Sander 2008, S. 43 f.; Schiele 2004). Die Aufgabe der Politischen Bildung wird in demokratischen Staaten vor allem der Schule zugewiesen, weil die Schule jene gesellschaftliche Institution darstellt, die von allen Heranwachsenden verpflichtend besucht werden muss (vgl. Ichilov 2003, S. 658). Da Wahlen im Zentrum des politischen Prozesses stehen (vgl. Dalton und Klingemann 2007, S. 10), beziehen sich wesentliche Aspekte demokratischer Bürger*innenschaft auf die Bereitschaft zur Teilnahme an Wahlen und die Fähigkeit zur Abgabe kompetenter Urteile. Vor dem Hintergrund, dass seit dem Jahr 2007 in Österreich alle Staatsbürger*innen bereits ab vollendetem 16. Lebensjahr wählen dürfen, erscheint die Politische Bildung der Heranwachsenden als besonders dringliche Aufgabe von Schule. Nachdem Politische Bildung an Österreichs Schulen über lange Zeit nur ein Randdasein gefristet hat und in vielen Schularten nur als fächerübergreifendes Prinzip verankert war, wurden im Rahmen der Wahlaltersenkung Maßnahmen zur Förderung der Politischen Bildung eingeleitet, die unter anderem die Einführung eines Kombinationsfachs in allgemeinbildenden Schulen miteinschlossen (vgl. Dachs 2008, S. 25–33; Krammer 2010, S. 46). Die Wahlaltersenkung führte damit zu einer gewissen Aufwertung der Politischen Bildung im österreichischen Schulsystem (vgl. Hellmuth 2012, S. 11). Diese Entwicklung bildete knapp zehn Jahre nach der Wahlaltersenkung den Anstoß für ein Dissertationsprojekt, welches die Praxis Politischer Bildung in Österreichs Schulen näher zu beleuchten beabsichtigt. Im Mittelpunkt des Forschungsvorhabens steht die Beschäftigung mit Vorstellungen von Lehrkräften und Vorstellungen von Schüler*innen. Die zentrale Frage lautet hierbei, wie die unmittelbar am Geschehen Beteiligten den Politikunterricht und weitere politische Lerngelegenheiten an ihren Schulstandorten wahrnehmen und beurteilen. Im Folgenden werden Erkenntnisse zu Vorstellungen zur didaktisch-methodischen Gestaltung von Politikunterricht präsentiert. Die m ethodisch-didaktische Gestaltung gilt als ein wesentliches Merkmal für effektiven Unterricht, ist bis dato jedoch in Hinblick auf die (österreichische) Politische Bildung vergleichsweise unterbelichtet (vgl. Ackermann et al. 2010, S. 117 f.).
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2 Theoretische Annahmen „Beliefs“ von Lehrkräften, welche im vorliegenden Text mit dem deutschsprachigen Begriff „Vorstellungen“ übersetzt werden, stehen seit langer Zeit im Blickfeld der psychologisch-pädagogischen Forschung (Fives und Buehl 2012, S. 471). Neben anderen Bedingungs- und Wirkfaktoren (vgl. Helmke 2017, S. 71) wird Lehrer*innenvorstellungen ein signifikanter Einfluss im Unterricht zugeschrieben. Lehrkräfte sind für die Planung, Durchführung und Reflexion von Unterricht verantwortlich (vgl. Becker 2012, S. 8). Vorstellungen gelten hierbei als handlungsleitend, indem sie eine wesentliche Rolle bei der Entscheidungsfindung spielen (vgl. Biedermann et al. 2012, S. 39; Oser und Blömeke 2012, S. 416). Konkret wird angenommen, dass Lehrkräfte über „belief systems“ verfügen, die bei der Ausübung ihrer professionellen Tätigkeit bestimmte Funktionen erfüllen: Sie dienen als Filter bei der Aufnahme von Inhalten, als Rahmen für die – z. B. methodische – Konzeption eines pädagogischen Programms und sie steuern schließlich das Handeln in konkreten schulischen Situationen (vgl. Fives und Buehl 2012, S. 478). Unter Lehrer*innenvorstellungen werden an dieser Stelle evaluierbare subjektive, relativ stabile, obschon durch Interventionen und Erfahrungen veränderbare, teilweise unbewusste, kontextabhängige Kognitionen von Lehrkräften verstanden. Sie beziehen sich inhaltlich auf pädagogische, fachliche, schulorganisatorische und gesellschaftsbezogene Aspekte der Profession von Lehrpersonen (vgl. Fives und Buehl 2012; Kunter und Pohlmann 2015, S. 267; Richardson 1996, S. 103; Voss et al. 2013, S. 249 f.). Nachdem Ansätze zur Qualitätssteigerung von Lehren und Lernen die Lehrkraft ins Zentrum rücken (vgl. Calderhead 1996, S. 721; König 2010, S. 42 ff.), erscheint die Beschäftigung mit Lehrer*innenvorstellungen als relevant für die Weiterentwicklung von Unterricht. Da Lehrer*innenvorstellungen als veränderbar gelten, eröffnet die Analyse von Vorstellungen Chancen für die Lehrer*innenaus- und weiterbildung (vgl. Blömeke et al. 2015). Darüber hinaus hat die Forschung schon früh darauf verwiesen, dass auch die Vorstellungen der Lernenden wichtig für Lernprozesse sind (vgl. Wittrock 1986, S. 311). Als Schüler*innenvorstellungen werden analog zu Lehrer*innenvorstellungen Kognitionen von Schüler*innen verstanden, die sich auf pädagogische, fachliche, schulorganisatorische und gesellschaftsbezogene Aspekte von Lernen und auf fachbezogenes Problemlösen beziehen (vgl. Op’t Eynde et al. 2002, S. 27). Obwohl es diesbezüglich an politikdidaktischen Untersuchungen mangelt, verweisen Erkenntnisse aus anderen Domänen darauf, dass Vorstellungen Einfluss darauf haben, wie sehr sich Schüler*innen in einem Fach engagieren (vgl.
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De Corte et al. 2002, S. 298; Kloosterman et al. 1996, S. 53). Lernende, die die Beschäftigung mit einem bestimmten Gegenstand als sinnvoll erachten, verfügen über eine höhere Lernmotivation. Darüber hinaus beeinflussen Vorstellungen zur eigenen Leistungsfähigkeit in einem Fach, zu den handelnden Lehrpersonen und zum Klassenkontext den schulischen Lernerfolg (vgl. Op’t Eynde et al. 2002, S. 33; Schoenfeld 1983, S. 330). Eine Annahme der vorliegenden Studie lautet, dass ein Einblick in die Vorstellungswelt von Schüler*innen Chancen für die didaktisch-methodische Weiterentwicklung des Politikunterrichts bietet, wenn es etwa gelingt, motivationsfördernde Aspekte für politisches Lernen zu identifizieren. Ferner wird davon ausgegangen, dass die Gegenüberstellung von Lehrer*innen- und Schüler*innenperspektiven Rückschlüsse auf reales Lehrer*innen- und Schüler*innenhandeln im Unterricht ermöglicht.
3 Forschungsstand Erkenntnisse zur didaktisch-methodischen Gestaltung von Politikunterricht konnten bislang überwiegend durch qualitative oder quantitative Befragungen sowie aus Unterrichtsbeobachtungen gewonnen werden. Eine der wenigen Studien aus dem deutschsprachigen Raum, die zwar nicht mit dem Konstrukt Vorstellungen arbeitet, aber sowohl auf Lehrer*innen- als auch auf Schüler*innenperspektiven zurückgreift, stammt von Henkenborg et al. (2008). Auf der Basis qualitativer Interview- und Beobachtungsdaten konnten aus Sicht der Politischen Bildung problematische Auffassungen von Lehrpersonen zum Politikunterricht und Probleme bei dessen Umsetzung offengelegt werden. Die befragten Lehrkräfte weisen etwa der Möglichkeit, dass Lernende selbst im Unterricht Stellung nehmen, kaum Bedeutung zu. In der Praxis wird de facto die Berücksichtigung des Kontroversitätsprinzips ignoriert, da Meinungen von vornherein vorgegeben oder gar nicht zugelassen werden (ebd., S. 118 f.). Problematisch erscheint zudem, dass der Unterricht überwiegend als Lehrer*innenhandeln verstanden wird, während Schüler*innen in die Rolle der passiven Rezipient*innen gedrängt werden. Schließt man einem weiten Verständnis Politischer Bildung folgend den internationalen Forschungsstand zur Civic Education mit ein, liegt eine beachtliche Anzahl an internationalen Studien vor, welche trotz aller fachstrukturellen und -inhaltlichen Unterschiede Parallelen zur deutschsprachigen Tradition Politischer Bildung aufweisen. Analog zu Henkenborg et al. (2008) wurde wiederholt festgestellt, dass die Auseinandersetzung mit politischen Themen im Unterricht zu stark auf die lehrer*innengesteuerte Vermittlung eines „Schulbuchwissens“ reduziert bleibt und Lernende wenig zum
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Hinterfragen von Inhalten und zu eigenständigem Handeln aufgefordert werden (Hahn 1999; Kickbusch 1987; Niemi und Junn 1998; Shaver et al. 1978). Die bisher umfangreichsten Daten zur Praxis Politischer Bildung liefern die internationalen Vergleichsstudien der International Association for the Evaluation of Educational Achievement (IEA). Die im Jahr 2016 durchgeführte vierte und bislang letzte dieser quantitativen Studien hat Lehrkräfte, Schulleitungen sowie Schüler*innen in 25 Staaten befragt (Schulz et al. 2018, S. 9) und auch Erkenntnisse zur Kontroversität von Unterricht gewonnen. Schüler*innen unterscheiden sich nach den beteiligten Staaten signifikant darin, wie sehr sie Unterricht als diskursiv strukturiert wahrnehmen. Angesichts der großen Bedeutung des Beutelsbacher Konsens in Debatten zur Politischen Bildung in Deutschland erscheint es überraschend, dass sich Schüler*innen aus Nordrhein-Westfalen, dem einzigen an der Studie beteiligten deutschen Bundesland, im europäischen Vergleich nur in geringer Weise zu persönlichen Stellungnahmen im Unterricht ermutigt fühlen (Deimel und H ahn-Laudenberg 2017, S. 265 f.). Analog zu Studien in anderen Fächern haben Befunde zu Lehrer*innenvorstellungen in der Politischen Bildung wiederholt gezeigt, dass Lehrkräfte entweder stärker transmissive oder konstruktivistische Vorstellungen teilen. Angenommen wird, dass entsprechend unterschiedliche Konzeptionen von Lehren und Lernen auch Konsequenzen für die reale Gestaltung von Unterricht haben (vgl. Klee 2008; Reichhart 2018; Weißeno et al. 2013a). Eine Reihe von Studien hat bei der Analyse der unterrichtskonzeptionellen Vorstellungen von Politiklehrkräften Typenbildungen vorgenommen und hierfür unterschiedliche Merkmalskategorien herangezogen. Barr et al. (1977) identifizierten zunächst in einer einflussreichen US-amerikanischen Literaturstudie drei voneinander abweichende Konzeptionen hinsichtlich der Ziele, Inhalte und Methoden im Fach Social Studies (vgl. Anderson et al. 1997, S. 335; Ross et al. 2014, S. 26). „Citizenship transmission“ betrachtet die Heranbildung von verantwortungsvollen, gesetzestreuen Bürger*innen sowie die Bereitschaft zu konventioneller Partizipation als Leitbild. Schule habe ein Grundwissen über das politische System sowie traditionelle Wertvorstellungen zu vermitteln. „Social studies as social science“ will Schüler*innen sozialwissenschaftliche Denkweisen und Methoden näherbringen, damit diese befähigt werden, wie Wissenschaftler*innen zu denken und zu handeln. „Reflective inquiry“ forciert stärker die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und politischen Problemen sowie die mannigfaltige Beteiligung der Bürger*innen an demokratischen Entscheidungsprozessen. Nachfolgende empirische Studien bezogen sich immer wieder auf die von Barr et al. (1977) vorgenommene Typologie und konnten dabei nachweisen,
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dass die drei genannten Konzeptionen nicht in Reinform, sondern – wenn überhaupt – in einer Mischung auftreten (Bennet 1980; White 1982). Anderson und Kollegen (1997) finden in einer auf der Kombination qualitativer und quantitativer Methoden beruhenden Studie vier Typen von US-amerikanischen Lehrkräften: „Critical Thinkers“, „Legalists“, „Cultural Pluralists“ und „Assimilationists“, welche mit unterschiedlichen bürgerschaftlichen Zielvorstellungen einhergehen. Trotz signifikanter Unterschiede weisen die vier Typen auch Gemeinsamkeiten auf: Das grundsätzliche Bekenntnis zu Toleranz, zur Behandlung kontroverser Themen, zur Vermittlung sozialer Werte und zur Förderung bürgerschaftlichen Engagements bilden „shared beliefs“ (ebd., S. 347 f.). Dominik Allenspach (2013, S. 222) hat sich in einer qualitativen Studie mit Professionsverständnissen von 16 Deutschschweizer Lehrkräften auseinandergesetzt und hierbei drei verschiedene Typen voneinander abgegrenzt. Demnach hängen Lehrkräfte einem kommunitaristischen, einem demokratischen oder einem funktionalistischen Verständnis Politischer Bildung an. Ein kommunitaristisches Verständnis Politischer Bildung will kritisches Denken und soziales Handeln fördern. Ein demokratisches Verständnis zielt auf die Entwicklung demokratischer Werte wie Toleranz, Respekt und Rücksichtnahme auf Andere sowie auf mehr Partizipation ab. Ein funktionalistisches Verständnis fokussiert das Befolgen von staatsbürgerlichen Tugenden wie Fleiß, Anstand und Pünktlichkeit und erachtet konformes Verhalten als besonders wichtig (ebd., S. 223–225). Während die genannten Studien weltanschauliche Ansichten in ihre Typenbildung miteinbeziehen, unterteilen Elke Larcher und Martina Zandonella (2014) die von ihnen befragten Lehrkräfte entlang des Grades ihrer Sachkenntnis und Engagiertheit in der Politischen Bildung. In einer quantitativen Befragung Wiener Politiklehrkräfte identifizieren sie in Volksschulen 52 % des partizipativen Typs und 48 % des reservierten Typs. In der Sekundarstufe I wird zwischen 41 % partizipativen, 37 % beobachtenden und 22 % reservierten Lehrkräften differenziert. Partizipative sind interessierter, wissender und aktiver, zeigen sich darüber hinaus im Umgang mit handlungsorientierten Methoden versierter. Beobachtende weisen eine geringere Selbstwirksamkeitswahrnehmung auf und befürworten stärker die Methode der Wissensvermittlung. Reservierte tendieren dazu, Politische Bildung im Unterricht auszusparen, weil sie Probleme und Kritik von außen fürchten oder Schüler*innen überhaupt als zu jung für die Auseinandersetzung mit Politik ansehen (ebd., S. 56–60, 79–81).
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4 Methodisches Vorgehen Die empirische Grundlage der vorliegenden qualitativen Studie bilden 39 Gruppeninterviews mit 214 Schüler*innen sowie Einzelinterviews mit 19 Lehrkräften aus allgemeinbildenden höheren Schulen und Polytechnischen Schulen in Tirol, die zwischen Mai 2015 und März 2017 durchgeführt wurden. Nachdem es bisher an qualitativen Untersuchungen zum Politikunterricht in Österreich mangelt (Grammes 2014, S. 70), wurde angenommen, dass durch qualitative Interviews eine gegenstandsnahe Auseinandersetzung erfolgen kann und prinzipiell Potenzial für neue Erkenntnisse gegeben ist. Die Auswahl der zu befragenden Schüler*innen folgte der von Patton (2002, S. 243) beschriebenen Strategie einer möglichst heterogenen Zusammensetzung („Maximum variation“). Die planmäßige Stichprobenauswahl erfuhr in der Realität jedoch die Einschränkung, dass die zu Befragenden schließlich nicht vom Forscher selbst, sondern von ihren Lehrkräften rekrutiert wurden. Auch die Gruppengrößen wurden in der Befragungssituation adaptiert – während an sich fünf Schüler*innen pro Gruppeninterview eingeplant waren, bestanden die tatsächlichen Gruppen aus zwischen vier und acht Schüler*innen. Der konkrete Fokus der Studie lag auf der 9. Jahrgangsstufe, weil diese die letzte Jahrgangsstufe vor Ende der Schulpflicht darstellt und diese für manche der unmittelbar vor dem Erreichen des Wahlalters stehenden Schüler*innen das Ende der Schulkarriere – damit der möglichen Intervention durch schulische Bildungsmaßnahmen – bedeutet. Die befragten Lehrkräfte sind überwiegend jene Personen, die die beteiligten Schüler*innen unterrichten. Die untersuchten Fälle stammten aus Polytechnischen Schulen und aus allgemeinbildenden höheren Schulen (Gymnasien), damit aus zwei sehr verschiedenen Schultypen, die sich auch durch unterschiedliche schulische Kulturen – u. a. bedingt durch eigene schulische Gesamtziele, unterschiedliche Fachgegenstände und Lehrpläne, eine an verschiedenen Institutionen verortete Lehramtsausbildung und ein anderes Schüler*innenklientel – auszeichnen (vgl. Mayr und Müller 2010, S. 15). Die Auseinandersetzung mit Fällen aus unterschiedlichen schulischen Kontexten ermöglicht es, Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen den Vorstellungen der Beteiligten herauszuarbeiten und bestimmte Muster zu identifizieren. Ein untergeordnetes Ziel bildet der Ansatz, bisher weniger repräsentierten Gruppen, wie den Beteiligten aus dem bis dato stark von der Forschung ausgeblendeten Schultyps der Polytechnischen Schule, eine Stimme zu verleihen. Die Analyse der Daten erfolgte mittels qualitativer Inhaltsanalyse, weil diese Methode eine inhaltlich-reduktive Auswertung und systematische Ordnung des Datenmaterials ermöglicht (Kuckartz 2016).
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5 Didaktisch-methodische Gestaltung des Unterrichts Aus den qualitativen Interviews mit den in zwei verschiedenen Schultypen in unterschiedlicher Fachkombination unterrichtenden Lehrkräften geht hervor, dass alle Befragten grundsätzlich Politische Bildung für einen sehr bedeutsamen Unterrichtsgegenstand halten. Dabei sprechen die Lehrkräfte verschiedene Ziele ihres Unterrichts an, die von der Vermittlung eines Basiswissens über politische Institutionen, der Entwicklung von Urteilsfähigkeit, dem Wecken von Interesse, der Förderung von Wahlbeteiligung und weiteren Formen politischer Partizipation, der Stärkung demokratischer Einstellungen sowie der Ausbildung eines kompetenten Umgangs mit Medien reichen. Aus der Auseinandersetzung und Gegenüberstellung von Lehrer*innen- und Schüler*innenperspektiven geht hervor, dass die Lehrkräfte zur Erreichung dieser Ziele von Fall zu Fall zum Teil auf sehr unterschiedliche didaktisch-methodische Praktiken zurückgreifen.
5.1 Unterschiedliche Bedeutung fachdidaktischer Prinzipien Aus den Aussagen der Befragten wurden verschiedenen Kategorien gebildet, welche sich auf einzelne allgemein von der Politikdidaktik anerkannte Prinzipien beziehen (vgl. Detjen 2013; Reinhardt 2005; Sander 2008). Auf diese Weise wurde deutlich, dass die befragten Lehrkräfte den betreffenden fachdidaktischen Prinzipien unterschiedliche Bedeutung zumessen, was Auswirkungen auf die Unterrichtsgestaltung haben dürfte. Dem Prinzip der Schüler*innenorientierung wurden Aussagen über die Gewichtung von Lebenswelt, Schüler*inneninteressen und Mitentscheidungsmöglichkeiten von Lernenden im Unterricht zugewiesen (vgl. Schmiederer 1977, S. 131). Hierbei zeigte sich, dass Lehrkräfte offenbar sehr unterschiedlich dazu bereit sind, Inhalte auf die Bedürfnisse und den Erfahrungshorizont ihrer Schüler*innen abzustimmen. Nach dem Aktualitätsprinzip soll Schüler*innen im Unterricht die Möglichkeit geboten werden, sich mit aktuellen politischen Fragen auseinanderzusetzen (Manzel et al. 2017, S. 345). Die befragten Schüler*innen finden diese Gelegenheit ihrer Ansicht nach allerdings nur teilweise vor. Als besonders wichtig für politisches Lernen wurde von empirischen Studien der Faktor des offenen Unterrichtsklimas beurteilt (Geboers et al. 2013). Nachdem dieses Konstrukt deutliche Überschneidungen mit dem Kontroversitätsprinzip aufweist, wurden entsprechende Aussagen einer
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gemeinsamen Kategorie zugewiesen. Der Befund, inwieweit Kontroversität in der Praxis tatsächlich ein Strukturmerkmal des Politikunterrichts darstellt, fällt zwiespältig aus: Durch Einschluss der Schüler*innenaussagen lässt sich darauf schließen, dass der Unterricht in einzelnen Fällen offenbar überwiegend aus der Vermittlung von Faktenwissen besteht. Schüler*innen bekommen in diesen Fällen selten Gelegenheit, persönliche Sichtweisen einzubringen. Die Frage, wie Lehrkräfte mit persönlichen Meinungsäußerungen im Unterricht umgehen, förderte unterschiedliche Ansichten zutage: Während einzelne Lehrkräfte diesbezüglich auf eine strikte Zurückhaltung verweisen, verfolgen andere einen pragmatischeren Zugang, indem sie persönliche Meinungsäußerungen etwa mit dem Verweis kennzeichnen, dass es sich um eine persönliche Stellungnahme handele und andere Meinungen hingegen ebenfalls zugelassen werden müssten. Dies spiegelte sich auch in der Befragung der Schüler*innen, welche nur sehr vereinzelt angaben, dass sie sich jemals einer politischen Vereinnahmung durch Lehrpersonen ausgesetzt sahen. Von Fall zu Fall stark unterschiedlich ausgeprägt ist die Bereitschaft, einen handlungsorientierten Unterricht anzubieten. Einzelne Lehrkräfte verweisen darauf, dass Handlungsorientierung aufgrund von fehlender Zeit, von mangelhaftem Können oder negativem Sozialverhalten der Schüler*innen kaum möglich sei. Dass Unterricht sich an der Entwicklung von Kompetenzen zu orientieren habe, scheint in der Politikdidaktik wenig umstritten (Sander 2008, S. 71–74). Die Auseinandersetzung mit den untersuchten Fällen deckt allerdings auf, dass nur ein Teil der Lehrpersonen Kompetenzorientierung als relevant für ihre Praxis erachtet. Hier zeigt sich eine deutliche Schieflage nach Schultypen. In allgemeinbildenden höheren Schulen geben Lehrkräfte überwiegend an, dass Unterricht notwendigerweise kompetenzorientiert sein müsse, um Schüler*innen auf die kompetenzorientierte Reifeprüfung vorbereiten zu können. Allerdings finden sich auch in diesem Schultyp Lehrkräfte, die der Kompetenzorientierung wenig Bedeutung zumessen. Für die befragten Lehrkräfte aus Polytechnischen Schulen spielt das Prinzip der Kompetenzorientierung kaum eine Rolle. Einzelne befinden etwa, dass kompetenzorientierte Politische Bildung unrealistisch sei oder dass Kompetenzorientierung noch keine Anforderung in ihrem Schultyp darstelle.
5.2 Einsatz von Unterrichtsmethoden und Sozialformen In einem Überblick über die Aussagen zum Lehren und Lernen zeigt sich, dass die befragten Lehrkräfte unterschiedliche Methoden als sinnvoll und praktikabel
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erachten sowie dass Schüler*innen von Fall zu Fall einen nach Methodeneinsatz divergierenden Unterricht erleben. Wie von anderen Studien bereits festgestellt wurde, kann diesbezüglich in stärker transmissive oder in stärker konstruktivistische Vorstellungen unterteilt werden. Obzwar Lehrkräfte jeweils beiderlei Dimensionen zum Ausdruck bringen, tendieren sie stets stärker in die eine oder andere Richtung, indem Lernen eher als lehrer*innengeleitete Vermittlung oder als eigenständiges Konstruieren, Erarbeiten und Anwenden durch die Schüler*innen begriffen wird (vgl. Weißeno et al. 2013b, S. 75). Hinsichtlich der konkreten Anwendung von Unterrichtmethoden und Sozialformen kann festgestellt werden, dass allgemein folgende Aktivitäten im Unterricht dominieren: Lehrer*innenvortrag und Abschreiben bzw. Mitschreiben (aus der Perspektive der Schüler*innen), Lehrer*innen-Schüler*innen-Gespräche und Diskussionen, wobei eine Unterscheidung dieser Gesprächsformen auf Basis der vorliegenden Daten oftmals nicht trennscharf möglich ist. Darüber hinaus sind Arbeits- oder Rechercheaufträge, häufig in Form von Partner- oder Gruppenarbeit, sowie Referate und Präsentationen Teil des Unterrichts. Seltener wird von der Gestaltung von Produkten wie etwa von Plakaten berichtet. Nur in zehn von neunzehn Fällen sind Realbegegnungen Teil der Politischen Bildung (Gäste im Unterricht, Diskussionen mit Politiker*innen und Exkursionen) vor. Analog dazu sprechen sich nur zehn der Lehrkräfte für Projektarbeit im Fachgegenstand aus. Eine Hürde sehen viele im damit verbundenen Organisations- und Arbeitsaufwand. Insgesamt zeigt sich eine stark unterschiedliche Bereitschaft für die Einbindung zeitintensiver Methoden. Kaum Bedeutung kommt einigen wiederholt von der politikdidaktischen Literatur beschriebenen komplexeren Unterrichtsmethoden zu (vgl. BPB 2007; Detjen 2013; Reinhardt 2005): Schüler*innen haben nur in einzelnen Fällen bereits Begegnung mit Methoden wie der Sozialstudie, dem Planspiel oder der Pro-Kontra-Debatte gemacht. Es zeigt sich darüber hinaus, dass eine ganze Reihe von Aktivitäten, welche als spezielle Mikromethoden für die Vorbereitung auf das Wählen kategorisiert wurden, wie der Auseinandersetzung mit Wahlwerbung oder der Analyse von Positionen der politischen Parteien, sehr unterschiedlich von Lehrkräften im Unterricht genützt wurden.
5.3 Vier unterschiedliche Unterrichtskonzeptionen Hinsichtlich der Konzeption von Unterricht können aus den erhobenen Daten vier Typen von Lehrkräften erarbeitet werden: der traditional-vermittelnde Typ, der demokratisch-diskursive Typ, der wissenschaftlich-kompetenzorientierte
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Typ und der erlebnisorientiert-erfahrungszentrierte Typ. Die an dieser Stelle vorgestellte Typologie zur Unterrichtskonzeption bezieht sich auf Lehrer*innenvorstellungen zur Kategorie der fachdidaktischen Prinzipien. Als Basis für die Typologie wurden sechs untergeordnete Subkategorien herangezogen. Die Auswahl dieser Subkategorien basierte aufgrund des theoretischen Vorverständnisses. Fallbezogene Aussagen zu einer Subkategorie wurden jeweils zusammenfassend bewertet und hierbei pro Subkategorie als positiv, neutral oder negativ kategorisiert. Die Zuordnung zum jeweiligen Typ ergibt sich aus einer jeweils unterschiedlichen Kombination der Merkmale. Die Entwicklung der Typologie beruht auf der von Kelle und Kluge (2010) vorgelegten „Stufenfolge empirisch begründeter Typenbildung“. Eine ausführliche Beschreibung der Typologie sowie der methodischen Vorgangsweise ist Teil des Dissertationsprojekts. Der traditional-vermittelnde Typ ist dadurch charakterisiert, dass er/sie Unterricht in erster Linie als Vermittlungssituation begreift. Unterricht wird als Übertragung von Wissen und Kenntnissen von der Lehrkraft zu den Schüler*innen verstanden. Lernen stellt damit einen überwiegend transmissiven Prozess dar. Dazu werden entsprechende Lerninhalte von der Lehrperson ausgewählt und strukturiert. Ein offenes Unterrichtsklima, welches Schüler*innen zur Stellungnahme ermutigt, und die Herstellung von Kontroversität, welche zum Hinterfragen von Inhalten einlädt, werden nicht als relevant erachtet. Als Beispiel wird folgendes Zitat des Lehrers L7 angeführt, der seine Art der Unterrichtsgestaltung unter anderem damit rechtfertigt, dass er den im Lehrplan verankerten Jahresstoff durchbringen muss. Ansonsten könne es passieren, dass das „Buch“ – gemeint ist an dieser Stelle höchstwahrscheinlich das Heft – leer bleibe: Das heißt, ich bin nach wie vor in Politischer Bildung, schon so, dass ich einen Stoff erarbeite und dann einen Merktext eintrage. (.) Aber einfach weil in einer Stunde, wie soll man das tun. Dann hab ich in einem Monat nichts im Buch drinnen stehen oder wenig und dann käme ich noch weniger weiter. (L7, PTS4, 112)
Der demokratisch-diskursive Typ ist hingegen dadurch charakterisiert, dass er/sie Unterricht vorwiegend als Dialog begreift. Für ihn/sie stellt das Motto „Unterricht auf Augenhöhe“ ein wichtiges Leitbild dar. Besonders wichtig erscheint dem demokratisch-diskursiven Typen ein offenes Unterrichtsklima, welches einen Austausch von Menschen mit unterschiedlichen Interessen, Wertvorstellungen und Bedürfnissen ermöglicht. Die Lehrkraft achtet stark auf das Prinzip der Schüler*innenorientierung: Lebenswelt, Interessen und Bedürfnisse der Lernenden stellen wichtige Kriterien für die Auswahl von Unterrichtsinhalten dar. Aus den Begegnungen mit neuen Sichtweisen sollen diesem Verständnis
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nach Lernerfahrungen gedeihen, indem neues Wissen akquiriert wird, aber auch demokratische Haltungen gefestigt werden, da grundlegende demokratische Werte im Unterricht als gelebte Prinzipien dauerhaft präsent sind. Die Lehrerin L6 schildert, dass sie im Unterricht reichlich Raum für Gespräche zu aktuellen Themen lässt, welche von Schüler*innen eingebracht werden, auch wenn sie dafür vom eigentlichen Lehrstoff abweichen muss: Das versuche ich, indem ich ganz viel Platz für aktuelle Sachen lasse. Dass wir eigentlich jede Stunde am Anfang aktuelle Sachen machen. Also nicht irgendwas was irgendwann passiert ist, und das geht mich eh nichts mehr an und so, sondern, dass ich einfach wirklich… (.) Da dürfen sie also so quasi sagen was ihnen jetzt in der letzten Zeit aufgefallen ist seit der letzten Stunde oder seit letzter Woche. Und dann reden wir halt darüber. Und das ist mein Ansatz, also nicht so in die Vergangenheit gehen (.), schon auch nicht, aber jetzt nicht so total an den Stoff klammern, sondern einfach… (.) Das Wichtigste ist wirklich, glaub ich, Interesse wecken. Und das geht nur in dem man sagt, das ist jetzt passiert und (.) haben wir irgendetwas da mitzureden, können wir irgendetwas machen. (L6, PTS3, 36)
Der wissenschaftlich-kompetenzorientierte Typ ist dadurch gekennzeichnet, dass er/sie Unterricht als Untersuchung versteht. Lernprozesse basieren demnach auf der eigenständigen Auseinandersetzung mit Fragestellungen. Da er/sie Unterricht als Wissenschaftspropädeutik begreift, stellt kritisch-analytisches Denken eine besonders wichtige Fähigkeit dar, die es in der Schule auszubilden gilt. Ein offenes Unterrichtsklima und die Herstellung von Kontroversität hält auch der wissenschaftlich-kompetenzorientierte Typ für zentral. Ihm/ihr geht es jedoch nicht um einen lebensweltlich geprägten Austausch, sondern um einen Fachdiskurs. Wie die Lehrerin L11 schildert, habe die Politische Bildung nicht den Schüler*innen Inhalte vorzugeben, sondern deren eigenständige Analyse und Argumentation zu fördern: Ja, das ist so schwierig. Es gibt Leute, die sagen, ich mache eh Politische Bildung, weil ich habe ihnen gesagt, dass es einen Unterschied zwischen Monarchie und Diktatur und Demokratie gibt. Das ist zu wenig. Das ist nicht Politische Bildung. […] was steckt dahinter, muss ich selber analysieren lassen. Ich darf ihnen nicht irgendetwas vorgeben und sagen, das ist richtig und das ist falsch. (L11, AHS4, 42)
Der erlebnisorientiert-erfahrungszentrierte Typ ist dadurch charakterisiert, dass er/ sie Unterricht vorwiegend als Erlebnis begreift. Demnach kann Interesse für den Gegenstand erzeugt werden, wenn es gelingt, positive Erfahrungen herzustellen. Unterricht soll immer auch die affektiv-emotionale Komponente mitdenken.
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Demnach soll Unterricht Schüler*innen Spaß und Freude bereiten. Spannende Erlebnisse und Begegnungen ermöglichen erfahrungszentrierte Lerngelegenheiten. Praktisches Handeln wird als besonders wichtig empfunden, nachdem durch das eigene Tun auch erst praxisnahe Erfahrungen gesammelt werden können. Dem Lehrer L16 zufolge kann durch Begegnungen dieser Art auch die Überzeugung für politisches Engagement geweckt werden: Und, wenn man genauso Politik zum Anfassen eben macht, wenn ich die POBI einlade, wenn ich den Bürgermeister einlade, oder zur Gemeinderatssitzung hingehe oder Abstimmung, dann, glaube ich, sind sie viel interessierter und dann sagt irgendwann schon einmal einer: ‚Boah, Politik, da könnte ich selber auch irgendetwas erreichen.‘ (.) Und das ist das Wichtigste. (L16, PTS6, 85)
Die in diesem Abschnitt vorgestellte Typologie bietet Chancen für Erkenntnisse zum Lehrverhalten im Politikunterricht, hat aber auch Grenzen. Chancen bestehen darin, dass sich Unterrichtskonzeptionen besser differenzieren, erklären und auf mögliche Wirkungen hin analysieren lassen. Grenzen bestehen einerseits darin, dass die hier vorgestellten Idealtypen die Unterschiede von Unterrichtskonzeptionen gegenüber deren Gemeinsamkeiten etwas stärker betonen. In der Realität mögen sich die befragten Lehrkräfte, wie auch in anderen Studien dargelegt, weniger deutlich unterscheiden, treten die Typen doch nicht in Reinform, sondern in Mischform auf (vgl. Allenspach 2013, S. 222). Beispielsweise setzen nicht nur die drei dem traditional-vermittelnden Typ zugeordneten Lehrkräfte, sondern alle Befragten in ihrem Unterricht von Zeit zu Zeit auf vermittelnde Phasen. Grenzen der Typologie betreffen anderseits den Umstand, dass auf Basis der vorliegenden Daten keine Erkenntnisse über die tatsächliche Verteilung der verschiedenen Typen auf die Gesamtheit der österreichischen Lehrkräfte möglich sind. Erkenntnisse über die reale Bedeutung der einzelnen Typen könnten durch die Befragung einer repräsentativen Stichprobe gewonnen werden. In der vorliegenden Studie verkörpern acht Lehrkräfte den demokratisch-diskursiven Typ, sechs Lehrkräfte den wissenschaftlich-kompetenzorientierten Typ und zwei Lehrkräfte den erlebnisorientiert-erfahrungszentrierten Typ.
5.4 Bewertungen zur didaktisch-methodischen Gestaltung aus Schüler*innensicht Allgemein ist bei Bewertungen von Unterricht aus Schüler*innensicht zu erwarten, dass Aussagen jeweils „einen individuell spezifischen und einen
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gemeinsam geteilten Anteil aufweisen.“ (Ditton 2002, S. 264). Dass sich die exemplarisch vorliegenden Bewertungen zur didaktisch-methodischen Gestaltung von Unterricht durch Schüler*innen unterscheiden, entspricht der Logik, dass diese wie andere Kategorien von Vorstellungen auch immer als subjektive Auffassungen von Wirklichkeit zu verstehen sind (vgl. Op’t Eynde et al. 2002, S. 24). Schüler*innen bewerten Unterricht in seiner Gesamtheit oder einzelne Unterrichtsaktivitäten von Fall zu Fall, aber auch innerhalb der untersuchten Fälle unterschiedlich. In manchen Fällen zeigen sich bestimmte Tendenzen, über die im Folgenden ausschnitthaft berichtet wird. Trotz gewisser Auffälligkeiten oder gehäufter Rückmeldungen erscheint es nicht möglich, positive oder negative Wirkungen auf der Schüler*innenseite auf bestimmte Unterrichtskonzeptionen (oder Aktivitäten) zurückzuführen. Die vorliegenden Stellungnahmen erlauben darüber hinaus keine verallgemeinerbaren Aussagen. Wortmeldungen von Schüler*innen zur didaktisch-methodischen Unterrichtsgestaltung können jedoch für eine Hypothesenbildung herangezogen werden. Einzelne Schüler*innen kritisieren zum Beispiel am Unterricht von Lehrkräften des traditional-vermittelnden Typs, dass dieser überwiegend aus Lehrer*innenvortrag und aus Abschreiben bestehe. Wiederholt wird der Wunsch nach mehr Gesprächen und Diskussionen im Unterricht geäußert. Teilweise klagen Schüler*innen darüber, dass sie nicht gleichzeitig zuhören und schreiben können. Daher gelinge es oftmals nicht, die Inhalte zu erfassen und zu verstehen. Andere geben an, dass sie sich aufgrund der Fülle an übermittelten Informationen bei gleichzeitiger Schreibarbeit nichts merken können. Zur Untermalung dieser Beobachtung werden Zitate aus zwei Interviews angeführt, die sich auf den Unterricht derselben Lehrkraft beziehen: I: F7: B7: C7: E7:
as könnte man in Politischer Bildung besser machen? (.) W Weniger schreiben. Ja. Ja, mehr reden. Ja, weniger schreiben und einfach mehr darüber reden, (.) und dass auch die Schüler sagen, was sie drüber wissen und dann drüber diskutieren. F7: Ja. B7: Ja oder halt Gruppenarbeit. (.) Gruppenarbeit oder sowas. E7: Unser Lehrer, der redet immer meistens (A7: Der redet…) (.) das Wichtigste redet er immer, wenn wir schreiben… Ich kann nicht… B7: Ja und dann erwartet der Lehrer, dass wir das noch aufnehmen, obwohl wir eigentlich konzentriert sind beim Schreiben und dann können wir das nicht aufnehmen. (I7, PTS2, 650)
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R8: M8: […] P8: O8:
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I ch kann mir da fast nichts merken. Ich auch nicht. (.)
Nicht so viel. eil die meiste Zeit tun wir nur schreiben und schreiben und irgendwann W passt da nichts mehr rein in den Kopf. N8: Und der Lehrer redet daneben zwanzig Minuten lang. (I8, PTS2, 423–431) Die Studie hat gezeigt, dass der vom demokratisch-diskursiven Typ gestaltete Unterricht im Schnitt von den Schüler*innen deutlich positiver als der Unterricht des traditional-vermittelnden Typs bewertet wird. In jenen Fällen, in denen Schüler*innen laut ihren Aussagen viel Gelegenheit zum Gespräch oder zur Diskussion erhalten, berichten diese gehäuft, dass es interessant sei, sich über Themen austauschen zu können. In manchen Fällen wird berichtet, dass sich diskursive Gespräche oftmals über die gesamte Zeit einer Unterrichtsstunde erstrecken. Vereinzelt geben Schüler*innen an, dass sie Gesprächsunterricht mögen, weil sie dann nicht schreiben müssen. I: W as macht ihr eigentlich in Politischer Bildung in der Schule? Wie schaut eine typische Unterrichtsstunde aus? (.) F9? F9: Also die… Am Anfang fragt die Lehrerin, ob es was Neues gibt. Dann haben wir einmal Zeit zum Überlegen. (.) Und wenn es was Neues gibt, dann reden wir darüber. Das dauert dann so um die zehn bis zwanzig Minuten. E9: Manchmal dauert es aber auch die ganze Stunde. F9: Ja. I: Das heißt, wenn sich die Leute dafür interessieren, wird das Thema vielleicht… E9: Ja. C9: Wird darüber geredet. So in- und auswendig. […] B9: Also meistens ist jedes Thema interessant. Was so lang… Über das man so lange redet. Das ist meistens immer interessant. (I9, PTS3, 376–394)
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Zum Unterricht des wissenschaftlich-kompetenzorientierten Typs, der insgesamt nur in allgemeinbildenden höheren Schulen gefunden wurde, sagen einzelne Schüler*innen aus, dass es für viele schwierig sei, die von der Lehrkraft erteilten Arbeitsaufträge zu lösen. Auch Lehrkräfte selbst befinden, dass die Kompetenzorientierung hohe Anforderungen sowohl an Schüler*innen als auch an Lehrkräfte stelle. Lehrkräfte berichten etwa davon, dass Schüler*innen sich in früheren Zeiten durch das Auswendiglernen von Inhalten eine gute Note verdienen konnten. Kompetenzorientierter Unterricht verlange allerdings deutlich mehr an fachlichen und methodischen Fähigkeiten für eine gute Beurteilung. Darüber hinaus sei diese Form des Unterrichts auch anstrengender. Schüler*innen geben teilweise an, dass sie sich öfters vermittelnden Unterricht wünschen, bei dem sie selbst nur zuhören und mitschreiben müssen. Wenig überraschend bewerten Schüler*innen bestimmte Aktivitäten, die mit einem erlebnisorientierten Unterricht verbunden werden, wie etwa den Besuch einer Landtagssitzung oder einer Gerichtsverhandlung oder die Diskussion mit Politiker*innen überwiegend positiv, handelt es sich hierbei doch um besondere Aktivitäten, die aus dem alltäglichen Rahmen fallen und auch für sie meist nicht mit einem hohen Arbeitsaufwand verbunden sind.
6 Zusammenfassung Die hier präsentierten ersten Ergebnisse aus meiner laufenden Studie deuten auf große Unterschiede zwischen den didaktisch-methodischen Konzepten der politikdidaktischen Literatur und der Unterrichtswirklichkeit hin. Während die eingangs geschilderte Herausforderung lautet, dass Schüler*innen bis zur Erreichung des Wahlalters bestimmte bürgerschaftliche Fähigkeiten entwickeln sollen, verweist die vorliegende Studie auf zum Teil signifikante Professionsdefizite in der Politischen Bildung. Demnach nehmen die seit langer Zeit anerkannten fachdidaktischen Prinzipien für einen großen Teil der befragten Lehrkräfte nur einen geringen Stellenwert ein. Mehrere tendieren darüber hinaus offenbar zu einem eintönigen Unterricht in Bezug auf Methoden und Sozialformen und nutzen nur einen kleinen Teil des an sich in der Politischen Bildung vorhandenen methodischen Reservoirs. Hierbei darf die Vermutung angestellt werden, dass dieser Umstand auch der mangelhaften Lehramtsausbildung für Politische Bildung in Österreich geschuldet ist. Die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen von Lehrkräften bietet auch einen Einblick in die Arbeitssituation von Lehrkräften: In der Polytechnischen Schule unterrichten diese sehr oft ohne Ausbildung im betreffenden Fachgegenstand und müssen oftmals ein ganzes
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Arsenal weiterer Fächer abdecken, für welche sie zum Teil nicht ausgebildet sind. Wie die Befragungen zeigen, werden an die Schulen auch andere Anforderungen gestellt, – wie im Fall der Polytechnischen Schulen insbesondere die Vorbereitung auf Arbeitssuche und Berufseinstieg –, welche möglicherweise in einem Konkurrenzverhältnis zur Vorbereitung auf demokratische Bürger*innenschaft stehen. In allgemeinbildenden höheren Schulen unterrichten universitär ausgebildete Lehrkräfte, die allerdings überwiegend ein Lehramtsstudium im Fach Geschichte absolviert haben. Es zeigt sich, dass jene Lehrkräfte, die über unterschiedliche Zusatzausbildungen in Politischer Bildung verfügen, an diesen Weiterbildungen aus Eigenantrieb teilgenommen haben und nicht, weil diese systematisch für alle Lehrkräfte vorgeschrieben sind. Am Beispiel mehrerer Fälle und insbesondere anhand der identifizierten Lehrer*innentypen lässt sich vermuten, dass die didaktische Konzeption des Unterrichts auch der individuellen Haltung geschuldet ist. Ob eine Lehrkraft einen stärker dogmatischen, rein wissensvermittelnden Unterricht durchführt, in dem die Schüler*innen zur Übernahme von Inhalten angehalten werden, oder ob Unterricht stärker diskursiv angelegt ist und die Erfahrungen der Lernenden sowie deren Meinungen einbindet, dürfte möglicherweise weniger eine Frage einer profunden fachdidaktischen Ausbildung sein. Die vorliegende Studie kann keinen Beweis erbringen, dass Schüler*innen in einem für sie als interessant und bedeutsam wahrgenommenen Unterricht tatsächlich mehr lernen. Es kann jedoch die Hypothese gebildet werden, dass ein stärker gesprächsbasierter Unterricht, bei dem viele Schüler*innen aktiv bei der Sache sind, als fruchtbarer für politisches Lernen zu beurteilen ist, als ein rein auf Wissensvermittlung basierender Unterricht, der es verabsäumt, sinnstiftende, damit motivierende Momente zu erzeugen. Der in mehreren Fällen beschriebene gesprächsbasierte Unterricht vermag hingegen Themen aufzugreifen, zu denen viele Jugendliche eine gewisse Fragehaltung mitbringen, wodurch Politikunterricht möglicherweise als sinnvoll wahrgenommen wird. Gerade vor der Herausforderung, dass Schule zur gesellschaftlichen Demokratisierung und zur Bewusstseinsbildung für politische Fragen beitragen soll, scheint die Anforderung an die Politische Bildung zu lauten, dass sie so zu konzeptionieren ist, dass sie von Lernenden als Angebot zur Sinnbildung wahrgenommen wird. In Bezug auf die didaktisch-methodische Gestaltung von Politikunterricht deuten die Ergebnisse der vorliegenden Studie darauf hin, dass ein schüler*innenorientierter Zugang, eine abwechslungsreiche Methodik und auf die Lerngruppe abgestimmte Anforderungen diesbezüglich eine Rolle spielen. Diese Erkenntnis steht im Einklang mit bisherigen Befunden, nach denen methodische Vielfalt positiv mit der Zufriedenheit der Lernenden mit dem Fach verknüpft ist (vgl. Reinhard 2005, S. 66). Die Hypothese, dass viele
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Schüler*innen Politikunterricht dann als sinn- und wertvoll oder motivierender beurteilen, wenn sie Gelegenheit haben, ihre eigenen Perspektiven einzubringen, kann durch die Studienergebnisse zumindest erhärtet werden. Außer Frage steht, dass die didaktisch-methodische Gestaltung von Politikunterricht durch die Lehrenden einen gewichtigen Faktor ausmacht, wie Lernende Unterrichtsangebote wahrnehmen und beurteilen. Folglich muss angenommen werden, dass entsprechendes Lehrer*innenhandeln mitentscheidend dafür ist, inwieweit Anspruch und Wirklichkeit Politischer Bildung in der Demokratie voneinander entfernt liegen.
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Demokratisierung durch Politische Bildung – Ein Praxisbeispiel
Politische Bildung für ein weltoffenes Deutschland. 7xjung und andere Ansätze und Erfahrungen von „Gesicht Zeigen!“ Jan Krebs und Marian Spode
Zusammenfassung
Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland hat einen spezifischen Ansatz politischer Bildung entwickelt, der zum Ziel hat, Kinder und Jugendliche in möglichst unterschiedlichen Lerngruppen und in unterschiedlichen pädagogischen Zusammenhängen authentisch anzusprechen und darin zu ermutigen, sich selbst als demokratisch handelnde Subjekte zu verstehen. Der Beitrag umreißt Grundlinien des Konzepts und veranschaulicht es an zwei konkreten Beispielen. Der Berliner Lernort 7xjung ist eine raumgebundene Umsetzung des Konzepts auf drei Wirkungsebenen, die als außerschulischer Lernort fungiert. Die Spiele-Materialien sind einfache, intuitiv nutzbare Tools, die pädagogisch Handelnde in ganz unterschiedlichen Feldern für ihre eigene Vermittlungspraxis nutzen können.
J. Krebs (*) Gesicht Zeigen! Berlin, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Spode Städtische Erinnerungskultur Hannover, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 M. P. Haarmann et al. (Hrsg.), Demokratie, Demokratisierung und das Demokratische, Bürgerbewusstsein, https://doi.org/10.1007/978-3-658-29556-1_18
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1 Grundsätze und Anliegen „Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland“, der Name unserer Organisation, ist ein Aufruf an jeden Menschen, an jedes Mitglied unserer Gesellschaft, sich für ein respektvolles, diverses und freiheitliches Miteinander einzusetzen und allen menschenfeindlichen Phänomenen und Handlungen entgegenzutreten. Der Name ist selbstverständlich Programm, und aus dem Gründungsimpuls für einen Verein im Deutschland des Jahres 2000 ist im Laufe der Zeit unter anderem ein eigenes Bildungskonzept entstanden. „Gesicht Zeigen!“ hat dafür einen pädagogischen Handlungsrahmen entwickelt, der sich in Methoden, Materialien und dem einzigartigen Lernort 7xjung spiegelt. Ausgangspunkt allen Handelns ist für uns die Würde des Menschen als Erstbegründung der Grund- und Freiheitsrechte, der Menschen- und Kinderrechte. „Gesicht Zeigen!“ ist aktiv gegen Antisemitismus, Rassismus und Rechtsextremismus und steht für eine Gesellschaft, in der jeder Mensch gleichwertig anerkannt ist – jederzeit und überall. Teilhabe und Zugehörigkeit, Inklusion und Exklusion, Migration und Gesellschaft – diese Themen sind für ein gelingendes Miteinander in unserer immer vielfältigeren Welt von größter Bedeutung. Damit steht zugleich eine im weitesten Sinne inklusiv verstandene Demokratie im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit. Im Rahmen der Einordnung von Demokratie als Herrschaftsform, Gesellschaftsform und Lebensform (vgl. Himmelmann 2016) stehen für „Gesicht Zeigen!“ angesichts der Orientierung auf die konkreten und unmittelbaren Handlungsmöglichkeiten des einzelnen Menschen vor allem die Gesellschaftsform und die Lebensform im Vordergrund. Wir verstehen Demokratie als ein Konzept, das in alle Lebensbereiche hineinwirkt. Dementsprechend ist die Suche danach, was demokratisches Handeln im Einzelnen bedeutet, und wie es gelingen kann, dass alle Menschen sich gleichwertig und gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben beteiligen, die Grundfrage in der Politischen Bildung von „Gesicht Zeigen!“. Zielgruppen unserer Bildungsarbeit sind sowohl Kinder und junge Menschen als auch all jene, die pädagogisch mit ihnen arbeiten und die wir darin unterstützen möchten – Lehrkräfte und Erzieher*innen ebenso wie Fachkräfte der Jungendarbeit oder der außerschulischen Politischen Bildung. Dabei ist es „Gesicht Zeigen!“ im Sinne eines Handelns „für ein weltoffenen Deutschland“ ein großes Anliegen, mit den eigenen Projekten und Ansätzen grundsätzlich möglichst unterschiedliche Menschen zu erreichen. Daher haben wir insbesondere Zielgruppen im Blick, die unserer empirischen Erfahrung nach bei
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Maßnahmen der Politischen oder historisch-politischen Bildung deutlich unterrepräsentiert sind, innerhalb wie außerhalb schulischer Kontexte. Häufig wird in diesem Zusammenhang von Bildungsbenachteiligung gesprochen. Dieser Begriff deckt den analytischen Bedarf, strukturelle Benachteiligungen zu verorten und zu benennen. Er ist damit jedoch natürlich auch nur ein Sammelbegriff für Menschen, die bei näherer Betrachtung ganz verschieden geprägt sind und in völlig unterschiedlichen Lebenssituationen aufwachsen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016). Das macht den Begriff der „bildungsbenachteiligten Jugendlichen“ als Zielgruppenkategorie schon aus praktischen Gründen nur schwer operationalisierbar, da er sehr unterschiedliche Gruppen umfasst. Darüber hinaus ist der Begriff aus seinem Entstehungskontext heraus notwendig defizitorientiert und knüpft an Negativ-Zuschreibungen an, die er in Teilen reproduziert und dadurch potenziell noch verstärkt. Eine solche Stigmatisierungsverstärkung wäre jedoch das Gegenteil unserer Handlungsrichtung. Aus diesem Grund stellt „Gesicht Zeigen!“ bewusst die Heterogenität, Diversität und Vielfalt des eigenen, inklusiven Demokratie- und Bildungsbegriffs in den Mittelpunkt der Zielgruppenbeschreibung. Dabei setzen wir mit der Art und Weise, wie wir Politische Bildung konzipieren und kommunizieren, zugleich zentrale Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit der Kategorie der Bildungsbenachteiligung in die Praxis um. Wir bemühen uns, Bildungskonzepte so zu gestalten, dass sie in unterschiedlichen Hinsichten möglichst zugänglich und diskriminierungskritisch angelegt sind. Es ist wie mit einem guten Kinderbuch: Unterschiedliche Leser*innen lesen die Geschichte möglicherweise auf mehren, unterschiedlichen, sich zum Teil überdeckenden Ebenen – aber es ist für alle etwas dabei, und da es um Themen geht, die ihrer Natur nach für alle Menschen von Belang sind, ist die Chance groß, dass viele sich aktiv damit beschäftigen, ja Freude daran haben. Zur Übersetzung unseres diversitätsorientierten, prozessbezogenen und inklusiven Bildungsansatzes in praktische Arbeitsweisen haben wir ein Set von insgesamt zwei mal acht Attributen definiert (vgl. Abb. 1). In ihrer Gesamtheit beschreiben sie wichtige Eckpunkte unserer Handlungskonzepte. Ursprünglich ist die Darstellung aus der Wechselbeziehung zwischen Erfahrungen und Ergebnissen in unterschiedlichen Modellprojekten mit der synthetischen Reflexion der relevanten Grundlagen entstanden; mittlerweile ist die Darstellung für uns zu einem wichtigen Referenzmodell in der Entwicklung neuer Methoden und Materialien avanciert. Die bunt dargestellten Begriffspaare sind Ausdruck unseres Anspruchs, in unserer Politischen Bildung ohne erhobenen Zeigefinger auf Augenhöhe
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Abb. 1 Die pädagogische Haltung von „Gesicht Zeigen!“. (© Gesicht Zeigen!)
miteinander zu arbeiten und uns dabei stark an den Interessen und Lebenswelten der tatsächlich im Raum anwesenden und teilnehmenden Menschen zu orientieren. Neben der Prozessorientierung legt ein ernst genommenes Beteiligungsprinzip dabei auch eine Arbeitsweise nahe, die möglichst viele Sinne aktiv mit einbezieht. Dies erläutern wir im Folgenden an zwei Beispielen.
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Abb. 2 Lernort 7xjung – Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt. (© Gesicht Zeigen!)
2 Übersetzung im Raum: der Lernort von „Gesicht Zeigen!“ Im Jahr 2010 hat „Gesicht Zeigen!“ seinen Lernort 7xjung eröffnet, der im Rahmen eines dreijährigen Modellprojekts zur Antisemitismus-Prävention entwickelt wurde. Da wir den Präventionsansatz aus seiner inhärenten Struktur eines Vorbeugens „gegen“ etwas herausführen und dem modellhaften Lern-Raum eine klar positive Zielrichtung beigeben wollten, hat der Lernort den Untertitel „Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt“ erhalten.1 7xjung ist ein Raum des erlebten, gestalteten und reflektierten demokratischen Handelns und damit ein spezieller Ort der Politischen Bildung und des Lernens für Demokratie. Die Konzeption dieses speziell für ältere Kinder ab etwa elf Jahren und Jugendliche geschaffenen Lernorts in den S-Bahn-Bögen unter dem zentralen Berliner Stadtbahn-Viadukt (vgl. Abb. 2) beruht auf der gezielten Verbindung dreier Ebenen. 1Weitere
Informationen zum Lernort 7xjung finden sich auf der Internetpräsenz www.7xjung.de, Details zur Entwicklung in: Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland (Hrsg.) (2010). 7xjung. Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt. Ausstellungskatalog. https://www.7xjung.de/wp-content/uploads/2016/10/2010-7xjungkatalog-ds.pdf. Zugegriffen: 23. Januar 2019. Hier S. 12–17.
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Die Ebene der räumlichen Oberflächen erschließt sich unmittelbar, wenn man 7xjung betritt. Man findet sich in einem von sieben Themenräumen wieder, die in ihrer Inszenierung unterschiedliche jugendliche Lebenswelten andeuten: MEINE STADT – also das Draußen-Sein, MEINE MUSIK – also Club und Disko, oder der Doppelraum MEIN ZIMMER/MEINE FAMILIE – also das ganz persönliche Leben zuhause. Jeder Raum ist künstlerisch gestaltet, spiegelt eine andere Lebensumgebung und schafft eine ganz eigene Atmosphäre. Auf dem Betonboden in MEINE STADT stehen gewöhnliche Parkbänke. MEIN ZIMMER hält auf dem Teppichboden gemütliche Hausschuhe bereit, und MEIN SPORT hat einen angedeuteten Hallenboden, Turnbänke und Kästen – fast meint man, noch ein wenig Schweiß vom letzten Training in der Luft zu spüren. Die Erfahrung zeigt: Der Bezug zum eigenen Leben liegt für die Besucher*innen unmittelbar auf der Hand. Als zweite Ebene enthalten die Räume eine große Zahl unterschiedlicher Exponate, die allesamt künstlerisch gestaltet sind. Diese Objekte und Requisiten erzählen Geschichten: Hörstücke, Fotoarbeiten, Collagen, Vitrinen, Kurzfilme, Bilderbücher, Kurzgeschichten, Serien, Zitate und so weiter. Alle diese Kunstwerke schildern in verdichteter Form Erfahrungen meist junger Menschen von Teilhabe oder Ausschluss, von Solidarität und Unterstützung, Ausgrenzung, Diskriminierung und Antisemitismus. Viele der Ereignisse sind zeitlich in den 1930-er Jahren verortet, ohne dass dies immer auf den ersten Blick zu erkennen ist. Erfahrungen in der Gesellschaft des Nationalsozialismus sind so als elementare Bezugsfläche in den Ort eingewoben. Manche der Exponate fallen beim Betreten des Raums unmittelbar ins Auge, andere sind ein wenig in der Raumkomposition versteckt und bieten umso mehr die Chance, nach und nach entdeckt und erforscht zu werden. 7xjung enthält in seinen Objekten zahlreiche explizite Bezüge zur Zeit des Nationalsozialismus. Es ist aber kein historischer Ort, erst recht keine Gedenkstätte, und die Ausstellung ist keine historische, sondern bewusst eine künstlerische. Kunst eröffnet Freiräume zum Spüren, Assoziieren und Denken. Besonders lebendig werden diese Freiräume in angeleiteten Workshops, die ein Lernen mit möglichst vielen Sinnen organisieren. Diese Handlungskonzepte sind die dritte Ebene der Wirksamkeit des Lernorts. In den Workshops wechseln sich Elemente eigener Erfahrungen, als Einzelne und als Gruppe, mit Reflexion, Austausch und Verarbeitung ab. Für gelingende, inspirierende Lern-Erlebnisse in diesem sensiblen und zum Teil sehr persönlichen Erfahrungsfeld gibt es einige Voraussetzungen. Wichtig für die Workshops mit Kindern und Jugendlichen ist ein hinreichender Zeitrahmen von mindestens vier Zeitstunden, um zumindest ansatzweise in die Tiefe gehen
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zu können, verschiedene Erfahrungen und Erlebnisse durchzuspielen und sie gemeinsam zu durchdenken. Außerdem ist es wichtig, Schulklassen in kleinere Lerngruppen von zehn bis maximal 15 Personen zu unterteilen, damit tatsächlich die Erlebnisse und Perspektiven aller Jugendlichen in den Erfahrungs- und Austauschprozess einfließen können. Im Workshop wird jede dieser kleineren Gruppen von einem Mitglied des pädagogischen Teams begleitet und angeleitet. Diese Arbeitsweise an der Schnittstelle vielfältiger Disziplinen setzt ein multiprofessionelles pädagogisches Team voraus. Die Team-Mitglieder müssen in der Lage sein, die oben beschriebenen Ansprüche und Arbeitsweisen von „Gesicht Zeigen!“ konkret mit den Möglichkeiten, den Objekten und Raumgestaltungen des Lernorts lebendig werden zu lassen und so im Austausch auf Augenhöhe mit den teilnehmenden Jugendlichen stark prozessorientiert und pädagogisch sehr flexibel zu arbeiten. Das größte Exponat in 7xjung – um ein Beispiel zu nennen – ist ein Raum im Raum (vgl. Abb. 3), den man jedoch nicht betreten kann. Zwei Fenster ermöglichen Einblicke aus spezifisch unterschiedlichen Perspektiven (vgl. Abb. 4). Ein stark zerstörtes Jugendzimmer ist zu sehen, Poster von der Wand gerissen, Tisch
Abb. 3 Der Raum „MEIN ZIMMER – MEINE FAMILIE“. (© Gesicht Zeigen!)
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Abb. 4 Das Exponat „Das zerstörte Zimmer“ als Raum im Raum. (© Gesicht Zeigen!)
und Bett zertrümmert, das Federbett aufgerissen (vgl. Abb. 5). Es ist ein Anlass für Gespräche. Impulsfragen führen ins eigene Leben und in einen häufig persönlichen Austausch: Wenn ich nach Hause käme, in mein eigenes Zuhause, und es sähe so aus – was würde mir durch den Kopf gehen? Was würde ich empfinden? Was würde ich wohl tun, an wen würde ich mich wenden? Wo würde ich heute Abend schlafen gehen?2 An der Außenwand des Zimmers finden sich autobiografische Notizen (vgl. Abb. 6). Hier schildern zwei Menschen Situationen, die sie als Jugendliche in der Nazizeit erlebt haben: Als Tochter und als Sohn zweier Familien, die verfolgt wurden. Die einen als Kommunisten, die anderen als Juden. Sie erleben hautnah, wer da kommt und ihre Privatsphäre kurz und klein schlägt. Das ist „Geschichte“, aber es ist nicht einfach Vergangenes, sondern eine
2In
Übereinstimmung mit den genannten pädagogischen Grundsätzen sind „ich“ und „du“ wichtige Subjekte in 7xjung. Ein ehrlicher Austausch, der vom Eigenen ausgeht, verfällt seltener in schwer überprüfbare, häufig zweifelhafte Auffassungen über Dritte und übt darin, aus wechselseitigen Zuschreibungen heraus zu kommen.
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Abb. 5 „Das zerstörte Zimmer“ – Blick in den Raum. (© Gesicht Zeigen!)
sehr prägende menschliche Erfahrung. Das wird im Workshop allen unmittelbar klar, nachdem ja gerade der Austausch in der Gruppe über eigene Emotionen und Gedanken, manchmal auch über eigene Erfahrungen, stattgefunden hat. Diskriminierungsschutz und der Schutz der Privat- und Freiheitssphäre sind die großen Themen, die hier zur Sprache kommen. Und so ist es an vielen Stellen des Lernorts 7xjung: Menschen- und Grundrechte sind dem Ort fest eingeschrieben und eng verwoben mit den künstlerisch verarbeiteten persönlichen Erfahrungen, die uns die Zugänge eröffnen und eine Basis für lebendige Workshops bilden.3
3Weitere
Praxisbeispiele finden sich in der Dokumentation: Gesicht Zeigen! (Hrsg.). (2014). 7xjung. Ergebnisse des Modellprojekts. Abrufbar unter: https://www.7xjung.de/wpcontent/uploads/2016/10/2014-7xjung-erfahrungen-und-ergebnisse-ds.pdf. Zugegriffen: 23. Januar 2019.
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Abb. 6 Autobiografische Quellentexte an der Außenseite des „Zerstörten Zimmers“. (© Gesicht Zeigen!)
3 Übersetzung in Material: die Spiele von „Gesicht Zeigen!“ Spielen als Beschäftigungsform ist unserer Erfahrung nach sehr gut geeignet, um interpersonale Lernprozesse anzustoßen, denn Spielen ist seinem Charakter nach interaktiv, häufig intensiv und auf mehreren Ebenen interessant und unmittelbar ansprechend. Ausgehend von dieser ganz allgemein-menschlichen Erfahrung haben wir eine Reihe von Spiele-Materialien entwickelt,4 die wir seit Jahren mit großem (Lern-) Erfolg in ganz unterschiedlichen Gruppen anwenden. Pädagogik und Didaktik des Spielens sind dabei längst noch nicht so weit erforscht, wie dies wünschenswert wäre; es gibt kaum Untersuchungen zu Einsatz und Wirksamkeit von Spielen in der Politischen Bildung oder
4Siehe
Übersicht auf: https://www.gesichtzeigen.de/angebote/material/. Zugegriffen: 22. Januar 2019.
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benachbarten Bereichen. Dabei liegen die Vorteile des Spielens für eine politische D emokratie-Bildung auf der Hand: Spielen verbindet kognitive mit kommunikativen und emotionalen Herausforderungen und es fordert und fördert eine flexible und spontane Reaktion auf sich ändernde Spielsituationen. Die Klasse wird weniger als Lerngruppe denn als gesellschaftliche Runde empfunden. Es gibt Regeln, die es einzuhalten gilt, aber der Eine oder die Andere möchte sie vielleicht lieber umgehen oder ignorieren. Oder verstößt eine Spielregel womöglich gegen Grundregeln unseres Zusammenlebens, gegen Zusammenhalt und Respekt? Wo spiele ich nicht mehr mit – und erlebe damit im Spiel, was im „wahren Leben“ vielleicht schon Nonkonformität oder Zivilcourage wäre? Spielen macht häufig Freude, verweist jedoch zugleich auf unterschiedlichen Ebenen auf gesellschaftliche Zusammenhänge und demokratische Prozesse. So ist Spielen besonders geeignet, um demokratische Handlungskompetenz zu reflektieren und zu erlernen – gerade hinsichtlich der für „Gesicht Zeigen!“ zentralen Perspektive auf Demokratie als Lebens- und Gesellschaftsform (vgl. Scholz 2014, S. 485 ff.). Ein Beispiel ist das seit Jahren bewährte Spiel „Wie wollen wir leben?“5, dessen Untertitel „Ja-Nein-Spiel“ bereits die wesentliche Spielanleitung zum Ausdruck bringt. Das Material besteht aus je 27 „Ja“- und „Nein“-Karten sowie 42 Karten mit groß aufgedruckten Fragen, die von der persönlichen Lebensgestaltung bis zu großen gesellschaftspolitischen Themen reichen. Die Teilnehmer*innen setzen sich im Kreis, jede*r erhält eine Ja- und eine Nein-Karte. Die Haupt-Spielregel besteht darin, dass jeweils die Spielleitung eine Frage stellt – mithilfe der entsprechenden Fragenkarte visuell unterstützt –, alle anderen müssen ihre persönliche Antwort überlegen, also Ja oder Nein. Auf ein Zeichen der Spielleitung zeigen alle Mitspieler*innen gleichzeitig ihre Antwort, alle Antworten sind im Kreis zu sehen. An dieser Stelle beginnt der eigentlich relevante Teil des Spiels, nämlich ein von der Spielleitung wertschätzend moderierter Austausch untereinander, warum die Beteiligten die eine oder die andere Antwort gegeben haben. Zentrale Voraussetzung für ein gelingendes Gespräch ist, dass die Spielleitung vor Spielbeginn klar verkündet hat, dass es in diesem Spiel keine richtigen oder falschen Antworten gibt. Das bedeutet nicht nur, dass niemand durch „richtige“ Antworten Spielpunkte bekommen kann, sondern dass es ausdrücklich nicht
5Gesicht
Zeigen! (Hrsg.) (2017). Wie wollen wir leben? Standpunkte hinterfragen und diskutieren. Das ja!-nein!-Spiel. Weinheim: Beltz.
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um ethisch-moralisch „richtige“ oder „falsche“ Antworten und nicht um möglicherweise sozial erwünschte, implizit erwartete Äußerungen geht. Diese offene Haltung auch in der Moderation zu leben ist eine wesentliche (und nicht immer ganz leicht zu praktizierende) Anforderung an die Spielleitung. Unsere Erfahrung ist, dass es mit diesem Spiel in aller Regel gelingt, wichtige und interessante Gespräche und Austausche in Gang zu bringen. Zu Beginn hilft oft eine leicht theatrale Spielweise, um mit der Gruppe in einen guten Spielmodus zu kommen, zum Beispiel durch eine erhöhte Anforderung an die Entscheidungskraft der Mitspielenden („Nur ‚Ja‘ und ‚Nein‘ sind erlaubt, ein ‚Jein‘ gibt es heute nicht!“), ein zeremoniell-gleichzeitiges Aufdecken der Antwortkarten oder das dauerhafte Hochhalten aller Antworten als Visualisierung im Kreis. Wichtig ist eine gruppenspezifische und prozessorientiert kluge Auswahl der Fragen für die jeweilige Lerngruppe. Persönliche („Glaubst du an die große Liebe?“) und persönlich-politische Fragen („Stört es dich, zwei sich küssende Männer zu sehen?“) sind oft ein guter Einstieg, um im weiteren Verlauf auf weitere Politikfelder zu kommen – etwa zu Migration, Integration und dem eigenen Blick auf Deutschland („Findest du, dass in Deutschland zu viele ‚Ausländer‘ leben?“, „Denkst du, dass der Islam zu Deutschland passt?“) oder zur Perspektive auf die eigene Teilhabe in einer demokratischen Gesellschaft („Bedeutet Demokratie für dich Mitbestimmung?“, „Glaubst du, dass du ein wichtiger Teil der Gesellschaft bist?“). Das Spiel behandelt noch viele weitere Themen, dies ist nur eine kleine Auswahl. Immer wieder erleben wir, dass es mit ganz unterschiedlichen Gruppen gelingt, in ertragreiche Gespräche zu kommen, bei denen Menschen neue Perspektiven voneinander erfahren. Oft lernen wir erstaunt, dass zwei ganz unterschiedliche Begründungen zu der gleichen Antwort führen können, dass vor allem aber auch, umgekehrt, ganz ähnliche Auffassungen den einen zu einem „Ja“, die andere zu einem „Nein“ als Votum bewegen. Das Material wird von älteren Kindern ebenso wie von Jugendlichen oder Erwachsenen sehr gut „angenommen“. Trotz unterschiedlicher Milieus, Schulformen oder Arten des gruppeninternen Umgangs miteinander erhalten wir sehr positive Rückmeldungen zu diesem Element Politischer Bildung, das sich ebenso zum punktuellen Einsatz wie zum regelmäßigen Ritual über längere Zeiträume eignet.
4 Fazit Wenn man von der Erkenntnis ausgeht, dass eine lebendige und im weitesten Sinne inklusive demokratische Gesellschaft nichts dringender braucht als Menschen, die es für wichtig erachten, sich in dieser und für diese Gesellschaft
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zu engagieren, und die dies auch tatsächlich machen – genau dann ist die Verknüpfung kognitiver Lernformen mit emotionalen Aspekten essentiell. Dafür sind freiere, möglichst einfach-intuitive Lernformen sehr gut geeignet, wie es sowohl die Spiele als auch die inszenierten Räume von 7xjung zeigen. Das Lernen-über wird zu einem Lernen-für und einem Lernen-durch – und dies ist unserer Überzeugung nach entscheidend für eine inklusiv-demokratische Zukunft unserer Gesellschaft. Wie in jeder Bildungsarbeit hat die anleitende Person eine große Bedeutung. Sie stellt Fragen und Thesen zur Diskussion, muss die Breite der Themen kennen und in der Lage sein, in vielerlei Hinsicht „auf Augenhöhe“ mit den Teilnehmer*innen in den Austausch zu gehen. Im Sinne der Frankfurter Erklärung von 2015 (Eis et al. 2015) setzt dies nicht zuletzt eine selbstreflektierte, diskriminierungskritische Haltung voraus. Andererseits sollte es nicht nur bei einem Träger wie „Gesicht Zeigen!“ selbstverständlich sein, dass die Grundwerte menschlichen Zusammenlebens – insbesondere die Menschenwürde, die Menschen- und Grundrechte – nicht zur Debatte stehen. Dies ist in jüngster Zeit von namhaften Institutionen unterstrichen worden, unter anderem von der Kultusministerkonferenz (KMK 2018). Die dargestellten Konzepte machen Angebote, die auf Gruppen von Lernenden zielen, die physisch miteinander in einem Raum sind. Es sind offline-Konzepte – das ist eine Grenze, zugleich aber eine große Chance. Und wir sind überzeugt, dass ein spielerischer Zugang, eine ästhetische Gestaltung und die Reduktion auf das Wesentliche drei Kernelemente sind, warum viele Menschen sich davon angesprochen fühlen. Häufig erhalten wir von jugendlichen Teilnehmer*innen die Rückmeldung: „Es ist gut, dass meine Meinung hier zählt.“ Das spornt uns an.
Literatur Autorengruppe Bildungsberichterstattung (Hrsg.). (2016). Bildung in Deutschland 2016. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration. https:// www.bildungsbericht.de/de/bildungsberichte-seit-2006/bildungsbericht-2016/pdfbildungsbericht-2016/bildungsbericht-2016. Zugegriffen: 21. Januar 2019. Gesicht Zeigen! Für ein weltoffenes Deutschland (Hrsg.). (2010). 7xjung. Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt. (Ausstellungskatalog). https://www.7xjung.de/ wp-content/uploads/2016/10/2010-7xjung-katalog-ds.pdf. Zugegriffen 23. Januar 2019. Himmelmann, G. (2016). Demokratie Lernen als Lebens-, Gesellschafts- und Herrschaftsform. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag.
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Scholz, L. (2014). Spielend lernen: Spielformen in der politischen Bildung. In W. Sander (Hrsg.), Handbuch politische Bildung. (S. 484–492). Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag. Eis, A. et al. (2015). Frankfurter Erklärung. Für eine kritisch-emanzipatorische Politische Bildung. Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung. https://akg-online.org/sites/ default/files/frankfurter_erklaerung.pdf. Zugegriffen: 23. Januar 2019. Kultusministerkonferenz (2018): Demokratie als Ziel, Gegenstand und Praxis historisch-politischer Bildung und Erziehung in der Schule. Beschluss der Kultus ministerkonferenz vom 06.03.2009 i. d. F. vom 11.10.2018. https://www.kmk.org/ fileadmin/Dateien/pdf/PresseUndAktuelles/2018/Beschluss_Demokratieerziehung.pdf. Zugegriffen: 24. Januar 2019.