Defiguration der Schrift: Tintenkleckserei, Makulatur und Schreibfehler bei E.T.A. Hoffmann und Nikolaj Gogol' 9783110705140, 9783110704990

The defiguration of writing – ink spots, paper waste, spelling mistakes – breaks with the figure of writing that stands

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German Pages 409 [410] Year 2021

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Table of contents :
Danksagung
Inhalt
Einleitung
Teil I: Frühromantische Schriftreflexion: Figur und Defiguration
1 Figur und Defiguration
2 Hieroglyphe und Buchstabe
3 Arabeske, Makulatur und Klecks
Teil II: E. T. A. Hoffmanns Schwellenpoetik der Schrift
1 Zur Einführung
2 Tintenpoetik
3 Lust an der Makulatur
Teil III: Die Schriftpoetik Nikolaj Gogol’s: Produktivität zwischen Figur und Defiguration
1 Zur Einführung
2 Form und Formlosigkeit im russischen Druckmediendiskurs nach 1800
3 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)
4 Die Poetik der Frische in den Mertvye duši (Tote Seelen): Plan und Scheitern einer figuralen Konzeption
5 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler
Schlussbemerkung: Die Defiguration der Schrift und ihre Modernität
Siglen
Literatur
Abbildungsverzeichnis
Register
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Defiguration der Schrift: Tintenkleckserei, Makulatur und Schreibfehler bei E.T.A. Hoffmann und Nikolaj Gogol'
 9783110705140, 9783110704990

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Caroline Schubert Defiguration der Schrift

WeltLiteraturen/ World Literatures

Schriftenreihe der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien Herausgegeben von Jutta Müller-Tamm, Andrew James Johnston, Anne Eusterschulte, Susanne Frank und Michael Gamper Wissenschaftlicher Beirat Ute Berns (Universität Hamburg), Hans Ulrich Gumbrecht (Stanford University), Renate Lachmann (Universität Konstanz), Ken’ichi Mishima (Osaka University), Glenn W. Most (Scuola Normale Superiore Pisa), Jean-Marie Schaeffer (EHESS Paris), Stefan Keppler-Tasaki (University of Tōkyō), Janet A. Walker (Rutgers University), David Wellbery (University of Chicago), Christopher Young (University of Cambridge)

Band 18

Caroline Schubert

Defiguration der Schrift Tintenkleckserei, Makulatur und Schreibfehler bei E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’

Dissertationsschrift, Freie Universität Berlin, 2019. Die Entstehung dieser Arbeit wurde gefördert durch ein Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft im Rahmen der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien an der Freien Universität Berlin. Gedruckt mit Unterstützung der Ernst-Reuter-Gesellschaft der Freunde, Förderer und Ehemaligen der Freien Universität Berlin e.V. sowie der Frauenbeauftragten des Fachbereichs Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin.

ISBN 978-3-11-070499-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-070514-0 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-070524-9 ISSN 2198-9370 Library of Congress Control Number: 9783110704990 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Gestaltet von Jürgen Brinckmann, Berlin, unter Verwendung einer Graphik von Anne Eusterschulte Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Danksagung Hiermit möchte ich mich herzlich bei Georg Witte, Jutta Müller-Tamm und Irmela ­Krüger-Fürhoff für die intensive, unermüdliche und freundliche Betreuung meiner Arbeit bedanken. Diese Arbeit entstand am Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, doch im Rahmen des Studiengangs Literaturwissenschaftliche Studien an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule der Freien Universität Berlin. Dieser gilt hiermit mein ausdrücklicher Dank sowohl für die finanzielle Ermöglichung meiner Promotion als auch für die Schaffung idealer Arbeitsbedingungen in kollegialer und herzlicher Atmosphäre sowie für die weitreichende Unterstützung und Beratung bei der Planung von Veranstaltungen und Auslandsaufenthalten. Ich möchte zudem ausdrücklich Marlene Dirschauer, Marie Lindskov Hansen, Louisa Künstler, Jan Lietz, Lisa Müller, Christoph Witt und Niovi Zampouka für die inspirierende, schöne Zeit und die gegenseitige Unterstützung danken. Nicht zuletzt gilt meinen Eltern, meiner Großmutter, meinen Geschwistern und Dir, lieber Simon, für die ständige Bereitschaft, zu helfen und bei allen Fragen ein offenes Ohr zu haben, mein sehr großer Dank.

https://doi.org/10.1515/9783110705140-202

Inhalt Einleitung 

 1

Teil I: F rühromantische Schriftreflexion: Figur und Defiguration  1

Figur und Defiguration 

 21

2 2.1 2.2

 28 Hieroglyphe und Buchstabe  Hieroglyphe: Bilderschrift als Naturzeichen  Magischer und toter Buchstabe   31

 28

 37 3 Arabeske, Makulatur und Klecks  3.1 Friedrich Schlegels Brief über den Roman   37 3.1.1 Arabeske   37 3.1.2 Buntes Allerlei und Bücherhaufen   41 3.2 Ambivalente Medien- und Genrekritik   42 3.2.1 Mit und gegen Lesesucht und Empfindsamkeit   42 3.2.2 Auf- und Abwertung der Makulatur   48 3.2.3 (Selbst-)Satire   52 3.3 Frühromantische Formästhetik   62 3.4 Tintenkleckserei: Symbolik des Verderbens   66 3.4.1 Makulatur   66 3.4.2 Fleck   68 3.4.3 Klecks   70 3.4.4 Fehler   72

Teil II: E. T. A. Hoffmanns Schwellenpoetik der Schrift  1

Zur Einführung 

 77

 82 2 Tintenpoetik  2.1 Der Klecks als materia prima im Goldenen Topf   82 2.1.1 Von den Krähenfüßen zur Schlangenschreiblinie   82 2.1.2 Der Klecks als Manifest der Spaltung   90 2.1.3 Der Klecks als Materie des Poetischen   93 2.1.4 Vorgänger: Schwarze Buchseiten (Robert Fludd, Laurence Sterne)   98 2.2 Der Schatten „ein Kleks“: Zum Kunzischen Riss und den ­Abenteuern der Sylvester-Nacht   106

VIII 

 Inhalt

2.2.1 Das Bild des Kleckses   106 2.2.2 Der Verlust des Abbilds: Schatten und Spiegelbild   110 2.2.3 Klecks und/oder Schatten   115 2.3 Tinte und Melancholie im Fremden Kind   121 3 Lust an der Makulatur   132 3.1 „Künstlich geordnete“ Makulatur: Lebens-Ansichten des Katers Murr   132 3.2 Unterschriften, Abdrücke, Fiktionalisierungen   141 Der Kater Murr zwischen Wirklichkeit und Fiktion  3.2.1  143 3.2.2 Hoffmanns Kleckse – Murrs Kleckse   148 3.3 Murrs Materiallust   155 3.4 Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler   158 3.5 Almanach-Arabesken: Vignetten zum Kater Murr und Die Irrungen, Die Geheimnisse   168

Teil III: Die Schriftpoetik Nikolaj Gogol’s: Produktivität zwischen Figur und Defiguration  1

Zur Einführung 

 178

2 Form und Formlosigkeit im russischen Druckmediendiskurs nach 1800   186 2.1 Das neue Ideal der Bibliographie   186 2.2 Bumagomaranie („Papierbeschmutzung“)   193 2.3 Gogol’s Aufsatz „Über die Bewegung der Zeitschriftenliteratur“   199 2.4 Lubok-Literatur   206 2.4.1 Das Adjektiv lubočnyj   206 2.4.2 Theatralität und Medialität von Lubok und Lubok-Literatur   211  220 3 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)  3.1 Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen   220 3.2 Humoristische Defiguration in den Večera und Mirgorod   230 3.3 Fiktion/Nichtfiktion der Arabeski: Präsenz zwischen ­Negativität und Positivität   238 3.4 Wildes Schreiben   247 3.4.1 Montage der Kločki iz zapisok sumasšedšego (Fetzen aus den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen)   247 3.4.2 Somatisierung der Schrift: Permeabilität der Grenzen   256 3.4.3 Gogol’s Lubok   263

Inhalt 

 IX

4 Die Poetik der Frische in den Mertvye duši (Tote Seelen): Plan und Scheitern einer figuralen Konzeption   272 4.1 Zwischen ungebändigter Kreativität und göttlicher Erscheinung   276 4.2 Vsjakaja vsjačina („Allerlei“): Frische und Grab des Vermischten   284 4.2.1 Rückblick: Die Frische von Enzyklopädie und Vermischtem   284 4.2.2 Pljuškins Chaos der Makulatur   299 4.3 Die Frische der Namen: Schriftmagie und arabeske Ökonomie   307  317 5 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler  5.1 Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II   317 5.2 Akakijs teuflische Fehler: Schriftfetisch in Šinel’ (Der Mantel)   336 5.3 Gogol’s Kreise: Über Autorsignaturen und kalligraphische Ründe   347 5.3.1 Die Signatur „oooo“   347 5.3.2 Psalmenabschriften und Permutationen   354 Schlussbemerkung: Die Defiguration der Schrift und ihre Modernität   367 Siglen  Literatur   371 Abbildungsverzeichnis  Register   399

 395

 363

Einleitung Die Schrift ist in der Literatur der Romantik Objekt sowohl kritischer als auch utopischer Reflexionen. In philosophischen und literaturkritischen Essays und Fragmenten sowie in fiktionalen Texten werden über verschiedene Begriffe der Schrift Potentiale, Gefahren und Hindernisse der Literatur zu fassen oder darzustellen versucht. Einerseits ist die Schrift dabei Ausdruck einer utopischen Möglichkeit, auf magische und mysteriöse Weise den Zugang zum Unendlichen zu eröffnen, das hinter dem Endlichen und Gewöhnlichen liege. Dabei wird das Schriftzeichen häufig im Sinne eines Zeichens der Natur und seiner Sichtbarkeit konzipiert, über die sich eine tiefe und wahre Bedeutsamkeit offenbare. Verschiedene symbolische Begriffe mit einer starken Emphase der Sichtbarkeit verdeutlichen die Zuschreibung einer solchen utopischen Möglichkeit zum literarischen Text, diese mysteriöse Bedeutsamkeit visuell-sinnlich zu zeigen.1 Diese Schriftreflexion und die mit ihr zusammenhängende Idee einer Erfahrungserweiterung ins Unendliche sind zugleich verbunden mit einer deutlichen Kritik eines Schriftbegriffs, der auf simpler Verständlichkeit und inhaltlicher Übermittlung beruht. So steht die Schrift einerseits im Sinne eines Naturzeichens in einem nicht-arbiträren und mysteriös bedeutsamen Verhältnis zu einem unendlichen Signifikat. Dieser Entwurf der Schrift stellt sich andererseits als Kritik an einer als arbiträr erkannten und zudem mit zunehmend ökonomischem Interesse gebrauchten Schrift der Literatur dar.2 Vor diesem Hintergrund bedeutet das „Romantisiren“3 des Gewöhnlichen zum Geheimnisvollen immer wieder auch die Mystifizierung eines arbiträren, simpel wirkungsorientierten und marktbestimmten Schriftgebrauchs. Dieser dient einer Schrift des Unendlichen zugleich als Spiegel und Bedingung. In diesem Zusammenhang untersucht diese Studie die Defiguration der Schrift bei zwei Autoren der europäischen Romantik: E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’. Als Defiguration der Schrift werden Motive in literarischen Texten sowie materielle

1 Vgl. Neumann, Gerhard/Oesterle, Günter: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Bild und Schrift in der ­Romantik. Würzburg 1999, S. 9–26. 2 Vgl. Lachmann, Renate: „Kalligraphie, Arabeske, Phantasma. Zur Semantik der Schrift in Prosatexten des 19. Jahrhunderts“, in: Poetica 29 (1997), S. 455–498, hier S. 455–458; vgl. hierzu den Ansatz von Lörke, Melanie Maria: Liminal Semiotics. Boundary Phenomena in Romanticism. Berlin 2013, S. 59. 3 So beschreibt Novalis die romantische Operation: „Die Welt muß romantisirt werden. So findet man den urspr[ünglichen] Sinn wieder. Romantisiren ist nichts als eine qualit[ative] Potenzirung. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe, so romantisire ich es. – Umgekehrt ist die Operation für das Höhere, Unbekannte, Mystische, Unendliche – dies wird durch diese Verknüpfung logarythmisirt – es bekommt einen geläufigen Ausdruck. […] Wechselerhöhung und Erniedrigung.“ (N II, S. 545, Logologische [2] Fragmente, Nr. 105.) https://doi.org/10.1515/9783110705140-001

2 

 Einleitung

Phänomene in Handschriften und Zeichnungen der Autoren erfasst, in denen mit der Schrift als von einem gestaltlosen Hintergrund abgehobener, distinkter Zeichenfigur gebrochen wird. Hierzu zählen Tintenkleckse, beschriebene Makulaturfetzen sowie Schreibfehler. „Defiguration der Schrift“ bezeichnet also dezidiert Motive und Phänomene eines drohenden oder eingetretenen Verlusts der schriftlichen Repräsentation, bei denen die Materialität der Schrift, ihre visuelle stoffliche Existenz, hervortritt. Diese Fokussierung der Studie ermöglicht es, zentrale Konflikte der geschilderten romantischen Schriftreflexion herauszuarbeiten und in ihrem spezifischen Werkkontext bei beiden Autoren zu beleuchten. Die Defiguration der Schrift, so die hier verfolgte These, erweist sich als Ausdruck der gegenseitigen Bedingtheit einer Möglichkeitsprojektion auf das literarische Schreiben und ihrer kritischen Problematisierung, oder anders ausgedrückt: einer Zueignung magischen Offenbarungspotentials und der gleichzeitigen Berücksichtigung des arbiträren und im romantischen Sinne oberflächlichen Charakters des Schriftzeichens. Über die explizite Materialität der Defiguration der Schrift – sowohl als Phänomen in Handschriften als auch als Motiv im literarischen Text – verarbeiten die untersuchten Autoren E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’ diese Bedingtheit und Abhängigkeit gegensätzlicher Schriftbegriffe, die bereits in der deutschen Frühromantik angelegt ist. Mit ihrer Fokussierung der Defiguration der Schrift schenkt die vorliegende Studie Motiven und Phänomenen Beachtung, die als konstitutiver Teil einer reflexiven und produktiven Auseinandersetzung mit dem Medium der Schrift um 1800 bisher wenig in Analysen einbezogen wurden.4 Diese Motive und Phänomene sind nicht als Ausdruck einer konstatierten „Medien- und Repräsentationskrise“5 der Romantik in ihrer Komplexität auf eine vermeintlich rein destruktive Dimension zu reduzieren. Vielmehr müssen sie im erläuterten Zusammenspiel aus Produktivität und Kritik untersucht werden, das eine romantische Schriftreflexion prägt. Es geht also nicht um rein negative Momente einer verfehlten Repräsentation und damit den ungebrochenen Ausdruck einer Schriftskepsis, sondern um das genannte Spannungsfeld, das die Autoren E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’ über die Defiguration der Schrift verarbeiten. Ein Tintenklecks oder ein zerrissenes Stück Papier markieren damit weniger das Ende von verfehlten Schreibakten bzw. die Überreste ihres Scheiterns, sondern sie betonen zugleich die Produktivität des materiell und körperlich bedingten Schreibprozesses. Mit der Defiguration der Schrift werden also zentrale Motive und Phänomene einer Schreib- und Schriftpoetik untersucht:6 Diese soll

4 Vgl. die Feststellung dieser Tatsache in einem weiteren zeitlichen Horizont und dezidiert auf Szenarien der Schriftzerstörung bezogen: Körte, Mona: Essbare Lettern, brennendes Buch. Schriftvernichtung in der Literatur der Neuzeit. München 2012, S. 13. 5 Neumann/Oesterle: „Einleitung“, in: Dies. (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik, S. 11. 6 Monika Schmitz-Emans definiert diese als eine Poetik, bei der es „um die Erfassung eines ‚Grundes‘ der Literatur im mehrfachen Sinn [geht]: um ihre Möglichkeiten und Voraussetzungen, aber auch um ihre Funktionen, ihre Legitimation durch Zweckursachen also.“ Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit: Historische Paradigmen zu einer Poetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 13.

Einleitung 

 3

im vorliegenden Zusammenhang vor allem als eine Poetik verstanden werden, die gerade die Materialität der Schrift als Medium der Literatur – als vornehmliche Bedingung ihrer Produktion und Rezeption – in den Fokus nimmt. Die Thematisierung der Schrift ist insgesamt in der europäischen Romantik verbreitet und vielfältig; hier sind nur einige Beispiele aus der deutschen und russischen Literatur zu nennen.7 In den Texten von Achim von Arnim, Clemens Brentano oder Novalis werden die Schrift und das Medium des Buches gehäuft zum Gegenstand der Selbstreflexion, denen magisches und immer wieder auch erotisches Potential zugesprochen wird.8 Im Kontext der russischen Literatur kann man etwa die Werke Aleksandr Puškins und Vladimir Odoevskijs anführen. Odoevskij hat sich in seinen Erzählungen immer wieder zu den Möglichkeiten und Gefahren des literarischen Schreibens sowohl ironisch als auch emphatisch geäußert.9 Auch die Defiguration der Schrift erlangt im genannten Zusammenhang einer Schriftreflexion um 1800 große Bedeutung. In Puškins Povesti pokojnogo Ivana Petroviča Belkina (Erzählungen des verstorbenen Ivan Petrovič Belkin) wird im Vorwort des fiktiven Herausgebers berichtet, die Schriften des verstorbenen Autors seien als Makulatur zum Bekleben von Fenstern verwendet und später aufgefunden und ‚rehabilitiert‘ worden.10 Puškins vielfältige Schriftreflexionen zeigen sich in seinen literarischen Texten, aber auch in seinen Handschriften, in denen oft Schrift und Bild ineinander übergehen. Sie erweisen eine intensive Beschäftigung mit den materiellen Bedingungen und gestischen Komponenten seiner Autorschaft.11 Im Kontext der deutschen Literatur um 1800 sind in diesem Zusammenhang die Werke Jean Pauls zu nennen, in denen das Finden und Sammeln

7 Siehe zur Relevanz der Thematik etwa beim französischen Autor Victor Hugo: Bremer, Thomas/ Oesterle, Günter: „Arabeske und Schrift. Victor Hugos ‚Kritzeleien‘ als Vorschule des Surrealismus“, in: Kotzinger, Susi/Rippl, Gabriele (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Amsterdam/Atlanta, GA 1994, S. 187–218. 8 Vgl. den an Beispielen reichen Überblick hierzu bei Kremer, Detlef: Prosa der Romantik. Stuttgart 1997, S. 58–62. 9 So erscheint etwa in seiner Erzählung Skazka o mertvom tele, neizvestno komu prinadležaščem (Märchen vom toten Körper, unbekannt wem gehörig) der sich verkörpernde Geist des Verstorbenen gerade in Kongruenz zu dem Akt, mit dem der Gerichtsdiener die Akte über seinen Todesfall abschreibt. In den Russkie noči (Russische Nächte) werden Bibliophilie und -manie als prominente Motive und Begriffe ihrer Zeit thematisiert und reflektiert. Odoevskij, Vladimir Fedorovič: Skazka o mertvom tele, neizvestno komu prinadležaščem, in: Ders.: Sočinenija. Vstup. st., sostavl., komment. V. I. Sacharova. Bd. 2. Povesti. Moskva 1981, S. 12–20. Ders.: Russkie noči, in: Ders.: Sočinenija. Bd. 1. Russkie noči, S. 55–66. 10 Puškin, Aleksandr Sergeevič: Povesti pokojnogo Ivana Petroviča Belkina, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. Maksim Gor’kij et al. Bd. 1. Romany i povesti. Putešestvija. Leningrad 1948, S. 57–130, hier S. 61. 11 Meyer, Holt: „Die realisierte Travestie und die tra(ns)vestierte Realisierung. Arabeske und Groteske in Puškins Manuskripten am Beispiel Domik v Kolomne“, in: Kotzinger/Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, S. 125–142.

4 

 Einleitung

von Schriftfetzen sowie eine sich im Abschreiben ausdrückende Graphophilie zu Momenten der werkimmanent ausgedrückten Poetik werden.12 Die Autoren E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’ wurden vor diesem Hintergrund für die vorliegende Untersuchung ausgewählt, weil sie nicht nur in ihren jeweiligen Werken die genannten zeitgenössischen philosophischen, literarischen und literaturkritischen Auseinandersetzungen intensiv reflektieren. Dass es eine für diesen Kontext wichtige, intensive Rezeption der deutschen Romantik und speziell E. T. A. Hoffmanns in Russland (und dabei auch durch Gogol’) gegeben hat, soll dabei nicht vergessen werden.13 Jedoch erscheint es darüber hinaus notwendig, die Vergleichbarkeit beider Autoren einmal nicht im Sinne einer Einflussforschung zu beleuchten,14 sondern vor dem Hintergrund der Schriftreflexion in der europäischen Romantik.

12 Fuchs, Tobias: Büchermachen. Autorschaft und Materialität des Buches in Jean Pauls „Leben Fibels“. Erlangen 2012; Wieland, Magnus: „Jean Pauls Sudelbibliothek. Makulatur als poetologische Chiffre“, in: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 46 (2011), S. 97–119; Schmitz-Emans, Monika: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher. Das Buch als Objekt bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 48 (1993), S. 17–46. 13 Die Rezeption der frühromantischen deutschen Ästhetik ist von großer Bedeutung für die russische Romantik gewesen. Vor diesem Hintergrund geht es in dieser Arbeit jedoch vielmehr um den Erweis ähnlicher Diskurse, die ästhetische Begriffe der Form und mediengeschichtlich bedingte literaturkritische Diskussionen miteinander verbinden und bei den untersuchten Autoren literarisch reflektiert werden. Siehe zur Rezeption der deutschen Frühromantik in der russischen Literatur: Zejfert, E. I.: Neizvestnye žanry „zolotogo veka“ russkoj poėzii, S. 131–140. Zejfert bezieht sich unter anderem auf die einschlägige Einführung zur Anthologie Russkie ėstetičeskie traktaty pervoj treti XIX veka von Z. A. Kamenskij, in der dieser den Einfluss der deutschen frühromantischen Ästhetik (vor allem des Jenaer Kreises) und der Philosophie des Idealismus auf die russische Romantik seit den 1820er Jahren beschrieben hat. Kamenskij, Z. A.: „Russkaja ėstetika pervoj treti XIX veka. Romantizm. Ėstetičeskie idei dekabrizma. Vstupitel’naja stat’ja“, in: Ovsjannikov, M. F. (Hg.): Russkie ėstetičeskie traktaty pervoj treti XIX veka. Sost., vstup. s. i primeč. Z. A. Kamenskogo, Bd. 2, Moskva 1974, S. 9–80; Jurij Mann geht in seiner Studie zur russischen Romantik punktuell auf die Rezeption zentraler Elemente der frühromantischen Ästhetik durch russische Romantiker ein, etwa Wilhelm K. Küchelbeckers Rezeption von F. Schlegels Konzept der Ironie, wie es diesem etwa über Schlegels Aufsatz „Vom ästhetischen Werte der griechischen Komödie“ vermittelt worden sei. Vgl. Mann: Russkaja literatura XIX veka, S. 410 ff. Vgl. hierzu auch die grundlegenden Studien Žirmunskij, Viktor M.: Gete v russkoj literature. Leningrad 1981; Mann, Jurij V.: Russkaja filosofksaja ėstetika (1820–1830-e gody). Moskva 1969. Vgl. Vajskopf, Michail: Vljublennyj demiurg. Metafizika i erotika russkogo romantizma. Moskva 2012, hier v. a. S. 261. 14 Peters, Jochen-Ulrich: „Die Entthronung des romantischen Künstlers. Gogol’s Dialog mit E. T. A. Hoffmann“, in: Lachmann, Renate: Dialogizität. München 1982, S. 155–167, hier S. 156. Peters kritisiert die folgenden Untersuchungen: Stender-Petersen, Adolf: „Gogol und die deutsche Romantik“, in: Euphorion (24) 1922, S. 628–53, Passage, Charles Edward: The Russian Hoffmannists. The Hague 1963, Ingham, N. W.: E. T. A. Hoffmann’s Reception in Russia. Würzburg 1974; Botnikova, A. B.: E.T.A Gofman i russkaja literatura (Pervaja plovina XIX veka) – K probleme russko-nemeckich literaturnych svjazej. Voronež 1977. Ähnlich verfahren die beiden folgenden Untersuchungen: Hädrich, Aurélie: Die Anthropologie E. T. A. Hoffmanns und ihre Rezeption in der europäischen Literatur im 19. Jahrhundert. Eine Untersuchung insbesondere für Frankreich, Rußland und den englischsprachigen Raum,

Einleitung 

 5

In dieser Arbeit geht es dementsprechend erstens darum zu zeigen, dass sowohl bei E. T. A. Hoffmann als auch bei Nikolaj Gogol’ eine Schriftpoetik zentral über die Defiguration der Schrift sowohl als Motiv des literarischen Textes als auch als Phänomen in Handschriften, und damit in einer Text und Materialität verbindenden Dimension, untersucht werden kann. Diese Studie erschließt neues Material für die jeweilige Forschung zu den beiden Autoren, indem sie bisher zumeist noch gar nicht oder kaum beachtete handschriftliche Zeugnisse in die Analyse einbezieht. Dabei verfolgt diese Untersuchung über die analytische Verbindung handschriftlicher Zeugnisse mit den publizierten Texten der Autoren einen Ansatz, der dieser auf die Materialität, die Ais­ thetik des Mediums gerichteten Schriftreflexion Gerechtigkeit widerfahren lässt.15 Die Defiguration der Schrift erhebt zweifellos bereits als Motiv in den literarischen Texten die vermeintliche Bedeutungslosigkeit dieser Materialität zum literarischen Thema. Sie wird bei beiden Autoren auch in ihren handschriftlichen Zeugnissen in diesen Zusammenhang gestellt. Dabei problematisiert sie eine Grenze zwischen dem autorisierten, publizierten Text und der Handschrift, die ja schon längst in die kritische editorische und auch literaturwissenschaftliche Arbeit eingegangen ist,16 noch einmal ganz neu: Sie wirft die Frage auf, inwiefern eine Manifestation der verfehlten Repräsentation – ein Klecks oder ein Makulaturfetzen – gedeutet oder ‚gelesen‘ werden kann.17

mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M. 2001; Krys, Svetlana: „Allusions to Hoffmann in Gogol’s early Ukranian Horror Stories“, in: Canadian Slavonic Papers 51 2/3 (2009), S. 243– 266. Siehe hierzu auch Gorlin, M.: N. V. Gogol und E. T. A. Hoffmann. (Leipzig 1933) Nendeln 1968. 15 Dabei wird der Ansatz einer bereits auf mehrere Jahrzehnte zurückblickenden Schrift- und Schriftlichkeitsforschung einbezogen, die nicht von vornherein von einem repräsentationsbezogenen Schriftbegriff ausgeht: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. 2. Aufl. Berlin 2012; Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hg.): Materialität der Kommunikation. Frankfurt a. M. 1988; Stingelin, Martin (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“. Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. Zur Genealogie des Schreibens 1. München 2004; Lubkoll, Christine/Öhlschläger, Claudia (Hg.): Schreibszenen. Kulturpraxis  – Poetologie  – Theatralität. Freiburg im Breisgau u. a. 2015; Krämer, Sybille/Cancik-Kirschbaum, Eva/Totzke, Rainer (Hg.): Schriftbildlichkeit. Wahrnehmbarkeit, Materialität und Operativität von Notationen. Berlin 2012; Grube, Gernot/Kogge, Werner: „Einleitung: Was ist Schrift?“, in: Dies./Krämer, Sybille (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005, S. 9–22. Strätling, Susanne/Witte, Georg: „Die Sichtbarkeit der Schrift zwischen Evidenz, Phänomenalität und Ikonizität. Zur Einführung“, in: Dies. (Hg.): Die Sichtbarkeit der Schrift. München 2006, S. 7–20. Vgl. den Überblick über dieses Forschungsfeld bei Müller-Tamm, Jutta/Schubert, Caroline/Werner, Klaus Ulrich: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Zur Genealogie des Schreibens 23. Paderborn 2018, S. 1–16, hier S. 1 ff. 16 Vgl. zur editionswissenschaftlichen Orientierung auf eine Critique génétique und ihre seit den 1980ern verfolgten interdisziplinären Möglichkeiten in Richtung auf literaturwissenschaftliche Projekte die Einleitung und im Band zusammengestellten Beiträge bei Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. 17 Ein prominentes literarisches Beispiel für diese Reflexion stellt das Klecksmotiv in Goethes ­Wahlverwandtschaften dar: Der Klecks fällt auf den Einladungsbrief, den Eduard und Charlotte an

6 

 Einleitung

Sie stellt die Frage nach der Grenze zwischen Material und Zeichen, ­zwischen Absicht und Zufall, die die Begriffe von Autorschaft und Textualität bestimmen. Motive der Defiguration der Schrift quittieren dabei die tendenzielle Auflösung und gleichzeitige Bestätigung von Grenzen in der bereits in der deutschen Frühromantik betriebenen Schriftreflexion: Dies betrifft die Grenze zwischen sprachlichem Zeichen und Bedeutung und zwischen Sprache bzw. künstlerischem Werk und Natur, die Grenze zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Einbildungskraft und Wirklichkeit. So schillert vor allem der Klecks – als Resultat einer fließenden Bewegung der Tinte über die klare Grenze der Buchstabenfigur hinaus – symbolisch zwischen einer Bestätigung der genannten Grenzen und der Verbildlichung einer Entgrenzungsbewegung: Auf der einen Seite ist er Symbol der Trennung, indem er die Unlesbarkeit des Objekts als vom Subjekt unüberwindbare Barriere und den Verlust von Zeichenhaftigkeit anzeigt. Auf der anderen Seite vermag er eine in der romantischen Ästhetik ersehnte ‚Verursprünglichung‘ des Zeichens zu symbolisieren, bei der die genannten Grenzen aufgehoben sind.18 Nicht zuletzt kann der Klecks ein ‚Verfließen der Grenzen‘, das heißt eine gegenseitige Bedingtheit von Medium und Subjekt in der Schreibgeste verbildlichen. Diese Liminalität,19 die gegenseitige Bedingtheit von Geistigem, Körperlichem und Instrumentellem,

den Hauptmann schreiben; er wird von Eduard selbst flink für ihren Adressaten in einem hinzugefügten Satz als Zeichen ihrer Ungeduld in der Erwartung seiner Ankunft gedeutet. Goethe, Johann Wolfgang von: „Die Wahlverwandtschaften“, in: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin von Sachsen. 1. Abt. Bd. 20. Weimar 1892, S. 26 f. Vgl. hierzu Gabriele Brandstetters Reflexion über die Deutung des Kleckses durch Eduard als authentischen Index einer Regung: Dies stehe exemplarisch für die verschiedenen im Roman vorgeführten (Selbst-)Deutungspraktiken, die sich als ständiges Fehllesen und -schreiben entpuppten. Brandstetter, Gabriele: „Schreibszenen. Briefe in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Hinderer, Walter/Bormann, Manfred (Hg.): Goethe und das Zeitalter der Romantik. Würzburg 2002, S. 193–212, hier S. 201. Siehe auch Böhme, Harmut: „‚Kein wahrer Prophet‘. Das Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften“, in: Greve, Gisela (Hg.): Goethe. Die Wahlverwandtschaften. Tübingen 1999, S. 97–125, hier S. 110. 18 So hat etwa Friedrich Weltzien gezeigt, dass die Klecksographien des Arztes Justinus Kerner (1786–1862), die er in den Jahren 1856/1857 als Text-Bild-Collagen (die teilweise stark durch Zeichnungen bearbeiteten Tusche-Klecksographien sind versehen mit Gedichten) in einem Heft unter dem Titel „Hadesbilder“ zusammenstellte, stark durch die frühromantische Naturphilosophie und die Naturwissenschaft um 1800 beeinflusst sind. Kerner sieht in diesem Zusammenhang die im Austausch von Wahrnehmung und Einbildungskraft entstehenden Bilder als Offenbarungen natürlicher Kräfte an und verarbeitet die Denkfigur der Selbsttätigkeit, die um 1800 innerhalb von Philosophie und Naturwissenschaft verhandelt bzw. durch experimentelle Bildgebungsverfahren erforscht wird. Weltzien, Friedrich: Fleck. Das Bild der Selbsttätigkeit. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft. Göttingen 2011, S. 14 f., S. 73 ff. 19 Bei Erika Fischer-Lichte meint Liminalität die Transformation von Lesenden im Akt der Rezeption des literarischen Textes auf der Schwelle von ‚Wirklichkeit‘ und ‚Imagination‘; diesen Akt begreift die Autorin zugleich als verkörperten Akt der Einverleibung. Ich dehne den Begriff im Kontext der Forschung zur Schreibszene auf den Akt des Schreibens aus, bei dem ein solcher Zustand der Liminalität ebenso durch die Betonung von Performativität im prozessualen wie körperlichen Sinne impliziert ist. Vgl. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 138. Vgl.

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konstituiert sich im prozessual ausgeführten Schreibakt über das Zusammenwirken von Schreibabsicht, Hand, Schreibgerät, Tinte und Papier und den verschiedenen systematischen Ebenen der Schrift als Medium der Sprache.20 Die Schreibszene21 um und ab 1800 bildet dabei zweifellos gerade vor dem Hintergrund der medienrevolutionären Situation seit der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts, in Russland seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, den kontextuellen Rahmen. Die zunehmende Relevanz von Schreiben und Lesen als Alltagsphänomenen begleitet die stetige Potenzierung der Anzahl der literarischen und sonstigen schriftlichen Publikationen, die Ausweitung der Leserschaft, die Entstehung eines literarischen Marktes, die

hierzu ähnliche Begriffe in der Performativitätsdebatte: Etwa das Medium (im Sinne eines „Dritten“ des Zeichens nach Charles S. Peirce) als Erweiterung des Performativitätsbegriffs (Uwe Wirth), der „Schwellenort“ des Körpers im Theater (Hajo Kurzenberger), die „Nahtstelle“ (Sybille Krämer) als Verkörperung des Sinns im Nicht-Sinnhaften: Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800 (Wieland, Goethe, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann). München 2008, S. 65; Kurzenberger, Hajo: „Die theatrale Funktion szenischer Texte“, in: Ders. (Hg.): Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text. Hildesheim 1998, S. 234–249, hier S. 244; Krämer, Sybille: „Sprache – Stimme – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 323–346, hier S. 345. 20 Vgl. zur Komplexität des Zusammenwirkens verschiedener Faktoren auf „anderen Wirklichkeitsebene[n]“ in der Schreibgeste: Flusser, Vilém: „Die Geste des Schreibens“, in: Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik, S. 261–268, hier S. 261 f. Roland Barthes hat in verschiedenen Aufsätzen sein Verständnis der Performativität der Autorschaft gerade über den Akt des Schreibens dargelegt, bei dem der Autor als Subjekt erst über die Geste des Schreibens entstehe. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. Aus dem Französischen von Matías Martínez, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt  a. M. 2002, S.  104–110, hier S.  105; Ders.: Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift. Französisch – Deutsch. Übers. v. Hanns-Horst Henschen. Mit einem Nachwort v. Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006, S. 7. Vgl. zu dem hier beschriebenen „Gestus des Schreibens“ (S. 50 f.) das Werk von Leroi-Gourhan, André: La Geste et la parole. Paris 1964, S.  270. Vgl. hierzu Rüdiger Campes Begriff der Schreibszene als „nichtstabiles Ensemble von Sprache, Instrumentalität und Geste“, innerhalb dessen „die Spur des Übergehens“ zwischen Körper und Sprache, Gerät und Intention zu verfolgen sei. Gerade die Literatur, so Campe, bewege durch „Schreib-Szenen“ im eigenen Medium Autor, Leser und Kritiker zwischen diesen Unterscheidungen hin und her: Campe, Rüdiger: „Die Schreibszene, Schreiben“, in: Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik, S. 269–282, hier S. 270 f. 21 Ausgehend von Rüdiger Campes genanntem Aufsatz Die Schreibszene, Schreiben geben Davide Giuriato, Martin Stingelin und Sandro Zanetti seit 2004 im Wilhelm Fink Verlag die Reihe „Zur Genealogie des Schreibens“ heraus: Stingelin, Martin (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum“, Giuriato, Davide (Hg.): „Schreibkugel ist ein Ding gleich mir: von Eisen“. Schreibszenen im Zeitalter der Typoskripte. Zur Genealogie des Schreibens 2. München 2005; Ders. (Hg.): „System ohne General“. Schreibszenen im digitalen Zeitalter. Zur Genealogie des Schreibens 3. München 2006. Die Reihe ist seither sowohl mit Sammelbänden als auch Monographien zu allgemeinen Aspekten der Schreibszene im diachronen Wandel als auch zu einzelnen Autoren in dem von den ersten Bänden der Reihe gesteckten Zeitrahmen fortgesetzt worden.

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zunehmende Wichtigkeit der Literatur als Medium der Unterhaltung.22 Diese Vorgänge rufen ein Kanonisierungsbedürfnis, den Wunsch nach einer Ordnung dieser vermeintlichen Masse des Textes und eine Polemik gegen diese hervor, die auch von einer Ablehnung bestimmter Leseverhalten begleitet wird. Diese Polemik gegen das vermeintlich Formlose im Zusammenhang mit mediengeschichtlich bedingten literarischen Verfahren und literatursoziologisch hervorgerufenen Erscheinungen beeinflusst und durchdringt die philosophisch-ästhetische Auseinandersetzung mit der Form. Diese wird damit in einen diskursiven Zusammenhang mit Prozessen der Figuration der Schrift – des Schreibens und Druckens – und ihrer Rezeption gebracht, der in dieser Arbeit untersucht wird. Obwohl die gesellschaftlichen Voraussetzungen, die diese Entwicklung in Deutschland besitzt, in Russland freilich anders gelagert sind – eine emanzipierte und ähnlich gesellschaftstragende Schicht des Bürgertums hat sich in Russland in dieser Zeit nicht entwickeln können –, muss doch die starke Entwicklung des Buchmarktes seit dem späten achtzehnten Jahrhundert auch hier hervorgehoben werden. Es sind dabei nicht nur Adlige, die in jener Zeit Akteure, Produzenten und Rezipienten eines sich etablierenden und entwickelnden Literaturmarktes werden, sondern auch Kaufleute, das Stadtbürgertum und beim Adel Angestellte.23 Auch hier steigen die Publikationen literarischer Texte stetig seit dem späten achtzehnten Jahrhundert an, die Herausgabe, das Drucken und Verkaufen von Büchern wird zur Profession sowohl von Personen adliger Abkunft als auch aus Kaufmannsfamilien.24 Die Tätigkeiten des Schreibens und Lesens werden

22 Vgl. Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, S. 41 ff. 23 Rejtblat, Abram Il’ič: Ot Bovy k Bal’montu i drugie raboty po istoričeskoj sociologii russkoj literatury. Moskva 2009, S.  16. Zu Anteilen der Leserschaft an der Gesamtbevölkerung bzw. an Stadtund Landbevölkerung vgl. ebd., S.  17. Für die langsamere Ausbreitung des Lesens in Russland im Vergleich zu westeuropäischen Ländern ist laut Rejtblat einerseits die Tatsache verantwortlich, dass in Russland Modernisierungsprozesse durch eine geringe soziale Durchlässigkeit gebremst wurden, andererseits politische Querelen, die eine aktivere Bemühung um die Alphabetisierung der Bevölkerung verhinderten. Die Verbreitung des Buches in Russland sei zudem lange eine „von oben“ gelenkte Bewegung gewesen (durch die Regierung, die Kirche, später durch soziale Institutionen). Erst ab den 1770er Jahren wurde in Rußland die flächendeckende Gründung von Volksschulen in den Gouvernements, die Ausbildung von Lehrern und das Verfassen von Schulbüchern durch Katharina II. vorangetrieben. Vgl. Smagina, G.: „Die Schulreform Katharinas II. Idee und Realisierung“, in: Scharf, Claus (Hg.): Katharina II., Rußland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung. Mainz 2001, S. 479–503. 24 Vgl. Muratov, M. V.: Knižnoe delo v Rossii v XIX i XX vekach. Očerk istorii knigoizdatel’stva i knigotorgovli 1800–1917 gody. Moskva/Leningrad 1931, S. 28 ff., vgl. zu Publikationszahlen ab dem ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts S. 60 ff., S. 67. Etwa schreibt schon Nikolaj Karamzin 1802 in seinem Aufsatz O knižnoj torgovle i ljubvi k čteniju v Rossii (Über den Buchhandel und die Liebe zum Lesen in Russland) ein Loblied auf den Moskauer Buchhändler und Verleger Nikolaj Ivanovič Novikov und berichtet von der stetig ansteigenden Anzahl der Leserschaft, der Buchhändler sowie insgesamt von einem Anstieg der Nachfrage nach Zeitungen und belletristischer Literatur. Karamzin, Nikolaj Michailovič: „O knižnoj torgovle i ljubvi k čteniju v Rossii“, in: Ders.: Izbrannye sočinenija. 2 Bde.

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bei der Einwohnerschaft mindestens der Städte Petersburg und Moskau zu zunehmend alltäglichen Phänomenen. Auch hier kommt es zu einer in Publizistik und Literatur geführten polemischen Auseinandersetzung über die Kategorien der Form, des Verhältnisses von Kanon und vermeintlich trivialer Literatur und des Marktes.25 Dabei wird ganz ähnlich wie im deutschen Diskurs die Bewegung der Zirkulation zwischen Texten und Subjekten als utopischer Ausweg aus der Negativität der Formlosigkeit entworfen.26 Zweitens soll gezeigt werden, dass die Schriftpoetiken E. T. A. Hoffmanns und Nikolaj Gogol’s im erläuterten größeren Kontext einer romantischen Schriftreflexion stehen. Um dieses letztgenannte Ziel zu erreichen, stellt die Arbeit den folgenden Teilen zu Hoffmann und Gogol’ eine Untersuchung der in der deutschen Frühromantik vor allem bei Friedrich Schlegel und Novalis eingeführten Begriffe Figur, Arabeske und Hieroglyphe voran. Diese Untersuchung erfasst deren Reflexion über die Schrift im zeitgenössischen mediengeschichtlichen Kontext. Unter den für das Kapitel gewählten Oberbegriffen der Figur und der Defiguration wird die hierbei zweiseitige Reflexion der Schrift erfasst, die sich auch in den Begriffen von Hieroglyphe und Arabeske und ihrem Verhältnis zu Konzepten des Buchstabens, der Makulatur und der Tintenkleckserei niederschlägt: Diese Schriftreflexion ist einerseits durch die Projektion einer Möglichkeit der Offenbarung des Unendlichen getragen, auf der anderen Seite stellt sie diese Möglichkeit als immerwährende Projektion infrage. Die Figur meint (als Begriff also auch für Hieroglyphe und Arabeske) den Ausdruck einer sich ankündigenden Einheit von Subjekt und Natur in einer einheitlichen, visuellen (dabei nicht ikonischen) Gestalt. Die Defiguration meint den Ausdruck einer ständigen Beschränkung und den Bruch dieser Einheit im Verlust der Gestalt, die sich in ständigem Wandel immerfort entzieht, als natürliche Schrift nie ganz verständlich wird. Die Positivität des Schöpferischen wird im romantischen Diskurs jedoch gegenüber ihrem Negativ der Beschränkung emphatisch betont. Sie bleibt das Ziel, in dem der Verlust der Einheit in Richtung auf die Wiedererlangung der Einheit überwunden werden soll.

Bd. 2: Stichotvorenija. Kritika. Publicistika. Glavy iz istorii gosudarstva rossijskogo. Hg. v. B. Berkov u. G. Makogonenko. Moskva/Leningrad 1964, S. 176–180. 25 Die Autoren Gric, Trenin und Nikitin nennen in ihrer Monographie Slovesnost’ i kommercija (Literatur und Handel) den Buchmarkt, der sich bereits zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts in den Städten etabliert hätte, einen „Massenmarkt“ und die im neunzehnten Jahrhundert entstehende Polemik gegen diesen eine Reaktion der Literaten und Ästhetiker, die ihre Schriften als „Hochliteratur“ etablieren wollten: Diese sei aber gegenüber den sich bereits etabliert habenden massentauglichen Schriften in der Unterzahl gewesen. Vgl. Gric, Theodor S./Trenin, V./Nikitin, M.: Slovesnost’ i kommercija. Knižnaja lavka A. F. Smirdina, Moskva 1929, S. 12, S. 18, S. 25. Hier entstand auch die abfällige Bezeichnung lubočnaja literatura („Lubok-Literatur“) für eine solche „Trivialliteratur“. (Siehe zu diesen Zusammenhängen Teil III, Kap. 2.) 26 Siehe hier vor allem das Kapitel 2.3 in Teil III, in dem ein entsprechender Entwurf Nikolaj Gogol’s zur „Bewegung der Zeitschriftenliteratur“ vorgestellt wird.

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Durch diese Position verbindet diese Studie dezidiert ältere Forschungsmeinungen zur Sprach- und Schriftreflexion der Frühromantiker mit den Ansätzen einer postmodern geprägten Forschung: Einerseits wurde in der älteren Forschung festgestellt, die Frühromantiker folgten einem Bedürfnis nach einer metaphysischen Einheit, die in einer Poesie des Einklangs von Subjekt, Sprachzeichen und Natur herbeigerufen werde.27 Dass diese Poesie des Einklangs von Hinweisen auf die eigene Sehnsucht und Hoffnung bestimmt ist, führte später zur These, gerade die Unmöglichkeit und Unerreichbarkeit dieses Ideals einer Einheit von Subjekt, Sprache und Natur stehe im Zentrum des romantischen Bewusstseins. Dabei herrschten dieser These zufolge Sprachkritik, der Verlust von Identität und die Selbstbezüglichkeit einer künstlerischen Form, die jegliche Anbindung an ein metaphysisches Zentrum eingebüßt habe.28 Im Kontext dieser Ansicht wurde der dekonstruktive Ansatz der Postmoderne als Vorprägung in der deutschen Frühromantik wiederentdeckt.29 Diese Lesart der frühromantischen Philosophie und Poesie übersieht gezielt die Emphase, die ein Hoffen auf eine zukünftige Wiedererlangung einer Einheit in ihnen erfährt.30

27 Vgl. Fiesel, Eva: Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Hildesheim/New York 1927, S.  2 ff.; vgl. Sørensen, Bengt Algot: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18.  Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963, siehe hier v. a. die Kapitel „Der Symbolismus der naturmystischen Tradition und der Romantik“ (S. 133–216) und „Friedrich Schlegels ‚Allegorie des Unendlichen‘“ (S.  230–247); vgl. Bormann, Alexander: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff. Berlin 1968. 28 Vor diesem Hintergrund wird auch der Begriff der Defiguration in der vorliegenden Studie in Differenz zu einem Begriff der Defiguration als Konstatierung ständiger sprachlicher Selbstnegation gebraucht, wie er etwa von Paul de Man im Kontext seiner Analyse romantischen Literatur eingeführt wurde. Defiguration meint bei de Man die Selbstvergessenheit der Sprache über ihre Arbitrarität und fehlende Referentialität. Das Bewusstsein darüber wäre demnach ebenfalls durch Negativität geprägt. Vgl. de Man, Paul: „Shelley disfigured“, in: Ders.: Rhetoric of Romanticism. New York 1984, S. 93–124, hier S. 119 ff. 29 Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M. 1987 (siehe hier v. a. das Unterkapitel „Die frühromantische Semontologie als Vorwegnahme Derridas“, S. 115–130), Behler, Ernst: „Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens. Hermeneutik oder Dekonstruktion?“, in: Ders./Hörisch, Jochen (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. München 1987, S. 141–160, de Man, Paul: „Rhetorik der Zeitlichkeit“, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. v. Christoph Menke. Aus dem Amerik. v. Jürgen Blasius. Frankfurt a. M. 1993, S. 83–130. Hierzu passt denn auch der postmoderne Begriff der Blindheit, den de Man einführt: Lesen hieße immer, die Augen vor der Unverständlichkeit und Selbstdurchkreuzung des Sinns im Text zu verschließen: vgl. de Man, Paul: „Rhetorik der Blindheit. Jacques Derridas Rousseau-Interpretation“, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen, S. 185–230, hier S. 188 f. Philippe Lacoue-Labarthe und Jacques Nancy gehen hier kritischer vor, indem sie betonen, dass die vermeintliche „Aktualität der Romantik“ eine Erkenntnis sei, die aus einer (anscheinend verführerischen) Falle herrühre: Lacoue-Labarthe, Philippe/Nancy, Jacques: Das Literarisch-Absolute. Texte und Theorie der Jenaer Frühromantik. Aus dem Frz. v. Johannes Kleinbeck. Wien 2016, S. 34. 30 Ich schließe mich damit an die Position Melanie Maria Lörkes an, die in ihrer Studie zu Grenzphänomenen in der romantischen Semiotik ebendieser Spannung über die Konstatierung eines liminalen

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Die Defiguration, als Auflösung der Gestalt, ist dem Begriff der Figur – als „LebendBewegtes, Unvollendetes und Spielendes“31 – dabei bereits inhärent. Dennoch deutet die Figur auf die Entstehung einer einheitlichen Gestalt, die sich in ihr ankündigt.32 Auch die der Hieroglyphe und der Arabeske in dieser Studie zur Seite gestellten Begriffe Buchstabe, Klecks und Makulatur beschreiben ein spannungsvolles Verhältnis zu diesen. Als Motive und Begriffe der Endlichkeit und Arbitrarität der Schrift und als Ausdruck einer Trennung von Subjekt und Natur bilden sie den Ausgangspunkt für die Überführung in einen positiven Begriff ursprünglicher, natürlicher Schrift – und zugleich ihren Spiegel. So kann der Klecks oder der Fetzen einer Makulatur die Ambivalenz der tief bedeutsamen „Verwirrung“ arabesker Form einerseits ironisch reflektieren, andererseits aber gar selbst zum Symbol einer solchen arabesken Form werden. Die Unlesbarkeit der dunklen und verwirrten Form ist in sich selbst zutiefst ambivalent: Sie ist auf der einen Seite negativ, als immerwährende Beschränkung gedacht, auf der anderen Seite positiv, als Möglichkeit einer mysteriös angedeuteten Verbindung von schöpferischem Subjekt und Objekt. Treffend benennt das prospektive Potential des Flecks, wenn auch nicht auf die Frühromantik, so aber auf klecksografische Experimente der Romantik bezogen, Georges Didi-Huberman als ein Feld der Figurabilität, in dem die visuellen Spuren so lange wie möglich – und wenn möglich für immer – in einem Zustand gehalten werden, in dem ihre Figürlichkeit noch potentiell und

Zeichenbegriffs in der Frühromantik nachgeht. Lörke betont in ihrer Arbeit, dass sie eine Vereinigung der poststrukturalistischen Lesart und älterer Lesarten der Frühromantik über die Anerkenntnis ihrer „liminalen Semiotik“ verfolge. Hierbei wird die Spannung zwischen einer emphatischen Verarbeitung von Ursprach- und Urschrifttheorien und einer Betonung arbiträrer Sprachlichkeit und Schriftlichkeit in der frühromantischen Semiotik herausgearbeitet. Lörke: Liminal Semiotics, S. 59 (Anm. 16). 31 Auerbach, Erich: „figura“, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern 1967, S. 55–92, hier S. 55. Vgl. Brandstetter, Gabriele/Peters, Sybille: Einleitung, in: Dies. (Hg.): De figura. Rhetorik – Bewegung – Gestalt. München 2002, S. 7–32, hier S. 8 ff.; vgl. Müller-Nielaba, Daniel/Schumacher, Yves/Steier, Christoph: „Figur/a/tion. Möglichkeiten einer Figurologie im Zeichen E. T. A. Hoffmanns“, in: Dies. (Hg.): Figur – Figura – Figuration. E. T. A. Hoffmann. Würzburg 2011, S. 7–14, hier. S. 7–11; vgl. Onuki, Atsuko/Pekar, Thomas: Einführung, in: Dies. (Hg.): Figuration – Defiguration. Beiträge zur transkulturellen Forschung. München 2006, S. 7–16, hier S. 10. 32 Hiermit besitzt die frühromantische Poetik eine eschatologische Dimension, die auch an das begriffsgeschichtliche Derivat der figura im Kontext der christlichen Figuraldeutung anknüpft. Vgl. Auerbach: „figura“, S. 65–92. Vgl. Striedter, Jurij: Die Fragmente des Novalis als „Präfigurationen“ seiner Dichtung. München 1985, S. 198 ff. Dass die eschatologische Dimension des romantischen Figur-Verständnisses auch in der russischen Literatur der Romantik von Bedeutung war, zeigt die auch hier oft verfolgte Fragmentästhetik des „Unvollendet-Vollendeten“. Vgl. Zejfert, E. I.: Neizvestnye žanry „zolotogo veka“ russkoj poėzii. Romantičeskij otryvok. Moskva 2014, v. a. S.  145 f. Hierbei konnten sich die Literaten auf die auch in der russisch-orthodoxen Kirche fundamentale Wichtigkeit der Heilslehre beziehen. Vgl. Felmy, Karl Christian: Die orthodoxe Theologie der Gegenwart. Eine Einführung. Darmstadt 1990, hier v. a. das Kapitel: „ ‚… und das Leben der zukünftigen Welt‘ – Der eschatologische Grundzug der orthodoxen Theologie“, S. 240–246. Vgl. hierzu v. a. die Kapitel 3 und 4 in Teil III dieser Arbeit.

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nicht tatsächlich, fixiert, lesbar ist. Sie erzeugt also ein Feld der Gewärtigung, das Erlebnis, das Unerwartete zu erwarten, eine Form auftauchen zu sehen, die, eben weil sie instabil ist, zwangsläufig überrascht, beunruhigt, uns anblickt. Wie eine dunkle Prophezeiung, die auf ihre Deutung wartet, in einem Chaos, das kurz davor verharrt, Gestalt anzunehmen.33

Das Erlebnis, eine instabile Form zu erblicken, ist selbst durch eine Erwartung vorgeprägt. Indem sich die Form also zeigt, „blickt“ sie uns schon „an“, ist Ausdruck eines Austauschs mit uns in der Erwartung des Entstehens einer Gestalt, des Eintritts des „Prophezeiten“. Die Figur ist hier zirkuläres Zusammenspiel aus der Erwartung einer Form, dem Erlebnis der Begegnung mit dem Erwartet-Unerwarteten als Beginn der Formung und der Erwartung seiner zukünftigen Entwicklung zur Form.34 Eine bloße „Unform“ ist das hier benannte „Chaos“ daher nicht.35 Die Erfüllung der Form drückt sich in ihrer „Prophezeiung“ und der Erwartung ihrer Deutung bereits aus. Dieses Zusammenspiel aus Innerlichkeit und Visualität ist in der Romantik verflochten mit der Vorstellung eines „Mediensubjekts“,36 das sich maßgeblich über den durch die Einbildungskraft geleiteten Bezug zum Medium der Schrift konstituiert. Die hieran gebundene Idee einer authentisch über dieses Medium vermittelbaren und sich über dieses überhaupt konstituierenden Innerlichkeit prägt seit dem achtzehnten Jahrhundert die Subjektvorstellung im deutschen Diskurs in entscheidender Weise;37 auch im russischen Diskurs der Empfindsamkeit ist dies nachgewiesen

33 Didi-Huberman, Georges: „Geschenk des Papiers, Geschenk des Gesichts“, in: Ders.: phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern. Köln 2001, S. 174–190, hier S. 176. 34 Vgl. zum generischen Potential der Kritzelei als Phänomen zwischen Schrift und Bild Driesen, Christian: Theorie der Kritzelei. Wien 2016, S. 11. 35 Siehe den bei Jan Niklas Howe hergestellten Bezug der Arabeske der frühromantischen Theorie zum „Hässlichen, Bösen, Phantastischen und Unheimlichen“ in der romantischen Literatur, der gerade die Spannung der Arabeske zwischen Form und Formlosigkeit nicht berücksichtigt. Die Arabeske und die Groteske stehen bei Howe als Begriffe der frühromantischen Theorie im Kontext der „Häufung monströser Formen und Unformen“, die „mit einem nachlassenden Einfluss der Regelpoetik und einer steigenden Affinität zur experimentellen Form [korrespondiert].“ Damit wird jedoch im Begriff der Arabeske gerade dennoch nicht fallengelassene Reflexionskategorie und damit die Anbindung an einen Formbegriff sowie überhaupt die in der vorliegenden Studie mit dem Begriff der Figur bezeichnete Projektions- und Prospektionsdynamik nicht berücksichtigt. Howe, Jan Niklas: Monstrosität. Abweichungen in Literatur und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Berlin 2016, S. 4. 36 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Zur Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2., durchges. Aufl. München 2003, S. 13. 37 Die diskursive Etablierung der Zirkulationsbewegung innerlich erlebter, seelischer Regungen und Empfindungen über Schrift korrespondiert zugleich einer Emanzipation und zunehmenden gesellschaftlichen Partizipation und Einflussnahme des Bürgertums, die mit dem aufklärerischen Bildungsprojekt und der genannten Medienrevolution einhergehen. Engelsing, Rolf: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800. Stuttgart 1974, S. 121 ff.

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worden.38 Einem „Mediensubjekt“ gelingt eine Selbsterfahrung und -konstituierung über die Mitteilung von Innerlichkeit in der Begegnung mit sich selbst beim Lesen bzw. beim Akt des Schreibens. Das ästhetische Vermögen der Einbildungskraft wird am einsamen Rezeptions- und Produktionsakt der Schrift aktiviert und kultiviert.39 Ihr Potential zur Anregung einer bestätigenden Selbsterfahrung des Subjekts steht jedoch zugleich immer wieder auf dem Prüfstand, denn die Eigenständigkeit der Einbildungskraft wird auch immer wieder als riskant eingestuft.40 Gerade diese Eigenbzw. Selbsttätigkeit der Einbildungskraft ist es, die dann in der Romantik – oftmals unter dem Begriff der „Fantasie“ –41 gelobt und häufig als Ausdruck eines Subjekt und Natur durchwaltenden, alles einenden, göttlichen schöpferischen Prinzips betrachtet wird.42 Die Vorstellung einer Zirkulationsbewegung der Sinnerschließung,

38 Georg Witte hat den in Albrecht Koschorkes Studie Körperströme und Schriftverkehr hauptsächlich an deutschen Quellen aufgezeigten sublimierten Imaginationsprozess, der über schriftliche Kommunikation evoziert wird, an verschiedenen Texten des russischen Sentimentalismus untersucht (u. a. an Aleksandr N. Radiščevs Dnevnik odnoj nedeli [um 1790] und Putešestvie iz Peterburga v Moskvu [1790] und Nikolaj M. Karamzins Pis’ma russkogo putešestvennika [1790–1791]). Witte, Georg: „Bewegte und bewegende Briefe. Schriftbeschleunigung als Imaginationstechnik der Empfindsamen“, in: Arns, Inke u. a. (Hg.): Kinetographien. Bielefeld 2004, S.  413–452. Vgl. Lazarčuk, R. M.: Družeskoe pis’mo vtoroj poloviny XIII veka kak javlenie literatury. Avtoreferat dissertacii na soiskanie učenoj stepeni kandidata filologičeskich nauk. Leningrad 1972. 39 Diese mediale Zirkulationsvorstellung wird durch einen diskursiven Umbau des Körpers vom humoralen Leib zum nervenstromgeleiteten Organismus begleitet. Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, Kapitel I (S. 15–86), Kapitel II (S. 87–168); vgl. ebd., S. 195. 40 Vgl. die Übersicht über die im achtzehnten Jahrhundert geführte Diskussion über die geformte bzw. ungeformte Einbildungskraft, deren Formung wiederum als zur Formung des Subjekts notwendiger Vorgang postuliert wird, bei Schulte-Sasse, Jochen: „Einbildungskraft/Imagination“, in: Barck, Karlheinz et al.: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch. 7 Bde. Bd.  2. Stuttgart 2001, S. 88–120, hier S. 105–109; vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 275 f. Siehe spezifisch zum russischen Diskurs etwa den Aufsatz zur Einbildungskraft (voobraženie) von Dmitrij Alekseevič Men’šikov in Adol’f A. Pljušars Ėnciklopedičeskij leksikon (1838), der die Selbsttätigkeit (samodejatel’nost’) der Einbildungskraft als Kraft des Geistes einführt, die erkenntnisfördernd sei und mit der Vernunft zusammenwirke. Sie sei zudem die Kraft, die Ideen des Guten und Reinen, die in der Natur so nicht vorlägen, in sinnliche Gestalten hülle und zu deren Darstellung im Feld der Künste verhelfe. Auch hier wird die Gefahr betont, die eine Emanzipation der Einbildungs- von der Erkenntniskraft mit sich trüge: Sie könne den Geist verwirren und eine Ununterscheidbarkeit von Gegenständen der Einbildungskraft und Wirklichem hervorrufen. Men’šikov, Dmitrij Alekseevič: „Voobraženie“, in: Ėnciklopedičeskij leksikon. Bd. 12. V tipografii A. Pljušara. Sanktpeterburg 1838, S. 2 f. 41 Vgl. Schulte-Sasse: „Einbildungskraft/Imagination“, S. 115–117. 42 Die Philosophie der Frühromantiker fußt bei ihrer kritischen Rezeption der Bewusstseinsphilosophie nach Kant und Fichte auf dem Gedanken der Spaltung zwischen Ich und Welt und des Ichs selbst in seinem Bewusstsein; dessen konstituierende Selbstreflexion wird jedoch als Basis eines Denkens der Unendlichkeit der Reflexion genommen, die als absolute Einheit von Selbst und Welt gedacht wird (vgl. Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werk – Wirkung. 2. Aufl. München 2000, S. 50). Vgl. hierzu zudem folgende Zusammenfassung: „[Friedrich] Schlegel akzeptiert zwar die Argumente der kantischen Erkenntniskritik und des subjektiven Idealismus, will aber auf metaphysische

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die über die Beziehung des Subjekts zum Zeichen hervorgerufen wird und im empfindsamen Kontext entscheidend mit Phantasmen einer Innerlichkeitsübertragung und Authentizitätserfahrung verknüpft ist, steht mit den romantischen hermeneutischen Vorstellungen in einem engen Zusammenhang.43 Der Gedanke einer Zirkulation zwischen Subjekt und Zeichen über das Instrument der Einbildungskraft wird innerhalb des frühromantischen Diskurses mit einer Problematisierung der Subjekt-Objekt-Beziehung verknüpft, die einerseits mystifiziert und als „magisch“ innerlich-einende Verbindung betrachtet wird.44 Auf der anderen Seite wird sie als Beziehung der Trennung und Äußerlichkeit eingeschätzt. Hier fällt häufig die Wendung „toter Buchstabe“, die wie auch andere negative Begriffe des Buchstabens zugleich eine Äußerlichkeit des Wortsinns meint, dessen tiefere Bedeutung nicht im Zusammenspiel mit dem Geist erweckt wird.45 Bedingt und voneinander abhängig sind im schriftreflexiven romantischen Diskurs also die erschwerte Verständlichkeit, die Bewegtheit und das Unabgeschlossene der arabesken bzw. hieroglyphischen Schrift und die Starre, die Flachheit und Arbitrarität des endlichen Buchstabens, des Flecks, die undifferenzierte Masse der Makulatur. Sowohl diese mediengeschichtlich bedingten und zudem formästhetisch sowie genrekritisch beeinflussten Valenzen der Bilder und Begriffe von Kleckserei und Makulatur als auch ihre Negativität als Symbole der Spaltung und Trennung von einem ursprünglichen Ort spielen also in diesem Zusammenhang eine zentrale Rolle.46 Die Aufwertung verleiht der Defiguration der Schrift sowie einem negativen Begriff des Buchstabens die Positivität des Einheitsgedankens. Sie stellen eine Offenbarung des Unendlichen im Medium der Literatur in Aussicht: Etwa wird aus der „Bücherseuche“47 in Novalis’

­ ussagen über ein Sein außerhalb der Grenze des Bewusstseins nicht verzichten. […] Ähnlich wie A Novalis hält Schlegel an Ideen der traditionellen Metaphysik wie Gott, Totalität und Freiheit fest, bindet diese aber an ein subjektives Gefühl, das sich weder mit dem Verstand erfassen, noch intersubjektiv kommunizieren lässt.“ (Löwe, Matthias: „Universalpoesie“, in: Endres, Johannes [Hg.]: Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 331–333, hier S. 332). Vgl. hierzu grundlegend Behler, Ernst: „Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie“, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft. Jg. 1, S. 211–252; Feger, Hans: Poetische Vernunft. Moral und Ästhetik im Deutschen Idealismus. Stuttgart 2007, S. 293–296. Siehe zur Kontextualisierung der hiermit im Zusammenhang stehenden naturphilosophischen Annahme „einer umfassenden Analogie und Kongruenz von Subjekt und Objekt, von Individuum und dem als Organismus aufgefaßten Naturganzen“ im Zusammenhang mit der frühen Sinnesphysiologie des neunzehnten Jahrhunderts: Müller-Tamm, Jutta: Abstraktion als Einfühlung. Zur Denkfigur der Projektion in Psychophysiologie, Kulturtheorie, Ästhetik und Literatur der frühen Moderne. Freiburg im Breisgau 2005, S. 84. 43 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 215; vgl. Bolz, Norbert W.: „Der Geist und die Buchstaben. Friedrich Schlegels hermeneutische Postulate“, in: Nassen, Ulrich: Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn u. a. 1979, S. 79–112, S. 88. 44 Ebd., S. 86. 45 Ebd., S. 85 f., S. 88. 46 Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg/München 1971, S. 87. 47 Novalis: „Dialogen“, in: N II, S. 661–671, hier S. 661.

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Dialogen eine Großfamilie des Geistes; die in Friedrich Schlegels Brief über den Roman als verachtenswert angeführte sentimentale Literatur und ihre Masse stellen einerseits den Kontrast zur Arabeske dar – zugleich begründen sie aber den Entstehungskontext und ihre enge Verwandtschaft zu dieser, und damit deren eigene Marginalität. Eben dieses ambivalente Verhältnis von Schriftkritik und Schriftutopie transportieren die Begriffe Figur, Hieroglyphe und Arabeske – sie bieten damit eine implizite Voraussetzung für eine an der Materialität der Schrift sich entzündende Ästhetik: Makulatur, Klecks und weitere dezidierte Motive schriftlicher Materialität treten sowohl kritisch als auch humoristisch und als (selbst-)ironischer Spiegel dieser frühromantischen Schriftreflexion in literarische Texte ein. Der Klecks und die Makulatur sind in diesem Zusammenhang, auch im weiteren Kontext humoristischer Literatur um 1800, Manifest der Sinnlichkeit des Schreibens und Lesens. Zugleich fungieren sie als symbolische (Selbst-)Entlarvung der Banalität einer Philosophie des Unendlichen, die doch immer wieder am Endlichen stehenbleibt. Eben diese Gegenseitigkeit von Schriftkritik und Schriftutopie tragen die in dieser Studie untersuchten Motive und Phänomene der Defiguration der Schrift bei den untersuchten Autoren E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’ aus. Die Studie geht der sich aus dieser gegenseitigen Abhängigkeit von Positivität und Negativität ergebenden inneren Widersprüchlichkeit nach, die die Defiguration der Schrift nicht nur zum Gegenbild von Figur, Arabeske und Hieroglyphe, sondern auch zu ihrer Verwandten macht. Diese Widersprüchlichkeit der frühromantischen Schriftreflexion thematisiert noch eher implizit die Bedingtheit von Produktion und Rezeption der Literatur durch die Materialität der Schrift. Sowohl bei E. T. A. Hoffmann als auch bei Nikolaj Gogol’ entzündet sich eine Schriftpoetik eben an dieser implizit nahegelegten Thematisierung schriftlicher Materialität und ihrer Ästhetisierung. Dabei wird nicht nur im Rahmen von Federprobe und (kalligraphischer) Schreibübung, von Schrift-Bild-Kombinationen oder über das Beschreiben, Zerreißen und Bewahren von Papierfetzen die Aisthetik von Schreiben und Schrift betont. Sie steht auch in einem engen Bezug zur Figur als einem literarischen Formbegriff, den die Autoren in ihren literarischen Texten ebenso über die Defiguration der Schrift als Motiv verhandeln. In diesem Kontext lässt sich von materialästhetischen Tendenzen sprechen:48 Diese konstituieren sich aus dem engen Bezug materiell-gegenständlicher Erscheinungsweisen des Kleckses, des beschriebenen Fetzens, der Schreibfehler zu ihrem Auftreten als literarische Motive. Sie thematisieren die Dynamik von Absicht und Zufälligkeit des literarischen Schreibakts

48 Vgl. zum Begriff der Materialästhetik die Studie Klaus Müller-Willes zu Hans Christian Andersen: Müller-Wille meint mit dem Begriff eine Ästhetik, die sich dezidiert über materielle Produktionsbedingungen konstituiert, den materiellen Produktionsprozess also zum zentralen Moment der künstlerischen Poetik erhebt. Müller-Wille, Klaus: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn 2017, S. 17.

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auch dezidiert in Hinsicht auf die Aisthetik des Materials.49 Insofern ist ein Ansatz gefordert, der die Untersuchung ästhetischer Formbegriffe im Werk beider Autoren mit deren Bezügen zu den materiellen Bedingungen ihrer Autortätigkeit verbindet und deren Relevanz für ihre auf die Schrift und das Schreiben bezogene Poetik erweist. Diese Studie erzielt vor diesem Hintergrund drittens den Erweis einer werkumgreifenden Relevanz der bisher bei beiden Autoren nur punktuell untersuchten Schriftpoetik in ihren polyvalenten Erscheinungen. Dieses dritte Anliegen der Arbeit umfasst dabei zudem die Hypothese, dass sowohl bei Hoffmann als auch bei Gogol’ diese Auseinandersetzung als eine Entwicklung im Werk gezeigt werden kann, die sich als Verarbeitung der Ambivalenz des (früh-)romantischen Schriftverständnisses erweist. Die Arbeit legt mit dieser Untersuchung zweier Autoren der europäischen Romantik einerseits dar, dass die romantische Problematisierung des Verhältnisses von Subjekt, Einbildungskraft, der Schrift und ihrer Repräsentation – ob diese in einem arbiträren oder vielmehr essentiellen Verhältnis zum Zeichen steht und diesem damit einen Offenbarungscharakter zueignet – im gesamteuropäischen Zusammenhang der Romantik betrachtet werden muss. Zudem zeigen die hier untersuchten Werke späterer Romantiker, dass sich die Problematik einer bereits in der deutschen Frühromantik entworfenen ambivalenten Schriftreflexion entscheidend verschärft und sowohl humoristisch als auch existentiell-kritisch ausgetragen wird. Die Materialität von Schreiben und Schrift hat vor diesem Hintergrund bei beiden untersuchten Autoren sowohl eine epistemische als auch ontologische Wertigkeit, die immer wieder geprüft wird. Es steht dabei vieles zur Debatte: In welchem Verhältnis stehen die materielle – tast- und sichtbare – Existenz der Schrift und die ihr wiederum zugeschriebene Bedeutung? Ist die Schrift, als zeichenhaftes materielles Objekt, Ausdruck und Manifest einer Trennung des Subjekts von jeglicher Wahrheit oder vielmehr Ausdruck und Ermöglichung ihrer Erkenntnis? In der vermeintlichen Möglichkeit einer Befreiung der Einbildungskraft in der Hingabe des Subjekts an die Schrift droht

49 Hierbei tritt (explizit etwa durch intermediale Text-Bild-Bezüge, wie sie etwa im folgenden Kapitel  2.2 in Teil II analysiert werden) über die mit dem Diskurs um die Selbsttätigkeit verbundene Medienreflexion die Anlage eines Bezugs von Literatur und Malerei zutage: Die Literatur reflektiert über die Sichtbarkeit ihres Mediums und dessen Gestalthaftigkeit, die sie mit der Malerei eint. Hinzu kommt die Reflexion über die Selbsttätigkeit der Formung in der Natur, deren Diskurs sich in die Reflexion der Literatur über ihr Medium einschreibt. Die Klecksographie wird wiederum als bildgebendes Zufallsverfahren und Technik der bildenden Kunst sowohl im Zusammenhang mit diesem Diskurs der Selbsttätigkeit als auch mit einem starken Bezug zum literarischen Schreiben als medialer Praktik entwickelt. Diesen letzteren Aspekt zeigt Friedrich Weltzien in seiner Monographie zu Justinus Kerners Klecksographien, aber auch etwa Georges Didi-Huberman in seinem Aufsatz über die Klecksographien Victor Hugos. Weltzien: Fleck, Didi-Huberman: „Geschenk des Papiers, Geschenk des Gesichts“, S. 175–180.

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einerseits der Verlust eines Wirklichkeits- und Wahrheitsbezugs. Andererseits liegt darin gerade das Versprechen einer Offenbarung tieferer Wahrheiten,50 die der Prozess des Schreibens erst zutage fördere. Oder besteht die Offenbarung gerade in einer Ahnung über die Unendlichkeit dieses Prozesses selbst, an dessen nie erreichbarem Ende jedoch die Erkenntnis einer Wahrheit von Ferne winkt? Was ermöglicht also das Schreiben, und sind die an dieses herangetragenen Utopien haltbar? Aus diesen Fragen lassen sich mit dem Schreiben und der Schrift im literarischen Kontext um 1800 verbundene Spannungen erkennen, die im Zusammenhang mit der Evolution des schriftlichen Mediums Diskurse um die Autonomie des Subjekts und der Einbildungskraft begleiten. Das Verhältnis von Subjekt und Schrift in Bezug auf die Verortung und das Bewusstsein einer Einheit, eines Zentrums bzw. einer Wahrheit steht dabei auf dem Prüfstand. Der gezogene Vergleich der bei den Autoren E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’ bisher nicht eingehend untersuchten Schreib- und Schriftpoetiken ermöglicht es, die Nationalliteraturen übergreifende mediengeschichtliche Bedingtheit von ästhetischen Diskursen um 1800 in Deutschland bzw. in Richtung auf die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in Russland zu zeigen. Innerhalb dieses Rahmens erfolgt eine Reflexion über die literarische Form an der Grenze ihrer Auflösung durch Prozesse, Bedingungen und Produkte der Figuration und Defiguration der Schrift.

50 Vgl. zu dieser Frage in der deutschen Frühromantik Frank, Manfred: Einführung in die frühromantische Ästhetik. Vorlesungen. Frankfurt a. M. 1989, S. 29: In der Frühromantik ist „die Erfahrung der Kunst eine Erkenntnisweise eigener Art […], gewiß verschieden von derjenigen Sinneserkenntnis, welche der Wissenschaft die letzten Daten vermittelt, aus denen die Erkenntnis der Natur aufbaut, gewiß auch verschieden von aller sittlichen Vernunfterkenntnis und überhaupt aller begrifflichen Erkenntnis, aber doch Erkenntnis, das heißt, Vermittlung von Wahrheit.“

Teil I: Frühromantische Schriftreflexion: Figur und Defiguration

1 Figur und Defiguration Novalis verwendet den Begriff „Figur“ zu ersten Mal in seinen Aufzeichnungen aus der Zeit an der Freiberger Bergakademie und meint zunächst geometrische Figuren, die in Naturformationen (Mineralien, Kristalle) oder in physikalischen Experimenten (Schallfiguren, Figuren im magnetischen Feld) entstehen und bestimmte Grundprinzipien ihrer Formation in einem Schema erschließbar machen:1 […] Mannichfache Figuren des oryktognostischen (mineralogischen, C. S.) angewandten Schemas – Grundgestalt dieses mineralogischen Schemas. Sie lehrt Lücken finden. (Die Metrik ist schon eine Zeichenfigurenlehre.) vid. die Lehre v[on] d[en] Crystallisationssuiten. Grunds[atz] d[er] Krystallen oder Formen Verwandtschaft.2

Das Verständnis der Figur als einheitlicher Ausdruck eines Prinzips, dem Grundstrukturen in natürlichen Formationen zugrunde liegen,3 ist dabei jedoch nicht auf mineralogische Schemata begrenzt. Vielmehr hat der Begriff eine umfassendere Bedeutung, die sich sowohl auf eine wissenschaftliche als auch auf eine intuitive Naturbetrachtung erstreckt, die dem Prinzip des Poetischen entspricht.4 Im Akt schöpferischen Sehens macht der Geist die Naturformen als Figuren sichtbar. Dieses schöpferische Sehen als Poiesis der Figur ist zugleich ein Akt deutenden Schriftlesens:5 Mannigfache Wege gehen die Menschen. Wer sie verfolgt und vergleicht, wird wunderliche Figuren entstehen sehn; Figuren, die zu jener großen Chiffernschrift zu gehören scheinen, die man überall, auf Flügeln, Eierschalen, in Wolken, im Schnee, in Kristallen und in Steinbildungen, auf gefrierenden Wassern, im Innern und Äußern der Gebirge, der Pflanzen, der Tiere, der Menschen, in den Lichtern des Himmels, auf berührten und gestrichenen Scheiben von Pech und Glas, in den Feilspänen um den Magnet her, und sonderbaren Konjunkturen des Zufalls, erblickt.6

Ebenso wird der poetische Geist nach einem sich selbst zu variierenden Formationen ausbildenden Grundschema bewegt, wenn er die Figuren der Natur erschaut, wie

1 Vgl. Striedter, Jurij: Die Fragmente des Novalis als „Präfigurationen“ seiner Dichtung. München 1985, S. 144 f.; vgl. Bark, Irene: Steine in Potenzen. Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis. Tübingen 1999, S. 476 ff. 2 N III, S. 387 (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 647). 3 Vgl. Striedter: Die Fragmente des Novalis, S. 204. 4 Ebd., S. 206 f. 5 Vgl. zum Begriff der Poiesis als poetischer Produktivität in der Romantik: Zill, Rüdiger: „Produktivität/Poiesis“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz Barck et al. Stuttgart/Weimar 2010, S. 40–86, hier S. 60–63. 6 Novalis: „Die Lehrlinge zu Saïs“, in: N I, S. 71–114, hier S. 79. https://doi.org/10.1515/9783110705140-002

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wenn er Poesie erschafft.7 Poetisch ist in diesem Sinne ebenso das schöpferische Sehen der „großen Chiffernschrift“ wie ihre literarische Huldigung im Text der Lehrlinge zu Saïs; beide sind Ausdruck einer Einheit, die sich über die Verbindung von menschlichem Geist und Natur in der Figur zeigt. Die visuelle Figur ist damit zugleich Grund und Produkt eines schöpferischen Akts, wodurch sie zugleich sinnlich wahrnehmbar existent und Erzeugnis der Einbildungskraft ist. Hierbei eignet dem Begriff der Figur bei Novalis einerseits die Bedeutungsebene als wandelbare Gestalt,8 die das Wort figura Erich Auerbach zufolge seit seinen ersten Erwähnungen bei Terenz und Pacuvius mit sich trägt. Auerbach spekuliert, dass die Bedeutung von figura als etwas „Lebend-Bewegtes, Unvollendetes und Spielendes“ durch die direkte Ableitung vom Stamm des Verbs fingere bestimmt werde.9 Zudem wird die Figur bei Novalis auf entscheidende Weise mit ihrem begriffsgeschichtlichen Derivat in der christlichen Realprophetie verbunden. Dieser Zusammenhang drückt eine für diese Arbeit zentrale Dimension des frühromantischen Formverständnisses aus, dessen Verarbeitung auch für die spätere Romantik von großer Bedeutung gewesen ist. Innerhalb der Realprophetie wurde das Alte Testament als Vorankündigung der Geburt Christi und damit des Neuen Testaments gelesen. Personen und geschilderte Ereignisse wurden als geschichtliche Realien betrachtet, die jedoch zugleich bereits die spätere Erlösungsgeschichte ausdrückten. Erich Auerbach betonte die Ewigkeitsvorstellung, die sich in dieser dezidiert nicht als Allegorisierung zu verstehenden Deutung des Alten Testaments äußere.10 Über dieses Verständnis wurde das Alte Testament zur Figur, in der bereits die kommende Zeit des Neuen Testaments sich ausdrücke und dessen Personen und Ereignisse zugleich in ihrer physischen, geschichtlichen Realität bestehen blieben. Die Relevanz der Vorstellung eines vorläufigen und derart figuralen Ausdrucks des Sinns in einer Erscheinung, die den Eintritt einer noch kommenden Erscheinung ankündigt, ist mit einem entscheidenden Unterschied zur christlichen Figuraldeutung in den Schriften von Novalis zu erkennen: Hier und überhaupt in der frühromantischen Sprach- und

7 Vgl. Bark: Steine in Potenzen, S. 479. 8 Vgl. Brandstetter, Gabriele/Peters, Sibylle: Einleitung, in: Brandstetter, Gabriele (Hg.): De figura. Rhetorik, Bewegung, Gestalt. München 2002, S. 7–32, hier S. 10 f.; vgl. Striedter: Die Fragmente des Novalis, S. 197 f. 9 Auerbach, Erich: „figura“, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern 1967, S. 55–92, hier S. 55; vgl. Brandstetter/Peters: Einleitung, S. 8 ff. 10 Auerbach, Erich: „figura“, S. 65 ff.; vgl. zu diesem Zusammenhang bei Friedrich Schlegel: Kraus, Gerhard: Naturpoesie und Kunstpoesie im Frühwerk Friedrich Schlegels. Erlangen 1985, S.  62 f.: „Damit wird die Naturpoesie in den umfassenderen Kontext einer Poesie oder Sprache der Wirklichkeit gestellt, von der sie selbst nur ein Teil ist. Der Prozeß der poetischen Verwandlung der ganzen materiellen und ideellen Welt und die Bedeutung, die ihr dadurch zuwächst, ist ihre Geschichte. Das, was sie be-deutet, ist ihr Wesen, als eine Geschichte der Poetisierung, d. h. der Auflösung starrer Strukturen und deren Umwandlung in immer neue Gestalt, eine Geschichte des Werdens zu sein, d. h. eine Geschichte, die ihr Vergangenes stets nur als Schein ihres Zukünftigen hat.“

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Naturauffassung besteht immer die Forderung bzw. der Versuch der Erzeugung einer Eigentätigkeit des Subjekts, das diese Figuren, indem es sie erschaut, durch einen Akt produktiver Einbildungskraft auch herstellt.11 Derart ist auch die Gattung des frühromantischen Fragments nicht als ein mangelhafter Rest einer Form, sondern im Gegenteil als eine eschatologische Form zu begreifen, die in sich schon durch die Reflexion des schöpferischen Subjekts ihre Erfüllung zur Ganzheit vorwegnimmt – welche jedoch zugleich in ihr nie erscheinen kann.12 Dieser figuralen Vorstellung des Poetischen liegt die Annahme zugrunde, der menschliche Geist und seine Sprache bzw. Schrift seien gewissermaßen von der Natur abgeschnitten und deren Sprache bzw. Schrift sei dem menschlichen Subjekt nicht mehr verständlich. Durch das Poetische wird jedoch eine Wiedererlangung eines ursprünglichen Einheitszustandes von Mensch und Natur und somit auch der Sprache und der Natur angestrebt. Über die Einbildungskraft soll der gemeinsame Ursprung von menschlichem Geist und Natur erahnbar werden und in der poetischen Sprache als zukünftig Wiederzuerlangendes aufscheinen. So basiert das frühromantische Poesieverständnis auf der Einsicht, dass der Mensch in seiner Existenz und seiner Erkenntnismöglichkeit der Welt endlich ist; sein Geist verhilft ihm zu einer Reflexion auf diese Endlichkeit, die sich also über diese Endlichkeit erhebt, gerade indem sie sie erkennt. Die Unendlichkeit deutet sich paradoxerweise im Moment der Erkenntnis an, dass das eigene Sein endlich ist.13 Dies erscheint (in einer kritischen Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre und dem in dieser postulierten „Schweben der Einbildungskraft“)14 als eine kreiselartige Bewegung, die niemals innehalten soll; eine „progressive Universalpoesie“15. Wenn die Rückkehr zu einem bewusstlosen Einheits-

11 Vgl. Striedter: Die Fragmente des Novalis, S. 138 f. Vgl. Friedrich Weltziens Ausführungen zu Kants Idee der produktiven Einbildungskraft, die die Frühromantiker beeinflusst hat: Weltzien: Fleck, S. 120 f. Weltzien bezieht sich hier auf Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik [1766]. Unter Verwendung des Textes v. Karl Vorländer mit einer Einleitung hg. v. Klaus Reich. Hamburg 1975, S. 15. 12 Vgl. Dällenbach, Lucien/Hart Nibbrig, Christiaan L.: „Fragmentarisches Vorwort“, in: Dies. (Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt a. M. 1984, S. 7–17, hier S. 8; vgl. Behler, Ernst: „Das Fragment der Frühromantik“, in: Ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Band 2. Paderborn, München u. a. 1993, S. 27–42, hier S. 37. 13 Vgl. hierzu die Bemerkungen von Winfried Menninghaus zu Benjamins Thesen in dessen Monographie Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik: Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdopplung. Die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M. 1987, S. 36 f. Die Unendlichkeit der Reflexion im romantischen Poesieideal steht hier neben dem gleichzeitigen Denken von Unmittelbarkeit der Erkenntnis und wird als spannungsvolle Auseinandersetzung mit Fichtes Erkenntnisphilosophie herausgearbeitet: „Die Unendlichkeit der Reflexion mithin als Verhinderungsfaktor statt als Modus progressiver Erfüllung“ (Menninghaus, S. 37). 14 Fichte, Johann Gottlieb: „Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre“, in: Ders. Werke. Bd. 1. Zur theoretischen Philosophie. Hg. v. Immanuel Hermann Fichte. Berlin 1971, S. 83–328, hier S. 217. 15 KFSA II, S. 182 (Athenäums-Fragmente, Nr. 116): „Und doch kann auch sie [die Universalpoesie, C. S.] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idea-

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zustand von Mensch und Welt – und einer Ursprache, die diesen ausdrückt – erstrebt wird, so gerade unter der Prämisse des geistigen Reflexionsvermögens, das eine solche Rückkehr zugleich unmöglich macht.16 Diese Paradoxie quittiert das romantische Ironieverständnis, wie es von Friedrich Schlegel ausgedrückt und in der Romantikforschung immer wieder unterschiedlich bewertet wurde: Naiv ist, was bis zur Ironie, oder bis zum steten Wechsel von Selbstschöpfung und Selbstvernichtung natürlich, individuell oder klassisch ist, oder scheint. Ist es bloß Instinkt, so ists kindlich, kindisch, oder albern; ists bloße Absicht, so entsteht Affektation. Das schöne, poetische, idealische Naive muß zugleich Absicht, und Instinkt sein. Das Wesen der Absicht in diesem Sinne ist die Freiheit. Bewußtsein ist noch bei weitem nicht Absicht. Es gibt ein gewisses verliebtes Anschauen eigner Natürlichkeit oder Albernheit, das selbst unsäglich albern ist. Absicht erfordert nicht gerade einen tiefen Calcul oder Plan. Auch das Homerische Naive ist nicht bloß Instinkt: es ist wenigstens so viel Absicht darin, wie in der Anmut lieblicher Kinder, oder unschuldiger Mädchen. Wenn Er auch keine Absichten hatte, so hat doch seine Poesie und die eigentliche Verfasserin derselben, die Natur, Absicht.17

Der dekonstruktiv geprägten Bewertung etwa von Paul de Man zufolge konstatiert und zeigt die Ironie einen ständigen uneinholbaren Bruch im Selbst, das seine Entfernung von der Welt zugleich in sich selbst bemerkt.18 Diese Ansicht ist nicht falsch,

len Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ 16 Vgl. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über Ästhetik [1798–1802]. Bd.  1. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn u. a. 1989, S. 243: „Dieses ist eben die innigste Vereinigung der bewußtlosen und der selbstbewußten Täthigkeit im menschlichen Geiste, des Instinktes und der Absicht, der Freyheit und der Nothwendigkeit. Deswegen, weil in ihm die ursprüngliche Entzweyung sich aufhebt, worin der Mensch als ein endliches Wesen sich endlos befangen sieht, erscheint es uns auch als etwas übermenschliches, als eine göttliche Kraft, und seine Mittheilungen als wahre Offenbarungen.“ Dennoch bleibe immer „etwas subjectives in den Urtheilen zurück“ und diese stünden unter unaufhebbaren „individuellen Beschränkungen“ (ebd., S. 200). Siehe hierzu Weltzien, Friedrich: Fleck. Das Bild der Selbsttätigkeit. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Äs­ thetik und Naturwissenschaft. Göttingen 2011, S. 144 f. 17 KFSA II, S. 172 (Athenäums-Fragmente, Nr. 51). 18 de Man, Paul: „Rhetorik der Zeitlichkeit“, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. v. Christoph Menke. Aus dem Amerik. v. Jürgen Blasius. Frankfurt  a. M. 1993, S.  83–130. Siehe die bereits in den 80er Jahren geführte Diskussion um die in dieser Zeit erneut lebhafte Rezeption der Frühromantik in Philologie und Philosophie und vor allem deren Neuinterpretation unter poststrukturalistischem Vorzeichen: Behler, Ernst/Hörisch, Jochen (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. München 1987. Etwa Ernst Behlers Aufsatz betont hier vor allem das im Rahmen eines dekonstruktiven Ansatzes neu sich zeigende Scheitern, die Unmöglichkeit der Mitteilung, Identität etc., die in einer frühromantischen Theorie des Verstehens immer wieder hervorgehoben würden (Behler, Ernst: „Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens. Hermeneutik oder Dekonstruktion?“, S. 141–160). Dass diese Ansicht in Zweifel gezogen werden kann und sollte, vertraten die Beiträge von Gerhard Kurz („Zur Kritik dekonstruktivistischer Frühromantiklektüre“) und Karl Konrad Polheim („Friedrich Schlegels Idee der Symmetrie“) auf der dem Band vorangegangenen Tagung, die jedoch im Band nicht abgedruckt sind.

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fokussiert aber die Negativität der frühromantischen Poetik, die sich doch zugleich als Potential und Erwartungszustand ihrer kommenden Aufhebung betrachtet.19 Es geht hier nicht nur um die Selbstvernichtung, sondern auch die Selbstschöpfung, um eine Suche nach einer ‚Absicht der Natur‘ gerade in diesem zirkulären Wechsel. Diese ständige Umwertung der Negativität muss hier unterstrichen werden.20 Sie bestimmt die grundsätzliche Ambivalenz der frühromantischen Poetik, derentwegen sie eine Poetik der Figur genannt werden kann: Die Figur als poetische Form ist sowohl eine Kategorie eines sichtbaren, a-mimetischen21 Zeichens (die Ausgeburten der Einbildungskraft im menschlichen Geist, beim Anschauen der Natur) als auch eine Kategorie der Textform. Sie enthält in sich die Vorstellung einer Unabgeschlossenheit und Prozessualität und damit des Mangels, die sich zugleich auf die kommende, sich ankündigende Vollendung dieses Prozesses richtet. In dieser Hinsicht ist die Figur entscheidend durch den eschatologischen Begriff des Figuralen geprägt. Die fundamentale Widersprüchlichkeit dieser figuralen Poetik speist sich aus einer metaphysischen Überhöhung der poetischen Sprache bzw. des poetischen Textes als Erscheinung, deren Potential doch andererseits als immerwährend endlich und beschränkt anerkannt wird: Im poetischen Zeichen ist die metaphysische Bedeutung zugleich präsent und absent, es ist auf ideale Weise lesbar und dabei doch mysteriös und unlesbar. Die Negativität, die also dem Konzept der Figur innewohnt, kann als Defiguration bezeichnet werden: Die

Ähnlich wie Behlers Aufsatz im genannten Sammelband schlägt in diese Kerbe auch die Monographie von Menninghaus: Unendliche Verdopplung (siehe hier v. a. das Unterkapitel „Die frühromantische Semontologie als Vorwegnahme Derridas“, S.  115–130), die ganz direkt von Walter Benjamins Dissertation Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik ausgeht. In dieser hatte Benjamin die romantische Reflexionstheorie exponiert. Letztlich wird die Diskussion um die Frühromantik sich immer zwischen den Polen von Einheitsstreben und Zweifel bewegen, zwischen der Emphase eines ständig erwarteten Ursprungs jenseits der Sprache und des Bewusstseins bzw. des Geists und der Emphase der immerwährenden und unhintergehbaren Sprachlichkeit des Geists (siehe zu dieser das Unterkapitel bei Menninghaus: „Geist und Buchstabe: die romantische Lehre der notwendigen Wörtlichkeit (Rhetorizität) des Geistes und der Darstellung“, S. 81–84). Die immer wieder ausformulierte Projektion einer sich noch in Zukunft erfüllen sollenden Einheit auf eine mangelhafte Gegenwart ist jedoch letztlich nicht von der Hand zu weisen und verleiht der Negativität des Scheiterns wiederum die Positivität der Erwartung. 19 Vgl. Szondi, Peter: „Friedrich Schlegel und die romantische Ironie“, in: Ders.: Satz und Gegensatz. Frankfurt  a. M. 1964, S.  5–25; hier S.  17 f.: „Das Negative seiner Situation kann er [der ‚sich gegenständlich gewordene Mensch‘, C. S.] nicht durch die Tat, in der die Versöhnung des Bedingten mit dem Unbedingten Ereignis würde, überwinden; durch die Vorwegnahme der künftigen Einheit, an die er glaubt, wird das Negative für vorläufig erklärt, damit zugleich festgehalten und umgewertet.“ Vgl. Striedter: Die Fragmente des Novalis, S. 119 ff.; vgl. Strohschneider-Kohrs: Die romantische Ironie in Theorie und Gestaltung. Tübingen 1977, S. 88 ff. 20 Vgl. Lörke, Melanie Maria: Liminal Semiotics. Boundary Phenomena in Romanticism. Berlin 2013, S. 68. 21 Kotzinger, Susi: „Arabeske – Groteske: Versuch einer Differenzierung“, in: Dies./Rippl, Gabriele (Hg.) Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. Amsterdam/Atlanta 1994, S. 219–228, hier S. 225.

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 Figur und Defiguration

Auflösung der Gestalt, die unvollendete Textform als Bruchstück, Spur oder Rest,22 der Mangel der menschlichen Sprache bzw. Schrift und des Bewusstseins, das eine Einheit mit der Natur nicht erreicht. Defiguration soll im vorliegenden Zusammenhang jedoch gerade nicht einfach als in der romantischen Literatur reflektierte Selbstnegation der poetischen Sprache verstanden werden.23 Im Begriff der Figur wird diese Negativität der Defiguration umgewertet zu einer positiven Erwartung der kommenden Einheit. Nur durch den Akt der Bedeutung verleihenden Einbildung verbindet sich der Geist des Subjekts mit der Natur und erschafft Figuren, die ihm geheime Verbindungen anzuzeigen scheinen. Die Offenbarung einer Figur ist eine „Sinneinungsaufgabe“ im fließenden Austausch mit dem Subjekt.24 Indem das poetische Gemüt diese „Sinneinungsaufgabe“ ausführt und die „Chiffernschrift“ der Natur als solche erkennt, erahnt es also eine geheimnisvolle metaphysische Vorsehung (eine „goldne Zeit“25), die sich in seinen selbsttätig und ohne bewusste Kontrolle entstehenden poetischen Äußerungen ausdrückt. Die Poesie erscheint damit als natürliches Produkt eines ursprünglichen, organischen Schöpfertums:26 So nennt

22 Behler: „Das Fragment der Frühromantik“, S. 37. 23 Siehe hierzu de Mans rein negativen Begriff der Defiguration, dem ich nicht folge. Defiguration meint bei de Man die Selbstvergessenheit der Sprache über ihre Arbitrarität und fehlende Referentialität. Das Bewusstsein wiederum über diesen ständigen und ständig vergessenen Mangel der Sprache wäre demnach nur eine negative Erkenntnis. Ein solches negatives Bewusstsein für die eigene Sprachlichkeit bestimmt de Man auch in der romantischen Ironie und dem romantischen Begriff der Allegorie als „Rhetorik der Zeitlichkeit“. Vgl. de Man, Paul: „Shelley disfigured“, in: Ders.: Rhetoric of Romanticism. New York 1984, S. 93–124, hier S. 119 ff.; Ders.: „Rhetorik der Zeitlichkeit“. 24 N III, S. 463 (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 1052): „Die Figur des kleinsten Teils ist nichts als die Figur der Urformation – Elementarformation – und diese ist nur der figürliche Ausdruck der Dynamischen Gemeinschaft – oder Composition. Wie wird eine dynamische, materiale Verbindung figürlich ausgedrückt? – Dies ist eine innre Sinneinungsaufgabe.“ 25 Novalis: „Die Christenheit oder Europa“, in: N III, S. 507–526, hier S. 519. 26 Im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts hat die Tätigkeit des schöpferischen Subjektes eine dem organischen Wachstum analoge Begrifflichkeit erhalten, indem sich schon seit Baumgartens Aesthetica die Prämisse des schöpferischen Aktes von dem Nachahmungsparadigma abzulösen begann (und dabei schon eine Systematik des Ästhetischen nach dem Vorbild natursystematischer Kategorien vorgeschlagen wurde) (vgl. Weltzien: Fleck, S. 131; Kremer, Detlef: Prosa der Romantik. Stuttgart/Weimar 1997, S. 45.) Zum Begriff der Naturpoesie bei den Frühromantikern vgl. Kraus, Gerhard: Naturpoesie und Kunstpoesie im Frühwerk Friedrich Schlegels. Erlangen 1985; von Bormann, Alexander: Natura loquitur. Naturpoesie und emblematische Formel bei Joseph von Eichendorff. Berlin 1968. Gerhard Kraus verfolgt die Metapher der Poesie der Natur im Feld ähnlicher, eine „Zeichenhaftigkeit der natürlichen Welt ausdrückender“ (S. 62), Metaphern – dem Buch, der Sprache der Natur – und stellt eine Neubegründung ihrer in der Frühromantik Friedrich Schlegels und v. a. Novalis’ fest, die von großer Bedeutung für die ganze Epoche der Romantik gewesen sei. Die Naturpoesie wird dabei „in den umfassenderen Kontext einer Poesie oder Sprache der Wirklichkeit gestellt, von der sie selbst nur ein Teil ist.“ (S. 62.) In der frühromantischen Idee naturpoetischen Schöpfertums werden verschiedene Philosophien unsystematisch amalgamiert, ebenso Kants Erkenntnisphilosophie und der Idealismus Fichtes wie ein spinozistischer und naturmystisch inspirierter Pantheismus werden eingespeist. Vgl.

Figur und Defiguration 

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August Wilhelm Schlegel die poetische Tätigkeit „verklärte und concentrirte Natur“27 und Friedrich Schlegel heißt die Mythologie als Ausdruck einer solchen idealen Poiesis „Kunstwerk der Natur“.28 Zugleich aber produziert das Subjekt diese Verheißung seiner Poesie selbst in freier, zufälliger Willkür und reflektiert diesen Vorgang bewusst.29 Es deutet sich an, inwiefern sich dieses Konzept poetischer Produktivität einerseits vom Begriff einer vorgegebenen Weltordnung entfernt hat, diese also vielmehr als kontingentes Produkt des lebendigen und selbsttätigen Geistes ansieht, dessen schöpferisches Potential sich im Akt der Einbildungskraft offenbart.30 Andererseits versucht dieses Konzept zugleich den Gedanken einer Weltordnung aufrechtzuerhalten, indem eine metaphysische Verbindung von Geist und Welt in den Akt der subjektiven Einbildungskraft hineinprojiziert wird: „ROMANTIK. Absolutirung – Universalisirung – Classification des individuellen Moments, der individuellen Situation etc. ist das eigentliche Wesen des Romantisierens.“31

Behler, Ernst: „Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie“, in: Jahrbuch der Deutschen SchillerGesellschaft. Jg. 1 (1957), S. 211–252, hier S. 219. 27 Schlegel, A. W.: Vorlesungen über Ästhetik, S. 258. 28 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, in: KFSA II, S. S. 285–351, hier S. 318. 29 Polheim: Die Arabeske, S. 114. 30 Vgl. Weltzien: Fleck, S. 120 f., S. 129; vgl. Vogt, Peter: Kontingenz und Zufall. Eine Ideen- und Begriffsgeschichte. Berlin 2011, S. 60. Der Begriff des Zufalls kommt dabei einem Begriff der Kontingenz nahe: der Eigenschaft einer Begebenheit, nicht notwendiger-, sondern nur möglicherweise einzutreten. Vogt stellt eine solche Überschneidung der Begriffe von Zufall und Kontingenz bereits bei Kant fest, in dessen Folge sich der Gebrauch beider in der Philosophie weiterhin tendenziell überschnitten habe. Vgl. den kurzen Abriss der Geschichte des Kontingenzbegriffs bis ins achtzehnte Jahrhundert bei Blumenberg, Hans: „Kontingenz“, in: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbucht für Theologie und Religionswissenschaft. Dritte, völlig neu bearb. Aufl. Hg. v. Kurt Galling. Bd. 3. Tübingen 1986, Sp. 1793/94. 31 N III, S. 256 (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 87).

2 Hieroglyphe und Buchstabe 2.1 Hieroglyphe: Bilderschrift als Naturzeichen Wie sich das frühromantische Nachdenken über das Verhältnis von Endlichem und Unendlichem insbesondere auf die Schriftreflexion auswirkt, zeigt der Begriff der Hieroglyphe. Auch diese korrespondiert wie die Figur der Auffassung einer zeichenhaften Form der Natur und einer ihr nicht nur analogen, sondern auch verbundenen Zeichenhaftigkeit der Poesie. Die frühromantische Vorstellung der Hieroglyphe steht dabei in einer in Philosophie und Ästhetik verstärkt seit dem späten achtzehnten Jahrhundert aufgegriffenen Tradition der Naturmystik.32 Hierbei handelt es sich um einen sich unter anderem naturphilosophisch ausprägenden „‚hermetischen‘ Irrationalismus, dessen Kern neuplatonisch ist, der aber schon sehr früh mit gnostischen, kabbalistischen, alchemistischen und theosophischen Ideen durchsetzt wurde […].“33 Die Hieroglyphe, in dieser Zeit als Begriff schon weit von der ursprünglichen Bezeichnung der altägyptischen Schrift entfernt, wird zu einem literarischen Symbolbegriff.34 Die Wurzel der Bedeutungsverschiebung der Hieroglyphe von einer Bezeichnung für die altägyptische Schrift zu einem poetologischen Begriff ist unter anderem in der Annahme ihres göttlichen Ursprungs und ihrer reinen Bildlichkeit zu suchen.35 Als (bis zu ihrer Entzifferung im Jahr 1822) unlesbare Schrift wurde die Hieroglyphe in der frühromantischen Ästhetik zu einem Begriff für eine selbstevidente Schrift natürlicher Formationen, in der ein alles durchwaltender Geist sich ausdrückt – in der Natur wie in den Bildern der Einbildungskraft. Diese Evidenz wird in entscheidender Weise über

32 Vgl. zu diesen Zusammenhängen ausführlich Dieckmann, Liselotte: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. Washington/St. Louis 1970: Im Rahmen der emblematischen Tradition der Renaissance und der anschließenden mystischen Tradition werden Hieroglyphen einerseits als konkrete Symbole ägyptischen Ursprungs (wie sie etwa über die Hieroglyphica Horapolls überliefert wurden), aber andererseits auch als von diesen losgelöster Begriff in den Diskurs um einen Symbolismus eingebunden, der, auf den spätantiken Neuplatonismus zurückreichend, bestimmte Symboliken als Offenbarungen des Göttlichen präsentiert und dabei ägyptische in christliche Symbolik überführt. Der Glaube an eine Mensch und Natur durchziehende Übereinstimmung göttlichen Ursprungs und ihre Symbolik in den Hieroglyphen führte zur Übernahme des Begriffs auch durch die mystischen Naturphilosophen des siebzehnten Jahrhunderts, die die Hieroglyphe im Kontext ihrer pantheistischen Weltsicht in alchemistische, astrologische und kabbalistische Symboliken einbanden. 33 Sørensen, Bengt Algot: Symbol und Symbolismus in den ästhetischen Theorien des 18. Jahrhunderts und der deutschen Romantik. Kopenhagen 1963, S. 134. 34 Vgl. Dieckmann: Hieroglyphics, S. 86 ff. 35 Keiner, Astrid: Hieroglyphenromantik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie. Würzburg 2003, S. 11 ff. https://doi.org/10.1515/9783110705140-003

Hieroglyphe: Bilderschrift als Naturzeichen 

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die Eigenschaft der Visibilität transportiert. Als Bilderschrift besitzt die Hieroglyphe eine visuelle Sinnlichkeit, die sie prädestiniert, als Zeichenbegriff auf die Naturformen übertragen zu werden, die sich ebenso visuell dem Betrachter zeigen und ihre Bedeutsamkeit als „Chiffernschrift“ mystisch erfahrbar machen. Die Sichtbarkeit der Hieroglyphe ist jedoch auch gerade deshalb Moment ihrer Evidenz als tief bedeutsames Naturzeichen, weil sie unlesbar bleibt. Wie die Figur wird sie dem Betrachter in den Formen der Natur durch seine geistige Verbindung mit dieser als Zeichen erkennbar, in dem sich eine tiefe göttliche Bedeutung zeigt, die jedoch nicht zu entschlüsseln ist. Dieser in der Verwendung des Wortes „Hieroglyphe“ bei den Frühromantikern erkennbare Zeichenbegriff ist dabei insbesondere durch die Rezeption der Ursprachund Urschrifttheorien Johann Georg Hamanns und Johann Gottfried Herders geprägt worden.36 Herders Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774) etabliert die „Erste Hieroglyphe“ als Begriff einer Urschrift, aus der menschliche Kultur, Schrift und Poesie entstanden seien. Als eine solche Urschrift ist die Hieroglyphe eine an die paradoxale Grenze getriebene Zeichenstruktur […]. Denn eine völlige Übereinstimmung von Zeichen und Referenz, sprich: Präsenz, hebt letztlich jeden Zeichencharakter auf. Die Hieroglyphe ist Herders Präsenz von Sinn. Als ‚Urbild‘ und „Monument des Ursprungs“ setzt sie Arbitrarität und Konventionalität außer Kraft.37

Diese paradoxale Zeichenstruktur scheint Herder im Sinn zu haben, wenn seine symmetrische Figur aus sieben Punkten als „Erste Hieroglyphe“ eingeführt wird:

Abb. 1: Herders „Erste Hieroglyphe“: Herder, Johann Gottfried: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Erster Band, welcher den ersten, zweiten und dritten Theil enthält. Riga 1774, S. 171.

36 Hier sei Johann Georg Hamanns Aesthetica in nuce genannt, in der er hieroglyphische Zeichen als Übersetzung aus einer Engelssprache begreift. Herder wendet sich in seiner Schrift Älteste ­Urkunde des Menschengeschlechts im Gegensatz zu Hamann von der Annahme eines direkten göttlichen ­Ursprungs der menschlichen Sprache (wie auch in seinem früheren Text Über den Ursprung der Sprache) ab. Hamann, Johann Georg: „Aesthetica in nuce“, in: Ders.: Sämtliche Werke. Historischkritische Ausgabe v. Josef Nadler. Bd.  2. Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik. Wien 1950, S. 195–218, hier S. 199; Herder, Johann Gottfried: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Erster Band, welcher den ersten, zweiten und dritten Theil enthält. Riga 1774. 37 Keiner: Hieroglyphenromantik, S. 110.

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 Hieroglyphe und Buchstabe

die heilige Zahl! Die geheime Figur! Das erste Buchstabenbild, Symbol der Kräfte des Weltalls – unsre Symbole! Und nichts mehr.38

Dennoch muss man feststellen, dass er durch seinen eigenen Sprachgebrauch dies nicht widerspruchsfrei darzustellen vermag. Denn zugleich wird das von ihm bildlich durch sieben Punkte dargestellte „erste Buchstabenbild“ an späterer Stelle als bloße Abstraktion konzeptualisiert: Nun fülle und bilde man das mit Bildern, Sachen statt Buchstaben – Abriss der ersten Hieroglyphe!39

Diese Widersprüchlichkeit zwischen der Sinnlichkeit des sichtbaren Urschriftzeichens und der ihm zugeeigneten metaphysischen Bedeutung zeigt sich auch etwa im Gebrauch des Begriffs „Hieroglyphe“ in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie.40 Seine Zuschreibungen an die „Hieroglyphe“ bzw. „das Hieroglyphische“ schlingern dabei zwischen der Emphase der Verkörperung des Geistigen im Sinnlichen und der (nicht minder emphatischen) Beteuerung einer bloßen „Hindeutung“ auf jenes Geistige, das eben nicht in Erscheinung treten könne. Zunächst wird die Mythologie als „ein hieroglyphischer Ausdruck der umgebenden Natur in dieser Verklärung von Fantasie und Liebe“41 bezeichnet (Rede über die Mythologie). Eben gerade das nicht Erkennbare, das „sonst das Bewußtsein ewig flieht, ist hier dennoch sinnlich geistig zu schauen, und festgehalten, wie die Seele in dem umgebenden Leibe, durch den sie in unser Auge schimmert, zu unserm Ohre spricht.“42 Anschließend nennt Schlegel im Brief über den Roman den poetischen Text eine „Hindeutung auf das Höhere, Unendliche, Hieroglyphe der Einen ewigen Liebe und der heiligen Lebensfülle der bildenden Natur“43. Die frühromantische Hieroglyphe ist damit in sich unauflösbar widersprüchlich: Als Begriff für die der Natur verbundene Zeichenhaftigkeit der Poesie zeigt sie wie der Begriff der Figur ein Bedürfnis nach einer selbstevidenten, auf ideale Weise lesbaren

38 Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, S. 171. Die Symbole wird, wie sich an etwas späterer Stelle zeigt synonym mit der Ersten Hieroglyphe gebraucht: „Sind, wie wir sehen, immer nur eine und dieselbe, mancherlei gestaltet, gedichtet, gebildete, heilige Einfache Symbole des Ursprungs der Welt.“ (S. 181.) 39 Ebd., S. 110. 40 Vgl. Sørensen: Symbol und Symbolismus, S. 236: Sørensen betont, dass Schlegels Begriff des Poetischen, den die Hieroglyphe in diesem Zusammenhang reflektiert, dabei nicht zwischen Symbol und Allegorie differenziere. Indem ich die Emphase des metaphysischen Charakters der Hieroglyphe hier hervorhebe, grenze ich mich u. a. von Paul de Mans Begriff der Allegorie ab, den er im Rahmen seines zuvor erwähnten Aufsatzes Rhetorik der Zeitlichkeit erläutert. 41 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 312. 42 Ebd., S. 318. 43 Ebd., S. 333.

Magischer und toter Buchstabe 

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Schrift, in der sich der menschliche Geist mit dem metaphysischen Unendlichen zu einer Einheit zu fügen vermag. Die unaufhebbare Unlesbarkeit der Hieroglyphe und ihr mysteriöser Charakter quittieren dabei zugleich die immerwährende Beschränktheit des menschlichen Geistes, die sich nur andeutungsweise in der Poesie aufzulösen vermag.

2.2 Magischer und toter Buchstabe Dabei entspricht die mit der Hieroglyphe verbundene Vorstellung einer rätselhaften, den Geist in Bewegung setzenden Lesbarkeit der Utopie des „magischen Buchstabens“. Die „Magie“ wird durch die Fantasie beschworen, die eine Bewegung des Geistes über den Buchstaben und des Buchstabens über den Geist bewirkt.44 Wo der Buchstabe etwa bei Friedrich Schlegel mit einer negativen Konnotation auftaucht als mangelhafte Erscheinung bzw. zu überwindende Entität,45 scheint er einen Gegensatz zu einem solchen idealen Zeichenkonzept im Sinne der oben beschriebenen Urschrift darzustellen. Dabei bezeichnet also allein eine solche negative Erwähnung des Buchstabens einen beschränkenden Stillstand in einem finiten Zeichen, das die Möglichkeit der ‚Bezauberung‘ des Geistes nicht bietet. Die Wendung des „toten Buchstabens“, die bei solchen Erwähnungen anklingt, wird gewöhnlich auf den Satz „Denn der Buchstabe tötet, nur der Geist macht lebendig“ im 2. Brief an die Korinther (3,6) in den Paulusbriefen im Neuen Testament zurückgeführt.46 Dass sie bei den Frühromantikern als Ausdruck einer logo- und phonozentrisch motivierten Schriftkritik angesehen werden müsste, ist aufgrund der ständigen Emphase einer „magischen Buchstäblichkeit“ nicht haltbar. Im Rahmen einer schriftkritischen, bis zu Platons Phaidros zurückreichenden philosophischen Tradition wird der Schrift gegenüber dem Wort, das den Geist vermeintlich in idealer Weise präsent werden lasse, eine Nachgeordnetheit, Verspätung und Äußerlichkeit, ja gar eine auch der Einheit von Wort und Geist schadende Gespaltenheit zwischen Zeichen und Bedeutung attestiert.47 Die Entgegensetzung von Oralität und Literalität über Lebendigkeit und Tod scheint auch vor diesem Hintergrund verstanden werden zu können: Die Lebendigkeit

44 Bolz, Norbert W.: „Der Geist und die Buchstaben. Friedrich Schlegels hermeneutische Postulate“, in: Nassen, Ulrich: Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn u. a. 1979, S. 79–112, hier S. 86. 45 Vgl. ebd., S. 85 f., S. 88. 46 Göttert, Karl-Heinz: „Wider den toten Buchstaben. Zur Problemgeschichte eines Topos“, in: Kittler, Friedrich/Macho, Thomas/Weigel, Sigrid (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung. Zur Kulturund Mediengeschichte der Stimme. Berlin 2002, S. 93–114, hier S. 93. 47 Derrida, Jacques: „Platons Pharmazie“, in: Ders.: Dissemination. Hg. v. Peter Engelmann. Wien 1995, S.  69–173; Ders.: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1983, S. 49–129.

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 Hieroglyphe und Buchstabe

des mündlichen Wortes besteht in seiner vermeintlichen Einheit aus Geist und Zeichen, die eine Präsenz des Geistes in idealer und unmittelbarer Weise ermöglicht. Ursprachtheorien, die eine urgeschichtliche Entwicklung der menschlichen Sprache aus dem natürlichen Laut und dessen Nachahmung annehmen, suchen hier eine letztlich der mündlichen Sprache zugrundeliegende Einheit von Laut und Bedeutung gegen die Arbitrarität des Sprachzeichens zu belegen.48 Zugleich muss festgehalten werden, dass etwa gerade Herder als Vertreter einer solchen Ursprachtheorie und Einflussgeber der frühromantischen Philosophie nicht eine „pauschale Schriftkritik“ betrieb, sondern es ihm vor allem um einen unmittelbaren Ausdruck des Geistes in der Sprache ging.49 Friedrich Kittler vertrat die Meinung, sowohl in Philosophie als auch in fiktionalen Texten der Romantik werde die Erzeugung ‚reiner Signifikate‘ ersehnt, deren Ermöglichung durch einen sinnlichen imaginativen Rausch jenseits der buchstäblichen Medialität des Textes angestrebt bzw. propagiert würde.50 Neben einschlägigen Stellen bei August Wilhelm Schlegel und Novalis zitiert Kittler etwa folgende Passage aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik,51 die die Poesie als Kunst des Geistes jenseits einer medialen Bedingtheit erfasst: Indem sie [die Poesie, C. S.] weder für die sinnliche Anschauung arbeitet, wie die bildenden Künste, noch für die bloß ideelle Empfindung, wie die Musik, sondern ihre im Innern gestaltenden Bedeutungen des Geistes nur für die geistige Vorstellung und Anschauung selber machen will, so behält für sie das Material, durch welches sie sich kund tut, nur noch den Werth eines wenn auch künstlerisch behandelten Mittels für die Äußerung des Geistes an den Geist und gilt nicht als ein sinnliches Daseyn, in welchem der geistige Gehalt eine ihm entsprechende Realität zu finden im Stande sei. Dieß Mittel kann unter den bisher betrachteten nur der Ton, als das dem Geiste noch relativ gemäßeste sinnliche Material seyn.52

48 Siehe hierzu Herders Abhandlung zum Ursprung der Sprache sowie etwa Kittlers Bemerkungen zu dieser und anderen Ursprachtheoremen in jener Zeit. Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften den für das Jahr 1770 gesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1772; Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800–1900. 3., vollst. überarb. Aufl. München 1995, S. 56 ff. Zur Rezeption von Ursprachtheorien in der Romantik vgl. Oesterle, Günter: „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Kunstmärchen Der goldne Topf,“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69–107, hier S. 70 f.; Hausdörfer, Sabrina: „Die Sprache ist Delphi. Sprachursprungstheorie, Geschichtsphilosophie und Sprach-Utopie bei Novalis, Friedrich Schlegel und Friedrich Hölderlin“, in: Gessinger, Joachim/von Rahden, Wolfert (Hg.): Theorien vom Ursprung der Sprache. Bd. 1. Berlin 1988, S. 468–497. 49 Göttert: „Wider den toten Buchstaben“, S. 99. 50 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 108 ff.; 140 ff. 51 Ebd., S. 144. 52 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Neu ed. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 13. Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt a. M. 1986, S. 22.

Magischer und toter Buchstabe 

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Dieses Hegel’sche Poesieverständnis der reinen Geistigkeit, die sich noch am ehesten über den Ton des Wortes vermitteln lasse, stellt Kittler in den Kontext der Sprachwissenschaft um 1800, deren Annahme einer Ursprache und ihrer Spur im ‚Minimalsignifikat‘ der Silbe zugleich eine Klangbezogenheit des Poesieverständnisses bedingt habe.53 Dabei ist die zentrale Wichtigkeit des Klangs in der romantischen Literatur unbestreitbar; seine Darstellung im Medium der Literatur ist häufig mit einer Darstellung des Bildlichen verbunden. Die gehäuft auftretende poetische Verknüpfung von Klang und Bild wurde als die synästhetische Tendenz der romantischen Literatur untersucht.54 Siehe hierzu etwa folgendes Beispiel aus Tiecks Märchen Die Elfen:55 In der Wölbung der Decke waren Palmen, Blumen und Laubwerk gemalt, zwischen denen Kinderfiguren in den anmutigsten Stellungen kletterten und schaukelten; nach den Tönen der Musik verwandelten sich die Bildnisse und glühten in den brennendsten Farben, bald war das Grüne und Blaue wie helles Licht funkelnd, dann sank die Farbe erblassend zurück, der Purpur flammte auf und das Gold entzündete sich; dann schienen die nackten Kinder in den Blumengewinden zu leben, und mit den rubinroten Lippen den Atem einzuziehn und auszuhauchen, sodass man wechselnd Zähnchen wahrnahm, so wie das Aufleuchten der blauen Augen.56

In einem Zusammenwirken von Bild und Klang verändern sich Form und Farbe, weichen und intensivieren einander in einem sich fortwährend bewegenden Muster aus Pflanzen und menschlichen (Kinder-)Figuren. Die bewegte Vereinigung von Gewächsranken und lebendigen Wesen lässt an die Groteske denken, deren hybride Mischung von Ornament und Gestalt in Verbindung mit dem Begriff der Arabeske bei Friedrich Schlegel als Erscheinung der schöpferischen Fantasie verstanden wird. In der bewegten Einheit aus Farbe und Klang wird dieses Spiel der Fantasie im poetischen Text zu zeigen versucht; sie weist auf die Poetizität selbst und das Entstehen, das Werden des Textes hin.57 Klang und Satzrhythmus nehmen die Bewegung des Bildes, die sie beschreiben, auf.58

53 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 56 ff. 54 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: „Romantische Sprachästhetik“, in: Glaser, Horst Albert/Vajda, ­Giörgy M.(Hg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760–1820. Epoche im Überblick. Amsterdam u. a. 2001, S. 567–587, hier S. 570 ff. 55 Vgl. Oesterle, Günter: „Von der Peripherie ins Zentrum. Der Aufstieg der Arabeske zur prosaischen, poetischen und intermedialen Reflexionsfigur um 1800“, in: Busch, Werner/Maisak, Petra (Hg.): Die Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske. Petersberg 2013, S. 29–36, hier S. 35. Einige weitere Beispiele sind hier verschiedene weitere Stellen aus Ludwig Tiecks Märchen „Die Elfen“, Achim von Arnims Roman „Die Kronenwächter“ oder Joseph von Eichendorffs Erzählung „Das Marmorbild“, in denen sowohl Motive etwa aus Phillip Otto Runges „Vier Zeiten“-Zyklus als auch ältere arabeske Motivik dargestellt wird. 56 Tieck, Ludwig: Schriften. Bd. 6: Phantasus. Hg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985, S. 311. Auch Günther Oesterle zitiert in seinem Aufsatz „Von der Peripherie ins Zentrum“ diese besonders anschauliche Stelle. 57 Vgl. Hillmann, Heinz: Bildlichkeit der deutschen Romantik. Frankfurt a. M. 1971, S. 25. 58 Vgl. Oesterle: „Von der Peripherie ins Zentrum“, S. 35 f.

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 Hieroglyphe und Buchstabe

Hierbei werden immer wieder metaphorische Vergleiche in ‚Vergleichsrealisierungen‘ überführt.59 Ein Beispiel aus Novalis’ Heinrich von Ofterdingen: Die Blätter wurden glänzender und schmiegten sich an den wachsenden Stengel, die Blume neigte sich nach ihm zu, und die Blütenblätter zeigten einen blauen ausgebreiteten Kragen, in welchem ein zartes Gesicht schwebte. Sein süßes Staunen wuchs mit der wunderbaren Verwandlung.60

Die Verwandlung des textuell Dargestellten soll über seine synästhetische Qualität eine sinnliche Erfahrungsdimension erzeugen, die über die Emphase des Präsentischen in der Hieroglyphe bzw. im „magischen Buchstaben“ auch in theoretischen Äußerungen der Frühromantiker beschworen wird. Derart kann man Kittler zustimmen, dass eine Art ‚sinnlicher Rausch‘ durch den poetischen Text hervorgerufen werden soll. Doch dieser wird zugleich als Effekt der Bewegung des Geistes durch den Buchstaben mitreflektiert. Es herrscht also bei der Emphase der Sinnlichkeit kein Versuch der Verleugnung medialer Vermitteltheit. Vielmehr erweisen sich die oben exemplarisch zitierten synästhetischen Darstellungen immer auch als selbstreferentielle Hinweise auf die Textperformanz, mit der sinnliche Eindrücke durch das Zusammenspiel von Geist und Buchstaben erzeugt werden. Wenn Friedrich Schlegel etwa schreibt: „Ohne Buchstabe kein Geist; der Buchstabe nur dadurch zu überwinden, dass er fließend gemacht wird“,61 so scheint damit gerade jene Bewegung benannt zu werden. Das Bild des Fließens als Wechselverbindung von Geist und Schriftmaterie wird vor dem Hintergrund einer Metaphorik verwendet, die sich im Kontext der Empfindsamkeit über einen medial begleiteten diskursiven Umbau des Körpers entwickelt hat.62 Der diskursiven Verschließung des Körpers korrespondiert dabei die schriftliche Kommunikation des Seelenlebens. Dabei ist die Schrift keinesfalls dem Wort nachgeordnet oder dieses der Schrift vorzuziehen, um einen authentischen Ausdruck der inneren Regung zu ermöglichen. Im Zusammenhang mit Beschreibungen idealer Prozesse empfindsamer Gefühlsäußerung treten vielmehr im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert auch Abwertungen der mündlichen Sprache auf, der „toten Zunge“, die in einen Kontrast zur authentischen, stumm geschriebenen und gelesenen Schrift der „lebendigen Feder“ gesetzt wird.63 Dies stellt sich als ein

59 Vgl. Hillmann: Bildlichkeit der deutschen Romantik, S. 24. 60 Novalis: Heinrich von Ofterdingen, in: N I, S. 135–334, hier S. 197. 61 KFSA XVIII, S. 344 (Philosophische Fragmente. Zweyte Epoche. II, Nr. 274). 62 Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 2003, S. 215. 63 Ebd., S. 222 f. Den Ausdruck „tote Zunge“ zitiert Koschorke etwa aus einer mit Liebe und Selbstheit betitelten Bemerkung Johann Gottfried Herders sowie aus Johann Georg Zimmermanns Ueber die Einsamkeit. In diesem Zitat findet sich auch der Ausdruck „lebendige Feder“. Zimmermann, Johann Georg: Ueber die Einsamkeit. Bd. 4. Leipzig 1785, S. 181 f.; Herder, Johann Gottfried: „Liebe und Selbstheit. Ein Nachtrag zum Briefe des Herrn Hemsterhuis über das Verlangen von Herder“, in: Hemsterhuis, François: Philosophische Schriften. Bd. 1. Hg. v. J. Hilß. Karlsruhe/Leipzig 1912, S. 71–98.

Magischer und toter Buchstabe 

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e­ mphatisches Schriftverständnis dar, das auf widersprüchliche Weise die Äußerung von reiner Innerlichkeit ermöglicht und die Vorstellung idealer mündlicher Rede ersetzt. Die Wertschätzung des schriftlichen Mediums bleibt jedoch auf eine vermeintliche Unmittelbarkeit gerichtet, die einen authentischen Ausdruck der Seele ermöglicht. „Das Sprechen ist ein Umweg über den Körper; das Schreiben ein unvermittelter, allen mechanischen Umständen zum Trotz organloser Akt.“64 So bleibt auch Schlegels Äußerung zwiespältig: Der Buchstabe muss überwunden werden, indem er durch den Geist fließend gemacht wird. Dabei knüpft die Eigenschaft des „Magischen“, die dem Buchstaben zugeordnet wird, also zum einen an eine Urschriftvorstellung an, die auch den frühromantischen Begriff der Hieroglyphe geprägt hat. Dabei werden sprachutopische Vorstellungen einer (göttlichen) Schrift der Offenbarung übernommen.65 Es wird eine Sprache bzw. Schrift der Namen ersehnt, in der Ding und Zeichen in einem Verhältnis der Präsenz zusammentreten.66 Insofern muss Kittlers These, dass romantische Philosophie und Literatur die Schriftlichkeit vor allem als Durchgangsstadium in Richtung auf ein ‚reines Signifikat‘ begriffen, überdacht werden. Denn in der auf die Schrift gerichteten Utopie wird dieser selbst eine Präsenz zuerkannt, die im Rahmen der tradierten Verbindung von Logo- und Phonozentrismus der Verbalsprache zukäme (als Mittel zum Zweck auf den Geist, siehe das Hegelzitat oben). Zum anderen ist mit der Emphase des Buchstabens die Möglichkeit der Vermittlung eines ‚reinen Signifikats‘ überhaupt infrage gestellt; oder anders gesagt: Sie wird in der Verbindung von „Magie“ und „Buchstabe“ als ständige Gegensätzlichkeit zwischen sprachlicher bzw. schriftlicher Vermitteltheit und Präsenz des Sinns im Zeichen (Magie, Hieroglyphe) zur Disposition gestellt.67 Die Wendung des „toten Buchstabens“ kann im vorliegenden Kontext als der Verlust einer Verbindung zwischen äußerlichem sprachlichem Ausdruck und dem „Inneren“ verstanden werden, die im „magischen Buchstaben“ gerade als Wechselbeziehung eines „Außen“ und „Innen“ zustande kommt. Die Unmittelbarkeit, die hierbei beschworen wird, ist nicht Ausdruck einer bloßen Präsenz, sondern zugleich durch

64 Koschorke, Körperströme und Schriftverkehr, S. 223. 65 Sørensen: Symbol und Symbolismus, S. 139 ff. 66 Hausdörfer: „Die Sprache ist Delphi“, S. 476 ff. 67 Es ist also nicht unbedingt so, dass mit der Emphase des Buchstabens immer wieder nur die schriftliche bzw. sprachliche Vermitteltheit und ihre Unüberwindbarkeit konstatiert werden. Die gleichzeitige ständige Emphase von Hieroglyphe und Magie und ihre metaphysische Bedeutung müssen hier ebenso anerkannt werden. Damit stimme ich Melanie Maria Lörke zu, dass die Spannung der romantischen Sprachphilosophie gerade in dem Sehnen nach einer Ursprache und dem ständigen Bewusstsein über die Arbitrarität der eigenen Sprache besteht (Lörke: Liminal Semiotics, S. 59). Vgl. hier auch die Spannung, die Eva Fiesel zwischen „konventioneller und wesenhafter Wortbedeutung“ in der romantischen Poetik feststellt (Fiesel, Eva: Die Sprachphilosophie der deutschen Romantik. Hildesheim/New York 1927, S. 32). Ich setze mich damit unter anderem ab von den Thesen im Unterkapitel „Geist und Buchstabe: die romantische Lehre der notwendigen Wörtlichkeit (Rhetorizität) des Geistes und der Darstellung“ (S. 81–84) bei Menninghaus: Unendliche Verdopplung.

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 Hieroglyphe und Buchstabe

Absenz gekennzeichnet. Die „Magie“ der Bewegung des Geistes ist unendlich an einem Zeichen, das sich ihm niemals ganz erschließt, mit dem er immer in einem Wechselverhältnis bleiben und so nicht eins mit ihm werden kann. Die Konventionalität und Arbitrarität des Buchstabens werden abgewertet, weil sie eine Kluft zwischen Zeichen und Bedeutung bzw. zwischen Zeichen und Geist mit sich bringen. Dem gegenüber stehen der „magische Buchstabe“ und die urschriftliche Hieroglyphe, die eine rätselhafte Präsenz der Bedeutung im Zeichen und einen unendlichen Austausch von Geist und Zeichen suggerieren. Damit steht paradoxerweise die zuweilen dem Buchstaben mit dem Attribut der Leblosigkeit attestierte Endlichkeit auch für eine konventionelle Verbindung von Zeichen und Bedeutung in einem Sinne einer einfachen und finalen Transparenz des Zeichens, die den Geist nicht anregt.

3 Arabeske, Makulatur und Klecks 3.1 Friedrich Schlegels Brief über den Roman 3.1.1 Arabeske Auch die Arabeske ist als visuelles Konzept, das Friedrich Schlegel auf den poetischen Text bezieht, in sich von der beschriebenen Widersprüchlichkeit geprägt: Unbewusstes, selbsttätiges Schöpfertum einer natürlichen Einbildungskraft trifft darin auf kritische Reflexion. Das prozessuale Entstehen ihrer Bilder weist auf das Prinzip des Schöpferischen, das der menschliche Geist an sich selbst beobachten kann und welches einerseits als metaphysisch bedeutsam eingeschätzt, andererseits als Ausdruck der Subjektivität erkannt wird. Die Einführung der Arabeske als poetologischer Begriff in Friedrich Schlegels Gespräch über die Poesie eröffnet darüber hinaus jedoch metaphorisch weitere Ebenen dieser Bildlichkeit, die ihre formästhetische wie auch literatursoziologische und medienkritische Bedeutung zeigt. In beiderlei Hinsicht meint das Konzept der Arabeske eine Ambivalenz der frühromantischen Poetik, die nicht nur Bewusstes und Unbewusstes, Absicht und Instikt, Natürliches und Künstliches miteinander verschränkt, sondern auch zwischen den formästhetischen Kategorien von Stoff und Form steht und zugleich humoristischen Genres anverwandt ist, die im zeitgenössischen literaturkritischen Diskurs abgewertet werden. Diese Konnotationen der Arabeske können aus ihrer Bildlichkeit und ihrer diskursiven Einführung im Brief über den Roman aus dem Gespräch über die Poesie im Kontext weiterer sprachlicher Bilder herausgelesen werden. Dabei steht die Arabeske zwischen dem „bunten Allerlei“ und dem „Bücherhaufen“, die Bilder des Formlosen darstellen. Speziell der „Bücherhaufen“ ist mit weiteren Begriffen des zeitgenössischen literaturkritischen Diskurses wie „Bücherseuche“ und nicht zuletzt der Makulatur verwandt. Damit besitzt die Arabeske als poetologischer Begriff eine Ambivalenz, die ein parodistisches Potential des frühromantischen Poesieideals gerade über Bilder einer entblößten Materialität und Sinnlichkeit der Schrift in sich birgt – etwa über den Begriff der Makulatur. Diese Ambivalenz wird im Folgenden zunächst über die Bildlichkeit der Arabeske erläutert, bevor deren formästhetischer und literatur- und medienkritischer Bezug in den Fokus genommen werden. Dass Friedrich Schlegel den Begriff der Arabeske aus der bildenden Kunst nimmt, er insofern eine bestimmte Form eines visuellen Zeichens meint, zeigt seine erste Erwähnung im Brief über den Roman, in der er die Wirkung der Arabeske der bildenden Kunst mit der Wirkung eines literarischen Textes vergleicht:

https://doi.org/10.1515/9783110705140-004

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

Sie fühlen es selbst, daß Ihr Ergötzen an Sternes Humor rein war, und von ganz andrer Natur, als die Spannung der Neugier, die uns oft ein durchaus schlechtes Buch, in demselben Augenblick, wo wir es so finden, abnötigen kann. Fragen Sie sich nun selbst, ob Ihr Genuss nicht verwandt mit demjenigen war, den wir oft bei der Betrachtung der witzigen Spielgemälde empfanden, die man Arabesken nennt.68

Die Arabesken sind „witzige Spielgemälde“; der Begriff wird hier noch indirekt, über die Wirkung des Kunstwerks, auf die Literatur bezogen. Kurz darauf heißt es aber über Diderots Jacques le Fataliste: Ich darf es ohne Übertreibung ein Kunstwerk nennen. Freilich ist es keine hohe Dichtung, sondern nur eine – Arabeske. Aber eben darum hat es in meinen Augen keine geringen Ansprüche. Denn ich halte die Arabeske für eine ganz bestimmte und wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie.69

Diderots Fataliste wird, in Abgrenzung zu den Romanen Laurence Sternes, die zu stark von der „engländischen Empfindsamkeit“ geprägt seien,70 nicht nur in seiner Wirkung als analog zur visuellen Arabeske begriffen, sondern er gilt Schlegel selbst als eine solche. Diese sei zwar „keine hohe Dichtung“, aber eine „Form oder Äußerungsart der Poesie“. Die Verschiebung des Begriffs ist an dieser Stelle entscheidend: Die Arabeske wird von einer visuellen Form, einem Gattungsbegriff der Malerei, als die der Begriff seiner konventionellen Bedeutung nach auch bestimmt ist, zu einer Form der Poesie. Die „wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie“ wird dabei von der visuellen Form abgeleitet. Schlegels positiver Bezug auf die Arabeske der bildenden Kunst findet an dieser Stelle vor dem Hintergrund einer Ornamentkritik statt, die sich besonders im achtzehnten Jahrhundert in Frankreich vollzogen hatte und in dieser Zeit vornehmlich die Rokokoarchitektur traf, jedoch bis auf die Architekturlehre des Vitruv und die Polemik gegen den Asianismus in der antiken Rhetorik zurückreichte.71 Jedoch zeigen vor allem zwei Schriften, Johann Wolfgang von Goethes Aufsatz Von Arabesken aus dem Jahr 1789 und Karl Philipp Moritz’ Abhandlung Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente von 1793, bereits einen Wandel der Bewertung des Ornaments und eine Abkehr von der klassizistischen Polemik gegen dieses an.72 Vor allem der Abschnitt Arabesken aus Moritz’ Schrift lässt deren Rezeption durch Friedrich Schlegel vermuten, die sich im Gespräch über die Poesie niederschlägt. In Schlegels Begriff der

68 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 330 f. 69 Ebd., S. 331. 70 Ebd., S. 332. 71 Vgl. Busch, Werner: „Die Arabeske – Ornament als Bedeutungsträger. Eine Einführung“, in: Ders./ Maisak, Peter (Hg.): Die Verwandlung der Welt. Die romantische Arabeske. Petersberg 2013, S. 13–28; hier S. 15 ff. 72 Ebd., S. 19 ff.

Friedrich Schlegels Brief über den Roman 

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Arabeske findet sich sowohl das Fantastisch-Spielerische als auch der Aspekt der Selbstbezüglichkeit wieder, den Moritz der Arabeske als Mischung aus Gestalt und Ornament (die Arabeske als Rankenornament also nicht von der Groteske differenzierend) zuordnet: Die Neuern pflanzen ein dünnes Rohr anstatt der Säulen hin – sie stellen auf langen Leuchtern stehende Figuren dar – zarte, in sich gewundene Stengel schießen hervor, auf denen phantastische Wesen tanzen, wovon man nicht weiß, wie sie dahin kommen. – Aus den Blumen wachsen Köpfe, die halb Menschen, halb Thieren ähnlich sind, u.s.w.73

Das Wachstum, das Sprießen von unwahrscheinlichen, keinem Vorbild der Wirklichkeit folgenden Hybriden aus Mensch, Tier und Pflanze bestimmt Moritz als den charakteristischen Gegenstand dieser Malereien. Sie sind a-mimetisch, zumindest insofern, als sie einerseits fantastische Gestalten, andererseits eben gerade deren Genese und permanente Wandlung zeigen. Der ständige Wechsel von Gestalten zum Ornament und umgekehrt deutet eine Abkehr von rein ikonischer Abbildlichkeit an. Schließlich bemerkt er zu den an den Grotesken der Titusthermen inspirierten Malereien Raphaels nach einer Aufzählung der in ihnen dargestellten Gegenstände und Wesen, dass diese […] sich in diesen Zusammensetzungen in der wunderbarsten Mischung [befinden]. Demohngeachtet reihet sich auch hier noch alles zu einer gewissen Einheit. – Es ist gleichsam die Stufenleiter der Wesen, die man hier hinaufsteigt – ein schönes Labyrinth, worin das Auge sich verliert – 74

Das so unterschiedlich Gemischte formt doch eine Einheit; und zwar gerade dadurch, dass das schöpferische Erwachsen der Gestalt selbst dargestellt zu werden scheint. Dies zeigen die „muthwilligen Spiele der Phantasie[, die] sich blos um sich selber drehen“ 75. Wenn Moritz diese Arabesken zwar als „Zierde“ bezeichnet,76 die einzig einen vergnüglichen Zweck habe und er damit noch an die klassische Abwertung des Ornaments anschließt, zeigen seine Ausführungen doch die Tendenz einer Anerkennung dieser Form der Malerei. In Friedrich Schlegels oben zitierter Äußerung zu Diderots Fataliste, in der er die Arabeske von ihrer zuvor auf die Malerei festgelegten Bedeutung in eine literarische Gattung und zugleich eine generelle Form der Fantasie verschiebt, übernimmt er diese bei Moritz festzustellende Ambivalenz. Zuerst ist Diderots Roman „nur eine – Arabeske“. Dann wird diese Marginalisierung relativiert: Die Arabeske sei eine „wesentliche Form oder Äußerungsart der Fantasie“. Der Verweis auf die Autonomie der

73 Moritz, Karl Philipp: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Berlin 1793, S. 26. 74 Ebd., S. 28. 75 Ebd., S. 28. 76 Ebd., S. 28.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

Fantasie, deren Anzeichen schon bei Moritz in den ornamental-ikonischen Mischformen erkannt wurde, wird hier als künstlerischer Eigenwert eingeführt.77 Damit meint die literarische Arabeske eine visuelle Form, deren Zeichenrelationen als Wirkung des eigenen Ursprungs verstanden werden, auf den sie andeutend verweisen. Vielmehr als dass diese Zeichen das Produkt der Fantasie ikonisch darstellen, deuten sie also auf die Fantasie als ihre Herstellerin. Deren schöpferische Bildlichkeit führt sich selbst im bewegten, arabesken Wechsel von Gestalten und Formen vor, dies ist einmal von Schlegel als „Indicazion auf unendliche Fülle“78 bezeichnet worden. Der Bezug auf eine Form aus natürlichen Zeichenrelationen, die die arabesken Ranken durch ihr natürliches Wachstum bilden, ist hierbei entscheidend.79 Es geht um die Be-

77 Die innertextuelle Entwicklung des Begriffs wird im größeren Kontext des Gesprächs eingerahmt durch den an dieser Stelle prominenten Begriff der Arabeske als Fantasieform, zunächst vorbereitet in der Rede über die Mythologie, dann weitergeführt im Anschluss an die oben beschriebene Herleitung des Begriffs über Sterne und Diderot im Brief über den Roman. Ich schließe mich nicht Polheim an, der meint, Schlegel stelle im Gespräch verschiedene Begriffe der Arabeske (als einmal „real-praktische“ und auf der anderen Seite als „ideal-theoretische“) vor. Meiner Meinung nach ist für den Begriff der Arabeske essentiell, dass er beides einschließt. Polheim: Die Arabeske, S. 140 f. 78 Schlegel, F.: Literary Notebooks 1797–1801. Hg., eingeleitet u. komm. v. Hans Eichner. Fragmente I. London 1957, Nr. 407. 79 Dieses Zeichenverhältnis ist verschiedentlich mit dem Begriff des Indexes in Verbindung gebracht worden. In Ch. S. Peirces Syllabus of Certain Topics of Logic (dt. Phänomen und Logik der Zeichen) meint der Index ein Anzeichen, das in einer direkten kausalen Relation zu dem von ihm Indizierten steht (Peirce, Charles S.: Phänomen und Logik der Zeichen. Hg. u. übers. v. Helmut Pape. Frankfurt a. M. 1983, S. 64 f.). Einmal bezieht sich der Begriff auf die Rezeption von Ursprachtheorien und Theorien natürlicher Zeichenhaftigkeit in der Romantik. Ursprachlaute werden im Diskurs um eine Ursprache im Kontext der Aufklärung und auch im Rahmen von Ursprachdiskursen der Romantik unter anderem als solche Indices begriffen (etwa der direkt auf die Emotion deutende Schrei). Die in der Romantik ersehnte Wiedererlangung der Ursprache durch Poesie (das „magic word“), die immer durch die Anerkenntnis der Arbitrarität der Sprache gebrochen ist, bezieht sich auf ein solches Verständnis eines natürlichen Zeichens als Index oder als Ikon (Nachahmung, Ähnlichkeit). (Siehe die Ausführungen Melanie Maria Lörkes zu den Ursprachkonzepten bei Condillac [S. 65], Herder [S. 66 ff.], A. W. Schlegel [S. 72] und Novalis [S. 77 ff.]: Lörke: Liminal Semiotics.) Im vorliegenden Kontext beziehe ich den Begriff des Indexes im engeren Sinne auf die Ansicht eines natürlichen Zeichens, wie es von den Romantikern in Formationen der Natur angenommen wird; diese Formationen werden als Indices eines Ursprungs angesehen (vgl. hierzu auch Weidner, Daniel: „Hieroglyphen und heilige Buchstaben. Herders orientalische Semiotik“, in: Herder-Jahrbuch. Studien zum 18. Jahrhundert. VII [2004], S. 45–68, hier S. 60 ff.) Im Zusammenhang mit der Selbstbezüglichkeit eines literarischen Textes, die bereits im romantischen Diskurs eingeführt wird, ist ebenfalls von Indexikalität gesprochen worden. Während Uwe Wirth die Indexikalität eines autoreferentiellen Textes auf eine Bemerkung Peirces („Everything that attracts attention is an index“) rückbezieht, gebraucht Aage A. Hansen-Löve den Begriff des Indexes in einem direkten Bezug auf Peirces Syllabus, bezieht sich hier jedoch auf eine Metaebene, die der Peirce’sche Begriff des Indexes impliziere (Hansen-Löve, S. 845). Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800 (Wieland, Goethe, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann). München 2008, S. 129; Hansen-Löve, Aage A.: „Zur Struktur der Autoreflexion künstlerischer Texte“, in: Borbé, Tasso (Hg.): Semiotics Unfolding. Procee-

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tonung der Unabhängigkeit der arabesken Form: Sie ist auf sich selbst bezogen und erzeugt sich selbst. Die Autoreferentialität der Arabeske besteht in einem andeutenden, hinweisenden Bezug zum Ursprung der eigenen Formung, der künstlerischen Fantasie. Die Selbstbezüglichkeit des poetischen Textes, mit der er das arabeske Erwachsen fantasieerzeugter Gestalten selbst vorführt, wird durch die Postulierung der Natürlichkeit dieses Vorgangs an die Annahme eines metaphysischen Ursprungs geknüpft. Dabei findet sich, zugeordnet zu einer bestimmten Form des Textes, das Ideal einer magischen/hieroglyphischen, bewegten Buchstäblichkeit im Austausch von Geist und Text wieder, die im vorigen Kapitel beschrieben wurde. Die Arabeske ist eine Figur, deren aufgelöste Gestalthaftigkeit dennoch als Einheit begriffen wird. Wie die Hieroglyphe ist sie damit auch ein Begriff einer mystischen, ursprünglichen und nicht profanen Schrift.80

3.1.2 Buntes Allerlei und Bücherhaufen Die Arabeske als poetologischer Begriff wird zu Beginn des Briefs über den Roman auf der Basis einer Äußerung hergeleitet, die die Adressatin dieses fiktiven Briefs Amalie über Jean Paul gemacht hat. Darin hatte sie die Werke des Autors als „buntes Allerlei von kränklichem Witz“81 bezeichnet. Der Schreiber des Briefes Antonio entwickelt nun vor dem Hintergrund dieses negativen Begriffs des „bunten Allerleis“ seinen Begriff der Arabeske als eine bedeutsame Verschlungenheit des selbstreflexiven Textes. Sie stellt den Kernbegriff bei seiner Bestimmung des romantischen Romans dar: Das bunte Allerlei von kränklichem Witz gebe ich zu, aber ich nehme es in Schutz und behaupte dreist, daß solche Grotesken und Bekenntnisse noch die einzigen romantischen Erzeugnisse unsers unromantischen Zeitalters sind.82

Die Romane wiederum, die die Freundin Amalie lese, so hebt er zu seiner Argumentation an, seien viel weniger einer näheren Auseinandersetzung wert: Mit Erstaunen und mit innerm Grimm habe ich oft den Diener die Haufen zu Ihnen hereintragen sehn. Wie mögen Sie nur mit Ihren Händen die schmutzigen Bände berühren? – Und wie können Sie den verworrnen, ungebildeten Redensarten den Eingang durch Ihr Auge in das Heiligtum der Seele verstatten?83

dings of the second Congress of the International Association for Semiotic Studies Vienna, July 1979. Berlin 1984, S. 841–847, hier S. 842 ff. 80 Weitz, Michael: „Die romantische Arabeske als Klartext“, in: Kotzinger/Rippl (Hg.): Zeichen zwischen Klartext und Arabeske. S. 263–270, S. 266 f. 81 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 329. 82 Ebd., S. 330. 83 Ebd., S. 330.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

Die Romane, von denen der Schreiber des Briefs über den Roman spricht, lassen vermissen, was die von ihm genannten Romane Sternes, Diderots oder auch Jean Pauls zu Arabesken macht. Sie werden als gestaltlose „Haufen“ abqualifiziert. Unschwer ist zu erkennen, dass sowohl die Wortverbindung „buntes Allerlei“ als auch die Bezeichnung von Romanen als „Bücherhaufen“ an einen polemischen Kontext der Zeit innerhalb der Literaturkritik anknüpft. Formlosigkeit wird dabei jenen „schlechten Büchern“ zugeordnet, nicht aber der Arabeske: „[W]enngleich eben keine idealisch schöne, so war es doch eine Form, eine geistreiche Form […]“.84 Mit polemischen Bildern des Formlosen wird den damit bezeichneten Texten gerade ihr Zeichencharakter aberkannt, den jedoch die Arabeske wiederum auf ihre eigene Weise erfüllt. Während das Bild der arabesken Form eine Andeutungsbeziehung des Ornaments auf sein eigenes Ursprungsprinzip kennzeichnet, weist der sichtbare formlose „Haufen“ der „schlechten Bücher“ auf nichts weiter hin als seine materielle Existenz und unbedeutende Akkumulation der Teile („buntes Allerlei“), im Gegensatz zur organischen Ordnung der Arabeske. Obwohl also oberflächlich betrachtet ebenso formlos wie Bücherhaufen und buntes Allerlei, wird doch die Arabeske gerade im diskursiven Verhältnis zu den Bildern des Formlosen zur bedeutsamen Verschlungenheit aufgewertet.85 Ihre Bildlichkeit der Defiguration verweist auf ihre Ambivalenz auch in ihrer metaphorischen Bedeutung in Hinsicht auf die zeitgenössische Literatur- und Medienkritik (siehe 3.2 und 3.3). Die Ambivalenz, die die arabeske Form besitzt, drückt sich dabei nicht zuletzt in ihrer Vermischung von Gestalt und Hintergrund aus. Die Arabeske ist bei Friedrich Schlegels Übertragung auf den Roman nicht mehr Schmuck- und Randelement für die eigentliche Darstellung, sondern selbst deren Zentrum.86

3.2 Ambivalente Medien- und Genrekritik 3.2.1 Mit und gegen Lesesucht und Empfindsamkeit Als männlicher Schreiber rät Antonio in Friedrich Schlegels Brief über den Roman seiner Freundin Amalie, die seiner Meinung nach die Romane Jean Pauls zu Unrecht als formlos („buntes Allerlei von kränklichem Witz“) kritisiert hatte, nicht ständig solche Literatur zu lesen, die überhaupt und eigentlich als formlos („verworrene und ungebildete Redensarten“) bezeichnet werden müsse:

84 Ebd. 85 Vgl. Weitz: „Die romantische Arabeske als Klartext“, S. 264. 86 Vgl. Oesterle: „Von der Peripherie ins Zentrum“; vgl. Busch: „Die Arabeske“.

Ambivalente Medien- und Genrekritik  

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Stundenlang Ihre Fantasie an Menschen hingeben, mit denen von Angesicht zu Angesicht nur wenige Worte zu wechseln Sie sich schämen würden? – Es frommt wahrlich zu nichts, als nur die Zeit zu töten und die Imagination zu verderben! Fast alle schlechten Bücher haben Sie gelesen von Fielding bis zu Lafontaine. Fragen Sie sich selbst was Sie davon gehabt haben. Ihr Gedächtnis selbst verschmäht das unedle Zeug, was eine fatale Jugendgewohnheit Ihnen zum Bedürfnis macht, und was so emsig herbeigeschafft werden muß, wird sogleich rein vergessen.87

Was sind das nun für Romane, von denen Antonio spricht? Genannt werden an dieser Stelle Henry Fielding als Autor spaßiger Romane in der Tradition des Schelmenromans und August Lafontaine.88 Der Hinweis auf August Lafontaine als einen Autor empfindsamer Romane, die als fruchtlos vorgestellte Unterhaltung mit den Romancharakteren, und auf die „Jugendgewohnheit“ der Freundin Amalie lässt eine Kritik an allzu sentimentaler Romanliteratur vermuten. Durch die Schreiber-Adressatin-Konstellation, in der der männliche Absender der Empfängerin des Briefes einen erzieherischen Rat zur Verbesserung der Lektüre und damit ihrer Seele gibt, schließt Schlegel an den Diskurs des späten achtzehnten Jahrhunderts um die Lesesucht an. Vor allem Frauen wurde innerhalb dieses Diskurses unterstellt, durch die Lektüre in dieser Hinsicht gefährdet zu sein. Diese Lesesuchtdebatte hatte sich gerade als Reaktion auf das neue, größer gewordene weibliche Lesepublikum und den sich vergrößernden Markt der Roman- und Prosaliteratur entsponnen (Frauen machten am Ende des achtzehnten Jahrhunderts bei weitem den Großteil des Lesepublikums der Romanliteratur aus).89 Vor allem Abenteuerromane und empfindsame Liebesliteratur gerieten als potentielle Suchterreger in die Kritik.90 Bereits im späten achtzehnten Jahrhundert führte eine Entwicklung, innerhalb derer sich die individuelle, einsame Lektüre fiktionaler Literatur nicht nur etablierte, sondern extensiv ausbreitete, zu einem Kanonisierungsbedürfnis ausgewählter, vermeintlich unschädlicher literarischer Werke. In diesem Zusammenhang wurde bereits die Literatur der deutschen Klassik als Ideal vor einem Hintergrund der Masse „schlechter“ und als schädlich für die Psyche angesehener Literatur entworfen.91 Anscheinend reichen solche Forderungen noch in das neunzehnte Jahrhundert herein: Etwa fordert der Philologe Karl Morgenstern im Jahr 1808 in einer Schulrede, dass als Präventiv gegen eine „literarische Polypragmosyne“ nur

87 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 330. 88 Fielding wurde an anderer Stelle aber auch, etwa von August Wilhelm Schlegel, lobend erwähnt. Iser, Wolfgang: Die Weltanschauung Henry Fieldings. Tübingen 1952, S. 309; Bormann, Alexander: Vorbemerkung, in: Ders. (Hg.): Ungleichzeitigkeiten der europäischen Romantik. Würzburg 2006, S. 10. 89 Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder Die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, S. 42 f. 90 König, Dominik: „Lesesucht und Lesewut“, in: Göpfert, Herbert G.: Buch und Leser. Vorträge des ersten Jahrestreffens des Wolfenbütteler Arbeitskreises für Geschichte des Buchwesens. Hamburg 1977, S. 89–124, hier S. 94 f. 91 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 398 ff.; König: „Lesesucht und Lesewut“, S. 98

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

die klassische Literatur gelesen werden solle und nennt Goethe, Schiller, Wieland und Voß.92 Solche Äußerungen reflektieren die allgemein als rasant wahrgenommene Entstehung und Ausweitung des Literaturmarktes im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts.93 Diese Entwicklung wird von der Herausbildung eines neuen bürgerlichen Lesepublikums bestimmt, dem durch das aufklärerische Bildungs- und Erziehungsprojekt zunehmend eine der heutigen vergleichbare Lesekompetenz eignet.94 Dieses Publikum verlangt nicht mehr vornehmlich religiöse Erbauungsliteratur, sondern mit sich verstärkender Tendenz Belletristik. Besonders an der Anzahl der Romanpublikationen, die sich ab 1750 im Laufe von 55 Jahren um das 32fache vervielfacht,95 wird diese Entwicklung deutlich. Nicht nur nimmt die Relevanz des Lesens literarischer Texte im Allgemeinen im bürgerlichen Milieu zu, auch der Schriftverkehr steigt stark an. Man kann in diesem Zusammenhang von einer im bürgerlichen Alltag grundsätzlich sich hervortuenden Präsenz der Schrift, ob nun in Form von Büchern, Briefen, Tagebüchern oder Verwaltungsdokumenten,96 sprechen. Vor diesem Hintergrund kann Karl Moors Ausruf „Mir ekelt vor diesem tintengleksenden Sekulum […]“ 97 in Schillers Räubern (1781) in einen übergreifenden medienhistorischen Kontext eingeordnet werden: Das Säkulum ist gerade das „tintenklecksende“, das schreibende (und tatenlose) Säkulum, vor dem ihm ekelt.98 Bereits im späten achtzehnten Jahrhundert entsteht eine Polemik gegen den literarischen Markt, in deren Rahmen eine Bildlichkeit der Defiguration (des Gestaltlosen und der Masse) genutzt wird, um den Großteil der neuen Literatur abzuwerten: Die „Bücherfluth“ als „Ocean“, das „fürchterliche Autorheer“ und das „Feld der Lektüre“, in dem man sich auf höchst gefährliche, wenn nicht gar zum „Verderben“ führende Weise verlaufen kann, fallen dabei schon als Begriffe.99 Auch die „Makulatur“ als polemischer Begriff zählt in diese Reihe (siehe hierzu 3.2.3). Wenn also der Schreiber

92 Morgenstern, Karl: Johannes Müller oder Plan im Leben nebst Plan im Lesen und von den Grenzen weiblicher Bildung. Drey Reden. Leipzig 1808, S. 7; S. 66; S. 71. Zitiert nach: Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 399. 93 Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 46. 94 Vgl. zu dieser gesellschaftlichen Entwicklung seit dem 30jährigen Krieg Engelsing, Rolf: Der Bürger als Leser. Lesergeschichte in Deutschland 1500–1800. Stuttgart 1974, S. 121 ff.; Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 41 ff.; vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 169 ff. 95 Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 44. 96 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 169 ff. 97 Schiller, Friedrich: „Die Räuber“, in: SNA III, S. 1–136, hier S. 20 (I, 2). 98 Vgl. Martin Stingelin, dem das Zitat aus Schillers Räubern als Titel des von ihm in der Reihe Genealogien des Schreibens herausgegebenen Sammelbandes zu Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte als Titel dient, betont die im Zitat ausgedrückte Verachtung des Schreibmaterials. Stingelin, Martin: Einleitung, in: Ders. (Hg.): „Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum.“ Schreibszenen im Zeitalter der Manuskripte. München 2004, S. 7–21, hier S. 9. 99 Morgenstern, Karl: Johannes Müller oder Plan im Leben nebst Plan im Lesen, S. 64. Zitiert nach Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 400.

Ambivalente Medien- und Genrekritik  

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des fiktiven Briefs über den Roman abfällig über den „Bücherhaufen“ der ‚schlechten‘ sentimentalen Romane spricht, denen die Freundin zum Opfer gefallen sei, lässt sich eine polemische Tradition erkennen. Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn der Schreiber seine Gegenwart als „Zeitalter der Bücher“ charakterisiert, eine Wendung, die durchaus nicht positiv-emphatisch zu verstehen ist: Es ist unmöglich, in diesem Zeitalter der Bücher nicht auch viele, sehr viele schlechte Bücher durchblättern, ja sogar lesen zu müssen.100

Die Art des Lesens, so schreibt er später, sei dabei jedoch entscheidend. Er kritisiert eine Form der intensiven, unkritischen Lektüre, die nicht auf Reflexion und damit die Freiheit des Geistes abhebt. Es ist eine Art „wildes Lesen“,101 demgegenüber sich ein romantischer Lesemodus als seiner Projektionsfläche zwiespältig insofern verhält, als er ihn integriert, jedoch zugleich reflektiert: Aleida Assmann hat dies als „hermeneutisches Lesen“ bezeichnet, das vor allem durch Ironie gekennzeichnet sei: Die Ironie führt ins Unendliche, letztlich weg vom sinnlichen Lesegenuss und kreiselartig auf diesen zurück, bevor sie wieder von ihm fort rückt.102 Antonio empfiehlt also der Freundin: Einige unter diesen [schlechten Büchern, C. S.] sind, darauf darf man mit einiger Zuversicht rechnen, glücklicherweise von der albernen Art, und da kommt es wirklich nur auf uns an, sie unterhaltend zu finden, indem wir sie nämlich als witzige Naturprodukte betrachten. Laputa ist nirgends oder überall, liebe Freundin; es kommt nur auf einen Akt unsrer Willkür und unsrer Fantasie an, so sind wir mitten darin. […] In dieser Stimmung kann ich oft ganz allein für mich über Bücher, die keinesweges dazu bestimmt scheinen, in ein Gelächter verfallen, was kaum wieder aufhören will. […] Wollen Sie aber, was Sie leider nicht mehr lassen können, in einem neuen Sinne tun, so will ich nicht mehr über den Bedienten schelten, wenn er die Haufen aus der Leihbibliothek bringt.103

Diese Art des Lesens soll nicht einen bestimmten, durch den Text überlieferten Sinn übermitteln, wie es im Zuge von Kanonisierungsbestrebungen in Reaktion auf die ‚Zeichenflut‘ der verlockenden Texte erzielt wurde.104 Vielmehr wird die Kategorie eines arabesken Humors eingeführt, eine Verwirrung des textuellen Diskurses als eine Reflexion der Darstellungsebene auf der Ebene der Form, der zu einer Unverständlichkeit als höherer Form des Verstehens führt.

100 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 332. 101 Assmann, Aleida: „Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95–111, hier S. 96 f. 102 Ebd., S. 110. 103 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 332. 104 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 400.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

So ist die Arabeske ist eine Form, doch sie steht in einem engen Verhältnis zur Formlosigkeit der zeitgenössischen Literaturverhältnisse und -genres, die ihre Voraussetzung bilden, von denen sie sich jedoch zugleich reflexiv ins Unendliche abheben soll. Vor allem das folgende Zitat macht dieses Verhältnis deutlich: Wir dürfen nun einmal die Forderungen in diesem Stück an die Menschen der jetzigen Zeit nicht zu hoch spannen, und was in so kränklichen Verhältnissen aufgewachsen ist, kann selbst natürlicherweise nicht anders als kränklich sein. Dies halte ich aber, so lange die Arabeske kein Kunstwerk sondern ein Naturprodukt ist, eher für einen Vorzug, und stelle Richtern also auch darum über Sterne, weil seine Fantasie weit kränklicher, also weit wunderlicher und fantastischer ist.105

Die Arabeske als „Naturprodukt“, als Form, die ständig auf ihre eigene Entstehung verweist, entwickelt sich überhaupt erst aus der Masse an „schlechten Büchern“, an „wirren ungebildeten Redensarten“, die doch zugleich als Formlosigkeit ihren Hintergrund bilden. Die Bücherhaufen bilden den gestaltlosen Hintergrund des arabesken Allerleis, das jedoch selbst nicht auf den ersten Blick von diesem Hintergrund zu differenzieren ist. Damit wird das arabeske Muster metaphorisch auf die Abhängigkeit der als „einzig romantische Erzeugnisse“ deklarierten Romane von dieser trivialen Literatur übertragen: So besteht in der Arabeske eine innere Verwandtschaft von Formlosigkeit und Form, die sich in oberflächlich betrachtet wirren und bedeutungslosen Textstrukturen und einer äquivalenten Rezeption ausdrückt, welche jedoch von tiefer Bedeutsamkeit sind. Ganz ähnlich wie Friedrich Schlegel in seinem Brief über den Roman verfährt Novalis in dem zweiten Gespräch seiner Dialogen, in dem sich die typisch frühromantische Position des zweiten Gesprächspartners vor der kritischen, klassisch-polemischen Position des ersten abzeichnet. Das Lob der Masse an Neupublikationen als eine Art Großfamilie des Geistes wird damit überhaupt erst im Diskurs mit der Kritik einer vermeintlichen „Bücherseuche“ und Bibliomanie entwickelt. A. Der neue Meßkatalog? B. Noch naß von der Presse. A. Welche Last Buchstaben – welche ungeheure Abgabe von der Zeit – B. Du scheinst zu den Omaristen zu gehören. Wenn es erlaubt ist euch nach dem ­Consequentesten unter euch zu benennen. A. Du willst doch nicht den Lobredner dieser Bücherseuche machen.106

105 Ebd., S. 331. 106 Novalis: „Dialogen“, in: N II, S. 661–671, hier S. 661. Mit der Bezeichnung des Gesprächspartners als „Omaristen“ spielt „B“ auf die zweite Zerstörung der Bibliothek von Alexandria bei der Einnahme der Stadt durch den Kalifen Omar I an, der mit den Büchern der Überlieferung nach ein halbes Jahr lang die Bäder heizen ließ. Schulz, Gerhard: Kommentar: „Dialogen“ und „Monolog“ 1798, in: Novalis Werke. Hg. u. komm. v. Gerhard Kurz. München 1987, S. 771–772, hier S. 771.

Ambivalente Medien- und Genrekritik  

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Dagegen setzt „B“ seine Vision der Vielfalt als Ausgeburt des Geistes: Jeder Mensch ist ohne Maaß veränderlich. Wie mit den Kindern, so mit den Büchern. Ich möchte eine ganze Büchersammlung, aus allen Kunst, und Wissenschaftsarten, als Werck meines Geistes, vor mir sehn.107

Die „Bücherseuche“ erhält damit die Bedeutung einer sich – ganz im Novalis’schen figuralen Sinne, den auch sein Begriff der „Enzyklopädistik“108 erfüllt – ankündigenden Einheit. „B“s Gegenperspektive zu der an die Lesesucht- und Bibliomanie-Polemik des achtzehnten Jahrhunderts anschließenden Perspektive des Gesprächspartners „A“ ‚rettet‘ die Bücher durch den Fokus auf das Geistige, das „A“ den Büchern aberkennen will, indem er sie nur als materielle „Last“ abwertet. Gerade die Vielheit der zeitgenössischen Publikationen in Kunst und Wissenschaft stellt eine Lebendigkeit des Geistes dar, dessen Ausgeburten wiederum erneut anregend auf den Geist wirken und so eine zirkuläre Bewegung implizieren. Wie in Friedrich Schlegels Einführung der Arabeske ergibt sich ein Konzept der Einheit gerade über den Diskurs mit einer Kritik an der Gegenwartsliteratur als formloser Erscheinung und bloß materielle „Last Buchstaben“. Wenn sie auch bestimmte Aspekte einer Empfindsamkeitskritik (siehe hierzu auch 3.3) übernimmt, so fußt die Ästhetik der Frühromantik und speziell der in ihr eingeführte Begriff der Arabeske doch in entscheidender Weise selbst auf der gerade über die Schriftreflexion entwickelten Gefühls- und Innerlichkeitskultur der Empfindsamkeit (siehe dazu auch 2.2).109 In Anerkenntnis dieser Tatsache führt Friedrich Schlegel denn auch eine Kategorie „geistiger Sentimentalität“ ein, die er von der kritisierten Rührseligkeit abgrenzt: Denn nach meiner Ansicht und nach meinem Sprachgebrauch ist eben das romantisch, was uns einen sentimentalen Stoff in einer fantastischen Form darstellt. Vergessen Sie einen Augenblick die gewöhnliche übel berüchtigte Bedeutung des Sentimentalen, wo man fast alles unter dieser Benennung versteht, was auf eine platte Weise rührend und tränenreich ist […].

107 Novalis: „Dialogen“, S. 664. 108 Ders.: Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik, in: N III. Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981, S. 233–266; S. 267–280; Pikulik: Frühromantik, S. 119 ff.; Schreiber, Jens: Das Symptom des Schreibens. Roman und absolutes Buch in der Früh­ romantik. Frankfurt a. M. 1983, S. 118–181; Engel, Manfred: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1. An­ fänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart/Weimar 1993, S. 444– 496. 109 Pikulik: Frühromantik, S. 26 f.; vgl. hier etwa das vierbändige philosophische Werk Johann Georg Zimmermanns, in dem er in vielfältiger Weise die Einsamkeit des Schreibens und Lesens preist. Zimmermann: Ueber die Einsamkeit. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des 18. Jahrhunderts. München 2003, S. 215.

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[…] Was ist nun dieses Sentimentale? Das was uns anspricht, wo das Gefühl herrscht, und zwar nicht ein sinnliches, sondern das geistige. Die Quelle und Seele aller dieser Regungen ist die Liebe, und der Geist der Liebe muss in der romantischen Poesie überall unsichtbar sichtbar schweben […].110

Als Begriff für eine mystische Schrift erweitert die Arabeske wie die verwandten Begriffe der Figur und Hieroglyphe dabei die schriftgeleitete empfindsame Innerlichkeitserfahrung nicht nur in eine Dimension der geistigen Reflexion hinein, sondern zudem in ein magisches Bewusstsein des Unendlichen.111

3.2.2 Auf- und Abwertung der Makulatur Der Begriff der „Makulatur“ stammt zuerst und vor allem aus dem Druckereihandwerk und -geschäft. Er ist abgeleitet vom lateinischen Wort macula (dt. „Fleck“) und bezeichnet das für die Weiterverarbeitung zum Buch unbrauchbar gewordene (weil zumeist bekleckste) Papier, das fürderhin nicht mehr als Zeichenträger angesehen, sondern als Material weiterverkauft werden kann.112 Beim Papierhändler wurde es um 1800 zu Gewichtmaßen vertrieben und diente dann als Verpackungsmaterial, für Papiertapeten oder anderes. Andererseits konnte es auch, nach einem Recyclingprozess, der es von den Spuren der Tintenkleckse und Buchstaben reinigte, wieder als potentieller Zeichenträger in die Druckereipraxis eingehen.113 Aber auch andere, nicht direkt im Druck bekleckste, sondern bereits zum Buch gebundene Papiere konnten Makulatur werden, wenn sie nicht verkauft wurden. Dann verloren sie ihren finanziellen Wert und zugleich ihren Status als Zeichenträger, indem auch sie dem Papierhändler zum Verkauf als Verpackungsmaterial zukamen. Auch Handschriftliches konnte in diesen Prozess eingehen. Im übertragenen Sinne, der nicht direkt auf den Druckprozess bezogen ist, konnte damals und kann heute noch also jedes (nicht unbedingt, aber vielleicht bekleckste) Papier, das bedruckt oder beschrieben wurde, einen Wertverlust erfahren, der es vom Zeichenträger zum bloßen Material macht. Auch ist dieser Wertverlust nicht unbedingt auf die Ökonomie des Buchmarktes bezogen, sondern kann ebenso durch ein Qualitätsurteil erfolgen, das der Kritiker, einen Text polemisch als Makulatur bezeichnend, an diesem vollzieht.114 Der Begriff reflektiert um 1800 somit dreierlei: erstens die enorme Bedeutung, die dem Papier

110 Ders.: „Gespräch über die Poesie“, S. 333. 111 Pikulik: Frühromantik, S. 28. 112 Zedler: Universal-Lexicon. Bd. 19. Halle/Leipzig 1739, S. 81. 113 Wirth, Uwe: „(Papier-)Müll und Literatur. Makulatur als Ressource“, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 133 (2014), S. 19–32, hier S. 22. 114 Vgl. Fuchs, Tobias: Büchermachen. Autorschaft und Materialität in Jean Pauls „Leben Fibels“. Erlangen 2012, S. 20–23.

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als wiederverwertbarer Ressource in dieser Zeit der Industrialisierung von Papierherstellung und -verwertung zukommt; zweitens die Marktmechanismen, die zur Wertbestimmung bzw. Entwertung oder Neuverwertung der schriftlichen Medien führen; drittens die Stellungnahme der Literaturkritiker und Literaten zu dieser Entwicklung. Diese Vernetzungen und Dynamiken sind im Folgenden zu erläutern. Im Recyclingprozess, der schon früh an der Mangelware Papier vollzogen, und dessen technische Verbesserung ständig angestrebt wurde, kann die Makulatur wieder zum potentiellen Zeichen- und damit über den Wert des eigenen Materials hinausgehenden Wertträger werden. Wie Uwe Wirth herausgearbeitet hat, ist dieser Recyclingprozess also als Reinigungsprozess zu sehen, der das Papier wieder weiß macht und von den Rückständen der zur Makulatur gewordenen Tintenfigurationen (ehemals Buchstaben) befreit: Die eigentliche Makulatur ist die Schrift auf dem Papier, die über diesen Status als Müll entsorgt wird, während das solcherart gereinigte Papier wieder vom Gebrauchsmaterial für Verpackungen etc. zum potentiellen Materialträger werden und damit eine Wertsteigerung erfahren kann.115 Doch nicht nur durch einen solchen Recyclingprozess, der die ehedem als Zeichen angesehenen Tintenreste entfernt, kann Makulatur schließlich wieder zur Semiophore werden (einem menschlichen Artefakt, das die Funktion eines Zeichenträgers erfüllt).116 Auch Texte, die einmal als wertlos erkannt und als Makulatur zur Verpackung von Speisen oder anders verwendet wurden, können zu späteren Zeitpunkten oder durch andere (vielleicht nicht-institutionelle oder nicht marktökonomisch gesteuerte) Deutungsperspektiven den Status der Makulatur verlieren und wieder Semiophoren werden, als die sie dann in Sammlungen eingehen (siehe zu den symbolischen Valenzen dieser Auf- und Abwertungsbewegung, die auch den „Fleck“ als etymologischen Ursprung des Begriffs „Makulatur“ betreffen, Kapitel 3.4). Im neunzehnten Jahrhundert werden nicht nur solche Recyclingverfahren und Herstellungsverfahren von Papier (etwa aus Lumpen) entwickelt, es werden auch Makulatur- bzw. Buch- und Handschriftensammlungen im Zuge von Musealisierungsund Archivierungsprozessen institutionalisiert.117 Dies ist Ausdruck eines allgemein gesteigerten Bewusstseins für die Notwendigkeit einer Scheidung des als bedeutend Erkannten vom unbedeutenden Rest in einer Zeit, in der durch die fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung der Müll eine ganz neue Dimension annimmt und sich selbst ins Bewusstsein drängt.118 Doch auch gerade die genannten Recyclingund Herstellungsverfahren – von Papier etwa aus Lumpen – werden im neunzehnten

115 Wirth: „(Papier-)Müll und Literatur“, S. 23. 116 Zum Begriff der Semiophore vgl. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1998, S. 92. 117 Vgl. Pomian: Der Ursprung des Museums, S. 69 f.; Häbler, Konrad: „Makulatur-Forschung“, in: Zentralblatt für Bibliothekswesen 25 (1908), S. 535–544. 118 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 384; S. 389.

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Jahrhundert entwickelt. In dieser Zeit entsteht Baudelaires Text Du vin et du haschisch, in dem er die Tätigkeit des Lumpensammlers in den Straßen von Paris als eine Archivierung des Mülls beschreibt.119 An Baudelaires literarischer Faszination für den Müllsammler manifestiert sich dann wiederum selbst eine Tendenz der Kunst, sich vor allem seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts verstärkt dem von der Gesellschaft über Erinnerungskultur sowie Ökonomie Abgestoßenen als dem Gegenstück des industriellen Marktvertriebs sowie der offiziellen und institutionellen Sammlungs- und Archivierungskultur anzunehmen.120 Die Bewegung der Abwertung, in der Dinge vom Status des Gebrauchsgegenstands oder der Semiophore zur gestaltlosen Masse ‚abfallen‘, wird damit nicht nur sichtbar gemacht,121 sondern gerade zur Quelle künstlerischen Schöpfens. Es ist bereits um 1800 auch gerade der literarische Müll, der dabei zum Motiv und zur Quelle literarischen Schaffens wird: etwa die Pfeifenanzünder, Fetzen von Verpackungspapier und anderem, die der fiktive Herausgeber Jean Paul in Leben Fibels als fragmentarische Überbleibsel für die Biographie von Gotthilf Fibel verwendet.122 Überhaupt geht die Literatur Jean Pauls immer wieder von der Fantasie des Papierfetzens aus, der wiederum Teil und Quelle des Literarischen wird.123 Die Makulatur ist um 1800, dieser nie gekannten Hochzeit des Buchhandels,124 nicht nur die immer wieder präsente Ansammlung nicht verkaufter Literatur. Sie ist auch per se die abgewertete, die schlechte Literatur,125 die von Kritikern wie Friedrich Schlegel auch als „Bücherhaufen“ beschimpft wird. Dabei laufen die Marktmechanismen, die Literatur schließlich zum Papiermaterial machen, durchaus den Urteilen der Kritiker, die schlechte Literatur zur „Makulatur“ stempeln, zuwider. Was unverkäuflich ist, muss nicht schlecht, was verkauft wird, aus der Sicht der Kritiker nicht von hohem literarischem Wert sein, im Gegenteil; auch vor diesem Hintergrund entsteht das schon seit dem achtzehnten Jahrhunderts in der Kritik geäußerte Kanonisierungsbedürfnis gegen die „Bücherflut“.

119 Vgl. dazu ebd., S. 385. Assmann bezieht sich hier auf Walter Benjamins Text „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd.  1.2. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schwepphäuser. Frankfurt a. M. 1978, S. 511–604, hier S. 521. 120 Hauser, Susanne: „‚Die schönste Welt ist wie ein planlos aufgeschichteter Kehrichthaufen‘. Über Abfälle und Kunst“, in: Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie 5 (1996), S. 244–263. 121 Vgl. Assmann, Erinnerungsräume, S. 384. 122 Siehe hierzu die folgenden Publikationen: Fuchs, Tobias: Büchermachen, S. 44–53; Wieland, Magnus: „Jean Pauls Sudelbibliothek. Makulatur als poetologische Chiffre“, in: Jahrbuch der Jean-PaulGesellschaft 46 (2011), S. 97–119, hier S. 88 ff.; Schmitz-Emans, Monika: „Vom Leben und Scheinleben der Bücher. Das Buch als Objekt bei Jean Paul“, in: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 48 (1993), S. 17–46, hier S. 20 ff.; Wirth, Uwe: „(Papier-)Müll und Literatur“, hier S. 26. 123 Vgl. Wieland: „Jean Pauls Sudelbibliothek“. 124 Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 44. 125 Vgl. Fuchs: Büchermachen, darin: „Kultur der Makulatur“, S. 20–23; vgl. Wieland: „Jean Pauls Sudelbibliothek“, S. 97 f.

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Die literarische Bearbeitung des durch Abwertungsbewegungen zum Gebrauchsmaterial verkommenen Textes kann als eine subversive Gegenbewegung zur Kanonisierung, der literarischen Erinnerungskultur, angesehen werden. Diese reflektiert zugleich das in dieser Zeit geschaffene Urheberrecht, das Autoren befähigt, die Reproduktion ihrer Texte zu genehmigen und vor allem auch zu verweigern. Hierin manifestiert sich ein Bewusstsein für die geistige Ursprungskategorie und Originalität literarischer Autorschaft, das sich mit der Genieästhetik seit dem achtzehnten Jahrhundert verstärkt herausgebildet hatte und nun auch juristisch quittiert wird.126 Eben jenes Bewusstsein ist es, das im neunzehnten Jahrhundert auch Sammlungen von aus alten Bucheinbänden herausgelösten Handschriftenbruchstücken entstehen lässt.127 Diese Handschriften werden fortan als Originale oder als Fassungen, die dem ursprünglichen Original zeitlich näher liegen als die späteren Abschriften, wertgeschätzt. An diesem Vorgang manifestiert sich zugleich eine sich im Angesicht der mechanischen Reproduzierbarkeit des Drucks herausbildende Vorstellung vom Ursprungs- und Authentizitätscharakter des Manuskripts.128 Der literarische Text wiederum, der den ‚Müll‘ der literarischen (Druck-)Produktion motivisch zum Text aufwertet und sich den Anschein gibt, aus solchen Fetzen anderer Texte wiederum zu entstehen, stellt ein Bewusstsein über von vornherein gebrochene Originalität, Einheit und Ursprünglichkeit aus;129 auch integriert er die Materialität der Schrift in einer expliziten Weise in seine Ästhetik. Diese literarische Verarbeitung schriftlicher Materialität, die das Motiv der Makulatur anzeigt, wird entschieden durch einen ambivalenten Form- und Genrebegriff wie die Arabeske nahegelegt. Sie setzt sich auf ambivalente Weise mit älteren polemischen Positionen auseinander, die sich im Zuge der fortschreitenden Vergrößerung des Lesepublikums und weiteren Ökonomisierung des Buchmarktes im achtzehnten Jahrhundert bereits gebildet hatten. An der Arabeske tritt ein Bewusstsein hervor, das textuelle Uneinheitlichkeit, Vielfalt bzw. die dem einzelnen Leser unerschließbare Schriftmasse, die „Makulatur“, nicht nur registriert und kritisiert, sondern zugleich produktiv einzubinden versucht.

126 Vgl. Fuchs: Büchermachen, S. 34–37; 40–43. 127 Häbler: „Makulatur-Forschung“, S. 535–544. 128 Vgl. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin 2016, S. 166. 129 Uwe Wirth nennt etwa Jean Pauls Recycling-Konzept, das er in Leben Fibels entwerfe, das Gegenmodell zu einem idealistischen Schöpfungskonzept. Vgl. Wirth: „(Papier-)Müll und Literatur“, S. 28.

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3.2.3 (Selbst-)Satire Die Arabeske bewegt sich begrifflich im Kontext von „Groteske“, „Burleske“ und „Humoreske“.130 Dies spiegelt ihre literarischen Vorbilder, die ironischen Schreibweisen Cervantes’, Diderots und Jean Pauls, wider. Friedrich Schlegels Umwertung des formlosen „bunten Allerleis“ in seinem Brief über den Roman in ein positives Konzept kann man demnach als Zitat der Prägung des Begriffs der satura in der römisch-­ italienischen Tradition durch den Schriftsteller Quintus Ennius als „Mischkost“ einer Gedichtsammlung (um 200 v. Chr.)131 verstehen. Das Verfahren der Satire ist dementsprechend eng verwandt mit dem ironischen Geist der Arabeske, wie ihn Schlegel im Brief über den Roman beschreibt. Dass die Arabeske dabei um „Materie und Form [spielt]“,132 kann man in diesem Zusammenhang als Bezug zum Verfahren von Parodie und Satire verstehen. Ein sprechendes Zitat Jean Pauls aus den Grönländischen Prozessen (1784) verdeutlicht diesen Bezug: So wie der Teufel in dem Körper des Studenten, den er getödet hatte, auf Befehl des Magikers Agrippa einige Zeit die Stelle der Sele vertrat, und mit den fremden Füssen einen Tag spazieren gieng; eben so schenkt unsre Ironie der Empfindsamkeit, die sie hingerichtet, verlängertes Leben, und redet die tode Sprache der weinerlichen Makulatur.133

Diese Metaphorik ist von der ironisierenden Distanz zwischen Form und Inhalt abgeleitet, die als Hautcharakteristikum von Parodie wie Travestie festgestellt wurde,134 und im behandelten Zitat Jean Pauls auch als Mittel der Satire erkannt werden kann. Zugleich – entscheidend auch für den Begriff der Arabeske – wird sich die Satire selbst zum Gegenstand: Denn die Empfindsamkeit ist bereits als literarische Strömung Vergangenheit und zu Genüge satirisch kritisiert worden, wie Jean Paul meint. Damit wird die Satire selbst zur „weinerlichen Makulatur“ – und die Motivik des bloßen Schriftmaterials erlangt eine ausgewiesene Bedeutung in diesem selbstsatirischen Zusammenhang. Schlegels Vorbildromane für die arabeske Gattung stellen etwa Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman und Miguel de Cervantes’ El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha dar. Diese Romane sind jedoch zugleich

130 Zu Schlegels teilweise synonymem Gebrauch von Arabeske und Groteske vgl. Polheim: Die Arabeske, S. 110 ff.; zur Humoreske vgl. Grimm, Reinhold: „Begriff und Gattung Humoreske“, in: Jahrbuch der Jean Paul Gesellschaft 3 (1968), S. 145–164. 131 Knoche, Ulrich: Die römische Satire. 4., bibliogr. erw. Aufl. Göttingen 1982, S. 14. 132 Schlegel, F.: Literary Notebooks; 1065. 133 Richter, Jean Paul: „Grönländische Prozesse“. Zweites Bändchen, in: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftr. der Preuß. Akademie der Wissenschaften begr. v. Eduard Berend. 1. Abt. Bd. 1.: Satirische Jugendwerke. Hg. v. Eduard Berend. Weimar 1927, S. 119–218, hier S. 188. 134 Vgl. den Rückblick über die Forschungspositionen bei Karrer, Wolfgang: Parodie, Travestie, Pastiche. München 1977, S. 52 ff.

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die genremäßigen Vorfahren der in jener Zeit höchst populären Schelmen- bzw. Abenteuer-, Ritter- und Räuberromane – Texte, die ob ihrer populären Natur ebenso durch Schlegel kritisiert werden. Hier wären etwa die Texte Carl Gottlieb Cramers zu nennen (etwa Leben und Thaten des edlen Herrn Kix von Kaxburg oder Leben und Meinungen, auch seltsamliche Abentheuer Erasmus Schleichers), die sich im ausgehenden achtzehnten Jahrhundert überaus großer Beliebtheit beim breiten Publikum erfreuten. Damit ist die Arabeske auch als Genre der romantischen Literatur nicht klar abzugrenzen von der durch sie selbst ironisch kritisierten trivialen bzw. populären Literatur – auch dies schein durch ihre Bildlichkeit der Durchmischung von Vorder- und Hintergrund, von Marginalem und Zentralem, metaphorisch nahegelegt zu sein. Diese Widersprüchlichkeit der Arabeske auch in genrespezifischer Hinsicht bietet Raum für Parodien und Satiren, mit denen Romantiker mitunter ihre Denkweise und die eigene Nähe zu vermeintlich trivialen Genres selbst karikieren. Besonders in der späteren Romantik sind solche scherzhaften Bezugnahmen auf die frühromantischen Begriffe häufig vorgekommen. Diese humoristische Auseinandersetzung mit dem bereits in der Frühromantik angelegten inhärenten Widerspruchsgeist der eigenen Begriffe und Literatur führte unter anderem in der Romantikforschung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, diese Dynamik völlig verkennend, zur Verurteilung der späteren Romantik als „Pseudoromantik“. In dieser würde eine bloß scherzhafte und „kindische“ Wiederholung der „genialen Ironie“ der Frühromantik betrieben.135 Vor allem der Begriff der Makulatur tritt bereits um 1800 immer wieder in satirischironischen Kontexten auf, in denen der hohe Geist der Ästhetik jener Zeit humoristisch degradiert wird. Als Begriff für „schlechte“ Literatur, die es verdient habe bzw. deren einziges Schicksal es wäre, schließlich auf dem Müll zu landen, findet er Eingang in Texte, die entweder sich selbst oder/und zugleich den Gegenstand, von dem sie handeln, als Makulatur bezeichnen. Eine solche humoristische Selbstmarginalisierung stellt die eigene Unterlegenheit gegenüber einer sich überlegen gebenden Literatur aus und bezieht deren ‚hohen‘ Geist wiederum zurück auf sein vermeintlich banales, nichtiges und doch in dieser Zeit des sich weiter entwickelnden literarischen Marktes immer präsenter werdendes papiernes Schrift- und Schreib-Material.

135 Krüger, Hermann Anders: Pseudoromantik. Leipzig 1904, S.  18. Krüger bezog sich hierbei jedoch auf bereits um 1800 schon derart geäußerte Urteile und eine damit auch in dieser Zeit schon geführte Wertdiskussion um die Romantik. Vgl. Stockinger, Claudia: Das dramatische Werk Friedrich de la Motte Fouqués. Ein Beitrag zur Geschichte des romantischen Dramas. Tübingen 2000, S. 10 ff., hier den Bezug zu Joseph Eichendorffs Schrift „Zur Geschichte der neuern romantischen Poesie in Deutschland“; vgl. zur Verbindung von Schauererzählung und romantischer Literatur die frühe Untersuchung von Thalmann, Marianne: Der Trivialroman des 18. Jahrhunderts und der romantische Roman. Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Geheimbundmystik. Berlin 1923.

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Als Beispiel für diesen karnevalesk-satirischen136 Vorgang kann etwa ein deutlich in der Tradition des Schelmenromans stehender Text eines anonymen Autors aus dem Jahr 1804 angeführt werden, der unter folgendem Titel erschien: Leben, Thaten und Meinungen des Vetter Hans Dampfs: eine komische Geschichte wider das Todtschiessen und Todtärgern, auch zugleich Hochzeit-, Braut- und Neujahrs-Geschenk für lustige Leute, Spassvögel, Buch- und Tauschhändler, Gewürz- und Makulatur-Krämer, mit Holzschnitten, Zeichnungen und Musik. Bereits im Titel, aber fortgesetzt in seinem Vorwort, gibt der Autor-Erzähler zu, dass sein Text ja vermutlich von niemandem – dem er auch, als dem hochwohlgeborenen „Herrn Niemand“, gewidmet ist – gelesen werden wird. Beliebt mache er sich daher eher bei den Käse-Weibern, Pfeffer-Krämern, Friseurs und den Papier-Maschemachern, […] und vermehre dadurch die deutsche Industrie-Schule, ja unterstütze sie noch weit besser als mancher Autor, der Journale, Broschüren und sogar Quartanten darüber schreibt. Selbst mancher Kaffee- und Bierwirth wird sich hoch darob freuen, wohlfeilere Papierschnitzgen zur Anzündung der Pfeifen zu erhalten […].137

Der Autor bleibt jedoch nicht bei dieser Feststellung des bloßen Materialwertes seines Textes, sondern schlägt eine erhebendere Verwendung der von Verleger, Drucker und nicht zuletzt vom Autor erzeugten Papiermasse vor: [U]nd wenn sogar die papiernen Luftballons nicht ausser Mode gekommen wären, so bin ich so frei, Ihnen ins Gesicht hinein zu versichern, daß ich und mein Hr. Verleger auf lebenslänglich gesichert wären, nie mehr eine andere Reise, als in einem von unserer Makulatur verfertigten Luftballon zu unternehmen, und so könnte es leicht geschehen, daß wir dem Hrn. Garnerin in Paris den Rang streitig machen, und es vielleicht so weit bringen könnten, daß Schriftsteller, Verleger und Drucker mit ihren Makulaturen Luftreisen nach Leipzig zur Oster- und Herbstmesse beinahe gratis machen, und ordinaire Diligencen in der Luft erreichen könnten.138

136 Vgl. zur Satire nach Michail Bachtins Begriff der Menippee Lachmann, Renate: Vorwort, in: Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russ. v. Gabriele Leupold. Hg. u. mit einem Vorwort versehen v. Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987, S. 7–48, hier S. 30: Bachtins Begriff der Menippeischen Satire sieht in dieser ein Gattungsgedächtnis repräsentiert, innerhalb dessen Spuren der „Übersetzung eines archaischen Karnevalsgestus, eines archaischen Synkretismus und einer archaischen parodistischen Grundeinstellung in einem verbalen Text bewahrt sind.“ (S. 30). Im Satirischen, das auf die Gattung der Menippee nach Bachtin zurückgeht, wäre damit immer eine karnevaleske Tendenz transportiert, die eine gegenseitige Brechung verschiedener Stimmen als schöpferisches Prinzip erzeugt. Hiermit ist auch das parodistische Element gemeint, das eben diese Degradierung des Hohen auf das Niedrige mit sich bringen kann. 137 [Anonym:] Leben, Thaten und Meinungen des Vetter Hans Dampfs: eine komische Geschichte wider das Todtschiessen und Todtärgern, auch zugleich Hochzeit-, Braut- und Neujahrs-Geschenk für lustige Leute, Spassvögel, Buch- und Tauschhändler, Gewürz- und Makulatur-Krämer, mit Holzschnitten, Zeichnungen und Musik. 1804, Vorwort, S. 1. 138 Ebd., Vorwort, S. 2 f.

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Nicht das Schweben „auf den Flügeln der Reflexion“ wird hier gepriesen.139 Vielmehr tritt im schwerelosen Flug die Makulatur ihren Siegeszug bei der Leipziger Buchmesse an – Autor, Verleger und Drucker im Schlepptau (bzw. Ballontau) hängend. Die Makulatur ist an dieser Stelle nicht ein rein kritisch auf bestimmte Texte bezogener, diesen ihren geistigen Wert aberkennender Begriff. Vielmehr verwendet der Autor den Begriff der Makulatur im Rahmen der karnevalesken Tendenzen des Schelmenromans, um das Geistige des Textes auf spaßhafte Weise (und mit relativ deutlichem Bezug auf die Philosophie der Zeit, an anderer Stelle werden etwa Fichte und Kant auch genannt)140 auf die materielle Ebene ‚herunterzuziehen‘, bzw. umgekehrt: um die Makulatur in den Himmel zu heben. Ähnlich verhält es sich in zwei Miszellen, die 1811 in der Zeitschrift Makulatur oder Zeitung für Narren unter den Überschriften Über den Unterschied des leeren und bedruckten Papiers, und von dem Nutzen des letztern und Makulatur erschienen.141 In diesem zweiten Abschnitt wird die immer weiter vorangetriebene Vergrößerung des Buchmarktes durch weitere Publikationen als reine Anhäufung von Makulatur und Vernichtung der Literatur beschrieben, die das wahre Ziel jener „Suche nach der Wahrheit“ darstelle: Makulatur ist die letzte Bestimmung der allgemeinen Literatur, Bücher sind nur unendliche Approximationen, Quadraturen des Cirkels der ewigen Wahrheit, versucht von Forschern jeder Art. Aber wer wird sich um die Approximationen und Quadraturen länger bekümmern, wenn die Wahrheit endlich selber gefunden ist, wie es keinen Zweifel leidet, da wir sie alle so ämsig suchen, und dabei weder Papier noch Mühe noch Tinte sparen. Sollte es uns aber in jenen künftigen glücklichen Tagen nicht erlaubt seyn, die Rückstände unserer kostspieligen Versuche auf andere Art zu verbrauchen, wie man die Rückstände der Weindestillation zur Viehmast benutzt, oder die von der Salpetersäurebereitung zu einer guten Purganz? – Unsere immer trefflicher werdende Oekonomie hat der Natur den Kreislauf aller Dinge und ihre Metempsychose zum Dünger glücklich abgelernt und schätzt den letzten über alles. Ebenso hat sie zuerst die wahre und letzte Bestimmung aller Bücher, nämlich zu nützlicher Makulatur, längst eingesehen. […] Der Trieb nach Vernichtung aller Literatur, was kann er aber anders sein als eine übergroße, tumultuarische Freude über den nun nicht mehr fernen Rast- und Feiertag aller gelehrten Arbeit! Eine solche Freude äußert sich stets durch Zertrümmerungssucht nach dem Zeugnis aller Psychologen.142

139 KFSA II, S. 182 f. (Athenäums-Fragmente, Nr. 116): „Und doch kann auch sie [die progressive Universalpoesie, C. S.] am meisten zwischen dem Dargestellten und dem Darstellenden, frei von allem realen und idealen Interesse auf den Flügeln der poetischen Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“ 140 [Anonym:] Leben, Thaten und Meinungen des Vetters Hans Dampf, S. 21. 141 Hesperus: enzyclopädische Zeitung für gebildete Leser Nr. 51 (1812), S.  407 f. (Nachdruck aus: Makulatur oder Zeitschrift für Narren Nr. 1 [1811]). Den Fund dieser Quelle verdanke ich der Angabe in Tobias Fuchs’ kurzer, aber für die Thematik ungemein hilfreicher und informativer Publikation: Fuchs: Büchermachen, S. 16. 142 „Makulatur“, in: Hesperus, Nr. 51 (1812), S. 408.

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Die letzte, ewige Wahrheit, die von Autoren aller Forschungsrichtungen oder literarischen Gattungen angestrebt wird, liegt letztlich in diesem Vorgang selbst, seiner banalen, materiellen Natur. Die ‚hohe Wahrheit‘, das Absolute, dem Autoren in ihrer Vielschreiberei ewig zustreben und zuarbeiten, entpuppt sich als „Metempsychose zum Dünger“. Dieser Vorgang erscheint als satirisches Spiegelbild etwa zu Novalis’ Vision einer Reinkarnation der Welt im Inneren: Die Phantasie setzt die künftige Welt entweder in die Höhe, oder in die Tiefe, oder in der Metempsychose zu uns. Wir träumen von Reisen durch das Weltall: ist denn das Weltall nicht in uns? Die Tiefen unseres Geistes kennen wir nicht. – Nach Innen geht der geheimnisvolle Weg. In uns, oder nirgends ist die Ewigkeit mit ihren Welten, die Vergangenheit und Zukunft. Die Außenwelt ist die Schattenwelt, sie wirft ihren Schatten in das Lichtreich. Jetzt scheint es uns freilich innerlich so dunkel, einsam, gestaltlos, aber wie ganz anders wird es uns dünken, wenn diese Verfinsterung vorbei, und der Schattenkörper hinweggerückt ist. Wir werden mehr genießen als je, denn unser Geist hat entbehrt.143

In der Miszelle Über den Unterschied des leeren und bedruckten Papiers, und von dem Nutzen des letztern werden vor diesem satirischen Hintergrund die haptischen und sinnlichen Eigenschaften des bedruckten Papiers und seiner Lektüre in einer lustvollexpliziten Weise gelobt: Erstens. Giebt der Preßbengel, unter demselben das Papier gedruckt wird, diesem eine ungemeine Zartheit, Sanftheit, Milde und Nachgiebigkeit. Es verliert seine rauhe, spröde Natur, wird geschmeidig unter den Fingern, läßt sich biegen, drücken, zwicken, stampfen, saugt ein, und giebt von sich wie ein Schwamm, – in Summa es erlangt die Fähigkeit sich in jede beliebige Form falten, passen und zwängen zu lassen. Zweitens. Wie der Teufel selbst Scheu vor einer ganz weißen reinen Seele trägt, und ihrer eher nicht Meister werden kann, als bis er sie einigermaßen schwärzlich durch seine Krallen gemacht hat, – so tragen wir Menschen Scheu vor reinem weißem Papier, und glauben, es sey Schade drum, auch wenn wirs zum unschuldigen Gebrauche anwenden wollen. Steht aber etwas drauf, so nehmen und verbrauchen wir’s ohne Bedenken. Drittens. Gedrucktes ist eine kalte Pastete, ein Fasten- und Schaugericht aus Oel, Kienruß und des Verfassers Gedanken zusammengeschmort, und auf einer papiernen Schüssel aufgetragen.144

Der Akt des Lesens wird als haptischer, sündig-sinnlicher Genuss (re-)somatisiert. Der Hinweis auf das „Fasten- und Schaugericht“ weist voraus auf die Ankündigung des Karnevals der Vernichtung der Literatur im folgenden Abschnitt Makulatur: „Glückliches Deutschland! Dein Feiertag ist eingeläutet von allen Glocken, an- und ausgeblasen von allen Posaunen! Ein Karneval ohne Aschermittwoch und 40tägige

143 N II, S. 417 f. (Blüthenstaub, Nr. 16). 144 „Über den Unterschied des leeren und bedruckten Papiers, und von dem Nutzen desselben“, in: Hesperus, Nr. 51 (1812), S. 407.

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Fastenzeit kann beginnen […].“145 Diesen Karneval läutet auch der Text selbst ein, indem er den hohen Geist idealistisch-romantischer Philosophie auf das Profane, das Materielle und Körperliche, herunterzieht. Im Kleide der Literatursatire offenbart sich in diesen Texten der karnevaleske Drang, das Hohe und Heilige in das im üblichen Wertsystem Marginalisierte, das Nichtige, das Lächerliche, das Profane kippen zu lassen. Dies geschieht hier mit satirischer, entlarvender Absicht. Die Merkmale des literarischen Marktes werden in ihrer materiellen Dimension in den Vordergrund gekehrt, um einen hochtrabenden literarischen Geist zu kritisieren. Dabei ist jedoch eine eklatante Tendenz feststellbar, ebendiese Betonung des Materiellen lustvoll herauszuspielen; der groteske Drang nach einer einerseits quantitativen Übertreibung (in der Aufzählung) und einer qualitativen Übertreibung (die lustvolle Ausdifferenzierung der haptischen und kulinarischen Qualitäten des Gedruckten) tritt auf, der den kritischen Impetus des satirischen Aufsatzes prägt.146 Die freudig wirkende Degradierung des Geistigen auf sein Materielles und Körperliches könnte man Michail Bachtin folgend als Spuren jenes von ihm beschriebenen ursprünglichen karnevalesken Lachens begreifen, das in das Groteske bei François Rabelais eingegangen war und damit als Erweis der Karnevalisierung der Literatur,147 die Bachtin über die Gattung des Schelmenromans bis zur Entstehung des bürgerlichen Romans im achtzehnten Jahrhundert nachzeichnet.148

145 „Makulatur“, S. 408. 146 Selbstverständlich kann man hier nicht die Eigenschaften des Grotesken nach Michail Bachtin ganz direkt bemühen, die er vor allem am Roman Gargantua und Pantagruel François Rabelais’ zu seiner Ausdifferenzierung karnevalesker Merkmale untersucht. Bachtin selbst schreibt in seinem Rabelais-Buch, dass im Verlaufe der literarischen Entwicklung das groteske Lachen zwar erhalten bleibe, jedoch gedämpft werde zu Ironie, Humor, Sarkasmus. So könnte man sich fragen, ob auch Bachtin in den oben genannten Beispielen, dem Philologen Schneegans und dessen spätidealistischem Urteil über die literarische Groteske folgend, einen rein spöttisch-kritischen Hinweis auf das ‚Nichtseinsollende‘ erkannt hätte. (Diese Deutung des Grotesken bei François Rabelais durch Schneegans in seiner Geschichte der grotesken Satyre (1894) weist Bachtin als durch idealistischen Geist geprägt zurück.) Denn Bachtin selbst sieht die romantische Groteske durch die idealistische Philosophie beeinträchtigt, die „nicht mehr jenes konkrete, geradezu körperlich erfahrene Gefühl der Einheit und Unerschöpflichkeit des Lebens wie in der Groteske des Mittelalters und der Renaissance“ zulasse. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 88. 147 Bachtins Untersuchungen legen nahe, eine Verbindung zwischen dem Satirischen – das er bereits in den Texten Rabelais’ über die Menippee vermittelt sieht – und dem Karnevalesken zu sehen, das sich in der Renaissance-Literatur noch direkt ausdrückt. Diese Karnevalisierung der Literatur fächert Bachtin auf sehr vielfältige, nicht nur motivische, sondern vor allem strukturelle und gattungsbildende Weise über das ‚zweitonige‘ bzw. dialogische Wort (als „stilistischer Ausdruck des alten Motivs der Zweileibigkeit“) und der Polyphonie des modernen Romans auf. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971, S. 9–52, v. a. S. 48 ff.; ders.: Rabelais und seine Welt, S. 479. 148 Ich konzentriere mich hier auf die offensichtlichen motivischen wie diskursiven karnevalesken Elemente der in diesem Kapitel behandelten Satire-, bzw. ‚Narrenliteratur‘. Bachtins Verständnis des Fortwirkens der menippeischen Gattung auf den Roman des achtzehnten und neunzehnten Jahr-

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

Der oben erwähnte Text Hans Dampf kann als ein Beispiel eines solchen Schelmenromans gelten. In diesem tauchen nicht nur bekannte Charaktere der Karnevalskultur wie Hans Wurst und verschiedene weitere Figuren der Commedia dell’arte auf, auch werden Trinklieder gesungen. Zudem wird bereits in dem dem Buch vorangestellten Motto das Lachen gelobt: „Es hat mich mit Lachen und Küssen mein lustiger Vater gemacht; was brauch ich denn weiter zu wissen, als wie man stets küsset und lacht!“149 Gerade diese Verwandtschaft mit einer Schelmen- und Narrenliteratur und mit der ironischen Satire ist es, die der Arabeske bei ihrem gleichzeitigen hohen geistigen Anspruch das Potential der Eigensatire verleiht. Vor allem Clemens Brentanos Philistersatire Der Philister vor, in und nach der Geschichte zeigt, dass dieses selbstsatirische Potential der frühromantischen Ästhetik in Motiven des Materiellen und Sinnlichen, nicht zuletzt der Schriftmaterialität, auftritt. Die Satire wurde von Brentano 1811 bei der Deutschen Tischgesellschaft in Berlin als Rede gehalten und anschließend publiziert. Der Abschnitt „Der Philister nach der Geschichte“ stellt ein Sittengemälde dar, in dem verschiedene Gesellschafts- und Berufsgruppen, auch Künstler, satirisch kritisiert werden. Die Essenz der Abhandlung liegt in der Erkenntnis, dass jeder ein Philister sein könne, solange er sich in seiner beschränkten Selbsterkenntnis gemütlich einrichte. Sie hat zudem einen stark antisemitischen Impetus, indem vor allem zu Beginn des Textes der Philister mit dem „Juden“ als einem scheinbar gleichwertigen gesellschaftlichen Typus analog kritisiert und lächerlich gemacht wird.150 Schließlich macht Brentano den entscheidenden Vergleich des Philisters mit dem Tintenfleck: Alles, was auf Erden in unsre Sinne fällt, ist nur dasselbe, aber in irgendeiner solchen Modifikation der ewigen Transsubstantiation alles Gottes-Ausflusses, und nur die Philister können nie begreifen, dass z. B., irgendetwas, was sie Aberglauben nennen, nur eine Modifikation seiner eignen Geschichte sei und irgend früher oder später als ein Poetisches, Naturhistorisches, Religiöses wieder auftreten müsse; denn diese Narren glauben, es könne irgend etwas einsam und allein oder verkehrt und, wie sie sagen, unnatürlich sich in der Welt einstellen, oder es könne sich irgend etwas nach einem Gesetze bewegen, das nicht in dem Selbstgesetz der ewigen Einheit in ihrem Ausfluss sei, da doch die ganze Welt und der Philister selbst nichts als das Setzen dieses Gesetzes ist; er ist aber freilich nur ein Tintenklecks darin, weil auch dieser gesetzt werden musste, da er möglich war, und Doktor Luther hat das Schaffen des Philisters auf der Wartburg parodisch wiederholt, als er dem Philister, dem Teufel, das Tintenfass an den Kopf warf, welches ich ihm in dieser Abhandlung etwas weitläufiger nachmache.151

hunderts ist jedoch noch viel weiter gefasst und schließt über den philosophischen wie auch phantastischen Charakter der Menippee ebenso den „philosophischen Roman“ der Aufklärung wie die „phantastische Erzählung“ und das „philosophische Märchen“ der Romantik hier ein. Vgl. Bachtin: Probleme der Poetik Dostoevskijs, S. 153. 149 [Anonym:] Leben, Thaten und Meinungen des Vetter Hans Dampfs. 150 Vgl. hierzu Dembeck, Till: „Clemens Brentano: ‚Der Philister vor, in und nach der Geschichte“, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2. Personen. Berlin 2009, S. 102. 151 Brentano: „Der Philister vor, in und nach der Geschichte“, S. 982 f.

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Der Text ahmt den philiströsen Geist nach, um ihn verächtlich zu machen. Dieser philiströse Geist wird einem Tintenklecks gleichgesetzt, sodass der satirische Text sich ebenso einer bloßen Tintenkleckserei gleich macht, um diese als solche zu entlarven. Das Motiv des Tintenkleckses wird weniger direkt auf den literarischen Markt bezogen, sondern vielmehr an eine teuflische Bedeutungslosigkeit rückgebunden. Am Klecks manifestiert sich der Riss in der göttlichen Ordnung, den er in der lutherschen Anekdote um den Wurf des Tintenfasses auf der Wartburg symbolisiert. Brentanos Text knüpft sich das ‚Philiströse‘ als eine die gesamte Gesellschaft durchziehende Form des Weltverhältnisses vor, in die Personen jeder Profession abgleiten können. Es ist ein unromantisches Weltverständnis, dem jener verstehende, gefühlvolle Geist abgeht, den Friedrich Schlegel in seinem Brief über den Roman als die Wurzel der romantischen, geistvollen Sentimentalität preist. Daher gleicht nicht nur des Philisters Weltverständnis einem platten, ungestalten Fleck, auch er selbst wird zu einem solchen degradiert, vergegenständlicht, marginalisiert, nivelliert. Doch schenkt der Text diesem kleinen Nichts überaus große und vom Spaß an der ausufernden Beschreibung philiströser Erscheinungsweisen getriebene Beachtung. Letztlich steckt in Brentanos Analogie von lutherscher Anekdote und seiner Satire als Wurf mit dem Tintenfass natürlich Selbstironie, eine Selbstdistanzierung des Romantikers von seinem vom Philister vermeintlich abgegrenzten Selbstverständnis. Denn nicht nur der aggressive ‚Beschmiss‘ wird durch die Satire betrieben, der Text macht sich auch selbst zur banalen Tintenkleckserei, indem er aussagt, gerade der Wurf mit dem Tintenfass sei ja schon bei Luther eine Nachahmung des Philiströsen. Auch der Gestus der Satire selbst, in der sich der Romantiker eigentlich vom Verachteten abgrenze, wird also wiederum lächerlich gemacht. Derart kann man auch die Parodie frühromantischen Geistes im Text verstehen. Hier sei nur die folgende Passage angeführt, die auf die oben entwickelten Thesen zurückführt: So kann gerade einer mit allen entgegengesetzten Zeichen ein Philister sein, es kann einer aus Philisterei das Trefflichste vorgeben und verteidigen, aber immer durchaus abschließend und absprechend; er verteidigt es auch bloß, weil es ihm gerade schwer im Magen liegt, denn kein Philister kann etwas verdauen; was er geistig zu sich nimmt, liegt in ihm wie Ballast, und bindet man ihm die Brocken an Fäden, so kann man sie wie Hühner damit zusammenangeln. Wie manche schöne Girlande großer philistrischer Dichter oder Denker ist nur wie eine Herde Enten an einen Faden eingefädelt, woran ein Stückchen Speck gebunden, den eine hinter der andern verschluckt und der nächsten wieder hinten von sich giebt, und wäre eine solche unendliche Entlichkeit eine schöne Arabeske zur Verzierung von Propyläen. Ach, wer ist sicher, dass er nicht selbst bereits aufgereiht ist, und daß, wenn einst der Teufel die Schnur anzieht, er nicht mit andern Philistern wie eine Reihe Zwiebeln um den Hals von des Satans Großmutter gehängt wird.152

152 Brentano: „Der Philister vor, in und nach der Geschichte“, S. 986.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

Die hier beschriebene Philister-Arabeske „unendliche[r] Entlichkeit“ wurde dem Text in seiner publizierten Fassung auch als bildliche Darstellung angehängt (siehe Abb. 2), die bereits auf dem Titelblatt angekündigt wird und der dann im Anhang an die Abhandlung nummerierte Erklärungen zu den einzelnen, in der Zeichnung durch Nummern gekennzeichneten Elementen gewidmet sind.153

Abb. 2: Tafel zu der Philister-Abhandlung, in: Brentano, Clemens: Werke. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang ­Frühwald u. Friedhelm Kemp. Darmstadt 1963, Abb. 4.

(Hierbei eine Handzeichnung aus der Italiënischen Schule, vorstellend die Kehrseite eines Philosophen, dem alles zu kurz wird; weiter einen philosophierenden Philister, dem alles zu lang wird, und den seine Frau widerlegt; sodann des Teufels Kompaß und Windmühlenflügel, weiter eine tragische Muse und einige begeisterte Anhänger und eine skeptische Gans.)154 Nr. 4. Diese Kette, nicht von Feldhühnern, sondern von Enten, ist die Parodie der sogenannten philosophischen und ästhetischen Cliquen aller Zeiten; sie haben sich alle an einer Angelschnur, woran etwas Speck, fressend und von sich gebend, hintereinander eingefädelt, und sie werden solange eine unendliche Entlichkeit sein, als der Speck noch die Reise aushält.155

153 Ebd., S. 1004 ff. 154 Ebd., S. 1003 (Titelblatt). 155 Ebd., S. 1005.

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Brentanos Satire gibt sich als Selbstparodie zu erkennen, die das frühromantische Diktum von der „unendlichen Endlichkeit“ der Reflexion in eine unendliche Kette des Fressens, Ausscheidens und Wiederkäuens der ausgeschiedenen Speckstückchen durch eine Reihe von Enten verkehrt. Nicht zuletzt er selbst ist eine dieser philiströsen Enten, Gegen- und Komplementärpart des romantischen Ideals, bzw. des romantischen Künstlers. Letztlich sind sie, die philiströse, fressgierige Ente und der Künstler, dessen Werk sich in einer Reflexionsspirale des Geistes progressiv ins Unendliche bewegt, voneinander abhängige Erscheinungsweisen bzw. Figuren des Literarischen im Sinne einer romantischen Kunst und Kunstphilosophie. In einem Text wie Brentanos Philistersatire zeigt sich, dass auch der hohe Geist der Reflexion, den die Frühromantik für den romantischen Text propagierte und der die romantische Literatur entscheidend geprägt hat, seine eigene Parodie hervorruft. Ein Grund für diese Tatsache scheint gerade im großen Einfluss dieser Denkweise auf die nachfolgende Literatur zu liegen. Er provoziert die sich vom romantischen Streben zum Unendlichen distanzierende und dieses ins Lächerliche ziehende parodistische Auseinandersetzung. Eine solche Selbstparodie ist jedoch in diesem auf dem Widerspruch aufbauenden und selbst entscheidend ironischen Denken bereits angelegt. Vor diesem Hintergrund muss man die Figur des Philisters, den platten, kleinbürgerlichen Spießer, nicht als einfach verachteten Gegensatz zum romantischen Künstler sehen. Vielmehr ist er sein Komplement, befinden sich beide in einer karnevalesken Spannung zueinander.156 So wird auch die Arabeske in ihrem satirisch-humoresken Gestus selbst zur Makulatur und Tintenkleckserei, den gestaltlosen Bücherhaufen, die sie ablehnt, indem sie ihre eigene Verwandtschaft mit diesen anerkennt. Auf der anderen Seite vermag sie durch ihre humoristische Anlage eine karnevaleske Freude an der von ihr ironisch wiedergegebenen Sinnlichkeit und deren Motiven zu entwickeln.

156 Thomas Althaus schreibt in seinem Aufsatz zum „Romantischen Philistrismus“, dass der Philister ein Instrument der Selbstreflexion, der Einfassung, der Regulierung des Romantischen sei; hier beschreibt er zudem die manchenorts festzustellende Karnevalisierung des Philiströsen durch das Romantische (in Hoffmanns Texten) (Althaus, Thomas: „Romantischer Philistrismus. Die Notwendigkeit des Gewöhnlichen in Hoffmanns Texten“, in: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 16 [2008], S.  53–69). Dem Umgekehrten, das ich in diesem Kapitel 3.2.3 vor allem hervorhebe – der Karnevalisierung des Romantischen gerade durch den Philister – wird in Althaus’ Aufsatz kein Raum gegeben. Letztlich scheint aus dem in diesem oben Beschriebenen jedoch zu folgen, dass das Abhängigkeitsverhältnis von Romantischem und Philiströsem nicht ein Regulationsverhältnis des ersten durch das letztere darstellt, sondern vielmehr als ein Bezug der karnevalesken Spiegelung verstanden werden muss. Dem Philister als starrem gesellschaftlichem Stereotyp gehen folgende Texte nach: Stein, Gerd (Hg.): Philister – Kleinbürger – Spießer. Normalität und Selbstbehauptung. Kulturfiguren und Sozialcharaktere des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 4. Frankfurt a. M. 1985; Hofstaetter, Ulla: „Das verschimmelte Philisterland. Philisterkritik bei Brentano, Eichendorff und Heine“, in: Dedner, Burghard/Hofstaetter, Ulla (Hg.): Romantik im Vormärz. Marburg 1992, S. 107–127.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

3.3 Frühromantische Formästhetik Die Arabeske „spielt“, wie Friedrich Schlegel schreibt, „um Materie und Form“.157 Damit integriert Schlegel im Brief über den Roman in seinen Begriff der Arabeske einen in der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts diskutierten Formbegriff, der in einem engen Zusammenhang mit dem Moment der Reflexion in der ästhetischen Erfahrung steht. Die Einführung des Reflexionsmoments in die ästhetische Erfahrung grenzt diese dabei von dem absolut Endlichen ab.158 Ästhetische Erfahrung erschöpft sich innerhalb dieser Unendlichkeitsästhetik nicht im endlichen Gefühl des Angenehmen, sondern ist in sich durch unangenehme Gefühle gebrochen und bietet zugleich Raum für eine intellektuelle Reflexion, die die ästhetische Erfahrung über die Grenzen des bloßen Genusses hinausführt.159 Kant überführt die Sinnlichkeit der ästhetischen Erfahrung in ein „Spiel von Verstand und Einbildungskraft“ als „freie Reflexion“.160 Im ästhetischen Urteil hat Kant zufolge die Form Vorrang vor dem Inhalt. Denn dieser „bringe Reiz und Rührung hervor, der Bezug auf ihn ist gerade nicht Zeichen eines ästhetisch kultivierten Geschmacks, dieser geht eben auf die Form“161, die „formale Zweckmäßigkeit, die Zweckmäßigkeit ohne Zweck“162. Damit bestimmt die Form eines ästhetischen Gegenstandes, genauer die „Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu einem Dinge“,163 das Spiel von Verstand und Einbildungskraft und erweitert damit die ästhetische Erfahrung ins Unendliche. Zugleich basiert die Freiheit des

157 Schlegel, F.: Literary Notebooks; 1065. 158 Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 2002, S. 40 ff. 159 Ebd., S. 40 ff.; 48 ff.; 51 ff. Vgl. Schulz, Walter: Metaphysik des Schwebens. Untersuchungen zur Geschichte der Ästhetik. Pfullingen 1985, S.  253–259. Jochen Schulte-Sasse hat in seiner Arbeit zur literarischen Wertung, die sich in der Nachfolge der idealistischen Ästhetik bis ins zwanzigste Jahrhundert nach ähnlichen Maßstäben fortsetzt, v. a. die Kategorien der intellektuellen Distanz bei der Kunsterfahrung sowie die organische Einheit des Kunstwerks als Wertkategorien in der Trennung von Kunst und Kitsch bzw. Trivialien als Nachfolge des idealistischen Kunstverständnisses hervorgehoben. Schulte-Sasse, Jochen: Literarische Wertung. 2., völlig neu bearb. Aufl.. Stuttgart 1971, S. 4–11. 160 Schulz: Metaphysik des Schwebens, S. 258. 161 Ebd. 162 Kant, Immanuel: „Kritik der Urteilskraft“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd.  5, S.  165–486, hier S. 226. Siehe hierzu noch folgende Erklärung zur Kategorie des „Formalen“: „Das Formale in der Vorstellung eines Dinges, d. i. die Zusammenstimmung des Mannigfaltigen zu Einem (unbestimmt was es sein solle) gibt, für sich, ganz und gar keine objektive Zweckmäßigkeit zu erkennen; weil, da von diesem Einem, als Zweck (was das Ding sein solle) abstrahiert wird, nichts als die subjektive Zweckmäßigkeit der Vorstellungen im Gemüte des Anschauenden übrigbleibt, welche wohl eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes im Subjekt, und in diesem eine Behaglichkeit desselben eine gegebene Form in die Einbildungskraft aufzufassen, aber keine Vollkommenheit irgendeines Objekts, das hier durch keinen Begriff eines Zwecks gedacht wird, angibt.“ (S. 227.) 163 Ebd., S. 247.

Frühromantische Formästhetik 

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Vernunftwesens zur Handlung, als Ablösung von der „Welt der Sinne“, auf der Form.164 Vor allem Schiller hat diese Formästhetik mit einer Kritik an der vermeintlichen Formlosigkeit der Empfindsamkeit (etwa Rührstücke wie die von August Wilhelm Iffland und August von Kotzebue)165 verbunden, deren „Affekte“ und „Rührungen“166 Ausdruck bloßer Stoff- bzw- Inhaltsbezogenheit167 seien und einen Mangel an Vernunft zeigten, die allein die Freiheit des Ästhetischen durch seine Form (ob im Werk oder bei dessen Rezeption) erzeugen könne. Schiller fordert dagegen einen „edeln und männlichen“ Geschmack, den er dieser Ästhetik der „schmelzenden Affekte“ entgegensetzt.168 Obwohl gerade der Aufschub und die Trennung die Bedingung dieser auch schriftästhetisch entworfenen Empfindsamkeit ist (siehe dazu auch 3.2.1) (es geht ja um die Nähe der Liebenden gerade in der schriftlichen Distanz) – ihr also ein EkelPräventiv eingeschrieben ist –169 steht diese Ästhetik der Nähe und Liebe vor der Folie einer Vernunftästhetik in der Gefahr, Übersättigungsgefühle zu erzeugen. Eine auf die intellektuelle, vernunftmäßige Unabhängigkeit des Menschen angelegte Ästhetik entdeckt in reinen Rührungsaffekten eine zu große Annäherung von Darstellung und Rezipient im äußerlichen Empfinden und deklariert diese als „unmännlich“ und geschmacklos.170 Im Kontext dieses Diskurses beziehen Bilder des Formlosen wie „Bücherhaufen“, „Tintenkleckserei“ oder „Makulatur“ die ästhetische Kategorie des Stoffs polemisch auf die materielle Existenz der vermeintlich formlosen Texte.

164 Burdorf, Dieter: Poetik der Form. Eine Begriff- und Problemgeschichte. Stuttgart/Weimar 2001, S. 112; vgl. hierzu die Untersuchung von Cassirer, Ernst: Freiheit und Form. Studien zur deutschen Geistesgeschichte. 2. Aufl. Berlin 1918. 165 Vgl. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd.  8: Theoretische Schriften. Hg. v. Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt a. M. 1992, Stellenkommentar S. 1361. 166 Schiller, Friedrich: „Über das Pathetische“, in: SNA XX, S. 196–222, hier S. 199 f.: „Die schmelzenden Affekte, die bloß zärtlichen Rührungen, gehören zum Gebiet des Angenehmen, mit dem die schöne Kunst nichts zu thun hat. Sie ergötzen bloß den Sinn durch Auflösung oder Erschlaffung und beziehen sich bloß auf den äußern, nicht auf den innern Zustand des Menschen. Viele unsrer Romane und Trauerspiele, besonders der sogenannten Dramen (Mitteldinge zwischen Lustspiel und Trauerspiel) und der beliebten Familiengemälde gehören in diese Klasse. Sie bewirken bloß Ausleerungen des Thränensacks und eine wollüstige Erleichterung der Gefäße; aber der Geist geht leer aus, und die edlere Kraft im Menschen wird ganz und gar nicht dadurch gestärkt.“ 167 In Schillers verschiedenen Schriften, die die Thematik behandeln, werden diese Begriffe nicht durchgehend streng getrennt oder definiert. Burdorf: Poetik der Form, S. 113 ff. 168 Schiller: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8. Stellenkommentar, S. 1362 169 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 251 ff. 170 An dieser Stelle sei jedoch hinzugefügt, dass Schiller andererseits etwa in seiner Schrift Über naive und sentimentalische Dichtung die gefühlsreflexive Qualität der empfindsamen Literatur in Abgrenzung von einer „naiven“ Unmittelbarkeit im Umgang mit der Welt erkannt und positiv herausgestellt hat. Pikulik: Frühromantik, S. 47; Hofmann, Michael: Schiller. Epoche – Werke – Wirkung. München 2003, S. 114.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

In diesem Zusammenhang mag man auch Antonios angeekelten Ausspruch „Wie mögen Sie nur mit Ihren Händen die schmutzigen Bände berühren?“ im Brief über den Roman verstehen. Er scheint ungebrochen einen Ekelaffekt der Ästhetik des achtzehnten Jahrhunderts weiterzutragen, indem der Schreiber des Briefs durch die nicht den Geist zur Reflexion anregenden, allzu sehr auf Affektwirkung zielenden Texte abgestoßen wird. Dieser Ekel wird dabei polemisch auf die Bücher in ihrer gegenständlichen Materialität übertragen: Nicht einmal berühren will er sie, als fürchte er, der allzu affektträchtige Inhalt übertrage sich allein schon über den Umschlag des Buchs. Erscheint dem Schreiber eigentlich der Inhalt der Texte „schmutzig“ im Sinne einer anstößigen Rührseligkeit bzw. einer allzu sehr auf die Erzeugung von Spannung gerichteten Handlung, so überträgt er diese Abneigung mit seiner Äußerung auf polemische Weise auf das Material der Bücher selbst. Als dringe das starke, ihm ekelerregend erscheinende Affektpotential durch den eigentlichen Text in sein Material hinein, wird dieses selbst „schmutzig“.171 Die Arabeske nimmt als Kategorie der Form auf diese Auseinandersetzungen Bezug. Sie ist Teil einer bei Friedrich Schlegel entwickelten Kritik an der Rührseligkeit empfindsamer Unterhaltungsliteratur und des Lobes einer Literatur und Rezeption, die eine bloße Inhalts- und Reizbezogenheit wiederum reflektierend kritisieren. Die Arabeske ist jedoch zugleich ein Begriff der Fantasie und wird dezidiert von einem Formideal der Vernunftästhetik abgegrenzt. Sie enthält vielmehr in sich ein Chaos, das nicht strengen Regeln folgt, sondern Ausdruck der Willkür der Fantasie ist. So schreibt Friedrich Schlegel in der Rede über die Mythologie: Weder dieser Witz [der romantischen Poesie, an dieser Stelle gleichgesetzt mit der Arabeske, C. S.] noch eine Mythologie können bestehn ohne ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern lässt, wo der naive Tiefsinn den Schein des Verkehrten und Verrückten, oder des Einfältigen und Dummen durchschimmern lässt. Denn das ist der Anfang aller Poesie, den Gang und die Gesetze der vernünftig denkenden Vernunft aufzuheben und uns wieder in die schöne Verwirrung der Fantasie, in das ursprüngliche Chaos der menschlichen Natur zu versetzen, für das ich kein schöneres Symbol bis jetzt kenne, als das bunte Gewimmel der alten Götter.172

171 Vgl. dazu die folgende Äußerung Goethes nach der Lektüre von Johann Gustav Büschings Übersetzung des Armen Heinrich Hartmann von Aues: „Den Ekel gegen einen aussätzigen Herrn, für den sich das wackerste Mädchen aufopfert, wird man schwerlich los; […] Die dort einem Heroismus zugrunde liegende schreckliche Krankheit wirkt wenigstens auf mich so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen Berühren eines solchen Buchs schon angesteckt glaube.“ Goethe, Johann Wolfgang von: Tagund Jahreshefte [1811], in: Ders.: Werke. Hg. im Auftrag der Großherzogin von Sachsen. 1. Abt. Bd. 36. Weimar 1893, S. 72 f. Zitiert nach: Menninghaus: Ekel, S. 65. 172 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 318.

Frühromantische Formästhetik 

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Explizit setzt Schlegel das Chaos als Konzept des ursprünglichen Schöpfertums ein. Der Begriff schließt an die bereits in Baumgartens Aesthetica verwendete Metapher des Waldes (einer Übersetzung der aristotelischen hýlē, die seit Homer gebräuchlich war)173 als dem unbearbeiteten Stoff an: eine Bildlichkeit des Chaos, aus dem der Künstler formgebend das Werk herausschafft.174 So ist auch die Kritik an einer reizbestimmten Literatur der Gegenwart, die sich in der Einführung der Arabeske findet, zwiespältig, indem diese zeitgenössische Literatur als bereits eine kommende Einheit in der „neuen Mythologie“ ausdrückendes Chaos eingeschätzt wird. Es fehlt, behaupte ich, unsrer Poesie an einem Mittelpunkt, wie es die Mythologie für die Alten war, und alles Wesentliche, worin die moderne Dichtkust der Antike nachsteht, läßt sich in die Worte zusammenfassen: Wir haben keine Mythologie. Aber setze ich hinzu, wir sind nahe daran eine zu erhalten, oder vielmehr es wird Zeit, daß wir ernsthaft dazu mitwirken sollen, eine hervorzubringen. Denn auf dem ganz entgegengesetzten Wege wird sie zu uns kommen, wie die alte ehemaltige, überall die erste Blüte der jugendlichen Fantasie, sich unmittelbar anschließend und anbildend an das Nächste, Lebendigste der sinnlichen Welt. Die neue Mythologie muß im Gegenteil aus der tiefsten Tiefe des Geistes herausgebildet werden; es muß das künstlichste aller Kunstwerke sein, denn es soll alle andern umfassen, ein neues Bette und Gefäß für den alten Urquell der Poesie und selbst das unendliche Gedicht, welches die Keime aller andern Gedichte verhüllt.175

Ähnlich äußert sich Schlegel bereits in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie, in dem er eine Neigung der modernen Literatur zum Reiz feststellt: zu „ekelhafte[n] Kruditäten“,176 „mit allem, was nur seltsam, oder neu ist“,177 „um schlaffe Begierden zu stacheln, stumpfe Sinne zu kitzeln, und rohen Lüsten zu schmeicheln“ 178. Dies ist für ihn „die Krise des Geschmacks“.179 Damit wird das Ekelhafte als Teil der modernen Ästhetik anerkannt, nicht mehr kategorisch ausgeschlossen.180 Zugleich jedoch wird es in derselben Schrift abgewertet und als „gemeinere Kunst“181 gegen eine „bessere Kunst“182 gestellt. Dieser „besseren Kunst“, die durchaus auch zum Hässlichen und seinem Affektpotential strebt, käme es zu, die gemeinsame Wurzel dieses negativen, platten Reiz-Chaos („Bei stetem Wechsel des Stoffs bleibt ihr Geist immer

173 Happ, Heinz: Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff. Berlin/New York 1971, S. 274. 174 Baumgarten, Alexander G.: Aesthetica. Lat.-dt. Ausgabe/Ästhetik. Hg. v. Constanze Peres. München 2016; § 564; vgl. Weltzien: Fleck, S. 131. 175 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 313. 176 Schlegel, F.: „Über das Studium der griechischen Poesie“, in: KFSA I, S. 217–367, hier S. 223. 177 Ebd., S. 217 178 Ebd., S. 218. 179 Ebd., S. 254. 180 Menninghaus: Ekel, S. 194. 181 Schlegel, F.: „Über das Studium der griechischen Poesie“, S. 218. 182 Ebd.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

derselbe: verworrne Dürftigkeit.“183) aufzufinden und es damit in ein bedeutungsvolles, verheißungsvolles Chaos umzuwerten, das auf seinen eigenen Ursprung deutet: Wenn man diese Zwecklosigkeit und Gesetzlosigkeit des Ganzen der modernen Poesie, und die hohe Trefflichkeit der einzelnen Teile gleich aufmerksam beobachtet: so erscheint ihre Masse wie ein Meer streitender Kräfte, wo die Teilchen der aufgelösten Schönheit, die Bruchstücke der zerschmetterten Kunst, in trüber Mischung sich verworren durcheinander regen. Man könnte sie ein Chaos alles Erhabnen, Schönen und Reizenden nennen, welches gleich dem alten Chaos, aus dem sich, wie die Sage lehrt, die Welt ordnete, eine Liebe und einen Haß erwartet, um die verschiedenartigen Bestandteile zu scheiden, die gleichartigen aber zu vereinigen.184

Die Polemik gegen den Mangel der Form reizbestimmter Texte, die auch in Friedrich Schlegels Brief über den Roman mit Bildern der Defiguration und einer Degradierung jener Texte auf ihr Material verbunden ist („Bücherhaufen“, „buntes Allerlei“, Ekel vor „schmutzigen Bänden“), ist also auf entscheidende Weise mit der Einführung der Arabeske als Form verknüpft. Sie überwindet jene Formlosigkeit, kündigt in sich bereits eine kommende Form an. Als Aufwertung des freien Spiels der Fantasie, das dennoch mit einer subjektiv-geistigen Reflexion verknüpft sein soll, und die zudem durch eine vermeintliche Natürlichkeit an eine metaphysische Bedeutung rückgebunden wird, ist das Konzept der Arabeske dabei in sich widersprüchlich. Polemische Bilder des Materiellen, die zeitgenössische Literatur als bloßen Stoff ohne Form abwerten, sind damit mit ihr auf ambivalente Weise verbunden.

3.4 Tintenkleckserei: Symbolik des Verderbens 3.4.1 Makulatur Der Begriff der Makulatur des achtzehnten Jahrhunderts, wie wir ihn dem Universallexikon Johann Heinrich Zedlers entnehmen können, führt uns, obwohl zunächst vor allem auf das Druckereihandwerk bezogen, im Folgenden auf die Bedeutungsfacetten und die Metaphorik des Flecks zurück, die sich auch und gerade noch in jener Zeit in Begriffen wie der „Makulatur“ zeigt. „Mackeltur“ oder „Maculatura“, so erfahren wir in Zedlers Universallexikon, hat die gleiche Bedeutung wie die französische maculature und meint: „In der Druckerey bedrucktes Papier, so entweder verdorben, oder keinen Abgang findet und anders nicht, als zum einwickeln, oder einpacken dienet.“185

183 Ebd. 184 Ebd., S. 223 f. 185 Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 19. Halle/Leipzig 1739, Sp. 95.

Tintenkleckserei: Symbolik des Verderbens 

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Papier wird in der Druckerei durch Flecken, die maculae, „verdorben“: Die Tinte verschmiert, fließt über die Kanten der metallenen Setzbuchstaben hinaus und verdeckt die Zwischenräume der Buchstaben, deformiert die erzielte Linienfigur. Damit ist das Papier unbrauchbar als Buchseite geworden und ist fortan, statt als Zeichenträger zu fungieren, von bloßem Materialwert, der wiederum den Papierhändler interessiert. Übertragen wird dieser Begriff dann auch auf jenes bedruckte Papier, das bereits als Zeichenträger in den Handel gelangt, aber unverkäuflich war und dann aus diesem Grunde dem Papierhändler als Ware zukam (siehe hierzu auch 3.2.2). Die Wahl des Verbs ist hier von Interesse: Die Befleckung, die den ursprünglich erzielten Gebrauchswert des Papiers aufhebt, wird als ein Vorgang des „Verderbens“ bezeichnet. Wie vermutet, findet sich im Eintrag zu „verderben“ denn auch der Hinweis auf die Bedeutung einer „Sache“, die ihren Gebrauchswert verliert.186 In der folgenden längeren Beschreibung der möglichen Bezüge dieses Gebrauchsverlustes werden jedoch hauptsächlich die rechte Lagerung und Erhaltung von Speisen und Flüssigkeiten im Haushalt geschildert. „Verderben“ ist also in diesem Zusammenhang ein Vorgang, in dem Essbares ungenießbar oder sogar schädlich wird für denjenigen, der es sich zuführen will. Einerseits verweist also der Gebrauch des Verbs „verderben“ im Zusammenhang mit der unbeabsichtigten Befleckung eines Papiers implizit auf die metaphorische Verbindung von Lesen und Essen: die Verderbnis des Papiers durch Befleckung bezeichnet den misslungenen Versuch seiner Nutzung als Gestalthintergrund der Buchstaben. Der Verlust des Zeichens wird mit dem Begriff des „Verderbens“ vornehmlich auf den Gebrauchswertverlust von Speisen bezogen: ‚Unlesbar werden‘ heißt ‚ungenießbar werden‘. Über die Negation, das Misslingen der Figuration der Schrift drückt sich der Bezug zu einer alten, das Lesen als Einverleibung konzeptualisierenden Metaphorik durch, die auch durch eine diskursive Entsomatisierung des Lesens zum rein innerlichen Akt nicht verschwindet.187 „Verderben“, so wird in dem darauffolgenden Abschnitt zu seinem Gebrauch im biblischen Text noch klarer, bezeichnet den Prozess des Vergehens alles Vergänglichen, des Irdischen. Das Verb deklariert die zeitbegrenzte Existenz dieses Irdischen als Verfallsprozess. Die dem Verb „verderben“ äquivalente Bedeutung „sterben“ ist bereits durch seine Etymologie im indogermanischen torpeo („erstarren“) angelegt, das zu seiner Bedeutung von „starr werden“ im Mittel- und Neuhochdeutschen führt.188

186 Vgl. Zedler: Universal-Lexicon. Bd. 47. Sp. 328–332, hier Sp. 328. 187 Vgl. Körte, Mona: „Bücheresser und Papiersäufer. Kulturelle Bedeutungen der Einverleibung der Schrift“, in: Dies./Ortlieb, Cornelia (Hg.): Verbergen  – Überschreiben  – Zerreißen. Formen der Bücherzerstörung in Literatur, Kunst und Religion. Berlin 2007, S. 278–290, hier S. 278 ff. 188 Grimm, Jacob und Wilhelm: „Verderben“, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 25. Bearb. v. Dr. Rudolf Hildebrand. Leipzig 1873, Sp. 209–218, hier Sp. 209.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

Der metaphorische Bezug von (Schrift-)Zeichen und Leben wurde hier im ersten Kapitel in einen Zusammenhang zu ästhetischen Diskursen des achtzehnten Jahrhunderts und zugleich zu philosophischen Traditionen einer Naturmystik gestellt. In diesem Kontext erweist er zugleich seine Verwurzelung in einer religiösen Symbolik, in deren Feld sich der Begriff des „Verderbens“ bewegt. Das Verfehlen einer Figuration der Schrift auf dem Papier kommt damit einer Manifestation der Vergänglichkeit, einer Demonstration des Sterbens gleich. Über ihre Negation zeigt sich einmal mehr die metaphorische Verbindung von Schrift bzw. Buch und Leben, deren auch religiöse Besetzung hervortritt. Dabei ist der Prozess des Verderbens in seiner biblischen Verwendung, wie Zedler ausführlich zitiert, vor allem als Ausdruck bzw. Folge der Gottlosigkeit, also der Versündigung zu betrachten: Objekt des Verderbens sind die „falschen Lehrer“ (Philipp III, 19) bzw. „falschen Propheten“ oder „Judas und der Anti-Christ“ (Johann. XVIII, 12) und der Leib. Das Verderben wird auch direkt „dem alten Menschen oder der Sünde beygelegt, weil sie nicht nur die Erde verderbt, darauf der Mensch wohnet, 1. B. Mos. IV, 2, sondern auch unsern Leib verzehret und schwächt, wie die Motten das Kleid, Ps. XXXIX, 12. Sie verderbt sogar die Seele, dass sie zu allem Guten untüchtig wird, und endlich stürzet sie, wenn sie die Herrschaft behält, den Menschen ins zeitliche und ewige Verderben, Galat. VI, 8.“189

Das „ewige Verderben“ beendet jedoch die erneute Ankunft Christi: „Zu diesen kommt noch das ewige Verderben, da Christus sein wird ein Ende machen durch die Erscheinung seiner Zukunft, da das Thier nebst den falschen Propheten in den feurigen Pfuhl geworffen werden, [Offenbarung, C. S.] XIX, 20.“190

3.4.2 Fleck Über die Bezeichnung der Makulatur als verdorbenes Papier eröffnet sich also in dem eigentlich rein auf drucktechnische und ökonomische Zusammenhänge bezogenen Lexikoneintrag ein Bezug zum Fleck als Symbol der Sünde. Paul Ricœur beschreibt nach einer Untersuchung der sprachlichen Wurzeln des Begriffs der Sünde im Hebräischen und Griechischen und seiner Übersetzung in der Bibel den Begriff als verwandt mit einer „Idee des ‚Nichts‘“, das der Negativität der von ihm beschriebenen „Symbolik des Bösen“ insgesamt korrespondiere.191 Er deckt als sprachliche Entsprechungen für den ganzen Komplex „Verstoß, Abweichung, Aufstand, Verirrung“

189 Zedler: Universal-Lexicon. Bd. 47. Halle/Leipzig 1744, Sp. 330. 190 Ebd., Sp. 330. 191 Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg/München 1971, S. 88.

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auf.192 Innerhalb einer „Symbolik des Bösen“ meint die Sünde eine Entfremdung des Menschen von „seinem ontologischen Ort“.193 Die Symbolik der Befleckung differiert laut Ricœur noch einmal von diesem Konzept der Verschiebung oder Verirrung, da es sich hier um das Konzept einer verderblichen Substanz handele, die am vordem Reinen haften bleibt. Doch auch der Fleck bezeichnet in seiner negativen Bedeutung den Verlust integrer Ganzheit, die vom Fleck durchbrochen wird: Wie die lateinische macula,194 so meint auch der deutsche „Fleck“ einerseits den Ort, eine Stelle, das Daseiende. Zugleich kann er eben den Makel, die Verschmutzung, den Riss in jenem ‚Daseienden‘ meinen.195 Über die gegensätzliche Doppelbedeutung des Flecks zeigt sich ein semantischer Vorgang der Selbstnegation. Über den Erweis einer solchen semantischen Selbstnegation wies Freud in seinem Aufsatz Über das Unheimliche die dem Wort inhärente Bewegung einer Selbstaufhebung des Schaffens, Setzens, Eingrenzens von Bedeutung nach. In seiner Analyse zeigte Freud, dass die Semantik des Adjektivs „heimlich“ eine Bedeutung aufwies, in der es mit „unheimlich“ zusammenfiel.196 Dementsprechend offenbarte seiner Meinung nach das Wort „heimlich“, das das Eigene, das Bekannte, das Nahe und dem Selbst Zugehörige bezeichnet, in sich selbst den Vorgang, in dem dieses dem Selbst Zugehörige durch Ausschluss eines wie auch immer definierten Anderen geschaffen wird. Dieses bleibt immer in widriger Weise latent anwesend und bricht in eben diesen abgegrenzten Raum des Eigenen ein. Im Unheimlichen werde dieses ursprünglich Eigene, das verdrängt und aus eben diesem Raum ausgeschlossen werden sollte, als das entstellt wiederkehrende Eigene erkannt und abgestoßen. An den bei Freud psychoanalytisch motivierten Erweis der sich selbst negierenden Konstruktion des Positiven, des Eigenen, der gewollten Nähe, über die eine (kulturelle) Bedeutung geschaffen wird, schließt explizit Jacques Derrida in seinen Aufsatz Mal d’archive an.197 Das Motiv des Flecks vermag selbst die Ambivalenz der symbolischen Bedeutungskonstruktion auszustellen,198 indem seine Semantik sich als Kippfigur erweist. Derart besitzen auch die Makulatur an sich  – als macula  – und ihre literarische Verarbeitung in Hinsicht auf die Kanonbildung der Literatur und die literaturkritische Unterscheidung von wertvollem Text und vermeintlich bloß materiellem Abfall ein subversives Potential (siehe 3.2.3).

192 Ebd. 193 Ebd., S. 87. 194 Georges, Karl Ernst: Lateinisch-deutsches Handwörterbuch. Unveränd. Nachdr. d. 8.  Aufl. v. Heinrich Georges. Bd. 2. Darmstadt 1992, Sp. 751. 195 Vgl. „Fleck“, in: Grimm, J. u. W.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1862, Sp. 1740–43. 196 Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“, in: Ders.: Gesammelte Werke, chronologisch geordnet. Bd. 12. Werke aus den Jahren 1917–1920. Hg. v. Anna Freud. 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1972, S. 230–268. 197 Derrida, Jacques: „Dem Archiv verschrieben“, in: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 29–60, v. a. S. 33 ff. 198 Vgl. hierzu das Fazit bei Bogdanov, Konstantin A.: Iz istorii kljaks. Moskva 2012, S. 147–51.

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 Arabeske, Makulatur und Klecks

3.4.3 Klecks Zedlers genaue Herleitung der biblischen Bedeutungsaspekte des Verderbens (als Übersetzung des griechischen απωλεια [apoleia], dt. „Verlust“, „das Verlieren“199) verdeutlicht, dass das „Verderben“ sowohl in seiner Bedeutung des zeitlichen als auch des ewigen Vergehens immer wieder einen Vorgang der Zerteilung, Zersplitterung, die Zerstörung der integren Ganzheit meint: Beim Propheten Jeremias VIII, 21 bedeutet verderbet seyn nach der Hebräischen Sprache eine Zermalmung und Zerbrechung, da etwas in kleine Stückgen zerbrochen wird, daß man es gar nicht oder doch sehr schwerlich zusammen bringen kan. An andern Orten übersetzet es Luther durch zerschmettern, wenn z. E. Ps. III, 8 von den Gottlosen gesagt wird: Der Herr zerschmettere der Gottlosen Zähne. Man lieset auch dieses Wort von dem grossen Hagel, welcher alle Bäume auf dem Felde zerbrochen, z. B. Mos. IX, 25, ingleichen von den zerschmetterten Mauren, Jes. XXX, 13. von zerschmetterten Töpfen v. 14, von dem, was die Löwen zermalmet und zerrissen haben, 1. B. Kön. XIII, 28.200

Siehe hierzu auch den oben im Zitat bei Zedler angeführten Vers 12 in Psalm 39, der von dem durch Motten zerfressenen Kleid spricht, das als Bild für die Strafe Gottes am schuldigen Menschen den Prozess seines Vergehens verdeutlichen soll: Der Mensch sei „ein Hauch nur“, so wird hinzugefügt. Auch der Klecks, der als Entstellung einer erzielten Schriftfiguration durch Tinte eine Verunreinigung des Papiers darstellt, meint seiner Etymologie nach zugleich einen Riss, wie der Eintrag im Grimm’schen Wörterbuch verdeutlicht: Der Wortursprung des Verbs klecken, von dem Klecks über das Verb klecksen herstammt, besitzt die Bedeutungsäquivalente „platzen“/„sich spalten“/„reißen“/„aufbrechen“ und offenbart damit auch seine lautmalerische Dimension.201 Die Übertragung der Metaphorik der Versündigung als Befleckung auf das vom schwarzen Tintenfleck entstellte weiße Blatt zeigt sich dabei im engeren Sinne verbunden mit der metaphorischen Valenz der Farbe Weiß. Sie ist die Farbe des Reinen, die auf das Weiß des Blattes projiziert wird.202 Dessen Maximalkontrast mit der schwarzen Tinte macht diese als ‚verschmutzende Substanz‘ deutbar. Im weiteren Sinne bezieht sich diese auf die Figuration der Schrift übertragene Symbolik auf die Metaphorik von Licht bzw. Helle und Dunkelheit, deren Gegensatz- und Interdependenzdynamik in diese Übertragung hineinspielt. Denn einerseits kann die Entstellung der Schrift durch die klecksartige Defiguration in diese Metaphorik eingesetzt

199 Pape, W.: Griechisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1. 3. Aufl. Braunschweig 1908, S. 342. 200 Zedler: Universal-Lexicon. Bd. 47. Sp. 330. 201 Vgl. die Einträge in: Grimm, J. u. W.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 5. Leipzig 1873: „Klecks“ (S. 1058), „klecksen“ (Sp. 1059) mit dem Verweis auf, „Kleck“ (Sp. 1053), „klecken“ (Sp. 1054). 202 Vgl. Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Ästhetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 45–55.

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werden. Andererseits kann auch die Beschriftung des Blattes an sich metaphorisch eine Befleckung bzw. Sünde symbolisieren. Im ersten Fall versinnbildlicht gerade ein Zusammenwirken von Weiß und Schwarz das ‚Reine‘ in Form des lesbaren Buchstabens, im zweiten Fall nur das Weiß allein (und schon die Existenz der schwarzen Tinte auf dem Weißen, ob nun in Form des Buchstabens oder des Kleckses, wäre dessen Befleckung). Lässt sich also einmal der Klecks als Symbol der Sünde auf der vordem reinen Seele verstehen, so repräsentiert dabei nicht das Weiß des Blattes allein die reine Seele (die ungebrochene Helle, das Wahre, das Rechte, die Erkenntnis, den Logos).203 Denn „verdorben“ wird es ja vielmehr durch die Entstellung der Figuration, die Verdunkelung des erzielten Buchstabens. Was also in diesem Bild eigentlich das durch den Klecks „Verdorbene“ bildet, ist der lesbare Buchstabe: Dessen Figuration wird gerade über den Kontrast von Schwarz auf Weiß (sowohl über seinen eigenen Hintergrund als auch über die Zwischenräume und Differenz zu den anderen Buchstaben), also das Zusammenwirken von Helle und Dunkelheit erreicht. Dabei wird eine Metaphorik des lesbaren Zeichens als Bild für Erkenntnis und Geist aufgerufen, die zugleich mit der Licht/Dunkel-Metaphorik verbunden ist. Die Verbindung von Lesen und Erleuchtung als Metaphern für die Erkenntnis stellt Blumenberg etwa schon bei Spinoza fest, worin sich die Evolution des Buches als Erkenntnisgegenstand widerspiegele.204 Der Klecks als Defiguration der Schrift kann also innerhalb dieser Metaphorik das Fehlen der Repräsentation, das Verstellen der Erkenntnis, der Wahrheit, des „Lichts“ darstellen. Seine Formlosigkeit ist dann ein undifferenziertes Chaos, das diese Ordnung der Wahrheit durchbricht, die im Kontext der religiösen Symbolik die göttliche Ordnung ist. Innerhalb dieser Bildlichkeit könnte man die Schöpfung des Buchstabens auf dem weißen Blatt eine creatio ex nihilo gleich der theologischen Auslegung des alttestamentarischen Schöpfungsmythos nennen (selbstverständlich ohne Berücksichtigung der tatsächlichen Bedingungen des Schreibakts):205 Hierbei würde dann das weiße Blatt gerade das Nichts repräsentieren, aus dem der Schöpfer zugleich Licht und Dunkel, Form und Materie erschafft.206 Auf der anderen Seite kann, wie oben bemerkt, auch das reine weiße Blatt selbst als Bild des Logos angesehen werden. Dabei wäre jegliches Zeichen, dessen Tinte das Blatt schwärzt, ein Riss, eine Zerstörung dieses Logos. Diese Metaphorik kann als Gegenteil der ersten Variante betrachtet werden. Das Bild des Buchstabens stellt

203 Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“, in: Studium Generale. H. 1, 10. Jg. (1957), S.  432–446. Vgl. Schmitz-Emans: Schrift und ­Abwesenheit, S. 54 f. 204 Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt, S. 104. 205 Vgl. Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, S. 41. 206 Vgl. zur theologischen Problematik der creatio ex nihilo Westman, Robert S.: „Nature, art and psyche: Jung, Pauli, and the Kepler-Fludd polemic“, in: Vickers, Brian (Hg.): Occult and scientific mentalities in the Renaissance. Cambridge u. a. 1984, S. 177–230; hier S. 194 ff.

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dabei die Negation des Logos dar. Hier äußert sich eine Schrift- bzw. Sprachskepsis, die dem geschriebenen Schriftzeichen oder überhaupt dem geäußerten Sprachzeichen gegenüber in Bezug auf den sprachlich nicht fasslichen Logos einen Mangel oder sogar ein zerstörerisches, tötendes Potential attestiert (siehe die Ausführungen zur Schriftskepsis eines Logo- und Phonozentrismus unter 2.2). Als bewusste Vermeidung dieser ‚Beschmutzung‘ durch den Buchstaben stünde das Weiß des unberührten Blattes damit für ein apophatisches Schweigen,207 für die Verweigerung eines Versuchs der sprachlichen Bezeichnung, die immer nur mangelhaft sein könnte.

3.4.4 Fehler Die Bildlichkeit der Teilung bzw. des Risses, der in der Ordnung, im Wahren oder dem gottgefälligen Dasein eintritt, greift damit als Sündenmetaphorik auf den in der Genesis erzählten Sündenfall zurück. Bei Paulus wird der Sündenfall als Begründung für die Sterblichkeit des Menschen angeführt und mit der Hoffnung auf die Gnade durch die Ankunft Christi verbunden: „Durch einen einzigen Menschen kam die Sünde in die Welt und durch die Sünde der Tod, und auf diese Weise gelangte der Tod zu allen Menschen, weil alle sündigten“ (Röm. V, 12); „[…] dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose auch über die, welche nicht wie Adam durch Übertreten eines Gebots gesündigt hatten; Adam aber ist die Gestalt, die auf den Kommenden hinweist“ (Röm. V, 14); „Denn wie die Sünde herrschte und zum Tod führte, so soll auch die Gnade herrschen und durch Gerechtigkeit zu ewigem Leben führen, durch Jesus Christus, unseren Herrn.“ (Röm. V, 21.) Der Sündenfall ist damit auch der Urfehler, der die Sündigkeit des Menschen und der Welt als Verderbtheit – die Verdammnis zur Sterblichkeit – einleitet und zu seiner ewigen Wiederholung im Kreislauf von Geburt und Tod führt. Der Sündenfall gilt in dieser biblischen Tradition als eine ständige Voraussetzung der Fehlbarkeit des Menschen, seine Beeinflussbarkeit durch das Böse, das den Fehler als Abweichen vom Ort, von der Wahrheit, vom Logos hervorruft: Ihr habt den Teufel zum Vater, und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt. Er war ein Mörder von Anfang an. Und er steht nicht in der Wahrheit; denn es ist keine Wahrheit in ihm. Wenn er lügt, sagt er das, was aus ihm selbst kommt; denn er ist ein Lügner und ist der Vater der Lüge. (Joh. VIII, 44.)

Dass die Symbolik des Flecks vor diesem Hintergrund an die Bedeutung des Bösen als Teufel bzw. Teuflisches anknüpft, das den Menschen vom rechten Weg und der Wahrheit abzubringen versucht, wird etwa auch in Clemens Brentanos Philistersatire Der Philister vor, in und nach der Geschichte deutlich, in der dieser Bezug humoristisch

207 Schmitz-Emans: Schrift und Abwesenheit, S. 54 f.

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aufgegriffen wird: Brentano ahmt in seiner Philistersatire seinen eigenen Worten zufolge die Tat Luthers nach, der „das Schaffen des Philisters auf der Wartburg parodisch wiederholt [hat], als er dem Philister, dem Teufel, das Tintenfass an den Kopf warf, welches ich ihm in dieser Abhandlung etwas weitläufiger nachmache.“208 Luthers Begegnung mit dem Teufel auf der Wartburg, die im Wurf mit dem Tintenfass mündet, ist eine wohl seit dem sechzehnten Jahrhundert verbreitete Legende. Die frühesten Textbelege für die Anekdote finden sich bei einem Juristen und Theologen Johann Georg Gödelmann (1591) und in einem Gedicht des Meistersingers Hans Deisinger (1602).209 Etwa seit dem Ende des siebzehnten Jahrhunderts präsentierte man Besuchern der Wartburg einen entsprechenden auf die Wand gemalten Tintenklecks.210 Das Motiv des Tintenkleckses scheint dabei einerseits die Bedeutung des Negativen zu besitzen (als Symbol des Teuflischen), zugleich jedoch des Positiven (Resultat des Mittels, den Teufel zu vertreiben).211 Konstantin Bogdanov nimmt eine Verbindung der Anekdote zur Semantik religiöser bzw. sakralisierter Schreibpraktiken in dieser Zeit an.212 Bildliche Darstellungen des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts vermitteln diese Sakralisierung des Schreibakts, etwa in Darstellungen der Evangelisten oder eines schreibenden Christus. So zeigt Botticellis Gemälde Madonna Magnificat von 1485 einen Schreibakt des Jesuskindes, dem Maria die Hand führt. Auch scheint ein Zusammenhang der Anekdote mit mittelalterlichen Darstellungen Johannes’ von Patmos zu bestehen, der in diesen seine Offenbarungsschrift verfasst, während im Hintergrund der Teufel lauert. Luther nannte die Wartburg sein „Patmos“.213 Auf der anderen Seite vermutet Bogdanov einen Zusammenhang der Luther-Anekdote mit der Legende um Doktor Faustus, wobei der Tinte als Medium auch eine Bedrohung des Verderbens zugeschrieben wird: Sie ist das Medium, mit dem der Gelehrte den Vertrag mit dem Teufel unterschreibt.214 Der Wurf mit dem Tintenfass in der Luther-Anekdote kann als Akt der Teufelsaustreibung gedeutet werden, bei dem nicht ein sprachlicher Akt in mündlicher oder schriftlicher Ausführung getätigt wird, sondern ein rein körperlicher Akt mit einer Ausrichtung auf eine selbsttätige Objektwirkung.215 Statt den Teufel also mit Worten oder Schriften zu

208 Brentano, Clemens: „Der Philister vor, in und nach der Geschichte“ (1811), in: Ders.: Werke. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Friedhelm Kemp. Darmstadt 1963, S. 959–1018, hier S. 982 f. 209 Vgl. Loewenich, W. von: Martin Luther. Der Mann und das Werk. München 1982, S. 191; Bogdanov, Konstantin A.: Iz istorii kljaks. Moskva 2012, S. 84 f. 210 Vgl. Steffens, M.: „Die Lutherstube auf der Wartburg. Von der Gefängniszelle zum Geschichtsmuseum“, in: Laube, Stefan/Fix, Karl-Heinz (Hg.): Lutherinszenierung und Reformationserinnerung. Leipzig 2002, S. 317–342. 211 Bogdanov: Iz istorii kljaks, S. 93. 212 Vgl. hier und im Folgenden ebd., S. 93 ff. 213 Bogdanov: Iz istorii kljaks, S. 93; vgl. Watt, I.: Myths of Modern Individualism. Faust, Don Quixote, Don Juan, Robinson Crusoe. Cambridge 1996, S. 11. 214 Bogdanov: Iz istorii kljaks, S. 94. 215 Ebd., S. 98.

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vertreiben, wird über ihm Tinte ausgegossen. Die Geste dieses „antiphilologischen Geists“ (eine Formulierung des russischen Dichters Osip Mandel’štam)216 findet sich etwa auch in literarischen Verarbeitungen um 1800, wie Konstantin Bogdanov bemerkt: In Puškins Dubrovskij (1833) etwa wird Tinte auf einen sprachlichen Opponenten ausgegossen. Direkte Bearbeitungen der Luther-Anekdote sind um 1800 ebenfalls zu verzeichnen, etwa das Stück Martin Luther (1807) von Zacharias Werner oder Philipp Heinrich Welckers Doktor Luther und der Teufel (1831). In Brentanos oben zitierter Bezugnahme lässt sich wiederum auf die Symbolik des Flecks als Riss in der Ordnung der Schrift rückschließen. Brentano schreibt, Luther habe das „Schaffen“ des Teufels „parodisch wiederholt“, indem er ihn mit Tinte beschmutzte. Der entstehende Tintenfleck selbst ist also ein Symbol des teuflischen Wirkens als Macht, die die Beschmutzung der menschlichen Seele, die Trennung des Menschen von der göttlichen Wahrheit bewirkt (siehe hierzu auch die Etymologie des deutschen „Teufel“ als Ableitung vom griechischen διάβολος [diábolos]217, von διαβάλλειν [diabállein]: dt. „verschmähen“, „verleumden“, wörtlich: „auseinanderwerfen“).218

216 Mandel’štam, Osip Ė.: „O prirode slova“ (1922), in: Ders.: Sobranie sočinenij. 4 Bde. Bd. 1. Stichi i proza 1906–1921. Hg. v. P. Nerler et al. Moskva 1993, S. 217–231, hier S. 250. Zitiert nach Bogdanov: Iz istorii kljaks, S. 99. 217 Klein, Wassilios: „Teufel. I. Religionsgeschichtlich“, in: Theologische Realenzyklopädie. Bd. 33. Berlin/New York 2002, S. 113–115, hier S. 113 f. 218 Pape: Griechisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1, S. 572.

Teil II: E. T. A. Hoffmanns Schwellenpoetik der Schrift

1 Zur Einführung Phänomene der Defiguration der Schrift sind beim Autor Ernst Theodor Amadeus Hoffmann (1776–1822)1 von auffälliger und dabei variationsreicher Präsenz. Sie treten sowohl motivisch innerhalb seiner literarischen Texte als auch gegenständlich in seinen Handschriften und Zeichnungen auf, durchziehen also sowohl publizierte Texte als auch nicht publizierte Artefakte. Die in dieser Studie untersuchten Motive und gegenständlichen Manifestationen der Defiguration der Schrift bei Hoffmann wurden bisher nicht zum Gegenstand eingehender Betrachtung. Das literarische Motiv des ungewollten Flecks auf einem kostbaren Manuskript, ein Tintenfleck – mit der Beschriftung „ein Kleks“ – in einer Zeichnung des Berliner Hackeschen Marktes, die breiten Striche und Punkte des „Verfassers“ der Lebens-Ansichten des Katers Murr haben bisher kaum je im Einzelnen geschweige denn in ihrem Zusammenhang interessiert. Vor allem über die Analyse der konzeptuellen Verbindung einiger handschriftlicher Zeugnisse Hoffmanns zu seinen literarischen Texten erschließt die vorliegende Studie daher neues Material und betritt zugleich in der Hoffmann-Forschung theoretisches Neuland. Die bisher erfolgten Analysen von Hoffmanns Schriftreflexion stehen wiederum in Abhängigkeit zum jeweiligen Verständnis der Frühromantik, das sich im zwanzigsten Jahrhundert vor allem über die poststrukturalistische Neuentdeckung ihrer philosophischen Ideen und Verfahren gewandelt hat. So kann man, bei einer Fokussierung der als Vordenken der différance verstandenen, auf Prozessualität und Brüche bezogenen Verfahren und Begriffe bei Friedrich Schlegel und Novalis zu dem Schluss gelangen, dieses Denken werde – wiederum ‚bruchlos‘ – bei E. T. A. Hoffmann fortgeführt. Der Verlust von Identität und Einheit, die in Form von Doppelgängertum, Digressionen des Erzählens und letztlich in Motiven der Defiguration auftreten, werden dabei als Resultat oder Einlösen der frühromantischen Rezeption und ihres Weiterdenkens des Deutschen Idealismus, vor allem von Fichtes Wissenschaftslehre und seiner ‚Ich-Formel‘ begriffen.2 Darein fügt sich eine Deutung von Hoffmanns Romanbegriff – in einer Analyse der Lebens-Ansichten des Katers Murr –, die eine direkte Aufnahme von Friedrich Schlegels Konzept der Arabeske vermutet.3 Demgegenüber

1 Der dritte Vorname „Amadeus“ ist ein von Hoffmann selbst (nach dem von ihm bewunderten Wolfgang Amadeus Mozart) gewählter Künstlername anstelle des ursprünglichen dritten Vornamens „Wilhelm“. Er verwendete diesen Namen zum ersten Mal auf dem Titelblatt der Partitur seines Singspiels Die lustigen Musikanten (1804). Kremer, Detlef: „E. T. A. Hoffmann in seiner Zeit“, in: Ders. (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2010, S. 1–17, hier S. 5. 2 de Man, Paul: „Rhetorik der Zeitlichkeit“, in: Ders.: Die Ideologie des Ästhetischen. Hg. v. Christoph Menke. Aus dem Amerik. v. Jürgen Blasius. Frankfurt a. M. 1993, S. 83–130, hier S. 115 ff. 3 Schäfer, Bettina: Ohne Anfang – ohne Ende. Arabeske Darstellungsformen in E. T. A. Hoffmanns Roman „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Bielefeld 2001. https://doi.org/10.1515/9783110705140-005

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steht wiederum die Meinung, Hoffmanns Verständnis des Poetischen sei gerade auf die Brechung von frühromantischer Transzendenz fokussiert. Diese Transzendenz sei also nicht in jenem frühromantischen Denken bereits aufgegeben, sondern werde vielmehr gerade angestrebt.4 Ausgehend von einem auf den Einheitsgedanken und die Übersteigung des Endlichen ins Unendliche bezogenen Verständnis der Frühromantik wird dabei also Hoffmanns Prosa als unvermeidliches Aufgeben jenes Einheitsgedankens angesehen. Auch Sarah Kofmans Analyse der Lebens-Ansichten des Katers Murr, in der sie sich dem ‚zerreißenden Schreibakt‘ des Katers widmet,5 schlägt in diese Richtung – Hoffmanns Roman wird hier im Geist der différance gelesen. Dieses Verständnis von Hoffmanns Texten wird in einigen Arbeiten nicht zuletzt mit einer Zeitdiagnose verbunden (der ‚Sattelzeit‘6 um 1800 als ‚Medien- und Repräsentationskrise‘7), die immer wieder aber auch bereits aus der Frühromantik hergeleitet wurde. So ist Hoffmanns Literatur als „Entstellungskunst“8 bezeichnet worden, die doch immer wieder eine „Refiguration“ anstrebe bzw. darstelle.9 Auf der anderen Seite hat es auch immer wieder Ansätze gegeben, Hoffmanns Texte in einer Kontinuität zum frühromantischen Denken zu betrachten, gerade indem dessen metaphysischer Einheitsgedanke hervorgehoben wurde.10 Es ist bezeichnend, dass etwa Günter Oesterle in seinem Aufsatz über Arabeske, Schrift und Poesie in Hoffmanns Goldenem Topf das Motiv des Tintenkleckses als Darstellung verfehlter Signifikation und Philisterparodie abtut, weil es als Bruch mit der kontinuierlichen Rezeption frühromantischer Urschriftfantasien erscheint.11 Auch Friedrich Kittler stellt in seinem mediengeschichtlichen Horizont eine Kontinuität von Novalis zu Hoffmann fest. In diesem Sinne versteht er Hoffmanns

4 Momberger, Manfred: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E. T. A. Hoffmann. München 1986; Matt, Peter von: „Das Tier Murr“, in: Neumann, Gerhard (Hg.): Hoffmanneske Geschichte. Zu einer Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft. Würzburg 2005, S.  179–198; Busch, Werner: „E. T. A. Hoffmanns ‚Kater Murr‘. Zitat und Arabeske“, in: Vorträge aus dem Warburg-Haus. Bd. 13. Hg. v. Uwe Fleckner et al. Berlin/Boston 2016, S. 49–73, hier S. 60. 5 Kofman, Sarah: Schreiben wie eine Katze… Zu E. T. A. Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Wien 1984. 6 Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhart: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Stuttgart 2004, S. XIII–XXVII, hier S. XV. 7 Neumann, Gerhard/Oesterle, Günter: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik. Würzburg 1999, hier S. 9, S. 11. 8 Neumann, Gerhard: „Entstellungskunst. Zur Herstellung von Individualität in E. T. A. Hoffmanns Capriccio Prinzessin Brambilla“, in: Onuki, Atsuko/Pekar, Thomas (Hg.): Figuration – Defiguration. Beiträge zu einer transkulturellen Forschung. München 2006, S. 17–44. 9 Ders./Oesterle: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik, S. 9–26, hier S. 15; Neumann, Gerhard: „Narration und Bildlichkeit. Zur Inszenierung eines romantischen Schicksalsmusters in E. T. A. Hoffmanns Novelle Doge und Dogaresse“, in: Ders./Oesterle (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik, S. 107–142, hier S. 126. 10 Oesterle, Günter: „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Der goldne Topf“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69–107. 11 Ebd., S. 105 f.

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Schreib-Szenen12 als Fantasien des Lesens ‚reiner Signifikate‘ und das Motiv des Kleckses im Goldenen Topf zwar als Motiv des Scheiterns dieser Transzendenz, die jedoch in der Gesamtschau dennoch das Programm des Textes darstelle.13 Die vorliegende Studie zeigt vor diesem divergenten Forschungshintergrund, dass die untersuchten Phänomene und Motive der Defiguration der Schrift die Widersprüche frühromantischer Schriftreflexion zeigen, sich jedoch nicht von vornherein als Abkehr von deren Begriffen des Unendlichen und der Transzendenz verstehen lassen. Vielmehr treten die durch die Frühromantik übermittelten Spannungen zwischen einer Schriftutopie und ihrer begleitenden Kritik hier noch expliziter hervor: Hoffmann greift die Projektion metaphysischer Bedeutung auf die Einbildungskraft und auf den Schriftbegriff auf und zeigt sie zugleich immer wieder als Überhöhung und als potentiell wahnhaft (diese Dimension der Motivik einer defigurierten Schrift lässt sich im Sinne der schon oft festgestellten Tendenz der Hoffmann’schen Literatur zum Hässlichen, Dunklen, der sogenannten „Schauerromantik“ verstehen)14. Auf der anderen Seite zeigt Hoffmann auch immer wieder das Schriftzeichen auf humoristische Weise als banal. Diese dezidiert auf den Akt des Schreibens bezogene Auseinandersetzung mit der romantischen Schriftreflexion führt bei Hoffmann zu einer Ästhetisierung der schriftlichen Materialität, und dies v. a. über Motive und gegenständliche Manifestationen der Defiguration der Schrift. Dies ist bisher in der Forschung noch nicht gezeigt worden. Es ist symptomatisch für den blinden Fleck in der Auseinandersetzung über die Schriftreflexion bei Hoffmann, dass in Günter Oesterles und Gerhard Neumanns Einleitung zu ihrem Band über Bild und Schrift in der Romantik weder allgemein noch in Gerhard Neumanns Beitrag zu Hoffmann die so offensichtlich zentrale Reflexion des Autors über die Materialität und die eigene Bildlichkeit der Schrift zur Sprache

12 Rüdiger Campe markiert die Inszenierung der Schreibszene im Medium der Literatur orthographisch durch die Schreibweise als „Schreib-Szene“. Campe, Rüdiger: „Die Schreibszene, Schreiben“, in: Zanetti (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik, S. 269–282, hier S. 270 f. 13 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. 3., vollst. überarb. Aufl. München 1995, S. 98– 137, v. a. S. 108 ff.; 140 ff. 14 Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Dieter Kliche. Stuttgart 2007, S.  358; Praz, Mario: Liebe, Tod und Teufel. Die Schwarze Romantik. München 1970; vgl. zur ‚Nachtseite‘ der sog. Spätromantik die relativ strikte Unterscheidung von Früh- und Spätromantik unter dem Fokus ihrer jeweiligen ‚Psychologie‘ bei Hania Siebenpfeiffer in Detlef Kremers Handbuch zur Hoffmann-Forschung. Eine solche „Romantische Psychologie“ richtet sich Siebenpfeiffers Argumentation zufolge in der Spätromantik weiter in Richtung auf „Grenzphänomene wie Somnambulismus, Hypnose, Wahn, Halluzination und Ichdisszoziation“ aus (Siebenpfeiffer, Hania: „Romantische Psychologie“, in: Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann, S. 58–64, hier S. 60). Hoffmanns Zuordnung zu einer „Schauer-“ oder „dunklen Romantik“ haben sich zudem an seinen vielen Bezügen auf Gotthilf Heinrich Schuberts „Ansichten von der Nachtseite der Naturwissenschaft“ (1808) und „Die Symbolik des Traums“ (1814) entzündet (Uhlmann, Dirk: „Identität/Ich-Auflösung“ (Systematische Aspekte), in: Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann, S. 499–500, hier S. 500).

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kommt – ja das Medium der Schrift wiederholt mit „Erzählen“ und „Stimme“ synonym gesetzt wird.15 Die beiden Kapitel „Tintenpoetik“ und „Lust an der Makulatur“ gehen in der vorliegenden Arbeit dabei der Entwicklung nach, die die Ästhetisierung der schriftlichen Materialität im Werk Hoffmanns nimmt – zunächst über die motivische und auch zeichnerische Thematisierung der Tinte als Schreibmaterial, dann über die materielle Masse der Literatur im Motiv der Makulatur sowie die Ansätze einer Materialästhetik.16 Dabei erfolgt auch eine Neuinterpretation von Hoffmanns Konzept der Duplizität17: Diese bezeichnet das Abhängigkeitsverhältnis der „inneren Welt“ der Vorstellungen und Imaginationen von der „äußeren Welt“, die gleich einem „Hebel“ jene Vorstellungen überhaupt bewirke, die jedoch zugleich in „dunklen Ahnungen“ diesen beengenden „Kreis“ der äußeren Wahrnehmungen „überfliegen“.18 Dass die Reflexion Hoffmanns über das Verhältnis von „innerer“ und „äußerer“ Wahrnehmung in Beziehung zum Begriff der figura gesetzt wurde,19 ist schlüssig und weiterführend. Denn die Figuration, als begriffsgeschichtliche Ableitung der figura, vermag ihrerseits ein unauflösliches Verhältnis der Verbindung und Verschränkung von sinnlich wahrnehmbarem ‚Außen‘ und einem wie auch immer über dieses hinausgehenden Innen, einer Idee, eines Geistigen, eines Zukünftigen zu bezeichnen:20 Im Sinne einer „Duplizität als Relation von Idee und Materie“ ist es möglich, die Figuration als Verkörperung,21 und solcherart Hoffmanns begriffliche Reflexion über die künstlerische Imagination als Einsicht in die Verkörperung von Vorstellung und Wahrnehmung zu verstehen. In der vorliegenden Arbeit wird erstmals gezeigt, dass Hoffmanns

15 Neumann/Oesterle: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Bild und Schrift in der Romantik, S. 12, S. 15. Neumann: „Narration und Bildlichkeit“, S. 108. 16 Siehe zum Begriff der Materialästhetik die Einleitung zu dieser Arbeit. Ich verwende den Begriff im Sinne von Klaus Müller-Wille, der ihn vor dem Hintergrund der in den letzten Jahrzehnten erfolgten Untersuchungen und theoretischen Reflexionen über die „Wider- und Eigenständigkeit singulärer Materialien“ verwendet (siehe hierzu ebenfalls die Einleitung zu dieser Arbeit). Müller-Wille, Klaus: Sezierte Bücher. Hans Christian Andersens Materialästhetik. Paderborn 2017, S. 17 f. 17 H SB, S. 68. 18 Ebd. 19 Müller-Nielaba, Daniel/Schumacher, Yves/Steier, Christoph: „Figur/a/tion. Möglichkeiten einer Figurologie im Zeichen E. T. A. Hoffmanns“, in: Dies. (Hg.): Figur – figura – Figuration: E. T. A. Hoffmann. Würzburg 2011, S. 7–14, hier S. 7. 20 Auerbach: „figura“, S. 82 ff. 21 Müller-Nielaba/Schumacher/Steier: „Figur/a/tion“, S.  7; siehe hierzu auch die Untersuchungen zur Figur als Identität bei Hoffmann: Neumann, Gerhard: „Entstellungskunst“, S. 20 ff., zudem Howe, Jan Niklas: Monstrosität. Abweichungen in Literatur und Wissenschaften des 19. Jahrhunderts. Berlin 2016. Howe betrachtet Hoffmanns Texte im Rahmen einer von ihm untersuchten Dynamik von Singularisierung und Verallgemeinerung des Monsters bzw. des Monströsen in der Zeit um 1800. Das ‚Monster‘ als Figur sei in ebendieser Dynamik von Defiguration (Verallgemeinerung, Kollektivierung) und Refiguration (Personifizierung) begriffen (er untersucht die Erzählungen Das Fräulein von ­Scuderi und Klein Zaches genannt Zinnober).

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Duplizitätsgedanke auch gerade als Auseinandersetzung mit der Verkörperung imaginativer Akte in der Schreibgeste verstanden werden kann. Hoffmanns spätere Texte zeigen dabei noch deutlicher als diejenigen aus den frühen 1810er Jahren eine humoristische Reflexion seiner eigenen schriftstellerischen Tätigkeit als Autor der späteren Romantik – die Utopien der Frühromantik sind in seinen Texten immer ausgestelltes Zitat und daher von vornherein durch Distanz geprägt, auch in den Fällen, in denen er sich affirmierend an ihre Postulate anschließt. Hoffmann reflektiert in diesem Zuge immer seine Stellung als zeitlicher Nachfolger und die Frage seiner Motivation für das Fortschreiben der Poetologie der Frühromantik, die er fortwährend aus- und auch entstellt. Er thematisiert dabei auch die mögliche Fragwürdigkeit seiner eigenen Poetologie, indem er sich selbst als „literarischen Fabrikanten“ bzw. Abschreiber karikiert. In diesem Zusammenhang reflektiert und kritisiert Hoffmann das transzendentale Streben einer romantischen Ästhetik auf humoristische und (selbst-)satirische Weise über ebendiese Motive der Defiguration der Schrift. Diese weisen einerseits auf eine unhintergehbare Verwurzelung und Abhängigkeit jenes Strebens vom Materiellen und Leiblichen hin und zelebrieren dieses andererseits zugleich auf karnevaleske Weise. Hoffmanns Rezeption des Grotesken und Karnevalesken wurde in zahlreichen Studien untersucht.22 Bisher unbemerkt blieb die Anbindung an die in jener Zeit populären humoristischen Abkömmlinge des Räuber-, Schelmen- und Narrenromans, die ihre karnevalesken Motive des (freilich hier zugleich zitierten und sublimierten) Leiblichen gerade auf die Literaturkritik ihrer Zeit und damit etwa auf den Begriff der Makulatur bezieht.

22 Schon Walter Scott und Charles Baudelaire erkannten und beschrieben die Tendenz zum Grotesken bei Hoffmann (wobei Fantastisches und Groteskes noch nicht im heutigen Sinne zu differenzieren versucht wurden). Scott, Walter: „On the Supernatural in Fictitious Composition; and particularly on the Works of Ernest Theodor William Hoffmann“, in: Foreign Quarterly Review, 1 (1827), S.  60–98. Neudruck in: Williams, Joan (Hg.): On Novelists and Fiction. London 1968, S.  312–353; Baudelaire, Charles: [„De l’essence du rire“ (1855)]. „Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der Bildenden Kunst“, in: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden. Bd. 1: Juvenilia – Kunstkritik 1832–1846. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München 1977, S.  284–305. Es folgten viele Forschungsarbeiten, beginnend im zwanzigsten Jahrhundert: Desalm, Ellie: E. T. A. Hoffmann und das Groteske. Remscheid 1930; Kayser, Wolfgang: Das Groteske. Seine Gestaltung in Malerei und Dichtung. Oldenburg/Hamburg 1957; Cramer, Thomas: Das Groteske bei E. T. A. Hoffmann. München 1966. Detlef Kremer hat das Groteske bei Hoffmann im Anschluss an Michail Bachtins Analyse des Karnevalesken bei Rabelais untersucht und sieht hier eine Kontinuität. Kremer, Detlef: E. T. A. Hoffmann zur Einführung. Hamburg 1998, S. 95; Ders.: „Literarischer Karneval. Groteske Motive in E. T. A. Hoffmanns Prinzessin Brambilla“, in: E. T. A. HoffmannJahrbuch. Bd. 3 (1995), S. 15–30.

2 Tintenpoetik 2.1 Der Klecks als materia prima im Goldenen Topf 2.1.1 Von den Krähenfüßen zur Schlangenschreiblinie Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit, die 1814 als dritter Band der Sammlung Fantasiestücke in Callot’s Manier erschien, wirft den Studenten Anselmus und mit ihm ihre Leserinnen direkt in das Geschehen hinein, das seinen verhängnisvollen Verlauf nimmt. Der Student stürzt rennend durch das Dresdner Schwarze Tor und geradewegs in einen Korb Äpfel, den eine alte Frau am Tor feilbietet. Die Äpfel fallen in einem großen Durcheinander zu Boden. Obwohl der Student, umringt von anderen Apfelverkäuferinnen, die ihn beschimpfen, die zertretenen Äpfel bezahlt und sich erst dann hastig entfernt, schreit die alte Frau ihm gellend nach: Ja renne – renne nur zu, Satanskind – ins Krystall! bald dein Fall – ins Krystall!23

Das Lachen der umstehenden Passanten verstummt sofort. Sie wie auch Anselmus scheinen plötzlich zu spüren, dass dem Geschehen nicht der belanglos-komische Charakter eines zufälligen Missgeschicks eignete: Auf ganz sonderbare Weise hatten die geheimnisvollen Worte der Alten dem lächerlichen Abenteuer eine gewisse tragische Wendung gegeben […].24

Das Ereignis, das den Beginn der Erzählung markiert, hat eine tragische Schwere. Der Zufall des Zusammenstoßes von Anselmus mit der Apfelverkäuferin am Schwarzen Tor ist bereits Teil eines Schicksals, das sich nach seiner Ankündigung im weiteren Verlauf des Geschehens erfüllen wird. Die selbstreflexive Bemerkung des Erzählers über die „tragische Wendung“ des Falls in den Äpfelkorb weist auf die Bedeutungsschwere des Beginns der Erzählung hin. Das diesen Beginn markierende Ereignis erscheint dem Studenten Anselmus zunächst als Zufall, doch es präfiguriert bereits den noch kommenden „Fall ins Kristall“. Hoffmanns Erzählung Der goldene Topf ist vielleicht diejenige Erzählung des Autors, die am offensichtlichsten und offensivsten an die frühromantische Poetik anschließt, wie bereits aus diesen ersten Ereignissen der Erzählung deutlich wird. Anselmus’ Fall in die Äpfel zeigt sich als überdeutliche Anspielung auf den Sündenfall. Seine

23 H GT, S. 229. 24 Ebd., S. 230. https://doi.org/10.1515/9783110705140-006

Der Klecks als materia prima im Goldenen Topf 

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spätere Initiation zum romantischen Autor im Konflikt von bürgerlicher Alltagswirklichkeit und Einbildungskraft ist eine im Erzählverlauf prozessuale Darstellung poetischer Figuration, die sich immer in der Schwebe zwischen ihrer eigenen Entstehung und Auflösung befindet. Die Anspielung auf den Sündenfall zeigt sich eben deshalb von Beginn an als bedeutungsschwer, weil hiermit auf die Frage des Verhältnisses von Subjekt, Natur und Einbildungskraft und den Entwurf einer romantischen Poetik angespielt wird, die durch die Einbildungskraft einer ursprünglichen Verbindung von Subjekt und Natur wieder entgegenzustreben sucht. „Romantisierung“ heißt damit dem bekannten Dictum Novalis’ zufolge, dem Endlichen einen „unendlichen Schein“ zu verleihen;25 dies erfolgt immer unter der Voraussetzung der Endlichkeit des menschlichen Bewusstseins. Die Zitation des Sündenfalls und seiner theologischen Auslegung erfolgt dabei mal mehr, mal weniger deutlich.26 Hoffmanns Erzählung macht diese Verbindung ganz direkt und ganz zu Beginn: Anselmus durchlebt in seiner Erzählung die Initiation in die romantische Poetik in einem durch seinen Sündenfall ausgelösten Zyklus, der sich aus dem unauflöslich verschränkten und spiegelnden Verhältnis von Endlichkeit und Unendlichkeit ergibt. Im Zentrum dieses Zyklus stehen die Symbole Linie und Fleck, die um mehrere Schreib-Szenen herum entwickelt werden. In ihnen manifestiert sich damit die Dynamik von Figur und Defiguration als Spannung zwischen Wirklichkeit bzw. philiströser Beamtenwelt und poetischer Welt der Einbildungskraft, zwischen Begrenztheit und Unendlichkeit. Der Fleck als (Zu-) Fall, das Belanglose, Insignifikante, die Manifestation des Endlichen und Materiellen, ist damit eingebunden in eine Determinierung durch Vorsehung, das Signifikante und Unendliche. Die Defiguration wird von ihrer Negativität in Richtung auf eine Erfüllung als Figur hin positiv aufgewertet, die Figur jedoch immer zugleich durch das Endliche begrenzt. Sowohl Schlangenlinie als auch Fleck verweisen dabei zurück auf die Symbolik des Sündenfalls. Das Symbol des Bösen und der Herbeiführung von Erkenntnis und Sterblichkeit (Endlichkeit) wird dabei zum Symbol der Poiesis als zyklischem Prozess der ständigen Entstehung, Auflösung und Neuentstehung der Figur im Austausch von Subjekt und Natur.27 Über die Symbolik von Linie und Fleck bezieht die Erzählung ganz zentral den Akt des Schreibens ein. Schreiblinie und Tintenfleck werden bei einer Auseinandersetzung über die Stofflichkeit des Schreibakts zur Anregung und zugleich zur Manifestation des Poetischen. Dabei setzt Hoffmann die Widersprüchlichkeit der frühromantischen Schriftreflexion literarisch über einen dezidierten Bezug ihrer Urschriftbegriffe auf den

25 N II, S. 545 (Logologische Fragmente [2], Nr. 105). 26 Vgl. Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche  – Werk  – Wirkung, S.  265; vgl. ders.: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt  a. M. 1979, S. 174–194. 27 Vgl. zum Begriff der Poiesis als poetischer Produktivität in der Romantik: Zill, Rüdiger: „Produktivität/Poiesis“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz Barck et al. Stuttgart/Weimar 2010, S. 40–86, hier S. 60–63.

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‚profanen‘ materiellen und gestischen Schreibakt in Szene. Hoffmanns Verarbeitung der sowohl kritischen als auch utopischen Sicht auf die Schrift in der Frühromantik ermöglicht ihm damit nicht nur gemäß seinem später ausformulierten Serapionischen Prinzip und der diesem korrespondierenden Einsicht in die Duplizität eine Reflexion über die immerwährende Vermitteltheit der Imagination durch den literarischen Text und ihre Rahmung durch die Wirklichkeit.28 Zugleich lässt diese dezidierte Einbindung der schriftlichen Materialität ihre Ästhetisierung im Sinne des liminalen Verhältnisses von Körper, Geste, Schreibmaterial und Imagination zu, das in die Reflexion der romantischen Poetik integriert wird. Der Archivarius Lindhorst beschäftigt in der Erzählung den Studenten Anselmus als Abschreiber verschiedener gesammelter Manuskripte. Zunächst legt er diesem arabische Texte vor, die dieser zur Zufriedenheit des Archivars kopiert. Bald schon händigt dieser dem Studenten solche Manuskripte aus, deren Charakter wohl nur noch als schriftähnlich bezeichnet werden kann. Mit der Ankündigung, es handle sich um „Bhogovotgitas Meister“ flicht Hoffmann einen Hinweis auf Friedrich Schlegels Aufsatz Über die Sprache und Weisheit der Indier ein, in dem Schlegel die These vertritt, das Sanskrit sei die Ursprache, aus der Latein, Griechisch, Persisch sowie Gotisch abstammten.29 Dass Anselmus aber kein Sanskrit abzuschreiben hat, sondern eine Urschrift im Sinne einer natürlichen Schrift, die von Naturformen derart nicht zu unterscheiden ist, zeigt uns Anselmus’ Erstaunen beim Anblick der ‚Zeichen‘: Anselmus wunderte sich nicht wenig über die seltsam verschlungenen Zeichen, und bei dem Anblick der vielen Pünktchen, Striche und Züge und Schnörkel, die bald Pflanzen, bald Moose, bald Tiergestalten darzustellen schienen, wollte ihm beinahe der Mut sinken […].30

Die Schrift von „Bhogovotgitas Meistern“, teilweise piktographisch, teilweise ornamental, ähnelt in dieser Beschreibung stark dem, worauf Friedrich Schlegel in seiner

28 „Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. Die innern Erscheinungen gehen auf in dem Kreise, den die äußeren um uns bilden und den der Geist nur zu überfliegen vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten. Aber du, o mein Einsiedler! statuiertest keine Außenwelt, du sahst den versteckten Hebel nicht, die auf dein Inneres einwirkende Kraft; und wenn du mit grauenhaftem Scharfsinn behauptetest, daß es nur der Geist sei, der sehe, höre, fühle, der Tat und Begebenheit fasse, und daß also auch sich wirklich das begeben was er dafür anerkenne, so vergaßest du, daß die Außenwelt den in den Körper gebannten Geist zu jenen Funktionen der Wahrnehmung zwingt nach Willkür. Dein Leben, lieber Anachoret, war ein steter Traum, aus dem du in dem Jenseits gewiß nicht schmerzlich erwachtest.“ H SB, S. 68. 29 Schlegel, Friedrich: „Über die Sprache und Weisheit der Indier“, in: KFSA VIII, S. 105–433, Oesterle, Günter: „Arabeske, Schrift und Poesie in E. T. A. Hoffmanns Der goldne Topf“, in: Athenäum. Jahrbuch für Romantik 1 (1991), S. 69–107, S. 70. 30 H GT, S. 299.

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Herleitung des Begriffs der Arabeske im Brief über den Roman anspielt: „[…] diese witzigen Spielgemälde […], die man Arabesken nennt.“31 Zuvor wurde in dieser Studie herausgearbeitet, dass diese Formulierung sich an Karl Philipp Moritz’ Beschreibung von Grotesken anlehnt (Teil I, Kap. 3.1.1). Es mischen sich bildlich dargestellte Gestalten mit reinen Verzierungen und Naturmustern wie dem Moos. Die Verschlungenheit dieser vielen Elemente lässt sie zu einer bewegten Einheit zusammenfließen, die weder Anfang noch Ende, Vorder- und Hintergrund besitzt und das Entstehen von Gestalten selbst darstellt. Eine Abschrift dieses Manuskripts scheint unmöglich, denn ein schriftlicher Zeichencharakter liegt in mehrfacher Hinsicht nicht mehr vor: Einerseits sind Disjunktheit, Differenziertheit und Gerichtetheit der Schriftzeichen, die unabdingbare Voraussetzung ihrer Referentialität,32 aufgehoben. Diese ‚Schrift‘ ist nicht zwischenräumlich organisiert – das arabeske, d. h. aus verschiedenen ikonischen Gestalten und ornamentalen Linien und Punkten gemischte Bild besitzt eine Struktur der Dichte, die Differentiation unmöglich macht.33 Obwohl diese Arabeske auf dem Anselmus vorgelegten Pergament gleich Naturformen sich selbst präsentiert, zeigt sie zugleich in ebendieser krausen Durchmischung von mimetischen Figuren und ihrer a-mimetischen Auflösung in den Elementen der Schriftfiguration – den Linien und Punkten – rätselhafte Bedeutsamkeit an. Wenn man bedenkt, dass diese Naturschrift Anselmus vom Archivar Lindhorst als nächste Stufe seines Abschreibdienstes vorgelegt wird, kann man diese Abfolge vom Arabischen zu einer Naturschrift als einen den zeitgenössischen Theorien der Schriftentstehung gemäßen genealogischen Rückwärtsgang zu den Ursprüngen der Schrift bzw. einer Urschrift betrachten.34 Entscheidend an Hoffmanns Umgang mit den hier verarbeiteten frühromantischen Postulaten ist die gewissermaßen wortwörtliche Übertragung der Begriffe von Hieroglyphe, Arabeske und Figur auf den Schreibprozess, indem der Urschriftgedanke, der ihnen zugrunde liegt, im Akt des Schreibens dargestellt wird. Dies hat einen interessanten Effekt: Der Text inszeniert die Metamorphose von der arbiträren, zwischenräumlich organisierten Schrift zur hieroglyphischen, arabesken Naturschrift. Hierbei wird sehr genau das sich ändernde Verhältnis von Anselmus zur Schrift beschrieben: Von einem Verhältnis der Äußerlichkeit geht es zu einem Verhältnis der Innerlichkeit

31 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, in: KFSA II, S. S. 285–351, hier S. 330 f. Vgl. zum Zusammenhang der in Hoffmanns Märchen dargestellten Urschrift und der romantischen Arabeske ­Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie“, S. 98–107. 32 Vgl. Krämer, Sybille: „‚Schriftbildlichkeit‘ oder: Über eine (fast) vergessene Dimension der Schrift“, in: Dies./Bredekamp, Horst (Hg.): Bild, Schrift, Zahl. München 2003, S. 157–176; hier S. 162 f.; vgl. dies.: „Aisthesis und Operativität der Schrift. Über Schriftbildlichkeit“, in: Müller-Tamm, Jutta/ Schubert, Caroline/Werner, Klaus Ulrich (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Paderborn 2018, S. 17–34, hier S. 25. 33 Krämer: „‚Schriftbildlichkeit‘“, S. 163. 34 Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie“, S. 69 ff.; Nygaard, L. C.: „Anselmus as Amanuensis. The Motif of Copying in Hoffmann’s Der goldene Topf“, in: Seminar XIX, Nr. 2 (1983), S. 79–104, hier S. 87.

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und der Verbindung zwischen Subjekt und Schrift bzw. Natur. Zunächst fungiert die Erwähnung der „Krähenfüßigkeit“ von Anselmus’ kalligraphischen Übungen und ihrer Unbeständigkeit als Betonung der Distanz zwischen Schreiber und Schrift sowie zwischen Bedeutung und Schrift: Anselmus wurde wie vom Blitz getroffen, als ihm seine Handschrift so höchst miserabel vorkam. Da war keine Ründe in den Zügen, kein Druck richtig, kein Verhältnis der großen und kleinen Buchstaben, ja! schülermäßige schnöde Hahnenfüße verdarben oft die sonst ziemlich geratene Zeile. „Und dann“, fuhr der Archivarius Lindhorst fort, „ist Ihre Tusche auch nicht haltbar.“ Er tunkte den Finger in ein mit Wasser gefülltes Glas, und indem er nur leicht auf die Buchstaben tupfte, war alles spurlos verschwunden.35

Es folgt die allmähliche Innerlichkeit mit dem Arabischen, dessen Sinn Anselmus erahnbar wird: [Es] wurden ihm immer verständlicher die unbekannten Zeichen – er durfte kaum mehr hineinblicken in das Original – ja es war, als stünden schon wie in blasser Schrift die Zeichen auf dem Pergament und er dürfe sie nur mit geübter Hand schwarz überziehen.36

Anselmus’ Akt der Abschrift ist die Ankündigung eines eigenständigen Schreibakts, der sich in der beginnenden einheitlichen Verbindung von Schrift und Stimme und von Innen und Außen andeutet. Noch ist Anselmus nicht in der Lage, die Zeichen zu lesen und er schreibt sie noch nach (sie sind auf dem Weiß des Pergaments aber bereits unsichtbar-sichtbar, absent-präsent, indem sie erahnt werden). Aber die Vereinigung des sinnlichen äußerlichen Eindrucks der Schreibutensilien mit dem Klang und einem inneren Gefühl präfiguriert schon die Urschrift, die dann folgt. Diese erfüllt dann das Magische eines Ab-Schreibakts, der zugleich ein originärer Schreibakt ist. In diesem magischen Schreibakt von „Bhogovotgitas Meistern“ entsteht eine Einheit der Präsenz aus Innen und Außen, indem Geist und Materie miteinander verbunden werden. Zentral an diesem Verhältnis der Innerlichkeit ist gerade die Präsenz, die zunächst stark betonte synästhetische Sinnlichkeit (visuell, olfaktorisch, auditiv) des Schreibakts: Der Archivarius holte erst eine flüssige schwarze Masse, die einen ganz eigentümlichen Geruch verbreitete, sonderbar gefärbte zugespitzte Federn und ein Blatt von besonderer Weiße und Glätte, dann aber ein arabisches Manuskript aus einem verschlossenen Schranke herbei, und sowie Anselmus sich zur Arbeit gesetzt, verließ er das Zimmer.37

35 H GT, S. 284 f. 36 Ebd., S. 286. 37 Ebd., S. 285.

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Die Sinnlichkeit des mit diesen Materialien ausgeführten Schreibakts führt nicht zu Trägheit und Sperrigkeit, sondern ermöglicht vielmehr eine „Schnelle und Leichtigkeit […], womit er die krausen Züge der fremden Schrift nachzumalen vermochte“.38 Die Sinnlichkeit der schriftlichen Materialität als visueller Eindruck verbindet sich dabei mit den sich zur Stimme formenden Klängen im Zimmer, die „aus dem innersten Gemüte“ und zugleich „in leisen lispelnden Kristallklängen durch das Zimmer [wehte]“.39 Der äußerliche Wahrnehmungseindruck und die innere Regung des Schreibers Anselmus verschmelzen. Darauf beginnt Anselmus, die ihm eigentlich unverständlichen Zeichen doch zu verstehen und zu erkennen. Die Utopie der Poesie als Produktion und Verstehen einer Urschrift wird im Schreibakt umgesetzt, sodass dessen Materialität und Instrumentalität zugleich im Sinne der Urschriftvorstellung die Präsenz der Bedeutung in sich bilden und eine Verbindung von Subjekt und Natur erschaffen: Der Student Anselmus, wunderbar gestärkt durch dies Tönen und Leuchten, richtete immer fester und fester Sinn und Gedanken auf die Überschrift der Pergamentrolle, und bald fühlte er wie aus dem Innersten heraus, dass die Zeichen nichts anderes bedeuten konnten als die Worte: Von der Vermählung des Salamanders mit der grünen Schlange. – Da ertönte ein starker Dreiklang heller Kristallglocken – „Anselmus, lieber Anselmus“, wehte es zu ihm aus den Blättern, und o Wunder! an dem Stamm des Palmbaums schlängelte sich die grüne Schlange herab. „Serpentina! holde Serpentina!“ rief Anselmus wie im Wahnsinn des höchsten Entzückens, denn sowie er schärfer hinblickte, da war es ja ein liebliches herrliches Mädchen, die mit den dunkelblauen Augen, wie sie in seinem Innern lebten, voll unaussprechlicher Sehnsucht ihn anschauend, ihm entgegenschwebte. Die Blätter schienen sich herabzulassen und auszudehnen, überall sprossen Stacheln aus den Stämmen, aber Serpentina wand und schlängelte sich geschickt durch, indem sie ihr flatterndes, wie in schillernden Farben glänzendes Gewand nach sich zog, sodass es, sich dem schlanken Körper anschmiegend, nirgends hängenblieb […].40

Die sprachliche Einführung der Schlange Serpentina ist so gestaltet, dass man sich ihr Entstehen ebenso auf dem Pergamentblatt wie in den Wipfeln der Palmbäume der Bibliothek vorstellen kann.41 Die sprachliche Doppeldeutigkeit zwischen Baumblatt und Pergamentblatt ist ganz bewusst gewählt, um ebendiesen Effekt zu erzielen und deutlich zu machen, dass sich in Serpentina Natur und Schrift vereinen, es also keinen ontologischen Unterschied zwischen Serpentina als durch die Schrift bezeichnetem Signifikat und seinem Signifikanten sowie ihrer Existenz an Anselmus’ Seite gibt. In dieser literarisch inszenierten Urschriftvorstellung müssen auch Schrift und Stimme als Einheit vorgestellt werden, indem die Schrift als Einheit mit ihrem Bezeichneten ins Leben tritt.

38 Ebd., S. 286. 39 Ebd., S. 286. 40 Ebd., S. 300. 41 Vgl. Nygaard: „Anselmus as Amanuensis“, S. 94 f.

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Derart wird in der vorliegenden Untersuchung Günter Oesterles Kritik an Friedrich Kittlers Analyse des Goldenen Topfes zugestimmt, in der dieser die Erzählung als Manifest der bürgerlichen Schreib- und Leseerziehung las.42 Damit reduzierte er die Vielschichtigkeit der Erzählung in dieser Analyseperspektive und betrachtete sie als Umsetzung bürgerlicher Schreib- und Lesereformen.43 Die Perspektiven Oesterles – der vor allem die Bezüge zu Urschrifttheorie, Naturphilosophie und frühromantischer Ästhetik verfolgt – und Kittlers auf die Praktiken und Diskurse des Schreibens und Lesens um 1800 befinden sich in einer Dichotomie. Dies ist auch aus der Tatsache heraus verständlich, dass der Text seinen Begriff der Poiesis explizit über die erzählte Metamorphose der gewissermaßen alltäglichen Praxis des Schreibens und des Schreibens von Urschrift inszeniert und beide Ebenen dabei gerade nicht trennbar sind (ganz im Sinne von Hoffmanns Poetik der ständigen Spiegelung und bewussten Abhängigkeit von Wirklichkeit und Imagination). Dabei gibt es dennoch gewisse Parallelen in den von beiden Forschern aufgezeigten diskurs- bzw. kunstgeschichtlichen Bezügen der Erzählung: Denn Oesterle beweist, dass die Schönschreiblinie des Schreibpädagogen Johann Paulus Pöhlmann, die Kittler in der Erscheinung Serpentinas wiedererkannt hat,44 selbst eine lange Geschichte in der Line of Beauty and Grace des englischen Ästhetikers William Hogarth besitzt, der sie wiederum aus der figura serpentinata des Theoretikers des Manierismus Giovanni Paolo Lomazzo entwickelt hat.45 Gerade aber die scheinbare Genealogie der Schönschreiblinie aus der Schönheitslinie nach Hogarth ist an sich von Relevanz für ihr Erscheinen im Goldenen Topf. Denn der Schreiberziehungsmethode nach Heinrich Stephani zufolge, in deren Kontext Kittler Pöhlmanns Schönschreiblinie stellt, ist die individuelle Schreibschrift gerade Ausdruck einer inneren Einstellung auf das Schreiben der Buchstaben. Diese sollten nicht mehr mechanisch abgeschrieben werden – was eine fehlende Beweglichkeit des Schreibens zur Folge hätte – sondern vielmehr fließend dem inneren Bild nach aufs Papier gebracht werden.46 Gerade hierin beerbt die Schönschreiblinie um 1800 Hogarths Line of Beauty: Auch diese ist eine Form, die zunächst im Geist entsteht und auf die Betrachtung der äußeren Gegenstände übertragen werden soll. Sie wird aus der Zergliederung natürlicher wie künstlerischer Formen und Formen der sozialen Interaktion im Geist des Menschen zu ebendieser Wellenlinie zusammengesetzt und wiederum nach außen projiziert.47 Die Schönheitslinie nach Hogarth ist damit eine

42 Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. 3., vollst. überarb. Aufl. München 1995, S. 98–137. 43 Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie“, S. 72 f. 44 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 135. 45 Vgl. Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie“, S. 73 ff. 46 Kittler: Aufschreibesysteme, S. 103 ff. 47 Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. The analysis of beauty, written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste. Reprodr. Nachdr. der Ausg. Berlin [u. a.] 1754, Bristol 2001, (Einleitung) V: „Damit man mich wohl ver-

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Figur, die aus dem Zusammenspiel von Innen und Außen, dem Erkennen und Produzieren der Form durch den Geist und wiederum ihrem Reproduzieren, entsteht. Gerade an dem Verständnis der Figur nach Novalis wurde zuvor in dieser Arbeit erläutert, dass diese ebenfalls aus einem fühlenden Verstehen entsteht, indem sich Geist und Erscheinung miteinander verbinden. So wird die Sprache der Natur dem Menschen verständlich, so entsteht Poesie – so entsteht auch Serpentina im Moment des inneren Fühlens der Bedeutung der verschlungenen Zeichen durch Anselmus. In Serpentina treffen die Schönheitslinie (bzw. ihre Vorgängerin, die figura serpentinata) und die Schreiblinie als Erkennen und Produzieren der poetischen Figur zusammen. Serpentina erzählt Anselmus die Geschichte, deren Überschrift er im Moment ihres Erscheinens liest. Es ist die Fortsetzung der Herkunftsgeschichte des Archivarius Lindhorst und damit ihre, seiner Tochter, eigene Genealogie. Erst am Ende ihrer Erzählung und nachdem Serpentina verschwunden ist, erkennt Anselmus, dass er das Manuskript nicht nur verstanden hat, indem Serpentina es ihm erzählte, sondern er es auch abgeschrieben hat: Denn die Abschrift liegt vor ihm. – Ein Kuss brannte auf seinem Munde, er erwachte wie aus einem tiefen Traume, Serpentina war verschwunden, es schlug sechs Uhr, da fiel es ihm schwer aufs Herz, dass er nicht das mindeste kopiert habe; er blickte voll Besorgnis, was der Archivarius wohl sagen werde, auf das Blatt und o Wunder; die Kopie des geheimnisvollen Manuskripts war glücklich beendigt, und er glaubte, schärfer die Züge betrachtend, Serpentinas Erzählung von ihrem Vater, dem Liebling des Geisterfürsten Phosphorus im Wunderlande Atlantis, abgeschrieben zu haben.48

Es ist daher nicht abwegig, die Szene wie Friedrich Kittler als einen rauschhaften Imaginationsakt zu verstehen, bei dem die ‚mechanische‘ Tätigkeit des Schreibens vergessen und die Schrift aus der inneren Sinnlichkeit einer Vorlesesituation heraus erzeugt wird.49 Dennoch geht Kittlers Deutungsweise fehl, indem sie den Bezug zur Urschrifttheorie der Frühromantik als Rausch jenseits der Materialität der Zeichen interpretiert. Das Schreiben ist hier nicht mechanisch, im Gegenteil: Serpentina

stehe, so stelle man sich jeden Gegenstand, welchen wir betrachten werden, so vor, als ob alles, was inwendig darinnen ist, so rein ausgenommen sey, daß nichts, als eine dünne Schale, übrig geblieben, welche sowohl in ihrer innern, als äußern Fläche, mit der Gestalt des Gegenstandes selbst genau übereinkommt. Laßt uns gleichfalls voraussetzen, diese dünne Schale bestehe aus sehr zarten Fäden, welche dicht nebeneinander sind, und wovon einer, wie der andere, in die Augen fällt. Man setze nun, daß sie das Auge von aussen, oder von innen betrachtet; so werden wir finden, daß die Begriffe von den zwey Flächen dieser Schalen natürlicher Weise auf einen hinauslaufen.“ Vgl. Bedenk, Jochen: Verwicklungen. William Hogarth und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts (Lessing, Herder, Schiller, Jean Paul). Würzburg 2004, S. 55 f.; vgl. Graevenitz, Gerhard von: Das Ornament des Blicks. Über die Grundlagen des neuzeitlichen Sehens, die Poetik der Arabeske und Goethes „West-östlichen Divan“. Stuttgart/Weimar 1994, S. 39 ff. 48 H GT, S. 306. 49 Kittler: Aufschreibesysteme, 37 ff.

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stellt als Verkörperung der Schreiblinie deren Präsenz als Einheit von Schrift und Bedeutung und Subjekt und Naturschrift dar, die mit einer „Schnelle und Leichtigkeit“ des Schreibakts eingeleitet wurde. Der Schluss der Szene zeigt noch einmal, dass Serpentina zugleich die Verkörperung der Einbildungskraft ist und wieder das bürgerliche Bewusstsein und seine Maßstäbe mit dem Schlag der Uhr als Begrenzung und Bedingung dieses poetischen Geschehens eintreten. Die These, dass in der Erscheinung Serpentinas ein rauschhafter Imaginationsakt vorliegt, kann unterstützt werden; dieser rauschhafte Akt geschieht jedoch nicht jenseits, sondern diesseits der Schrift.

2.1.2 Der Klecks als Manifest der Spaltung Anselmus’ Fall ins Kristall, der schon zu Beginn der Erzählung angekündigt wird, ereignet sich, nachdem ihm durch seine Ungeschicklichkeit ein Klecks auf ein Originalmanuskript des Archivars fällt. Der Klecks stellt dabei eine Defiguration der personifizierten Schreiblinie Serpentina dar und zeigt erneut den prozessual im Text erzeugten Wechsel zwischen Figuration oder Defiguration, mit dem das Verhältnis des Äußeren des Poetischen und seines Inneren verhandelt wird: Verschiedene weitere Szenarien, unter anderem das Erscheinen von drei Schlänglein in einem windbewegten Holunderbusch und eine für den Studenten fast tödliche Umschlingung durch eine Riesenschlange umrahmen die Schreib-Szenen im Text, die die Verhandlung über das Verhältnis von Subjekt, Einbildungskraft und Natur darstellen. Während Anselmus durch die konzentrierte Vereinigung von „Sinn und Gedanken“ am fremden Manuskript die Auferweckung Serpentinas als Manifestation seiner produktiven Vereinigung mit der Naturschrift gelang, wird nun seine Aufmerksamkeit weniger beansprucht und seine Wahrnehmung bleibt an der Oberfläche des Manuskripts. Aber er sah auf der Pergamentrolle so viele sonderbare krause Züge und Schnörkel durcheinander, die, ohne dem Auge einen einzigen Ruhepunkt zu geben, den Blick verwirrten, daß es ihm beinahe unmöglich schien, das alles genau nachzumalen. Ja, bei dem Überblick des Ganzen schien das Pergament nur ein bunt geaderter Marmor oder ein mit Moosen durchsprenkelter Stein. – Er wollte dessen unerachtet das Mögliche versuchen und tunkte getrost die Feder ein, aber die Tinte wollte durchaus nicht fließen, er spritzte die Feder ungeduldig aus, und – o Himmel! ein großer Klecks fiel auf das ausgebreitete Original.50

Der Klecks entsteht als Resultat von Anselmus’ Distanz zur Naturschrift; in ihm manifestiert sich die Spaltung zwischen Subjekt und Natur, die Einbildungskraft bleibt abwesend. Was ihm zuvor als Naturschrift lesbar wurde, ist nun ohne erkennbare tiefere organisatorische Ordnung. Die einzelnen, durcheinandergehenden Komponenten

50 H GT, S. 316.

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„[verwirren] den Blick“ und bilden weder etwas ab noch verweisen sie auf etwas. Dieses steinähnliche ‚Manuskript‘ erscheint Anselmus also als ein bloßes Ding. Anselmus beweist damit seine Zuneigung zur philiströsen Beamtenwelt und der Konrektorentochter Veronika. Der dann entstehende Klecks ist somit also zunächst Manifest der Negativität: Er ist Ausdruck und zugleich Bild der Oberflächlichkeit, des Mangels an einer Verbindung des Gefühls zwischen Mensch und Natur, zwischen Mensch und Schrift. Was der Mensch liest, was er schreibt, ist bedeutungslos und marginal vor dem Hintergrund einer Naturschrift, in der sinnliche Präsenz und Bedeutung auf essentielle Weise zueinanderkommen und die unendliche Einheit von Mensch und Welt zeigen. Zurecht hat Günter Oesterle hier auf die Philistersatire Brentanos Der Philister vor, in und nach der Geschichte hingewiesen, in der dieser den Philister selbst als Fleck bezeichnet.51 Bei Brentano wird auf das Zyklische der Geschichte als ewiger Ordnung hinwiesen, die der Philister nicht erkenne.52 Ihm wird die Sprache der Natur nicht verständlich, er kann kein Poet sein. Doch Oesterle übersieht den Kontext dieser Bemerkungen bei Brentano und die poetologische Einbettung dieser Satire, die zugleich eine Satire auf die romantischen Philosophen ist, deren ständige Selbstbespiegelung und gedankliche Wiederholung im Streben zum Transzendenten dabei selbst philiströs wird (siehe hierzu die Arabeske der „unendlichen Entlichkeit“ im Anhang zu Brentanos Text, Teil I, Kap. 3.2.3). Auch bei Hoffmann tritt das Philiströse als entlarvende End/tlichkeit des romantischen Unendlichen im Fleck zutage. Es ist dabei gerade Manifest einer Selbstbespiegelung, die Hoffmanns Erzählung durch die ständige Abhängigkeit und gegenseitige Gebrochenheit von bürgerlicher Beamtenwelt und poetischer Welt durchführt. Anselmus’ Lustlosigkeit, mit der er sich den „krause[n] Zeichen“ zuwendet, spiegelt damit auch die Vermutung des Zeichenhaften in dem, was ja zunächst einmal eben keine Schrift, sondern noch eher ein „durchsprenkelter Stein“ ist, als abstrus wider. Doch der Fleck ist in der Erzählung als negatives Manifest eines Bruchs, der durch die erzählte Welt geht und sie in die sich gegenseitig spiegelnden Sphären von Alltagswirklichkeit und Poesie teilt, schon zu Beginn eingeführt worden. Am Anfang der Erzählung bekundet er unter der Überschrift „Die Unglücksfälle des Studenten Anselmus“ gerade dessen Schwierigkeiten mit der bürgerlichen Welt und schließt ihn aus dieser aus. Ziehe ich wohl je einen neuen Rock an, ohne gleich das erste Mal einen Talgfleck hineinzubringen oder mir an einem übel eingeschlagenen Nagel ein verwünschtes Loch hineinzureißen? […] Was

51 Vgl. Oesterle: „Arabeske, Schrift und Poesie“, S. 105 f. 52 Brentano, Clemens: „Der Philister vor, in und nach der Geschichte“ (1811), in: Ders.: Werke. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Friedhelm Kemp. Darmstadt 1963, S. 959–1018, hier S. 982 f.: „Alles, was auf Erden in unsre Sinne fällt, ist nur dasselbe, aber in irgendeiner solchen Modifikation der ewigen Transsubstantiation alles Gottes-Ausflusses, und nur die Philister können nie begreifen, dass z. B., irgendetwas, was sie Aberglauben nennen, nur eine Modifikation seiner eignen Geschichte sei und irgend früher oder später als ein Poetisches, Naturhistorisches, Religiöses wieder auftreten müsse […].“

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half es, daß ich eine halbe Stunde vorher ausging und mich vor die Tür hinstellte, den Drücker in der Hand, denn sowie ich mit dem Glockenschlage aufdrücken wollte, goß mir der Satan ein Waschbecken über den Kopf […].53

Egal wie klein im Moment des Unglücks die Wahrscheinlichkeit ist, in dieses hineinzugeraten – der Student Anselmus läuft geradewegs hinein: [E]r trieb es wie in lustigem Übermute so weit, daß er bei dem Heraussteigen aus der Gondel seiner Schutzrednerin Veronika die hilfreiche Hand bot und ohne weiteres, als sie den Arm in den seinigen hing, sie mit so viel Geschicklichkeit und so vielem Glück zu Hause führte, daß er nur eine einziges Mal ausglitt, und da es gerade der einzige schmutzige Fleck auf dem ganzen Wege war, Veronikas weißes Kleid nur ganz wenig beschmutzte.54

So gewohnt ist der Student an sein ständiges Unglück, dass er es als Glück ansieht, das Kleid seiner Begleiterin nur ein wenig zu beschmutzen, als er auf dem Steg gerade in die einzige Pfütze tritt. Tief ironisch macht der Erzähler auf Anselmus’ Pech aufmerksam. Er kann dem Fleck, dem Riss, dem Makel auf der im wortwörtlichen Sinne ‚reinen Weste‘ nicht entgehen. Je mehr er einer Ordnung nachstrebt, die das bürgerliche Leben repräsentiert, desto ärger gerät er selbst und stürzt er mit ihm seine Umwelt in Unordnung: [M]it Mühe befestigt der Friseur einen kleinen Zopf an meinem Hinterhaupt, aber bei der ersten Verbeugung springt die unglückselige Schnur, und ein munterer Mops, der mich umschnüffelt, apportiert im Jubel das Zöpfchen dem Geheimen Rate. Ich springe erschrocken nach und stürze über den Tisch, […] so daß Tassen, Teller, Tintenfaß – Sandbüchse klirrend herabstürzen und der Strom von Schokolade und Tinte sich über die eben geschriebene Relation ergießt.55

Auch die Ordnung der Schrift fällt Anselmus’ Tölpelhaftigkeit zum Opfer. Der „Strom von Schokolade und Tinte“, die als schwarze Masse die Schrift unlesbar machen, lässt den (Tinten-)Fleck als zentrales Motiv der Erzählung aufscheinen. Das Dunkle als Bild der Unlesbarkeit deutet bereits voraus auf die kommenden Ereignisse, die allesamt um dieses Motiv kreisen. Die klare Ordnung der bürgerlichen Akten- und Amtsgesellschaft und ihrer „geschriebenen Relationen“ wird durch Anselmus zum negativen Chaos, und derart eingetrübt, dass auch der würdige Beamte mit wildem Gebrüll aus der Haut fährt: ‚Herr, sind Sie des Teufels!‘ brüllt der erzürnte Geheime Rat und schiebt mich zur Tür hinaus.56

Anselmus lässt die durch gemessene Ruhe und Sauberkeit bestimmte und durch die Ordnung von Paragraphen abgezirkelte bürgerliche Erfahrungswelt durch den

53 H GT, S. 231. 54 Ebd., S. 240. 55 Ebd., S. 232. 56 Ebd., S. 232.

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Einbruch seiner „Unglücksfälle“ sinnlich werden: Der Stoff des Rocks verschafft sich, befleckt vom Talg, selbst Aufmerksamkeit, das schmutzige Waschwasser trifft schockartig den Kopf, der in seiner triefenden Nässe, gleichfalls Aufmerksamkeit heischend, verborgen werden muss. Ebenso skandalös ist der dunkle Strom von Schokolade und Tinte, den wir uns als eine üppige schwarzbraune Masse vorstellen können, die, nicht mehr genießbar, aber dabei den Geruch einer Mischung aus Kakao und Essig verbreitend, über die nüchterne Beamtenschrift fließt. Auch der Geheime Rat wird mit seinem Gebrüll in diesem Fluss mitgerissen. Als Brüche einer Ordnung, die eine (im romantischen Sinne negativ besetzte) buchstäbliche Art der Lesbarkeit verspricht, lösen Anselmus’ Flecken ein Chaos von scheinbar explosiver Kraft aus. Damit sind die Flecken Ausdruck und Manifest einer Distanz, indem sich Anselmus nicht in diese fügen kann und ihre Ordnung durch deren Bruch als beschränkend und kleinlich spiegelt. Die einbrechende Sinnlichkeit der starken Eindrücke und ungehemmten Reaktionen, die diese Fälle auslösen, zeigen damit Regungen und Erfahrungsdimensionen dessen, was aus dieser bürgerlichen Welt der Etikette, der Paragraphen und Titel künstlich ausgeschlossen wird, um ihre Ordnung zu erschaffen. So sind die Flecken und Kleckse von Anselmus auch hier Ausdruck eines sich drängend Einlass verschaffenden Anderen, das das Innere, es durchteilend, zum Außen werden lässt. Anselmus’ Ungeschicklichkeit weist damit auf etwas jenseits und zugleich immer in der bürgerlichen Alltagsrealität Liegendes hin. Anselmus’ Fall in den Korb Äpfel deutete das bereits an; der Hinweis, Anselmus wäre unmittelbar vor dem Sturz in die Äpfel durchs „Schwarze Tor“ getreten, erscheint dabei bereits als Vorausdeutung auf den schwarzen Klecks, der ihm später aufs Pergament fällt. So spiegeln sich die verschiedenen Fälle der Kleckse und Befleckungen gegenseitig und zeigen die Gegensätzlichkeit und Abhängigkeit von Alltagswirklichkeit der Beamtenwelt und Fantastik des Poetischen, die sich bei ihrer gegenseitigen Spiegelung durchteilen und zugleich nicht voneinander zu trennen sind.

2.1.3 Der Klecks als Materie des Poetischen Die gegenseitige Brechung der beiden Welten, die jeweils Begrenztheit des Bewusstseins und Unendlichkeit des Poetischen repräsentieren, ist in der textuellen Sukzession zugleich als Zyklus dargestellt. Dieser erfolgt unter der Prämisse des immer schon geschehenen Sündenfalls – als Einführung einer Spaltung zwischen Subjekt und Welt, der Ermöglichung des Bewusstseins und damit zugleich des Poetischen als auf die Rückgewinnung der verlorenen Einheit gerichtete Sehnsucht. Der Schein des Unendlichen wird dabei immer wieder auf das Endliche zurückgeholt und in diesem wiederum selbst erneut der Schein des Unendlichen eröffnet. So ist auch die Negativität des Kleckses als Spaltung der einen der Übertritt in die andere Welt und damit nicht nur Ende, sondern auch Anfang. Vom Manifest der philiströsen Beschränktheit wird der Klecks zum Auslöser eines fulminanten Prozesses chemischer Reaktionen und Verwandlungen:

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Zischend und brausend fuhr ein blauer Blitz aus dem Fleck und schlängelte sich krachend durch das Zimmer bis zur Decke hinauf. Da quoll ein dicker Dampf aus den Wänden, die Blätter fingen an zu rauschen wie vom Sturme geschüttelt, und aus ihnen schossen blinkende Basilisken im flackernden Feuer herab, den Dampf entzündend, dass die Flammenmassen prasselnd sich um den Anselmus wälzten. Die goldnen Stämme der Palmbäume wurden zu Riesenschlangen die ihre gräßlichen Häupter in schneidendem Metallklange zusammenstießen und mit den geschuppten Leibern den Anselmus umwanden. „Wahnsinniger! erleide nun die Strafe dafür, was du im frechen Frevel tatest!“ – So rief die fürchterliche Stimme des gekrönten Salamanders, der über den Schlangen wie ein blendender Strahl in den Flammen erschien, und nun sprühten ihre aufgesperrten Rachen Feuerkatarakte auf den Anselmus und es war, als verdichteten sich die Feuerströme um seinen Körper und würden zur festen eiskalten Masse. Aber indem des Anselmus Glieder, enger und enger sich zusammenziehend, erstarrten, vergingen ihm die Gedanken.57

Das Palmenzimmer wandelt sich zum Inneren eines Schmelztiegels, in dem metallene Schlangen im Feuer geschmolzen und schließlich wieder zur festen, erkalteten Masse werden. Anselmus wird in das geschmolzene Metall geschlossen und befindet sich damit im Zentrum des in dieser Umformung entstehenden Produkts. Die Verwandlung als Prozess einer Metallschmelze macht zahlreiche symbolische Anleihen bei der Alchemie, die an dieser Stelle im Text nicht neu sind.58 Etwa ist die Zahlsymbolik der Erzählung aus diesem Kontext entnommen: Die Drei, in der Alchemie als Chiffre für „Hermes Trismegistos“ (den „Dreimal größten Hermes“, der als mythische Figur schon seit dem hellenistischen Alexandrien den Urvater der Alchmisten darstellt),59 findet sich als zentrale Zahl in der Erzählung etwa in den drei Töchtern Lindhorsts, die als Schlänglein im Holunderbusch erscheinen.60 Von Beginn an werden mit der Tiersymbolik von Salamander, Drache und Schlange – die den „experimentierende[n] Chemiker“61 und Archivar Lindhorst, seine Töchter und deren Vorfahren repräsentieren – zentrale Symbole alchemistischer Transmutation zitiert. In einer Erzählung Lindhorsts über seine Herkunft, die später seine Tochter Serpentina fortsetzt und die zugleich Anselmus niederschreibt, wird von der Vereinigung des Jünglings Phosphorus mit der Lilie berichtet, die dabei in Flammen aufgeht, wobei ein fliegendes Wesen entsteht. Diesem folgt wiederum die Geburt eines schwarz geflügelten Drachen aus dem Felsen. Mit dem Salamander, der schließlich in Serpentinas Geschichte auftritt und Lindhorst selbst in anderer Gestalt ist, dem Drachen sowie mit dem Jüngling und

57 Ebd., S. 316. 58 Siehe hierzu das Kapitel „Die Reflexe des Goldnen Topfes: Alchemistische Metamorphosen“ in der zu dieser Thematik einschlägigen und meinem Eindruck nach auch einzigen ausführlichen Arbeit von Kremer, Detlef: Romantische Metamorphosen. E. T. A. Hoffmanns Erzählungen. Stuttgart/Weimar 1993, S. 111–128. 59 Vgl. Brafman, David/Knol, Rhiannon: „‚Mache von Mann und Weib einen Circkel… und du wirst haben den Stein der Weisen‘“, in: Alchemie. Die Große Kunst. Für die Staatl. Museen zu Berlin hg. v. Jörg Vollnagel u. David Brafman. Berlin 2017, Karte 2. 60 Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 120. 61 H GT, S. 250.

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späteren Geisterfürsten Phosphorus weist Hoffmann auf das Element Feuer, das wiederum Teil der Grundoperation der Alchemie ist.62 Dies konstituiert auch die Farbsymbolik Weiß – Gelb – Rot, die wiederholt im Text mit dem Archivarius assoziiert wird.63 Lindhorsts Erzählung über die Vereinigung des Jünglings Phosphorus mit der Lilie und den hieraus entstehenden Wesen kann als symbolische Vereinigung von Stoffen zu einer Urmaterie angesehen werden,64 die wiederum eine neue Genese ermöglicht. Im Kontext der alchemistischen Symbolik für die Transmutationslehre wird diese Vereinigung und Neugenese von Stoffen als ein ewiger Kreislauf von Entstehen und Vergehen vorgestellt, der Einheit aller Materie, der im Ouroboros symbolisiert ist: einer sich selbst in den Schwanz beißenden Schlange.65 In diesem Kontext steht die Vorstellung einer Urmaterie, der materia prima, die die Einheit von Mikro- und Makrokosmos repräsentiert.66 Aus ihr heraus entstehen nach diesen alchemistischen Vorstellungen alle Stoffe und Wesen, alle irdischen Erscheinungen. Die alchemistische Theorie der Destillierung erzielt dabei, durch tatsächliche Transmutationsprozesse aus einem Ursubstrat heraus Metalle herzustellen. Dieses Ursubstrat soll durch ebensolche Transmutationsprozesse geschaffen werden und als Schöpfungsgrund für die Sublimation der Stoffe dienen. Die Vorstellung der Urmaterie ging aus dem aristotelischen Hylemorphismus hervor, wobei sie dem physischen Werden zugeordnet war.67 In der Alchemie wird die materia prima stofflich und gewöhnlich als schwarze Masse vorgestellt, aus der schließlich Neues – der in Gold oder Silber transmutierte Stoff – hervorgehen kann.68 Die Farbe Schwarz ist in Hoffmanns Erzählung Detlef Kremers Meinung nach vor allem dem „Äpfelweib“ zugeordnet,69 die an späterer Stelle im Text in einen schwarzen Mantel gehüllt ist.70 Jedoch ist nicht allein das „Äpfelweib“, das als Hexe ebenfalls alchemistische Künste anwendet, indem sie etwa Metalle zu einem Zauberspiegel zusammenschmiedet, sondern auch Lindhorst mit dem Schwarzen eng verknüpft: Etwa fliegt der schwarzgeflügelte Drache in seiner Erzählung aus einem schwarzen Hügel empor.71 Zudem stellt vor allem die schwarze

62 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 1. 9., völlig neu bearb. Aufl. Mannheim 1971, S. 647: „Die hochzeitliche Vereinigung (Sublimation) von Quecksilber (Wasser, Silber, Mond, Frau, Königin, Seele) und Schwefel (Feuer, Gold, Sonne, Mann, König, Geist) zum Zinnober bildet die grundlegende Operation der Alchemie.“ 63 Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 120. 64 Vgl. ebd., S. 115 f. 65 Vgl. Brafman, David/Knol, Rhiannon: „The Ripley-Scroll“, in: Alchemie. Die Große Kunst. Für die Staatl. Museen zu Berlin hg. v. Jörg Vollnagel u. David Brafman. Berlin 2017, Karte 96. 66 Vgl. Figala, Karin: „Materia prima“, in: Priesner, Claus/Figala, Karin (Hg.): Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. München 1998, S. 237–240. 67 Happ, Heinz: Hyle. Studien zum aristotelischen Materie-Begriff. Berlin u. a. 1971, S. 696 ff. 68 Vgl. Figala: „Materia prima“. 69 Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 120. 70 „Sie warf den schwarzen Mantel ab und stand da in ekelhafter Nacktheit […].“ (H GT, S. 321.). 71 Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 116.

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Masse seiner Tinte, die die Tusche des Anselmus in ihrer Konsistenz und Geruchsintensität so übertrifft, einen deutlichen Verweis auf die Urmaterie dar. Dass dabei gerade die Tinte eine materia prima darstellt, mit der die Metamorphose der arbiträren Schrift im Schreibakt zum Schreiben einer Ur- und Naturschrift ermöglicht und eingeleitet wird, ist bisher in der Forschung noch nicht bemerkt worden. Damit wird in ähnlicher Weise wie beim vorigen „magischen“ Schreibakt, bei dem Serpentina erschien, eine Verwandlung des ‚profanen‘ Schreibens zu einem ursprünglichen Schreiben als Akt der Poiesis vollzogen: Aus der materiellen schwarzen Masse des Kleckses heraus, dem Chaos einer materia prima, entsteht eine Metamorphose, in der mit explosiver Kraft Anselmus als Homunkulus ins Metall bzw. Kristall geschlossen wird. Die Tinte ist hierbei Medium und zugleich Ursprung eines selbsttätigen Entstehens, das Anselmus als sein machtloses Objekt mit sich reißt. Ähnlich wie in einer vorigen Szene, in der Anselmus durch eine Riesenschlange gewürgt wurde, wird der Student auch an dieser Stelle durch das über die Defiguration in die Wirklichkeit Einbrechende (durch den Klecks als Defiguration der Schreiblinie und der verschlungenen Figuren) überwältigt. Versteht man diese Vorgänge wiederum im Zusammenhang mit einer Auseinandersetzung über das Verhältnis von schreibendem Subjekt und Einbildungskraft, so kann man hierin eine das Subjekt nivellierende Gewalt erkennen. In dieser entsteht das über die Einbildungskraft bzw. Fantasie hervortretende Poetische als Verbindung von Subjekt und Natur wie von selbst: In den durch den Klecks entzündeten Vorgängen manifestiert sich die Fantasie als entfesselte Kraft. Ihre Ausgeburten sind grotesk und monströs geworden,72 Motive einer zum Grauenerregenden fähigen, von jeder Verstandeskontrolle befreiten Selbsttätigkeit. Bei Hoffmann setzt sich in diesen Motiven ganz offensiv etwas fort, das in der Frühromantik noch ambivalent bewertet wurde. Das Reizvolle, das bei einer ständig neuen Suche nach dem Interessanten auch bis zum Ekelhaften führen konnte, wurde akzeptiert, aber nicht geschätzt. Friedrich Schlegel erkennt in seinem Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie diese Tendenz der zeitgenössischen Literatur an, sucht jedoch weiterhin nach einer „besseren Kunst“73 (siehe Teil I, Kap. 3.3). Hoffmann spiegelt mit seinen so deutlich an die Frühromantik angelehnten Darstellungen von Prozessen der Einbildungskraft diese Auseinandersetzung – und macht gerade die Tinte als stoffliches Medium des Schreibakts in der chaotischen Materialität des Kleckses zum Auslöser der Poiesis. Damit erhalten die Materialität, die Instrumentalität und die Körperlichkeit des Schreibakts einen ästhetischen Status, der in der frühromantischen ambivalenten Reflexion über die Schrift angelegt, jedoch nicht expliziert oder offensiv verfolgt wurde. An einer weiteren Stelle im Text wird dieser Umgang Hoffmanns mit der Ästhetik seiner romantischen Vorgänger deutlich:

72 Vgl. Howe: Monstrosität, S. 4. 73 Schlegel, F.: „Über das Studium der griechischen Poesie“, S. 188.

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Sowie er schärfer hinschaute, entwickelten sich immer mehr die garstigen Züge eines alten verschrumpften Weibergesichts, und bald stand das Äpfelweib vom Schwarzen Tor vor dem Repositorium […] Sie warf den schwarzen Mantel ab und stand da in ekelhafter Nacktheit, dann fuhr sie in Kreisen umher, und große Folianten stürzten herab, aus denen riß sie Pergamentblätter, und diese im künstlichen Gefüge schnell zusammenheftend und auf den Leib ziehend, war sie bald wie in einen seltsamen bunten Schuppenharnisch gekleidet. Feuersprühend sprang der schwarze Kater aus dem Tintenfasse, das auf dem Schreibtische stand, und heulte der Alten entgegen, die laut aufjubelte und mit ihm durch die Tür verschwand.74

Die Fragmentästhetik der Frühromantiker kehrt in einer ‚materialisierten‘ Form wieder: Die pergamentenen Fetzen, die die neue Haut des vergehenden Körpers bilden, sind ein „bunter Schuppenharnisch“ von Textfragmenten, die inkohärent zu einer neuen Form gefügt werden. Dieses „bunte Allerlei“ wird nicht, wie in Friedrich Schlegels Begriff der Arabeske, durch eine tiefe Bedeutsamkeit in seiner geistigen Dimension überhöht, sondern ganz explizit als Stoff aus Pergamentfetzen und Medium der kutanen Erneuerung materiell und zugleich körperlich besetzt. Die Materialität des Textes und seine Körpernähe fungieren nicht als polemische Ausdrücke gegen die Reizfixiertheit populärer Literatur, sondern sind an dieser Stelle Motive einer chaotischen und zugleich stofflichen Formung der Poesie. Die Widersprüche in dieser prozessual im Erzählverlauf und über gegenübergestellte Motive inszenierten Poiesis werden nicht aufgelöst (und kommen auch nach Anselmus’ schlussendlicher Neugeburt als Wesen von poetischer Existenz nicht zur Ruhe; es folgt eine ironische Selbstreflexion des Autors, der es bedauert, nicht selbst im poetischen Reich zu leben). Diese Widersprüche stehen im Zeichen einer Reflexion der Materialität des Schreibens und ihres Bezugs zum Körper im Prozess des poetischen Schaffens, das sowohl durch diese begrenzt als auch begründet wird. Mit der Umwertung der Negativität des Kleckses als Manifest einer Spaltung von schreibendem Subjekt, Naturzeichen und Bedeutung zum positiven schöpferischen Ursprung wird das Motiv hier wiederum an den in der Erzählung implizierten Zyklus von Entstehung und Vergehen rückgebunden. Die Negativität der Spaltung und ständigen gegenseitigen Spiegelung eines Äußeren und Inneren der Poesie wird zum Beginn einer Vereinigung des Getrennten. Damit sind die Symbolik des Sündenfalls, eine christliche Schöpfungssymbolik und eine alchemistische Symbolik miteinander verknüpft.75 Der Zyklus von Entstehen und Vergehen, der zunächst mit dem Sündenfall verbunden ist, kann ebenso im Kontext der alchemistischen Schlangensymbolik als Ouroboros verstanden werden, wie hier nicht zuletzt durch die stoffliche Manifestation der materia prima im Klecks nahegelegt wird.

74 H GT, S. 320. 75 Vgl. Kremer: Romantische Metamorphosen, S. 116.

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2.1.4 Vorgänger: Schwarze Buchseiten (Robert Fludd, Laurence Sterne) Die Vorstellung eines schwarzen Chaos bzw. Ungeformten, aus dem heraus der Kosmos geschöpft wird, findet sich bereits im ersten Band von Robert Fludds im Jahr 1617 erschienener Utriusque cosmi maioris scilicet et minoris Metaphysica, physica atque technica Historia (Metaphysik und Natur- und Kunstgeschichte beider Welten, nämlich des Makro- und des Mikrokosmos)76 als visuelle Darstellung. Fludds Metaphysica stellt einen der in dieser Zeit häufigen Kommentare zur Genesis dar und bezieht sich stark auf alchemistische Symboliken und Begriffe.77 Die Dunkelheit, die der Schöpfung der Welt vorangeht, bildet in ihrer visuellen Darstellung ein schwarzes Viereck, an dessen Seiten der Satz „Et sic in infinitum“ zu lesen ist (Abb. 3).

Abb. 3: Die unendliche Dunkelheit, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. Faksimile-Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm SchmidtBiggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 58 [S. 26].

76 Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Maioris scilicet et Minoris Metaphysica, Physica Atque Technica Historia: In duo Volumina secundum Cosmi differentiam divisa/Authore Roberto Flud alias de Fluctibus, Armigero, & in Medicina Doctore Oxoniensi. Bd. 1. Oppenheim 1617. 77 Westman, Robert S.: „Nature, art and psyche: Jung, Pauli, and the Kepler-Fludd polemic“, in: Vickers, Brian (Hg.): Occult and scientific mentalities in the Renaissance. Cambridge u. a. 1984, S. 177– 230; hier S. 191; Emerton, Norma E.: „Creation in the Thought of J. B. van Helmont and Robert Fludd“, in: Rattanzi, Piyo/Clericuzio, Antonio (Hg.): Alchemy and Chemistry in the 16th and 17th Centuries. Dordrecht u. a. 1994, S. 85–102, hier S. 88.

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Die Schwärze im Viereck repräsentiert die Dunkelheit, die dem Sein vorangeht, und als unendlich vorgestellt wird. Diese Unendlichkeit kann bildlich nicht dargestellt werden, da die Buchseite begrenzt ist. Was auf der Buchseite erscheint, ist durch deren Rahmen bereits geformt. Metonymisch zeigt die Buchseite als Visualisierung der Entstehung des Seins innerhalb des Seins, dass alles in diesem Sein Form hat. Nur das Nichts hat demnach keine Form. Die vierseitige Beschriftung muss damit auf die Überschreitung der Formgrenzen, die bildlich gerade nicht darstellbar ist, hinweisen. Dennoch sind die bildliche Darstellung der ursprünglichen Dunkelheit und der angefügte Hinweis auf ihre Unendlichkeit im Sinne der bildlichen Epistemologie Fludds nicht als Eingeständnis ihrer Vergeblichkeit zu betrachten. Bildliche Darstellung hat bei Fludd einen ontologischen Status; sie ist selbst als eine Art des Wissens, des Beweises und des Gedächtnisses zu begreifen.78 Fludds Visualisierung folgt der Annahme, dass der Mensch durch bildliche Darstellung die Philosophie der Natur und der Schöpfung verstehe.79 Dennoch formgebend, repräsentiert Fludds Darstellung das schlechthin Formlose, das zugleich in sich jedoch das schöpferische Vermögen birgt („a matter that was in potentia ad actum“).80 Bei Fludd zeigt sich „der Prozess der Schöpfung als göttliche Emanation in der metrischen Ausdehnung des Lichts.“81 Diese Erleuchtung wird in den Strukturen des Bildes bereits angezeigt. Fludds schwarzes Viereck ist durch weiße Linien durchbrochen, die sich immer wieder überkreuzen. Es entsteht der Eindruck, dass durch das Schwarz bereits das Licht hindurchscheint und die Vereinigung von Hell und Dunkel, die die Einheit von Gottes Schöpfung bildet, bereits ankündigt.82 Die Linien, die die schwarze Fläche durchziehen, bilden durch den Auftrag mehrerer, nicht durchgehend deckender, sondern auch transparenter Farbschichten eine gezielt simulierte Struktur. Kein Exemplar des schwarzen Vierecks in Fludds Metaphysica konnte durch diese kontingente Struktur dabei vollkommen einem anderen gleichen.83 Die Linien, die im Schwarz des Vierecks deutlich werden, bilden einander durchbrechende Kreise und Spiralen, in denen „die Möglichkeit der Bewegung zur Andeutung von Licht“ liegt.84

78 Westman: „Nature, art and psyche“, S. 181. 79 Ebd., S. 185. 80 Ebd., S. 195. Westman zitiert aus Fludd, Robert: Mosaicall Philosophy: Grounded upon the Essential Truth, or Eternal Sapience. London 1659, S. 45. 81 Bogdanov, Konstantin: Iz istorii kljaks: Filologičeskie nabljudenija. Moskva 2012, S.  130: „У Фладда процесс творения иллюстрируется как божественная эманация в метрической размерности света: это некое освещение, придающее бесформенности различимость, видимость и структурность.“ 82 Westman: „Nature, art and psyche“, S. 194. 83 Bredekamp, Horst: „Beuys als Mitstreiter der Form“, in: Müller, Ulrich (Hg.): Joseph Beuys Parallel­ prozesse. Archäologie einer künstlerischen Praxis. München 2012, S. 22–41; hier S. 28. 84 Ebd., S. 29.

100 

 Tintenpoetik

Die dieser Darstellung der ursprünglichen dunklen Unendlichkeit folgenden Abbildungen in Fludds Metaphysica zeigen im Anschluss zunächst die Vereinigung von Licht und Dunkel, aus dem heraus dann wiederum die Trias von Licht, Dunkel und Geist in die Emergenz und den Kampf der vier Elemente führt (Abb. 4–6). Fludds Darstellungen der Genesis, deren Anfang die Lichtwerdung setzt, sind dabei selbst als ein Akt der Schöpfung zu betrachten, in dem das Dunkle, das Unbegreifliche einer Entstehung der Materie aus dem formlosen Nichts (das durch die theologische Diskussion um die creatio ex nihilo thematisiert wird)85 darstellbar und fasslich wird.86

Abb. 4: „Hic forma lucida in hylae abyssi“, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. Faksimile-­ Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 61 [S. 29].

85 Westman: „Nature, art and psyche“, S. 195. 86 Ebd., S. 180; S. 194 ff.

Der Klecks als materia prima im Goldenen Topf 

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Abb. 5: „Quod universa coelorum tam spiritualis, quam corporalium substantia fit aut elementum aut ex elementis compositum“, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. Faksimile-Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm SchmidtBiggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 69 [S. 37].

Abb. 6: „Chaos seu materia confusa & indigesta moles, in qua omnia, puta, quatuor elementa erant confusa et commixta“, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. Faksimile-Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 73 [S. 41].

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 Tintenpoetik

Fludds schwarzes Viereck fand schon lange vor Hoffmanns Tintenklecks-Motiv in Laurence Sternes Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman (1759–67) ein literarisches Erbe. Tristram unterbricht sich in der Erzählung von seiner Geburt, die er zuvor bereits für die Erzählung über die Hebamme unterbrochen hatte, um vom Pfarrer Yorick zu berichten, dessen Pferd die Hebamme benötigte, um zum Shandy’schen Haus zu gelangen. Tristram gelangt dann in seiner Schilderung relativ zügig zum Ableben des Pfarrers, dessen Grabspruch „Alas, poor Yorick“ er typographisch abgesetzt und mit einem Rahmen versehen in seinen Text aufnimmt. Darauf folgt unkommentiert die berühmte schwarze Seite (Abb. 7). Daraufhin wird die Erzählung von Tristrams Geburt wieder aufgenommen. Diese findet freilich dennoch nicht ihre lineare Fortsetzung, sondern schlingert gemäß der im Text selbst explizierten Poetik des Mäanderns weiter. Das undurchdringliche, unlesbare Schwarz der Tinte repräsentiert den Tod und doch zugleich den Neuanfang, das Potential des neuen Entsthens: die (im Erzählverlauf) baldige Geburt Tristrams.87

Abb. 7: Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Vol. 1. Fourth Ed. London 1760, S. 73. (Generated on 2020-03-12 11:04 GMT/https://hdl.handle.net/2027.gri. ark:13960/t92873p3z Public Domain/https://www.hathitrust.org/access_use#pd.https://babel. hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/t92873p3z&view=1up&seq=87, zuletzt abgerufen am 09.04.2020.)

87 Vgl. Bogdanov: Iz istorii kljaks, S. 131.

Der Klecks als materia prima im Goldenen Topf 

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An späterer Stelle im Text setzt Sterne die schwarze mit einer bunt-marmorierten Seite in einen Zusammenhang (Abb. 8). Wieder ist die bildliche Darstellung ein Mittel zur Selbstthematisierung des Textes, dessen erschwerte Lesbarkeit zugleich visualisiert und dabei problematisiert wird: Read, read, read, my unlearned reader! read, – or by the knowledge of the great saint Paraleipomenon – I tell you before-hand, you had better throw down the book at once; for without much reading, by which your reverence knows, I mean much knowledge, you will no more be able to penetrate the moral of the next marbled page (motly emblem of my work!) than the world with all its sagacity has been able to unraval the many opinions, transactions and truths which still lie mystically hid under the dark veil of the black one.88

Abb. 8: Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Vol. 3. Fourth Edition. Printed for J. Dodsley. London 1761, S. 169. (Generated on 2020-03-13 12:51 GMT/https:// hdl.handle.net/2027.gri.ark:/13960/t18m4324b Public Domain/https://www.hathitrust.org/access_ use#pd.https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/t18m4324b&view=1up&seq=173, zuletzt abgerufen am 09.04.2020.)

88 Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Ed. with an Intr. and Notes by Ian Campbell Ross. Oxford 2009, S. 180.

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 Tintenpoetik

Der Aufforderung zum Lesen, die gemäß einem Diskurs über nützliche Lektüre vor allem auf die Verinnerlichung einer Lehre zielt, und dem Hinweis auf die entsprechende notwendige Bildung, die einer Charakterbildung des Lesers gleichkommt, folgt der ironische Hinweis auf die marmorierte Seite. Deren Lehre könne also nur mithilfe jener nützlichen und moralischen Lektüre verstanden werden.89 Andernfalls würde man dem Buch gegenüber ebenso im Dunkeln tappen wie den vielen verschiedenen Lehren und Wahrheiten der Welt gegenüber, die gleichsam verworren unter einem schwarzen Schleier verborgen seien. Über den vor allem gegenüber der Politik des Lesens kritischen Impetus dieser Stelle hinaus ist die Thematisierung der marmorierten und schwarzen Seite von (material-)ästhetischer Wichtigkeit. Die Ironie von Tristrams Aufforderung, mithilfe eines bestimmten Wissens wiederum die Moral der Marmorseite zu extrahieren, besteht ja gerade in der Undurchdringlichkeit der marmorierten Struktur für einen verstehenden Geist. Die marmorierte Seite scheint nur auf ihre eigene Dinglichkeit zu verweisen. Sie kann nicht als Symbol im Sinne eines sprachlichen Zeichens verstanden werden, da ihre Strukturen nicht wiederholbar sind. Wie Fludds schwarzes, mit Linien durchzogenes Viereck ist Sternes Marmorseite nicht reproduzierbar – in jedem der 4000 Exemplare der ersten Ausgabe des dritten Bandes ist dementsprechend ein Unikat der Marmorseite eingefügt.90 Die Individualität der Marmorseite, die durch natürliche Kräfte der farbigen Mischung entsteht, deutet dabei (als „motly emblem“, dt. „scheckiges Emblem“) auf das Prinzip des Romans Tristram Shandy. Dieser stellt sich selbst vielmehr in seiner Struktur aus, als dass er linear lesbar und verstehbar wäre. Das Verfahren der Bezeichnung selbst wird exponiert. Gerade darauf scheint Shandy hinauszuwollen, als er den Leser so ironisch auffordert, zu lesen: Er fordert ein metatextuelles Lesen.91 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch der Hinweis auf den „great saint Paraleipomenon“, wodurch auf die Versuchsanordnung des Textes, seine Unvollendetheit, sein Werden verwiesen wird. Der Text ist ein buntgeschecktes Allerlei aus Vorformen, Nachträgen, Zusätzen und Fragmenten. In diesem Sinne deutet die Struktur des Romans und ihre Selbstthematisierung bereits auf arabeske Schreibweisen und macht verständlich, warum Friedrich Schlegel den Autor Sterne in den Kontext seines Begriffs der Arabeske stellte. Und doch ist auch die Materialität der marmornen Seite selbst von Wichtigkeit, deren Unlesbarkeit mit der schwarzen Seite parallelisiert wird. Ihre kontingent entstandene Struktur, die Dinglichkeit und Unlesbarkeit anzeigt, verweist doch zugleich auf ein ihr zugrundeliegendes Prinzip, das sich

89 Vgl. zur Diskursgeschichte des „nützlichen“ Lesens Assmann, Aleida: „Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik. Nr. 1 (1985), S. 95–110. 90 Vgl. Day, W. G.: „Tristram Shandy: The marbled leaf“, in: The Library. Nr. 27 (1972), S. 143–45; Patterson, Diana: „Tristram’s Marblings and Marblers“, in: The Shandean. Nr. 3 (1991), S.  70–97; hier S. 70. 91 Vgl. White, Glyn: Reading the Graphic Surface. The Presence of the Book in Prose Fiction. Manchester 2005, S. 32.

Der Klecks als materia prima im Goldenen Topf 

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in ihr ausdrückt. So fordert Shandy zu einem indirekt zu erlangenden Verstehen eines Prinzips des textuellen Werdens auf, das sich ebenso in den natürlichen Strukturen des Marmors niederschlägt und die sichtbare Materie formt. Über diese Visualisierung, mit der durch den erzählerischen Kontext Analogien zwischen der Sichtbarkeit des nicht arbiträr Zeichenhaften und zugleich nicht Ikonischen (schwarze und marmorierte Seite) und dem textuellen Erzählverfahren hergestellt werden, erfährt die Materialität von Lesen und Schreiben eine poetologische Aufwertung: Ebenso wie im Klecksmotiv von E. T. A. Hoffmanns Der goldene Topf erhält das Unlesbare, das scheinbar eine undurchdringliche, reine Oberfläche darstellt, dabei den Status eines kreativen Quells des Lesens. Auch in Sternes Roman sind die natürliche Dichte der Tinte auf der schwarzen Seite und das Marmormuster als materialästhetische Elemente von zentraler Bedeutung, indem sie auf ebendie Kreativität des Materials hinweisen. Schreiben und Lesen sind Akte, die auf dem Materiellen basieren. Die scheinbar kontingente Struktur des Romans Tristram Shandy weist damit auch auf das mutwillig-kreative Potential des materiellen Schreibakts hin. Auch in Hoffmanns Der goldene Topf markiert der Fleck zunächst den Abschluss eines Prozesses, in dem Anselmus die Genealogie des Salamanders und der Schlangenfrau Serpentina erfahren und nachgeschrieben hatte. Diesen Akt des produktiven Nachvollzugs beendet nun der Klecks, der sich über die arabesken Strukturen des Pergaments legt. Zugleich macht er es möglich, dass nun aus ihm heraus sich wiederum neue Strukturen und Formen bilden. Wie in Fludds durch alchemistische Vorstellungen und Termini begleiteten Darstellungen der Genesis folgt auf das große Dunkle eine explosionsartige Mischung von Dampf und Licht, die schließlich die Schmelze von Anselmus zum neuen Menschen herbeiführt. Als er wieder zu sich selbst kam, konnte er sich nicht regen und bewegen, er war wie von einem glänzenden Schein umgeben, an dem er sich, wollte er nur die Hand erheben oder sonst sich rühren, stieß. – Ach! er saß in einer wohlverstopften Kristallflasche auf einem Repositorium im Bibliothekzimmer des Archivarius Lindhorst.92

Aus der kreativen Begegnung von Schreiber bzw. Leser und materia prima der Tinte wird nicht nur diese in eine neue Form gewandelt, sondern mit ihr auch das schreibende bzw. lesende Subjekt. Damit wird der Klecks in Hoffmanns Erzählung von einem pejorativen Motiv der arbiträren Schrift (deren flächige Oberflächlichkeit entblößt wird) und Ausdruck eines Verfehlens der wahren poetischen Schrift selbst zum Antrieb der poetischen Produktivität. Als Motiv des Chaos an der Schwelle zur Schrift stellt er in seiner stofflichen Präsenz zugleich die Schwelle dar, auf der stoffliche Wirklichkeit und Imagination ineinander übergehen.

92 H GT, S. 316.

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 Tintenpoetik

2.2 D  er Schatten „ein Kleks“: Zum Kunzischen Riss und den ­Abenteuern der Sylvester-Nacht 2.2.1 Das Bild des Kleckses

Abb. 9: Hoffmanns „Kunzischer Riß“, in: https://etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/lebenund-werk/orte/berlin/kunzscher-riss/. Zuletzt abgerufen am 15.04.2020. Dort zitiert nach: E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Herausgegeben von Friedrich Schnapp. 2. Band, Berlin 1814–1822, München 1968.

Hoffmann schickte seine von ihm so betitelte Zeichnung Kunzischer Riss (Abb. 9) am 18. Juli 1815 seinem Verleger Carl-Friedrich Kunz nach Bamberg.93 Hoffmann wohnte seit kurzem in einer Wohnung in der Taubenstraße am Gendarmenmarkt in Berlin. Die Zeichnung bildet den Gendarmenmarkt – mit seinem Zentrum, dem Theatergebäude und den beiden Domen – und umliegende Straßen aus einer Vogelperspektive heraus ab, gewährt jedoch zugleich Einblick in die Hoffmann’sche Wohnung, das Theatergebäude oder etwa die Weinstube „Lutter und Wegner“. Perspektivisch ist das Bild jedoch nicht einheitlich, da etwa die Dome aus einer Vorderansicht gezeichnet sind. Die Zeichnung ist angefüllt mit zahlreichen Skizzen von Personen, Gegenständen,

93 E. T. A. Hoffmann: Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Bd. 2. Berlin 1814–1822. München 1968, S. 65 ff.

Der Schatten „ein Kleks“ 

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Tieren, die von Hoffmann schriftlich identifiziert werden. Auch sein eigenes, überdimensioniertes Haupt ist zu sehen, aus dem eigenen Fenster schauend. Hoffmann hat sich hier selbst als „Regierungsrat Hoffmann“ identifiziert. Die Skizzenhaftigkeit der Zeichnung, in der sich Bild und Schrift gegenseitig ergänzen und ein Porträt des belebten Marktplatzes liefern, mutet karikaturesk an. Etwa Hoffmanns Züge sind, gerade in der überproportionalen Größe des Kopfes, markant getroffen. Skurril mutet auch die Darstellung des Kapellmeisters Weber an, der mit rauchendem Kopf Beefsteaks herbeischleppt, die er vor sich auf dem Boden auftürmt; derb ist gar die Darstellung des „Anonymus“, der mit heruntergelassenen Hosen vor dem Kammergericht steht. Der hier interessierende Aspekt der Zeichnung besteht in der gemeinsamen Anordnung von realen Personen, Tieren und Objekten des Alltags und fiktiven Charakteren aus Hoffmanns zuvor erschienenen Erzählungen. So finden sich sowohl Anselmus, die Schlange Serpentina und der Konrektor Paulmann aus dem Goldenen Topf als auch Doktor Dapertutto und Peter Schlemihl neben Erasmus Spikher aus den Abenteuern der Sylvester-Nacht. Die Figur Johannes Kreisler der Kreisleriana steht im Theatergebäude neben dem Kapellmeister Weber. Zugleich sind die Autoren Tieck und Brentano abgebildet, der Verleger Kunz sitzt in der Weinstube, Hoffmann und und der befreundete Schauspieler Devrient unterhalten am Fenster. Daneben finden sich zahlreiche unspezifische, nicht individualisierte Dinge und Wesen, so etwa „eine Rose“ neben dem Deutschen Dom, „ein Vogel im Fluge“, „ein Affe“ oder eine Person namens „Anonymus“ am oberen rechten Bildrand. Hoffmanns Zeichnung zeigt etwas, das seine Erzählungen, nicht zuletzt der im vorigen Kapitel besprochene Goldene Topf, immer wieder thematisieren, inszenieren und problematisieren: Die Gleichzeitigkeit und räumliche Überschneidung von Fantastischem und Wirklichem.94 Wie Hartmut Steinecke richtig bemerkte, ist diese gemeinsame Existenz, die etwa ja im Goldenen Topf durchaus als verstörend gezeigt wird, hier durch den karikaturesken Charakter der Zeichnung geradezu ‚lustig‘ dargestellt.95 Es ist Hoffmanns Grundthema, das bereits im letzten Kapitel zur Sprache kam – die Frage des Verhältnisses von Imagination und sinnlich wahrnehmbarer Welt. In der späteren Erzählsammlung Die Serapions-Brüder wird Hoffmann hierfür den Begriff der Duplizität einführen, die vom Einsiedler Serapion nicht erkannt wird. Er akzeptiert wahnhaft nur die Existenz der imaginativen Bilder und proklamiert ihre vollkommene Losgelöstheit von einer sinnlich wahrnehmbaren ‚Außenwelt‘. Außen und Innen sind jedoch nicht voneinander zu trennen; sie stehen in einem gespannten Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit, der Be- und Entgrenzung, und die „innern Erscheinungen

94 Vgl. hierzu die Ausführungen bei Deterding, Klaus: Die Poetik der inneren und äußeren Welt bei E. T. A. Hoffmann. Zur Konstitution des Poetischen in den Werken und Selbstzeugnissen. Frankfurt a. M. 1991, S. 207–219. 95 Steinecke, Hartmut: Die Kunst der Fantasie. E. T. A. Hoffmanns Leben und Werk. Frankfurt a. M./ Leipzig 2004, S. 229.

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 Tintenpoetik

gehen auf in dem Kreise, den die äußeren um uns bilden […].“96 Hoffmanns Zeichnung stellt humorvoll, unter Anerkenntnis einer „äußeren“ Wirklichkeit, in der die Autoren, Schauspieler und Kapellmeister neben den scheinbar unverdächtigen Alltagsgegenständen sich auf dem Marktplatz treffen, die gleichzeitige Mitexistenz der Ausgeburten seiner Einbildungskraft dar. Der interessierende Ausschnitt der Zeichnung zeigt die Figuren Peter Schlemihl und Erasmus Spikher aus Hoffmanns Abenteuern der Sylvester-Nacht. Neben Schlemihl findet sich „ein Kleks“.

Abb. 10: Schlemihl, Erasmus Spikher und „ein Kleks“ in Hoffmanns „Kunzischem Riss“, in: https:// etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/leben-und-werk/orte/berlin/kunzscher-riss/. Zuletzt abgerufen am 19. 11. 2018. Dort zitiert nach: E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Herausgegeben von Friedrich Schnapp. 2. Band, Berlin 1814–1822, München 1968.

Nähme man eine hastige Spontaneität der Zeichnung an, eine Flüchtigkeit der schnell hingeworfenen Skizze, könnte man den Klecks als einen zufälligen Fauxpas ansehen, dessen Platz auf der Zeichnung dann nicht weiter bedeutsam wäre.97 Ob der Klecks wirklich zunächst einen Fauxpas im Zeichenprozess darstellte und in welcher Reihenfolge er und die umliegenden Figuren entstanden sind, vermag man heute jedoch nicht mehr festzustellen. Die Frage erscheint hier auch irrelevant: Selbst wenn der Klecks

96 H SB, S. 61 f.: „Armer Serapion, worin bestand dein Wahnsinn anders, als daß irgendein feindlicher Stern dir die Erkenntnis der Duplizität geraubt hatte, von der eigentlich allein unser irdisches Sein bedingt ist. Es gibt eine innere Welt, und die geistige Kraft, sie in voller Klarheit, in dem vollendetsten Glanze des regesten Lebens zu schauen, aber es ist unser irdisches Erbteil, daß eben die Außenwelt in der wir eingeschachtet, als der Hebel wirkt, der jene Kraft in Bewegung setzt. Die innern Erscheinungen gehen auf in dem Kreise, den die äußeren um uns bilden und den der Geist nur zu überfliegen vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten.“ 97 Dies macht Deterding: Die Poetik der äußeren und der inneren Welt, S. 207.

Der Schatten „ein Kleks“ 

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zunächst zufällig auf das Blatt fiel, wurde er durch die Bezeichnung und seine Position doch in die Komposition der Zeichnung eingebunden. Wir sehen einen schwarzen Fleck, dem eine ovale Form gegeben wurde, aus der heraus sich ein einzelner Strich zu weiteren, den Boden skizzierenden Strichen hinzufügt. Durch die Beschriftung „ein Kleks“ erkennen wir, dass es sich nicht einfach um einen Klecks, sondern gerade um die Abbildung eines Kleckses handelt. Damit eignet dieser Abbildung gegenüber den anderen Abbildungen von Alltagsgegenständen auf dem Blatt (etwa „einer Rose“) ein besonderer Charakter: Ohne die Beschriftung wäre nicht zu entscheiden, ob es sich bei dem schwarzen Oval um einen bloßen Klecks handelt, der nichts repräsentiert, oder um etwas schwer zu Identifizierendes, nur die Andeutung einer bildhaften Form. Ohne die Beschriftung sähen wir uns dem Gegenstand selbst gegenüber, der sich einer zeichenhaften Repräsentation verwehrt. Durch diese Beschriftung wiederum wird der gegenständliche Fleck zur Abbildung seiner selbst. Dem Zusammenspiel von Bild und Schrift eignet damit also in diesem Fall eine besondere Selbstreferentialität, die die ‚Zeichenwerdung‘ des Kleckses betrifft. Der Klecks als Motiv markiert damit die Materialität der Zeichnung aus Tinte und Papier und weist zugleich auf die intermediale Generierung ihrer Zeichen aus Abbild und Beschriftung hin. Er wird zum Zeichen, das sich gerade über den schriftlichen Verweis an der Schwelle zwischen bloßer Gegenständlichkeit und Ikonizität als ikonisch identifizieren lässt. Der Klecks befindet sich in Hoffmanns Zeichnung genau zwischen Peter Schlemihl und Erasmus Spikher, den beiden unglücklichen Figuren aus Hoffmanns Abenteuern der Sylvester-Nacht. In dieser Erzählung aus Hoffmanns Fantasiestücken begegnen dem ‚reisenden Enthusiasten‘ am Silvesterabend in einem Bierkeller zwei wunderliche Gestalten: Peter Schlemihl, der dem Teufel seinen Schatten verkaufte, und Erasmus Spikher, der sein Spiegelbild verlor. Peter Schlemihl war Hoffmann und wohl auch seinen Lesern aus der damals bereits sehr populären Erzählung Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adelbert von Chamisso gut bekannt.98 Mit der Aufnahme der Figur in die Erzählung, die im Keller gemeinsam mit Spikher auftritt, weist Hoffmann deutlich darauf hin, dass er das Motiv des Schattenverlusts nun um den Verlust des Spiegelbildes ergänzt. Die Geschichte vom verlohrnen Spiegelbilde bildet denn dann, nach der gemeinsamen Einführung der Figuren Schlemihl und Spikher, ein eigenes Kapitel in der Erzählung. Der bildliche Kontext der Zeichnung stellt somit eine Verbindung zwischen Klecks und verlorenem Schatten bzw. verlorenem Spiegelbild in Hoffmanns Erzählung her. Dies eröffnet die Möglichkeit, im Allgemeinen über Bedeutung und Verhältnis dieser Motive im kunsthistorischen und literarischen Kontext und im Besonderen im

98 Vgl. Wilpert, Gero von: Der verlorene Schatten. Varianten eines literarischen Motivs. Stuttgart 1978, S. 57 ff. Zur Popularität und frühen Rezeptionsgeschichte der Erzählung vgl. die Vorrede des Herausgebers Julius Eduard Hitzig in der Nürnberger Stereotypausgabe von 1839. Hitzig, Julius Eduard: „Vorrede des Herausgebers“, in: Chamisso, Adelbert von: Peter Schlemihls wundersame Geschichte. Stuttgart 2003, S. 73–80, hier S. 74.

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Zusammenhang mit den ästhetischen Konzepten Chamissos und Hoffmanns zu reflektieren. Dazu werden im Folgenden zunächst die Symbolik von Schatten- bzw. Spiegelbildverlust bei Chamisso und Hoffmann erläutert, bevor im nächsten Schritt das Verhältnis von Klecks und Schatten vor dem Hintergrund von Hoffmanns Chamisso-Rezeption untersucht wird.

2.2.2 Der Verlust des Abbilds: Schatten und Spiegelbild In der Vorrede der französischen Ausgabe von Adelbert von Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte aus dem Jahr 1839 äußert sich der Autor, offenbar als Antwort auf die vielen brieflich und durch sonstige Kanäle an ihn ergangenen Nachfragen, zur Bedeutung des Schattens, den Schlemihl verkauft und darüber in Verzweiflung gerät. Denn das Fehlen seines Schattens wird von den ihm begegnenden Menschen als Schande erkannt, die auf seine Verbindung zum „grauen Mann“,99 dem Teufel, schließen lässt. Er muss fortan entweder das Fehlen des Schattens verbergen oder als von der Gesellschaft Ausgestoßener sein Dasein fristen. Ironisch gibt Chamisso zu verstehen, dass er keineswegs eine allegorische Auflösbarkeit des Schattenverlusts im Sinn hatte, wie es wohl von seiner Leserschaft erwartet werde. Seine folgende Erklärung des Schattenmotivs bietet denn auch ganz im Sinne des rätselhaft bleibenden Motivs seiner Erzählung keine endgültige Auflösung an. Er selbst, schreibt er, habe zunächst Nachforschungen über den Schatten anstellen müssen, um seiner Leserschaft mit einer Erklärung zu Diensten zu sein: Die Frage, mit welcher sie mich bestürmten, hat mich über meine Ungewissheit erröten lassen. Sie haben mich dahin gebracht, in den Umfang meiner Studien einen mir bis dahin fremd gebliebenen Gegenstand aufzunehmen, und ich habe mich gelehrten Untersuchungen ergeben, deren Resultat ich hier aufzeichnen will. Vom Schatten „Ein nicht leuchtender Körper kann nur teilweise von einem leuchtenden Körper erhellt werden. Der lichtlose Raum, welcher auf der Seite des nicht beleuchteten Teiles liegt, ist das was man Schatten nennt. Schatten bezeichnet also im eigentlichen Sinne einen körperlichen Raum, dessen Gestalt zugleich von der Gestalt des leuchtenden Körpers, von der des beleuchteten und von ihrer gegenseitigen Stellung gegen einander abhängt. Der auf einer hinter dem schattenwerfenden Körper befindlichen Fläche aufgefangene Schatten ist daher nichts anderes, als der Durchschnitt dieser Fläche mit dem körperlichen Raum (französisch le solide, also wörtlich dem Soliden, auf welchem Wort der ganze Scherz beruht), den wir vorher durch den Namen Schatten bezeichneten.“ Haüy Traité élémentaire de physique T. II § 1002 et 1006.

99 Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 11.

Der Schatten „ein Kleks“ 

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Von dem zuletzt erwähnten Soliden ist nun die Rede in der wundersamen Historie des Peter Schlemihl. Die Finanzwissenschaft belehrt uns hinlänglich über die Wichtigkeit des Geldes; die des Schattens ist minder allgemein anerkannt. Mein unbesonnener Freund hat sich nach dem Gelde gelüsten lassen, dessen Wert er kannte, und nicht an das Solide gedacht. Die Lektion, die er teuer bezahlen müssen, soll, so wünscht er, uns zu Nutze kommen, und seine Erfahrung ruft uns zu: Denket an das Solide!100

Die physikalische Erklärung des Schattens bestimmt diesen als Verhältnis des körperlichen Raumes, des „Soliden“, zu dem ihn beleuchtenden Körper und der ihn umgebenden Fläche. Mit dem „Soliden“ ist in diesem physikalischen Gebrauch also die körperliche Anwesenheit als Ursprung des Schattenwurfs gemeint. Mit dem Nachsatz Chamissos wird dann die Bedeutung des „Soliden“ von der bloßen körperlichen Präsenz auf eine andere Bedeutungsebene verschoben, in der es einen besonderen Wert darstellt. Dabei ist „das Solide“ dasjenige, welches sich vom Wert des Geldes abhebt und anders gemessen werden muss. Das „Solide“ wird zu einer moralischen Kategorie.101 Victor Stoichita hebt in seiner Analyse der Erzählung Chamissos vor allem die Deutbarkeit des Schattens slbst hervor, die jenseits einer bestimmten Bedeutung im Fokus der Aufmerksamkeit stehen müsse. Der Schatten wird zu einem symbolischen Gut, dessen Verlust einem Verlust der Identität gleichkommt, indem der Schatten als Substitut der Seele angesehen werde. Derart ist er für den „grauen Mann“ von einem der Seele Schlemihls äquivalenten Wert, sodass er Schlemihl an späterer Stelle der Erzählung den Tausch der Seele gegen den zuvor verkauften Schatten anbietet. Die Einsetzung des Schattens als ‚Seelensubstitut‘ geschieht gerade über seine Verdinglichung, die die Ablösung vom Körper – jenem „Soliden“ – möglich macht. Der Verlust des Schattens, der diesen vergegenständlicht, indem der Schatten vom Körper lösbar wird, bedeutet demnach für Schlemihl nicht nur den Verlust seiner Identität. Er ist zugleich ein Verlust an ‚Solidität‘, an Körperlichkeit, den Stoichita als Verlust des „Realitätsprinzips“ bezeichnet (hier wurde Chamissos le solide mit dem „Reellen“ übersetzt).102 Der Schatten bleibt ein indexikalisches Zeichen des Körpers, der Leiblichkeit; zugleich kann ihm in seiner ikonischen Zeichenfunktion die symbolische Bedeutung als Abbild der menschlichen Seele zugeeignet werden.103

100 Zitiert nach der Vorrede Julius Eduard Hitzigs zur Stereotypausgabe der Erzählung Nürnberg 1839. Hitzig: „Vorrede des Herausgebers“, S.  74 f. Da Hitzig die Vorrede Chamissos eigens für seine Vorrede zur neuen deutschen Ausgabe übersetzte, fügte er auch den Hinweis auf frz. le solide ein, das er einmal mit „körperlicher Raum“ und darauf mit dem „Soliden“ übersetzt hat. 101 Vgl. hierzu und im Folgenden: Stoichita, Victor I.: Eine kurze Geschichte des Schattens. Aus dem Französischen von Heinz Jatho. München 1999, S. 167 ff. 102 Ebd., S. 171. 103 Vgl. Berndl, Homer: Semantik der Verdunkelung. Die Ambivalenzen des „Schatten“-Motivs und ihre Tradition in der Literatur der frühen Moderne. Würzburg 2016, S. 30 ff.

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Versteht man also den Schattenverlust in diesem Sinne als einen ‚Realitätsverlust‘ – ein Verlust an reeller Körperlichkeit und Existenz – so ist ein Fiktiv-Werden Schlemihls gemeint, der selbst schattenhaft, indem sein Schatten gegenständlich und ablösbar wird. Schlemihl wird selbst zum Trugbild, während er dem verlustig gegangenen Schatten auf ewig nachzujagen verdammt ist. Das Simulacrum, das Schattenbild, hat keinen Ursprung mehr, denn Schlemihl selbst ist durch den Verlust zum flüchtigen Schemen geworden. Schlemihls Ich erfährt eine, auch zum Ende der Erzählung hin, nicht mehr heilbare Teilung.104 An der Geschichte des Schattenmotivs in Kunst und Literatur lässt sich Stoichita zufolge eine Geschichte des menschlichen Selbstbildes ablesen. Er stellt Chamissos Erzählung um den traurigen Schattenverlust, in der der Schatten als Abbild der Seele zum flüchtigen Trugbild wird, in einen Kontrast zu den physiognomischen Studien Johann Caspar Lavaters an Schattenrissen, die als Manifestationen des Innersten des Menschen fungierten.105 Chamissos Erzählung hingegen reflektiere vielmehr eine Verunsicherung, durch die der Schatten als Repräsentation des Menschen zum Ausdruck seiner Gespaltenheit gerate, die sich in seinen Abbildern und Dopplungen zeige. 106 Wenn Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht nun das Motiv des Schattenverlusts um den Verlust des Spiegelbildes erweitert, steht auch sie hierzu in einem engen und expliziten Bezug. Beide – Schatten und Spiegelbild – sind Motive der Ab-bildlichkeit und haben einen langen historischen Bezug zur Erkenntnisphilosophie und zu Lehren bzw. Theorien der Mimesis.107 In Platons Höhlengleichnis markiert der Schatten die Abwesenheit des Lichts und ist selbst ein Trugbild, indem er nur ein durch eine Lichtquelle erzeugtes negatives Abbild des Kunstwerks darstellt, das aber von den in der Höhle festgebundenen Menschen für „das Wahre“ gehalten wird.108 Das Spiegelbild wird an späterer Stelle des Staates als Scheinbild erwähnt, das der Tätigkeit des Malers gleichgesetzt sei, der auch „nicht wahrhaft“ das mache, was seine Bilder zeigen, so wie das Spiegelbild auch die Sonne, den Himmel und die Erde „nicht in Wahrheit seiend“ herstelle.109 Auch im Ovidischen Mythos von Narziss, der seinen Schatten verlor, werden Spiegelbild und Schatten in einen Zusammenhang gebracht, jedoch vielmehr auf einer metaphorischen Ebene verknüpft: Das Spiegelbild, in das sich Narziss verliebt, wird als „Schatten eines Bildes“ (imaginis umbra) bezeichnet. Das Spiegelbild ist ein

104 Vgl. zum Doppelgängertum in den Texten der Romantik Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, S. 463–488; vgl. zur IchProblematik in der romantischen Literatur vor dem Hintergrund der fichteschen Wissenschaftslehre: Forderer: Ich-Eklipsen, S. 20–36. 105 Vgl. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 151–164. 106 Ebd., S. 182. 107 Vgl. hier und im Folgenden Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 20–28 und S. 15 ff. 108 Platon: Der Staat. Platons Werke. Teil 3. Bd. 1. Hg. v. F. Schleiermacher. Berlin 1828, 514–515c. 109 Ebd., 596e. Vgl. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 24 f.

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flüchtiges, nichtiges Abbild des Selbst, das erst am Ende der Erzählung als solches erkannt wird; zu Beginn, in der unsicheren, dunklen Schattenexistenz, wird es als der ‚Andere‘ missverstanden.110 Eine weitere berühmte Referenz zum Schattenmotiv und dessen Bezug zur Kunst stellt die Geschichte über die Entstehung der Skulptur in Plinius Secundus’ Naturalis historia dar. Dort heißt es, der erste Skulpteur sei Butades von Sikyon gewesen, dessen Tochter „aus Liebe zu einem jungen Mann, der in die Fremde ging, bei Lampenlicht an der Wand den Schatten seines Gesichtes mit Linien umzog; den Umriss füllte der Vater mit daraufgedrücktem Ton und machte ein Abbild, das er mit dem übrigen Tonzeug im Feuer brannte […].“111 Wie Stoichita meint, schließt Plinius’ Geschichte über das Festhalten des Schattens und dessen anschließende Verkörperung im Ton einerseits an eine metaphorische Verbindung des Schlagschattens mit dem Tod im hellenistischen Volksglauben an.112 Die Vertikalisierung des Schattens und seine Bannung im nachgezeichneten Umriss erhalte damit eine Bedeutung der Lebenserhaltung im Schatten als zweidimensionalem, aufgerichtetem Abbild. Andererseits würden in der Erschaffung einer dreidimensionalen Skulptur aus dem Abbild Vorstellungen symbolischer Verbindungen zwischen Seele, Schatten und dem Doppel des Menschen verarbeitet,113 die mit einem Akt der Verkörperung dieses Doppels in der Skulptur zusammenträfen. Die Skulptur des Schattenumrisses stünde damit in der Funktion einer „Stellvertreter-Figur“ und eines „beseelten Doppels“.114 Plinius’ Historie gehe dabei auf ägyptische Dopplungsmythen zurück.115 Die bei Plinius vermittelte Geschichte über die Entstehung der Kunst – von Malerei und Skulptur – kann derart als eine Geschichte über den Menschen als Doppel und seine magische Ver-dopplung angesehen werden, auf die die narrativen und motivischen Spiegelungs- und Zwillingskonstellationen der Literatur zurückreichen. 116

110 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In dt. Hexameter übertragen und mit dem Text herausgegeben von Erich Rösch. München 1961, III 415–436; 446–465. Vgl. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 33 ff. 111 C. Plinii Secundi: Naturalis historiae Libri XXXVII. Liber XXXV/C. Plinuius Secundus d. Ä. Naturkunde. Buch XXXV. Farben, Malerei, Plastik. Lat.-dt. Hg. u. übers. v. Roderich König. 3. Aufl. Düsseldorf 2007, XLIII 151. 112 Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 16. Stoichita bezieht sich auf van der Horst, P. W.: „Der Schatten im hellenistischen Volksglauben“, in: Vermaseren, M. J. (Hg.): Studies in Hellenistic Religions. Leyden 1979, S. 26–36 und Novakova, J.: Umbra. Ein Beitrag zur dichterischen Semantik. Berlin 1964, S. 57–63. 113 Stoichita bezieht sich auf Rohde, Erwin: Psyche. Seelenkult und Unsterblichkeitsglaube der Griechen. Bd. 1. Darmstadt 1980 [1898], S. 3–7. Vgl. Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 18. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 15 f.; S. 19. Stoichita weist hier auf die ältere ägyptische Schatten- und Skulptursymbolik hin, die Plinius verarbeite. Hier erscheint die Statue als Stellvertreter eines Gottes oder Toten; die Statue enthält nach dieser Tradition die Seele dessen, den sie ersetzt. 116 Lachmann: Gedächtnis und Literatur, S. 464 f.

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Sowohl Spiegel als auch Schatten fügen sich dabei in die lange künstlerische bzw. literarische und erkenntnisphilosophische Tradition der Verdopplungsmotivik. In der Romantik erreicht die Verdopplung nicht nur als Motiv, sondern auch als Verfahren einen diskursiven Höhepunkt. Friedrich Schlegels „Universalpoesie“ soll „auf den Flügeln der Reflexion in der Mitte schweben, diese Reflexion immer wieder potenzieren und wie in einer endlosen Reihe von Spiegeln vervielfachen.“117 Die Verdopplung ist Verfahren und Resultat der Selbstreflexion des Subjekts in der künstlerischen Form. Während dabei aber eine Potenzierung dieser Spaltung propagiert wird, soll diese doch zugleich auf eine Einheit streben, die außerhalb des Bewusstseins liegt.118 Die Potenzierung der Spiegelung wirkt dabei tatsächlich wie ein risikoreiches Unterfangen, bei dem ein Selbstverlust und ein Verfehlen der Universalität in der künstlerischen Form möglich werden. Die Doppelgängermotivik der Romantik scheint in ihrer großen Varianz und Vielzahl ein solches Risiko zu quittieren.119 In E. T. A. Hoffmanns Erzählung Die Abenteuer der Sylvester-Nacht wird die Verdopplungsmotivik um Spiegelbild und Schatten auch mit einem Verfahren der Verdopplung in Hinsicht auf den Erzähldiskurs verknüpft. Der „reisende Enthusiast“, dessen Tagebucheinträge uns von einem fiktiven Herausgeber präsentiert werden, „trennt offenbar sein inneres Leben so wenig vom äußern, dass man beider Grenzlinie kaum zu unterscheiden vermag.“120 Derart vermag man bestimmte in der Erzählung auftretende Erscheinungen und Figuren durchaus als die Ausgeburten der Einbildungskraft des Enthusiasten verstehen, die ihm damit gewissermaßen als Teile seines Selbst, ihm fremd geworden, entgegentreten. So zeigen auch die auftretenden Figuren Peter Schlemihl, den der Enthusiast als Figur aus der ihm bekannten Erzählung von Chamisso erkennt, und Erasmus Spikher die Zerrissenheit der Identität des Enthusiasten, der am Silvesterabend, von Liebeskummer geplagt, ziellos durch die Straßen Berlins streift. Erasmus Spikher, dieser Schlemihl folgende Doppelgänger, wird dem Enthusiasten wiederum zum Leidensgenossen, indem er ihm in schriftlicher Form seine Geschichte vom verlorenen Spiegelbilde hinterlässt, die innerhalb der Erzählung von den Abenteuern der Sylvester-Nacht als Teil des Tagebuchs des Enthusiasten präsentiert wird. In der Erzählung Spikhers, die von der Verführung durch die teuflische Giulietta und ihren Helfer Signor Dapertutto handelt, durch die Spikher um sein Spiegelbild gebracht wird, sind unschwer die Parallelen zur enttäuschenden Begegnung des Enthusiasten

117 KFSA II, S. 182 f. (Athenäums-Fragmente, Nr. 116). 118 Vgl. die hierzu divergierenden Meinungen in der Friedrich-Schlegel-Forschung und allgemein in der Frühromantik-Forschung: Pikulik: Frühromantik, S.  50; Löwe, Matthias: „Universalpoesie“, in: Endres, Johannes (Hg.): Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 331–333, hier S. 332. Eine eher auf der poststrukturalistischen Rezeption der Frühromantik fußende Meinung vertritt Menninghaus, Winfried: Unendliche Verdopplung: die frühromantische Grundlegung der Kunsttheorie im Begriff absoluter Selbstreflexion. Frankfurt a. M. 1987. 119 Vgl. Forderer: Ich-Eklipsen, S. 20–36. 120 H AS, S. 325.

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mit seiner ehemaligen Geliebten Julie zu Beginn der Erzählung zu erkennen. Spikher widerfährt dabei Ähnliches wie Schlemihl bei Chamisso: Das Fehlen eines Spiegelbildes wird in einer einhelligen Reaktion der sozialen Gemeinschaft als Zeichen fehlender Wahrhaftigkeit und Menschlichkeit verstanden. Er wird verstoßen und findet, wie Schlemihl, keine Rast mehr. Hoffmann erweitert das Motiv der Verdopplung, das über die Wiederaufnahme des Abbildverlusts nach Chamissos Erzählung eingeführt wird, durch die Brechung der Erzählstimme des reisenden Enthusiasten in Spikhers Erzählung auf narrativ-strukturelle Weise. Die Erzählung projiziert den Verlust des Spiegelbildes damit in ein narratives Spiegelverfahren, in dem sich ebenso wie bei Schlemihl in Chamissos Erzählung die zerrissene Identität des Enthusiasten kundtut.121 Damit zeigen beide Motive des Abbildverlusts in Hoffmanns Erzählung auf gleiche Weise den Identitätsverlust an. Dieser Abbildverlust meint auch bei Hoffmann, worauf uns das Herausgebervorwort überdeutlich hinweist, ein Auflösen der Wirklichkeit in den Bildern der Fiktion, ein Zerfließen der Wirklichkeit zum Trugbild. Dies indiziert auch bei ihm die Vergegenständlichung und Ablösung des Abbilds. Indem er seines Spiegelbilds verlustig geht, das Abbild des Selbst zum ‚Anderen‘ und es selbst gespalten wird, verliert auch der im Spiegel reflektierte Körper seine reelle körperliche Präsenz.

2.2.3 Klecks und/oder Schatten Dunkelheit: Formlosigkeit oder Form als Abbild Bei seiner Analyse des Schattenmotivs in Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte greift Victor Stoichita vor allem auf Illustrationen der Erzählung zurück, die seiner Meinung nach in der Art und Weise, wie der Schattenverlust und die spätere Jagd nach dem Schatten illustriert werden, wegen der bildlichen Natur des Motivs verschiedene Deutungsmöglichkeiten besonders gut zu zeigen vermögen. Vor allem in einer Illustration des Schattenverkaufs von George Cruikshank – dessen Illustrationen zu seiner Erzählung Chamisso auch nachweislich besonders schätzte – erkennt Stoichita eine Darstellung des Schattenverlusts als Verlust des „Realitätsprinzips“. In der Zeichnung rollt der „graue Mann“ den Schatten nicht, wie eigentlich in der Erzählung beschrieben, vom Kopf an auf, sondern beginnt an den Füßen Schlemihls, den Schatten von dessen Körper abzulösen. Hiermit würden in der Zeichnung die Vergegenständlichung des Schattens und zugleich der Verlust der Bodenhaftung des Körpers betont.122

121 Vgl. Wilpert: Der verlorene Schatten, S. 61 ff.; vgl. Neymeyr, Barbara: Nachwort, in: Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Hg. v. Barbara Neymeyr. Stuttgart 2005, S. 63–92. 122 Stoichita: Eine kurze Geschichte des Schattens, S. 171.

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Ähnlich ermöglicht der Kontext des Klecks-Motivs und der Figur Schlemihl in Hoffmanns Zeichnung eine Reflexion über seinen Bezug zum Motiv des Schattens. Die Tatsache, dass hier ein Tintenklecks auftaucht, wo ein Schatten verschwunden ist, lässt dabei zunächst an die Gemeinsamkeit beider Motive denken: Beide verbindet die Dunkelheit. Der Schatten ist nicht unbedingt durchdringend schwarz, er ist jedoch in jedem Fall als Verdunkelung des Raums erkennbar, auf den er fällt. Dem Tintenfleck ist durch die herkömmliche Schwärze der Tinte das Dunkle zu eigen. Beide Motive nehmen damit, jedoch in unterschiedlicher Weise, Bezug auf die Metaphorik von Licht und Dunkelheit. Die bereits in Platons Höhlengleichnis entworfene Metapher von Licht und Schatten, die das Verhältnis des Menschen zum Sein und zur Erkenntnis beschreibt, entfaltet im Verlauf der Philosophie und Kunstgeschichte eine enorme Vielfältigkeit in Bezug auf die in ihr beschriebenen Abhängigkeiten des Hellen und Dunklen und die über diese artikulierten Begriffe von Wahrheit, Sein, Erkenntnis und Offenbarung.123 In der biblischen Schöpfungsgeschichte erschafft Gott durch sein Wort zunächst das Licht, woraus zu schließen ist, dass zuvor Dunkelheit geherrscht haben muss, die also mit dem Nichts vor Gottes Weltschöpfung einhergeht. In der Annahme des dunklen Nichts vor der göttlichen Schöpfungsgeste (die also als eine creatio ex nihilo bezeichnet werden kann) manifestiert sich die Auseinandersetzung der frühchristlichen Theologie mit der Weltbildungsvorstellung der griechischen Philosophie, die auf dem Gedanken der einer Schöpfung des Kosmos vorgängigen „ungewordenen Materie“ fußt.124 Wie im vorigen Kapitel gezeigt, kann der Klecks als Motiv des dunklen Ungeformten auf jenes Nichts Bezug nehmen. Als Metapher des Nichts vor der göttlichen creatio ist er gerade noch nicht etwas, denn dieses etwas entsteht erst mit der Lichtwerdung. Als Motiv einer bloßen Materialität, deren Ungeformtheit Zeichenhaftigkeit, Bedeutung und Ordnung verunmöglicht, kann der Klecks jedoch andererseits eben dieses

123 Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“, in: Studium Generale. H. 1, 10. Jg. (1957), S.  432–446. Siehe hierzu Blumenbergs kurzen Abriss dieser Vielfältigkeit: „Das Verhältnis von Einheit und Vielheit, von Absolutem und Bedingtem, von Ursprung und Abkunft, fand hier eine Art von ‚Modell‘. Licht kann der gerichtete Strahl, die wegweisende Leuchte im Dunkel, die vordringende Entmachtung der Finsternis, aber auch die blendende Überfülle, ebenso wie die unbestimmbar allgegenwärtige Helle sein, in der Alles darinsteht: das selbst nicht-erscheinende Erscheinenlassen, die unzugängliche Zugänglichkeit der Dinge. Licht und Finsternis können die absoluten metaphysischen Gegenmächte repräsentieren, die sich ausschließen und doch das Weltgefüge zustande bringen. Oder das Licht ist die absolute Seinsmacht, die die Nichtigkeit des Dunkels enthüllt, das nicht mehr sein kann, wenn erst einmal Licht geworden ist. Licht ist das Eindringliche. Es schafft in seiner Fülle jene überwältigende, unübersehbare Deutlichkeit, mit der ‚das Wahre‘ heraustritt, es erzwingt die Unentziehbarkeit der Zustimmung des Geistes. Das Licht bleibt, was es ist, während es Unendliches an sich teilhaben läßt, es ist Verschwendung ohne Schwund. Licht schafft Raum, Distanz, Orientierbarkeit, angstloses Schauen, es ist Geschenk, das nicht fordert, Erleuchtung, die ohne Gewalt zu bezwingen vermag.“ (Ebd., S. 433.) 124 May, Gerhard: Schöpfung aus dem Nichts. Die Entstehung der Lehre von der creatio ex nihilo. Berlin 1978, S. VIII.

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Nichts als stoffliches Chaos repräsentieren. Dabei wird deutlich, dass der Klecks als Dunkles zugleich über die negative Bezogenheit auf ein Zeichen innerhalb der Metaphorik von Wahrheit und Erkenntnis einsetzbar ist (siehe Teil I, Kap. 3.4). Als Negation der Form ist der Klecks in Bezug auf die (literarische und künstlerische) Schöpfung nicht Wort, nicht Schrift, nicht Bild – nicht Zeichen. Als Motiv eines stofflichen Chaos begriffen, ist er jedoch nicht eine Negation dieses Zeichens, sondern seine Ermöglichung im Sinne seiner schöpferischen Voraussetzung. Hierin liegt der wichtigste Unterschied zum Motiv des Schattens, der schon immer ein Motiv der Ab-Bildlichkeit ist, das aus dem räumlichen Verhältnis beleuchteter Körper zu ihrer Lichtquelle entsteht und damit ursprünglich von der Lichtquelle abhängig ist. Der Schatten bildet diese Körper ab; daraus entwickelt Platon seine Rangordnung der Erkenntnis und entwirft Plinius eine Ur-Malerei, die dem Umriss dieses Abbilds folgt. So zeigt auch Chamissos Peter Schlemihls wundersame Geschichte, dass die Jagd nach dem Schatten gerade die Jagd nach dem vom Licht erzeugten Abbild ist. Dieses droht in der differenzlosen Dunkelheit zu verschwinden, als Schlemihl den auf einen Wald zustrebenden Schatten verfolgt: Der Schatten, auf meine Bewegung, nahm vor mir die Flucht, und ich musste auf den leichten Flüchtling eine angestrengte Jagd beginnen, zu der mich allein der Gedanke, mich aus der furchtbaren Lage, in der ich war, zu retten, mit hinreichenden Kräften ausrüsten konnte. Er floh einem freilich noch entfernten Walde zu, in dessen Schatten ich ihn notwendig hätte verlieren müssen, – ich sah’s, ein Schreck durchzuckte mir das Herz, fachte meine Begierde an […].125

Seit Homer bezeichnet hýlē als von Aristoteles stammender Materie-Begriff unter anderem den Wald.126 In Alexander Baumgartens Aesthetica wird der Wald in einer Reihe mit dem Chaos und dem Stoff genannt, aus dem der Künstler die „schöne Form herausmeißelt.“127 Der Wald wird auch bei Chamisso zum Motiv des dunklen Chaos, in dem kein Bild, keine Form erkennbar ist. Der Klecks ist als Motiv des dunklen Chaos demnach auch Motiv einer potentiellen Formbarkeit, die vor der Ordnung schaffenden Lichtquelle liegt. Als solche wird das Chaos des Dunklen in der Romantik metaphorisch mit der sich der Kontrolle des demiurgischen Künstlers entziehenden Fantasie verbunden. Das „heilige Dunkel der Fantasie“128 wird als eigene Erkenntnismöglichkeit jenseits der wohlbeleuchteten Alltagsperspektive entdeckt.129

125 Chamisso: Peter Schlemihls wundersame Geschichte, S. 44 f. 126 Happ: Hyle, S. 274. 127 Baumgarten, Alexander G.: Aesthetica. Lat.-dt. Ausgabe/Ästhetik. Hg. v. Constanze Peres. München 2016; § 564. 128 Schlegel, Friedrich: „Gespräch über die Poesie“, in: KFSA II, S. S. 285–351, hier S. 316. 129 Blumenberg: „Licht als Metapher der Wahrheit“, S. 442.

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Selbsttätigkeit Gemeinsam ist jedoch Schatten wie Tintenfleck ihre selbsttätige Entstehung. Die Betonung der selbsttätigen Entstehung des menschlichen Abbildes im Schatten kennzeichnet bereits Plinius’ Erzählung über den Ursprung der Malerei, in der das Mädchen den Schatten ja nur nachzeichnet, technisch betrachtet nicht selbst erschafft. Die Nachzeichnung ermöglicht ein Festhalten des Bildes, das ursprünglich ganz von allein entstand.130 Auch die Form des Tintenkleckses bildet sich, ohne Einfluss seines Urhebers, von allein. Einerseits ist seine selbsttätige Entstehung im Schreibakt gerade Grund für seine Abwertung als Unfall und Index der unkontrollierten Körperlichkeit oder Materialität des Schreibakts, bei dem die Intention auf das Schriftzeichen nicht gelungen ist. Andererseits sind Klecks und Schatten über die Denkfigur der Selbsttätigkeit auch als Bildgebungsverfahren kunsthistorisch verwandt. Denn auch der Klecks basiert als ein seit dem neunzehnten Jahrhundert zunehmend für die Bildgebung gebrauchtes visuelles Phänomen auf der selbsttätigen Formung des bildgebenden Materials.131 In diesem Kontext ist die vom englischen Landschaftsmaler Alexander Cozens entwickelte und auch Ende des achtzehnten Jahrhunderts schriftlich vorgestellte Blot-Technik zu nennen, bei der der Künstler Tintentropfen auf dem Blatt verteilt und dieses eventuell noch in der Hand zerknittert, bevor die entstandene Struktur zur Anregung einer genau auszuführenden Landschaftszeichnung gebraucht wird.132 Cozens bezieht sich dabei auf Leonardo da Vinci, der die genaue Abzeichnung von Flecken auf Mauern oder der Formen von Wolken als Inspirationsquellen für Bilder beschrieb.133 Anders als beim Schatten spielt bei der Nutzung eines Kleckses als bildgebendes Verfahren der Zufall bzw. die Unvorhersagbarkeit der Form durch den Künstler eine entscheidende Rolle. Bei der Technik der Klecksographie wird der aufs Blatt getropfte Tintenfleck nach seiner Entstehung meist noch einmal durch unterschiedliche Praktiken umgeformt, oft durch Falzung und Klappen des Papiers oder durch das Zusammenpressen zweier mit Tinte bekleckster Blätter oder auch durch Reiben und Zerknittern des Papiers. Bei der Faltung des Blattes erhält die Tinte eine an beiden Seiten der Falz klappsymmetrisch gespiegelte Form. Auf diesem Verfahren basieren hauptsächlich die Klecksographien des Arztes Justinus Kerner aus den 1850er Jahren.134 Victor Hugo, als ein weiterer populärer Künstler der Klecksographie jener Zeit, wandte verschiedene einfallsreiche Verfahren der Formbeeinflussung seiner Kleckse an, bis hin zur gezielten Nutzung

130 Weltzien, Friedrich: Fleck – Das Bild der Selbsttätigkeit. Justinus Kerner und die Klecksografie als experimentelle Bildpraxis zwischen Ästhetik und Naturwissenschaft. Göttingen 2011, S. 74 f. 131 Ebd., S. 17 ff. 132 Cozens, Alexander: A New Method of Assisting the Inventions of Landscape. London 1785, S. 25. Vgl. Weltzien: Fleck, S. 162–166. 133 da Vinci, Leonardo: Sämtl. Gemälde und die Schriften zur Malerei. Hg., komm. u. eingel. v. André Chastel. München 1990, S. 384 f. Weltzien: Fleck, S. 161 f. 134 Weltzien: Fleck, S. 33 ff.

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von Objekten zur Verhinderung oder Lenkung des Tintenflusses.135 Auch von dem polnischen, in Russland wirkenden Maler Aleksander Orłowski und dem russischen Maler Karl Brjullov sind Anekdoten über ihre sporadische Nutzung von Klecksen im bildnerischen Verfahren (vor Zuschauern) bekannt geworden.136 Während beim Einsatz der Falztechnik in der Klecksographie zumindest die Symmetrie der entstehenden Form durch die Spiegelung vorhersagbar wird, ist doch die Form selbst (zumindest ohne vorherige Bearbeitung des Kleckses) nicht beeinflussbar durch den Künstler als Handhabenden der Technik. Der Klecks bildet sich zunächst von selbst heraus. Damit kommt es seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts verstärkt zum bildnerischen Einsatz eines Verfahrens, bei dem das Formungspotential der Tinte durch physikalische Kräfte einen eigenen Wert vor seiner Nutzung als Medium der Mimesis erhält. Dabei ist die Klecksographie jedoch gerade als Bildgebungsverfahren genutzt worden, indem in den entstehenden Tintenklecksen Formen gesehen und auch teilweise noch weiter zeichnerisch ausgestaltet wurden.137 Die Selbsttätigkeit des Materials hat damit nur insofern hier ihren Eigenwert, als sie zur Entstehung der Projektionsfläche für den Geist des Künstlers beiträgt. An der Identifikation der Form im Klecks, der dann auch häufig noch zeichnerisch nachgeholfen wird, ist der Künstler somit in entscheidender Weise beteiligt. Aus dem Formlosen wird damit schließlich eine Form, und dabei vornehmlich ein ikonisches Abbild. Vor dem naturphilosophischen und ästhetischen Hintergrund des neunzehnten Jahrhunderts können bei der Nutzung eines solchen Verfahrens der Klecksographie sowohl die selbsttätige Entstehung der Klecks-Form durch die Faltung als auch die dann folgende Entdeckung einer in ihr angelegten ikonischen Form als Ausdruck natürlicher Bildungskräfte verstanden werden.138 Deren physikalische Selbsttätigkeit als auch die Selbsttätigkeit einer assoziativen und imaginativen Entdeckung ikonischer Form im Tintenklecks erscheinen dieser Sichtweise zufolge als Hinweise auf eine harmonische Verbindung der Natur als organischer Ganzheit mit dem menschlichen Geist. Vor diesem Hintergrund ist auch der Klecks, als Resultat dieser geahnten, der Natur zugrundeliegenden Verbindung aller Erscheinungen, nicht ein Chaos, sondern bereits eine Form, insofern als er durch bestimmte Prinzipien harmonischer Bildung entsteht. Die Veränderlichkeit und Unvorhersagbarkeit dieser Form in ihrer Entstehung wie auch ihre offene Deutbarkeit (die Identifikation des Ikonischen im Klecks ist nie definitiv) lassen sie als Figur begreifen.

135 Ebd., S.  60 ff., vgl. Didi-Huberman, Georges: „Geschenk des Papiers, Geschenk des Gesichts“, in: Ders.: phasmes. Essays über Erscheinungen von Photographien, Spielzeug, mystischen Texten, Bildausschnitten, Insekten, Tintenflecken, Traumerzählungen, Alltäglichkeiten, Skulpturen, Filmbildern. Köln 2001, S. 174–190, hier S. 175–180, vgl. Bogdanov: Iz istorii kljaks, S. 64. 136 Ebd., S. 58 ff. 137 Siehe hierzu Friedrich Weltziens Analyse der Klecksographien Justinus Kerners, die dieser nach einer von ihm hineingesehenen Form zudem sehr stark zeichnerisch ausgestaltete. Weltzien: Fleck, S. 54 ff. 138 Ebd., S. 70–83.

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In diesem kunsthistorischen Kontext eröffnet sich eine neue Perspektive auf die Valenzen des Kleckses. Indem dieser als künstlerisches Bildgebungsverfahren genutzt wird, hat er über seine Erzeugung mit Tinte, Feder und Papier zugleich eine mediale und assoziative Nähe zum Schreibakt. Dabei wird er nicht als eine nicht repräsentierende, zufällig und selbsttätig entstandene Spur des materiellen und körperlichen Erzeugungsakts der Schrift beurteilt, sondern als eine Form, deren Deutung als Bild möglich wird. Damit wird der Klecks zu einem Phänomen mit intermedialem Reflexionspotential, das auf die Bildlichkeit und Materialität der Schrift hinzuweisen vermag, indem es zum Medium der bildenden Kunst wird.

Abbild des Kleckses statt Schatten: Flächigkeit von Bild und Schrift Der Klecks tritt in Hoffmanns Zeichnung anstelle des Schattens auf, der abhandenkam. Als dem Schatten dennoch ähnliches Phänomen – (auf dem Blatt) zweidimensional, dunkel, selbsttätig entstehend  – kann er als Verweis auf ihn verstanden werden, nicht jedoch als Ersatz. Entscheidend ist, dass sich der Klecks der Repräsentation verwehrt, der Schatten von jeher Abbild ist. So verweist die Anwesenheit des Kleckses in Hoffmanns Zeichnung wiederum, anstelle eines bloßen Fehlens, einer Lücke, auf die Abwesenheit des Bildes, der symbolischen Bestimmung. Der schwarze Klecks ersetzt vielmehr das reine Weiß, das Fehlen des Schattens. Er markiert dabei eine bloße Äußerlichkeit, eine flache Anwesenheit, während die Erzählung des Verlusts von Schatten oder Spiegelbild den Verlust des Symbols der Innerlichkeit, die Abwesenheit der Seele anzeigt und damit ebenso eine Verflachung des nun schatten- bzw. spiegelbildlosen Menschen indiziert. Eine weitere Bedeutungsebene darf hier jedoch nicht außer Acht gelassen werden, die im Bildausschnitt durch die Schrift geleistet wird. Die Beschriftung „ein Kleks“ steht mit dem Motiv des Kleckses nicht bloß in einem supplementären Verhältnis, sondern erzeugt überhaupt erst unsere Sicht auf den schwarzen Fleck als Abbildung eines Kleckses. Damit wird jedoch zugleich mit seiner bloßen Materialität gebrochen, die, handelte es sich um einen Klecks ‚ersten Grades‘, gerade die Negation einer Zeichenhaftigkeit wäre. In diesem Fall, also ohne Beschriftung, könnte vielleicht auch erst gar nicht erkannt werden, dass der Klecks Teil des Bildes sein sollte. Dennoch verweist auch der abgebildete Klecks auf die Materialität von Schrift und Bild, ihr Medium der Tinte auf dem Papier, und zeigt dabei, wie oben erläutert, das Fehlen einer Repräsentation an. Damit eignet der Abbildung eines Kleckses ein eigentümlicher, vielleicht metaleptisch zu nennender Zeichencharakter, der an der Schwelle zwischen bloßer Materialität und Referentialität liegt. Diesen ambivalenten Effekt der Abbildung des Kleckses erzeugen Schrift und Bild gemeinsam. Damit entsteht auch an dieser Stelle von Hoffmanns Zeichnung der genannte karikatureske Charakter, der ihr insgesamt eignet. Durch die Banalität des Kleckses als zufälligem und marginalem Alltagsphänomen wird die Dämonie des Motivs von Schatten- und Spiegelbildverlust aus Hoffmanns Erzählung auf humorvolle Weise gebrochen. Dem Klecks wird dabei

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über die explizit schriftlich bestätigte Darstellung als Bildgegenstand zugleich als zufälligem Lapsus, als lächerlicher Nichtigkeit, auf eine wiederum ironische Weise eine besondere Wichtigkeit und Bedeutung verliehen. Der Klecks fügt sich dabei innerhalb von Hoffmanns Poetik in eine Reihe anderer Motive und Figuren des Lächerlichen, deren Bedeutsamkeit in seinem Werk nicht von der Hand zu weisen ist. Als Motiv der Unlesbarkeit ist der Klecks auch ein Motiv des Banalen, Lächerlichen, Alltäglichen, des Philiströsen – des Oberflächlichen. Dieses birgt aber in sich zugleich das Fantastische, geht mit ihm Hand in Hand. Ihre ontologische Überschneidung, die auch in Hoffmanns Kunzischem Riss ausgewiesen wird, stellt gerade jenen Humor dar, der „aus der tieferen Anschauung des Lebens […] sich erzeugt“.139 In diesem Scherz, der humorvollen Herabsetzung des Tragischen, des schicksalhaft Bedeutenden, und der gleichzeitigen Erhöhung des Lächerlichen, des zufälligen Unbedeutenden, besteht auch ein Kommentar zur Performanz von Schreiben und Zeichnen als Akten einer Bedeutsam-Werdung, eines Symbolisch-Werdens des Materiellen. Dessen Eigentätigkeit, dessen widersprüchliches und von gegenseitiger Abhängigkeit geprägtes Zusammenwirken mit der Imagination macht der Klecks als Motiv ebenso in Hoffmanns Erzählungen wie hier als Bild-Motiv immer wieder deutlich.

2.3 Tinte und Melancholie im Fremden Kind Hoffmanns Märchen Das fremde Kind wurde für den zweiten Band der im Jahr 1817 erschienenen Kinder-Mährchen verfasst; im zweiten Band der Serapions-Brüder ließ Hoffmann es, nur durch wenige stilistische Korrekturen verändert, im Jahr 1819 abdrucken. Der Text steht in enger Verbindung mit Hoffmanns im Jahr 1816 (und dann 1818 im ersten Band der Serapions-Brüder) erschienenem Nußknacker und Mausekönig.140 In den Serapions-Brüdern werden beide Texte von Lothar erzählt. Das fremde Kind erntet gerade vor dem Hintergrund des Nußknackers das Lob Ottmars, der es als im Vergleich zu diesem „reineres Kindermärchen“ bezeichnet (das jedoch „einige verdammte Schnörkel“ besitze, „deren tieferen Sinn das Kind nicht zu ahnen vermag“).141 Der Hinweis der anderen Serapions-Brüder, die Märchen Lothars seien nicht unbedingt (nur) für Kinder verfasst, trifft den Kern ihrer Konstruktion und poetologischen Bedeutung, wie im Folgenden am Fremden Kind herausgearbeitet wird. Die Erzählung führt den Bruch mit dem kindlich-unreflektierten Erleben als Beginn und Ende poetischer Produktion ein, was den paradoxen Dreh- und Angelpunkt der Erzählung und ihrer Poetologie ausmacht.

139 H KM, S. 129. 140 Zur Entstehungsgeschichte des Textes vgl. Segebrecht, Wulf: „Kommentar: Das fremde Kind“, in: H IV, S. 1448–1458, hier 1448 ff. 141 H FK, S. 615.

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Die Erzählung, in mehrere Unterkapitel unterteilt, beschreibt das eher einfache Zuhause des Landadeligen Herrn Brakel auf Brakelheim und dessen Familie und verfolgt Erlebnisse seiner Kinder Felix und Christlieb, die sich im Zusammenhang mit dem Besuch des wohlhabenden Vetters Herrn Brakels, dessen Frau und seiner beiden Kinder abspielen. Felix und Christlieb werden als lebensfrohe und neugierige Kinder vorgestellt, die mit Vorliebe im Wald spielen. Die Kinder des vornehmen Verwandten erscheinen als direktes Gegenbild Felix’ und Christliebs: Sie ängstigen sich vor dem, was ihnen nicht bekannt ist und schrecken vor den anderen Kindern, vor dem von deren Mutter gebacken Kuchen und auch vor dem Hund der Familie zurück. Dagegen besitzen sie jedoch ein scheinbar für ihr Alter großes Wissen in Geographie, Biologie, Geschichte und Astronomie, das sie auf die vorführend-testenden Fragen ihres Vaters hin herunterbeten. Die Kinder erscheinen dabei automatenhaft und ihre Kenntnisse in den „Wissenschaften“ oberflächlich: Sie haben diese nicht durch Erfahrung erworben. Vor allem ihre unangemessene Furcht vor dem Hund der Familie, nachdem sie doch gerade ihr Wissen über wilde Tiere präsentiert haben, erweckt das Missfallen und den Spott Felix’ und Christliebs. Diese erhalten von den Kindern des vornehmen Verwandten verschiedene Geschenke, die sie nach einer Weile mit in den Wald nehmen. Sie zerstören dabei jedoch, zunächst unabsichtlich, sowohl Puppe als auch Harfenmann als auch die Jägerfigur, die für ein wildes Spiel im Freien nicht gemacht sind. Die Kinder sind, wie schon zuvor ihren Verwandten gegenüber, beim Ungenügen der Spielsachen in der Konfrontation mit der sinnlichen Erfahrung der Wirklichkeit voller Verachtung. Sie werfen die zerbrochenen Spielzeuge weg. Nach dieser Begebenheit jedoch erscheint ihnen ihr gewohntes freies Spiel im Wald unbefriedigend; sie beginnen zu bedauern, dass sie die Spielzeuge aus Ungeschicklichkeit zerbrochen haben, ja dass sie selbst für diese ungenügend waren. Sie bedauern, dass sie nicht so gebildet sind wie die vornehmen Verwandten, die ja schließlich die „Wissenschaften“ beherrschten. In dieses Bewusstsein der eigenen Beschränktheit, die bereits über ein kindlich-unreflektiertes Erleben hinausgeht und das freie Spiel verhindert, tritt nun das „fremde Kind“142 hinein. Die Kinder erblicken es als ein leuchtendes Gesicht, das aus einem Gebüsch herausscheint. Zugleich wird das Rauschen der Blätter im Wind zu einer Art Melodie. Nun beginnt das Spiel mit dem „fremden Kind“, bei dem Steine in bunten Farben zu schimmern beginnen, Blumen sich in wachsende Ranken und Wasserbäche verwandeln und Grashalme zu belebten, sprechenden Figuren werden. Das Spiel gipfelt im Flug mit dem „fremden Kind“ und in seinem Abschiedslied, bei dem die Vögel und der Wald zu Felix und Christlieb sprechen: Da faßte das fremde Kind sie bei den Händen und rief: Kommt, kommt! und damit ging es fort. Aber das war ja gar kein Laufen zu nennen! – Nein! Die Kinder schwebten im leichten Fluge durch Wald und Flur und die bunten Vögel flatterten laut singend und jubilierend um sie her. Mit einem

142 H FK, S. 584.

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Mal ging es hoch – hoch in die Lüfte. „Guten Morgen Kinder! Guten Morgen Gevatter Felix!“ rief der Storch im Vorbeistreifen! Tut mir nichts, tut mir nichts – ich freß’ euer Täublein nicht! kreischte der Geier, sich in banger Scheu vor den Kindern durch die Lüfte schwingend […]. […] Nun nahm das Kind ein kleines Waldhorn hervor, dessen goldne Windungen beinahe anzusehen waren, wie leuchtende Blumenkränze und begann darauf so herrlich zu blasen, daß der ganze Wald wundersam von den lieblichen Tönen widerhallte, und dazu sangen die Nachtigallen, die wie auf des Waldhorns Ruf herbeiflatterten und sich dicht neben dem Kinde in die Zweige setzten, ihre herrlichsten Lieder.143

Der spätere Bericht vor den Eltern macht nicht nur deren Unverständnis sowie deren Meinung deutlich, es habe sich um ein verkleidetes Nachbarskind oder einen Traum gehandelt. Er zeigt das „fremde Kind“ auch als vom Geist des Kindes abhängige Projektion, die sich darin äußert, dass es in Christliebs Erinnerung ein Mädchen, in Felix’ Erinnerung jedoch ein Junge gewesen ist. Die Erfahrungen der Kinder im Wald – das Gespräch mit dem „fremden Kind“, das Pflanzen, Tiere und Menschen in einer Sprache und harmonischen Bewegung im schwerelosen Flug vereint – erscheinen als Figuren im frühromantischen Sinne. Nach seiner Heimat gefragt, betont das „fremde Kind“, diese könnten Felix und Christlieb niemals erreichen, jedoch vermöchte es seine Beschreibung, eine Ahnung des Sehnsuchtsortes zu vermitteln. Die Imagination erzeugt ein harmonisches Zusammenspiel von Laut, Sprache und visuellen Formen, die sich als Projektion des kindlichen Geistes darstellt: Ursprache und Urschrift sind Figuren, die die Einbildungskraft selbsttätig erkennt und erschafft. Dass Hoffmann etwa Ludwig Tiecks arabesk anmutende visuelle Beschreibungen eines solchen poetischen Zusammenspiels oder Philipp Otto Runges gemalte Arabesken zitiert, ist oft bemerkt worden;144 vor allem die Beschreibung der Feste der Feenmutter, bei denen Kinder auf dem Regenbogen tanzen, erweckt den Eindruck eines direkten Zitats: Vor allen liebt meine Mutter aber die Kinder und daher kommt es, daß die Feste, die sie in ihrem Reiche den Kindern bereitet, die schönsten und die herrlichsten sind. Da geschieht es denn wohl, dass schmucke Geister aus dem Hofstaat von meiner Mutter keck sich durch die Wolken schwingen und von einem Ende des Palastes bis zum andern einen in den schönsten Farben schimmernden Regenbogen spannen. […] Aber sowie die Musik losgegangen, wird alles im Palast, im Walde, im Garten laut und lebendig. Viele tausend blank geputzte Kinder tummeln sich im Jauchzen und Jubeln umher. Bald jagen sie durchs Gebüsch und werfen sich neckend mit Blumen, bald klettern sie auf schlanke Bäume und lassen sich vom Winde hin und her schaukeln, bald pflücken sie goldglänzende Früchte, die so süß und herrlich schmecken wie sonst nichts auf der Erde, bald spielen sie mit zahmen Rehen […]; bald rennen sie keck den Regenbogen auf und nieder oder besteigen gar als kühne Reuter die schönen Glasfasanen, die sich mit ihnen durch die glänzenden Wolken schwingen.145

143 H FK, S. 587 f. 144 Schnapp, Friedrich: „Die Heimat des fremden Kindes“, in: Mitteilungen der E. T. A. HoffmannGesellschaft. H. 21 (1975), S. 38–41, Segebrecht: „Kommentar: Das fremde Kind“, S. 1452. 145 H FK, S. 594 f.

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Doch die Negation dieses selbstreflexiven Formenspiels, das seine eigene Harmonie gerade in dieser ständigen Bewegtheit und Lebendigkeit ausstellt, folgt bald darauf. Das „fremde Kind“ berichtet von den bösen Taten des Geists Pepser, eines früheren Ministers der Feenmutter, der von Anfang an auf die Zerstörung dieser Harmonie aus gewesen sei. Pepser ist ein „Elementargeist“,146 dessen Taten ebenso zum Reich der Fantasie gehören wie die Harmonie erzeugende Kraft der Feenmutter; von vornherein zeigt sich also das Reich der Fantasie über diese Referenz auf eine romantische Naturphilosophie selbst als im Innersten vom Konflikt geprägt147 (wobei Hoffmann als seine Hauptquelle den Roman Graf von Gabalis oder Gespräche über die verborgenen Wissenschaften mit Bezügen zum Gedankengut der Rosenkreuzer und der Kabbala angab [nach der deutschen Übersetzung aus dem Französischen von 1782])148. Pepsers zerstörerisches Prinzip richtet sich vor allem gegen die Leichtigkeit des Fluges, den er im wahrsten Sinne erschwert und unterbricht. Pepser zeigt sich als eine Art Erdgeist, der das luftige Wirken der Feenmutter im Himmel an das ‚Untere‘ rückbindet und herabzieht: Er hatte der Königin vorgespielt, dass er die Kinder erst recht lustig und gescheut machen wolle, stattdessen hing er sich zentnerschwer an den Schweif der Fasanen, so daß sie sich nicht aufschwingen konnten, zog er die Kinder wenn sie auf Rosenbüschen hinaufgeklettert, bei den Beinen herab, dass sie sich die Nasen blutig schlugen, zwang er die, welche lustig laufen und springen wollten, auf allen Vieren mit zur Erde gebeugtem Haupte herum zu kriechen. […] Das Abscheulichste war aber wohl, daß er mit Hülfe seiner Gesellen die schönen funkelnden Edelsteine des Pallastes, die bunt schimmernden Blumen, die Rosen und Lilienbüsche, ja selbst den glänzenden Regenbogen mit einem ekelhaften schwarzen Saft zu überziehen wußte, so daß alle Pracht verschwunden und alles tot und traurig anzusehen war. Und wie er dies vollbracht, erhob er ein schallendes Gelächter und schrie, nun sei erst alles so wie es sein solle, denn er habe es beschrieben.149

Was hier „beschreiben“ heißt, ist ein Akt der Defiguration, der als solcher in die selbstreflexive Darstellung des romantischen Spiels der Imagination ‚hineingeschrieben‘ ist. Pepsers Tun spiegelt sich zunächst außerhalb der phantastischen Welt des Waldes im Magister Tinte, der den Kindern als Hauslehrer vom vornehmen Vetter des Vaters geschickt wird, damit sie nun auch wie seine eigenen Kinder die „Wissenschaften“ erlernen sollen. Der immer schwarz gekleidete Magister Tinte erweist sich als sadistisch veranlagter Schulmeister, der vor allen Dingen den Freiheitsdrang der Kinder verachtet. Als Herr von Brakel ihn schließlich überzeugt hat, einmal mit den Kindern einen Waldspaziergang zu unternehmen, hebt er damit die bisher von den Erwachsenen nicht überschrittene Grenze zum Reich der Imagination auf. Der Wald, als traditionsreiches

146 Segebrecht: „Kommentar: Das fremde Kind“, S. 1456. 147 Vgl. ebd., S. 1458. 148 Vgl. ebd., S. 1458. 149 H FK, S. 597.

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Motiv für den noch ungeformten Stoff einer künstlerischen Bearbeitung und damit ideales Bild für die romantische Imagination, deren Form selbst chaotisch und ständig wandlungsfähig ist (siehe hierzu das vorige Kap. 2.2), gibt auch dem Magister eine neue Form: In einer ungeheuerlichen Metamorphose verwandelt er sich vor den Augen der Kinder in eine groteske Fliege mit menschlichem Gesicht, die, gleichsam als Offenbarung des Geists Pepser im Magister Tinte, nun Jagd auf das „fremde Kind“ macht. Die Raumsemantik, die die Erzählung zuvor in eine binäre räumliche Ordnung von Imagination (Wald) und Alltagsrealität (Haus) gliederte,150 ist damit aufgehoben. Dies geht einher mit einer kritischen Problematisierung von Kindheit und Erwachsenensein sowie Imagination und Wirklichkeit. Der Magister kehrt als Fliege zum Haus Brakels zurück, wo er sich trudelnd und brummend auf die Milchschüssel stürzt und eine solche Verwüstung anrichtet, dass der Vater den Magister Tinte schließlich mit einer großen Fliegenklatsche verscheucht. Die Konfrontation mit der ungeheuerlichen, wahr gewordenen Imagination eines Magisters Tinte, der sich in eine teuflische Fliege gewandelt hat, bleibt nicht ohne Folgen. Herrn Brakel erfasst eine schwermütige Stimmung, in der er den Verlust seiner Kindheit und Imaginationskraft bedauert; schließlich stirbt er. Das Märchen schließt mit dem Abschied der Kinder vom Heim, das sie mit ihrer Mutter verlassen müssen. Es ist zugleich der Abschied von der Kindheit und dem „fremden Kind“, das ihnen ein letztes Mal erscheint, sie jedoch, wie es schließlich heißt, nie ganz verließ, denn „noch in später Zeit spielten sie in süßen Träumen mit dem fremden Kinde, das nicht aufhörte, ihnen die lieblichsten Wunder seiner Heimat mitzubringen.“151 Pepsers „schwarzer Saft“, der alle zuvor so harmonische Gestalt und freudige Bewegung der Imagination formlos werden lässt, und der Zug zum Boden, der von ihm ausgeht, zitieren explizit die alte Metaphorik der Melancholie. Diese stammt ursprünglich aus der antiken Säftelehre, blickt aber natürlich um 1800 auf eine sehr lange Zeit der Verschiebung, Erweiterung und Entfaltung der mit ihr verbundenen Vorstellungen seit ihrer ersten Erwähnung um 400 v. Chr. (in einem laut Galen im Altertum entweder Hippokrates oder Polybos zugeschriebenen Text)152 zurück. Zudem hatte die Melancholie im achtzehnten Jahrhundert bereits eine Geschichte der Loslösung von ebendiesen ihren medizingeschichtlichen, im weiteren Kontext ihren physiologisch-psychologischen

150 Dies scheint hier als ein ideales Beispiel für Jurij Lotmans Begriff des Ereignisses als Überschreitung einer semantischen und zugleich räumlichen Grenze innerhalb des narrativen Topos. Lotman, Jurij M.: Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a. M. 1973, S. 347, S. 357. 151 H FK, S. 615. 152 Klibansky, Raymond/Panofsky, Erwin/Saxl, Fritz: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1998, S. 46; Heidbrink, Ludger: Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung. München 1994, S. 25.

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und anthropologischen Wurzeln durchlaufen.153 Hoffmann zitiert jedoch bewusst die Metaphorik der schwarzen Galle, eines „zähen, klebrigen, nach der Erhitzung teerähnlichen Stoff[s] von widerwärtigem Geruch“,154 dessen Übergewicht vor den anderen drei Säften sowohl Trübsinn als auch Raserei auslösen kann. Doch ebenfalls die später in der abendländischen Vorstellung so bedeutsam gewordene Annahme einer auf widersprüchliche Weise melancholischen Wurzel befähigender, künstlerischer Potentiale hat bereits in der Antike ihre Ursprünge.155 Während Hoffmann erneut die melancholische Disposition des poetischen Schöpfertums thematisiert, stellt er dies einerseits in einen Bezug zur romantischen Ästhetik der Selbstreflexion, wovon im Folgenden noch zu reden ist. Hierbei besteht zudem ein starker Bezug zu einer Aufklärungskritik. Zugleich jedoch lässt Hoffmann das Motiv des schwarzen Saftes in einem elementaren Kampf von Elementen der Imagination als Naturgeistern auftreten, der eine naturphilosophische Implikation zu besitzen scheint. Damit nimmt er – wenn auch natürlich in für Hoffmann gewohnter spielerischer Weise – den ursprünglich kosmologischen Ansatz der antiken Säftelehre im Rahmen einer Annahme von Urelementen auf.156 Pepser wird als Elementargeist der Erde und ihrer Schwerkraft zugeordnet, die die Kinder zu Boden zerrt. Die Darstellung eines Widerstreits von fiktiven Personen, die bestimmten Elementen zugeordnet sind, begegnet auch bereits im Goldenen Topf, der ebenso Anleihen in der Alchemie und der Mystik tätigt. Hoffmanns Fremdes Kind schlägt in eine ähnliche Richtung. Die Überlagerung von Pepser und Magister Tinte in der Figur der Fliege zitiert zugleich eine spätere, bedeutsame Verbindung der Melancholie mit dem Dämonischen bzw. Teuflischen. Die Fliege ist etwa in der kabbalistischen Literatur Symbol des Teufels (der Teufel als „Herr der Fliegen“ [Beelzebub, hebr. Ba’al ze wuw]) und wurde als solches auch um 1800 oft literarisch verarbeitet (der Teufel als „Fliegenkönig“ bei Jean Paul, als „Fliegengott“ in Goethes Faust I, V 1334).157 Die Verquickung von Melancholie und Teufels- bzw. Dämonenglaube im Mittelalter, in der Zeit der Renaissance und später, bei der melancholische Disposition und Dämon die Positionen von Ursache, Wirkung bzw. Symptom oder auch von Gegenstand und Attribut wechseln,158 erfährt auch bei

153 Schings, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 248. 154 Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 26; vgl. Starobinski, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlungen von den Anfängen bis 1900. Basel 1960, S. 14 ff. 155 Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 26; Flashar, Helmut: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike. Berlin 1966, 356 ff., S. 711 ff. 156 Klibansky/Panofsky/Saxl: Saturn und Melancholie, S. 40. 157 Segebrecht: „Kommentar: Das fremde Kind“, S. 1458. 158 Starobinski, Jean: „Die Tinte der Melancholie“, in: Clair, Jean (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Ostfildern 2005, S. 24–33, hier S. 25. Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr. Zur Mediologie des 18. Jahrhunderts. 2., durchges. Aufl. München 2003, S. 56.

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Hoffmann einen Widerhall.159 Hoffmanns Symbolik des schwarzen Saftes, der den Höhenflug bremst, die leicht-beweglichen, differenten Formen zu einer trägen Masse verschweißt und schließlich mit dem Teuflischen einer ebenso träge brummenden Fliege zusammentrifft, schließt sich an diese Geschichte der Melancholie an. Die Szenerie der Imagination, in die das „fremde Kind“ Christlieb und Felix einführt, ist von Beginn an nur in jenem Kampf einer erhebenden beweglichen Figuration und in die Tiefe ziehender, die Bewegung negierender Defiguration erfahrbar. Auch das Brummen der Teufelsfliege, in die sich der Magister Tinte verwandelt, lässt sich vor der Sprache des Waldes, die den Kindern durch das „fremde Kind“ verständlich wurde, als Defiguration lesen: „[…] Der Gnome Pepser hat sich eurer bemächtigt, o ihr armen Kinder, lebt wohl – lebt wohl!“ – Und damit schwang sich das fremde Kind hoch in die Lüfte. Aber hinter den Kindern brummte und summte und knarrte und scharrte es auf entsetzliche grausige Weise. Der Magister Tinte hatte sich umgestaltet in eine große scheußliche Fliege, und recht abscheulich war es, daß er dabei doch noch ein menschliches Gesicht, und sogar auch einige Kleidungsstücke behalten. Er schwebte langsam und schwerfällig auf, offenbar um das fremde Kind zu verfolgen.160

Die Fliege ist zudem Symbol für das Nichtige, die Nähe zum Abfall, zum Abgestoßenen, als dessen Metonymie sie zugleich gelten kann.161 Während ihre Symbolik einerseits bestimmt, dass sie gerade winzig ist, aber als umso verachtenswerter angesehen wird, als sie eben den verschwindend kleinen und doch immer und überall daseienden Störfaktor darstellt, wird sie bei Hoffmann aber grotesk vergrößert. Als Magister Tinte mit einem menschlichen Gesicht erhält sie eine erschreckende Präsenz. Dabei ist Hoffmanns Gebrauch der alten Symbolik der Melancholie und des Teuflischen eingebunden in eine Aufklärungskritik, innerhalb derer die Lehr- und Lernmethoden des Magisters Tinte – und die Kinder des vornehmen Vetters, diese automatenhaften Puppen, als deren Resultat – die Schreckensvisionen eines Romantikers darstellen. Die Erzählung warnt vor der Abkehr von innerlich erlebter Naturerfahrung und der Verachtung gegenüber einer weltabgewandten Imagination. Das aufklärerische „Beschreiben“ (Pepser sagt, er habe die Feenwelt „beschrieben“, s.o.) steht gegen die romantische imaginative Erfahrung des „Fremden“ (des „fremden Kinds“ im geheimnisvollen Wald). Der Wald ist dabei zugleich ein Refugium, in dem den Kindern eine solche Erfahrung wiederholt zugänglich wird, innerhalb

159 Vgl. Starobinski: „Die Tinte der Melancholie“, S. 25: „Für einen Menschen des 16. Jahrhunderts ist das Reich der Melancholie das Reich des Genies, zu dem das schöpferische Vermögen ebenso gehört wie die teuflischen Künste.“ 160 H FK, S. 604. 161 Vgl. zur Fliege als Symbol des Nichtigen und Teuflischen und ihre Evolution als literarisches und künstlerisches Symbol gerade für literarische und künstlerische Tätigkeit, hier allerdings im russischen Diskurs Hansen-Löve, Aage A.: „Muchi – russkie, literaturnye“, in: Studia Literaria Polono-­ Slavica 4 (1999), S. 95–132; hier S. 95 f.

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dessen sie sich ganz in die Innenwelt des Imaginären und dessen unendlichen Potentials zurückziehen können. Die Außenwelt ist auf der anderen Seite nur noch beschränkendes Gitter der Fakten und des Zwangs ihrer verständnis- und geistlosen Wiederholung (im Unterricht des Magisters). Sie verhindert eine Entfaltung oder Selbstverwirklichung, die sich umso schillernder als Freiheit des Inneren im Wald den Kindern darbietet.162 Doch muss zudem hervorgehoben werden, dass die Mangelerfahrung des Selbst vor den Maßstäben einer aufklärerischen Bildung zugleich als die Bedingung eingeführt wird, vor der sich die kindliche Imagination im Wald bei der ersten Begegnung mit dem „fremden Kind“ überhaupt entwickelt. Denn das „fremde Kind“ tritt ja, wie oben bereits beschrieben, gerade erst in dem Moment in Erscheinung, als die Kinder sich ihres Ungenügens vor der Bildung der Verwandten bewusst werden, also ihr unbewusstes Kinderspiel bereits hinter sich lassen. Dies ist für die Selbstverortung dieser Erzählung von zentraler Bedeutung: Das Märchen ist nicht wirklich ein Kindermärchen (wie oben bemerkt, wird dies in der Sammlung der Serapions-Brüder auch explizit gesagt). Denn es zeigt die Welt der Imagination als ständigen sehnsüchtigen Reflex im Konflikt mit der Begrenztheit des eigenen Selbst, die wiederum gerade durch die Bewusstwerdung entsteht. So beschreibt etwa auch Heinrich Heine den Unterschied einer romantischen Leseerfahrung und der imaginativen Erfahrung, die er als Kind beim Lesen (des Don Quixote) machte.163 Dabei schien ihm, als läsen alle Vögel und Blumen des Gartens mit ihm zugleich das Buch, als würden sie gleich ihm mit dem Ritter leiden. Seine Leseerfahrung ist mit der sinnlichen Erfahrung des Buchs in seinen Händen und des Vogelgesangs um ihn herum verknüpft. Er macht zwischen Imagination und Realität keinen Unterschied. Schließlich bemerkt er: „Ich war ein Kind und kannte nicht die Ironie […]“164. Die Kinder Christlieb und Felix sind nicht mehr so unbewusst in ihr Spiel vertieft, als das „fremde Kind“ erscheint. So ist der Kampf zwischen Pepser und den Feen, die es schildert, zugleich eine elementare Bedingung seiner eigenen Existenz, der Imagination, deren Feind oder Hinderungsgrund er doch zu sein scheint. So lässt sich die Dynamik von Figuration und Defiguration, die mit der Erscheinung des „fremden Kindes“ und der Beschreibung seiner Heimat eingeführt wird, als Ahnung

162 Vgl. zur Innerlichkeits- und Naturflucht als Reaktionsweisen auf den gesellschaftlichen Ausdifferenzierungsprozess im Kontext der Aufklärung und ihres „Glücksideals, an dem das Streben nach individueller Selbstverwirklichung scheitert“ (S. 33): Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 33 ff.; vgl. Schings: Melancholie und Aufklärung, S. 246 ff. 163 Heine, Heinrich: „Einleitung zu Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha“, in: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd.  4. München 1971, S.  151–170; siehe die Reflexionen über die kindliche Leseerfahrung, die Heine beschreibt, als eine Erfahrung „wilden Lesens“ bei Assmann, Aleida: „Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95–111. 164 Heine: „Einleitung zu Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha“, S. 152.

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einer Erkenntnis des Absoluten begreifen, die jedoch in sich von vornherein gebrochen ist. Die Bedingung der Möglichkeit zur Einsicht in jenes Absolute stellt sich dabei als der eigene Beschränkungs- und Verunmöglichungsgrund dar. Denn die Erkenntnis(-fähigkeit) ist selbst der Grund für die Entzweiung (die Zeitlichkeit, die Fragmentierung des Unendlichen) und wird zugleich als Bedingung für ihre Aufhebung eingesetzt. Das Unendliche wird so immer erahnt, ersehnt, jedoch nie erreicht (die Heimat des „fremden Kindes“ bleibt immer fern).165 Ähnlich wurde zuvor in dieser Studie der Bezug zum biblischen Sündenfall im Goldenen Topf erklärt, der sich als nie endender Zyklus aus Figuration und Defiguration darstellte. Letztlich heißt das: Der Innenraum einer Selbstreflexion ist schon von vornherein durch seine Abgegrenztheit von einem Außen, innerhalb derer die Selbstreflexion sich als entfaltet, ein melancholischer Raum.166 Die Andeutung der Überwindung dieser Melancholie verbleibt doch immer zugleich darin. Ebendies macht den paradoxen Kern einer romantischen Poetik aus. Hoffmann führt sie am gerade nicht mehr kindlichen, auf das gerade noch Kindliche zurückschauenden Bewusstsein vor. Auch die Melancholie des Vaters Brakel, dessen alltägliches, von jeglicher Imagination befreites Dasein durch den Übertritt des Magisters in Fliegengestalt mit der Welt der Imagination gebrochen und hinterfragt wird, lässt sich hieraus erklären. Ganz ähnlich dem Studenten Anselmus im Goldenen Topf betrauert er den Abschied vom Wunderbaren, das er einst erlebt hatte und demgegenüber ihm nun der Alltag schal und unwert erscheint.167 Es ist die Unwiederbringlichkeit dessen, das er nur zu erinnern, nicht aber ins Zukünftige zu projizieren vermag. Dies führt zum Schluss, dass die Tintenkleckserei des Gnomen Pepser keinesfalls rein negativ als Symbolik des „toten Buchstabens“168 zu begreifen ist. Vielmehr ist

165 Vgl. Schnapp, Friedrich: „Die Heimat des fremden Kindes“, S. 38 f. 166 Vgl. Heidbrink: Melancholie und Moderne, S. 34 f., S. 87: „Die Sehnsucht nach dem Absoluten und das Wissen um dessen Unmöglichkeit machen aus der Ironie das Medium einer melancholischen Ganzheitsreflexion, die an den Grenzen des Ganzen scheitert und doch vom Wunsch nach dessen Einheit beseelt bleibt.“; vgl. Pikulik, Lothar: Romantik als Ungenügen an der Normalität. Am Beispiel Tiecks, Hoffmanns, Eichendorffs. Frankfurt a. M. 1979, S. 174–194. 167 H GT, S. S. 250 f.: „Wohl darf ich geradezu dich selbst, günstiger Leser, fragen, ob du in deinem Leben nicht Stunden, ja Tage und Wochen hattest, in denen dir all dein gewöhnliches Tun und Treiben ein recht quälendes Mißbehagen erregte und in denen dir alles, was dir sonst recht wichtig und wert in Sinn und Gedanken zu tragen vorkam, nun läppisch und nichtswürdig erschien? Du wußtest dann selbst nicht, was du tun und wohin du dich wenden solltest; ein dunkles Gefühl, es müsse irgendwo und zu irgendeiner Zeit ein hoher, den Kreis alles irdischen Genusses überschreitender Wunsch erfüllt werden, den der Geist, wie ein strenggehaltenes furchtsames Kind, gar nicht auszusprechen wage, erhob deine Brust, und in dieser Sehnsucht nach dem unbekannten Etwas, das dich überall, wo du gingst und standest, wie ein duftiger Traum mit durchsichtigen, vor dem schärferen Blick zerfließenden Gestalten umschwebte, verstummtest du für alles, was dich hier umgab.“ Vgl. Pikulik: Romantik als Ungenügen an der Normalität, S. 234 ff. 168 Dies macht Schäfer, Bettina: „Das fremde Kind“, in: Kremer (Hg.): E. T. A. Hoffmann, S. 310–314,

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die Kleckserei des „Beschreibens“ zugleich in einem älteren, heute nicht mehr gebräuchlichen Sinne dieses Wortes als „Schreiben“ identifizierbar,169 das mit seinem Material und seinen Instrumenten von Papier, Feder und Tinte vor sich geht. Auch diese Metaphorik zählt zum Bildschatz der Melancholie und wurde zahlreich bereits in der Renaissance gebraucht; nicht zuletzt und nicht zufällig findet sich in Dürers Melencolia I auch die Darstellung eines Tintenfasses.170 Immer wieder wird die dunkle Materie der Schrift „Tinte poetischer Nekromantie / Macht dies Wasser [das „Wasser der Hoffnung“ in der „Tiefe des Brunnens der Melancholie“, C. S.] mir flüssig, doch greif ich zum Kiel, / Kommt Fortuna, zerreißt mein Papier wie zum Spiel“ – so heißt es beim Dichter Charles d’Orléans (1394–1465).171 Die Tinte wird hier zum Bild schöpferischer geistiger Arbeit, wie Jean Starobinski betont hat.172 Sie ist das Symbol einer Hoffnung auf Formbarkeit des tiefen Wassers durch denjenigen, der sich so passiv immer wieder in seine Tiefen hineinstürzen sieht. Das Bild der Defiguration, das die ungeformte Masse des tiefen Wassers als Tinte darstellt, meint also das Potential der Poiesis, mit dem das schreibende Subjekt von Positivität beseelt wird. Der Riss der Seite, der auf dem Fuße folgt, deutet wiederum auf die das Subjekt in die Tiefe des Brunnens zurückstoßende Defiguration der Negativität. Die wie schwarze Galle träge Masse der Tinte kann damit bei Hoffmann als Symbol dieser Ambivalenz angesehen werden, als Begrenzung, Erschwerung eines imaginativen Aktes und doch zugleich als Grund einer Hoffnung, die sich in schöpferischer

hier S. 312. 169 Grimm, Jacob und Wilhelm: „Beschreiben“, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd 1. Leipzig 1854, Sp. 1592–1594, hier Sp. 1593. 170 Vgl. Starobinski: „Die Tinte der Melancholie“, S. 29. 171 Siehe Original und Übersetzung in der hier zitierten Ausgabe von Starobinskis Aufsatz „Die Tinte der Melancholie“. Das Original wird dabei zitiert nach d’Orléans, Charles: Poésies. Rondeaux. Hg. v. Pierre Champion. Bd. 2. Paris 1924, CCCXXV: Ou puis parfont de ma merencolie / L’eau d’Espoir que ne sesse tirer, / Soif de Confort la me fait desirer, / Quoy que souvent je la treuve tarie. Necte la voy ung temps et esclercie, / Et puis aprés troubler et empirer, / On puis parfont de ma merencolie / L’eaue d’Espoir que ne cesse tirer. D’elle trempe mon ancre d’estudie / Quant j’en escrips, mais pour mon cueur irer, / Fortune vient mon pappier dessirer, / Et tout gecte par sa grant felonnie / Ou puis parfont de ma merencolie. (In der Tiefe des Brunnens der Melancholie / Quillt mir Wasser der Hoffnung, beständig mein Ziel / Mich nach Tröstung lässt sehnen und dürsten so viel / Stets versiegender Schimmer, wenn ich zu ihm flieh’. Für den Augenblick Klarheit und Reinheit wie nie, / Dann gleich trüb Undurchschaubares, schlammiger Siel, / In der Tiefe des Brunnens der Melancholie / Quillt mir Wasser der Hoffnung, beständig mein Ziel. Meine Tinte poetischer Nekromantie / Macht dies Wasser mir flüssig, doch greif’ ich zum Kiel, / Kommt Fortuna, zerreißt mein Papier wie zum Spiel / Und wirft alles zum Zorn mir und voll Felonie / In die Tiefe des Brunnens der Melancholie.) 172 Ebd., S. 28 ff.

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Produktivität ausdrückt.173 Bei Hoffmann ist sie von vornherein als Symbol Teil des imaginativen Aktes, der durch den Konflikt von Positivität und Negativität überhaupt konstituiert wird.

173 Vgl. zum Begriff der Poiesis als poetischer Produktivität in der Romantik: Zill: „Produktivität/ Poiesis“, S. 60–63.

3 Lust an der Makulatur 3.1 „ Künstlich geordnete“ Makulatur: Lebens-Ansichten des Katers Murr E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern besitzen zwei Entstehungsgeschichten, die gleichsam auf die ‚Doppeltheit‘ der schriftlichen Medien um 1800 – Handschrift und Druck – und ihre genetische Ordnung hinweisen.174 Die genetische Abfolge von Handschrift und Druck wird dabei durch die uns über das Herausgeber-Vorwort vermittelte Entstehungsgeschichte des Murr-Manuskripts subvertiert: Laut Herausgeber ist in Murrs Autobiographie auch all jenes, was aus der Handschrift, dem noch nicht in seiner idealen Form vorliegenden Text, herausgestrichen werden sollte, auch im gedruckten Text vorhanden. Aber, so die zweite Umkehrung der genetischen Ordnung von Handschrift und Druck: Dieser unbeabsichtigt mit abgedruckte (Abfall-)Text des Manuskripts war ursprünglich selbst ein bereits gedrucktes Buch, das vom Autor Murr zum Abfall erklärt und nur als solcher, als rein materielle Schreibunterlage, in seinen Text geriet. Vorwort des Herausgebers. Keinem Buche ist ein Vorwort nötiger, als gegenwärtigem, da es, wird nicht erklärt, auf welche wunderliche Weise es sich zusammengefügt hat, als ein zusammengewürfeltes Durcheinander erscheinen dürfte. […] Nach sorgfältiger Nachforschung und Erkundung erfuhr der Herausgeber endlich folgendes. Als der Kater Murr seine Lebensansichten schrieb, zerriß er ohne Umstände ein gedrucktes Buch, das er bei seinem Herrn vorfand, und verbrauchte die Blätter harmlos teils zur Unterlage, teils zum Löschen. Diese Blätter blieben im Manuskript und – wurden, als zu demselben gehörig, aus Versehen mit abgedruckt! De- und wehmütig muß nun der Herausgeber gestehen, daß das verworrene Gemisch fremdartiger Stoffe durcheinander lediglich durch seinen Leichtsinn veranlaßt, da er das Manuskript des Katers hätte genau durchgehen sollen, ehe er es zum Druck beförderte, indessen ist noch einiger Trost für ihn vorhanden.

174 Das folgende Kapitel 3 stellt die Ergebnisse einer weiteren Ausarbeitung meiner bereits in einem Aufsatz publizierten Vorarbeiten zur Analyse des Romans Lebens-Ansichten des Katers Murr und einiger diesem konzeptuell zuzuordnender handschriftlicher Zeugnisse Hoffmanns vor. Schubert, Caroline: „Der klecksende Autor. Gesten der Fiktionalisierung bei E. T. A. Hoffmann“, in: Efimova, Svetlana (Hg.): Autor und Werk. Wechselwirkungen und Perspektiven. Textpraxis. Digitales Journal für Philologie (2, 2018), Sonderausgabe #3. https://doi.org/10.1515/9783110705140-007



„Künstlich geordnete“ Makulatur: Lebens-Ansichten des Katers Murr 

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Fürs erste wird der geneigte Leser sich leicht aus der Sache finden können, wenn er die eingeklammerten Bemerkungen, Mak. Bl. (Makulatur-Blatt) und M. f. f. (Murr fährt fort) gütigst beachten will […].175

Der Drucktext ist somit der Aussage des Herausgebers zufolge nicht nur seiner idealen, finiten Form verlustig gegangen. Das Vorwort offenbart darüber hinaus diesen Verlust der Form als durch die Nachlässigkeit des Herausgebers verursacht. Der Herausgeber präsentiert sich hier nicht nur als unzuverlässig, sondern stellt zugleich durch seine spätere minuziöse Sichtung des Murr-Teils, in den er nachträglich seine spöttischen Anmerkungen sowie seine Kürzel zur Trennung der Teile eingefügt hat, gerade seine ursprünglich nicht erfüllte „Funktion als erster Leser“ heraus.176 Dies ist als eine paradoxe performative Geste der sich selbst dementierenden Setzung des Herausgebers zu sehen, der seiner Rahmungsfunktion, indem er sie ausführt, zugleich nicht gerecht wird.177 Obwohl die schlussendliche Verwirrung der beiden Teile im Roman auf die Nachlässigkeit des Herausgebers zurückzuführen ist, der seiner Lesepflicht zunächst nicht nachkam, fügt er noch einige Hiebe an die Setzer im Allgemeinen, und im Speziellen den Setzer dieses Romans an, dessen 14 Druckfehler von ihm aufgelistet werden. Diese Setzer- bzw. Druckerschelte setzt sich über die empörte Anmerkung des Herausgebers zu dem mitabgedruckten zweiten Vorwort Murrs fort, das eigentlich wegen seines unangemessenen prahlerischen Tons unterdrückt werden sollte.178 In der vorliegenden druckschriftlichen Form, die der Verantwortung der Zusammenarbeit von Herausgeber und Drucker unterlag, drückt sich die vorangegangene Kleckserei und Reißerei des Katers durch:179 In der Druckschrift müssen diese Bruchstellen typographisch wiedergegeben werden, sodass die Einschübe des Herausgebers – „Mak. bl“ und „M.f.f.“ – nicht nur die beiden Teile in eine Ordnung zu bringen versuchen, sondern auch diese Bruchstellen bestätigen.180 Interessanterweise haben spätere wirkliche Herausgeber es dem fiktiven Herausgeber des Romans, der die Bruchstellen durch seine Einschübe zu glätten versucht, unreflektiert nachgetan. Beim Einsetzen des ersten ‚Makulaturblattes‘, das die Lesenden unmittelbar mit einem Gespräch zwischen Meister Abraham und Johannes Kreisler konfrontiert, finden sich in heutigen Ausgaben zumeist zunächst doppelte Anführungsstriche und zusätzlich ein einfacher Anführungsstrich, die als typographische Lesehilfen dienen. Dies betrifft auch die sich selbst als „historisch-kritische

175 H KM, S. 12. 176 Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800 (Wieland, Goethe, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann). München 2008, S. 381. 177 Ebd., S. 380 ff. 178 Vgl. ebd., S. 386 f. 179 Vgl. die Ausführungen zur impliziten Druck-Szene des Romans, die eine „implizite Schreib-Szene ergänzt“ bei Wirth: Die Geburt des Autors, S. 413. 180 Vgl. ebd., S. 382.

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 Lust an der Makulatur

Ausgabe“ bezeichnende Edition von Carl Georg von Maassen (siehe das folgende Zitat). Eine Ausnahme stellt die Ausgabe der Sämtlichen Werke dar, herausgegeben von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke.181 (Mak. Bl.) „‚– – und erinnern Sie sich, gnädigster Herr, denn nicht des großen Sturms, der dem Advokaten, als er zur Nachtzeit über den Pontneuf wandelte, den Hut vom Kopfe herunter in die Seine warf? – Ähnliches steht im Rabelais, doch war es eigentlich nicht der Sturm, der dem Advokaten den Hut raubte […].182

Nur durch diese typographische Kennzeichnung können Lesende direkt verstehen, dass sie das Zitat eines Gespräches innerhalb eines Gesprächs zu lesen beginnen (was sonst erst im weiteren Verlauf des Textes erkennbar wäre). Derart hat an dieser Stelle ein pfiffiger Herausgeber eine typographische Rahmung vorgenommen, die ursprünglich keinesfalls beabsichtigt war. Denn in der Erstausgabe finden sich diese Anführungsstriche keinesfalls.183 Dies hat den einfachen Grund, dass solche Anführungsstriche die Fiktion der sich im vorliegenden Kater-Manuskript unvermittelt durchbrechenden Texte stören. Das Fragment des durch den Meister Abraham erzählten Gesprächs mit dem Fürsten, von dem er wiederum Johannes Kreisler berichtet, würden natürlich keine vorangestellten doppelten und einfachen Anführungsstriche einleiten. Die raffinierte Schachtelung dieses ersten MakulaturBlattes führt zudem eine weitere Zitatebene über eine (versteckt) zitierte Textstelle aus Sternes Sentimental Journey through France and Italy ein, in der ein Rabelais zugeschriebenes Makulaturblatt auftaucht.184 Damit wird auf die durchgehende, mal explizite, mal implizite Intertextualität des Romans (sowohl im Murr- als auch im

181 In dieser Ausgabe von Wulf Segebrecht und Hartmut Steinecke wird auf die Anführungsstriche am Anfang des Fragments verzichtet; auch im späteren Verlauf von Meister Abrahams Bericht sind hier keine einfachen oder doppelten Anführungsstriche eingefügt worden: H KM, S. 23 ff. Dies entspricht dem Vorlagetext in der Erstausgabe des Romans, die hier ebenso verfährt. Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann. Berlin 1820, S. 10 ff. 182 E. T. A. Hoffmann: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Mit Einleitungen, Anmerkungen und Lesarten von Carl Georg von Maassen. Neunter und zehnter Band: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. München 1928, S. 14. 183 Auch im weiteren Verlauf des Gesprächs werden direkte Rede und zitierte direkte Rede nicht durch Anführungszeichen gekennzeichnet: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann. Berlin 1820, S. 10 ff. 184 Liebrand, Claudia: „Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. ‚Literarischer Vandalismus‘“, in: Saße, Günter (Hg.): Interpretationen. E. T. A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2004, S. 212–237, hier S. 219.

„Künstlich geordnete“ Makulatur: Lebens-Ansichten des Katers Murr 

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Kreisler-Teil) verwiesen.185 Diese wiederum selbstreferentiell auf das Verfahren und auf das Materialbewusstsein des Textes zielende Einführung des Kreisler-Teils wird durch die eingefügten Anführungsstriche typographisch zu tilgen versucht. Gerade durch die Unreflektiertheit dieser Entscheidung späterer Herausgeber offenbart sich eine höchst komische Fortführung der Poetik des Romans, innerhalb derer sich diese Versuche als vergeblicher druckschriftlicher bzw. typographischer Vereinheitlichungsdrang offenbaren, durch den die Gebrochenheit des vom Kater zerrissenen und beklecksten Textes hindurchdringt. Es liegt also eine zweifache Subversion der Ideale der schriftlichen Medien um 1800 vor: Einerseits die Subversion der Handschrift als authentisches Original – die Masse des in dieses eingeschobenen Textes erweist, dass es sich nicht nur um unbedeutenden Materalabfall handelt. Der Text des Katers war bereits in seiner handschriftlichen Fassung durchzogen von einem anderen Text eines anderen Autors, der in seinem den Katertext übertreffenden Umfang nicht rein als Unterlage oder Löschpapier gedient haben kann, oder selbst wenn, dennoch den Text Murrs selbst überlagerte. Andererseits wird der Drucktextes als finite, ideale Form subvertiert. Durch diese Subversion werden Konzepte von Handschrift und Druck reflektiert, die um 1800 bzw. im späten achtzehnten Jahrhundert entstehen.186 Nicht zuletzt bringt dieser Prozess die Individualisierung der Handschrift als graphischer Spur der Persönlichkeit mit sich.187 Auch werden in diesem Zusammenhang, wie in der Einführung zu dieser Arbeit angesprochen, im Rahmen einer Ästhetik der Empfindsamkeit Fantasien einer Kommunikation reiner Innerlichkeit über Schrift entwickelt, Fantasien eines authentischen Seelenausdrucks gerade über den Tintenstrom, der die kommunizierenden Individuen miteinander verbindet. Die Authentizität einer ursprünglichen Äußerung liegt um 1800 auf Seiten der Handschrift. Dies gilt umso mehr, als in dieser Zeit durch die ständige verfälschende Reproduktion erfolgreicher Texte im Nachdruck ein steigendes Bewusstsein für die auch juristische Notwendigkeit einer Zuordnung des Textreproduktionsrechts zum Autor geschaffen wurde. Der Autor sollte damit als Schöpfer eines geistigen Werks, das in dessen erster Niederschrift seinen primären Ausdruck gefunden habe, das Recht erhalten, die vom Einsatz der originären Autorenhand losgelöste Verschriftlichung dieses Werkes im Druck zu genehmigen oder abzulehnen. Im Zuge dieser Entwicklung entstand das

185 Hier setzen denn auch Analysen des Romans, die sich stark auf Derridas Theorie der Iteration als Aufpfropfung beziehen, an – siehe etwa Sarah Kofmans Analyse. Kofman: Schreiben wie eine Katze; siehe hierzu ausführlicher die folgende Anm. 191. 186 Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin 2016, S. 166 f. 187 Vgl. Macho, Thomas: „Handschrift – Schriftbild. Anmerkungen zu einer Geschichte der Unterschrift“, in: Grube, Gernot (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005, S. 413–422, hier S. 419.

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 Lust an der Makulatur

Urheberrecht.188 Das sich in diesem widerspiegelnde Bewusstsein für die Originalität der Autorschaft entwickelte sich gerade über das autobiographische, das diaristische und postalische Schreiben im achtzehnten Jahrhundert.189 Ist nun der Kater Murr der Autor und Urheber des authentischen Manuskriptes seiner Autobiographie, deren Reproduktion er dem fiktiven Herausgeber und Verleger E. T. A. Hoffmann erlaubte? In zweifacher Weise wird mit dieser Urheberschaft gebrochen. Nicht nur durchzieht sein Manuskript auf materielle Weise der andere Text; der Kater hat auch oftmals andere Texte kopiert, ihnen Zitate entnommen und in einen neuen Kontext gestellt (wie vom Herausgeber durch verschiedene Einschübe suggeriert: in aufschneiderischer Absicht).190 Der Autor Murr wird so nicht nur durch die Biographie Kreislers, die sich in seiner eigenen verschriftlichten Autobiographie findet, enteignet. Durch offensichtliche, doch nicht als solche explizit ausgewiesene Zitate und die spöttischen, kommentierenden Ermächtigungen des Herausgebers gibt er ein zweites Mal die Urheberschaft ab. Murr ist ein Autor, dem die geistige Urheberschaft am eigenen Text gleich mehrmals entzogen ist. Und wie könnte es auch anders sein? Er ist ja ein Kater. Gerade diese Tatsache macht aber deutlich, dass die titelgebende Autobiographie, zwar gebrochen, zwar scheinbar bis ins kleinste plagiatorisch – Shakespeare, Rousseau, Goethe, Jean Paul und einige mehr konnten hier herhalten –191 eine Er-

188 Zu diesen Zusammenhängen Bosse, Heinrich: Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit. Paderborn u. a. 1981; vgl. die kompakte Darstellung der Zusammenhänge bei Fuchs, Tobias: Büchermachen. Autorschaft und Materialität des Buches in Jean Pauls „Leben Fibels“. Erlangen 2012, S. 40–43. 189 Vgl. den Zusammenhang von Originalität und Publikationssituation sowie die Kontextualisierung von Tagebuch-, Brief- und Autobiographieform bei Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 425 ff., S. 269. 190 Vgl. etwa diesen Einwurf des Herausgebers: „(Randglosse des Herausgebers: O Murr, mein Kater! Entweder hat sich der Ehrenpunkt seit Shakespeares Zeit nicht geändert, oder ich ertappe dich auf einer schriftstellerischen Lüge. Das heißt, auf einer Lüge, die dazu dienen soll, der Begebenheit, die du erzählst, mehr Glanz und Feuer zu geben! – Ist die Art, wie es zum Duell mit dem bunten Pensionär kam, nicht die rein ausgesprochene Parodie von Probsteins siebenmal zurückgeschobener Lüge in ‚Wie es euch gefällt?‘ Finde ich nicht in deinem angeblichen Duellprozeß die ganze Stufenleiter von dem höflichen Bescheid […] bis zum trotzigen Widerspruch, und kann es dich wohl einigermaßen retten, daß du anstatt mit der bedingten offenbaren Lüge mit ein paar Schimpfreden schließest? – Murr! Mein Kater! Die Rezensenten werden über dich herfallen […].)“ (H KM, S. 292). 191 Steinecke: Die Kunst der Fantasie, S.  495: Steinecke nennt als Vorbilder des Bildungsromans für Murrs Lebens-Ansichten die Werke Rousseaus, Hamanns, Lichtenbergs, Moritz’ und nicht zuletzt Goethes. Schon der Anfang des Murr-Teils ist ein Zitat des Grafen Egmont aus Goethes Trauerspiel von 1788, dessen Worte sich der Kater aneignet und durch den konträren Kontext in einen trivialisierenden Sinnzusammenhang stellt; vgl. zu den weiteren Zitaten bei um 1800 bereits kanonisch gewordenen literarischen Werken Laußmann, Sabine: Das Gespräch der Zeichen. Studien zur Intertextualität im Werk E. T. A. Hoffmanns. München 1992, S. 144–178; Meyer, Herman: „E. T. A. Hoffmanns LebensAnsichten des Katers Murr“, in: Ders.: Das Zitat in der Erzählkunst. Zur Geschichte und Poetik des europäischen Romans. Frankfurt a. M. 1988, S. 114–134.

„Künstlich geordnete“ Makulatur: Lebens-Ansichten des Katers Murr 

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mächtigung darstellt: Mit dieser schiebt sich das schreibende Tier in den menschlichen Text und subvertiert dessen schriftliche Selbstveredelung, durchdringt und zerreißt sie mit seiner Kralle (während es sich dabei zugleich selbst zu veredeln sucht).192 Diese subvertierte menschliche Selbstveredelung über die Schrift bestätigten rückwirkend auch noch einmal die unreflektierten Eingriffe späterer Herausgeber in das erste ‚Makulaturblatt‘. Mit diesen offenbarten sie den menschlichen Vereinheitlichungsdrang als immer scheiternden Versuch der Machtergreifung über den Katertext, den zerteilten Text. Die Entstehungsgeschichte der doppelten Biographie, die uns der Herausgeber zu Beginn liefert, stellt zudem eine Ermächtigung dieses menschlichen Kommentators in Bezug auf Murrs eigene Erzählung seiner Initiation als Autor dar. Er berichtet von der Entstehung seiner ersten Manuskripte in einer mühsamen Schreibarbeit, die zu Beginn noch häufig beinahe nur ungeschickte Kleckserei dargestellt haben mochte: Eine zweite böse Schwierigkeit fand ich in dem Eintunken der Feder in das Tintenfaß. Nicht glücken wollt es mir nämlich, bei dem Eintunken das Pfötchen zu schonen, immer kam es mit hinein in die Tinte, und so konnte es nicht fehlen, daß die ersten Schriftzüge, mehr mit der Pfote, als mit der Feder gezeichnet, etwas groß und breit gerieten. Unverständige mochten daher meine ersten Manuskripte beinahe nur für mit Tinte beflecktes Papier ansehen. Genies werden den genialen Kater in seinen ersten Werken leicht erraten, und über die Tiefe, die Fülle des Geistes […] erstaunen […].193

Dies stellt sich als primäre Entstehungsgeschichte der vorliegenden Doppelbiographie dar – die Geschichte davon, wie der Kater schreiben lernte. Ohne diesen Prozess, von dem uns Murr selbst berichtet, hätte es vorliegende Autobiographie nicht gegeben, und wäre uns auch Kreislers Biographie nie in die Hände gefallen. Denn dies macht das Herausgebervorwort ebenfalls deutlich: [D]ann ist aber das zerrissene Buch höchst wahrscheinlich gar nicht in den Buchhandel gekommen, da niemand auch nur das mindeste davon weiß. Den Freunden des Kapellmeisters wenigstens wird es daher angenehm sein, daß sie durch den literarischen Vandalismus des Katers zu einigen Nachrichten über die sehr seltsamen Lebensumstände jenes in seiner Art nicht unmerkwürdigen Mannes kommen.194

192 Kofman: Schreiben wie eine Katze, S. 28 f. Der Originaltitel der Arbeit ist Autobiogriffures du Chat Murr d’Hoffmann. Mit der Wortkreation, die Autobiographie mit griffe (dt. ‚Kralle‘, aber auch ‚Schriftzug‘) und gravure (dt. ‚Gravur‘, ‚Einritzung‘) verbindet, wird hier das Schreiben als zerkratzender/zerteilender und zugleich sich einprägender Akt ausgewiesen. Hiermit bezieht sich Kofman auf Jacques Derridas Konzept der „Aufpropfung“ (der greffe citationelle), das die Beschreibung der unaufhörlichen Intertextualität eines Textes ermöglicht und von Kofman als Schlüsselmotiv und Formbeschreibung für das ‚zerteilende‘ Schreiben des Katers (Autobiogriffure) untersucht wird. 193 H KM, S. 43 f. 194 Ebd., S. 12.

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 Lust an der Makulatur

Ohne Murrs Autobiographie keine Kreisler-Biographie; und ohne diese kein Kater-Text. Die Gebrochenheit des Textes wird als Bedingung für dessen Erscheinen inszeniert. An diese Abhängigkeit von Erscheinen und Verschwinden der beiden Texte, auf die das Herausgebervorwort hinweist, schließt Murrs eigene Erzählung über den Anfang des Schreibprozesses an: Er beschreibt seine der Pfote entstammende Schrift als beinahe unlesbar, als defiguriert. Sie erscheint dem fremden Betrachter als Ansammlung unbeabsichtigter Körperspuren, reiner Abdrücke der mit Tinte benetzten Pfote. Vielleicht würde sie jener fremde Betrachter gerade noch als zwar beabsichtigt hingeworfene, doch nicht sprachlich referierende Graphismen identifizieren. Doch dieses Urteil sei vorschnell gefällt. Vielmehr verberge sich in dieser Defiguration der Schrift eine Figur, die von tiefer, geistiger ja von hieroglyphischer Bedeutsamkeit sei (davon unten mehr). Diese Defiguration der Kater-Schrift – hier im Tintenklecks, der über die Ränder der intendierten und identifizierbaren Buchstabenfigur hinausfließenden Unform – setzt sich in den Drucktext fort. Beide Entstehungsgeschichten berichten vom Bruch des Lesbaren, einmal durch den Klecks, einmal durch die Fragmentierung des Primärtextes und die Einschiebung eines Zweit-/Hintergrundtextes, der angeblich gar nicht Text, sondern Abfall sein sollte. In beiden Fällen wird das Figur-Grund-Verhältnis des Textes gestört, einmal der Schriftzeichen selbst, die von referierenden Buchstaben zu unförmigen Tintenspuren werden, einmal des Textes als zusammenhängender Kette der auf Papier aneinandergereihten geschriebenen Worte. Der Hintergrund – die Masse an Abfall-Text, Nicht-(mehr-)Text – schiebt sich selbst in den Vordergrund. Damit ist der Vorgang des zerteilenden Schreibens benannt, den Sarah Kofman als das zentrale Motiv und Struktur- bzw. De-strukturierungsmoment des Romans, auch über die ausgewiesene und verdeckte Zitationspraxis besonders im Murr-Teil erkannte.195 Doch nicht nur der Vorgang, in dem der Kater Murr das menschliche Manuskript zerrissen und gewissermaßen überschrieben hat, muss als dieses zentrale Moment der Struktur und der Erzählung des Romans angesehen werden. Es ist auch das Motiv des Kleckses, das uns in Murrs eigener Erzählung über die Genese seiner Schrift so prominent entgegentritt. Nicht nur ist auch der Klecks ebenso wie ein Textfetzen, den Murr durch seinen Zerstörungsakt an der Kreisler-Biographie erzeugt, eine Defiguration der Schrift. Auch der „Klecks“ verweist in seiner Bedeutung des beim Schreiben entstehenden Tintenflecks auf seinen Wortursprung im Verb „klecken“ über dessen Bedeutungsäquivalente „platzen“/„reißen“ lautmalerisch auf den Riss und die Spaltung.196 Damit eignet dem Klecks nur die negative Bedeutungsdimension des Flecks, der ja in seiner anderen Bedeutung im Deutschen den Ort, eine Stelle

195 Kofman: Schreiben wie eine Katze. 196 Vgl. die Einträge in: Grimm, J. u. W.: Deutsches Wörterbuch. Bd.  5. Bearb. v. Dr. Rudolf Hildebrand. Leipzig 1873: „Klecks“ (Sp. 1058), „klecksen“ (Sp. 1059) mit dem Verweis auf „Kleck“ (Sp. 1053), „klecken“ (Sp. 1054).

„Künstlich geordnete“ Makulatur: Lebens-Ansichten des Katers Murr 

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vor einem unmarkierten Hintergrund meint. In seiner negativen Bedeutung meint er eben den Makel, die Verschmutzung, den Riss in jenem ‚Daseienden‘, das er selbst in seiner anderen Bedeutung bezeichnet.197 Nicht nur zeigt sich damit also, dass beide Entstehungsgeschichten des Kater Murr eben den Vorgang des Zerteilens und Reißens beschreiben, den Kofman anhand der im Herausgebervorwort berichteten Entstehungsgeschichte als die dekonstruktive Bewegung des Textes identifiziert. Darüber hinaus muss über die Semantik des Flecks eine noch weitere, tiefgreifende Bestätigung der These Kofmans festgestellt werden. Denn der Fleck als poetologisches Motiv des Romans stellt mit seiner semantischen Selbstnegation die Willkürlichkeit kultureller bzw. symbolischer Bedeutung aus, die wiederum auf einer ebenso schöpferischen wie zerstörerischen Geste gründet.198 Das Motiv der Makulatur, die den Text zu einer zufälligen Anhäufung von ‚Textfetzen‘ macht, kann damit als Ausstellung der Dynamik literarischer Erinnerungskultur betrachtet werden, die sich vor einem Hintergrund von zum Müll gewordenen Texten bewegt, die jedoch immer wieder aufgrund bestimmter Wertänderungen erneut vom Müll zur Semiophore werden können.199 Auf der anderen Seite befindet sich immer auch das gegenwärtig Wertgeschätzte in der Gefahr verstoßen zu werden (vgl. Teil I, Kap. 3.2.2). Eben dies widerfährt dem Autor Murr durch das Urteil des Herausgebers und ist ihm tatsächlich auch in der Deutung des Romans widerfahren, die dieses Urteil oft schlicht wiederholte.200 Dabei spiegelt die Abwertung des Herausgebers natürlich auch Murrs Geste, mit der er sich in den Kanon einzuschreiben, sich als originärer Autor zu profilieren sucht, gerade indem er sich am bereits kanonisch Gewordenen, am bereits Erinnerten bedient und es kopiert. Dabei wird sowohl ein Bewusstsein für das Unrecht dieser ‚Schreibweise‘ als auch deren Vorhandensein in einem literarischen Markt deutlich. Dessen Mechanismen bringt sowohl Kopien erfolgreicher Texte und Autoren als auch in dessen Folge in Bewusstsein für geistiges Eigentum und entsprechende Gesetze hervor. Letztlich muss auch der Kreisler-Teil des Romans unter diesem Fokus des Wiederholenden, Ausstellenden, der Spiegelung betrachtet werden (siehe hierzu das folgende Kap. 3.4). Es ist jedoch hervorzuheben, dass Kofmans Deutung gerade die andere Perspektive auf den Roman nicht zulässt, die bei seiner Ausstellung des Bedeutungsverlusts den doch gerade vorhandenen Ordnungsgestus des Textes fokussiert. In diesem

197 Vgl. „Fleck“, in: Dies.: Deutsches Wörterbuch. Bd. 3. Leipzig 1862, Sp. 1740–43. 198 Siehe hier den Bezug zu Derridas Aufsatz Mal d’archive in Teil I, Kap. 3.4. Derrida, Jacques: „Dem Archiv verschrieben“, in: Ebeling, Knut/Günzel, Stephan (Hg.): Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten. Berlin 2009, S. 29–60. 199 Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1998, S. 92. 200 Vgl. etwa die Arbeiten von Müller, Hans von: Das künstlerische Schaffen E. T. A. Hoffmanns in Umrissen angedeutet. Leipzig 1926, S. 35; Harich, Walther: E. T. A. Hoffmann. Das Leben eines Künstlers. 2 Bde. Berlin 1920; Korff, Hermann August: Geist der Goethezeit. Tl. 4. Leipzig 1953, v. a. S. 543– 639; vgl. zu dieser Wertungstendenz der älteren Hoffmann-Forschung Liebrand: „Lebens-Ansichten des Katers Murr“.

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 Lust an der Makulatur

Zusammenhang ist die arabeske Ordnung des Romans gezeigt worden, dessen Fragmente keineswegs rein zufällig angeordnet seien, wie vom fiktiven Herausgeber ­behauptet, sondern einer narrativen Ordnung folgten. Letztlich bildeten sie zeitlich betrachtet eine zirkuläre Struktur: Der Kreisler-Teil beginnt (in der narrativen Anordnung der Fragmente der Kreisler-Biographie) kurz nach Kreislers Wiederkehr an den Hof Sieghartsweiler nach seinem Verschwinden und seiner längeren Abwesenheit. Er endet wiederum mit Kreislers Verschwinden, also mit den Ereignissen, die lange vor den zu Beginn fragmentarisch präsentierten lagen. Die Lebensgeschichte, die uns Murr erzählt, beginnt ebenfalls kurz nach dem Verschwinden Kreislers, wie wir wiederum aus Meister Abrahams Erzählung erfahren, der Murr als Kätzchen aus dem Fluss gefischt hatte. Murrs erzählte Lebensspanne schiebt sich gerade in die Abwesenheit Kreislers. Bei Kreislers Anwesenheit wiederum (nach seiner Rückkehr und der Übergabe des Katers durch Meister Abraham an Kreisler) muss schließlich die Niederschrift der Kater-Biographie erfolgt sein, die die Kreisler-Biographie (zu diesem Zeitpunkt also fertig geschrieben und gedruckt) als unter- und zwischengelagerten Text verwendet. Dennoch, oder gerade deswegen: Betrachtet man die komplizierte zeitliche und narrativ arrangierte Schachtelung beider Teile ineinander, kann man die Lesart des Romans als Arabeske in der Nachfolge der philosophischen Konzeption Friedrich Schlegels und über die Nennung verschiedener hier einschlägiger Vorbilder (relativ deutliche Zitate Sternes, Shakespeares, Cervantes’) akzeptieren.201 Doch jede dieser beiden Perspektiven lässt zu wünschen übrig – gerade die Spannung beider Momente ist das zentrale Moment des Romans. Kommen wir noch einmal auf Murrs selbstbewusste Interpretation seiner klecksartigen Schriftzüge zurück. Bewusst zeigen sich in deren Umwertung zu hieroglyphisch bedeutsamen Zeichen die Parallelen beider Konzeptionen in Hinsicht auf ihre Visibilität, ihre a-mimetische Autopoiesis, ihre chaotische Formlosigkeit, die in der Arabeske wiederum zur bedeutungsvoll-differenzierten Verschlungenheit aufgewertet wird. Der Roman spielt mit den Parallelen der bedeutsamen Figur als differenzierter Form und des Tintenkleckses als bedeutungsloser Banalität, deren Formlosigkeit eine undifferenzierte Masse bildet. Die oben erläuterte, recht kompliziert herauszulesende Ordnung kann vor diesem Hintergrund einerseits als ein Hinweis auf die bemühte und gezielte Suche nach dieser Ordnung selbst verstanden werden, die viele andere lose Enden und sich nicht dieser Ordnung fügen wollende Fragmente des Romans auslässt. Damit wäre die so bemüht erwiesene arabeske Ordnung des Romans in dieser Perspektive nichts als eine ungewollte Selbstentlarvung des Philologen, der hier „künstlich geordnete Verwirrung“202 erkennen will. Andersherum leugnet die Fokussierung des ‚Risses‘ die

201 Vgl. Schäfer: Ohne Anfang – ohne Ende, zur zirkulären Erzählstruktur des Romans v. a. 119 ff; vgl. Segebrecht, Wulf: Autobiographie und Dichtung. Stuttgart 1967, S. 218. 202 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 318.

Unterschriften, Abdrücke, Fiktionalisierungen 

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dennoch angedeutete Anordnung der Fragmente und ignoriert oder missdeutet dabei den affirmierenden Bezug zu Konzepten der Frühromantik. Diese Spannung der Perspektiven auf den Roman spiegelt Hoffmanns Auseinandersetzung mit den Widersprüchen der frühromantischen Poetik wider, die er im Kater Murr auf eine explizite und radikale Weise offenlegt. Der Roman wird dabei zum ansonsten für das Werk Hoffmanns beispiellosen Formexperiment. Mit der Engführung von macula ([Tinten-]Fleck und Makulatur) und Arabeske tritt die Widersprüchlichkeit eines frühromantischen Formkonzeptes hervor, das die arabeske Form als Marginalie und dennoch als bedeutende Kunstform einführt. Nicht nur spiegelt Hoffmann dabei die formästhetische Ambivalenz der Arabeske, sondern auch ihren ebenso ambivalenten medien- und genrekritischen Bezug (siehe hierzu eingehender Kap. 3.4). Dabei werden auch die Kategorien der Originalität und der mystisch erfahrenen Verbindung des romantischen Künstlers mit der Natur, die das Konzept der Arabeske in entscheidender Weise prägt, im Roman ironisch gebrochen. Hoffmanns Roman führt die frühromantische Sehnsucht nach einer mysteriösen Schrift des Unendlichen auf ihre Wurzel in der endlichen, banalen Schrift der Tinte zurück. Die macula, dieses Ursprungsmotiv des Romans, ist bei ihrer Opazität, als Defiguration der lesbaren Figur ein Hinweis auf die eigene Materialität, ist deren unleugbare Manifestation. Eben diese Materialität der Autortätigkeit – des Schreibens wie des Druckens – wird über diese Defiguration ausgestellt. Sie hat hier selbst die Autorschaft inne. Gerade in der Tatsache, dass sich diese scheinbar vollkommene Willkürlichkeit der defigurierten Schrift wieder andeutungsweise in eine Ordnung schiebt, die auf Lesbarkeit und strukturelle Abhängigkeit hinweist, liegt die Spannung des Romans zwischen Figur und Defiguration, zwischen Form und formlos hervortretender schriftlicher Materialität. Das folgende Kapitel 3.2 wird zeigen, dass dabei die in der Frühromantik ambivalent aufgenommene Polemik einer Literaturkritik, die dem stofffixierten und dabei formlosen Text seinen literarischen Geist aberkennt und ihn rhetorisch auf sein tatsächliches Material von Tinte und Papier reduziert, zudem materialästhetisch beim Wort genommen wird.203

3.2 Unterschriften, Abdrücke, Fiktionalisierungen In Hoffmanns Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr wird über die Figur des Herausgebers und des Autors Murr performativ eine Zone der Liminalität zwischen Fiktion und Wirklichkeit erzeugt. Das folgende Kapitel 3.2 beschreibt diesen performativen Akt über den Begriff der Geste. Dies meint zunächst eine textuelle Erzeugung dieser Zone des Übergangs, in der die Grenzen des Textes und die Grenzen von Fiktion und Wirklichkeit hinterfragt werden. Im nächsten Unterpunkt des Kapitels wird erläutert,

203 Vgl. zum Begriff der „Materialästhetik“ Müller-Wille: Sezierte Bücher, S. 17 f.

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 Lust an der Makulatur

dass diese performative Geste jedoch zugleich in ihrer körperlichen Dimension, im Sinne der Schreibgeste, verstanden werden kann. Mit dem Begriff der Liminalität204 greift das vorliegende Kapitel auf verschiedene Thematisierungen eines binäre Unterscheidungen problematisierenden Übergangs im Konzept der Performativität zurück („Schwellenort“,205 „Nahtstelle“,206 „schwierige Rahmung“207 etc.).208 Binäre Unterscheidungen, die dabei unterlaufen werden, sind etwa die zwischen Autor und Text oder zwischen Material bzw. Körper und Zeichen. Der Begriff der Liminalität erfasst im vorliegenden Kontext damit einmal mehr die Verkörperung des Sinns im Nicht-Sinnhaften.209 Dieses Konzept performativer Autorschaft ermöglicht gerade in Bezug auf die Literatur die Zusammenführung des Aspekts textueller Selbst-Ausführung mit der Schreibgeste.210 Hoffmanns Verfahren im und um den Roman als derartige liminale Gesten zu begreifen, eröffnet eine neue Perspektive auf sein literarisches Schaffen auch im größeren Kontext seines Werks. Diese neue Perspektive ermöglicht es, die Frage der Rezeption der frühromantischen Poetik im Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr mit dem Fokus auf die Dimensionen von Performativität und Materialästhetik bei Hoffmann neu zu bewerten.

204 In Anlehnung an Erika Fischer-Lichte soll hier der Begriff des „Liminalen“ aufgegriffen werden, den Fischer-Lichte im Rahmen der Beschreibung der Transformation von Lesenden im Zuge des Aktes zwischen ‚Wirklichkeit‘ und ‚Imagination‘ einführt. Als weiterer zentraler Aspekt dieses Aktes wird dabei die Einverleibung des Textes durch die Lesenden verstanden. Fischer-Lichte, Erika: Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 138. 205 Kurzenberger, Hajo: „Die theatrale Funktion szenischer Texte“, in: Ders. (Hg.): Praktische Theaterwissenschaft. Spiel – Inszenierung – Text. Hildesheim 1998, S. 234–249, hier S. 244. 206 Krämer, Sybille: „Sprache  – Stimme  – Schrift: Sieben Gedanken über Performativität als Medialität“, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 323–346, hier S. 345. 207 Campe: „Die Schreibszene, Schreiben“, S. 270 f. 208 Hier wäre etwa die Erweiterung des Performativitätsbegriffs durch das in der semiotischen Theorie Charles S. Peirce eingeführte Medium (das „Dritte“ des Zeichens) zu nennen, wie sie von Uwe Wirth vorgeschlagen wurde. Wirth: Die Geburt des Autors, S. 65. 209 Krämer: „Sprache – Stimme – Schrift“, S. 345. 210 Ein solches Konzept der Performativität entwickelte sich im Zuge der poststrukturalistischen Kritik an J. L. Austins Ausschluss allen künstlerischen Sprachgebrauchs aus diesem begrifflichen Feld. Austin, John Langshaw: How to do things with words. Oxford 1962, S. 22; Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. Aus dem Französischen von Matías Martínez, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt  a. M. 2002, S.  104–110; Barthes, Roland: Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift. Französisch – Deutsch. Übersetzt von Hanns-Horst Henschen. Mit einem Nachwort von Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006; Derrida, Jacques: „Signatur Ereignis Kontext“, in: Ders.: Limited Inc. Wien 2001, S. 15–45. Vgl. zu den sprachphilosophischen und im engeren Sinne literaturtheoretischen sowie kulturwissenschaftlichen und medientheoretischen Debatten um den Performativitätsbegriff die differenzierte Darstellung bei Wirth, Uwe: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 9–62.

Unterschriften, Abdrücke, Fiktionalisierungen 

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3.2.1 Der Kater Murr zwischen Wirklichkeit und Fiktion Das Titelblatt der Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulatur-Blättern präsentiert der Leserschaft (in der Fassung der Erstausgabe) den Titel mit dem Zusatz: „herausgegeben von E. T. A. Hoffmann“.211 Anschließend folgt das durch „E. T. A. Hoffmann“ unterschriebene „Vorwort des Herausgebers“,212 das für eine fiktionstheoretische Analyse einige harte Brocken bereithält. Im Vorwort beschreibt der Herausgeber, wie oben bereits zitiert, die Durchmischung der beiden durch den Titel des Romans bereits angekündigten Texte, die er erst nach seiner Absprache mit dem Verleger Dümmler und dem Erhalt der Druckfahnen bemerkt habe. Im Kontext seiner Beschreibung des Vandalismus des Katers an der Kreisler-Biographie betont der Herausgeber unter anderem, dass er den Autor Murr persönlich kennengelernt habe. Dieser sei auf dem Bild, das den Umschlag ziere, „frappant getroffen“.213 Uwe Wirth beschreibt das Herausgebervorwort des Romans als eine „Zone intermédiaire“,214 in der „Realitätsversatzstücke“ und scheinbar eindeutig fiktive Elemente Anteil an einer Bewegung „performativer Überblendungen“ hätten: Als „Realitätsversatzstücke“ zählt Wirth die Nennung des realen und tatsächlichen Verlegers des Romans Dümmler, das Verzeichnis der tatsächlich im Roman zu findenden Druckfehler, die Unterschrift mit dem Namen des realen Autors und den Verweis auf die Umschlagzeichnung von Murr auf. Als eindeutig fiktiv seien die Autorschaft des dem Herausgeber bekannten Katers und die Geschichte von der Entstehung der Verwirrung von Murr- und Kreisler-Teil zu erkennen.215 In dieser „Zone des Übergangs“ werde der „Name des realen Autors in den Namen des fiktiven Herausgebers ‚transfiguriert‘“,216 die fingierte Herausgeberschaft des realen Autors Hoffmann werde also in eine fiktive Herausgeberschaft verschoben.217 Eben dieses Verhältnis des „Übergangs“, der Schwelle, auf der eine Grenze zwischen realem Autor, fingiertem und fiktivem

211 Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Herausgegeben von E. T. A. Hoffmann. Berlin 1820, Titelblatt. 212 H KM, S. 11–14. 213 Ebd., S. 14. 214 Wirth bezieht sich hier auf Compagnon, André: La seconde main ou le Travail de la citation. Paris 1970, S. 382. Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 389. 215 Ebd. 216 Wirth zitiert hier die einschlägige Arbeit Sarah Kofmans: Schreiben wie eine Katze und ihren Bezug zu Derridas Konzept der greffe citationelle (siehe Anm. 191). Wirth: Die Geburt des Autors, S. 391. 217 Bei der Unterscheidung von „Fingiert“ und „Fiktiv“ bezieht sich Wirth auf Searles Definition des Fiktiven als „Vorgeben ohne Täuschungsabsicht“ und des Fingierten als „Vorgeben mit Täuschungsabsicht“, das sich mit der Differenzierung bei Käthe Hamburger decke. Wirth: Die Geburt des Autors, S. 122 f.

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Herausgeber nicht widerspruchsfrei zu ziehen ist (worauf die sich widersprechenden Meinungen der Hoffmann-Forschung hindeuten),218 kennzeichnet den performativen Akt der Herausgeberschaft. Mit dessen widersprüchlicher Existenz zwischen Fingiertheit und Fiktivität wird auch die Existenzebene des Autors – E. T. A. Hoffmanns wie Murrs – zweideutig. Der Akt, in dem die fiktive Herausgeberschaft des Romans auch die Autorschaft des Katers Murr erzeugt, fiktionalisiert zugleich den Autor E. T. A. Hoffmann zum Herausgeber. Dieser Akt hat jedoch noch eine weitere Dimension, als allein aus dem Vorwort und der weiteren Lektüre des Romans hervorgeht, bei der man dem Kater den Status eines fiktiven Autors zuschreibt. Diese Zuschreibung der Fiktivität an den Kater-Autor geschieht natürlich aus dem Grund, dass er ein Tier ist, aber auch vor dem Hintergrund, dass man die Herausgeberfiktion im Rahmen der literarischen Praxis um 1800 nicht als einen tatsächlichen Versuch der Authentifizierung des Erzählten, sondern gerade als einen spielerischen Hinweis auf den Versuch der Authentifizierung des Fiktionalen versteht.219 Diese Zuschreibung der eindeutigen Fiktivität an den Autor Murr wird jedoch durch verschiedene Momente verkompliziert, bzw. ebenso zweideutig, wie es bereits die Konfusion zwischen fiktivem Herausgeber Hoffmann und realem Autor Hoffmann und die daraus erfolgende Erschaffung der Autorfigur Murr impliziert. Am Ende des zweiten Teils des Romans, der 1820 und 1822 in zwei Teilen erschien, findet sich die „Nachschrift des Herausgebers“, in der dieser vom Tod des Autors Murr berichtet: Am Schluß des zweiten Bandes ist der Herausgeber genötigt, den geneigten Lesern eine sehr betrübliche Nachricht mitzuteilen. – Den klugen, wohlunterrichteten, philosophischen dichterischen Kater Murr hat der bittre Tod dahingerafft mitten in seiner schönen Laufbahn. Er schied in der Nacht vom neunundzwanzigsten zum dreißigsten November nach kurzen, aber schweren Leiden mit der Ruhe und Fassung eines Weisen dahin. – So gibt es wieder einen Beweis, daß es mit den frühreifen Genies immer nicht recht fort will: entweder sie steigen in einem Antiklimax hinab zur charakter- und geistlosen Gleichgültigkeit und verlieren sich in der Masse, oder sie bringen es in Jahren nicht hoch. – Armer Murr! der Tod deines Freundes Muzius war der Vorbote deines eignen, und sollt ich dir den Trauersermon halten, er würde mir ganz anders aus dem

218 Vgl. die auch bei Wirth zusammengetragenen, sich widersprechenden Positionen in den folgenden Studien, die eine durch das Vorwort erzeugte, analytisch nicht eindeutig zu erfassende Konfusion des Verhältnisses von Fiktion und außerfiktionaler Ebene bestätigen: Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 215; Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 82 f.; Steinecke, Hartmut: „Kommentar: Lebens-Ansichten des Katers Murr“. In: H V, S. 903–1051, hier S. 954; Laußmann: Das Gespräch der Zeichen, S. 175; Schäfer: Ohne Anfang – ohne Ende, S. 69. 219 Vgl. hierzu Wirths einleitende Überlegungen zum Verhältnis von Autorschaft und Herausgeberfiktion um 1800 nach Berthold, Christian: Fiktion und Vieldeutigkeit, Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993, S. 123. Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 15 f.

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Herzen kommen als dem teilnahmelosen Hinzmann; denn ich habe dich liebgehabt und lieber als manchen – Nun – schlafe wohl! – Friede deiner Asche! –220

Diese Todesanzeige weist nicht mehr den distanziert-höflichen Ton des Vorwortes und auch nicht den überheblich-spottenden Ton der Kommentare zu Murrs literarischen Ergüssen im Text auf, sondern gedenkt liebevoll-zärtlich des verstorbenen ‚Literaten‘.221 Das Verhältnis von Herausgeber und Autor Murr stellt sich ungleich intimer und sympathiegeprägter dar als zu Beginn. Diese Diskrepanz können auch diejenigen Lesenden bemerken, die das durch den realen – briefeschreibenden, signierenden, im Kreise seiner Freunde sprechenden – Hoffmann inszenierte innige Verhältnis zu seinem Kater(-Autor) Murr nicht kennen. Auf dieses Verhältnis wird im Folgenden näher eingegangen, um deutlich zu machen, inwiefern die Frage von Faktualität und Fiktionalität und ihre performativ erzeugte Überblendung gerade über die Autorfigur Murr im und um den Roman herum aufgeworfen wird. Es finden sich verschiedene Zeugnisse, die dieses interessante Verhältnis belegen. Da ist einmal der Brief, den Hoffmann am 1. Mai 1820 an seinen Freund Dr. Friedrich Speyer nach Bamberg schickte, in dem er diesem den Kater Murr als Autor und wirklichen Kameraden Hoffmanns ans Herz legt: Ich empfehle Ihnen den höchst weisen und tiefsinnigen Kater Murr, der in diesem Augenblick neben mir auf einem kleinen Polsterstuhl liegt und sich den außerordentlichsten Gedanken und Fantasien zu überlassen scheint, denn er spinnt erkleklich! – Ein wirklicher Kater von großer Schönheit (er ist auf dem Umschlage des Buches frappant getroffen) und noch größerem Verstande, den ich auferzogen, gab mir nehmlich Anlaß zu dem skurrilen Scherz, der das eigentlich sehr ernste Buch durchflicht.222

In diesem Brief stellt Hoffmann sein ebenfalls „wirkliches“ Haustier Murr als Vorbild bzw. Ideengeber für den Roman dar, auf dessen Umschlag er „frappant getroffen“ sei.223 Man kann davon ausgehen, dass hier nicht zufällig dieselben Worte wie in dem Herausgebervorwort des Romans gewählt werden. Hoffmann spricht nicht nur – als künstlerischer Urheber der Vignetten – ein Selbstlob aus. Er nimmt spielerisch erneut die Rolle des Herausgebers des Romans ein, indem dem schnurrenden Kater Tiefsinnigkeit, Weisheit sowie außergewöhnliche Fantasien unterstellt werden, die ihn zum Romanautor befähigten. Freilich wird diese Einnahme der Herausgeberrolle und Schaffung der Autorfigur Murr als „skurriler Scherz, der das eigentlich sehr ernste Buch durchflicht“, bezeichnet. Dies trennt den Brief als Zeugnis der

220 H KM, S. 457 221 Vgl. Rosen, Robert S.: E. T. A. Hoffmanns ‚Kater Murr‘. Aufbauformen und Erzählsituationen. Bonn 1970, S. 14; Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 414 ff. 222 E. T. A. Hoffmann: Briefwechsel, S. 247. 223 Vgl. hierzu Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 416.

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Verflechtung der Herausgeberrolle Hoffmanns und der Autorrolle Murrs von dem Herausgebervorwort, das sich ja nicht selbst als solchen Scherz bezeichnet. Aber es wird deutlich: Über das Herausgebervorwort wird Hoffmann nicht nur zum Herausgeber fiktionalisiert, es wird auch eine Fiktionalisierung des Haustiers Murr zum Autor Kater Murr vollzogen. Zudem benennt Hoffmann diese Fiktion auch außerhalb des Romans und versucht sie gar – auf eben diese scherzhafte, spielerische Weise – zu verwirklichen. Dies zeigt auch die textuelle Vorgeschichte der oben erwähnten Todesanzeige in der „Nachschrift des Herausgebers“ an, die den Roman abschließt. Denn ihrer Einbindung in den zweiten Teil des Romans ging der wirkliche Tod von Hoffmanns Haustier Murr voran – und die Versendung dreier Varianten von Todesanzeigen an einige Freunde Hoffmanns. Bereits über die textuellen Veränderungen der zweiten Fassung der Anzeige zur dritten Fassung mit vorgedrucktem schwarzem Rahmen lässt sich ein „Vorgang der Literarisierung“ herauslesen.224 Vor allem wird dieser deutlich über die Änderung im Satz „Wer den verewigten Jüngling kannte, wird meinen tiefen Schmerz gerecht finden […]“. Dieser wird geändert zu: „Wer den verewigten Jüngling kannte, wer ihn wandeln sah auf der Bahn der Tugend und des Rechts, wird meinen Schmerz gerecht finden […]“.225 Der neue Einschub, der sich auf die Romanlektüre bezieht, verbindet den Anlass des Todes von Hoffmanns Haustier, das ihm vielleicht zur Inspiration für den fiktiven Autor Murr gedient hatte, nun wirklich mit der Erinnerung an die erzählten Taten im Roman. Die dritte Fassung deutet an, der Roman hätte die wirklichen Taten und das Leben des verstorbenen Haustiers Murr dargestellt. Über einen weiteren Bearbeitungsschritt ist diese Todesanzeige dann in den Roman gelangt, innerhalb dessen sie dann nicht mehr so deutlich vom Schmerz des Herausgebers spricht, sondern diesen im Vergleich zur intimeren Äußerung der Todesanzeigen über Hoffmanns Schmerz eher erahnen lässt („[…] ich habe dich lieb gehabt und lieber als manchen […]“). Ohne auf diesen Vorgang, den Wulf Segebrecht als Ironisierung im Zuge der Literarisierung der Todesanzeige auffasst,226 hier weiter eingehen zu können, soll an dieser Stelle nur noch einmal betont werden: Wie der fiktive Herausgeber E. T. A. Hoffmann besitzt auch der Kater Murr einen fragwürdigen Status, der zwischen realem Kater und fiktivem Autor über Texte performativ erzeugt wird. Murr muss als die Figur angesehen werden, über die Hoffmann die liminale Zone zwischen Fiktion und Realität spielerisch textuell austestet, in der er selbst mal zum Herausgeber der von

224 Vgl. Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 207 ff. 225 Vgl. den Text der zweiten Fassung der Todesanzeige an Julius Eduard Hitzig unter urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000026862 (Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: Autogr. H 40); zuletzt eingesehen am 17.01.2018; vgl. den Text der dritten Fassung der Todesanzeige an Theodor Gottlieb von Hippel unter urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027211 (Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/2); zuletzt eingesehen am 17.01.2018. 226 Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 208.

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Murr verfassten Autobiographie wird, mal andere Texte mit dem Namen Murr unterschreibt.227 Über die Todesanzeigen und den oben zitierten Brief an Speyer muss geschlossen werden, dass dieser Vorgang nicht nur von einer scheinbar außerliterarischen Wirklichkeit aus in Richtung auf den literarischen Text als Fiktionalisierung vor sich geht. Er kann auch vor dem Hintergrund der bereits geschehenen Fiktionalisierung im Sinne einer spielerischen ‚Verwirklichung‘ angesehen werden. Über die Aussagen zur Herausgeberschaft bzw. Autorschaft des Katers Murr und der Existenz des Haustiers Hoffmanns, zu dem dieser ein liebevolles Verhältnis hatte, entsteht eine liminale Zone zwischen einer vermeintlichen Ebene des Wirklichen (auf der Hoffmann Briefe und Todesanzeigen über den faktischen Tod seines Haustiers schreibt) und einer Ebene des Fiktionalen (auf der der Kater eine Autobiographie schreibt, die von Hoffmann herausgegeben wird). Uwe Wirth zieht aus den geschilderten „performativen Überblendungen“ zwischen Hoffmanns Autorschaft und fiktiver Herausgeberschaft, die die Autorfigur Murr erschaffen, den Schluss, dass „eine Konfusion von Rahmen und damit eine erhöhte Aufmerksamkeit für Rahmungen“ entstehe.228 Damit werde die Performativität des fiktionalen Textes betont, durch die die Grenze zwischen seinem Außen und seinem Innen als Schwelle wahrnehmbar werde. Im Sinne des oben eingeführten Begriffs der Performativität ist dies als Geste der fiktionalen sprachlichen Selbst-Erzeugung zu verstehen, durch die der Autor nicht mehr als vom textuellen Vollzug zu trennender und außerfiktionaler Urheber begriffen werden kann. Darauf weisen die an Hoffmanns Texten festzustellenden Grenzüberschreitungen zwischen Fiktionalität und Faktualität hin. Dies kann gerade im vorliegenden Fall jedoch auch explizit über die körperliche Schreibgeste verstanden werden, wie im Folgenden an verschiedenen handschriftlichen Zeugnissen, aber nicht zuletzt am Roman selbst gezeigt wird. Diese besondere körperliche Dimension der performativen Autorschaft bei Hoffmann ist bislang in der Forschung noch nicht hervorgehoben oder untersucht worden und steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seinem zentralen poetologischen Konzept der Duplizität (siehe dazu das folgende Kapitel 3.4).

227 Etwa unterschreibt der das Sonett An Johanna am 2t März 1820 mit „Murr. Etudiant en belles lettres et chanteur très renommé“ (H V, S. 817). Hier besteht ein interessantes Wechselspiel mit der Kreisler-Figur, die wiederholt als Hoffmanns Alter Ego bezeichnet wurde. Auch mit Kreislers Namen hat Hoffmann wiederholt Texte unterschrieben. Vgl. Steinecke: „Kommentar: Lebens-Ansichten des Katers Murr“, S. 927. Auch diese Parallele der fiktiven Schreiberidentität Hoffmanns einmal als parodistischer Katerautor, einmal als idealer romantischer Künstler deutet auf den Zusammenhang von Murr- und Kreislerfigur hin, den man als karnevaleske Spiegelung lesen kann, innerhalb derer die romantische Künstlerfigur ihre eigene Parodie auf- und herbeiruft. Siehe hierzu das folgende Kapitel 3.4. 228 Wirth: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion, S. 416.

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 Lust an der Makulatur

3.2.2 Hoffmanns Kleckse – Murrs Kleckse Murrs letzte Schriftzüge – das Quartblatt zur Todesanzeige Zu der dritten Todesanzeige über das Ableben des Haustiers Murr, die bereits deutlich in den Schwellenraum zwischen Wirklichkeit und Fiktion einführte und von Hoffmann an seinen Freund Theodor Gottlieb von Hippel gerichtet wurde, gehört zudem ein Quartblatt, das Hoffmann, wie in der Forschung als gesichert angenommen wird, der Todesanzeige beigab (vermutlich als Umschlag). Das Blatt weist einige ungestalte, klecksartige Tintenverwischungen auf, unter denen die Worte „Kater Murr“ zu lesen sind (Abb. 11 und 12).

Abb. 11: E. T. A. Hoffmann: Todesanzeige für den Kater Murr (dritte Fassung, Original); http://www. nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027211; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/2.

Unterschriften, Abdrücke, Fiktionalisierungen 

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Abb. 12: E. T. A. Hoffmann: Quartblatt mit den Schriftzügen des Katers Murr; http://www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027202; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/1.

Dietmar Jürgen Ponert macht dazu zudem tatsächlich die Angabe, Hoffmann habe die Kleckse mit der Pfote des Katers – entweder noch vor oder nach dessen Ableben – hergestellt, indem er sie in die Tinte steckte und über das Papier zog.229

229 „Die Maße sowie die Knick-, Falt- und leichten Verschmutzungsspuren des Originals lassen darauf schließen, dass E. T. A. Hoffmann den Zettel zum treuen Andenken oder sympathischen Zeugnis herstellte, indem er offenbar die Pfote des Katers in die Tinte steckte und über den Papierbogen führte – entweder erst nach dessen Tode oder auch schon zu dessen Lebzeiten, wenn dieser es denn zuließ –, und dass er ihn nahm, um darin die an Theodor Gottlieb von Hippel versandte Todesanzeige für den Kater Murr zu verschließen.“ (E. T. A. Hoffmann:) Ponert, Dietmar Jürgen: E. T. A. Hoffmann – Das bildkünstlerische Werk: ein kritisches Gesamtverzeichnis. Hg. v. der Staatsbibliothek Bamberg. Bd. 1. Text. Petersberg 2012, S. 373, Nr. A 4; Bd. 2. Abbildungen. Petersberg 2012, S. 174–175, Abbildungen 197–198. Die Angabe, dass das Quartblatt als „Kater Murrs letzte Schriftzüge“ zu bezeichnen sei und vermutlich der Todesanzeige beigegeben war, stammt von Friedrich Schnapp, der sich hierbei auf Hippels Biographen (und Enkel) Theodor Bach bezieht. Dieser druckte auch den Text dieser Fassung der Todesanzeige zum ersten Mal ab. Bis in die nächste Generation befand sich offenbar auch das Quartblatt im Besitz der Familie Bach, da Schnapp es bedauert, diese hätte eine Faksimile-Herstellung für seinen Band über Hoffmanns Briefwechsel verweigert. E. T. A. Hoffmann: Briefwechsel. Bd. 2, S. 330, Nummer 992, Anm. 1.

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 Lust an der Makulatur

Aber ob Hoffmann nun tatsächlich so weit ging, die Katzenpfote – lebendig oder tot – mit Tinte zu benetzen und über das Papier zu ziehen, ist letztlich nicht von Belang (im Übrigen sind auf dem Blatt Spuren von Fingerabdrücken zu sehen, die Ponerts These doch relativ deutlich widerlegen). Wichtig ist: Hoffmann erzeugt den Eindruck, die Tintenspuren könnten mit einer oder durch eine Katzenpfote entstanden sein, so wild, wie sie über das Blatt verteilt sind – wie eine Spur, die nur von der Bewegung eines Körpers zu zeugen vermag, der seine Hinterlassenschaft auf dem Papier weder auf bestimmte Weise geformt geschweige denn ihr einen bestimmten Sinn beigegeben hat. Zumindest lässt sich in diesen Spuren keine Schriftähnlichkeit erkennen, lassen sie keinerlei Absicht in der Art ihres ungeformten Erscheinens vermuten, die auf Zeichenhaftigkeit deuten würde. Und doch werden die Tintenkleckse, diese Spuren einer über das Blatt geführten Bewegung der Pfote oder Hand, als Signatur der Todesanzeige beigegeben. So zumindest wird ihre Bedeutung durch den lesbaren Zusatz „Kater Murr“ nahegelegt, der auf widersprüchliche Weise ihre Existenz als bloße Kleckserei durch die eigene lesbare Schriftlichkeit zugleich bestätigt und ihnen eben die Qualität als Kater-Schrift attestiert. In diesem Sinne wirkt der Zusatz „Kater Murr“ wie eine Übersetzung der Tintenkleckse in eine dem Menschen lesbare Schrift, können die Tintenspuren als Manifestierung einer kätzischen Handschrift verstanden werden. Der Betrachter kann sie durch den Zusatz „Kater Murr“ nicht lesen, doch sie erhalten eine Bedeutung durch die Zuordnung zu ihrem Urheber, der in der Todesanzeige sowohl mit dem verstorbenen Haustier Hoffmanns wie auch mit dem fiktiven Verfasser der Lebens-Ansichten identifiziert wird. Den offensichtlichen Klecksspuren wird so eine Qualität als Schriftzeichen zugeeignet, die sie aufgrund der genannten vermeintlichen Ungeformtheit eigentlich vermissen lassen. Es stellt sich erneut die Frage der Urheberschaft: Lässt man sich auf die Fiktion ein, so wäre zu fragen, welche Instanz den schriftlichen Zusatz „Kater Murr“ eingefügt und dem Adressaten damit eine Perspektive auf die Kleckse eröffnet hat, über die dieser in den Klecksen eine dem ungeübten menschlichen Auge unkenntliche Katerschrift erkennen oder zumindest erahnen kann. Das Verhältnis von Kleckserei und schriftlichem Zusatz erinnert an das Verhältnis von fiktivem Herausgeber und Kater-Autor. Dem fiktiven Herausgeber der Lebens-Ansichten Hoffmann ist ebenfalls die Katerschrift lesbar geworden, er muss sie uns jedoch vermitteln, sie rahmen. Andersherum ist gleichzeitig mit der fiktionalen Rezeptionsebene, die damit nahegelegt wird, auf lustige Weise offensichtlich: Es ist Hoffmann, der hier im wahrsten Sinne seine Hand im Spiel hat, die den Kater-Autor Murr inszeniert und Hoffmann selbst zum Herausgeber seiner Schriften macht. Einerseits entsteht dabei eine textuelle performative Überlagerung von Fiktion und Wirklichkeit. Die Todesanzeige bringt bereits die Wirklichkeit des verstorbenen Haustiers und die Fiktion des schreibenden Katers textuell zusammen. Zugleich vollzieht das bekleckste Quartblatt mit dem lesbaren Zusatz „Kater Murr“ einen deutlichen Anschluss an die Fiktion des schreibenden Katers, der mit dem toten Haustier identifiziert wird. Überdies liegt uns in den Tintenklecksen auch die explizite Spur einer Geste vor, die von der körperlichen und medialen Ausführung der textuellen Überlagerung

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von Fiktion und Wirklichkeit zeugt. Zu einer textuell-performativen Dimension (der textuellen Überblendung von Fiktion und Wirklichkeit des urhebenden Subjekts) tritt damit die Performativität der Verkörperung. Die Kleckse führen als a-semische und zugleich deutbare Phänomene an der Grenze zur Zeichenhaftigkeit die Körperlichkeit und Instrumentalität des Schreibens vor. Damit wird am Klecks eine liminale Zone ebenso zwischen Ding und Zeichen wie zwischen Wirklichkeit und Fiktion eröffnet. Der Klecks ist dabei Manifest der gestischen Verkörperung dieser liminalen Zone im Sinne des „skurrilen Scherzes“ Hoffmanns. Trotz der Schemenhaftigkeit der sich auf ihr befindenden Zeichnung kann auch die Rückseite des Blattes in diese Analyse einbezogen werden (Abb. 13): Hier finden wir eine mit Bleistift angedeutete (Unter-)Schrift mit dem für Hoffmann typischen ausgreifenden Vollzugsstrich, der manchmal auch in einen Schreibmeisterschnörkel ausgeführt wurde. Zudem ist ein Profil angedeutet, ähnlich einem der vielen Hoffmann’schen Selbstporträts, die er auch oft neben seine oder anstatt seiner Unterschrift setzte.230 In der Räumlichkeit des Blattes, über dessen Umkehr (denn tatsächlich muss man das Blatt nicht nur wenden, sondern auch auf den Kopf stellen, um Porträt und Unterschrift von der richtigen Seite zu betrachten) wird wiederum das Verfahren des Romans aufgenommen: Murrs Klecks-Manuskript birgt auf der anderen Seite die Unterschrift Hoffmanns, so wie der Roman neben Murrs Autobiographie die vom unbekannten Autor verfasste Biographie Kreislers enthält, die sich gegenseitig spiegeln (siehe hierzu das folgende Kap. 3.4). Murrs Kleckse treten keck hervor, während die Künstler-Unterschrift bzw. die Künstler-Biographie nur als blasse Nebensache präsentiert wird. Beide ‚Unterschriften‘ sind Seiten ein- und desselben Blattes – die Verknüpfung von Murr und Kreisler, innerhalb derer Murr als Ausgeburt des Humors eine karnevaleske Spiegelung der romantischen Künstlerfigur darstellt, wird hier auf materialästhetische Weise aufgenommen.231

230 Vgl. zu Hoffmanns Unterschriftpraktiken etwa den Brief von E. T. A. Hoffmann an Georg Andreas Reimer vom 24. Juni 1818 (Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: L.g.o.1121-a(1/2#enthalten: http:// www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027321, zuletzt eingesehen am 16.01.2018) sowie den Brief von E. T. A. Hoffmann an Friedrich Wilmans vom 08. September 1821 mit den jeweils ausladenden Schnörkeln, die in die Unterschrift führen (Staatsbibliothek Bamberg, Sign: Autogr. H 76: urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027062, zuletzt eingesehen am 16.01.2018); vgl. das Selbstbildnis Hoffmanns in einem Brief an Theodor Gottlieb von Hippel vom 22. Mai 1821, das die Unterschrift ersetzt (Ponert: E. T. A. Hoffmann: das bildkünstlerische Werk, Kat. 226 [Bd. 1: Text, S. 226 f.; Bd. 2: Abbildungen, Abb. 183, S. 159]) sowie die Unterschrift mit „J. K.“ für Johannes Kreisler in einem Brief an Friedrich de la Motte Fouqué vom 14. Mai 1815 mit Zusatz des Porträts (Ebd., Kat 175 (Bd. 1: Text, S. 274, Bd. 2: Abbildungen: Abb. 123, S. 101); vgl. den Brief an J. G. Keller vom 24. Januar 1814 mit dem Selbstbildnis mit langer Pfeife statt der Unterschrift, in dem der Rauch der Pfeife zur arabesken Umrahmung des Textes wird (EBd. Kat. 142 (Bd. 1: Text: S. 215 f.; Bd. 2: Abbildungen: Abb. 93, S. 76). 231 Wulf Segebrecht deutet in seiner Ausführung über den Zusammenhang von Kreisler und Murr bereits auf diese Schlüsse hin: Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 217 f.

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 Lust an der Makulatur

Abb. 13: E. T. A. Hoffmann: Quartblatt mit den Schriftzügen Murrs (Rückseite), http://www.nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027202; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/1.

Murrs Signatur – die Widmung Ein weiteres Zeugnis stellt in diesem Zusammenhang ein Exemplar einer Erstausgabe des Romans dar, das Hoffmann seinem Arzt und Freund Dr. Heinrich Meyer mit einer eingeklebten Widmung schenkte (Abb. 14). Wir lesen die Widmung „Seinem verehrtesten Freunde Herrn Doktor H. Meier – der Verfasser“. Unterschrieben hat Hoffmann jedoch nicht – anstelle des Namens sehen wir einen Tintenfleck. Wieder scheint sich hier die ‚Unterschrift‘ des Autors Murr zu zeigen. Indem Hoffmann nicht selbst als Autor des Romans unterschreibt, sondern einen Klecks in den Schreibschnörkel platziert, wo eigentlich seine Unterschrift Platz gehabt hätte, schließt er sich wie im vorigen Beispiel an die Fiktion des tintenklecksenden Katerautors an und erweitert die Herausgeberfiktion humorvoll in die Wirklichkeit.

Unterschriften, Abdrücke, Fiktionalisierungen 

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Abb. 14: Widmung E. T. A. Hoffmanns für Heinrich Meyer, http://www.nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027502; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: Sel.229-c(1#enthalten der Verfasser; [Adressat:] Herrn Doctor H. Meier)

Der Tintenfleck, der anstelle der Unterschrift in den Bogen des weitläufigen Schreibschnörkels platziert wurde, ist jedoch im Vergleich zu den ‚letzten Schriftzügen Murrs‘ geformter und stellt gerade diesen Anschein eines bearbeiteten Artefaktes aus: Denn er wurde selbst durch Elemente der Schrift, durch Pünktchen und Striche versehen. Indem dem Fleck Schriftelemente zugeordnet werden, erfährt er in gewisser Hinsicht eine Individualisierung, derentwegen er einer näheren Betrachtung wert erscheint und dieser Betrachtung Gewichtigkeit heischend entgegentritt. Auch hier liegt der Scherz in der offensichtlichen Tatsache, dass wir einen Fleck vor uns haben, der aber der Schrift zugeordnet und im vorliegenden Fall sogar ähnlich gemacht wird. Die Setzung eines solchen ‚Fleck-Individuums‘ anstelle einer Unterschrift scheint man insofern einerseits – weil es eben ein Fleck ist – als Subvertierung dieser Geste der Zuordnung und Aneignung des Geschriebenen als das Eigene eines Autorsubjekts ansehen zu müssen. Zugleich ist diese Setzung jedoch eine Geste, die das Geschriebene als der eigenen Autorschaft zugehörig ausweist und authentifiziert, weil der Fleck ja eindeutig ‚individualisiert‘ wurde. Der ‚individualisierte Fleck‘ Murrs weist damit also auch auf die Individualität der Signatur hin, mit der sich ein Individuum vor dem Hintergrund des „Aufstieg[s] der Unterschrift zum Distinktionskriterium eigener Persönlichkeit und

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Identität“ authentisch äußert und ausdrückt.232 Dem vorliegenden Fleck, so scheint es, sollte der Anschein einer solchen unverwechselbaren Eigenheit und Authentizität gegeben werden – und doch ist und bleibt er ein Fleck. Sieht man ihn in diesem Zusammenhang als beabsichtigten Abdruck an, der durch die Benetzung einer Extremität wie der Hand oder im vorliegenden Fall der Pfote mit Farbe und ihr Auflegen auf einem Untergrund entstanden ist: dann weist der Fleck, der hier die Unterschrift ersetzt, gerade auf deren Ursprünge hin, auf die sie über das „Dispositiv des Abdrucks“ zurückweist.233 Der Ursprung der Unterschrift kann innerhalb einer Geschichte der Urheberzeichen auf die Erzeugung von Körperspuren – als Aufdruck oder Eindruck – zurückgeführt werden.234 Die Unterschrift als Urherberzeichen lässt sich insofern als ein substituierender Abdruck einer Person auf einem Schriftstück verstehen, womit entweder ein Beschluss vollzogen oder ein Text aneignet wird. Die Unterschrift ist ein Körperzeichen, das zugleich über seine Unverwechselbarkeit Individualität ausdrücken soll. Dies erlangt im achtzehnten Jahrhundert noch einmal eine spezifischere Bedeutung im Kontext der physiognomischen Fragmente Johann Caspar Lavaters und der sich entwickelnden Graphologie, die in der Handschrift Persönlichkeitsmerkmale zu entdecken sucht.235 In derselben Zeit entsteht der moderne Autorbegriff, der, wie die zuvor erwähnte Studie Uwe Wirths zeigt, sich jedoch gerade über die fiktive Herausgeberschaft herausbildet.236 Hoffmanns Klecks-Signatur scheint dies noch einmal zu spiegeln: Hoffmann schreibt als er selbst die Widmung an seinen Freund Meyer, unterschreibt jedoch mit dem Klecks, der dem fiktiven Autor Murr zugeordnet werden könnte. Dies könnte wiederum als Hoffmanns spielerische Einnahme einer Herausgeberrolle gedeutet werden. Er subvertiert sowohl die Autorsignatur, die das Verfasste seiner geistigen Urheberschaft zuordnet als auch den Gedanken der authentischen Spiegelung seiner Individualität in dieser Unterschrift. Im ‚individualisierten‘ Fleck erinnert er sowohl an die instrumentelle Verfeinerung des Körperabdrucks in der Handschrift als auch an den Körperabdruck selbst. Damit wird hier der Fakt der Inkorporation der geistigen Ausdrucksabsicht im Schreibakt thematisiert. Was aus dem Quartblatt mit ‚Murrs letzten Schriftzügen‘ geschlossen wurde, gilt hier vielleicht noch deutlicher: Der Klecks markiert die Schwellenzone, in der Ding und Körper mit dem Zeichen, in der außertextuelles und außerfiktionales Subjekt mit dem fiktionalen Text über die Geste des Schreibens verfließen. Zugleich erinnert der im Klecks verfremdete Name an eine auch im frühromantischen Diskurs noch weitergetragene Faszination des Namens als Zeichen einer

232 Macho, Thomas: „Handschrift – Schriftbild. Anmerkungen zu einer Geschichte der Unterschrift“, in: Grube, Werner (Hg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine. München 2005, S. 413–422, hier S. 419. 233 Ebd., S. 415. 234 Ebd., S. 414 235 Ebd., S. 419. 236 Wirth: Die Geburt des Autors, S. 15 f.

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(göttlichen) Ursprache,237 in der nicht zwischen Zeichen und Bezeichnetem eine unüberbrückbare Differenz, sondern Einheit herrschte, ein Verhältnis der (doch zugleich geheimnisvollen) Präsenz. Diese Vorstellung prägt ebenso den Begriff der Hieroglyphe (Teil I, Kap. 2). Die Präsenz und Indexikalität eines solchen ursprünglichen Zeichens auf seine sich in ihm zeigende tiefe Bedeutung spiegelt sich auf gebrochene Weise im Klecks, der Bedeutung heischend statt der Unterschrift das Blatt ziert. Er verweist nicht zuletzt auf die Ambivalenz des nicht entzifferbaren und dennoch bedeutungsvoll präsenten Zeichens. Auch der Name „Kreisler“, den Hoffmann ebenfalls häufig zur Unterschrift nutzte,238 verweist auf diese Zusammenhänge – der Kreis zeigt sich dabei als Symbol einer in sich vollendeten Ganzheit, die jedoch zugleich durch eine immerwährende Selbstbezüglichkeit überhaupt entsteht, eine Selbstbezüglichkeit, die nicht über sich hinauszugehen vermag. Als solches ist der Kreis ein wichtiges Symbol für Hoffmanns Auseinandersetzung mit der frühromantischen Forderung einer ständigen Wiederkehr der Reflexion zu ihrem Ausgangspunkt – von Begrenzung zu Entgrenzung und zurück – als Zugang zum Unendlichen. Im Sinne des in diesem Diskurs auftretenden Begriffs der Hieroglyphe könnte die Selbstbezüglichkeit des Kreises als Symbol der vollkommenen Präsenz eines Zeichens gesehen werden, das auf nichts verweist außer auf sich selbst (und damit strenggenommen seine Zeichenhaftigkeit verliert) – und zugleich als ideales Symbol einer Ganzheit und Unendlichkeit gelten.239

3.3 Murrs Materiallust Der Klecks, dessen poetologische Relevanz über die gezeigten handschriftlichen Zeugnisse Hoffmanns deutlich wird, ist nicht zuletzt im Roman selbst das zentrale schöpferische Motiv. Dies wurde zu Beginn dieses Kapitels bereits erläutert: Innerhalb der Fiktion der kätzischen Schreib-Geste, in der der Kater sich des Papiers bemächtigt, mit ihm in einer gewaltsamen Geste verfährt, es mit Tinte benetzt, ist der Text damit nicht mehr rein inhaltlich bestimmt. Er wird zugleich als papiernes Material ins Bewusstsein gehoben. Der Kater erklärt der Leserschaft selbst die Kleckserei aus seiner ‚Materiallust‘ heraus. Die Aura der Schrift, die vom Schreibtisch des Meister Abraham ausgeht, übt gerade in ihrer Materialität eine körperliche Anziehungskraft auf Murr aus:

237 Vgl. Hausdörfer, Sabine: „Die Sprache ist Delphi. Sprachursprungstheorie, Geschichtsphilosophie und Sprachutopie bei Novalis, Friedrich Schlegel und Friedrich Hölderlin“, in: Gessinger, Joachim/Rahden, Wolfert von (Hg.) Theorien vom Ursprung der Sprache. Bd. 1. Berlin/New York 1988, S. 468–497, hier S. 470 ff. 238 Siehe Anm. 228. 239 Rotman, Brian: Signifying nothing. The Semiotics of Zero. Hampshire/London 1987, S. 29; vgl. Colie, Rosalie L.: Paradoxia epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox. Princeton, NJ 1966, S. 226.

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Nichts zog mich in des Meisters Zimmer mehr an, als der mit Büchern, Schriften und allerlei seltsamen Instrumenten bepackte Schreibtisch. Ich kann sagen, dass der Tisch ein Zauberkreis war, in dem ich mich gebannt fühlte, und doch empfand ich eine gewisse heilige Scheu, die mich abhielt, meinem Triebe ganz mich hinzugeben. Endlich eines Tages, als eben der Meister abwesend war, überwand ich meine Furcht und sprang herauf auf den Tisch. Welche Wollust, als ich nun mitten unter den Schriften und Büchern saß, und darin wühlte. Nicht Mutwille, nein nur Begier, wissenschaftlicher Heißhunger war es, dass ich mit den Pfoten ein Manuskript erfasste, und so lange hin und her zauste, bis es in kleinen Stücken zerrissen vor mir lag.240

Etwas später, und nach der Bestrafung durch seinen Herrn Meister Abraham, widerholt der Kater das Wagnis: Kaum war der Meister fort, so sprang ich mit einem Satz auf den Schreibtisch und legte mich hinein in die Schriften, welches mir ein unbeschreibliches Wohlgefallen verursachte.241

Die Aura von Schrift und Gelehrsamkeit lässt den Kater sich dem Schreibtisch immer wieder nähern und zwischen einem körperlichen Drang nach dem Kontakt mit der Schrift und einem ehrfürchtigen Zaudern schwanken. Schließlich siegt die körperliche Anziehungskraft. Das körperliche Gefallen am Kontakt mit dem Papier wird der Kater bald in seinen Schreibübungen vertiefen. Dieser körperliche Genuss ist das Initiationserlebnis, das den Kater zur Feder greifen lässt. Bald beschreibt er, welche Strapazen ihm das Schreiben mit Feder und Tinte zu Beginn bereitete: Ich mußte eine andere dem Bau meines rechten Pfötchens angemessene Schreibart erfinden. […] Eine zweite böse Schwierigkeit fand ich in dem Eintunken der Feder in das Tintenfaß. Nicht glücken wollt es mir nämlich, bei dem Eintunken das Pfötchen zu schonen, immer kam es mit hinein in die Tinte, und so konnte es nicht fehlen, daß die ersten Schriftzüge, mehr mit der Pfote, als mit der Feder gezeichnet, etwas groß und breit gerieten. Unverständige mochten daher meine ersten Manuskripte beinahe nur für mit Tinte beflecktes Papier ansehen. Genies werden den genialen Kater in seinen ersten Werken leicht erraten, und über die Tiefe, die Fülle des Geistes […] erstaunen […].242

Der Text führt die Körperlichkeit der Schreibgeste in verfremdeter Form als Schreiben mit der Pfote vor. Es ist ein anstrengender Versuch, das für die Katerpfote angepasste Schreibgerät durch die Tinte und diese dem Willen nach in feinen Linien über das Papier zu führen, den Körper also über das Instrument zu verlängern und zugleich selbst zu instrumentalisieren, was dem Kater nicht gleich gelingen will. Die Schrift bleibt eine Katerschrift, sie besteht aus dicken Strichen, die den Einfluss des Körpers auf diesen Willensakt verraten. Etwas geübter, drückt der Kater doch später durchaus

240 H KM, S. 40. 241 Ebd., S. 41. 242 Ebd., S. 43 f.

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auch beim Schreiben seine körperliche Lust aus. Dies erfahren wir über den Bericht des Professors für Ästhetik Lothario, der den Kater eben in einem solchen Moment der Inspiration gesehen haben will: Ich […] nahm einige Dachziegel herab, so daß ich mir die freie Aussicht in Eure Dachluke verschaffte. Was gewahrte ich! […] In dem einsamsten Winkel des Bodens sitzt Euer Kater! – sitzt aufgerichtet vor einem kleinen Tische, auf dem Schreibzeug und Papier befindlich, sitzt und reibt sich bald mit der Pfote Stirn und Nacken, fährt sich übers Gesicht, tunkt bald die Feder ein, schreibt, hört wieder auf, schreibt von neuem, überliest das Geschriebene, knurrt (ich konnte es hören), knurrt und spinnt vor Wohlbehagen. – Und um ihn her liegen verschiedene Bücher, die, nach ihrem Einband, aus Eurer Bibliothek entnommen.243

Lesende können über den empörten Bericht des Professors für Ästhetik den Genuss des Katers im Kontakt mit Papier, Schreibgerät und Tinte nachvollziehen. Der Text evoziert, so könnte man mit Roland Barthes schließen, den Akt des Lesens als Mitvollzug des genussvollen Schreibakts über die Perspektive des Katers. Wir werden darauf gestoßen, dass sich unser Akt des Lesens „auf den Spuren dessen, der schreibt“ bewegt: „vom geschriebenen Wort kann ich zurückgreifen auf die Hand, den Muskel, das Blut, den Trieb, die Kultur des Körpers, seinen Genuss.“244 Wir werden aufmerksam auf die, hier animalische, Körperlichkeit, den Einfluss von Material und Instrument, die Kulturalität der Schreibgeste, die jedem Schreibakt eignet – und die der Kater sich erst an-eignet und seiner Anatomie gemäß modifiziert. Der Schreibakt des Katers zeigt vor allem das Entstehen des Textes aus diesem performativen Zusammenspiel von Körper, Instrument und Material heraus, das von Anfang an einen sinnlichen Genuss bedeutet. Murr selbst beschreibt seinen Schreibdrang als das Drängen einer Materia peccans, die er mit seinen erhabenen Ergüssen aus dem Körper entlassen muss: Ich kehre zurück an den Schreibtisch, mir ist besser. – Aber wovon das Herz voll ist, davon geht der Mund über und auch wohl der Federkiel des Dichters! – Ich hört einmal den Meister Abraham erzählen, in einem alten Buche stände etwas von einem kuriosen Menschen, dem eine besondere Materia peccans im Leibe rumorte, die nicht anders abging als durch die Finger. Er legte aber hübsches weißes Papier unter die Hand und fing so alles, was nur von dem bösen rumorenden Wesen abgehen wollte, auf und nannte diesen schnöden Abgang Gedichte, die er aus dem Innern geschaffen. Ich halte das Ganze für eine boshafte Satire, aber wahr ist es, zuweilen fährt mir ein eignes Gefühl, beinahe möcht ich‘s geistiges Leibkneifen nennen, bis in die Pfoten, die alles hinschreiben müssen, was ich denke. – Eben jetzt geht‘s mir so –245

Deutlich verweist der Kater selbst auf die satirische Dimension dieser humoralpathologischen Begründung seiner Schriftstellerei – und letztlich hat ja auch die satirische

243 Ebd., S. 93. 244 Barthes: Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift, S. 157. 245 H KM, S. 195 f.

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 Lust an der Makulatur

Dimension der Katerfigur Anlass zu den meisten ihrer Deutungen gegeben, die im Kater den unverständigen und zudem plagiierenden Philister oder den lachhaften Burschenschaftler erkannten.246 Gerade das Motiv der Kleckserei wurde ja, wie zuvor die Analyse des Goldenen Topfes zeigte, als Ausdruck philiströser Beschränktheit gewertet – nicht zuletzt scheint das Clemens Brentanos Philistersatire zu bestätigen. Wie jedoch das Kapitel „(Selbst-)Satire“ (Teil I, Kap. 3.2.3) zeigte, müssen solche Motive differenzierter und als Teil einer romantischen Selbstparodie betrachtet werden, die ein aus der Literaturkritik der Klassik und Frühromantik stammendes Motiv spielerisch und lustvoll weitertreibt. Murr selbst erkennt an dieser Stelle im Text bereits den satirischen Impetus der Geschichte über die Materia peccans, die einen Tintenstrom in Gedichte münden lässt – und verteidigt den Ausdruck zugleich selbstbewusst. Murrs „geistiges Leibkneifen“ ist durchaus als poetologisches Gründungsmoment des Romans zu sehen, das innerhalb von Hoffmanns Poetik einen festen Ort hat.

3.4 Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler Obwohl immer wieder die offensichtliche Tatsache betont worden ist, dass der Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr allein durch seinen Titel auf Laurence Sternes Life and opinions of Tristram Shandy, Gentleman verweist, wurde zumeist nicht erkannt, dass der Roman damit vielmehr eine bestimmte Genretradition zitiert. Sternes Roman ist als eines der einflussreichsten Paradeexemplare in diese Tradition einzuordnen, innerhalb derer aber gerade der Bezug auf Tristram Shandy selbst bereits Tradition hat. Das Genre dieser Schelmenliteratur, auf deren Vorläufer oder Wegbereiter – wie den französischen Autor François Rabelais und den berühmtesten Autor des spanischen Picaro-Romans Miguel de Cervantes  – sich Sterne selbst zurückbezieht, hat die Entstehung des modernen Romans entscheidend beeinflusst. Während zunächst vor allem strukturelle Merkmale einer pluralen oder polyvalenten Weltdarstellung genannt werden, die den Schelmenroman als prägend für den modernen Roman auszeichnen,247 sind es doch zugleich auch deren humoristische Züge und „schwankhaften“ Motive,248 die sich bis ins neunzehnte Jahrhundert in dieser Genretradition erhalten (siehe Teil I, Kap. 3.2.3).

246 Vgl. etwa die Arbeiten von Müller: Das künstlerische Schaffen E. T. A. Hoffmanns; Harich: E. T. A. Hoffmann. Das Leben eines Künstlers.; Korff: Geist der Goethezeit. Tl. 4. bes. S. 543–639, aber auch etwa Beardsley, Christa-Maria: E. T. A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Bonn 1985; vgl. zu dieser Tendenz der älteren Hoffmann-Forschung Steinecke, Hartmut: Nachwort, in: E. T. A. Hoffmann: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Mit Anhang und Nachwort hg. v. Hartmut Steinecke. Stuttgart 1972, S. 493–516, hier S. 503 f. 247 Bauer, Matthias: Der Schelmenroman. Stuttgart/Weimar 1994, S. 1 f. 248 Striedter, Jurij: Der Schelmenroman in Rußland. Ein Beitrag zur Geschichte des russischen Romans

Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler 

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Der Roman Lebens-Ansichten des Katers Murr begibt sich bereits über seinen Untertitel nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern in die Nähe zu solchen zeitgenössischen, von der Literaturkritik oft verfemten Schelmentexten, die sich häufig mit selbstsatirischer Absicht als Makulatur deklarierten. Dabei wird die Polemik der Literaturkritik, einen literarischen Text wegen seiner mangelnden Qualität (seines Mangels an Form) rhetorisch auf sein Material zu reduzieren (und damit seine Fixiertheit auf den Stoff hervorzukehren), parodistisch aufgegriffen. Auch bei Hoffmann tritt dabei eine karnevaleske Tendenz hervor, das in der Literaturkritik Hochgelobte und deren Ideal einer geistvollen Literatur auf deren profane Ebene – das Material – herunterzuziehen. Nicht nur über den Titel wird der Roman in diese Schelmentradition eingeordnet, auch die oben bereits beschriebene Nennung Rabelais’ beim Einsetzen des ersten ‚Makulaturblattes‘ gibt diese Vorbilder zu erkennen. Freilich kann nur ein versierter Sterne-Leser erkennen, dass dieses Rabelais-Zitat eigentlich ein Zitat aus Sternes Sentimental Journey ist, innerhalb derer ein Makulatur-Blatt mit der von Meister Abraham wiedergegebenen Geschichte aufgefunden und Rabelais nur zugeordnet wird.249 Vor allem weist der Text dabei aber auf die Makulatur als motivisch und strukturell bestimmendes materielles Textfragment hin, das mit der Schreibgeste des Katers Murr verbunden wird. Die Makulatur ist der lustvoll beschriebene und dabei zerrissene, bekleckste Text des Tiers Murr. Aber nicht nur der explizit körperlich (animalisch) geprägte Umgang Murrs mit dem Schriftmaterial macht ihn als einen Schelm im Sinne des zeitgenössischen literarischen Kontextes kenntlich. Auch seine Schreibweise passt zu diesem leiblich determinierten Umgang. Das „Tier Murr“ schreibt wie ein Tier, das sich eine menschliche Schreibweise aneignet, sie jedoch immer in seinem auf den leiblichen Genuss fixierten Sinne ausführt;250 siehe dazu etwa das folgende Gedicht Murrs: Sehnsucht nach dem Höheren Ha welch Gefühl, das meine Brust beweget Was sagt dies unruh – ahnungsvolle Beben, Will sich zum kühnen Sprung der Geist erheben, Vom Sporn des mächtgen Genius erreget?

vor Gogol. Berlin 1961. Liebrand, Claudia: „Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst ­fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. ‚Literarischer Vandalismus‘“, in: Saße, Günter (Hg.): Interpretationen. E. T. A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2004, S. 212–237, hier S. 219. 249 Liebrand, Claudia: „Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. ‚Literarischer Vandalismus‘“, in: Saße, Günter (Hg.): Interpretationen. E. T. A. Hoffmann. Romane und Erzählungen. Stuttgart 2004, S. 212–237, hier S. 219. 250 Hier und im Folgenden beziehe ich mich auf Matt: „Das Tier Murr“, S. 179–198, hier v. a. S. 189 ff.

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Was ist es, was der Sinn im Sinne träget Was will dem liebesdrangerfüllten Leben Dies rastlos brennend feurig-süsse Streben, Was ist es, das im bangen Herzen schläget? Entrückt werd ich nach fernen Zauberlanden, Kein Wort, kein Laut, die Zunge ist gebunden, ein sehnlich Hoffen weht mit Frühlingsfrische, Befreit mich bald von drückend schweren Banden. Erträumt, erspürt, im grünsten Laub gefunden! Hinauf, mein Herz! Beim Fittich ihn erwische!251

Überzeugend hat Peter von Matt hier auf die Topoi der Sehnsuchtssprache, der sich selbst forttreiben wollenden Selbstreflexion einer Dichtersprache unter dem Eindruck der Sprachkrise hingewiesen. Topoi der romantischen Poesie werden zusammengeballt vorgezeigt und dann im letzten Vers entlarvt als Phrasen, die dem kätzischen Jagdtrieb aufgestülpt wurden, diesen Trieb gleichsam erhöhend und das geistige, sehnsüchtige Streben des Romantikers herunterziehend auf die profane Ebene der Fressjagd („Beim Fittich ihn erwische!“). Zudem erkennt von Matt, dass Murr mit dem ‚Flug des Herzens‘ relativ deutlich Formeln des katholischen Kirchenliedes zitiert, womit der Kater nicht nur die religiöse Erfahrung im engeren Sinne, sondern auch die spirituelle Erfahrung des Romantischen und dessen Nähe zur Religiosität auf die Ebene der leiblichen Profanität bringt. Im behandelten Kontext besonders schlüssig erscheint von Matts Formulierung, der Kater entlarve die Sprache philosophischer, theologischer wie poetischer Sinnsysteme als „Schutt und Schotter“, indem er die „Wahrheit des Tiers“ verkörpere.252 Vor dem Hintergrund der anthropologischen Grundlegung der erhabenen Vernunft des Menschen im achtzehnten Jahrhundert über den aufrechten Gang und eine Art der Sinneserfahrung, die es ihm ermögliche, diese Vernunft auch gerade über die Entwicklung der Sprache auszubilden,253 erscheint Murr als Subversionsfigur. Als solche spricht er sich ja auch gerade zu Beginn des Romans gegen diese menschliche Arroganz aus:

251 H KM, S. 90 f. 252 von Matt: „Das Tier Murr“, S. 192. 253 Herder, Johann Gottfried: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Erster Theil. Riga und Leipzig 1784, S. 179 f. (Auch Peter von Matt hebt den deutlichen Zusammenhang dieser für die Anthropologie des achtzehnten Jahrhunderts zentralen Arbeit Herders mit Hoffmanns Roman hervor.) Zudem sei hier noch hingewiesen auf Herders Abhandlung über den Ursprung der Sprache, in der er die Sprachfähigkeit des Menschen aus seiner sinnlichen Abstraktionsfähigkeit heraus erklärt, die ihn vom Tier unterscheide: Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache, welche den von der Königl. Academie der Wissenschaften den für das Jahr 1770 gesetzten Preis erhalten hat. Berlin 1772, S. 58 ff. Vgl. zur subversiven Dimension des Romans gegenüber der anthropologischen Selbstkonstruktion des Menschen die Arbeit von Kofman, Sarah: Schreiben wie eine Katze (siehe Anm. 191).

Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler 

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Ist denn das auf zwei Füßen aufrecht Einhergehen etwas so Großes, daß das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die Herrschaft über uns alle, die wir mit sicherem Gleichgewicht auf Vieren daherwandeln, anmaßen darf? Aber ich weiß es, sie bilden sich was Großes ein auf etwas, was in ihrem Kopfe sitzen soll und das sie Vernunft nennen. Ich weiß mir keine rechte Vorstellung zu machen, was sie darunter verstehen, aber so viel ist gewiß, daß wenn […] Vernunft nichts anders heißt, als die Fähigkeit mit Bewußtsein zu handeln und keine dumme Streiche zu machen, ich mit keinem Menschen tausche. – Ich glaube überhaupt, daß man sich das Bewußtsein nur angewöhnt; durch das Leben und zum Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht wie.254

Die Berechtigung des Menschen, sich wegen seines Ganges erhaben über die anderen Wesen zu fühlen, spricht Murr ihm ab: nicht zuletzt, weil der Kater die Vernunft als eine nachträgliche Konstruktion versteht, die dem Erlebten und dem Handeln übergestülpt wird, um es als bewusst motiviert zu begreifen. „[D]urch das Leben und zum Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht wie“ – die Meinung des Menschen, sein Handeln wäre durchgehend bewusst motiviert, hält der Kater für eine Fiktion. Damit wird diese durch die Anthropologie des achtzehnten Jahrhunderts grundlegend getroffene Unterscheidung von Mensch und Tier hinfort gewischt. Nicht zuletzt der animalische Akt des Schreibens ist es, der diese Unterscheidung als eine von vornherein durch das Eindringen des Ausgeschlossenen bedrohte Selbstkonstruktion des Menschlichen offenbart.255 Über diese Dekonstruktion der Kategorie der menschlichen Vernunft hinaus lehnt Murr ein Handeln ab, das ihn davon abhalte, „dumme Streiche zu machen“. Murrs Fixation auf die leiblichen Genüsse – seine Schwärmerei über die Taubenjagd, über die Speckstücke in der Wurst, denen er seine Verse gleichmachen will,256 seine Fantasie, den Leib der von ihm begehrten Katze Miesmies zu verschlingen257 – ist getrieben durch diesen „dummen Streich“: Es ist ein humoristischer Drang, das Hochheilige, die romantische Geistigkeit, Entrückung und Spiritualität auf die profane Gegenständlichkeit und Triebgesteuertheit herunterzuziehen. So wäre auch Murrs Verfahren mit der gedruckten Kreisler-Biographie und seine Dekontextualisierung von Zitaten aus

254 H KM, S. 19. 255 Vgl. hier wiederum Sarah Kofmans Analyse des Romans, die sich stark an Derridas Theorie der Dekonstruktion und im engeren Sinne am Konzept der Iteration orientiert. Kofman: Schreiben wie eine Katze. 256 Vgl. H KM, S. 426: „Katerjüngling, sei bescheiden wie ich und nicht gleich überall bei der Hand mit deinen Versen, wenn die schlichte, ehrliche Prosa hinreicht, deine Gedanken auszuspinnen. – Verse sollen in dem in Prosa geschriebenen Buche das leisten, was der Speck in der Wurst, nämlich hin und wieder in kleinen Stückchen eingestreut, dem ganzen Gemengsel mehr Glanz der Fettigkeit, mehr süße Anmut des Geschmacks verleihen. Ich fürchte nicht, daß dichterische Kollegen dies Gleichnis zu gemein und unedel finden werden, da es von unsrer Lieblingsspeise entnommen und in der Tat manchmal ein guter Vers einem mittelmäßigen Roman ebenso dienlich sein kann als ein fetter Speck einer magern Wurst. Ich sage das als ein Kater von ästhetischer Bildung und Erfahrung.“ 257 Ebd., S. 199.

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kanonischen literarischen Texten als eine Absage an deren Topoi des romantischen Künstlertums sowie die Kategorie der schöpferischen Originalität zu sehen, die zum „Schutt“, zur Makulatur erklärt werden. Hieraus ergibt sich auch von Matts These, man könne den Kater nicht zum Philister abstempeln, der sich seiner Beschränktheit weder bewusst werde noch solche Sinnsysteme über Bord werfe. Murr sei vielmehr „einer der ersten Überbau-Theoretiker des neunzehnten Jahrhunderts.“258 Murr, gleichsam als Vorläufer Freuds, behaupte, die Schöpfung der menschlichen Kultur entstehe aus Triebverzicht und erteile dieser Bewegung eine Absage.259 Vor dem Hintergrund der Überlegungen, die zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt wurden, macht dies Sinn: Die Makulatur, die macula, erweist sich als Symbol der ständigen Bedrohung und Durchdringung des semantischen Guts aus dem Raum des ‚Abgefallenen‘. Dennoch muss vor dem Hintergrund der zuvor erschlossenen Kontexte der Schelmen- und Narrenliteratur sowie der satirischen Literatur um 1800 diese These in Hinsicht auf das Verhältnis von Philister und romantischem Künstler sowie in Hinsicht auf das Verhältnis von Murr und Kapellmeister Kreisler überdacht werden. Nicht zuletzt zeigt das die narrative Rahmung des oben zitierten Gedichts im Roman: Verlesen wird es vom Professor für Ästhetik Lothario. Dieser hat den Verdacht entwickelt, die Zeilen seien vom Kater Murr verfasst worden, der durch den am Hof des Duodezfürstentums Sieghartsweiler angestellten Meister Abraham aufgezogen wurde. Lotharios Verdacht, der Kater habe die Zeilen verfasst, wird von diesem in einem Gespräch mit Meister Abraham geäußert, das der Kater wiederum anhört, sodass er von ihm berichten kann. Somit werden das Gedicht und seine Rezeption durch mehrere Perspektiven hindurch erfasst: Die des paranoiden Professors, der im Kater einen ungeheuerlichen Konkurrenten seiner Kunst wittert und diese Umtriebe ausmerzen will; dann die Perspektive des Meisters Abraham, der sich amüsiert und dem Professor gegenüber vorgibt, er halte das Ganze entweder für einen Scherz, mit dem der Professor ihn aufziehen wolle, oder aber für eine Verrücktheit. Dann wiederum rahmt dieses Gespräch die Erzählung des Katers, der im Bücherschrank versteckt mithört und über die spöttische Art und Weise des Professors, seine Verse vorzutragen, erzürnt ist. Meister Abrahams „dröhnende Lache“260 beim Anhören des Kater-Gedichts erscheint somit wie ein Scharnier zwischen den eifersüchtigen Rezeptionen von Professor und Kater, die dem jeweils anderen seinen Rang oder gar seine Berechtigung als Rezipient und Verfasser von Texten absprechen.261 Aufschlussreich ist an dieser Stelle jedoch eine Bemerkung des amüsierten Meister Abrahams, mit der er den die vermeintlich ‚kätzischen‘ Gedichte rezitierenden Professor unterbricht:

258 von Matt: „Das Tier Murr“, S. 191 f. 259 Ebd., S. 193. 260 H KM, S. 91. 261 Gebrochen wird freilich diese Haltung Meister Abrahams, als er dem Kater gegen solche eventuellen schriftstellerischen Ambitionen Gewalt androht: H KM, S. 94.

Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler 

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Nein, unterbrach hier der Meister den lesenden Professor, nein, mein Freund, Ihr macht mich in der Tat ungeduldig, Ihr oder ein anderer Schalk hat sich den Spaß gemacht, im Geist eines Katers, der nun gerade mein guter Murr sein soll, Verse zu machen, und nun foppt Ihr mich den ganzen Tag damit herum. Der Spaß ist übrigens nicht übel, und wird vorzüglich dem Kreisler sehr wohl gefallen, der wohl nicht unterlassen dürfte, damit eine kleine Parforcejagd zu gestalten, bei der Ihr am Ende selbst ein gehetztes Wild sein könntet.262

Das Gedicht des Katers Murr könnte also ganz in den Humor Johannes Kreislers schlagen – wie aber könnte das sein, wenn der Kater Murr alles, wofür Kreisler steht, und damit auch Kreisler selbst als „Sprachschutt“ entlarvt (wie es Peter von Matt vermutet)? Über Meister Abrahams Ausspruch stellt sich das Verhältnis anders dar: Murrs ‚Einverleibung‘ des romantischen Geists ist ein humoristisches Verfahren, das Kreisler entspricht. Dies erklärt sich, wenn man verschiedene andere Stellen im Roman hinzunimmt, in denen Kreislers Humor thematisiert wird. Es ist zunächst die Begegnung Kreislers mit der Prinzessin Hedwiga und Julia zu nennen, der Tochter der am Hof Sieghartsweiler einflussreichen Rätin Benzon, die Kreisler unerwartet im Park des Schlosses antreffen. Kreisler spielt virtuos „fremdartigste“ Akkorde auf einer Gitarre und singt dazu auf Italienisch,263 bricht jedoch immer wieder ab, stimmt das Instrument neu, spricht zu ihm im Zorn, wirft schließlich die Gitarre fort ins Gebüsch und entfernt sich. Julia und Hedwiga, die dies beobachtet und vernommen haben, entdecken die Gitarre im Gebüsch, woraufhin Julia selbst beginnt darauf zu spielen und dazu zu singen. Schließlich begegnet ihnen wieder Kreisler, der sich von Julias Gesang und Gitarrenspiel ganz hingerissen zeigt und beide Frauen damit in Verlegenheit bringt. Während Julia zu weinen beginnt, erfährt Kreisler von der Prinzessin Hedwiga eine scharfe Zurechtweisung, die ihn auf ihren Rang aufmerksam macht: Die Prinzessin, den ersten Eindruck, den der Fremde auf sie gemacht, niederkämpfend, blickte ihn stolz an, und sprach dann mit beinahe schneidendem Ton: „Allerdings überrascht uns Ihre plötzliche Erscheinung mein Herr! man erwartet um diese Zeit keine Fremden mehr im fürstlichen Park. – Ich bin die Prinzessin Hedwiga.“ Der Fremde hatte sich, sowie die Prinzessin zu sprechen begann, rasch zu ihr gewendet, und schaute ihr jetzt in die Augen, aber sein ganzes Antlitz schien ein andres worden. – Vertilgt war der Ausdruck schwermütiger Sehnsucht, vertilgt jede Spur des tief im Innersten aufgeregten Gemüts, ein toll verzerrtes Lächeln steigerte den Ausdruck bitterer Ironie bis zum Possierlichsten, bis zum Skurrilen.264

262 Ebd., S. 92. 263 Ebd., S. 60. 264 Ebd., S. 65 f.

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 Lust an der Makulatur

Kurz nachdem Julias Rede über Kreislers tadelnswerten Umgang mit dem alten und kostbaren Instrument diesen bei der Erinnerung an Julias Spiel wieder besänftigt hat, fällt er erneut in diese ironische Haltung. Er richtet eine weitschweifige Entschuldigungsrede an die Prinzessin und wirft sich schließlich sogar vor ihr zu Boden: „Eigentlich hat mir das Schicksal oder mein Kakodämon einen sehr bösen Streich gespielt, dass ich hier so ganz ex abrupto, wie die Lateiner und noch andere ehrliche Leute sagen, vor Ihnen erscheinen muß, meine hochverehrtesten Damen! – O Gott gnädigste Prinzessin, riskieren Sie es, mich anzuschauen von Kopf bis Fuß. […] O Gott, könnt ich nur was weniges hexen, könnt ich nur subito diese edle Zahnstocherbüchse (er zog eine aus der Westentasche hervor) verwandeln in den schmuckesten Kammerherrn des Irenäusschen Hofes, welcher mich beim Fittich nähme und spräche: ‚Gnädigste Prinzessin hier ist der und der!‘ – Aber nun! – che far che dir! – Gnade – Gnade, o Prinzessin, o Damen! – o Herren!“ Damit warf sich der Fremde vor der Prinzessin nieder, und sang mit kreischender Stimme: „Ah pietà pietà Signora!“265

Kreislers Verhalten wird als ironisch bezeichnet. Durch die Übertreibung des zur Schau gestellten Affektes unterläuft es die Konvention, die scheinbar in Aussage und Verhalten bestätigt werden soll: Die Zerknirschtheit des standeslosen Eindringlings wird so zur frechen Posse, die wiederum das Verhalten der Prinzessin als unangemessen hochmütig zu entlarven sucht. Diese Posse steigert sich bis in ein theatralisches, wildes Gebaren aus lautem Klagen und körperlicher Selbsterniedrigung. Die am Hof Sieghartsweiler einflussreiche Rätin Benzon, mit Kreisler offenbar schon länger bekannt, stellt diesen nach dem Bericht durch ihre Tochter und die Prinzessin über sein Verhalten zur Rede, wobei sie nicht zuletzt die Echtheit seines „bizarren“ Namens in Zweifel zieht und diesen in einen unmittelbaren Zusammenhang mit seiner „Satyrmaske“ bringt, hinter der „am Ende ein sanftes weiches Gemüt verborgen“266 sei. Kreisler hält ihr entgegen, dass sein Name seiner Natur vollkommen angemessen sei: Sie können nicht wegkommen von dem Wort Kreis, und der Himmel gebe, daß Sie denn gleich an die wunderbaren Kreise denken mögen, in denen sich unser ganzes Sein bewegt, und aus denen wir nicht herauskommen können, wir mögen es anstellen wie wir wollen. In diesen Kreisen kreiselt sich der Kreisler, und wohl mag es sein, daß er oft, ermüdet von den Sprüngen des St. Veits-Tanzes, zu dem er gezwungen, rechtend mit der dunklen unerforschlichen Macht, die jene Kreise umschrieb, sich mehr als einem Magen, der ohnedies nur schwächlicher Konstitution, zusagt, hinaussehnt ins Freie. Und der tiefe Schmerz dieser Sehnsucht mag nun wieder eben jene Ironie sein, die Sie Verehrte! so bitter tadeln, nicht beachtend, daß die kräftige Mutter einen Sohn gebar, der in das Leben eintritt wie ein gebietender König. Ich meine den Humor, der nichts gemein hat mit seinem ungeratenen Stiefbruder, dem Spott!267

265 Ebd., S. 67 f. 266 Ebd., S. 77. 267 Ebd., S. 78.

Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler 

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Diese Ironie Kreislers, die zu seinem humorvollen Verhalten führt, hält die Rätin Benzon für einen Drang, „Dissonanzen“ im konventionellen gesellschaftlichen Gefüge zu verursachen, also Missklänge in einem harmonischen Zusammenspiel. Kreisler sieht seinen aus Ironie geborenen Humor hingegen als Ausdruck eines schmerzvoll-sehnsüchtigen Freiheitsdranges an. Dieser Drang erkennt die Bande, die ihn in kreiselnden Schicksalsläufen festhalten. Es sind also nicht nur die Bande der Konvention, die ihn einschränken. Kreisler erahnt auch die „dunkle unerforschliche Macht“, die ihn diese Kreise ziehen lässt. Der Kreis ist also einerseits Symbol der Unentrinnbarkeit äußerer Einflüsse, die mal als gesellschaftliche Zwänge erkennbar, mal nur dunkel als von höheren Mächten gelenkte Schicksalsläufe erahnt werden können und das Handeln bestimmen. Zugleich macht die Thematisierung dieser Vorgänge im hier diskutierten und von Kreisler – wie die Rätin nahelegt – selbst gewählten Namen den Einfluss jener „unerforschlichen Macht“ auch humorvoll bewusst. Insofern stünde der Name „Kreisler“ einerseits für die Feststellung der unaufhebbaren menschlichen Unfreiheit und andererseits für den Versuch, sich von ihr humorvoll-spielerisch zu distanzieren und sie damit zu bewältigen.268 Im Bewusstsein dieser Anerkenntnis seiner Unfreiheit liegt denn auch die Wurzel der Kreisler’schen Ironie, die er selbst als ‚negativ‘ insofern darstellt, als sie von Schmerz geprägt ist. Aus der oben beschriebenen Szene, in der sich Kreisler, Julia und Hedwiga begegnen, kann man Kreislers Ahnung einer jenseitigen Freiheit in der Musik herauslesen, die sich immer wieder an seinem Bewusstsein über die letztendliche Beschränktheit dieser Freiheit bricht. Dies lässt sich an Kreislers Äußerungen über Julias Gitarrenspiel erkennen: Der wunderbare Geist des Wohllauts, der diesem kleinen seltsamen Dinge befreundet, wohnt auch in meiner Brust, aber eingepuppt, keiner freien Bewegung mächtig; doch aus Ihrem Innern, mein Fräulein, schwingt er sich auf zu den lichten Himmelsräumen, in tausend schimmernden Farben, wie das glänzendste Pfauenauge. – Ha mein Fräulein! als Sie sangen, aller sehnsüchtiger Schmerz der Liebe […] wogte durch den Wald […].“269

Gleich darauf beginnt Kreisler seine ironische Rede an die Prinzessin Hedwiga, als würde er immer wieder zwischen dem sehnsüchtigen Ahnen jenes „wunderbaren Geistes“ und dem Bewusstsein von seiner eigenen Beschränktheit im Irdischen hin und her schwanken, das er durch seine Ironie quittiert. Eine ‚Dissonanz‘ Kreislers zu den gesellschaftlichen Konventionen kann man also durchaus erkennen. In seiner eigenen Perspektive zeigt er jedoch durch sein Verhalten vielmehr die ‚Dissonanz‘ jener Zwänge auf ironische Weise, indem er auf ihre Lächerlichkeit vor einer „dunklen unerforschlichen Macht“ hinweist, der vermeintlichen wahren Harmonie, vor der nicht nur Kreisler, sondern der Mensch überhaupt verständnislos ‚dahinkreiselt‘. Sein Fühlen in der Musik erahnt eine solche Macht, der er entgegenstrebt, die er jedoch, im

268 Vgl. hierzu Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 72–84. 269 H KM, S. 66.

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 Lust an der Makulatur

Irdischen gefangen, nie ganz erfassen kann. Der „harmonische Kreis“ ist wieder, wie im Goldenen Topf und der Schlüsselstelle in den Serapions-Brüdern,270 das Symbol, das sowohl die Beschränktheit als auch die Eingebundenheit des Menschen in ein auch die Natur durchdringendes überirdisches Prinzip bezeichnet. Zugleich beschreibt es die Ahnung ebendieses Verhältnisses, das sich im selbst kreiselnden Wechsel von Enthusiasmus und Ironie humorvoll formiert. Die oben zitierte Erkenntnis des Katers Murr klingt in Kreislers Worten doch unmittelbar wieder durch: „[D]urch das Leben und zum Leben kommt man doch, man weiß selbst nicht wie.“ Und eben mit dieser Erkenntnis rechtfertigt der Kater seinen „dummen Scherz“, durch den er dem sich in falschem Stolz wiegenden Menschen überlegen sei. So scheint es, dass der Kater sich durchaus in einer Weise äußert, die auch Kreisler zugerechnet werden könnte. Wie auch Kreisler entlarvt er eine hochtrabende menschliche Selbstdarstellung – und dies gerade im künstlerischen Bereich. So ist sein oben zitiertes Gedicht tatsächlich, wie Peter von Matt darstellt, nichts als die Parodie des romantischen Sehnsuchtsgefühls und der Sprachkrise, die mit ihm immer wieder ausgedrückt wird. Das sind beides Topoi, die sich gerade auch in Kreisler zeigen. Und doch sind ja diese auch in Kreisler bereits durch den Humor gebrochen, worauf er selbst hinweist. So kann man den Kater in gewisser Hinsicht als eine Ausgeburt und als Teil Kreislers, und damit als personifizierten Teil des Hoffmann’schen Poesieverständnisses ansehen. Darauf deutet ja denn auch wieder die zirkuläre Struktur, mit der sich Murr- und Kreisler-Teil ineinanderfügen, und dass die chronologisch betrachtet letzte Szene im Kreisler-Teil mit Kreislers Worten an den Kater Murr endet: „Nun so komm denn, […] Kater Murr, lass uns – “271 Das Verhältnis von Murr und Kreisler zeigt sich als eine Verhandlung über die romantische Ironie und zugleich als karnevalesk-humorvolle Selbstsatire. Im Gegensatz zu Kreislers schmerzerfüllter, traurig-skurriler Rastlosigkeit wäre Murr mit Michail

270 So heißt es in den Serapions-Brüdern: „Die innern Erscheinungen gehen auf in dem Kreise, den die äußeren um uns bilden und den der Geist nur zu überfliegen vermag in dunklen geheimnisvollen Ahnungen, die sich nie zum deutlichen Bilde gestalten.“ (H SB, S. 68). Auf diese Parallele zum Namen Kreisler weist auch Preisendanz hin. Im Goldenen Topf heiß es: „‚Sein Feuer ist für Jetzt erloschen‘, sprach der Geisterfürst, ‚in der unglücklichen Zeit, wenn die Sprache der Natur dem entarteten Geschlecht der Menschen nicht mehr verständlich sein, wenn die Elementargeister, in ihre Regionen gebannt, nur aus weiter Ferne in dumpfen Anklängen zu dem Menschen sprechen werden, wenn dem harmonischen Kreise entrückt, nur ein unendliches Sehnen ihm die dunkle Kunde von dem wundervollen Reiche geben wird, das er sonst bewohnen durfte, als noch Glaube und Liebe in seinem Gemüte wohnten, – in dieser unglücklichen Zeit entzündet sich der Feuerstoff des Salamanders aufs neue, doch nur zum Menschen keimt er empor und muß, ganz eingehend in das dürftige Leben, dessen Bedrängnisse ertragen.“ (H GT, S. 290). 271 Vgl. hierzu Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 80 ff.; vgl. Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 218; Deterding, Klaus: E. T. A. Hoffmann. Die großen Erzählungen und Romane. Einführung in Leben und Werk. Bd. 2. Würzburg 2008, S. 209 f.

Die karnevaleske Geste der Pfote: Kater Murr/Kreisler 

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Bachtin als eine Figur zu begreifen, die durchaus im Sinne des Karnevalesken agiert:272 Die Freude zieht den hochmütigen, geistfixierten Menschen auf die vier Katzenpfoten herunter; der Scherz führt die Feder – im Gegensatz zum Schmerz. Diese Parodie ist eingebettet in den romantischen Diskurs um das künstlerische Schaffen, der gerade ein Bewusstsein über die Negativität, das Verbleiben im Mangel, das Nichterreichen des Ideals, eingeschrieben ist. Insofern muss natürlich auch Bachtins Feststellung noch einmal bekräftigt werden, dass eine im Romantischen sich weiter ausprägende Tradition des Karnevalesken, das die Gattung des Schelmenromans durchzieht, immer im Rahmen der Ironie oder des Sarkasmus und nicht in ihrer ursprünglichen Form der rein positiven Feier des Körpers auftritt. Eine Figur wie Murr erweist jedoch wieder, dass hier Spuren dieses Karnevalesken im Scherz zu finden sind, der Murrs leibliches und lustvolles Agieren antreibt. In diesem Zusammenhang muss man auch die Frage betrachten, ob Murr nun als Philister gelten kann, der Peter von Matt eine klare Absage erteilt und damit auch die ältere Forschung zum Roman zurückweist, die sich ganz auf diese Deutung eingeschossen hatte. Doch dabei wird eine Bedeutung des Philiströsen zugrunde gelegt, die im vorliegenden Kontext überdacht werden muss. Denn der Philister muss nicht als ein negatives Gegenbild zum romantischen Künstler betrachtet werden, von dem sich dieser strahlend abheben kann in all seiner (wenn auch von der Welt abgestraften) Weltabgewandtheit und geniehaften Inspiration. Vielmehr ergibt sich ein anderes Bild, wenn man ihn selbst als (Selbst-)Parodie gerade dieses künstlerischen Ideals ansieht (siehe Teil I, Kap. 3.2.3).273 In diesem Sinne ist auch Murrs Hochstapelei zu verstehen. Sie entlarvt den romantischen Künstler selbst als Hochstapler, der immer wieder in bereits ausgetretenen Pfaden wandelt, immer wieder seinen Geist auf der Bahn der „unendlichen Entlichkeit“ der Reflexion ausstellt. Eben hierin muss der Schelmencharakter der Figur Kater Murr gesehen werden. Insofern nimmt Hoffmanns Roman die Lage des literarischen Marktes positiv auf, stellt dessen Chaos der echoartig sich reproduzierenden und überlagernden Texte aus – wie am Hof Sieghartsweiler einmal gesagt wird: „unsere Künstler besitzen die Reproduktionskraft der Eidechsen“274. Hoffmann lässt gerade dieses Chaos als Chaos der Makulatur gegen die „künstlich geordnete Verwirrung“ der Arabeske treten, die sich in eine Reflexionsspirale des Geistes ergeben soll. Dass der ironisch-humoristische Gestus von Hoffmanns Roman und dessen Spiegelung von Kreisler und Murr bereits im frühromantischen humoristischen

272 Vgl. hierzu die Arbeit von Nährlich-Slatewa, Elena: Das Leben gerät aus dem Gleis. E. T. A. Hoffmann im Kontext karnevalesker Überlieferungen. Frankfurt a. M. 1995. 273 Ich erweitere damit den Ansatz von Thomas Althaus, der den Philister ein Instrument der Selbstreflexion, der Einfassung, der Regulierung des Romantischen erkennt, als Karnevalisierung aber nur die andere Richtung dieses Vorgangs, die Spiegelung des Philisters durch den romantischen Künstler, beschreibt. Althaus, Thomas: „Romantischer Philistrismus. Die Notwendigkeit des Gewöhnlichen in Hoffmanns Texten“, in: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 16 (2008), S. 53–69. 274 H KM, S. 98.

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 Lust an der Makulatur

Konzept der Arabeske angelegt ist, macht die Frage einer Entsprechung oder einer etwaigen Distanzierung Hoffmanns von dieser frühromantischen Poetik schwierig beantwortbar. Vielmehr bezieht der Roman über die Figur Murr die Materialität der Schrift bzw. des Buches explizit in seine Ästhetik ein, was gerade durch den spielerisch-hzumorvollen Bezug auf die frühromantische Poetik ermöglicht wird, in dieser jedoch nicht in solcher Offensivität oder Explizitheit einbezogen war. Motive der Defiguration der Schrift, ob nun als fiktionale Motive oder Zeugnisse von eigener Hand, zeigen bei Hoffmann vor diesem Hintergrund eine ‚Positivierung‘ der banalen Schrift und der sinnlichen Körperlichkeit an. Sie werden Teil des künstlerischhumorvollen, grenzüberschreitenden und immer wieder diesen Schwellenübergang markierenden Umgangs mit Imagination und Wirklichkeit im Sinne von Hoffmanns Konzept der Duplizität.275 Immer wieder erzeugt die Geste des Schreibens aktiv dieses Zusammenspiel und thematisiert es zugleich. Wie die Analyse der Lebens-Ansichten des Katers Murr zeigte, ist es gerade der Humor, durch den diese Interdependenz literarisch bearbeitet wird. Die körperliche Performativität dieses produktiven poetischen Vorgangs wird nicht nur im literarischen Text über die Schreib-Szenen des Katers Murr und die Rahmung des Herausgebervorworts nahegelegt, sie zeigt sich auch an Hoffmanns handschriftlichen Zeugnissen, die diese materialästhetisch ausagieren.

3.5 A  lmanach-Arabesken: Vignetten zum Kater Murr und Die Irrungen, Die Geheimnisse Unmittelbar an die zuvor ausgeführten Bezüge des Romans zu einer Schelmenliteratur und ihren karnevalesken Tendenzen kann eine Deutung der Vignetten anschließen, die nach Hoffmanns Zeichnungen zum eigenen Roman als Stiche angefertigt wurden (Abb. 15–16). Werner Busch hat überzeugend nachgewiesen,276 dass die Zeichnungen die Poetik des Romans in sich noch einmal zeigen. Weder Erhabenes noch Lächerliches, so Busch, sei hier jeweils „ohne das andere zu haben“.277 Die erhabenen Ambitionen des schreibenden Murr streben nicht zur Transzendenz. Im Gegenteil findet sich (wie Busch vor allem durch einen Vergleich mit Philipp Otto Runges Tageszeiten-Zyklus argumentiert) im oberen Teil des Rahmens statt eines Motivs der Erhabenheit nur eine fette Putte, die den ‚Absturz‘ des Transzendenz-Strebens ins Lächerliche symbolisiere. Es zeige sich dem Künstler – im Gegensatz zur bei Runge immer angestrebten und visuell angedeuteten eschatologischen Erfüllung – nur „eine

275 Vgl. zum Humor als künstlerischer Bewältigung der Ironie bei Hoffmann Preisendanz: Humor als dichterische Einbildungskraft, S. 72–84; vgl. Segebrecht: Autobiographie und Dichtung, S. 185 ff. 276 Busch: „E. T. A. Hoffmanns ‚Kater Murr‘“, S. 49–73. 277 Ebd., S. 55.

Almanach-Arabesken 

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Fratze des Höchsten“.278 Obwohl die von Busch festgestellte einseitige Abkehr von der frühromantischen figuralen Konzeption bei Hoffmann in dieser Arbeit relativiert wird, muss die These einer Dynamik der durchs Leibliche und Materielle betriebenen karnevalesken Spiegelung des frühromantischen Transzendenzstrebens in der Figur Murr bestätigt werden. Auch darin ist Busch zuzustimmen, dass diese Spiegelung tatsächlich auch in den Zeichnungen zum Roman aufgenommen wird. Hoffmann zitiert, wie Busch zeigt, den Typus der Almanach- oder Taschenkalender-Vignetten. Diese Stiche im Kleinoktavformat zeigten grundsätzlich ein Innenbild, umgrenzt von einem Rahmen mit ornamentalen Schmückungen. Üblicherweise waren je vorn und hinten eine Vignette auf dem Einband der Taschenkalender zu sehen. Busch weist auch auf Hoffmanns Vignette zum Meister Floh hin, die demselben Schema folgte (Abb. 17).279 Zu den Beobachtungen Buschs kann hinzugefügt werden, dass Hoffmann dieses Schema für seine Vignetten nutzte, es jedoch zugleich individualisierte, indem er die Motive eng an seine literarischen Texte anschloss. Er erzielte damit, über die üblichen Illustrationsformen der Almanache hinauszugehen, die er mit ihren „ewig wiederkehrenden nichts bedeutenden Formen und Gesichtern“ teilweise als „fabrikmäßig“280 empfand, wie er einmal in einem Brief bemerkte. Durch die offensichtliche, motivisch und formal zugleich individualisierte Anbindung der Zeichnungen zum Roman an das Medium des Almanachs ergibt sich eine weitere interessante Perspektive. Hoffmann stellt über die Form der Zeichnungen einen Bezug zu seinen Almanach-Erzählungen her, die im gleichen Zeitraum wie der Kater Murr entstanden sind. Im Folgenden soll dieser Kontext als Nachtrag zur vorangegangenen Deutung des Romans und dessen Bezügen zu anderen Texten Hoffmanns angedeutet werden. Es zeigt sich, dass Hoffmann vor allem in seinem späteren literarischen Schaffen eine literaturmarktbezogene Genrereflexion betrieb, innerhalb derer Formexperimente und die Problematisierung der Materialität des Literarischen auch über den Roman Kater Murr hinausgehend eine zentrale Stellung einnahmen.

278 Ebd., S. 60. 279 Ebd., S. 52. 280 E. T. A. Hoffmann: Briefwechsel. Bd. 2, S. 200 (An Schütze in Weimar, 17.02.1819, Nr. 791).

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 Lust an der Makulatur

Abb. 15: Einbandillustrationen zu Band 1 der „Lebens-Ansichten des Katers Murr“, Berlin 1820. Aquatinta-Radierungen von Carl Friedrich Thiele nach Vorlagen von E. T. A. Hoffmann. Staats­ bibliothek Bamberg, Sign. (Sel.229(1). (Fotos: Gerald Raab)

Abb. 16: Einbandillustrationen zu Band 2 der „Lebens-Ansichten des Katers Murr“, Berlin 1822. Aquatinta-Radierungen von Carl Friedrich Thiele nach Vorlagen von E. T. A. Hoffmann. Staats­ bibliothek Bamberg, Sign. (Sel.229(2). (Fotos: Gerald Raab)

Almanach-Arabesken 

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Abb. 17: Einbandillustration zu „Meister Floh“, Frankfurt 1822 (Rückseite). Aquatinta-Radierung von Carl Friedrich Thiele nach Vorlage von E. T. A. Hoffmann, Staatsbibliothek Bamberg, Sign. (Sel.240). (Fotos: Gerald Raab)

Zu den genannten späten Almanach-Erzählungen werden unter anderem die beiden Erzählungen Die Irrungen. Fragment aus dem Leben eines Fantasten und Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem Leben eines Fantasten: Die Irrungen gerechnet, die 1821 und 1822 (und dabei zeitlich genau zwischen den beiden Bänden des Kater Murr) im Berlinischen Taschen-Kalender erschienen. Bereits in einigen zeitgenössischen Kritiken wurde bemängelt, die Erzählungen ließen „Einheit“281, „Zusammenhang und Folge“282 vermissen und seien nichts als ein „willkürlich zusammengereihte[r] Mischmasch von närrischen Spukgeschichten, zauberhaften Foppereien und wunderlichen Begebenheiten.“283 Die Tendenz der zeitgenössischen Rezeption, die beiden Erzählungen als strukturlos und auch der Wahl des Sujets nach als lächerlich abzutun, hat sich auch in der Forschung fortgesetzt. Dabei besteht ein enger Zusammenhang mit der bereits in Julius Eduard Hitzigs Biographie Hoffmanns vertretenen These, der Autor habe unter anderem diese beiden Erzählungen aus monetärem Zwang und

281 [Anonym:] Rezension zu E. T. A. Hoffmanns Die Irrungen, in: Literarisches Conversations-Blatt, 12.12.1821 (Nr. 285), S. 1137, zitiert nach Segebrecht, Wulf: „Kommentar: Die Irrungen/Die Geheimnisse“, in: H V, S. 1062–1097, hier S. 1067. 282 Müller, Wilhelm: Rezension zu E. T. A. Hoffmanns Die Geheimnisse, in: Literarisches Conver­ sations-­­Blatt, 04.01.1822 (Nr. 3), S. 11, zitiert nach Segebrecht: „Kommentar: Die Irrungen/Die Geheimnisse“, S. 1067. 283 Ebd.

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 Lust an der Makulatur

unter großem Zeitdruck verfasst.284 Vermeintliche strukturelle Mängel dieser literarischen Texte wurden auf diese Produktionsbedingungen zurückgeführt.285 Als unselbständige Publikationen erfuhren sie zudem von vornherein ein weniger breites Echo in der Kritik.286 Obwohl die Taschenbuchliteratur in jener Zeit bereits vollkommen etabliert war und natürlich auch von damals bereits hochgeschätzten und kanonisierten Autoren bedient wurde, stießen die Enthierarchisierung der Publikationsstrukturen und die mit dieser einhergehende Bindung an einen Literaturmarkt auch immer wieder auf Kritik.287 Die Aussage, Hoffmanns späte Almanach-Erzählungen seien qualitativ minderwertig (begleitet von der Unterstellung einer durch Honorarangebote motivierten literarischen Produktion und einer Orientierung an einer vor allem an Reiz und Spannung interessierten Leserschaft) scheint damit bestimmte Vorurteile diesem Genre gegenüber zu reflektieren. Gleichzeitig erfuhr dieses gerade seit den zwanziger Jahren einen großen Zuwachs und wurde zu einem literarischen Hauptmedium des Biedermeier.288 Die Kritik an den Erzählungen Die Irrungen und Die Geheimnisse gleicht nicht zufällig der zeitgenössischen Kritik am Kater Murr.289 Auch diesem wurde im Sinne der Polemik jener Zeit gegen die literarische Massenproduktion (siehe Teil I, Kap. 3.2.2) durch Attribute des Formlosen das Fehlen von Geist und Struktur unterstellt. Dabei karikiert Hoffmann in der Figur Murr doch gerade den Typus eines „literarischen Fabrikanten“ (wie ihn Hoffmann selbst einmal in einer Äußerung an Carl Friedrich Kunz abwertend nennt),290 um ihn wiederum zum zentralen Moment einer an der gebrochenen Form und dem Potential materieller Motive orientierten Poetik zu machen. Ein genauerer Blick auf die Erzählungen bestätigt, dass auch in diesen gerade eine vermeintliche ‚literarische Fabrikation‘ innerhalb des Genres der Almanach-Literatur von Hoffmann selbstironisch dargestellt wird. Die von den Kritikern bemängelte Formlosigkeit der Erzählungen ergibt sich aus dieser selbstironischen Genreparodie, die die frühromantischen Postulate humoristisch auf die Spitze treibt.

284 Hitzig, Julius Eduard: Aus Hoffmann’s Leben und Nachlaß. Hg. v. dem Verfasser des Lebens-Abrißes Friedrich Ludwig Zacharias Werners. 2 Theile. Theil 2. Berlin 1923, S. 319 ff.; vgl. Segebrecht, Wulf: „Kommentar: Werke 1820–1821. Die ‚späten‘ Erzählungen“, in: H V, S. 1052–1061, hier S. 1053. 285 Vgl. zu dieser Tradition der Hoffmann-Forschung bis in die 1980er Jahre den Überblick bei Toggenburger, Hans: Die späten Almanach-Erzählungen E. T. A. Hoffmanns. Bern u. a. 1983, S. 9 ff.; vgl. Segebrecht, „Kommentar: Werke 1820–1821. Die ‚späten‘ Erzählungen“, S. 1053 ff. 286 Segebrecht: „Kommentar: Werke 1820–1821. Die ‚späten‘ Erzählungen“, S. 1053. 287 Toggenburger: Die späten Almanach-Erzählungen E. T. A. Hoffmanns, S. 31. 288 Vgl. Sengle, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und Revolution 1815–1848. Bd.  2. Stuttgart 1972, S.  40; vgl. Toggenburger: Die späten Almanach-Erzählungen E. T. A. Hoffmanns, S. 31. 289 Segebrecht: „Kommentar: Die Irrungen/Die Geheimnisse“, S. 1060. 290 E. T. A. Hoffmann: Briefwechsel. Bd. 3, S. 32 ff. (Anzeige für Carl Friedrich Kunz, 09.12.1812).

Almanach-Arabesken 

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So besteht die Erzählung Die Irrungen vornehmlich in der Darstellung ebender Irrungen eines naiven Barons Theodor von S., der fortlaufend in beschriebenen Papierfetzen, Spruchbändern und Zeitungsausschnitten geheime mystische Inhalte bzw. an ihn gerichtete Botschaften vermutet, deren Entzifferung durch Textlücken, zeitliche Sprünge und fremde Sprachen erschwert wird. Diese Motivik einer Defiguration der Schrift setzt sich in der Erzählstruktur fort, deren Kapriolen zwischen Erzählperspektiven sowie Rahmen- und Binnenebenen die Leserschaft in ebensolche Verwirrung stürzt wie den armen Baron. Dessen Bemühungen, den geheimnisvoll verschlüsselten Inhalten und Motivationen auf die Spur zu kommen, um schließlich eine geheimnisvolle, von ihm bewunderte Dame in die Arme schließen zu können, scheitern kläglich an der gewöhnlichen Alltagsrealität oder entpuppen sich als banal oder sinnlos. Der geheimnisvolle griechische Schriftzug, den der Baron auf einem Papier in einer aufgefundenen Brieftasche entdeckt, erweist sich bloß als die griechische Transliteration des deutschen und dabei nicht gerade würdigen Namens „Schnüspelpold“291. Weniger als dass die mystische, Bedeutung heischende Ebene der Erzählung vollkommen aufgegeben wird (ob nun der genannte Schnüspelpold wirklich ein verabschiedeter Kanzlei-Assistent aus Brandenburg oder doch der kabbalistisch bewanderte Magus griechischer Herkunft ist, kann nicht entschieden werden), scheint sie vielmehr potenziert und damit ad absurdum geführt zu werden. Die frühromantische Hieroglyphenmystik mündet in krause und zuweilen paranoid motiviert erscheinende „Irrungen“, in eine arabeske Verschlungenheit, die sich nicht in eine höhere Symmetrie auflösen lässt. Dass Hoffmann dann im zweiten Teil, den Geheimnissen, selbst als literarische Figur den empörten Brief des genannten Schnüspelpold erhält, in dem dieser die Rolle eines scharfen Kritikers einnimmt, macht die in den Irrungen geschürten Vermutungen der Genreparodie schließlich evident. Schnüspelpold wirft Hoffmann als dem Verfasser der Irrungen Verleumdung vor. Diese habe dazu geführt, dass die Menschen ihn nicht mehr als den verabschiedeten Beamten aus Brandenburg ansähen, der er sei, sondern als Kabbalisten aufsuchten und bedrängten. Er gelobt Rache zu nehmen: Wäre ich ein Rezensent, so würde ich Ihre Schriften weidlich herunterhunzen und dem Publikum so klar dartun, wie es Ihnen an allen Eigenschaften eines guten Schriftstellers mangle, daß kein Leser etwas von Ihnen mehr lesen, kein Verleger es mehr verlegen sollte. Aber da wär’s denn doch nötig erst Ihre Schriften zu lesen und dafür soll mich der Himmel behüten, da nichts als bare Ungereimtheiten, die gröbsten Lügen darin enthalten sein sollen. […] Wäre ich aber ein Magus, so sollt’s freilich anders stehen mit meiner Rache. […] Sollten Sie sich aber unterfangen etwa in dem künftigen Taschenkalender auch nur ein Wörtchen von dem zu erwähnen, was sich weiter mit dem Baron Theodor von S. und uns begeben, so bin ich fest entschlossen: mich […] umzusetzen in das kleine spanisch-costumierte Teufelspüppchen das auf ihrem Schreibtische steht und Ihnen, kommt Ihnen der Gedanke zu schreiben, nicht einen Augenblick Ruhe zu ­lassen.

291 H IR, S. 465.

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 Lust an der Makulatur

Bald springe ich Ihnen auf die Schulter und sause und zische Ihnen in die Ohren, daß Sie keines Gedankens mächtig bleiben, sei er auch noch so einfältig. Bald springe ich ins Tintenfaß und bespritze das fertige Manuskript, so daß der geschickteste Setzer nicht den gesprenkelten Marmor zu entziffern vermag.292

Damit nicht genug, verspricht Schnüspelpold Hoffmann die gröbsten Ungeschicklichkeiten, die seine „Federposen“ spalten, sein Federmesser zerstören, seine Papiere mit den Notizen und auch seine Bücher in Unordnung sowie seine Handschrift unleserlich machen, am Ende sogar das Geschriebene in einer Wasserflut ertränken würde, sodass „alle Ihre wässerigten Gedanken zurückkehren in das Element dem sie angehören“293. Der fiktive Autor Hoffmann, derart zum Autor von Ungereimtheiten und wässriger, inkonsistenter Gedanken abgestempelt, amüsiert sich jedoch köstlich über diese Kritik und auch die Drohung, und nimmt sie gar zum Anlass für die Fortsetzung seiner Irrungen, sodass die Lesenden nun Schnüspelpolds Brief als Auftakt dieser Fortsetzung vor sich liegen haben. Dies hat einen höchst pragmatischen Grund: Versprechen macht Schulden, das ist ein altes bewährtes Sprichwort. Nun hatte aber Hff. in dem Taschenkalender von 1821 versprochen, ferneren Bericht abzustatten über den Baron Theodor von S. und über seine geheimnisvollen Verhältnisse, wenn er mehreres davon wisse. Die Zeit kommt heran, der Drucker rührt die Presse, der Zeichner spitzt den Crayon, der Kupferstecher bereitet die Kupferplatte. Hochlöbliche Kalender-Deputation fragt: Wie steht es mein Bester, mit Ihrem versprochenen Bericht für unsern Eintausend acht hundert und zwei und zwanziger? Und Hff. – weiß nichts, weiß gar nichts, da die Quelle versiegt aus der ihm die Irrungen zuströmten. – Die letzten Tage des Mais kommen heran, Hochlöbliche Kalender-Deputation erklärt: bis Mitte Junius ist es noch Zeit, sonst erscheinen Sie als einer der in den Wind hinein etwas verspricht und es dann nicht zu halten vermag. Und Hff. weiß immer noch nichts, weiß am 25. Mai Mittags um drei Uhr nichts! – Da erhält er Schnüspelpolds verhängnisvollen Brief, den Schlüssel zu der fest verschlossenen Pforte, vor der er stand, ganz hoffnungslos und höchst ärgerlich dazu. – Welcher Autor wird nicht gern einige Schmähungen erdulden, wenn ihm auf diese Weise aus der Not geholfen wird!294

Mit dieser Selbstsatire stellt sich Hoffmann als einen Autor dar, der weniger nach bestimmten literarischen Ideen vorgeht als nach (lukrativen) Angeboten der Herausgeber, denen er natürlich eine Fortsetzung verspricht, wenn sie eine solche wünschen. Nicht nur ist natürlich bereits mit dem Versprechen der Fortsetzung schon am Ende der Erzählung Die Irrungen im Zusatz „ein Fragment“ deren formästhetischer Bezug zur Frühromantik subvertiert worden.295 Durch das Geständnis des Autors über seine vollkommene Ahnungs- und Ideenlosigkeit wird das Geheimnisvolle ebenjener kommenden Fortsetzung darüber hinaus als leeres Versprechen entlarvt.

292 H G, S. 513 f. 293 Ebd., S. 514. 294 Ebd., S. 517. 295 Vgl. Segebrecht, Wulf: „Kommentar: Die Irrungen/Die Geheimnisse“, S. 1069.

Almanach-Arabesken 

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So zeigt sich Hoffmanns Doppelerzählung Die Irrungen/Die Geheimnisse – wobei letztere an narrativen Wirrnissen der ersteren vor allem durch die Metalepsen (gipfelnd in Hoffmanns Begegnung mit seinem eigenen Doppelgänger) in nichts nachsteht – vor allem als eine Reflexion über das Genre der Almanach-Erzählung. Deren vermeintliche Formmängel werden gerade exponiert und motivisch hervorgehoben. Da ist der ratlose Autor, dem jeder wirre Brief seiner empörten Leser als Gegenstand einer Erzählung recht ist, um seine angeblichen „Schulden“ abzubezahlen, sprich: Um das Honorar für die Fortsetzung zu erhalten. Da ist der Vorwurf der Kritiker, den Schnüspelpold in seinem Brief ebenfalls bereits vorwegnimmt: Das sind Ungereimtheiten, das ist eine unlesbare Tintenkleckserei, ein Marmormuster auf dem Papier, das aber nicht tiefe Bedeutsamkeit, sondern schnöde Ungeschicklichkeit vermuten lässt. Ähnlich wie im Kater Murr macht Hoffmann die Figur eines „literarischen Fabrikanten“ (um seine eigene Wortwahl zu gebrauchen) zum Zentrum einer literarischen Formreflexion. Er selbst ist es jetzt, der wie Murr seine Kleckse produziert und dabei eine romantische Hieroglyphik ad absurdum führt. Ähnlich wie im Kater Murr wird dabei die Kategorie der Formlosigkeit gerade vor dem Hintergrund der Ambivalenz frühromantischer Begriffe zwischen Formverlust und Form sowohl problematisiert als auch humoristisch bloßgestellt. Hoffmann lotet die polemische Reduktion eines vermeintlich formlosen Textes auf sein Material, wie sie mit ihrem literaturkritischen Impetus auch vor allem mit Bezug auf den Literaturmarkt in jener Zeit betrieben wird, damit einmal mehr in ihren ästhetisch-humoristischen Potentialen aus.

Teil III: Die Schriftpoetik Nikolaj Gogol’s: Produk­tivität zwischen Figur und Defiguration

1 Zur Einführung Die Reflexion des eigenen Schreibens und Publizierens beim Autor Nikolaj Vasil’evič Gogol’ (1809–1852) und der aus dieser erwachsende Konflikt müssen im Rahmen der romantischen Auseinandersetzung über Autonomie und Selbsttätigkeit der Literatur und ihre Medialität betrachtet werden.1 Nur vor diesem Hintergrund wird die existentielle Bedeutung der dabei problematisierten Frage verständlich, wie eine potentiell außer Kontrolle geratende, im autonomen Subjekt wirkende Einbildungskraft im Akt des Schreibens und Lesens sich bei Gogol’ einerseits zu einem älteren und noch immer wirkenden sakralen Schriftbegriff,2 auf der anderen Seite zu dem Versuch verhält, dieses Potential an eine metaphysische Bedeutung rückzubinden. Bei Gogol’ erlangt die romantische Problematisierung des Verhältnisses von Subjekt, Einbildungskraft, Schrift und ihrer Repräsentation – ob diese in einem arbiträren oder vielmehr essentiellen Verhältnis zum Zeichen steht und diesem damit einen Offenbarungscharakter zueignet – eine existentielle Dimension. Immer wieder wurde in der Forschung zum Gogol’schen Schriftverhältnis auf das spätere Werk und Verhalten des Autors hingewiesen, der sich nach der Publikation zahlreicher Erzählungen, einer Sammlung aus Erzählungen und Essays (unter dem Titel Arabeski, 1835) und des Romans Mertvye duši (Tote Seelen, 1842) explizit vom Verfassen fiktionaler Texte ab- und dem Erbauungsschrifttum zuwandte (Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami (Ausgewählte Stellen aus einem Briefwechsel mit Freunden), 1847) sowie der Liturgiebetrachtung (Razmyšlenija o božestvennoj liturgii (Betrachtungen über die göttliche Liturgie), 1845–1852). Schließlich wandte sich der Autor auch vom Verfassen jener im engeren Sinne religiös verstandener Texte ab. Er begann ein strenges Fasten, das zu seinem Tod führte. Gogol’s Rückzug vom Schreiben, der mit einem in seiner zunehmenden Konsequenz tödlichen Akt des Hungerns einherging, ist durch ein „Leiden an der Schrift“ erklärt worden.3 Gogol’s „Schriftaskese“4

1 Vgl. hierzu die Ausführungen Jurij Manns über Verhältnis von russischer und westeuropäischer Romantik. Mann bestimmt die russische Romantik als eine dezidiert vor dem Hintergrund der westeuropäischen Romantik stattgefunden habende literarische Epoche, in der die die Romantik insgesamt bestimmende Verhandlung des Verhältnisses von Subjekt und Objekt weiterentwickelt würde. Dies stellt er etwa am Motiv des Spiels dar: Zahlreiche Beispiele aus der Literatur (v. a. Odoevskij, Lermontov, Gogol’) zeigten hier laut Mann eine Verschärfung der Problematik der Grenze zwischen Kunst und Leben. Diese führe etwa bei Gogol’ zu einer Anonymisierung und Implizitheit des Fantastischen, das man bereits als Vorausdeutung auf die Moderne einschätzen könne (siehe die Ausführungen zu Gogol’ und Kafka). Mann, Jurij V.: Russkaja literatura XIX veka. Ėpocha romantizma. Moskva 2007, S. 486–500. 2 Vgl. Murašov, Jurij: Das unheimliche Auge der Schrift. Mediologische Analysen zu Literatur, Film und Kunst in Russland. München 2016, S. 15 ff., S. 17 ff. 3 Kretzschmar, Dirk: „Der verhungernde Dichterkörper. Gogol’s Leiden an der Schrift“, in: Wiener Slawistischer Almanach 50 (2002), S. 103–120. 4 Strätling, Susanne, „Das tote Buch. Schriftvernichtung in der russischen Literatur (von Puškin bis Prigov)“, in: Die Welt der Slaven L (2005), S. 101–118, hier S. 104. https://doi.org/10.1515/9783110705140-008

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werde als „blutige Realität“5 gewordene Vorstellung einer ikonischen Manifestation der religiösen Wahrheit im asketischen Heiligenkörper kenntlich, der denn auch tatsächlich in seinen letzten Tagen von zahllosen Besuchern in der Art einer Pilgerfahrt aufgesucht und bestaunt worden sei.6 Dabei äußere sich letztlich eine – milde ausgedrückt – skeptische Haltung zu den Möglichkeiten des Autors Gogol’, eine Wahrheit, die sein stummer Körper den Betrachtern zu vermitteln scheint, schriftlich ausdrücken zu können. Gogol’s Bedürfnis, nicht als ein Demiurg Abbilder zu erschaffen, sondern selbst mit göttlicher Stimme zu sprechen7 (v. a. in Bezug auf seine Vision vom Gottesstaat Russland)8, führt in dieser Perspektive in letzter Konsequenz zu seiner Abkehr vom eigenen Schreiben. Zugleich attestiert es diesem indirekt mangelnde Authentizität und Präsenz sowie das Fehlen einer aus ihm emergenten Wahrheit. Als ‚letzte Konsequenz‘ erscheint in diesem Zusammenhang zudem Gogol’s stumme Inszenierung seines hungernden Körpers – dieser scheint nun anstelle seiner Texte die göttliche Botschaft stumm zu kommunizieren, die sein Schreiben immer verfehlen musste: So werden seine laut Stepan Ševyrev „letzten Worte“ deutbar, die Ševyrev in Gogol’s hinterlassenen Aufzeichnungen entdeckte (siehe Abb. 18). Der aus dem Buch erstehende Mensch verkörpert die Lehre der Evangelien9 – als bildliche Antwort auf eine Frage, die schriftlich nur gestellt, jedoch nicht beantwortet werden kann: Как поступить чтобы признательно, благодарно и вечно помнить в сердце моем полученный урок? И страшная История Всех событий Евангелия.10 Wie handeln um anerkennend, dankbar und ewig in meinem Herzen zu gedenken der erfahrenen Lehre? Und die schreckliche Geschichte Aller Ereignisse des Evangeliums.11

5 Kretzschmar: „Der verhungernde Dichterkörper“, S. 106. 6 Ebd., S. 103. 7 Frank, Susi K.: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradition. München 1999, S. 331. 8 Kretzschmar: „Der verhungernde Dichterkörper“, S. 105. 9 Ich schließe mich in meiner Deutung hier Ekaterina Dmitrieva an, vgl. Dmitrieva: „Nikolaj Vasil’evič Gogol’ 1809–1852“, S. 48. Abweichend von dieser Deutung meint Gavirel Shapiro, hier werde die Zerstörung des Autors Gogol’ durch seine zuvor geschriebenen Texte ausgedrückt; diese Deutung scheint mir aber abwegiger als eine direkte Verbindung mit der darüber gesetzten schriftlichen Frage. Shapiro, Gavriel: Nikolai Gogol’ and the Baroque Cultural Heritage. State College, Pennsylvania 1993, S. 126. 10 Siehe diese Transkription auch bei Dmitrieva, Ekaterina E.: „Nikolaj Vasil’evič Gogol’ 1809–1852“, in: Gogol’ – Turgenev – Dostoevskij. Kogda izobraženie služit slovu. Moskva 2014, S. 9–50, hier S. 48. (Dmitrieva transkribiert am Ende „Evangelie“; der Verfasserin scheint jedoch, dass hier „Evangelija“ transkribiert werden muss.) 11 Wenn nicht anders vermerkt, stammen die deutschen Übersetzungen russischer Zitate und Begriffe in dieser Arbeit von der Verfasserin.

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Auch der Akt, in dem Gogol’ mehrmals seine Texte zerriss und verbrannte, kann als Hinweis auf eine ins Negative gekippte Haltung zur Schrift gedeutet werden, die als Abfall oder gar als Häretikum vernichtet wird (siehe Abb.  19). Schon einer seiner ersten publizierten Texte fiel einem Gogol’schen Autodafé zum Opfer: Die Idylle Ganc Kjuchel’garten, die wegen schlechter Kritiken von Gogol’ selbst wieder aufgekauft wurde, fand in seinem Kamin ihr Ende. Den fast vollendeten zweiten Teil der Mertvye duši zerriss und verbrannte er sogar zweimal, sodass heute nur noch Fragmente des Romans erhalten sind (siehe Abb. 20).12

Abb. 18: Nikolaj V. Gogol’: Poslednie slova; OR RGB F. 74. K. 6. Ed. chr. 10.

12 Komarovič, V. L. et al.: „Kommentarii: Mertvye duši“, in: G VII, S.  391–432, hier S.  400; S.  407; ­Kleman, M. K./Beleckij, A. I.: „Kommentarii: Ganc Kjuchel’garten“, in: G I, S. 493–497, hier S. 495.

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Abb. 19: N. V. Gogol’: Pis’mo k Belinskomu, Vissarionu Grigor’eviču (1847 konec ijulja – načalo avgusta, Ostende) (Brief an Vissarion Grigor’evič Belinskij (Ende Juli – Anfang August 1847, Ostende), OR RGB F. 74. K. 7. Ed. chr. 1, S. 7ob.

Abb. 20: Sochranivšiesja časti razorvannogo lista s tekstom iz tret’ej glavy vtorogo toma „­Mertvych duš“ („Erhaltene Teile eines zerrissenen Blattes mit dem Text aus dem dritten Teil des zweiten Bandes der ‚Toten Seelen‘“). RGB, in: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Mertvye duši II. Polnoe ­sobranie sočinenij. Hg. v. N. L. Meščerjakov et al. Moskva-Leningrad 1937–1952, Bd. 7. Hg. v. N. I. Mordovčenko et al. Leningrad 1951, Abb. S. 272.

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Gogol’ folgte in seiner Abkehr vom fiktionalen Schreiben und schließlich in seiner Abkehr vom Publizieren überhaupt dem Begriff eines sakralen Textes, dessen Rezeption ein Offenbarungserlebnis darstellt.13 Es wurde in der Forschung festgestellt, dass ein solcher Textbegriff nicht mit dem durch die Romantik vertieften Autonomie- und reflexiven Selbstverständnis des Literarischen vereinbar gewesen sei.14 Der Autor schlösse dabei an eine lange und im Vergleich zu Westeuropa erst spät geschwächte Tradition eines sakralen Schriftverständnisses an, innerhalb dessen in Russland die kyrillische Schrift, im neunten Jahrhundert durch Kyrill und Method eingeführt und mit der Chistianisierung ideologisch verknüpft, als dritte geheiligte Schriftsprache neben Latein und Griechisch angesehen wurde.15 Tatsächlich jedoch muss man die Gogol’sche Abkehr vom fiktionalen Schreiben und schließlich vom Schreiben überhaupt zugleich als tief verwurzelt in einer Auseinandersetzung mit der Ambivalenz des romantischen Schriftverständnisses begreifen, die der Autor bereits in seinen fiktionalen Texten führte. Nicht nur indirekt durch die Publikation seiner Texte und seiner Werkausgabe, auch durch direkte Aussagen über die Entwicklung des literarischen Marktes beteiligte sich Gogol’ zunächst produktiv und positiv am literarischen Geschehen. Keinesfalls hatte er von vornherein eine reaktionäre Haltung inne. Vielmehr können Gogol’s Hinwendung zu Erbauungsschrifttum und Liturgiebetrachtung und seine spätere Abwendung vom Schreiben als Ende einer Auseinandersetzung angesehen werden, die gerade von seinem fiktionalen Schreiben ausgeht und auch gerade innerhalb dieser fiktionalen Texte inszeniert wird. Innerhalb des autonomen Textes findet dabei eine Selbstreflexion über die Autonomie und Eigengesetzlichkeit des fiktionalen Schreibens statt, die sich im romantischen Diskurs über die Form des poetischen Textes und dessen Medialität verorten lässt. Hier nimmt Gogol’s Auseinandersetzung ihren Anfang und hier endet sie auch. Gogol’s öffentliche und ostentative Verweigerung seiner Autortätigkeit nutzt dabei ganz gezielt seine Popularität als gefeierte Figur des modernen Literaturmarktes und bestätigt negativ das autonome Genie- und Literaturverständnis, auf dem dieser fußt. Gogol’s Wende zu einem sakralen und damit dem ‚profanen‘ Schriftgebrauch skeptisch bzw. verurteilend gegenüberstehenden Schriftverständnis muss damit nicht nur als gerade im russischen Kontext eminent ahistorisch angesehen werden (siehe hierzu das folgende Kapitel 2), sondern kann auch mit Konflikten einer in sich durch Widersprüche geprägten Schriftreflexion der romantischen Ästhetik in Verbindung gebracht werden. Den in diesem Zusammenhang dargelegten literatur- und medienkritischen sowie bibliographischen Diskurs, der überhaupt bisher in der slawistischen Forschung wenig berücksichtigt wurde, beleuchtet und erschließt diese Studie erstmals im Kontext der romantischen Ästhetik und ihrer Medienreflexion.

13 Frank: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’, S. 19. 14 Ebd., S. 9. 15 Vgl. Murašov: Das unheimliche Auge der Schrift, S. 15 ff.

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Dass Gogol’s fiktionale Texte diese romantische Auseinandersetzung selbstreflexiv vorführen, zeigt schon allein die bereits von den Formalisten angestoßene Analyse des Gogol’schen skaz-Stils, einer redeorientierten Literatursprache, die einen Text als klanglich, den Erzähler mimisch-artikulatorisch konstruiere.16 Mit der Bezeichnung der Erzählerrede bei Gogol’ als „reproduzierender skaz“,17 bei dem nicht nur das Sujet als die Fügung der motivierten Handlungselemente, sondern überhaupt die Ebene der zeichenhaften Repräsentation hinter die Erzählerrede zurücktrete, weist Boris Ėjchenbaum auf die selbstthematisierende Ebene des Gogol’schen Erzählens hin.18 Der über den skaz-Begriff an Gogol’s Texten geführte Erweis des Aufgebens eines Sujets – zugunsten der Zurschaustellung der Erzählerrede, ihrer vermeintlichen Körperlichkeit (Gestik, Mimik) und Lautsemantik und vor allem ihrer sprunghaften ­Digressionen –19 ist letztlich die Feststellung einer Medienreflexion. Sie bezieht nicht nur Mündlichkeit, sondern auch Literalität ein (man denke nur an die Schriftmotivik in Šinel’, die Ėjchenbaum ausklammert).20 Diese Medienreflexion reagiert auf die widersprüchlichen Momente von Präsenz und Absenz, Autonomie und Selbsttätigkeit, Zufälligkeit und Vorsehung, die eine romantische Schriftreflexion prägen. Damit ist das Gogol’sche Verständnis von Lebendigkeit und Wahrheit des Textes21 gerade auch innerhalb dieser durch Widersprüche geprägten Reflexion über die schriftgeleitete und schriftinspiratorische poetische Produktivität zu verorten. Gogol’s Motivik der Defiguration der Schrift reagiert dabei mit dem vollen Potential ihrer ambivalenten Tendenz auf den schriftreflexiven Diskurs der europäischen Romantik. Die Frage nach der Lebendigkeit – Eigenleben, Bewegtheit, Autonomie der Schrift in einer modernen Medienlandschaft aus Zeitungen, Zeitschriften, Buchmedien

16 Ėjchenbaum, Boris: „Kak sdelana ‚Šinel’‘ Gogolja“ / „Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“, in: Striedter, Jurij (Hg.): Text der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969, S. 122–159, hier S. 123; S. 139. Hierin schließe ich mich Natascha Drubek-Meyer an, die dies ebenso feststellt, jedoch in ihrer Studie dann nicht auf eine nähere Untersuchung der Reflexion über das schriftliche Medium in Gogol’s Texten abzielt, sondern vielmehr auf die somatische Konzeptualisierung der textuellen Rhetorik und ihre psychoanalytisch fasslichen Dynamiken des Übersprungs von der somatisierten verbalen Figuration zur eloquentia des eigenen Körpers. Drubek-Meyer, Natascha: Gogol’s eloquentia corporis. Einverleibung, Identität und die Grenzen der Figuration. München 1998, S. 11–20. 17 Ėjchenbaum: „Kak sdelana ‚Šinel’‘ Gogolja“, S. 125. 18 Vgl. Jampol’skij, Michail: Demon i labirint. Diagrammy, deformacii, mimesis. Moskva 1996, S. 19. 19 Vgl. Vinogradov, Viktor V.: „Das Problem des skaz in der Stilistik“, in: Striedter, Jurij (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1971, S. 168–207, Drubek-Meyer, Natascha/Meyer, Holt, „Gogol’ medial. Skaz(ki) und Zapiski“, in: Wiener Slawistischer Almanach 39 (1997), S. 107–154. 20 Vgl. Drubek-Meyer, Natascha/Meyer, Holt, „Gogol’ medial“, S. 107 ff.; vgl. Murašov, Jurij: „Orthographie und Karneval. Nikolaj Gogol’s schizoides Schriftverständnis“, in: Wiener Slawistischer Almanach 39 (1997), S. 85–105. 21 Frank: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’, S. 423.

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und einem sich hierin verortenden fiktionalen Erzählen – wird in Gogol’s fiktionalen wie essayistischen Texten zunächst ebenso in diesem Sinne ambivalent beantwortet (siehe dazu v. a. die Kapitel 2 und 3). Gerade das Negativ einer endlichen Schrift, das ein romantischer Begriff der Figur in sich mittransportiert und das auch im russischen literaturkritischen Diskurs immer wieder über Motive der Defiguration der Schrift auftaucht, wird in diesem Zusammenhang bei Gogol’ zunächst humoristisch aufgenommen. Die grotesk-karnevaleske Motivik und Rezeptionsästhetik des Lubok – des Graphik und Schrift kombinierenden Bilderbogens – bzw. der lubočnaja literatura („Lubok-Literatur“, siehe Kap. 2) finden im Rahmen einer Motivik der Defiguration Eingang in Gogol’s Texte. Ähnlich wie bei E. T. A. Hoffmann wird dabei eine literaturkritische Rhetorik der Degradierung beim Wort genommen und das Motiv der Defiguration der Schrift in seinen materialästhetischen Potentialen humoristisch eingebunden. Dabei stehen eine groteskkarnevaleske Motivik der Anhäufung und die ihr korrespondierende, bei Gogol’ schon oft untersuchte (komische) sprachliche Kontradiktion zwischen dem Hinweis auf eine leere (tote) Präsenz und einem kreativ-lebendigen Potential.22 Indem diese Reflexion gerade auch an handschriftlichen Zeugnissen Gogol’s untersucht wird – von frühen, durch die romantische Ästhetik angeregten Katalogen über Text-Bild-Collagen bis hin zu den von ihm zerrissenen Textseiten –, erschließt diese

22 Hansen-Löve, Aage A.: „‚Gøgøl’‘. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“, in: Wiener Slawistischer Almanach 39 (1997), S. 183–303, hier S. 195. Vgl. Slonimskij, Alexander: „The Technique of the Comic in Gogol’, in: Maguire, Robert A. (Hg.): Gogol from the 20th Century. Princeton 1974, S. 323–374; Bachtin, Michail M.: „Rabelais und Gogol’. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes“, in: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt a. M. 1979, S. 338–348. Vgl. hierzu Andrej Belyjs Begriff „Figur der Fiktion“ (figura fikcii), die sich auf verschiedene semantischen Ebenen des Textes beziehen kann (selbstwiderlegende attributive (ggf. hyperbolische) Verbindungen; Farbbeschreibungen; Figurenbeschreibungen); hier entsteht immer wieder eine Vagheit bzw. sogar eine semantische Entleerung, die Belyj als steigende Tendenz in der literarischen Sprache Gogol’s feststellt. Belyj, Andrej: Masterstvo Gogolja. Moskva/Leningrad 1934, S. 124, S. 191, S. 256. Die Betonung semantischer Entleerung in den Werken Gogol’s kehrt wieder bei Jurij Lotman, der sie mit der Kategorie des „Risses“ beschreibt: Lotman, Jurij M.: „Das Problem des künstlerischen Raumes in Gogol’s Prosa“, in: Ders.: Aufsätze zur Theorie und Methodologie der Literatur und Kultur. Hg. v. Karl Eimermacher. Kronberg 1974, S.  200–271, hier S.  246. Die Einordnung von Gogol’s Schaffen in die Tradition barocker Apophatik wird bei Tschiževskij vollzogen: Chizhevsky, Dmitry: „About Gogol’s ‚Overcoat‘“, in: Maguire, Robert A. (Hg.): Gogol from the Twentieth Century. Princeton 1974, S. 295–322; Tschiževskij, Dmitrij: „Gogol – Skovoroda“, in: Die Welt der Slaven. Jg. XIII (1968), S. 371–326; Ders.: „Gogol-Studien“, in: Werner, Ulrich (Hg.): Gogol’ – Turgenev – Dostoevskij – Tolstoj. Zur russischen Literatur des 19. Jahrhunderts. München 1966, S.  57–126; siehe zum Verhältnis Gogol’s zum Barock zudem Terc, Abram (Andrej Sinjavskij): V teni Gogolja. London 1975, S.  475. Vgl. zudem an neueren Publikationen zur Negativität bei Gogol’ v. a. Spieker, Sven (Hg.): Gøgøl. Exploring Absence. Negativity in 19th century Russian Literature. Bloomington 1999, v. a. die Beiträge von Lachmann, Renate: „The Semantic Construction of the Void“ (S. 17–34) und von Lotman, Jurij: „The truth as Lie in Gogol’s Poetics“ (S. 35–54).

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Studie neues, bisher in der Gogol’-Forschung unbeachtetes Material. Sie stellt es durch die Verbindung mit der Analyse seiner literarischen Texte in den umfassenden Werkkontext des Autors. Dieser Zugang ermöglicht neue Erkenntnisse über die Entwicklung seines Schriftverständnisses: Letztlich neigt sich Gogol’s Auseinandersetzung mit dem inspiratorischen Potential des Schriftgebrauchs Kritik und Skepsis zu. Das fiktionale Schreiben und jeder individuelle Schriftgebrauch überhaupt bergen in dieser Perspektive kein Offenbarungspotential, sondern führen als Imaginationsquelle zu Verfälschung und Lüge (siehe hierzu Kapitel 4 und 5, die vor allem das spätere Werk des Autors beleuchten, dabei jedoch auch Rückblicke auf das frühere Werk einbinden). Damit löst Gogol’s religiöse Indienstnahme des Schriftgebrauchs die eschatologische Dimension des romantischen Figurbegriffs aus seinem zugleich auf die Autonomie des Künstlerischen bezogenen Kontext heraus und reduziert ihn auf seine religiöse Bedeutung. Vor diesem sakralen Schriftverständnis muss Gogol’s literarisches Schaffen entweder scheitern oder ihm nur noch als Versuchung und Täuschung erscheinen. Das unbändige Imaginationspotential der Schrift bleibt dabei, so zeigen es Gogol’s handschriftliche Aufzeichnungen, bis zuletzt bestehen.

2 F orm und Formlosigkeit im russischen Druckmediendiskurs nach 1800 2.1 Das neue Ideal der Bibliographie Bibliographische Quellen zeigen,23 dass in Russland seit dem ersten Viertel des neunzehnten Jahrhunderts die Produktion belletristischer Literatur anstieg, und dass sich die Leserschaft (hauptsächlich im städtischen Raum) zugleich vergrößerte.24 Nicht nur Romane waren im Buchhandel extrem gefragt,25 ebenfalls entstanden vermehrt literarische und literaturkritische Zeitschriften und Almanache.26 Sowohl in Quellen, die sich mit der bloßen Aufzeichnung dieser fortschreitenden Expansion des Buchmarktes befassen, als auch in im engeren Sinne kritischen, diese Entwicklung beschreibenden Texten äußert sich ein Bewusstsein, die Entwicklung vor dem Hintergrund einer älteren, westeuropäischen literarischen Tradition zu beobachten. Es entstehen Projekte, die einem Bedürfnis zuzurechnen sind, die als verspätet empfundene Entwicklung von Literatur, Bibliographie und Lexikographie in Russland aufzuholen und zugleich eine eigene, der russischen Kultur gerecht werdende Tradition in diesen Bereichen zu

23 Sopikov, Vasilij Stepanovič: Opyt rossijskoj bibliografii. Hg. v. V. N. Rogožin. London 1962 (SanktPeterburg 1814); Storch, Andrej Karlovič/Adelung, A.: Sistematičeskoe obozrenie literatury, vyšedšej v Rossii v tečenie pjatiletija, s 1801 po 1805 god. 2 Teile. Sanktpeterburg 1810–1811; Muratov, M. V.: Knižnoe delo v Rossii v XIX i XX vekach. Očerk istorii knigoizdatel’stva i knigotorgovli 1800–1917 gody. Moskva/Leningrad 1931, S. 49; S. 201 f. 24 Etwa berichtet Nikolaj Karamzin in einem Text „Über den Buchhandel und die Liebe zum Lesen in Russland“ bereits im Jahr 1802 von der stetig ansteigenden Anzahl der Leser, der Buchhändler sowie insgesamt von einem Anstieg der Nachfrage nach Zeitungen und belletristischer Literatur. Karamzin, Nikolaj Michailovič: „O knižnoj torgovle i ljubvi k čteniju v Rossii“, in: Ders.: Izbrannye sočinenija. 2 Bde. Bd. 2. Stichotvorenija. Kritika. Publicistika. Glavy iz istorii gosudarstva rossijskogo. Hg. v. B. Berkov u. G. Makogonenko. Moskva/Leningrad 1964, S. 176–180. Im Verlauf des ersten Drittels des neunzehnten Jahrhunderts bestätigen auch deutsche Quellen, dass in Russland die beschriebene Ausbreitung von Schreiben und Lesen, selbst unter dem Dienstpersonal, stattfand und interessiert verfolgt wurde. Vgl. [Anonym:] Zustand der Literatur. „Korrespondenznachrichten St. Petersburg, Januar“, in: Morgenblatt für gebildete Leser 32 (1838), S.  188: Der Eintrag berichtet von einer Verdopplung der Anzahl der belletristischen Publikationen allein innerhalb eines Jahres von 1836 bis 1837; Welp, Treumund: Petersburger Skizzen. Dritter Theil. Leipzig 1842, S. 94; Kohl, Johann Georg: Petersburg in Bildern und Skizzen. Zweiter Theil, Dresden/Leipzig 1846, S. 286. 25 Šalikov, K.: Dopolnenie k istorii našej knižnoj torgovli, in: Vestnik Evropy, Nr. 4 (1815), S. 303–307. 26 Ševyrev, Stepan Petrovič: „Slovesnost’ i torglovlja“, in: Moskovskij nabljudatel’. Žurnal ėnciklopedičeskij, Nr. 1 (1835) Teil 1, S. 1–29; Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: „O dviženii žurnal’noj litteratury v 1834 i 1835 godu“, in: Sovremennik, litteraturnyj žurnal, izdavaemyj Aleksandrom Puškinym, Bd. 1 (1836), S. 192–225. https://doi.org/10.1515/9783110705140-009

Das neue Ideal der Bibliographie  

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entwickeln. Hier ist etwa das Enzyklopädie-Projekt des Petersburger Buchhändlers Adol’f Pljušar zu nennen, das in einem Zeitraum von 40 Jahren die Publikation von über 85 Bänden vorsah, und leider bereits 1839 nach nur vier Jahren, und nur bis zum Buchstaben ‚D‘ verwirklicht, eingestellt wurde.27 Zudem entstand die Bibliographie des Buchhändlers Vasilij Sopikov, in die er über 30 000 Bücher aufnahm, um alle in Russland bis zum Jahr 1813 erschienenen Bücher bibliographisch aufzuführen. Sopikov beschreibt zu Beginn die Notwendigkeit, die Wissenschaft der Bibliographie in Russland neu zu begründen,28 und beginnt dies mit einem Versuch der Bestimmung des Begriffs Bibliograf, den er von anderen Begriffen des Wortfeldes – Biblioman, Bibliofil und Bibliotaf – abzugrenzen sucht. Diese aufwendige Begriffsklärung ist als eine Geste der Verteidigung und Aufwertung der Tätigkeit des Bibliographen als Buchsammler zu sehen, die sich in einen europäischen Diskurs um Bibliophilie und Bibliomanie zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts einfügt.29 Der Eintrag zur Bibliographie, der in Pliušars Enzyklopädie 1836 unter Bibliognozija, Bibliologija, Bibliografija erscheint, bestätigt ebenfalls diese offenbar selbst noch 1836 festzustellende marginale Stellung des Bibliographen im allgemeinen Verständnis, deren Wichtigkeit der Artikel wiederum verteidigt: Хотя она нерѣдко была предметомъ насмѣшекъ и колкостей, и многiе почитаютъ ее плодомъ чтенiя и изученiя одныхъ заглавыхъ листовъ, именъ издателей и схолiастовъ, мѣста и года изданiя, однако жъ она оказываетъ науке величайшiя услуги, и должна служить свѣтильникомъ ученому в хаосѣ безпрерывно умножающагося числа книгъ.30 Obwohl sie nicht selten Gegenstand von Spötterei und Stichelei war, und viele sie als Frucht des Lesens und des Studiums einzig der Titelblätter, der Namen der Herausgeber und Kommentatoren, des Ortes und Jahres der Herausgabe ansehen, erweist sie doch der Wissenschaft großartige Dienste, und muss dem Gelehrten im Chaos der sich beständig vermehrenden Anahl der Bücher als Leuchte dienen.

27 Muratov: Knižnoe delo v Rossii, 77 f. 28 Sopikov gibt etwa zu verstehen, dass er die Vorarbeit der zuvor genannten Bibliographie von Storch und Adelung schätze, aber diese Autoren einerseits nicht alle erschienenen Bücher einbezogen hätten und zudem als Deutsche nicht das hätten leisten können, was er als tatsächlich russischer Bibliograph mit seinem besseren Verständnis der russischen Kultur und Sprache hätte leisten können. Sopikov: Opyt rossijskoj bibliografii. Teil 1, S. XVII. 29 Zum französischen Diskurs mit einigen Verweisen auf den engl. Diskurs vgl. Dickhaut, Kirsten: „Zur Pathogenese der Büchersucht“, in: Herrman, Britta/Thums, Barbara (Hg.): Ästhetische Erfindung der Moderne? Perspektiven und Modelle 1750–1850. Würzburg 2003, S. 55–76; sowie Dickhaut, Kirsten: Verkehrte Buchwelten. Eine kulturgeschichtliche Studie über deformierte Bibliotheken in der französischen Literatur. München 2004, S. 117–132. Der Ursprung des frz. Begriffs bibliomane ist nicht genau geklärt. Dickhaut stellt heraus, dass die erste Erwähnung des Begriffs sowohl bei Guy Patin in der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts, als auch bei Furière im Dictionnaire universel von 1708 festgestellt wurde (S. 117 f.). 30 Bazili, Konstantin Michailovič: „Bibliognozija, Bibliologija, Bibliografija“, in: Ėnciklopedičeskij Leksikon. Bd. 5. V tipografii A. Pljušara. Sanktpeterburg 1836, S. 484–488; hier S. 485.

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 Der russische Druckmediendiskurs nach 1800

Die wichtige Rolle des Bibliographen als Ordner und Strukturgeber muss auch hier noch verteidigt werden. Durch seine Tätigkeit schaffe der Bibliograph aus dem „Chaos der sich vermehrenden Anzahl der Bücher“ eine Einheit, die Wissen und Wissenschaft überhaupt erst ermögliche. Ähnlich bestimmt auch Vasilij Sopikov im Jahr 1813 seinen Begriff der Bibliographie, denn diese wird vornehmlich dadurch legitimiert, dass sie der Gesellschaft nütze. Der Bibliograph, ein im positiven Sinne bibliophiler Buchjäger, der aufgrund seines großen Wissens die Bedeutung bestimmter Bücher erkenne, die er in seine Sammlung aufnimmt, stelle diese der Wissenschaft zur Verfügung, und trage zu einer weltumfassenden Bibliothek bei, die für jeden offen sei.31 Die positive Besetzung des Bibliophilen, der als neugieriger und wissenshungriger, aber dennoch nach bestimmten nachvollziehbaren Prinzipien der Auswahl agierender Buchjäger gegen den Bibliomanen abgehoben wird, ist charakteristisch für den auch in Westeuropa geführten Diskurs um diese Begriffe in der Zeit um 1800.32 Der Bibliomane wiederum, auch wenn er ihm ebenfalls die Liebe zum Buch zugesteht, erscheint bei Sopikov im Gegensatz zum Bibliographen als Buchjäger, der blind seiner Abhängigkeit folgt, nur um bestimmte Bücher zu besitzen, die er wegen dieser oder jener Eigenschaft schätzt.33 Sopikovs Geste der Aufwertung der Bibliographie führt zu einem gewissen Pathos und einer Übersteigerung des erforderlichen Wissens des Bibliographen: Библиографъ есть слово Греческое и собственно означаетъ книгоописателя. Сiе названiе заслуживаетъ тотъ, котораго главное упражненiе состоитъ в познанiи книгъ вообще, въ ученой истории и и во вcемъ томъ, что относится к искуству книгопечатанiя. Весма трудно, въ полномъ смыслѣ заслужитъ сiе имя, потому что Библиография изъ всѣхъ человеческихъ познанiй, естъ самая пространнѣйшая наука. Посвятившему оной безпрестанно надлежитъ заниматься разсматриванiемъ сочиненiй какъ древнихъ, какъ и новѣйщихъ писателей. Языки, Логика, Критика, Философiя, Географiя, Хронологiя, Исторiя, Палеографiя, и Дипломатика, сутъ самия необходимия для него науки. Онъ не менѣе объязанъ знать Исторiю книгопечатанiя, славныхъ типографщиков, издателей и все производство типографическое. Симъ еще не ограничиваются его познанiя: […]34 Bibliograph ist ein griechisches Wort und bezeichnet eigentlich den Buchbeschreiber. Diesen Namen verdient derjenige, dessen Hauptbeschäftigung in der Kenntnis der Bücher im Allgemeinen besteht, in der gelehrten Geschichte und in alldem, was mit der Kunst des Buchdrucks zu tun hat. Es ist äußerst schwer, diesen Namen im vollen Sinne zu verdienen, weil die Bibliographie von allen menschlichen Kenntnissen die ausgedehnteste Wissenschaft ist. Demjenigen, der sich ihr widmet, obliegt es, sich ohne Unterlass mit der Begutachtung der Werke sowohl alter als auch neuer Schriftsteller zu befassen. Sprachen, Logik, Kritik, Philosophie, Geographie, Chronologie, Geschichte,

31 Sopikov: Opyt rossijskoj bibliografii. Teil 1, S. XVI. 32 Dickhaut: „Zur Pathogenese der Büchersucht“; Dies.: Verkehrte Bücherwelten, S. 117–132. 33 Sopikov: Opyt rossijskoj bibliografii. Teil 1, S. XIV. 34 Ebd., S. XIII.

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Paläographie, und Diplomatie sind die notwendigsten Wissenschaften für ihn. Er ist nicht weniger verpflichtet, die Geschichte des Buchdrucks zu kennen, berühmte Typographen, Herausgeber, und die ganze typographische Produktion. Damit sind seine Kenntnisse noch nicht begrenzt: […]

Es folgt eine Aufzählung der Bereiche der Buchherstellung, die der Bibliograph kennen muss, um seinem Titel gerecht zu werden sowie der Tätigkeiten in Beschreibung und Erhalt der Bücher, mit denen er sich befasst. Schließlich gesteht Sopikov seinen Lesern mit großem Bescheidenheitsgestus, dass er selbst dieses Titels nicht würdig sein könne, ja dass eigentlich niemand eine solche notwendige Vollkommenheit in allen Wissenschaften in der kurzen Spanne eines menschlichen Lebens erreichen könne.35 Dieser Gestus der Aufwertung des Bibliographen zum Universalgelehrten, aus dessen unbegrenztem Wissen, das sich in Form seiner Buchkataloge materialisiert, weiteres Wissen geschöpft werden kann, bezieht auch die Abwertung desjenigen Buchsammlers ein, der eine weitere Wissensverbreitung verhindert: Библиотаф, по словопроизводству, есть зарыватель книгъ. Такъ называютъ тѣхъ Библиомановъ, или Библиофиловъ, которые собираютъ книги для того, что бы скрывать ихъ, и не давать другимъ ими пользоваться. Сiи чудаки, вразсужденiи книгъ сутъ тоже, что скупые вразсужденiи денегъ. На ихъ сокровище не лзя взглянуть, не оскорбляя ихъ. Къ нещастiю наукъ, Библиотафы вeздѣ нерѣдки. Они причиняютъ величайшiй вредъ людямъ, упражняющимся в наукахъ, которые не в состояний иметь такихъ рѣдкостей и кои бы у нихъ могли найти великiя пособiя. Въ лѣтописяхъ народнаго просвѣщенiя, имена ихъ воспоминалисъ бы вместе съ пожарами, наводненiями и нашествiемъ варваровъ, естли бы общiй судъ людей просвѣщенныхъ и благомыслящихъ не предавалъ ихъ вѣчному забвенiю.36 Der Bibliotaph ist, vom Wortursprung her, ein Büchergräber. So heißen die Bibilomanen oder Bibliophilen, die Bücher dazu sammeln, um sie zu verbergen, und anderen nicht gewähren, sie zu benutzen. Diese Sonderlinge sind in Bezug auf die Bücher genauso wie die Geizigen in Bezug auf das Geld. Ihren Schatz kann man nicht ansehen, ohne sie zu beleidigen. Zum Unglück der Wissenschaften gibt es die Bibliotaphen überall häufig. Sie verursachen denjenigen Menschen einen überaus großen Schaden, die sich in den Wissenschaften üben, die nicht in der Lage sind, solche Seltenheiten zu besitzen und die in ihnen einen hohen Nutzen finden könnten. In den Aufzeichnungen der Volksaufklärung erinnerte man an ihre Namen gemeinsam mit Feuern, Überflutungen und dem Einfall von Barbaren, hätte das allgemeine Urteil der aufgeklärten und der wohlgesinnten Menschen sie nicht dem ewigen Vergessen anheimgegeben.

Im Gegensatz zum Bibliographen, der durch seine Tätigkeit Wissen vermehrt und die Aufklärung befördert, ist der Bibliotaph ein Feind der Aufklärung. Seine Sammlung, die das Kursieren des Wissens vermeidet, wird damit zu einer bloß materiellen Anhäufung, die Sopikov der materiellen Zerstörung der Bücher durch Feuer oder Überschwemmung gleichsetzt. Doch auch tatsächlich werden Bücher, in einer dunklen

35 Ebd., S. XIII. 36 Ebd., S. XIV.

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Ecke der Sammlung eines Bibliotaphen aufbewahrt, der Zerstörung durch Schmutz oder Schädlinge anheimgegeben – denn der Bibliotaph liest nicht. Der Vorwurf des Nicht-Lesens, des bloßen materiellen Ansammelns an den Bibliomanen, der bei Sopikov aufgrund dieses Vorwurfs mit dem Titel des ‚Bibliotaphen‘ bedacht wird, ist ebenso charakteristisch für den gleichzeitigen Diskurs in Frankreich.37 Auf die Tatsache, dass an etlichen Orten und in etlichen Sammlungen in Russland wertvolle alte Bücher von „Motten und Staub verschlungen“ würden („snedaemye moliem i pyl’ju“), weist Sopikov bedauernd hin: „[…] k bol’šemu sožaleniju, nachodjatsja vo vsegdašnej opasnosti, ot vnezapnych slučaev i tlenija pogibnut’ nevozvratno“38 („[…] zum großen Bedauern befinden sie sich in einer immerwährenden Gefahr, durch plötzliche Vorfälle und Fäulnis unwiederbringlich umzukommen.“) Die Sammlung des Bibliotaphen ist dieser Metaphorik nach ein dunkles Grab, das die Bücher von ihrer Erschließung abschneidet und sie zu ihrer bloßen Dinglichkeit als Papierhaufen degradiert und zerstört. Derart von der differenzierenden, katalogisierenden und erhaltenden, darüber hinaus ihren Inhalt fruchtbar machenden Tätigkeit des Bibliographen abgeschnitten, ‚kommen sie um‘ (s.o.). Eine bloß materielle Anhäufung der Bücher, die deren Inhalt nicht kursieren lässt, um Wissen zu fördern, ist ihr Tod. Der Bibliograph hingegen ist damit ein Lebensschöpfer, indem er die Bücher aus ihren dunklen Ecken heraus- und in die aufgeklärte Welt bringt, wo sie gelesen werden und weiteres Wissen generieren. Der Bibliotaph ist damit der Feind des Bibliographen. Seine die Gesellschaft ausschließende Sammlung vergrößert das Chaos, ist eine undifferenzierte Anhäufung von Material, das dem Verfall und dem Vergessen anheimgegeben wird.39 Nicht nur durch die Erschließung solcher Buchsammlungen – ihre Befreiung aus dem dunklen Grab und Beleuchtung durch Katalogisierung und Archivierung –, auch durch die Einheit schaffende Ordnung des „Chaos der sich vermehrenden Anzahl der Bücher“ verhilft der Bibliograph den Büchern in Sopikovs Verständnis zu einem über ihre Materialität hinausgehenden Wert, einem geistigen Nutzen für die Gesellschaft. Deutlich fügt sich Sopikov in einen Diskurs über die Ökonomie und den Nutzen des Sammelns, der eine der erzielten Aufklärung des Volkes zuwiderhandelnde Sammelaktivität abstraft,40 im Gegenzug die Wissen generierende und aufklärende Sammlung

37 Dickhaut: „Zur Pathogenese der Büchersucht“, S. 58. 38 Ebd., S. XVIII. 39 Auch hier greift Sopikov über die Gefahren ihres ‚Umkommens‘ durch Wasser, Feuer, ‚Bücherwürmer‘ bekannte Topoi der Anthropomorphisierung des Buches auf. Vgl. Dickhaut: Verkehrte Buchwelten, S. 114 ff. 40 Die Forderung dieser Zweckgebundenheit der Sammlung, die sich gerade in der Zeit der Aufklärung verschärft, stellt Kirsten Dickhaut in Voltaires „Le temple du Gôut“ fest. Dickhaut: „Zur Pathogenese der Büchersucht“, S.  62. Zu „Wissenserwerb und Wissensklassifizierung“ als eine zentrale Funktion der Sammlung vgl. die verschiedenen sich mit dieser befassenden Aufsätze in Assmann, Aleida/Gomille, Monika/Rippl, Gabriele (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998.

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jedoch aufwertet. Die steigende Anzahl der Bücher, die Entstehung von Massenmärkten, befeuert diesen Diskurs (siehe hierzu zudem Kap. 4.2.2).41 Wie die eingangs zitierte Wendung aus dem Eintrag zur Bibliographie im Ėnciklopedičeskij Leksikon Adol’f Pljušars verdeutlicht, wurde in Russland in den dreißiger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts diese ansteigende Zahl der Publikationen als enorm eingeschätzt. Mit der weiteren Entwicklung des literarischen Marktes wurde die Professionalisierung des Autorenberufs befördert, und zugleich dessen Abhängigkeit von diesem Markt verstärkt bemerkt und bewertet. Die Entstehung des Produkts Literatur lässt Autoren Klagen über ihre Trivialisierung ausstoßen. So schreibt Konstantin Batjuškov bedauernd, dass Literatur nun wie Fisch vertrieben würde.42 Nikolaj Gogol’ bemängelt, dass dieselben Autoren, die andernorts in den entstehenden Zeitschriften über neu eröffnete Tabakfabriken berichteten und Pomade anpriesen, nun auch Literatur rezensierten.43 Die positive Anerkennung der weiteren Verbreitung der Literatur und der Möglichkeit, vom Schreiben zu leben, wird zugleich auch mit einer Abwertung der auf den Markt schwemmenden Literatur verbunden und durch Ironie begleitet. So schreibt Aleksandr Puškin 1836 in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Sovremennik anerkennend, dass im ersten Viertel dieses Jahres zweimal so viele Romane und Erzählungen erschienen seien wie andere Publikationen, was die allgemeine Nachfrage nach ihnen beweise – „ungeachtet ihrer vollkommenen Nichtigkeit“: Их почти вдвое больше против числа других книг. Беспрерывым появлением в свет, несмотря на глубокое свое ничтожество, они свидетельствуют о всеобщей потребности.44

Petr Vjazemskij schreibt 1833 freudig an Aleksandr Turgenev: […] Русь начинает книжки читать, и грамота у нас на что-нибудь да годится. Можно головою прокормить брюхо: слава те, господи!45 […] die Rus’ fängt an Bücher zu lesen, und so bringt uns die Schriftkenntnis doch etwas. Man kann mit dem Kopf den Wanst füttern: Gott sei Dank!

41 So stellt auch der französische Theoretiker der Bibliomanie Charles Noldier in seinem Text „De l’utilité morale de l’instruction pour le people“ eine Forderung nach einer Beschränkung des Buchmarktes als Reaktion auf den entstehenden Massenmarkt. Vgl. Dickhaut: „Zur Pathogenese der Büchersucht“, S. 62. 42 Batjuškov, Konstantin Nikolaevič: „Progulka po Moskve“, in: Ders.: Sočinenija. Hg. v. P. N. Batjuškov. Bd. 2. Sankt-Peterburg 1885, S. 19–34, hier S. 24. 43 Gogol’: „O dviženii žurnal’noj litteratury“, S. 203. 44 Puškin, Aleksandr Sergeevič: „Novyja knigi“ in: Sovremennik, literaturnyj žurnal, izdavaemyj A. Puškinym, Bd. 1. Sanktpeterburg 1836, S. 296–318, hier S. 318. 45 Ostaf’evskij archiv knjazej Vjazemskich. Bd. 3. Izdanie grafa S. D. Šeremeteva. Pod redakciej i s primečanijami V. I. Saitova. Sankt-Peterburg 1899, S. 221.

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Die scherzhafte Ambivalenz dieser Äußerung ist offensichtlich. Während sie das literarische Schaffen zum Profanen herunterzieht, während Vjazemzkij beobachtet, dass die Almanach-Autoren fett würden („Al’manašniki žirejut […]“),46 geht es ihm doch zugleich gerade darum, eben selbst seinen ‚Wanst füttern‘ zu können: Поэзiя очень хороша, но хороши и деньги.47 Die Poesie ist sehr gut, aber sehr gut ist auch das Geld.

Gerade Autoren wie Petr Vjazemskij oder Aleksandr Puškin arbeiteten aktiv selbst an der weiteren Professionalisierung des Autorenberufs und der weiteren Entwicklung des literarischen Marktes mit, indem sie als Herausgeber, etwa der Literaturzeitschrift Sovremennik, tätig waren. Puškins Haltung zu seiner eigenen professionellen Autortätigkeit ist besonders interessant, da er diese – und dabei gerade über eine GenreReflexion zwischen Lyrik und Prosa – auch literarisch zur Debatte stellte. Besonders hervorzuheben ist sein Razgovor knigoprodavca s poėtom (Gespräch des Buchhändlers mit dem Poeten), in dem die Rede des Poeten schließlich beim Abschluss des Vertrags in die ‚profane‘ Prosa übergeht.48 Puškins Abwertung der gewinnorientierten Autorschaft als Autorschaft der Prosa wird gerade auch in seinen literarischen Experimenten zwischen Versform und prosaischem Erzählen geschickt ironisch gebrochen. Als wichtigster Förderer der Entwicklung, die einer weiteren Professionalisierung des Autorenberufs zuträglich ist, gilt in dieser Zeit Aleksandr Smirdin, der es seinen Autoren durch die Höhe der Honorare ermöglichte, vom Schreiben zu leben. Bei ihm veröffentlichten die meisten wichtigen Autoren der Zeit – Aleksandr Puškin, Nikolaj Gogol’, Vasilij Žukovskij, Petr Vjazemskij, Nikolaj Greč, Evgenij Baratynskij u. v. a. – ihre Texte.49 Aleksandr Puškin betätigte sich jedoch auch selbst als Herausgeber seiner eigenen Texte, und seine Kalkulationen, die teilweise in seinem Briefwechsel erhalten sind, zeigen, dass er sich dabei auch große Gewinne versprach.50 Etwa gab er die Povesti pokojnogo Ivana Petroviča Belkina selbst heraus und schrieb an Petr Pletnev, dass in der Publikation möglichst „viele weiße Stellen“ zu lassen und die Zeilen weiter

46 Ebd., S. 220. 47 Ebd., S. 220. 48 Vgl. hierzu Greenleaf, Monica: Pushkin and Romantic Fashion. Fragment, Elegy, Orient, Irony. Stanford, CA 1994, S. 291 ff. Puškin, Aleksandr Sergeevič: „Razgovor knigoprodavca s poėtom“ („Stiški dlja vas odna zabavna“), in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. Maksim Gor’kij et al. Bd.  2.1: Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejšich redakcijach. Hg. v. M. A. Cjavlovskij. Leningrad 1947, S. 324–330, hier S. 324. 49 Vgl. Ovsjannikov, N. G.: Vospominanija starogo knigoprodavca, Sankt-Peterburg 1879, S. 5 ff. 50 Muratov: Knižnoe delo v Rossii, S. 80 f.

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auseinanderzurücken seien, damit das Buch dicker würde, sodass es den relativ hoch angesetzten Preis eher rechtfertigte.51

2.2 Bumagomaranie („Papierbeschmutzung“) Dennoch rief die Ausweitung des Buchmarktes, der zu einem Großteil aus den Werken der von Autoren wie Puškin als Literatur minderer Qualität eingeschätzten Texten bestand sowie die Entstehung von weiteren Literaturzeitschriften und Almanachen durchaus auch scharfe Kritik hervor. Diese richtete sich gegen Autoren, die sich durch das Verfassen von solchen Romanen und Erzählungen vermeintlich minderer Qualität (siehe hierzu Kap. 2.4.1) der Nachfrage anpassten. Eine solche Kritik ist von dem Bewusstsein geprägt, dass durch eine bestimmte geistige Motivation, eine Idee, die die entstehenden literarischen Texte prägte, auch eine Einheitlichkeit ihrer durch diese erkennbar würde. Eine solche Einheit wird diesen Texten jedoch abgesprochen, was bei den solcherart Kritik übenden Autoren zu einem Aberkennen ihres Status als Literatur führt und ihre rhetorische Reduktion auf die materielle Dimension erforderlich macht. Eine Rhetorik der Defiguration der Schrift, die Texte als bloß flächiges/oberflächliches Material abwertet, zeigt sich als Negativ einer Rhetorik der textuellen Tiefe. Obwohl also die gegenwärtige Literatur vornehmlich als eine chaotische Anhäufung unzusammenhängender, größtenteils oberflächlich der westlichen Literatur nachgeahmter und nur des Geldes wegen produzierter Texte wahrgenommen wird, zeigt sich dennoch der Wunsch nach einer bald eintretenden neuen Zeit der ‚wahren Literatur‘, die auch teilweise bereits angerufen wird. In diesem Zusammenhang beklagt Stepan Ševyrev 1835 in seinem Artikel Slovesnost’ i torgovlja („Literatur und Handel“)52 die Markt- und Gewinnorientiertheit der Autoren, die am Geschmack des Publikums ausgerichtete schlechte Romane und Erzählungen schrieben. Seine Perspektive auf die Literatur seiner Zeit bezeichnet er ausdrücklich als „materiell“.53 Damit meint er den Blick auf deren Orientiertheit am Markt und dessen Profitversprechen: Die literarischen Formen, die in den Zeitschriften und auf dem Buchmarkt kursierten, würden allein wegen ihrer offenkundigen Beliebtheit, die deren hohe Verkaufsraten bzw. die hohe Abonnentenzahl der Zeitschriften ermögliche, publiziert. Die Literatur diene jetzt dem Handel, ihre meistpublizierten Formen Erzählung (povest’) und Roman würden nur ihrer Verkäuflichkeit wegen geschrieben.54

51 Puškin: Polnoe sobranie sočinenij. Bd.  14. Perepiska 1828–1831. Hg. v. L. L. Domger. Leningrad 1941, S. 209: „Как можно более оставлять белых мест и как можно шире расставлять строки … числа, кроме годов, печатать буквами.“ 52 Ševyrev: „Slovesnost’ i torglovlja“. 53 Ebd., S. 8. 54 Ebd., S. 26 f.

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Dabei komme den Autoren der Umfang des Romans entgegen, dessen viele Seiten eine höhere Bezahlung bzw. einen höheren Verkaufspreis ermöglichten. Den Preis einer papiernen Seite könne man in eine bestimmte Summe von Rubeln umrechnen.55 So kommt Ševyrev zu der Ansicht, man könne die derzeitige Literatur auf ihre materielle Dimension reduzieren, denn allein aus dieser und ihrem entsprechenden Geldwert heraus sei sie motiviert. Er setzt das beschriebene Papier und die gedruckten Bücher mit Geldnoten gleich: Die Formulierung, dass beim Handel mit Literatur „ėti izmarannye bilety totšas vymenivajutsja na čistye pečatnye“ / „diese beschmierten Noten direkt in reine gedruckte umgetauscht werden“ (das heißt beschriebenes Papier in Banknoten bzw. bedrucktes Papier),56 lässt den Ausdruck bumagomaranie (dt. „Papierbeschmutzung“) anklingen, ein Begriff, der der im Deutschen gebräuchlichen „Tintenkleckserei“ entspricht. Die Literatur charakterisiert Ševyrev in einer anschaulichen Allegorie verächtlich als Pfandleiherin: Я представляю ее себѣ владѣдельницею ломбарда: здѣсь, на престолѣ из ассигнацiй, возсѣдаетъ она, счетами въ рукѣ. Въ огромныхъ залахъ ея чертоговъ великое множество просителей, съ исписанными тетрадями въ рукахъ; билеты равно принимаются отъ извѣстныхъ и неизвѣстныхъ; она всѣхъ сравняла по уровню печатнаго листа, […] – но между этими просителями нѣтъ уже ни одного героя, который осмѣлился бы какъ прежде поднятъ голову надъ всѣми и объявить монополiю на Повѣсть, на Роман, на Поэму. Но кто невидимый герой всего этого мiра? Кто устроилъ этотъ ломбардъ нашей Словесности и взялъ ея производителей подъ свою опеку? – Кто движетъ всею этую машиною нашей Литературы? – Книгопродовецъ. Съ нимъ подружилась наша Словесность, ему продала себя за деньги, и поклялась въ вѣчной вѣрности.57 Ich stelle sie mir als die Inhaberin eines Leihhauses vor: hier, auf einem Thron aus Geldscheinen, sitzt sie, mit den Rechnungen in der Hand; in den riesigen Sälen ihrer Prunkgemächer eine große Menge an Bittstellern, mit vollgeschriebenen Heften in den Händen; gleich ob bekannt oder unbekannt erhalten sie Geldnoten; sie vergleicht alle nach der Größe des gedruckten Blattes, […] aber unter diesen Bittstellern ist kein einziger Held mehr, der wie früher seinen Kopf über alle gehoben hätte und das Monopol auf die Erzählung, den Roman, das Poem proklamiert hätte. Aber wer ist der unsichtbare Held dieser ganzen Welt? Wer hat dieses Leihhaus unserer Literatur erbaut und nahm ihre Erzeuger unter seine Vormundschaft? Wer bewegt die ganze Maschine unserer Literatur? – der Buchhändler. Mit ihm hat sich unsere Literatur angefreundet, ihm hat sie sich für Geld verkauft, ihm hat sie ewige Treue angelobt.

Ševyrev lässt ein Bild des literarischen Marktes entstehen, auf dem nicht der geistige Wert, die Idee eines Autors Literatur schafft, sondern die Menge des beschriebenen Papiers. Das Bild führt den Buchhändler als einen Papierhändler vor. In dieser Zeit

55 Ebd., S. 17. 56 Ebd., S. 10. 57 Ebd., S. 10.

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waren Papierhändler eine ebenso bekannte Berufsgruppe, die unverkaufte Bücher als Makulatur zum bloßen Papierpreis aufkaufte und zur weiteren Verwendung etwa als Verpackungsmaterial weiterverkaufte (siehe zum Begriff der Makulatur auch Teil I, Kap. 3.2.2 und 3.2.3). Von dieser Praxis zeugt ein ebenso recht polemisch anmutendes Zitat Vasilij Sopikovs: Но съ другой стороны, не льзя также не замѣтить почти общаго крайняго равнодушiя нашихъ Русскихъ читателей даже къ превосходнымъ и единнственнымъ въ своемъ родѣ творенiямъ, каковы, на примѣръ изъ древнихъ, сочиненiя Платоновы, […] Цицерoновы, Горрацiевы, Саллустiевы, Тацитовы и другия подобныя, […] не были раскуплены, и къ удивлению, послѣ проданы были пудами на оберточную бумагу, а нѣкоторыя не проданы еще и доныне. Напротивъ того, Сонники, Оракулы, Чародеи, Хиромантики, Ворожеи, Кабалистики, и прочия сего рода сочинения, имеютъ удивительный разходъ.58 Auf der anderen Seite kann man nicht umhin, die beinahe allgemeine maßlose Gleichgültigkeit unserer russischen Leser gar gegenüber den vortrefflichen und in ihrer Art einzigartigen Werken zu bemerken, welche, von den alten etwa Platonische Werke, […] Ciceronische, Horazische, Sallustische, Taciteische und andere, […] nicht ausverkauft wurden, und zur Verwunderung wurden sie später als Pud Verpackungspapier verkauft, und einige sind bis jetzt noch nicht verkauft. Dagegen haben die Traumbücher, Orakelbücher, Zauberbücher, die Chiromantie-, Wahrsage-, die Kabbalistikbücher, und andere solcher Werke einen erstaunlichen Absatz.

Sopikovs Zitat beschreibt die für einen sich als Gelehrten begreifenden Bibliophilen unerhörte Skandalhaftigkeit der Marktlogik, die es bewirkt, dass Gründungstexte der europäischen Geistesgeschichte zum Papiermüll werden, während die eigentliche Makulatur – Orakelbücher, Traumdeutungsbücher und ähnliches – ausverkauft wird. Ebendies drückt auch Ševyrevs Bild des Literaturmarktes aus: Das, was verkauft wird, ist für ihn nur beschmutztes Papier. Ševyrevs Polemik gegen den sich entwickelnden Literaturmarkt, der es Autoren ermöglicht, mit dem Schreiben tatsächlich als Einnahmequelle zu kalkulieren, ist jedoch auch ein sich anscheinend an eine klassizistische Polemik des achtzehnten Jahrhunderts anschließender Feldzug gegen die Prosaform.59 Deren zunehmendes, den Literaturmarkt konstituierendes Erscheinen sieht er, wie oben beschrieben, durch ihren größeren materiellen Umfang, aber zudem auch durch ein Nachahmungsstreben westeuropäischer Literatur bei russischen Autoren motiviert.60 Die Form des Romans sei jedoch eine genuin westeuropäische, da sie nicht nur die große Erfahrung, sondern auch die Desillusionierung des alten Europa transportiere.61 Daher passe sie nicht zu

58 Sopikov: Opyt rossijskoj bibliografii. Teil 2, VI. 59 Vgl. zu dieser Polemik im achtzehnten Jahrhundert Zelinsky, Bodo (Hg.): Der russische Roman. Überarb. u. aktual. Neuaufl. der 1. Aufl 1979. Köln 2007, S. 1 ff. 60 Ševyrev: „Slovesnost’ i torglovlja“, S. 16. 61 Ebd., S. 16.

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dem noch jungen, hoffnungsfrohen Russland.62 Er greift die Argumente der sich in Russland zu dieser Zeit anbahnenden Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slavophilen auf.63 Im Gegensatz zur Prosaform des Romans sei die Poesie wiederum geistigen Charakters und würde sich der Kalkulation niemals fügen: Почему же Поэзiя молчитъ среди этой осенней ярмарки?  – Потому что только ея вдохновенiе не слушается расчета. Онa свободно какъ мысль, как душа.64 Warum nur schweigt die Poesie inmitten dieses Jahrmarktes? – Weil ihre Inspiration nicht der Berechnung gehorcht. Sie ist frei wie der Gedanke, wie die Seele.

Ohne sich dann tiefer mit dem eigentlichen Grund für die gute Verkäuflichkeit der vielen Romane und Erzählungen zu befassen – nämlich mit der offenkundigen Lust des breiten Publikums an diesen Texten – wünscht er sich ein Publikum herbei, das „geistigeres Lesen“ mehr schätzte („čtenie mysljaščee“).65 Er hofft, dass die von ihm beobachtete Oberflächlichkeit der russischen Literatur, die er im Verlauf seines Aufsatzes rhetorisch mit vielfältigen Bildern als bloßes Material abwertet, nur eine zeitweilige Erscheinung im jungen, gerade erst auf die Zeit der Aufklärung zurückblickenden Russland sei. Mit der polemisch-rhetorischen Reduktion der gegenwärtig erscheinenden literarischen Texte auf ihr Material konstatiert er von vornherein ihre fehlende Einheitlichkeit, die nur geistig, durch eine gemeinsame Idee, entstehen könne.66 In dem von Ševyrev erwarteten glücklichen neuen Zeitalter der Literatur wäre diese nicht wirtschaftlich-materiell, sondern einzig geistig bestimmt. Es gäbe Autorenfiguren, die sich über die gestaltlose Masse an Bittstellern beim Buchhändler erhöben. Sie wäre eine einheitliche Literatur. Er räumt ein, dass dabei auch der Roman eine Rolle spielen könne, wenn er nur das menschliche Leben wahrhaft darstellen würde: Она (публика, C. S.) пожелаетъ чтения дѣльнаго, питающаго душу. Не имя, не форма Романа будут привлекатъ ее, а тотъ Роман, который вѣрно изобразитъ жизнь человѣческую. Тогда, въ это счастливое время, которое будетъ зрѣлымъ плодомъ истиннаго, внутренняго, а не поверхностнаго образования, – не одна изящная Словесность, но и ученая найдетъ своих потребителей […] Естъ много счастливыхъ признаковъ того, что это время скоро наступитъ.67

62 Ebd., S. 16. 63 Kojre, Aleksandr (Koyré, Alexandre): Filosofija i nacional’naja problema v Rossii načala XIX veka. Issledovanija po istorii russkoj mysli. Bd. 9. Moskva 2003. 64 Ševyrev: „Slovesnost’ i torglovlja“, S. 20. 65 Ebd., S. 28. 66 Ebd., S. 1. 67 Ebd., S. 27 f.

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Es (das Publikum, C. S.) wird sich ein vernünftiges, die Seele nährendes Lesen wünschen. Nicht der Name, nicht die Form des Romans werden es anziehen, sondern der Roman, der wahrhaft das menschliche Leben darstellen wird. Dann, in dieser glücklichen Zeit, die die reife Frucht der wahren, inneren, und nicht oberflächlichen Bildung sein wird, – wird nicht nur die schöne Literatur, sondern auch die gelehrte ihre Käufer finden […] Es gibt viele glückliche Vorzeichen dessen, dass diese Zeit bald anbricht.

Eine als einheitlich zu begreifende Literatur vermisst auch Vissarion Belinskij, der am Ende seiner Literaturnye mečtanija (1834) das Fehlen einer russischen Literatur feststellt.68 Wie Ševyrev beklagt er den bloßen Nachahmungscharakter dessen, was die russische Literatur zu nennen wäre.69 Aufgrund ihrer fehlenden inneren Motiviertheit sei sie geschichtslos und unzusammenhängend.70 Auch er gebraucht das Bild einer Menge von vielen Autorenhäuptern, aus denen sich kein einzelnes Haupt als Vorbild herauszuheben vermöchte.71 Die Puškin’sche Epoche, die sich an die Karamzin’sche geschlossen habe wie diese an die Lomonosov’sche Epoche, sieht er als beendet an.72 Wie auch Ševyrev kommt er zu dem Schluss, die gegenwärtige Epoche sei vielmehr durch den Buchhandel bestimmt, dessen herausstechende Gestalt er als den Buchhändler und Verleger Aleksandr Smirdin identifiziert.73 Obwohl er dann durchaus noch einige der zu jener Zeit populären Autoren, die zum Großteil ja bei Smirdin veröffentlichten, lobend hervorhebt, scheint er dennoch insgesamt das Fehlen literarischen Geistes beklagen zu müssen. Smirdins Geschäftstüchtigkeit sieht Belinskij als eine ‚entseelende‘ Haltung zur Literatur, wie seine ironische Paraphrase Smirdins anzeigt: Вы помните, как почтеннѣйщий А. Ф. Смирдин, движимый чувством обшего блага, со всей откровенностiю благородного сердца, объявил, что наши журналисты потому не имѣли успѣха, что надѣялись на свои познанiя, таланты и дѣятельность, а не на живoй капитал, который есть душа литературы […].74 Erinnern Sie sich, wie der hochgeehrte A. F. Smirdin, getrieben vom Gefühl für das Gemeinwohl, mit aller Offenheit seines noblen Herzens verkündete, dass unsere Journalisten deswegen keinen Erfolg hatten, weil sie auf ihre Erkenntnisse, ihre Talente, ihre Betriebsamkeit bauten, und nicht auf das lebendige Kapitel, das die Seele der Literatur ist […].

68 Belinskij, Vissarion Grigor’evič: Literaturnye mečtanija. Ėlegija v proze. Polnoe izdanie v portretom avtora i predisloviem. Kiev 1909, S. 115. 69 Ebd. 70 Ebd., S. 115 f. 71 Ebd., S. 119. 72 Ebd., S. 115 f., S. 119. 73 Ebd., S. 132. 74 Ebd., S. 133.

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Doch beklagt er nicht nur wie Ševyrev das Gewinnstreben bei der Literaturproduktion, das zu ihrer Verflachung führe. Auch die vieldiskutierte Frage einer gegenwärtigen ‚volkstümlichen‘ Literatur tut er verächtlich ab:75 Романтизмъ – вотъ это первое слово огласивщее Пушкинский перiодъ – народность, вотъ альфа и омега новаго перiода. Какъ тогда всякiй бумагомаратель из кожи лѣзъ, чтобы прослытъ романтикомъ; такъ теперъ всякий литературный шутъ претендует на титло народнаго писателя.76 Romantik – das ist das erste Wort, das die Puškin-Periode erfüllt hat; Volkstümlichkeit – das ist das Alpha und Omega der neuen Periode. Wie damals jeder Papierbeschmutzer sich abstrampelte, um als Romantiker zu gelten, so erhebt nun jeder literarische Narr den Anspruch auf den Titel eines volkstümlichen Schriftstellers.

Wie bei Ševyrev wird der Begriff des Papierbeschmutzens zur rhetorischen Abwertung oberflächlichen Schreibens gebraucht, dem eine Einheit durch eine Idee, einen Geist, fehle. Den Begriff der „Volkstümlichkeit“ (narodnost’), der die Bezeichnung eines solchen gemeinsamen Geistes oder Charakters der gegenwärtigen Literatur für sich beansprucht, tut er als ebenso leere Hülle wie den Titel des „Romantikers“ ab, mit dem sich in der von ihm für beendet erklärten Puškin’schen Epoche viele Autoren zu schmücken versucht hätten. Vorläufig bestünde die „Volkstümlichkeit“ „iz vernosti izobraženija kartin russkoj žizni […]“77 („aus der Wahrheit der Darstellung der Bilder des russischen Lebens“). Einige Autoren wie Aleksandr Puškin, Nikolaj Gogol’, Vladimir Odoevskij hätten etwas Derartiges bereits vereinzelt geleistet, eine einheitliche „Volkstümlichkeit“ kann er in der gegenwärtigen russischen Literatur jedoch nicht erkennen. Wie auch Ševyrev sieht er dann das „glückliche Zeitalter“, in dem Russland eine echte Literatur haben wird, dennoch bald gekommen: Когда же наступитъ у нас истинная эпоха исскуства? – Она наступитъ, будьте въ томъ уверены!78 Wann tritt denn bei uns eine wahrhafte Epoche der Kunst ein? – Sie tritt ein, seid euch dessen sicher!

75 Wie auch Ševyrevs Rede vom alten (erfahrenen, aber desillusionierten) Europa, das einem jungen, hoffnungsvollen Russland gegenübergestellt wird, deutet Belinskijs Anspielung auf die Diskussion um die ‚Volkstümlichkeit‘ (narodnost’) der russischen Literatur im Zusammenhang mit der sich anbahnenden Auseinandersetzung zwischen Westlern und Slavophilen über die Haltung Russlands zu Westeuropa und die Versuche, das Wesen Russlands, bzw. ein russisches Nationalgefühl zu bestimmen. Kojre (Koyré): Filosofija i nacional’naja problema v Rossii. Bd. 9. 76 Belinskij: Literaturnye mečtanija, S. 121. 77 EBd. S. 125. 78 Ebd., S. 138.

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Voraussetzung dafür sei jedoch eine ‚echtrussische‘, nicht der westeuropäischen nachgeahmte Aufklärung, die auch die Kaufleute und die Geistlichkeit miteinbezöge – im Geist der Orthodoxie, der Volkstümlichkeit und des Absolutismus.79 Belinskij wie Ševyrev gebrauchen eine defigurative Bildlichkeit (Bilder einer gestaltlosen Masse von Autoren und Texten, der Papierbeschmutzung als Erscheinungen einer ‚Entseelung der Literatur‘), die der Polemik in Deutschland im Zuge des sich Ende des achtzehnten Jahrhunderts ausbreitenden literarischen Marktes gleicht. Zuvor wurde in dieser Studie erläutert, dass innerhalb dieser Polemik ganz ähnliche Metaphern auftauchen (vgl. etwa das „fürchterliche Autorheer“ und andere Ausdrücke beim Philologen und Bibliothekaren Karl Morgenstern),80 die im Zusammenhang mit einem Bedürfnis nach einer Kanonbildung stehen. Ähnlich rufen auch Ševyrev und Belinskij nach einer ‚Einheit‘ der Literatur, die in einem solchen Kanon bestehen würde. Sie entwerfen vor allem die „Wahrheit der Darstellung des russischen Lebens“ als eine solche Kategorie, die im Kontext des Nationaldiskurses steht und bei Belinskij bereits auf die Forderung der dejstvitel’nost’ (dt. „Wirklichkeit“) deutet, die ein literarisches Werk nur durch die Vereinigung von Beobachtung und innerer Erkenntnis des Autors erreichen könne.81 Mit der Postulierung vieler Anzeichen einer solchen Literatur bereits in der Gegenwart, bzw. der Artikulierung eines festen Vertrauens in ihre baldige Erfüllung wird, anscheinend motiviert durch einige positive Beispiele (siehe bei Belinskij die lobende Erwähnung Gogol’s oder Odoevskijs), das Bild einer Präfiguration der zukünftigen ‚Literatur der wahren Darstellung‘ in der Gegenwart entworfen.

2.3 G  ogol’s Aufsatz „Über die Bewegung der Zeitschriftenliteratur“ Als Antwort auf den Aufsatz Ševyrevs hat sich Nikolaj Gogol’ zum Zustand der zeitgenössischen russischen Literatur mit seinem Aufsatz O dviženii žurnal’noj litteratury v 1834 i 1835 godu („Über die Bewegung der Zeitschriftenliteratur in den Jahren 1834 und 1835“) (1836) geäußert,82 und Ševyrevs Polemik gegen die Professionalisierung

79 Ebd., S. 140 f. 80 Morgenstern, Karl: Johannes Müller oder Plan im Leben nebst Plan im Lesen und von den Grenzen weiblicher Bildung. Drey Reden. Leipzig 1808, S. 400; zitiert nach Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 399. 81 Vgl. Philipp, Torben: Zwischen Blindheit und Allsicht. Diskurse des Sichtbaren im russischen Realismus (unveröff. Manuskript), Kap. „Fakt, provedennyj čerez fantaziju poėta: Belinskijs Poetik des Bildes“, S. 14 f.; vgl. Lachmann, Renate: Gedächtnis und Literatur. Intertextualität in der russischen Moderne. Frankfurt a. M. 1990, S. 131 ff. 82 Im Folgenden wird Gogol’s Aufsatz O dviženii žurnal’noj litteratury v 1834 i 1835 godu nach der Fassung der Erstpublikation in Puškins Sovremennik unter Beibehaltung der Originalorthographie zitiert. In der Akademija-Werkausgabe wurde gemäß der generellen Verfahrensweise der Herausgeber

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des Autorenberufes abgeschwächt. Vielmehr beginnt Gogol’ seinen Artikel mit einer positiven Meinung zu dieser dieser journalistischen Erscheinung: Журнальная литтература, это живая, свѣжая, говорливая, чуткая литтература, также необходима в области наукъ и художествъ, какъ пути сообщенiя для Государства, какъ ярмарки и биржи для купечества и торговли. Она ворочаетъ вкусомъ толпы, обращаетъ и пускаетъ въ ходъ все выходящее наружу въ книжномъ мирѣ, и которое безъ того было бы в обоихъ смыслахъ мертвымъ капиталомъ. Она быстрый, своенравный размѣнъ всеобщихъ мненiй, живой разговоръ всего тиснимаго типографскими станками; ея голосъ есть вѣрный представитель мнѣнiй цѣлой эпохи и вѣка, мнѣнiй безъ нсе бы исчезнувшихъ безгласно.83 Die Zeitschriftenliteratur, das ist eine lebendige, frische, gesprächige, feinfühlige Literatur, ebenso notwendig im Bereich der Wissenschaften und Künste, wie die Wege der Nachrichten für den Staat, wie die Messen und Börsen für die Kaufleute und den Handel. Sie führt den Geschmack der Menge, kontrolliert und entlässt alles in der Buchwelt Herauskommende, und das ohne dies im doppelten Sinne totes Kapital wäre. Sie ist ein schneller, launenhafter Abtausch allgemeiner Meinungen, ein lebendiges Gespräch alles mit den typographischen Maschinen Gedruckten; ihre Stimme ist ein wahrer Vertreter der Meinungen einer ganzen Epoche und eines Jahrhunderts, Meinungen, ohne die sie lautlos verschwunden wären.

Gogol’ entwirft das Bild einer Zeitschriftenliteratur, die nicht von vornherein als oberflächlich abzuklassifizieren, sondern deren Schnelllebigkeit vielmehr als positives Kriterium bei ihrer Bewertung hervorzuheben sei. Gerade ihre Eigenschaft, auf aktuelles Tagesgeschehen zu reagieren, es aufzugreifen, in einem Austausch der verschiedenen Journale untereinander zu diskutieren und es wiederum zu beeinflussen, stellt Gogol’ als „die Frische“, die „Lebendigkeit“ dieser neuen Erscheinung auf dem Publikationsmarkt dar. Diese schnelllebige Reaktionsfähigkeit, die flexible Intertextualität der Zeitschriftenliteratur, lasse ihre Lettern ‚gesprächig‘ werden – sie sei ein živoj razgovor vsego tisnimago („lebendiges Gespräch alles […] Gedruckten“). Gogol’ fasst die Zeitschriftenliteratur als eine „lebendige, zeitgenössische Bewegung“ auf, an der es jedoch in den letzten Jahren in Russland mangele.84 Die gegenwärtig erscheinenden Zeitschriften werden von ihm scharf kritisiert, da sie nicht durch einen bestimmten Ton (odin opredelennyj ton), eine führende Meinung (upolnomočennoe mnenie) geprägt seien.85 Osip Julian Senkovskij, der in dieser Zeit die Zeitschrift Biblioteka dlja čtenija gemeinsam mit Nikolaj Greč herausgab, wird von ihm besonders eines

die Orthographie modernisiert. Gogol’: „O dviženii žurnal’noj literatury v 1834 i 1835 godu“, in: G VIII, S. 156–176; Gogol’: „O dviženii žurnal’noj litteratury“. 83 Ebd., S. 192 f. 84 Ebd., S.  193: „[…] отсутствiя журнальной деятельности и живаго современнаго движенiя […].“ 85 Ebd., S. 194.

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zusammenhanglosen Schreibens bezichtigt, das bei seinen Rezensionen keiner Überzeugung folge,86 derart sprunghaft-oberflächlich sei, dass der Autor im nächsten Aufsatz vergessen zu haben scheine, was er im vorigen geschrieben habe.87 Einerseits zerstückele Senkovskij sogar willkürlich die in der Zeitschrift veröffentlichten Texte in mehrere Teile, andererseits schreibe er eigenmächtig auch mal ein Ende eines bei ihm eingereichten Textes, der doch eigentlich ohne dieses bereits vollendet sei: Онъ даже придѣлалъ свой конецъ къ комедiи Фонвизина, не разсмотрѣвши, что она и безъ того была съ концомъ.88 Er fügte sogar sein Ende an eine Komödie von Fonvizin an, nicht erkannt habend, dass sie auch ohne dieses ein Ende besaß.

Gogol’ spricht Senkovskij also die Kenntnis und das Gefühl für die Ästhetik literarischer Texte ab, die es ihm ermöglichen würde, in angemessener Weise literarische Texte zu publizieren und zu bewerten. Gerade in der Anspielung auf eine Ästhetik, die einen fragmentarischen Text eben nicht als mangelhaft unabgeschlossen, sondern gerade als etwas ‚unvollendet Vollendetes‘ begreift,89 weist Gogol’ humoristisch auf die Unzulänglichkeit von Senkovskijs Schreiben hin. Senkovskijs Texte sind ebenfalls fragmentarisch zerstückt, jedoch dabei zusammenhanglos, oberflächlich, ironischerweise ähnlich mangelhaft wie die literarischen Texte, die Senkovskij selbst kritisiert.90 Auch Senkovskijs eigenen literarischen Texte, die er unter dem Pseudonym „Baron Brambeus“ veröffentlichte, seien bloße Nachahmungen französischer Literatur, und auch dabei hätte er sich wenig um einen Zusammenhang bemüht:91

86 Ebd., S. 199. 87 Ebd., S.  199: „[…] что г. Сенковский сказалъ это безъ всякаго намѣрения, изъ одной опрометчивости; потому что он никогда не заботится о томъ, что говоритъ, и въ слѣдующей статьѣ уже не помнитъ вовсе написаннаго въ предыдущей.“ 88 Ebd., S. 200. 89 Wie bereits einleitend zu dieser Studie umrissen wurde, war die Rezeption der frühromantischen deutschen Ästhetik von großer Bedeutung für die russische Romantik. Die Arbeit kann nicht eingehend diese Zusammenhänge vorstellen, hier sei nur noch einmal darauf hingewiesen, dass gerade die Ästhetik des romantischen Fragments hier von Bedeutung gewesen ist. Vgl. Zejfert, E. I.: Neizvestnye žanry „zolotogo veka“ russkoj poėzii. Romantičeskij otryvok. Moskva 2014, S. 131–140. Zejfert bezieht sich unter anderem auf die einschlägige Einführung zur Anthologie Russkie ėstetičeskie traktaty pervoj treti XIX veka von Z. A. Kamenskij, in der dieser den Einfluss der deutschen frühromantischen (vor allem der Jenaer) Ästhetik v. a. über Übersetzungen in russischen Literaturzeitschriften beschrieben hat. Kamenskij, Z. A.: „Russkaja ėstetika pervoj treti XIX veka. Romantizm. Ėstetičeskie idei dekabrizma. Vstupitel’naja stat’ja“, in: Ovsjannikov, M. F. (Hg.): Russkie ėstetičeskie traktaty pervoj treti XIX veka. Sost., vstup. s. i primeč. Z. A. Kamenskogo. Bd. 2. Moskva 1974, S. 9–80. 90 Gogol’: „O dviženii žurnal’noj litteratury“, S. 199 f. 91 Ebd., S. 201: „[…] авторъ мало заботился о ихъ связи.“

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То, что въ оригиналахъ имѣло смысль, то въ копiи было бeзъ всякаго значенiя.92 Was in den Originalen Sinn hatte, war in der Kopie ohne jede Bedeutung.

Derart die literarischen und literaturkritischen Sparten der Zeitschrift abwertend, kommt Gogol’ zu dem Schluss, dass in dieser Zeitschrift noch am interessantesten die Sparte smes’ (dt. „Vermischtes“) sei, in der neueste Nachrichten berichtet wurden. Diese sei eine Sparte, die […] вмѣщавшая в себѣ очень много разнообразных свѣжих новостей, отдѣление живое, чисто журнальное. […] viele verschiedene frische Neuigkeiten in sich vermischte, eine lebendige, rein journalistische Abteilung.93

Die Parallele zu Gogol’s zu Beginn des Aufsatzes geäußerter Idealvorstellung eines „lebendigen Gesprächs“ der Zeitschriften, einer „lebendigen, gesprächigen, feinfühligen Literatur“, sticht hervor. Was den literarischen und literaturkritischen Sparten fehlt, erfüllt anscheinend die Sparte smes’, die von neuesten Begebenheiten berichtet. Sie ist aktuell, das heißt also „lebendig“ und „frisch“ durch die unmittelbare Gegenwartsbezogenheit der in ihr berichteten Ereignisse. In ihr scheinen die einzelnen Meldungen verschiedenster „Neuigkeiten“ eine durchmischte, „vielgestaltige“ Gesamtheit zu bilden, die vielmehr etwas zeigt, als eine einzelne bestimmte Aussage vermitteln zu wollen. Auf der anderen Seite steht ein eben gerade nicht lebendiges, sondern seelen- und gefühlloses Schreiben literarischer und literaturkritischer Texte, die zusammenhanglos, oberflächlich nachahmend, kein solches „Gespräch“ bildeten, sondern nur eine von „Todeskälte“ erfüllte Ansammlung seien: Но нигде не видетъ читатель, чтобы это было признакомъ чувства, признакомъ понимания, изтекло изъ глубины признательной разтроганной души. Слогъ их, не смотря на наружное, часто вычурное и блестящее убранство, дыщетъ мертвящею холодностию.94 Aber nirgendwo sieht der Leser, dass dies ein Anzeichen von Gefühl ist, ein Anzeichen des Verstehens, das aus der Tiefe der dankbaren berührten Seele entsprungen ist. Ihr Stil, ungeachtet des äußeren, oft gezierten und blendenden Anscheins, atmet Todeskälte.

Ein bekanntes Thema der Gogol’schen Ästhetik der Petersburger Zeit wird in diesen Sätzen gestreift. Der äußere Schein blendet die Wahrnehmung, täuscht über den

92 Ebd. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 222 f.

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wahren Kern hinweg.95 Gogol’s Kritik trifft gerade die Rhetorik der Texte, die, anstatt eine wahre Bedeutung im Stil der Sprache angemessen zu formen, gerade über das Fehlen einer solchen Bedeutung hinwegtäuschen wolle. Derart betreibt Gogol’ eine Ornamentkritik der Redekunst, die er auf die schriftlichen Rezensionen überträgt, und greift dabei den altbekannten Vorwurf der täuschenden Blendung an die Rhetorik auf.96 So ist auch etwa die Zusammenhanglosigkeit der Texte Senkovskijs, ihre Fragmentiertheit, gerade kein Merkmal einer bedeutsamen Zusammenstellung des Vielgestaltigen, sondern Anzeichen eines gestaltlosen Zerfalls, einer Abwesenheit von Bedeutung. Die „Todeskälte“ des Stils lässt die verbreitete Wendung vom „toten Buchstaben“ anklingen. Die Oberflächlichkeit der literarischen und literaturkritischen Zeitschriftentexte, ihre chaotische Anhäufung aus keiner tieferen Bedeutung folgenden Textteilen, steht einem Ideal einer Lebendigkeit der Zeitschriftenliteratur gegenüber, die anscheinend gerade in der Sparte smes’ aufscheint. Darin sieht Gogol’ ebendie „lebendige“, „frische“ Bewegtheit des vielgestaltig Zusammengestellten. In der Verwirklichung einer ‚lebendigen Bewegung der Zeitschriftenliteratur‘ stünde diese durch die Zusammenstellung der vielen verschiedenen Texte in einem inneren Austausch und vermöchte, getrieben vom „Gefühl“ und einer „berührten Seele“, etwas zu zeigen, das darin nicht direkt bezeichnet würde, jedoch rein in dem vielgestaltigen Zusammentreffen der einzelnen Texte hervorträte. Im Negativen besteht dabei eine deutliche Parallele zu Gogol’s Aufsatz über Puškin in seiner Sammlung der Arabeski. Während Puškin es in seiner Dichtung vermöge, im Vielgestaltigen eine russische Wesenheit auszudrücken, die von innen leuchte (vnutrennij blesk97) vielmehr als dass ein solches spezifisch „russisches Wesen“ (russkaja priroda, russkij duch98) mimetisch dargestellt werde, seien seine Nachahmer bloß als marateli99 (dt. „Schmierfinken“ [wörtl.: „Beschmutzer“], siehe dazu Belinskijs bumagomaranie) zu bezeichnen, deren Texte also leer seien, jedoch die Massen begeistern wollten – etwas, das den umso wertvolleren Texten Puškins abgehe.

95 Vgl. Mann, Jurij V.: Poėtika Gogolja. Moskva 1978, S. 83 f. Besonders die Erzählungen der Arabeski Portret und Nevskij Prospekt thematisieren Motive des ‚Anscheins‘, die verführen, die täuschen. Auch Susi K. Frank führt dies als zentrale Thematik der Arabeski an, in denen die Essays ein Konzept des Ästhetischen/Poetischen vorstellten, das einen transzendentalen Sinn vermitteln könne, während die fiktionalen Texte der Arabeski gerade die „sinnliche Erscheinung als Trugbild oder Simulacrum“ entwürfen. Gogol’s Erhabenheitskonzept problematisiere „Mimesis als Repräsentation anhand der Opposition Vergegenwärtigung vs. Abbildlichkeit.“ Frank: Der Diskurs des Erhabenen, S. 162 (siehe weiterführend dazu das folgende Kapitel 3: Arabesken). 96 Platon: Sophistes, in: Platons Werke. Teil 2. Bd.  1. Hg. v. Friedrich Schleiermacher. Berlin 1857, 234 c. 97 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: „Neskol’ko slov o Puškine“, in: Ders.: Arabeski. Raznyja sočinenija N. Gogolja. Teil 1. Sanktpeterburg 1835, S. 211–227, hier S. 224. 98 Ebd., S. 222. 99 Ebd., S. 216.

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In Bezug auf Gogol’s Rhetorikkritik lässt sich schließen: Lebendig kann der Text nur sein, wenn der ‚ornamental‘ anmutende Stil eine Tiefe der Bedeutung zeigt, nicht nur eine ornamentale Oberfläche schafft.100 Die sich andeutende Nähe dieses Konzeptes zu Friedrich Schlegels Begriff der Arabeske wurde von Susi K. Frank an Gogol’s Bemerkung zur smes’ durch eine Kontextualisierung mit seiner Essay- und Erzählsammlung Arabeski in ihrer Studie zu Gogol’s Begriff des Erhabenen untersucht.101 Besonders stark macht Frank dabei den Bezug zu einem Begriff der Arabeske als a-mimetisches Ornament, das gerade in seinem Rückzug von einem mimetischen Abbildungsversuch in seiner vielgestaltigen inneren Rapportierung Bedeutsamkeit ausdrücke, zu zeigen vermöchte. Es mag bereits ergänzt werden, dass sich auch ausgehend von Gogol’s oben zitierter Bemerkung zum Fragment als einem ‚unvollendet Vollendeten‘ ein starker Bezug zu Friedrich Schlegel oder überhaupt zur deutschen Frühromantik untersuchen ließe. Der Untersuchung von Gogol’s Konzept der Arabeske widmet sich das folgende Kapitel 3 (Arabesken). Doch darüberhinausgehend ist Gogol’s Text durch einen argumentativen Zug geprägt, der ihn in die Nähe von Friedrich Schlegels Brief über den Roman und seiner Rede über die Mythologie rückt; und dies im Gegensatz zu den Ausführungen Belinskijs und Ševyrevs: Schlegels Begriff der Arabeske schließt auf ambivalente Weise an die Polemik des achtzehnten Jahrhunderts zur „Bücherflut“ des sich entwickelnden literarischen Marktes und Gefahren der Lesesucht an. Während Schlegel deren Polemik in einigen Formulierungen wie etwa dem „Bücherhaufen“102 aufgreift und diese publizistische Lage als tatsächliche Unordnung darstellt, macht er doch deutlich, dass gerade diese Unordnung den Nährboden für die literarische Arabeske bietet, die „in diesen kränklichen Verhältnissen“103 aufwächst. Die Arabeske ist ein positives Chaos, das über den „Geist der Liebe“104 als eine auf die Einheit des Ursprünglichen deutende, intertextuelle Form erkannt werden kann.105 Da Schlegel ein durch ‚ein und denselben Geist‘ geprägtes Zeitalter der ‚neuen Mythologie‘ im gegenwärtigen Zustand der Literatur, in dem das „Höhere“106 nicht ausgedrückt werden könne, dabei bereits

100 Das folgende Kapitel 3 befasst sich ausführlich mit diesen Aspekten. Laut Susi K. Frank stelle Gogol’s Mimesiskritik ein rhetorisches Konzept des erhabenen Zeigens einer Kritik einer defizitären Abbildlichkeit gegenüber. Frank: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’, S. 162. 101 Ebd., S. 158 ff. 102 Schlegel, Friedrich: „Gespräch über die Poesie“, in: KFSA II, S. S. 285–351, hier S. 330. 103 Ebd., S. 331. 104 Ebd., S. 333. 105 Ebd., S.  313: „Aber die höchste Schönheit, ja die höchste Ordnung ist denn doch nur die des Chaos, nämlich eines solchen, welches nur auf die Berührung der Liebe wartet, um sich zu einer harmonischen Welt zu entfalten, eines solchen wie es auch die alte Mythologie und Poesie war. Denn Mythologie und Poesie, beide sind eins und unzertrennlich. Alle Gedichte des Altertums schließen sich eines an das andre, bis sich aus immer größern Massen und Gliedern das Ganze bildet; alles greift ineinander und überall ist ein und derselbe Geist nur anders ausgedrückt.“ 106 Ebd., S. 333.

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angekündigt sieht, so ist man versucht, hier Parallelen zu den Ausführungen Ševyrevs und Belinskijs zu entdecken. Diese rufen ebenso ein Zeitalter der erwünschten, durch den Geist geprägten Literatur an (und ein mehr oder weniger direkter Bezug zu Friedrich Schlegels Texten kann bei Ševyrev, der in dieser Zeit auch etwa die Werke Wackenroders und August Wilhelm Schlegels ins Russische übersetzte,107 nicht ausgeschlossen werden.) Doch beiden Autoren fehlt gerade die Ambivalenz im Gebrauch der defigurativen Bildlichkeit, die sie polemisch in Bezug auf die Literatur der Gegenwart entwerfen. Die izmarannye bilety („beschmutzten Noten“) und das bumagomaranie („Papierbeschmutzung“) stehen allein der Anrufung einer „wahren Epoche der Kunst“ gegenüber. Anders ist es in Gogol’s Aufsatz: Wertet er auch die Zeitschriftenliteratur so, wie er sie im gegenwärtigen Zustand vorfindet, ab – so entwirft er dennoch sowohl mit seiner Perspektive auf die Sparte der smes’ als auch zu Beginn des Artikels durch sein Ideal der bewegten Zeitschriftenliteratur ein Konzept des Arabesken. Dieses ensteht gerade aus der Vielfalt und Schnelligkeit, der Spontaneität des sich entwickelnden literarischen Marktes heraus. Dieser Begriff ist der Vorstellung einer Performativität der erwünschten Literatur bei Friedrich Schlegel ähnlich, ihrer lebendigen Bewegtheit, der Notwendigkeit des Gefühls, das sie durchdringe. Interessanterweise führt das bei Gogol’ auch in Abgrenzung zu Ševyrev zu einer Aufwertung des Handels, die an ein durch Novalis ausgesprochenes Lob des merkantilischen Geistes erinnert: Der Handelsgeist ist der Geist der Welt. Er ist der großartige Geist schlechthin. Er setzt alles in Bewegung und verbindet alles. Er weckt Länder und Städte – Nationen und Kunstwercke. Er ist der Geist der Kultur – der Vervollkommnung des Menschengeschlechts.108

Dieser positive Begriff des Handels als kulturstiftender Drang, der Verschiedenes aus einer tieferen Einheit heraus schafft und in bewegte Verhältnisse einbindet, ist eng mit Novalis’ Konzept einer Enzyklopädie verbunden, des nie tatsächlich zu schreibenden bzw. zu vollendenden Buches, das Wissen und Wissenschaften wie Künste miteinander vereint und in analogische Beziehungen zur Natur setzen soll. Durch die „Enzyklopädistik“109 als Methode der Erkenntnis über die Einheit des Vielfältigen sollte es angestrebt werden. Wie bei Friedrich Schlegel in seinem Gespräch über die Poesie und Novalis’ erstem Dialog aus den Dialogen ist das Ideal einer bewegten, lebendigen Literatur bei Gogol’ vor dem Hintergrund des negativen gegenwärtigen Zustands der Literatur skizziert, die keine Einheit des Vielfältigen, sondern eine Unordnung rein oberflächlicher (ja im Gegensatz zum Ideal des Lebendigen sogar „toter“) Texte darstellt. Aber

107 Girivenko, A. N.: „S. P. Ševyrev  – perevodčik zapadnoevropejskoj liriki“, in: Kartašova, Irina Vjačeslavovna (Hg.): Problemy romantizma v russkoj i zarubežnoj literature. Tver’ 1996, S. 93–96, hier S. 94. 108 N III, S. 464 (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 1059). 109 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981, S. 233–266.

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gerade die Zeitschriftenliteratur, die sich als Sparte der Literatur in Russland bereits herausgebildet hat, stellt die Voraussetzung für das Ideal dar, das Gogol’ zu Beginn des Aufsatzes beschreibt. So eignet auch Gogol’s Konzept einer ‚lebendig-bewegten‘, vielfältigen Literatur eine Ambivalenz, seiner Argumentation ein zugleich auf- und abwertender Zug. In der Sparte der smes’ scheint Gogol’s Ideal der frischen, bewegten Literatur bereits auf. Der Sparte der smes’ fehlt nicht nur die prätentiöse Selbstprofilierung der von Gogol’ scharf kritisierten Autoren der Literaturrezensionen, sie ist auch durch hohe Unterschiedlichkeit der aufgegriffenen Nachrichten und Neuigkeiten, nicht zuletzt durch eine Tendenz zur Berichterstattung über ungewöhnliche Ereignisse gekennzeichnet. Im Folgenden wird erläutert, inwiefern diese Tendenzen zum ‚Sensationellen‘ in der Berichterstattung auch mit dem Lubok bzw. der sogenannten lubočnaja literatura („Lubok-Literatur“) kontextualisiert werden können. In diesem Zusammenhang besteht eine spezifische Haltung Gogol’s zur russischen Publikationssituation der 1830er Jahre. Deren Parallele zu den frühromantischen Formkonzepten konstituiert sich vor allem über die Kategorie literarischer Verarbeitung bzw. Reflexion: Friedrich Schlegel begreift die Arabeske als naturpoetischen Ausdruck des Humors der „höhern Stände unsers Zeitalters“110, die die literarischen Verhältnisse ihrer Zeit reflektierten. So mag man Gogol’s literarischen Umgang mit der ‚lebendig-bewegten‘ Sparte der smes’ und der Zeitschriftenliteratur seiner Zeit im Allgemeinen, speziell in der Erzählung Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) (siehe Kap. 3.4), als eine produktive literarische Reflexion über die Publikationsverhältnisse der Zeit betrachten.

2.4 Lubok-Literatur 2.4.1 Das Adjektiv lubočnyj Die ‚nichtige‘ Literatur, von der Puškin im Sovremennik spricht (Kap. 2.1), wurde in dieser Zeit auch als lubočnaja literatura („Lubok-Literatur“) bezeichnet. Lubočnaja literatura benannte damit seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts die vom Bibliographen Sopikov genannten Kalender, Traumdeutungsbücher und Orakelbücher und ähnliches, aber ebenso Romane und Erzählungen, die etwa Übersetzungen ausländischer Literatur oder auch (aber in geringerem Anteil) russische Originaltexte waren. Diese wurden, wenn sie ursprünglich für ein gebildetes Publikum bestimmt waren, durch Bilder versehen und gekürzt dem weniger gebildeten Publikum zugänglich gemacht.111

110 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 331. 111 Gric, Theodor S./Trenin, V./Nikitin, M.: Slovesnost’ i kommercija. Knižnaja lavka A. F. Smirdina, Moskva 1929, S. 22.

Lubok-Literatur 

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Jedoch kursierten auch schon im achtzehnten Jahrhundert verschiedene handschriftliche Texte, die immer wieder abgeschrieben und verteilt wurden, und später als Bücher – und auch in den allermeisten Fällen bebildert – herausgegeben wurden.112 Das Adjektiv lubočnyj ist abgeleitet von lubok, der Bezeichnung für die genannten Bilder, die im einfachen Volk der Städte kursierten und sich über dieselben öffentlichen Orte wie diese ‚einfache‘ Literatur verbreiteten sowie zu deren Bebilderung gebraucht wurden.113 So bezeichnet das Adjektiv in Bezug auf diese Literatur den direkten Zusammenhang der beiden Medien, hat dabei jedoch vor allem eine pejorative Bedeutung. Wie „Makulatur“ im Deutschen reduziert lubočnyj durch einen engen Bezug zur Materialität die durch dieses Adjektiv bezeichnete Literatur auf ihre materielle Dimension. Dies wird durch die Ableitung des Adjektivs lubočnyj vom Wort lubok nahegelegt: Lubok, sich beziehend auf lithographierte und mit Schrift versehene Bilder und Bildergeschichten, wurde höchstwahrscheinlich abgeleitet von lub (dt. „Bast“). Der Folkloreforscher und Ethnograph Ivan Snegirev, der bereits in den 1820er Jahren über den Lubok publizierte, ging davon aus, dass sich die Bezeichnung lubok daher von der Herstellungsweise dieser in Russland seit Beginn des 18. Jahrhunderts im einfachen Volk des städtischen Raumes sehr verbreiteten lithographierten Bilder ableitet, die zunächst durch einfachen Bast- bzw. Holzschnitt produziert wurden.114 Der etymologische Bezug des Ausdrucks lubočnyj transportiert die materielle Dimension der durch ihn bezeichneten Bilder und Texte nicht nur im Anklingen der ursprünglichen Herstellungsweise des Lubok als Bastdruck mit. Ebenso wird damit möglicherweise das aus Bast hergestellte, einfache Papier des Lubok mitgemeint. Sowohl Snegirev als auch dem späteren Lubok-Sammler Dmitrij Rovinskij zufolge transportiert das Wort lubok durch den etymologischen Bezug zum Bast auch den ursprünglichen Gebrauch des Basts als Schriftträger in Zeiten vor Papierherstellung und -verwendung mit. Rovinskij weist darauf hin, dass ebenso im Lateinischen das Wort liber sowohl ‚Bast‘ als auch ‚Buch‘ bedeutet und damit auf die ursprüngliche Verwendungsweise des Basts als Schriftträger verweist.115 Preobraženskijs Etymologisches Wörterbuch stellt das russische Wort lub zudem in einen Kontext zum lateinischen liber.116 Nach Snegirevs Herleitungsvorschlägen wurden auch noch weitere etymologische Erklärungsversuche des Wortes lubok und des abgeleiteten Adjektivs lubočnyj unternommen, etwa durch

112 Ebd., S. 19. 113 Rovinskij: Russkija narodnyja kartinki. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi, S. IV. 114 Nekrylova, A. F.: Istinno patriotičeskij podvig. D. A. Rovinskij i ego trud ‚Russkie narodnye kartinki‘“, in: Rovinskij, D.: Russkie narodnye kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Vstupitel’naja stat’ja i kommentrarii A. F. Nekrylovoj. 2 Bde. Sankt-Peterburg 2002, S. 3–16, hier S. 10. Snegirev, Ivan Michailovič: Lubočnyja kartinki russkago naroda v moskovskom mire. Moskva 1861, S. 6. 115 Rovinskij, D.: Russkija narodnyja kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi. Sanktpeterburg 1881, S. IIf. 116 Preobraženskij, A. G.: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka. Moskva 1958: „lub“, S. 473.

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die Annahme eines metonymischen Bezugs zu den Bastkörben, in denen die LubokHändler ihre Ware mitführten.117 Dieser Erklärung neigt auch Rovinskij zu, entgegen der Rückführung von lubok auf das Herstellungsmaterial, die eingeritzten Basttafeln. Vor allem stellt er jedoch die (abwertende) Materialbezogenheit des Wortes lubočnyj heraus: Названiе лубочнаго, въ первой половинѣ нынѣшняго столѣтiя, придавалосъ всему, что дѣлалось и строилось плохо и наскоро, на живую руку, причемъ лубок служилъ почти всегда самымъ дешевымъ и потому самымъ сподручнымъ матерiаломъ: были лубочные домики, лубочныя комедiи, лубочные балаганы, лубочная мебель и даже лубочный товаръ; понятно, что и плохiя картинки стали звать тоже лубочными; но, повторяю, названiе это для картинокъ появилосъ не ранѣе нынѣшняго столѣтiя, а до того времени оно не встрѣчается ни в актахъ, ни въ книжномъ языкѣ […].118 Den Namen des ‚Lubokhaften‘ (lubočnago, C. S.) erhielt in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts alles, das schlecht und hastig, notdürftig, gemacht und gebaut wurde, bei dem Lubok fast immer als billigstes und daher griffigstes Material diente: es gab Lubok-Hütten, Lubok-Komödien, LubokSchaubuden, Lubok-Möbel und sogar Lubok-Ware; es ist verständlich, dass schlechte Bilder auch ‚lubokhaft’ genannt wurden; aber, ich wiederhole, dieser Name für die Bilder trat nicht vor diesem Jahrhundert auf, und vorher trifft man ihn weder in Dokumenten noch in der Buchsprache an […].

Rovinskij, der selbst die von ihm gesammelten Bilder nicht lubočnye, sondern narodnye kartinki nennt, möchte damit bewusst nicht in den abwertenden Gestus des Begriffs einfallen, sondern im Gegenteil eine Aufwertung des Lubok betreiben. Mit der Bezeichnung des Lubok als narodnye kartinki, die er dann in seiner im Jahr 1881 publizierten Sammlung nach ihren Sujets in verschiedene Genres teilt (1. Skazki/basni, Zabavnye listi [„Märchen“/„Fabeln“, „Komische Blätter“]; 2. Istoričeskie listi [„Histo­ rische Blätter“]; 3. Duchovnye listi [„Geistliche Blätter“]), möchte er ihrer Bedeutung als Zeugnis des „volkstümlichen Lebens“ gerecht werden.119 Seinem Bilderatlas hat er fünf Bände mit Beschreibungen beigegeben, in denen die ältesten und neueren Varianten eines Motivs erwähnt, der Text in seiner Originalschreibweise angegeben sowie die materielle Ausführung (ein- oder doppelseitig etc.) und Herstellungsweise, Ort und Werkstatt der Herstellung berücksichtigt werden. In die Sammlung der 4700 Varianten, insgesamt 8000 Lubok-Blätter, bezog Rovinskij außer seiner eigenen auch die Sammlungen Snegirevs sowie Michail Pogodins, Vladimir Dal’s und anderer ein.120

117 Rovinskij: Russkija narodnyja kartinki. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi, S. III. 118 Ebd., S. III 119 Ebd., S. VII. 120 Ebd., S. IX

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Rovinskij steht damit in der Tradition der bedeutenden russischen Sammler des neunzehnten Jahrhunderts.121 So wie auch die genannten anderen Sammler Snegirev, Pogodin und Dal’ (der auch vor allem als Sammler der russischen Zaubermärchen und Verfasser des Tolkovyj slovar’ živogo velikorusskogo jazyka [Bedeutungswörterbuch der lebendigen, großrussischen Sprache] bekannt ist) verfolgte er ein Interesse am Leben und an den Zeugnissen des russischen Volkes und fügt sich damit in einen weiteren Diskurs um den russischen Nationalcharakter im neunzehnten Jahrhundert, der sich auch schon an den Texten Ševyrevs und Belinskijs zeigte. Das Sammeln ist eine gesamteuropäische Erscheinung des neunzehnten Jahrhunderts: Bücher und andere Objekte, Erzählungen und Worte werden zum Gegenstand von Sammlungen mit nationsbildenden Funktionen. Deren museale, lexikographische oder bibliographische archivarische Erhaltung, Ordnung und Bereitstellung an eine Öffentlichkeit sollte dieser zur Bildung, Aufklärung und zur weiteren Herausbildung eines Nationalgefühls und -bewusstseins dienen.122 In Russland ist in diesem Zusammenhang über die Sammlungen und Veröffentlichungen Snegirevs, Rovinskijs, Dal’s u. a., die Bibliographie Sopikovs und Pljušars Enzyklopädie hinaus auch die Eröffnung öffentlicher Bibliotheken zu nennen. Rovinskij benutzte für das Studium und die Katalogisierung des Lubok bereits die Sammlung der Petersburger Imperatorskaja publičnaja biblioteka (gegründet im Jahr 1795), die die Sammlungen von Pogodin, Snegirev und Dal’ wiederum enthielt.123 Letztendlich reicht diese Entwicklung bis auf die Einrichtung der Petersburger Kunstkamera durch Peter I im Jahr 1714 zurück,124 die volksaufklärerische Zwecke verfolgte. Wie schon die Erläuterung zu Sopikovs Opyt rossijskoj bibliografii zeigte, wird in dem mit dieser Entwicklung verbundenen Diskurs die Sammlung, Ordnung und Archivierung, die das Ziel hat, Wissen zu generieren, als Aufwertung der Gegenstände charakterisiert, die überhaupt erst deren Potential als bedeutungsvolles Zeugnis der eigenen Geschichte entfaltet. Immer wieder fungiert der Entwurf eines drohenden Gegenbilds in Verfall und Vergessen durch fehlende Ordnung und Archivierung der bedeutenden Kulturgüter zum Zweck dieser Selbstaufwertung eines Sammeldiskurses. Auch Sammlungen wie Rovinskijs den Arbeiten des Ethnographen Snegirev nachfolgenden narodnye kartinki und Dal’s Worte erlangen also im Zuge einer steigenden Relevanz und einer Institutionalisierung des Sammelns und Erhaltens von als kulturell bedeutsam Erkanntem dann im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts immer

121 Vgl. Nekrylova: „Istinno patriotičeskij podvig“, S. 2. 122 Vedder, Ulrike: „Museum/Ausstellung“, in: Barck, Karlheinz u. a. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd.  7. Stuttgart/Weimar 2005, S.  148–190; Grote, Andreas: „Vorrede – Das Objekt als Symbol“, in: Ders. (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450 bis 1800. Wiesbaden 1994, S. 11–20; hier S. 11; Häntzschel, Günter: Sammel(l)ei(denschaft). Literarisches Sammeln im 19. Jahrhundert. Würzburg 2004. 123 Rovinskij: Russkija narodnyja kartinki. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi., IX. 124 Nekrylova: „Istinno patriotičeskij podvig“, S. 2.

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mehr Rang. Dennoch sieht Rovinskij aufgrund der negativen Konnotation des Begriffs lubočnyj seit dem neunzehnten Jahrhundert die Notwendigkeit, seine Sammlung als narodnye kartinki zu bezeichnen, womit er seine Sammlung zugleich als einen Beitrag zur Diskussion um die russische narodnost’ (dt. „Volkstümlichkeit“) charakterisiert. Mit seiner Erkenntnis, dass lubočnyj als pejorativer Begriff erst zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts auftrat und dabei rückwirkend auch den Lubok selbst traf, reflektiert Rovinskij die kulturgeschichtliche Entwicklung Russlands zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts, die das Adjektiv hervorbrachte. Innerhalb dieser Entwicklung kam es zu einer immer größeren Produktion von Literatur, durch die auch Bibliophilie und das Sammeln und Studieren von Büchern als notwendig erkannt wurden. Zugleich entstand in literarischen Kreisen das Bedürfnis, ‚hochliterarische‘ (und dabei vielleicht selbst schlecht verkäufliche) Texte vom „Massenmarkt“125 an Literatur abzugrenzen, die durch das Attribut lubočnyj deklassiert wurden, während sie zugleich einen reißenden Absatz fanden. Nicht nur steht daher die Verwendung des Begriffs lubočnyj durch die rhetorisch-abwertende Reduktion der unter ihm gefassten Literatur auf ihre materielle Dimension in einem direkten Zusammenhang zum literaturkritischen Diskurs, der zuvor in diesem Kapitel erläutert wurde. Auch ist eben die tatsächliche Relevanz dieser Literatur auf dem Buchmarkt hervorzuheben, in deren Bewusstsein Autoren einzelne Texte bzw. ihren Entwurf eines literarischen Ideals wiederum vor einer gestaltlosen Masse an solcherart von ihnen zum bloßen Materialabfall degradierten Texten hervorheben zu müssen meinten. Gerade im Zuge dieser Entwicklung entsteht später Rovinskijs Sammlung der narodnye kartinki. Er hebt hervor, dass auch Snegirev das Adjektiv zur Beschreibung der von ihm gesammelten Bilder bereits in seiner zweiten Publikation aus dem Jahr 1824 nicht mehr verwendet, sondern nur noch von prostonarodnye izobraženija (dt. „gewöhnlich-volkstümliche/einfach-volkstümliche Darstellungen“) gesprochen hat.126 Sicher war Rovinskijs Wahl des neutraleren Adjektivs narodnyj (dt. „volks-“/„volkstümlich“) auch dadurch motiviert, dass Snegirevs prostonarodnyj immer noch eine den Untersuchungsgegenstand abschätzig klassifizierende Haltung andeutet. Entscheidend ist, dass Rovinskij den Begriff lubočnyj vor allem loswerden muss, weil er sich in die Reihe der Sammler wie der frühe Bibliograph Sopikov stellen will, der die

125 Gric/Trenin/Nikitin: Slovesnost’ i kommercija, S. 18 126 Snegirev, Ivan Michailovič: „O prostonarodnych izobraženijach“, in: Sočinenija v proze i stichach. Trudy obščestva ljubitelej rossijskoj slovesnosti. Teil 4. Moskva 1824, S. 119–148. Die Semantik des russischen Adjektivs prostonarodnyj kommt der von narodnyj sehr nahe, was auch dadurch nahegelegt ist, dass beide in ersten russischen Übersetzungen des frz. populaire verwendet wurden, wie Bulgarin bemerkt (Vgl. Bulgarin, Faddej Venetiktovič: „Žurnal’naja vsjakaja vsjačina“, in: Severnaja pčela Nr. 36 [1847]). Beide Worte könnte man im Deutschen mit „volkstümlich“ übersetzen, jedoch eignet dem Wort prostonarodnyj eben durch das vorangestellte prosto (prostoj: dt. „einfach‘“/„simpel“) noch eher eine Konnotation des Oberflächlichen/nicht Komplexen, das aus einer abgehobenen Perspektive bewertet wird.

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Bedeutung der von ihm aufgefundenen Zeugnisse gerade dadurch herausstellt, dass er sie ordnet, klassifiziert, katalogisiert und ihre Geschichte zugänglich macht. Das Adjektiv lubočnyj läuft dieser Anerkennung einer bestimmten Bedeutsamkeit all dessen, was durch es bezeichnet wird, diametral entgegen, da es die Texte und Dinge, denen es appliziert wird, zum bloßen (minderwertigen) Material degradiert.

2.4.2 Theatralität und Medialität von Lubok und Lubok-Literatur Die theatrale Rezeption des Lubok (nach Jurij Lotman) Die Spezifika der Rezeption des Lubok sind von vornherein mit seiner Intermedialität aus Schrift und Bild verbunden. Einerseits sind die von Rovinskij gesammelten Blätter Bilder – kartinki. Diese Bilder sind in den allermeisten Fällen das zentrale (das heißt in der topologischen Anordnung auf dem Blatt meist im Mittelpunkt stehende und auch insgesamt räumlich dominierende) Element. Andererseits integrieren diese Bilder schriftlichen Text als einen festen Bestandteil ihrer Ästhetik. Diese Tatsache hat Jurij Lotman in seinem Aufsatz Chudožestvennaja priroda russkich narodnych kartinok („Die künstlerische Natur der russischen volkstümlichen Bilder“) herausgearbeitet. In seinem Aufsatz betont er, dass der schriftliche Text der narodnye kartinki nicht als simples Supplement der bildlichen Darstellung zu betrachten sei, sondern man das Lubok-Blatt, dessen intermediale Kombination aus Bild und Text, vielmehr als einen Gesamttext im semiotischen Sinne ansehen müsse und entsprechend diesem semiotischen Bedeutungsgefüge auch der rezeptive Umgang mit dem Lubok zu verstehen sei.127 Lotmans zahlreiche Beispiele aus Rovinskijs Lubok-Atlas, die seine These innerhalb seiner Argumentation belegen (und in ihrer Vielfalt hier nicht darzustellen sind), zeigen vor allem, dass der Text im Lubok-Blatt auf unterschiedliche Weise zum Bild ins Verhältnis gesetzt wird und dabei durchaus nicht jeweils schriftlicher Text oder Bild ohne einander zu verstehen sein oder bloß in einem sich gegenseitig illustrierenden/ergänzenden Verhältnis stehen könnten. Vielmehr wirkten Schrift und Bild durch ihre ästhetische Interaktion auf dem Lubok-Blatt gemeinsam auf eine Aktivierung des Zuschauers hin, die Lotman „theatral“ nennt. Gerade dies mache die ‚künstlerische Natur‘, die besondere Ästhetik des Lubok aus.128 Im Folgenden sollen zwei der von Lotman aufgeführten Beispiele zur Erläuterung dieser These hinzugezogen werden.129

127 Lotman: „Chudožestvennaja priroda russkich narodnych kartinok“, S. 385. 128 Ebd., S. 395 f. 129 Wenngleich die im Folgenden zitierten Lubok-Blätter beide Rovinskijs Kategorie Zabavnye listi („Komische Blätter“) zugeordnet sind, beschränken sich Lotmans Beispiele nicht auf dieses LubokSujet. Er führt in seiner hier nicht ausführlicher darstellbaren überzeugenden Argumentation ebenso Lubok-Exemplare mit historischer oder geistlicher Thematik auf.

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Abb. 21: „Šut Gonos“, in: Rovinskij, D.: Russkija narodnyja kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Atlas. Bd. 1 (2). Sanktpeterburg 1881, Nr. 204 b. RGB.

In der Abbildung des Šut Gonos (Narr Gonos) ist dieser, einen Raben im Käfig über seiner Schulter tragend und Steckenpferd reitend, in einem bunten Kostüm mit Maske zu sehen (Abb. 21). Hinter seinem Po ist durch schwarze Striche und Kreuze eine Wolke angedeutet, die diesem gerade entweicht. Unter der Wolke sind folgende Worte zu lesen: Дух из заду своего изпущаю, тем ся от комаров защищаю. Den Geist aus meinem Hintern ich entlasse, damit vor den Mücken ich mich schütze.

Das Wort duch, üblicherweise im Sinne von „Geist“ verwendet (wie duchovnyj [dt. „geistlich“]), ist zudem etymologisch mit vozduch (dt. „Luft“) verwandt.130 Die Worte des Šut Gonos, sein Atem, entweichen nicht dem Mund, sondern dem Po und schützen durch den Gestank vor den Mücken. Eine geistige Natur des Wortes wird damit spielerischscherzhaft auf die profane körperliche Ebene heruntergezogen.131 Die Schrift hält nicht nur die Worte des Šut Gonos fest, sondern wird auch Teil der ‚Wolke‘, die seinem Po entweicht. Ganz allgemein sieht Lotman hier einen Bezug zu Bachtins Beschreibung der Rolle „skatologischer Freiheiten“ im Karneval.132 Zudem kann man eine einschlägige

130 Preobraženskij: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka: „duch“, S. 204. 131 Lotman: „Chudožestvennaja priroda russkich narodnych kartinok“, S. 386. 132 Ebd., S.  386; Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1987, S. 189.

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Stelle aus Bachtins Ausführungen heranziehen, in der er die geistige Entthronung des Wortes im Karneval veranschaulicht. In der von Bachtin beschriebenen Szene von Harlekin und Stotterer aus der Commedia dell’arte stößt der Harlekin dem Stotterer, der sich schwitzend und das Gesicht aufblähend abmüht, das Wort auszusprechen, den Kopf in den Bauch. Daraufhin spuckt der Stotterer das Wort endlich aus. Bachtin sieht darin eine Neugeburt des Wortes, das als geistiger Akt entthront und auf die materiell-leibliche Ebene übertragen werde.133 Begreift man das Aussprechen des Wortes in dieser Szene als eine Geburt, scheint sich damit auch der Stotterer zu vervielfältigen. Er gebiert das Wort wie einen zweiten Körper, den er aus seinem Inneren holt. Lotman betont im genannten Aufsatz den Bezug des Lubok zur Jahrmarktkultur des raek (einem Guckkastentheater, in dem Bilder vorbeigezogen und durch einen Erzähler, den raešnik, in gereimter, rhythmischer Sprache ausgeschmückt wurden)134 und des karnevalesken Volkstheaters, das wiederum in vielerlei Hinsicht durch den italienischen Buffo und von der Commedia dell’arte beeinflusst wurde.135 Gerade eine Figur wie der Šut Gonos (der sich aus der Figur Pedrillo entwickelt hat) zeigt diese Verbindung.136 Vor allem aber ist der Lubok Lotman zufolge nicht nur theatral, weil er Motive und wiederkehrende Typen wie den Narren Gonos oder auch die Rampe, Vorhänge und Bühnenboden immer wieder zeigt, sondern weil er ähnlich dem tatsächlichen Volkstheater den Rezipienten auf theatrale Art zum Agieren anregen wolle. Im herangezogenen Beispiel wird die ‚geistige Entthronung des Wortes‘, die in der Commedia dell’arte und Bachtin zufolge in der durch den Karneval beeinflussten grotesken Literatur betrieben wird, durch das Zusammenspiel von Schrift und Bild ausagiert. Hier wird nicht einfach das dem Mund entweichende Wort vom Lufthauch des Geistes zur stinkenden Ausdünstung des Afters. Gerade die Schrift – als Niederschrift des ‚geistigen Wortes‘ – strömt nicht aus dem Mund, sondern gemeinsam mit der Illustration der übelriechenden Winde aus dem After, als graphisch sich materialisierende Ausdünstung. Das ‚Mitagieren‘ des Lubok-Rezipienten regt Lotman zufolge etwa das folgende Beispiel an, die Prevraščajuščijasja golovy (Sich verwandelnde Köpfe) (Abb. 22). Das Motiv stellen Köpfe dar, die bei der Umkehrung des Blattes jeweils von der Unterseite betrachtet eine neue Gestalt bilden. So werden Bart und Kinn zum Schädel mit Haarbedeckung und die vorige Kopfbedeckung zur Mundpartie verkehrt. Auch Auge, Mund, Ohren verschieben sich. Durch die Umkehrung der Zeichnung wird im Ganzen eine neue Gestalt wahrgenommen. In einem Falle findet hierbei sogar eine

133 Ebd., S. 350 ff. 134 Sokolov, B. M.: Chudožestvennyj jazyk russkogo lubka. Moskva 1999, S. 158–164. 135 Sakovič, A. G.: „Russkij nastennyj lubočnyj teatr XIII–XIX vv.“, in: Prokof’ev, Valerij Nikolaevič (Hg.): Primitiv i ego mesto v chudožestvennoj kul’ture Nogogo i Novejšego vremeni. Moskva 1983, S. 44–62, hier S. 45 f. 136 Ebd., S. 45.

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Verwandlung vom Tier (Esel) zum Menschen statt. Auch der schriftliche Text, der diese Metamorphose aus der Perspektive des sich Verwandelnden beschreibt, wird dabei jeweils auf den Kopf gestellt. Zur Verdeutlichung sei hier der Text zum Eselskopf, wie er auf dem Blatt abgedruckt ist, im Folgenden zitiert. Dass der Text auch auf Deutsch auf dem Blatt abgedruckt ist, ist nicht verwunderlich, da laut Snegirev viele Lubok-Motive in der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts aus dem deutschen Raum übernommen und dann mit russischem Text versehen wurden:137 Ословои главѣ долженъ я быть подобень тако / Но oбрати то весма узришь ону инако Weil einem Esels Kopff ich also muss mich gleichen / So kehr mich um so wird die Esels Gstalt entweichen.138 Нѣть главы ослячьи кая есть мнѣ въ мѣсто покрова / всякъ забородку потрясеть вмѣсто уха ослова Der Esels Kopf ist weg der ziert mich als ein Koppen / Mich kann ein jeder bald bei meinem Bart erdappen139

Abb. 22: Prevraščajuščijasja golovy, in: Rovinskij, D.: Russkija narodnyja kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Atlas. T. 1 (2). Sanktpeterburg 1881; Nr. 284. RGB.

137 Snegirev, Ivan Michailovič: O lubočnych kartinach russkogo naroda. Moskva 1844, S. 10; auch Rovinskij bemerkt, dass das Motiv aus dem deutschen Raum übernommen wurde. Rovinskij: Russkija narodnyja kartinki. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi, S. 494. 138 EBd.  139 Ebd.

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Der Bezug zum karnevalesken Theater ist durch die Verwandlungsmotivik, zudem die Metamorphose von Tier zu Mensch und Mensch zu Tier, eindeutig. Auch weist die Umkehrungsbewegung, die im Drehen des Blattes realisiert wird, auf das Motiv der umgekehrten Welt hin, die der Lubok aus dem karnevalesken russischen Volkstheater und der Maslenica übernimmt.140 Nicht nur wird hierbei aber eine Aufhebung der vertikalen Orientierung des menschlichen Körpers und damit auch der Ordnung von einem Oben und Unten, Hohem und Niedrigem, von Himmel und Hölle betrieben. Auch die Ordnung der Schrift, ihre Ausrichtung an einer Ober- und Unterseite, wird durchbrochen. Die Schrift ist Teil und Objekt des karnevalesken Spiels des Lubok. Die Rolle des Rezipienten des Lubok ist dabei, wie Lotman aus diesem wie aus anderen Beispielen folgert, die eines spielerisch-performativ agierenden Theaterzuschauers, der nicht stumm sitzend zuschaut und das Dargestellte innerlich rezipiert, sondern mitagiert, schreit und lacht. Ebenso mag eben der Lubok-Rezipient des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts nicht stumm die Schrift gelesen und stumm und bewegungslos das Motiv angeschaut haben. Vielmehr wurde bei der Rezeption höchstwahrscheinlich ebenso gelacht und sich bewegt, das Blatt hin- und hergewendet, der Text mitgesprochen, die Bewegungen der Figuren nachgeahmt. Die intermediale Interaktion von Schrift und Bild gibt Aufschluss über die aktive Rezeptionspraxis, die uns auch aus anderen Quellen belegt ist: Der performative Umgang mit dem Lubok schloss auch das schmückende Behängen der Hüttenwände mit den bunten Blättern ein sowie ein gemeinsames Rezipieren, bei dem die Blätter etwa an Stadttoren aufgehängt und dann betrachtet und gelesen wurden.141 Wie bereits Snegirev bemerkt,142 verweist das Behängen der Wände mit den Lubok-Bildern auf deren Verwandtschaft mit der viel älteren Tradition des Behängens der Hüttenwand mit Ikonen und der ‚einfachen‘ Ikonenmalerei auf Papier, die bereits seit dem fünfzehnten Jahrhundert in Russland betrieben wurde.143 Dementsprechend haben sich auch geistliche Motive im Lubok erhalten, denen Rovinskij einen eigenen Band widmet. Dieses gemeinsame Rezipieren, die Verbindung von Bilderschau, Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Betrachten von üppig-buntem Bild und (Vor-)lesen der Schrift, ist jedoch vor allem als weiterer Hinweis auf die von Lotman angenommene theatrale Anlage des Lubok zu sehen, die den Rezipienten analog zum Volkstheater mitagieren lässt.

140 Sakovič, A. G.: „Russkij nastennyj lubočnyj teatr XIII-XIX vv.“, S.  45. Die russische Maslenica, eine Feiertagswoche, die auf vorchristliche Bräuche zurückgeht und vor der Fastenzeit gefeiert wird, enthält ähnliche Bräuche wie der katholische Karneval. Vgl. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 189 (Anm. 93). 141 Snegirev: „O prostonarodnych izobraženijach“, S. 121; Strachov, Nikolaj: Moi peterburgskie sumerki. Teil 2. Sankt-Peterburg 1810, S. 50 f. 142 Snegirev: „O prostonarodnych izobraženijach“, S. 121 f. 143 Sokolov: Chudožestvennyj jazyk russkogo lubka, S. 40.

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Das wilde Lesen der lubočnaja literatura Die abwertende Konnotation, die das von lubok abgeleitete Adjektiv lubočnyj in der Zeit um 1800 und den darauffolgenden Jahrzehnten erhält, scheint vor diesem Hintergrund auch diese in mehrfacher Hinsicht sinnlich-performative Rezeption des Lubok und der mit diesem verbundenen lubočnaja literatura zu treffen. Auch die intermediale Verflechtung von Massenliteratur (die vor allem, aber nicht nur an einzelne Lesende gerichtet war) und Lubok-Bildern legt eine enge rezeptive Verflechtung dieser beiden lesesoziologischen Phänomene und Diskurse nahe. Das sinnlich-körperliche Mitagieren bei der Lubok-Rezeption in der Art der Rezeption des Volkstheaters deutet auf eine durchlässige Grenze zwischen Zuschauerwelt und dargestellter Theater- bzw. Bilder- und erzählter Welt. Vor diesem Hintergrund scheint das abwertende Adjektiv lubočnyj eben die intensive sinnliche Beziehung zwischen Rezipient und Lubok als materiellem Artefakt zu kritisieren, die einem Begriff der innerlichen, geistigen Rezeption des Theaters, schriftlichen Textes oder des Bildes widerspricht. Eine Entwicklung zu einem solchen ‚entsinnlichten‘ Rezeptionsideal hat Erich Schön im Rahmen der Herausbildung des bürgerlichen Lesers und auch im Zusammenhang mit dem bürgerlichen Theater für das achtzehnten Jahrhundert in Deutschland beschrieben. Die ‚Entsinnlichung des Lesens‘, bei der dieses, wie in Lesepropädeutik und -erziehung am Ende des 18. und Anfang des neunzehnten Jahrhunderts propagiert, ein stummer, rein visueller und weniger haptisch-kinetisch ausgeführter Akt werden soll, fußt dabei auf der Voraussetzung einer großen Anzahl an geübten und einsamen Lesern, die sie betrifft.144 Das Attribut lubočnyj entspringt also einem Bedürfnis eines gebildeten Lesepublikums, den seinigen Begriff von geistig wertvoller Literatur und innerlich-geistiger Literaturrezeption von einer von ihm als niedere empfundenen Literatur, einer niederen, körperlich-sinnlichen Art der Rezeption des schriftlichen Textes abzugrenzen.145

144 Schön, Erich: Der Verlust der Sinnlichkeit oder die Verwandlungen des Lesers. Mentalitätswandel um 1800. Stuttgart 1987, S. 99 ff. 145 Hier sei verwiesen auf die Studie von Murašov: Das unheimliche Auge der Schrift. Diese bietet eine andere Perspektive auf diese Zusammenhänge. Sie geht davon aus, dass die Entwicklung zu einer Dominanz der visuellen Schriftkultur gegenüber einer Kultur der Mündlichkeit, die die Einführung des „bürgerlichen Drucks“ im Jahr 1769 durch Katharina II gegen die Diglossie aus gesprochenem Russisch und schriftlichem Kirchenslawisch und die spätere Ökonomisierung des Buch- bzw. Literaturmarktes in den 1820er Jahren mit sich bringt, auf einem liturgischen Schriftverständnis der russischen Orthodoxie fußende, schriftskeptische literarische Reaktionen hervortreibe. Dieser Tendenz geht Murašov nicht zuletzt in Texten Nikolaj Gogol’s nach. Hier ist im Kontext des zuvor diskutierten Zusammenhangs zu betonten, dass eine sich im Adjektiv lubočnyj äußernde Kritik am körperlich-sinnlichen und affektiv-bewegten Rezeptionsakt literarischer Texte durchaus rückwirkend ein positives Verständnis eines geistig-visuellen, körperlich unbewegten Rezeptionsakts des literarischen Textes bestätigt. Dies schließt jedoch die gleichzeitige Existenz eines sakral geprägten Schriftverständnisses nicht aus, das die Abwertung der lubočnaja literatura zum bloßen Material, gewissermaßen als Trivialisierung, als Entwertung der Schrift, mitgeprägt haben mag. Vor dem Hintergrund dessen, dass die

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Einerseits reflektiert diese Übertragung dabei gerade den Versuch, ein immersives Leseverhalten, das vor allem auf Identifikation beruht, als Gefahr für die Integrität des lesenden Subjekts auszuweisen. Derart bezieht sich der pejorative Begriff lubočnyj nicht mehr nur auf die kollektiv-performative Rezeptionssituation des Bilderbogens, sondern vor diesem Hintergrund auch auf die Gefahr der immersiven, einsamen R ­ ezeption. Andererseits wurde in diesem Diskurs der Rezeption von Lubok und lubočnaja literatura als kindlicher, vorreflexiver Erfahrung jedoch auch immer wieder ein emotionaler Wert zugeschrieben. Schon Ivan Snegirev geriet bei der Betrachtung der von ihm noch als „gewöhnlich-volkstümlich“ bezeichneten Bilder ins Schwärmen: Лубочныя картинки, […] съ дѣтскихъ лѣтъ чрезъ любимыхъ и ближайшихъ къ намъ людей, чрезъ нашихъ нянюшекъ и мамушекъ неизглаимый дѣлаютъ оттискъ въ нашемъ воображенiи и памяти, вмѣстѣ съ колыбельными пѣсенками.146 Lubok-Bilder, […] seit den Kindesjahren erzeugen sie durch die geliebten und uns nahen Menschen, durch unsere Njanjuškas und Mamachens einen unauslöschlichen Abdruck in unserer Einbildung und unserem Gedächtnis, zusammen mit den Wiegenliedern.

Auch wenn Snegirev also im Laufe seines Lebens einen Bildungsstand erreicht hat, von dem aus er den Lubok als „gewöhnlich“ erkennt, sind sie ihm dennoch eine wohlige Kindheitserinnerung, haben sie sich gleichsam synästhetisch mit den Wiegenliedern in seine Vorstellung eingegraben. Das Betrachten der lubočnye kartinki ist Teil einer rückerinnerten und imaginierten Urszene der kindlichen Bildung, die an der Wiege und mit den Stimmen von Mutter und Kindermädchen beginnt. Unschwer kann man sich hier späteres Vorlesen und gemeinsames Lesen ergänzend vorstellen, die im um 1800 geführten Diskurs der Schreiberziehung durch Vater oder Lehrer vorangehen.147 Vissarion Belinskij inszeniert im Jahr 1839 in einer Rezension des Lubokromans Povest’ o priključenii anglijskago milorda Georga (Erzähung über das Abenteuer des englischen Mylord Georg) von Matvej Komarov seine Rezeption der lubočnaja literatura ebenfalls als erste, unvergessliche Entzündung der kindlichen Einbildungskraft. Belinskij betont schon zu Beginn, den Roman nicht wegen einer etwaigen literarischen Qualität, sondern um seiner Bedeutung für die ersten persönlichen Leseerfahrungen willen zu rezensieren. Belinksij beschreibt eine Leseszene, in der die sinnlich erfahrene

lubočnye kartinki auch aus einer Tradition der inoffiziell im Volk kursierenden selbstgemalten Ikonen mit hervorgegangen sind, erscheint dies plausibel. Dieser komplexen Problematik und ihrer besonderen Dynamik in den Texten Nikolaj Gogol’s wird das folgende Kapitel 3 nachgehen. 146 Snegirev: „O prostonarodnych izobraženijach“, S. 121. 147 Vgl. Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1995, v. a. S. 37–67, S. 98–137.

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Gegenwart und die Gestalten der Einbildungskraft nicht voneinander geschieden w ­ erden: Помню тот день незабвенный, когда, достав тебя, уединился я далеко, кажется, в огороде, между грядками бобов и гороха, под открытым небом, в лесу пышных подсолнечников – этого роскошного украшения огородной природы, и там, в этом невозмущаемом уединении, быстро переворачивал твои толстые и жесткие страницы, всею душою удивляясь дивным приключениям, такою широкою кистию, так могуче и красно изложенным…148 Ich erinnere jenen unvergesslichen Tag, als ich dich erhalten hatte, und mich weit entfernte, mir scheint, im Garten, zwischen den Beeten von Bohnen und Erbsen, unter offenem Himmel, im Wald prächtiger Sonnenblumen – dieses üppigen Schmucks der Gartennatur, und dort, in dieser absoluten Einsamkeit, schnell deine dicken und steifen Seiten umblätterte, mich aus ganzer Seele verwunderte über die wilden Abenteuer, mit einem solch ausgreifenden Pinselstrich, so kraftvoll und schön dargelegt …

Diese erinnerte Sinnlichkeit des Leseakts, die Eindrücke des sommerlichen Gartens, die Haptik des gelesenen Buches und die Bilder der Einbildungskraft miteinander verbindet, umfasst auch die kindliche Erregung, seine Affektivität beim Lesen der Abenteuer des englischen Lords: О, если бы попался тогда мне в руки этот дьяволенок, я бы показал ему, что ад-то не в аду, а у меня в руках!149 O, wenn dieses Teufelchen mir damals in die Hände gefallen wäre, ich hätte ihm gezeigt, dass die Hölle nicht in der Hölle, sondern in meinen Händen liegt!

Belinskijs Rezension zu Milord Georg ist vor allem durch diese geschilderte Intensität der Rezeption ein wichtiger Kommentar zu Lubok und lubočnaja literatura und ihrer Relevanz im literarischen und literaturkritischen Diskurs jener Zeit. Auch er bezeichnet den Roman als bezmyslennyj150 (dt. „sinnlos“), dennoch gesteht er ihm eine wichtige Bedeutung in seiner literarischen Bildung, der Ausbildung seiner Einbildungskraft zu. Es scheint, dass kindliches emotionales und sinnliches Erleben, Imaginieren und die Rezeption des Lubok und der mit ihm verbundenen Literatur unauflöslich miteinander verschränkt sind. Die mit dem Lubok verbundene Rezeptionshaltung, die in einem ‚Vorreifestadium‘ der Rezeption des literarischen Textes körperlich-sinnliches Erleben des materiellen Artefakts mit der Imagination des Dargestellten/Erzählten verbindet, wird vom Autor als Initiatorin der Imagination erinnert. Belinskijs Rezension

148 Belinskij, Vissarion Grigor’evič: „Povest o priključenii anglijskogo milorda Georga“ in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 3. Stat’i i recenzii, Pjatidesjatiletnij djadjuška. 1839–1840. Hg. v. N. F. Bel’čikov. Moskva 1953, S. 206–209, hier S. 206. 149 Ebd., S. 206 f. 150 Ebd., S. 206.

Lubok-Literatur 

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des Lubok-Romans zeigt damit eine Anbindung an die in Westeuropa bereits im achtzehnten Jahrhundert entworfene Folie des „wilden Lesens“,151 eines unreifen Leseverhaltens, das Fehlleistungen hervorbringt und noch nicht zur distanzierenden Reflexion befähigt. Dieses muss im Sinne der Lesepropädeutik verfeinert und der Reflexion zugänglich werden. Indem Belinskijs Erfahrung als Erinnerung und voller Wehmut über ihre Unwiederbringlichkeit wiedergegeben wird, erscheint sie zugleich im Licht der romantischen Leseweise:152 Der Leser Belinskij sehnt sich nach Ursprünglichkeit zurück und reflektiert zugleich die Begrenztheit der Literatur/der Sprache/des S ­ ubjekts. Nicht zuletzt muss hier bemerkt werden, dass die mit dem abwertenden Attribut lubočnyj entworfene Opposition zwischen Trivial- und Hochliteratur sich als in hohem Maße konstruiert erweist. In vielerlei Hinsicht gab es gegenseitige motivische Überschneidungen und Einflüsse, die nicht nur in Richtung der sogenannten ‚Massenausgaben‘ verliefen, in denen dann gekürzte und mit Bildern versehene Texte erschienen. Viktor Šklovskij vertrat etwa die These, dass beim frühen Puškin [der Zeit von Ruslan i Ljudmila (Ruslan und Ljudmila]) verschiedene Motive Kanonisierungen der lubočnaja literatura darstellten;153 auch Gogol’s Lubok-Rezeption war vielfältig und intensiv (siehe Kap. 3.4). Zudem besaßen Zeitungen wie die Severnaja Pčela, eine von den angesehenen Autoren Faddej Bulgarin und Nikolaj Greč herausgegebene Wochenzeitung, durch die Art ihrer Berichterstattung Verbindungen zum Lubok. Jurij Lotman bemerkte,154 dass die Severnaja Pčela als ‚Neuigkeit‘ immer das Anormale, das Merkwürdige aufführte und an der Massenkultur des Lubok orientiert gewesen sei.155 Lotman führt in diesem Zusammenhang eine ganze Reihe an Motiven des Lubok an, die Unglaubliches, Wunder, das Erscheinen von monströsen Tieren und ähnliches bezeugten. Derartige ‚Neuigkeiten‘ (etwa auch kuriose Meldungen über ‚ungeheuerliche‘ Begebenheiten sozialer Art oder erschütternde Ereignisse wie etwa Zugunglücke) fanden sich in der Zeitung neben politischen Nachrichten, etwa über die Unruhen in Spanien nach dem Tod Ferdinands II (die Gogol’ in den Zapiski sumasšedšego aufgreift).

151 Assmann, Aleida: „Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95–111, hier S. 96. 152 Vgl. zu dieser romantischen Leseweise ebd., S. 110. 153 Šklovksij, Viktor: Matvej Komarov, žitel’ goroda Moskvy. Leningrad 1929, S. 12. 154 Lotman, Jurij M.: „Chudožestvennaja priroda russkich narodnych kartinok“, in: Danilova, I. E. (Hg.): Mir narodnoj kartinki. Moskva 1999, S. 384–397, hier S. 395. 155 Ebd., S. 395.

3 A  rabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“) 3.1 Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen Die Vorworte der drei Textsammlungen Gogol’s Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf einem Weiler bei Dikan’ka), Arabeski und Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami (Ausgewählte Stellen aus einem Briefwechsel mit Freunden), die jeweils in einem Abstand von drei und zwölf Jahren erschienen, machen vor dem Hintergrund des im vorigen Kapitel erläuterten russischen medienkritischen Diskurses der 1830er Jahre die komplexe formästhetische und schriftpoetische Entwicklung deutlich, die Gogol’s Werk in dieser Zeit genommen hat. Der ästhetische Zusammenhang dieser Texte wird vor allem nachvollziehbar über die Zwischenstellung des Vorworts der Arabeski. Gogol’s Sammlung Arabeski erschien 1835 in zwei Bänden und stellt sowohl fiktionale Texte als auch Essays vor, die sich Fragen der Ästhetik sowie der Geschichtswissenschaft widmen. Das Vorwort des Autors, obwohl nicht direkt die Wahl des Titels erklärend, stellt dessen Bezug zur Sammlung jedoch indirekt vor: Собрание это составляют пьесы, писанные мною в разные времена, в разные эпохы моей жизни. Я не писал их по заказу. Они высказывались от души и предметом избирал я только то, что сильно меня поражало. Между ними читатели без сомнения найдут много молодого. Признаюсь, некоторых пьес, я бы, может быть, не допустил вовсе в это собрание, если бы издавал его годом прежде, когда я был более строг к своим старым трудам. Но вместо того, чтобы строго судить свое прощедщее, гораздо лучше быть неумолимым к своим занятиям настоящим. Истреблять прежде написанное нами, кажется, также несправедливо, как позабывать минувшие дни своей юности. Притом, если сочинение заключает в себе две, три еще не сказанные истины, то уже автор не в праве скрывать его от читателя, и за две, три верные мысли можно простить несовершенство целого. Я должен сказать о самом издании: Когда я прочитал отпечатанные листы, меня самого испугали во многих местах нeисправности в слоге, излишности и пропуски, происшедшие от моей неосмотрительности. Но, недосуг и обстоятельства, иногда не очень приятные, не позволяли мне пересматривать спокойно и внимательно свои рукописи, и потому смею надеяться что читатели великодушно извинят меня. 156 Diese Sammlung besteht aus Stücken, die von mir zu verschiedenen Zeiten geschrieben wurden, in verschiedenen Epochen meines Lebens. Ich schrieb sie nicht auf Bestellung. Sie äußerten sich aus meiner Seele heraus und zum Gegenstand wählte ich nur das, was mich stark beeindruckte. Unter ihnen werden die Leser zweifellos viel Jugendliches finden. Ich gestehe, dass ich einige der Stücke vielleicht überhaupt nicht in diese Sammlung aufgenommen hätte, hätte ich sie ein Jahr

156 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Arabeski. Predislovie, in: G VIII, S. 8. https://doi.org/10.1515/9783110705140-010

Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen 

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früher herausgegeben, als ich viel strenger gegenüber meinen alten Arbeiten war. Aber anstatt über unsere Vergangenheit streng zu urteilen, ist es viel besser, unerbittlich gegenüber seinem gegenwärtigen Tun zu sein. Das zu vernichten, was wir zuvor geschrieben haben, erscheint genauso unrecht wie die vergangenen Tage seiner Jugend zu vergessen. Zudem, falls ein Werk zwei, drei noch ungesagte Wahrheiten beinhaltet, so ist der Autor nicht mehr im Recht, sie vor dem Leser zu verbergen, und um zwei, drei wahre Gedanken kann man die Unvollkommenheit des Ganzen entschuldigen. Zur Ausgabe selbst muss ich sagen: Als ich die gedruckten Blätter durchlas, erschreckten mich selbst die Nachlässigkeiten im Stil, die Überflüssigkeiten und Auslassungen, die aus meiner Unachtsamkeit herrührten. Jedoch, der Zeitmangel und die Umstände, manchmal nicht sehr angenehm, erlaubten mir nicht, meine Handschriften ruhig und aufmerksam durchzusehen, und daher wage ich zu hoffen, dass die Leser mir großmütig verzeihen werden.

Dass Gogol’ das Vorwort erst nach Erhalt der Druckfahnen, und vor allem wegen der sprachlichen Mängel, die ihm in gedruckter Form erst recht ins Auge stachen, dem Band beigefügt habe, scheint auch die Druckfassung der Erstausgabe zu bestätigen. In dieser ist das Vorwort noch vor dem Inhaltsverzeichnis eingeschoben worden. Mit seiner Bitte um Entschuldigung für die Mängel der Sammlung – ob nun im Sprachstil der einzelnen Texte oder in ihrer Zusammenstellung – reiht sich Gogol’s Autorenvorwort in die lange Tradition des Bescheidenheitsgestus ein,157 der eine widersprüchliche Geste der Anerkennung eines Mangels bei gleichzeitiger Aufwertung des dargebotenen Textes vollzieht. Dies ist im vorliegenden Vorwort zu den Arabeski sehr deutlich. Einerseits wird die Unvollendetheit betont, das Verfehlen einer Gänze der Textsammlung sowie zugleich die Mangelhaftigkeit der einzelnen Texte. Andererseits betont Gogol’ die Wahrhaftigkeit der Texte, die aus einem echten Bedürfnis der Seele heraus – und nicht etwa zunächst zum Zwecke der Publikation – entstanden wären. Die Leser werden darauf verpflichtet, dieser Wahrhaftigkeit der Texte und ihren „wahren Gedanken“ nachzuspüren. In der bescheidenen Präsentation der Sammlung steckt die selbstbewusste Hervorhebung ihres tatsächlich großen Werts und in der Bitte an die Leser, ihre Mängel zu entschuldigen, zugleich eine Forderung, diesen Wert anzuerkennen. Eben dies wurde auch von den Zeitgenossen Bulgarin und Senkovskij bemerkt, die in ihren Rezensionen keinen Hehl aus ihrer Ablehnung einer ihnen durchaus selbstgerecht erscheinenden Geste machten.158 Gogol’ selbst bezeichnete in einem Brief an Puškin, mit dem er diesem offenbar das Vorwort der Arabeski zur Korrektur schickte, dieses als sein erstes „ernstes“

157 Curtius, Ernst Robert: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. 10. Aufl. Berlin/München 1984, S. 93. 158 Bulgarin, Faddej Venediktovič, in: Severnaja Pčela. Nr. 73, 1. Apr. (1835), S.  289; Senkovskij, Osip Julian Ivanovič, in: Biblioteka dlja čtenija. Bd.  9. Buch 3. Abt. 6, S.  8–10, beide zitiert nach: Bočarov, S. G./Derjugina, L. G.: „Kommentarii: Arabeski“, in: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Polnoe sobranie sočinenij i pisem. 23 Bde. Hg. v. Ju. V. Mann et al. Bd. 3. Arabeski. Raznye sočinenija N. Gogolja. Hg. v. S. G. Bočarov. Moskva 2009, S. 501–898, hier S. 502 f.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Vorwort, ein Genre, in dem er keine Erfahrung habe.159 Er spielt offenbar auf seine Vorworte zu den beiden Bänden der Večera na chutore bliz Dikan’ki von 1831 und 1832 an, die anderen Charakters waren. Und doch schließen auch diese an eine Tradition des Autorenvorworts an, in dem eine vermeintlich ablehnende Haltung des Lesers oder eine Verurteilung des Textes durch diesen vorausgesetzt wird und entkräftet werden soll, indem die Vorzüge des Textes hervorgehoben werden: „Это что за невидаль: Вечера на хуторе близ Диканьки? Что это за вечера? И швырнул в свет какой-то пасичник! Слава богу! еще мало ободрали гусей на перья и извели тряпья на бумагу! Еще мало народу, всякого звания и сброду, вымарали пальцы в чернилах! Дернула же охота и пасичника потащиться вслед за другими! Право, печатной бумаги развелось столько, что не придумаешь скоро, что бы такое завернуть в нее“. Слышало, слышало вещее мое все эти речи еще за месяц! То есть, я говорю, что нашему брату, хуторянину, высунуть нос из своего захолустья в большой свет — батюшки мои! — Это всё равно, как, случается, иногда зайдешь в покои великого пана: все обступят тебя и пойдут дурачить. Еще бы ничего, пусть уже высшее лакейство, нет, какой-нибудь оборвавшийся мальчишка, посмотреть — дрянь, который копается на заднем дворе, и тот пристанет; и начнут со всех сторон притопывать ногами. „Куда, куда, зачем? пошел, мужик, пошел!..“ Я вам скажу… Да что говорить! Мне легче два раза в год съездить в Миргород, в котором, вот уже пять лет, как не видал меня ни подсудок из земского суда, ни почтенный иерей, чем показаться в этот великой свет. А показался — плачь, не плачь, давай ответ.160 „Was ist das für eine Wunderlichkeit: Abende auf einem Weiler bei Dikanka? Was für Abende? Und in die Welt geschmissen hat sie irgendein Imker! Bei Gott! man hat die Gänse noch immer zu wenig um Federn ausgeplündert und Lumpen für Papier verbraucht! Es hat noch immer zu wenig Volk, jeder Abkunft und alles Pack, die Finger mit Tinte beschmiert! Hat nun die Jagd auch einen Imker dazu angezogen, sich hinter den anderen herzuschleppen! Wahrlich, das bedruckte Papier hat sich derart vermehrt, dass du bald nicht mehr weißt, was in ihm verpacken.“ Alles schon gehört, schon vor einem Monat hat mein prophetisches Ich diese Reden gehört! Das heißt, ich sage, dass es für unsereinen, den Bewohner des Weilers, seine Nase aus seinem Krähwinkel zu stecken – meine Herrschaften! – Es ist so wie dann, wenn du dich einmal in den Gemächern eines großen Herren wiederfindest: Alles umringt dich und fängt an dich zu foppen. Das wäre noch nichts, wenn das nur die höheren Lakaien wären, nein, irgendein zerlumpter Junge – man sieht, Dreck, der sich auf dem Hinterhof tummelt – hängt sich dir an; und sie fangen von allen Seiten an heranzutrampeln. „Wohin, wohin, wozu? Hau ab, Kerl, hau ab!..“ Ich sage Ihnen… ja, wozu erzählen! Mir fällt es leichter, zweimal im Jahr nach Mirgorod zu fahren, wo mich schon fünf Jahre weder der Gerichtshelfer aus dem Landgericht noch der ehrwürdige Priester gesehen haben, als mich in der großen Welt zu zeigen. Aber hast du dich gezeigt, so weine oder weine nicht, aber gebe Antwort.

159 „Я ведь, сколько Вам известно, сурьезных предисловий еще не писал, и потому в этом деле совершенно неопытен.“ (Dezember 1834  – Januar 1835), zitiert nach Bočarov/Derjugina: „Kommentarii: Arabeski“, S. 501. 160 G VD P, S. 103.

Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen 

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Die Geste, mit der sich der fiktive Herausgeber und Erzähler Rudyj Pan’ko der Welt präsentiert, nimmt auch in diesem Vorwort ihre Aburteilung als prekäre Anmaßung vorweg, ist jedoch in Ton und Stil – der Fiktion des ukrainischen Bauern als Erzähler angemessen – noch vollkommen verschieden. Was im Vorwort der Arabeski lediglich als ‚Mangel des Stils‘ bezeichnet wird, sieht Pan’ko in der Bewertung des Textes als ‚Sudelei‘ eines literarischen Emporkömmlings voraus. Das Vorwort besitzt jedoch die humorvolle Prägung, die das Vorwort der Arabeski vermissen lässt. Die ungelenke Selbstpräsentation des Erzählers baut eine ironische Selbstdistanzierung auf und stellt sich zugleich als Kommentar auf ebendiese Praxis des Autorenvorwortes dar, in dem sich dieser über die Bescheidenheitsgeste dem Publikum doch so selbstbewusst präsentiert. Die anschließende Schilderung der ukrainischen Erzählbräuche bei den Abendgesellschaften und der verschiedenen Erzähler und Erzählszenarien hat durch seine Bildhaftigkeit und Sinnlichkeit einen deutlichen Bezug zu aus dem zeitgenössischen Volkstheater herstammenden Lubok-Motiven.161 Nicht nur schließt Gogol’ also mit dem Vorwort der Večera auf ironische Weise an das zeitgenössische Genre des Autorenvorworts an, indem er die Bescheidenheitsgeste einen sprachlich tölpelhaften Herausgeber ausführen lässt, der die Floskeln über das Eingeständnis der Mangelhaftigkeit des Textes direkt in die rüde, ja selbst vulgäre Rede des kritischen Publikums übersetzt. Er bezieht zudem bereits die leiblichen und theatralen Motive des Lubok ins Vorwort ein und nimmt damit schon Tendenzen der Erzählungen der Sammlung vorweg: Не говоря ни слова, встал он с места, расставил ноги свои посереди комнаты, нагнул голову немного вперед, засунул руку в задний карман горохового кафтана своего, вытащил круглую под лаком табакерку, щелкнул пальцем по намалеванной роже какогото бусурманского генерала и захвативши немалую порцию табаку, растертого с золою и листьями любистка, поднес ее коромыслом к носу и вытянул носом на лету всю кучку, не дотронувшись даже до большого пальца, — и всё ни слова; да как полез в другой карман и вынул синий в клетках бумажный платок, тогда только проворчал про себя, чуть ли еще не поговорку: „не мечите бисера перед свиньями“… „Быть же теперь ссоре“, подумал я, заметив, что пальцы у Фомы Григорьевича так и складывались дать дулю. К счастию, старуха моя догадалась поставить на стол горячий книш с маслом. Все принялись за дело. […] Представьте себе, что как внесешь сот — дух пойдет по всей комнате, вообразить нельзя, какой: чист, как слеза, или хрусталь дорогой, что бывает в серьгах. А какими пирогами накормит моя старуха! Что то за пироги, если б вы только знали: сахар, совершенный сахар! А масло, так вот и течет по губам, когда начнешь есть.162 Ohne ein Wort zu sagen stand er von seinem Platz auf, spreizte seine Beine in der Mitte des Zimmers aus, neigte den Kopf ein wenig vor, steckte die Hand in die Hintertasche seines Erbsenkaftans, zog eine lackierte runde Tabakdose heraus, klackte mit dem Daumen auf die aufgemalte Fratze irgendsoeines heidnischen Generals, griff eine gute Portion von dem Tabak, mit Asche

161 Vgl. Bočarov/Derjugina: „Kommentarii: Arabeski“, S. 501. 162 G VD P, S. 105 ff.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

und Liebstöckelblättern verraspelt, nahm sie mit einem Schwenk unter die Nase und schnupfte mit der Nase das ganze Häuflein, ohne überhaupt den Daumen zu berühren. – und immer noch kein Wort; so langte er in die andere Tasche und holte ein dunkelblaues, kariertes Baumwolltuch heraus, murmelte etwas zu sich, in etwa so wie der Spruch: „schmeißt nicht Perlen vor die Säue“… „Jetzt gibt es Streit“, dachte ich, und bemerkte, dass sich bei Foma Grigor’evič die Finger so zusammenlegten, um eine Feige zu geben. Zum Glück hatte meine Alte die Idee, einen heißen Kniš mit Butter auf den Tisch zu stellen. Alle gingen ans Werk. […] Stellen Sie sich vor, wenn man die Wabe hereinträgt – der Duft zieht durch den ganzen Raum, man kann sich nicht vorstellen, was für einer: rein wie Tränen oder teurer Kristall, wie er bei Ohrringen vorkommt. Und mit was für Pirogi meine Alte euch füttern wird! Was für Pirogi, wenn ihr nur wüsstet: Zucker, reiner Zucker! Und Butter, die nur so die Lippen herunterfließt, wenn du beginnst zu essen.

Letztlich ist die Geste, auch wenn Gogol’ später in seinem Brief an Puškin richtig auf den humorvollen Charakter dieser Vorworte zurückweist, ähnlich wie bei den ­Arabeski: In deren Vorwort werden die Texte mit den Begriffen nesoveršenstvo (dt. „Unvollkommenheit“) und neispravnost’ (dt. „Nachlässigkeit“) charakterisiert. Im Vorwort der Večera bezeichnet der Imker Pan’ko die Textsammlung als bloßes bumagomaranie (dt. „Papierbeschmutzung“). Gerade aber diese Schimpfrede von der bloß materiellen Natur dieser Erzählungen eines ukrainischen Bauern überführt der Erzähler dann in eine theatrale Vorstellung der Erzählermasken und eine sinnliche Schilderung des Speisens. Das Vorwort Pan’kos schließt an die mit dem Lubok verbundene Literatur jener Zeit und ihre Abwertung in einem modernen städtischen Literaturmarkt an. Dabei eignet es sich auf subversive Weise die rhetorische Degradierung seines Textes als bloßes Material an und bezieht diese Materialität zurück auf die für die mit dem Lubok verbundene Literatur typische Sinnlichkeit und Theatralität, die er gerade im literarischen Text nicht nur abbilden, sondern auch aus ihm heraus evozieren will. Im Vorwort der Arabeski, weit davon entfernt die Textsammlung als „Lumpen“ und Verpackungspapier zu degradieren wie im Vorwort der Večera, werden die unvollkommenen Texte vielmehr als p’esy (dt. „Stücke“) eingeführt. Damit deutet sich die Tendenz des Vorwortes der Arabeski an, im Sinne ihres Titels der Unvollkommenheit der Teile dennoch indirekt eine tiefere Verbindung zu einem Ganzen zuzuerkennen. Sie alle sind als authentische Ergüsse aus Gogol’s junger Seele emporgequollen und bilden somit die Wurzel seiner Gegenwart. Obwohl also die Texte zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Lebenslagen und über unterschiedliche Gegenstände geschrieben wurden, verbindet sie gleich einer Tiefenstruktur die Motivation, einen Gedanken aus der Seele zu äußern. Diese innere Verbindung der Texte, die in ihren wahren Gedanken besteht, kann durch den Leser, der sich intensiv und aufmerksam der Sammlung widmet, herausgelesen werden. Dass man dabei eine deutliche Nähe zu Friedrich Schlegels Konzept des arabesken Textes verfolgen kann, ist bereits bemerkt worden.163 Gogol’ nimmt die a-mimetische Tendenz der Arabeske als Ornament, das

163 Frank: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’, S. 159 ff.

Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen 

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auf sein eigenes Bildungsprinzip hinweist, auf. Nicht die Gegenstände der in den Arabeski versammelten Texte vereinen diese, sondern die innere, die seelische Motivation. Auch die Jugend, die ja zunächst als Entschuldigung für die Mangelhaftigkeit der Texte angeführt wird, weist auf diese Ursprünglichkeit, die Lebendigkeit der Texte hin, die aus der Quelle der Seele emporgestiegen seien. Dabei wird hier dennoch eine Aufwertung unter negativem Vorzeichen vollzogen: Die Unvollkommenheit des Ganzen, die Unvollkommenheit des Jungen, das in der Vergangenheit liegt, bleibt bestehen. Auch darin liegt eine Parallele zum Schlegel’schen Konzept der Arabeske, die in sich auf eine tiefer liegende – bzw. prospektive – Ganzheit deutet, die in ihr jedoch nicht abgebildet werden kann. Sie ist immer „nur eine – Arabeske“164 und gerade durch ihren Mangel die angemessene zeitgenössische literarische Form. Doch auch diese Sicht auf die älteren Texte des Herausgebers, seine Milde, die es ihm erlaubt, diese tiefer liegenden Wahrheiten der Texte zu erkennen und sie in einer Sammlung zusammenzustellen, ist selbst als eine Phase in seinem Leben anzusehen. Noch vor einem Jahr hätte er die Texte angeblich „vielleicht überhaupt nicht in die Sammlung aufgenommen“, doch dann habe er eingesehen, dass „zu vernichten, was wir zuvor geschrieben haben, […] genauso unrecht [erscheint] wie die vergangenen Tage seiner Jugend zu vergessen.“ Der Herausgeber hätte den Texten durch diesen Akt der Vernichtung ihren geistigen Wert vollkommen aberkannt; und das Vorwort impliziert, dass die Texte diesem Schicksal nur durch den nachträglichen Geisteswandel des Herausgebers entgangen seien. Der Übergang der Bewertung eines Schriftstücks als beschmutztes, wertlos gewordenes Papier zur Bewertung als p’esa (dt. „Stück“) war also fließend, und wurde nicht durch eine Erkenntnis oder eine objektiv zu bestimmende, sie aufwertende Eigenschaft der Texte bewirkt. Vielmehr liegt deren Grund in der Milde des Autors gegen ihre Jugend als Wurzel seiner eigenen weiteren Entwicklung. Diese Milde lässt ihn ihre innere, seelische Motiviertheit als einen Wert anerkennen, der in ihrer Versammlung als Arabeski sich indirekt ausdrücken kann. Zwischen der Bewertung als sinn- und wertloser Fetzen und der Bewertung als p’esa in einer arabesken Sammlung scheint also eine sehr dünne Linie zu verlaufen. Der arabeske Sinn steht in der Gefahr, in eine vollkommene Sinnlosigkeit abzukippen. Letztlich verweist diese Bemerkung Gogol’s in seinem Vorwort zu den Arabeski auch auf seine Idylle Ganc Kjuchel’garten zurück, seiner ersten Veröffentlichung, die auch ein frappierend ähnliches Vorwort besitzt:165

164 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 331. 165 Vgl. Mann, Jurij V.: Gogol’. Trudy i dni 1809–1845. Moskva 2004, S. 158. Vgl. zur Rezeption von in der deutschen Ästhetik entworfenen Konzepten der Idylle durch Gogol’ Ospovat, Kirill: „Realism as Technique. Idyll, Allegory and the Melancholic Gaze in Gogol’s ‚Starosvetskie pomeshchiki‘“, in: Ananka, Yaraslava/Marszalek, Magdalena (Hg.): Potemkinsche Dörfer der Idylle. Imaginationen und Imitationen des Ruralen in den europäischen Literaturen. Bielefeld 2018, S. 219–248.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Предлагаемое сочинение никогда бы не увидело света, если бы обстоятельства, важные для одного только автора, не побудили его к тому. Это произведение его восемнадцатилетней юности. Не принимаясь судить ни о достоинстве, ни о недостатках его и предоставляя это просвещенной публике, скажем только то, что многие из картин сей идиллии, к сожалению, не уцелели; они, вероятно, связывали более ныне разрозненные отрывки и дорисовывали изображение главного характера. По крайней мере мы гордимся тем, что по возможности споспешествовали свету ознакомиться с созданьем юного таланта.166 Das vorliegende Werk hätte die Welt nie erblickt, wenn nicht die Umstände, wichtig allein für den Autor, ihn dazu angehalten hätten. Es ist ein Werk seiner Jugend von achtzehn Jahren. Wir schicken uns weder an über seine Vollkommenheit zu urteilen noch über seine Mängel, und indem wir dies einem aufgeklärten Publikum präsentieren, sagen wir nur, dass viele der Bilder dieser Idylle leider nicht vollständig sind; sie verbanden, wahrscheinlich, vielmehr derzeit vereinzelte Fragmente und skizzierten ein Bild allgemeinen Charakters. Zumindest sind wir stolz, nach Möglichkeit die Welt mit dem Werk eines jungen Talents bekannt gemacht haben zu können.

Bekanntlich kaufte Gogol’, vermutlich als Reaktion auf die schlechte Kritik, alle in den Läden verbliebenen Exemplare der Idylle auf, die er auf eigene Kosten herausgegeben hatte, und verbrannte sie im Anschluss.167 Dieser Akt entwertet die schüchtern angepriesene Unvollendetheit und Jugendlichkeit dieser Idylle zu ihrer rein materiellen Existenz. Das Fragment, zum verachteten fragmentum, dem materiellen „Bruchstück“ geworden, findet als solches in Gogol’s Kamin sein Ende. So dürfte es nicht überraschen, dass Gogol’ in seinem erwähnten Brief an Puškin beteuert, ihm mit dem Vorwort der Arabeski sein erstes ‚ernstes‘ Vorwort vorzulegen. Das Vorwort der Idylle Ganc Kjuchel’garten war die verdammte und vergessene Vergangenheit, der Text, dessen Unvollkommenheit zur Aberkennung seines Sinns und zu seiner materiellen Vernichtung führte. Mit der Herausgabe der Arabeski beteuert er, sich nun gegen die unvollkommenen Texte seiner Jugend milde verhalten zu wollen: Es ist der Versuch einer Umwertung. So kulminieren im Konzept der Arabeski zweierlei Tendenzen: ein Drang zur Ablehnung des schriftlichen Textes, der eine Äußerung von Totalität immer verfehlen muss, und der Versuch einer Rettung dieser fortwährenden Unvollendetheit in ihrer prospektiven Vollendung durch einen Leseakt, der ihre Wahrheiten als angedeutete Einheit erkennt. Dies ist gerade auch der Versuch einer Umwertung der Jugendlichkeit des Textes von einer stilistisch mangelhaften und bruchstückartigen Skizze zu einer ungefilterten Äußerung aus der Seele heraus, die von Lebendigkeit und Wahrhaftigkeit gekennzeichnet ist. Die zanjatija nastojaščie („gegenwärtige Tätigkeiten“), die Gogol’ vielmehr als moralisch entscheidenden Moment zwischen dem Urteilen über die vergangenen und dem Entscheiden über die zukünftigen Taten bestimmt, sind der Keim einer prospektiven Zukunft. Die „gegenwärtige Tätigkeit“ ist der Leseakt, mit dem gleichsam die jungen Texte des Autors im Leser gegenwärtig werden.

166 G GK, S. 60. 167 Vgl. Kušelev-Bezborodko, Graf G. A. (Hg.): Licej knjazja Bezborodko. Sanktpeterburg 1859, S. 177.

Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen 

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Senkovskij erkannte bereits, dass das Vorwort der Arabeski dem Vorwort einer posthumen Ausgabe eines verblichenen Autors ähnelt,168 dessen hinterlassene, vielleicht nie zur Publikation bestimmt gewesene Schriften nun in die Hände der neugierigen Leser gelangen. Bei einer solchen Ausgabe würde allein schon die Pietät verlangen nicht allzu streng zu urteilen; auch in einer solchen suchen Leser nach den Spuren oder Andeutungen dessen, was den Stil des Autors ausmachte. Voller Spott bemerkte Senkovskij, Gogol’ habe also seine hinterlassenen Schriften schon selbst herausgeben wollen. Diese Beobachtung trifft, und das konnte Senkovskij zu jener Zeit noch nicht ahnen, mit Blick auf das spätere Vorwort der Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami (Ausgewählte Stellen aus einem Briefwechsel mit Freunden) von 1847 ins Schwarze. In diesem präsentiert sich Gogol’ tatsächlich als einen Autor, der quasi aus dem Grab heraus seinen Lesern seine bisher unveröffentlichten (aber angeblich der Überzeugung seiner Freunde zufolge wertvollsten) Schriften zur Verfügung stellt: Я был тяжело болен; смерть уже была близко. Собравши остаток сил своих и воспользовавшись первой минутой полной трезвости моего ума, я написал духовное завещание, в котором, между прочим, возлагаю обязанность на друзей моих издать, после моей смерти, некоторые из моих писем. Мне хотелось хотя сим искупить бесполезность всего, доселе мною напечатанного, потому что в письмах моих, по признанию тех, к которым они были писаны, находится более нужного для человека, нежели в моих сочинениях.169 Ich war schwer krank; der Tod war schon nah. Meine verbliebenen Kräfte sammelnd und die erste Minute der vollen Klarheit meines Verstands nutzend, habe ich mein geistiges Vermächtnis niedergeschrieben, in dem ich, unter anderem, meinen Freunden die Pflicht auferlege, nach meinem Tode einige meiner Briefe herauszugeben. Ich wünschte hiermit die Nutzlosigkeit all dessen zu sühnen, das bisher von mir gedruckt wurde, weil sich in meinen Briefen, laut der Versicherung jener, an die sie geschrieben wurden, mehr für den Menschen Nützliches findet, als in meinen Werken.

Die Milde gegen die früheren Schriften, die der Herausgeber der Arabeski preist, verspürte der Herausgeber der Vybrannye mesta offenbar nicht mehr. Die unvollkommenen, verschiedenen Texte der Sammlung sind wieder zu verdammenswerten Sudeleien geworden, wie uns auch schon ein Brief an Nikolaj Prokopovič aus dem Jahr 1837 andeutet: Мне страшно вспомнить обо всех моих мараньях. Они вроде грозных обвинителей являются глазам моим. Забвенья, долгого забвенья просит душа. И если бы появилась такая моль, которая бы съела внезапно все экземпляры ‚Ревизора‘, а с ними ‚Арабески‘,

168 Senkovskij, in: Biblioteka dlja čtenija. Bd. 9. Buch 3. Abt. 6, S. 8–10, zitiert nach: Bočarov/Derjugina: „Kommentarii: Arabeski“, S. 503. 169 G VM, S. 215.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

‚Вечера‘ и всю прочую чепуху, и обо мне, в течение долгого времени, ни печатно, ни изустно не произносил никто ни слова, — я бы благодарил судьбу. 170 Ich denke mit Schrecken an meine Klecksereien. Sie erscheinen meinen Augen als fürchterliche Anklagen. Vergessen, langes Vergessen erbittet die Seele. Und falls eine solche Motte erscheinen würde, die plötzlich alle Exemplare des Revisors und mit ihnen die Arabesken, die Abende und allen übrigen Unsinn auffräße, und über mich, über die Dauer langer Zeit, weder in gedruckter Form noch mündlich jemand ein Wort äußern würde, – ich würde dem Schicksal danken.

In dem sich dem Vorwort der Vybrannye mesta anschließenden Zaveščanie (Vermächtnis) des Autors betont er zudem explizit, dass seine übrigen Schriften, die sich als Manuskripte noch in seinem Besitz befanden – ungenügend den moralischen Maßstäben, die ihn zur Herausgabe der Vybrannye mesta veranlassten – von ihm vernichtet worden seien: Объявляю также во всеуслышанье, что, кроме доселе напечатанного, ничего не существует из моих произведений: все, что было в рукописях, мною сожжено, как бессильное и мертвое, писанное в болезненном и принужденном состоянии. […] Но возлагаю вместо того обязанность на друзей моих собрать все мои письма, писанные к кому-либо, начиная с конца 1844 года, и, сделавши из них строгий выбор только того, что может доставить какую-нибудь пользу душе, а все прочее, служащее для пустого развлеченья, отвергнувши, издать отдельною книгою.171 Ich erkläre hiermit ausdrücklich, dass außer dem, was bisher gedruckt wurde, nichts von meinen Werken mehr existiert: alles, das in Handschriften vorlag, habe ich verbrannt, als kraftlos und tot, geschrieben in einem kranken und zwanghaften Zustand. […] Aber ich erlege meinen Freunden die Pflicht auf, alle meine Briefe zu sammeln, an wen auch immer ich sie geschrieben habe, beginnend mit dem Jahr 1844, und aus ihnen eine strenge Auswahl zu treffen allein dahingehend, was der Seele irgendeinen Nutzen bringen kann, aber alles übrige, das dem leeren Vergnügen dient, auszuschließen, und in einem einzelnen Buch herauszugeben.

Der Autor der Vybrannye mesta, anstatt ein vielfältiges Bild verschiedenartiger Texte zu hinterlassen, schafft eine tabula rasa, auf der seine Erbauungs- und Erziehungsschriften der neuen Textsammlung mit ihrer pragmatischen Wirkungsabsicht erscheinen können. Damit will er einer posthumen Ausgabe seiner Schriften gerade vorgreifen. Dies war im Vorwort der Arabeski nur indirekt ausgedrückt. Die indirekt im Leseakt auf eine in der Zukunft zu findende Einheit der versammelten Texte deutende Sammlung weicht damit der direkten Aussageabsicht der moralisch erbaulichen Vybrannye mesta und damit ein Verständnis der arabesken Sammlung von verschiedenen p’esy („Stücken“) einer Verdammung der Fragmente als kločki („Fetzen“).

170 G XI, S. 84 (Nikolaj Vasil’evič Gogol’ an Nikolaj Jakovlevič Prokopovič am 13. (25.) Januar 1837, Paris). Auch Dirk Kretzschmar zitiert diesen Brief Gogol’s: Kretzschmar: „Der verhungernde Dichterkörper“, S. 107. 171 G VM, S. 222.

Entwicklung eines Werks: Die Vorworte der Textsammlungen 

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Jedoch kann diese Differenz nur über die Textgattungen (Essays zu Ästhetik und Historiographie vs. Erbauungsschrifttum) aufrechterhalten werden. In anderer Hinsicht können beide Sammlungen noch parallel gelesen werden: Die sich in den Vybrannye mesta noch verstärkende Bescheidenheitsgeste – verstärkend sowohl in der entschuldigenden Geste als auch in dem durch sie sich äußernden, nun religiös gerechtfertigten Selbstbewusstsein – verbindet diese spätere Sammlung durchaus noch mit den Arabeski. Die Beteuerung, dass einem Text durch den Leser Gerechtigkeit widerfahren müsse, weil er eine Offenbarung der Seele des Autors sei, findet sich (im Zaveščanie) auch hier: [В]о имя этой любви прошу вас выслушать сердцем мою Прощальную повесть. Клянусь: я не сочинял и не выдумывал ее, она выпелась сама собою из души, которую воспитал Сам Бог испытаньями и горем, а звуки ее взялись из сокровенных сил нашей русской породы нам общей, по которой я близкий родственник вам всем.172 [I]m Namen dieser Liebe bitte ich euch, mit dem Herzen meine Abschiedserzählung anzuhören. Ich beteuere: ich habe sie nicht erschaffen oder erdacht, sie sang sich von selbst aus meiner Seele heraus, die Gott selbst durch Prüfung und Leiden erzog, und ihre Klänge entsprangen den verborgenen Kräften unserer, uns gemeinsamen russischen Art, durch die ich euch allen ein naher Verwandter bin.

Gerade der Text, der diese Offenbarung darstellt und dem Leser vergegenwärtigt, wird aber nur angekündigt – die Proščal’naja povest’ (Abschiedserzählung) wurde nie publiziert und auch in Gogol’s Nachlass nicht gefunden. Auf die oben zitierten Sätze folgt die Anmerkung des Autors am Ende der Seite: * Прощальная повесть не может явиться в свет: что могло иметь значение по смерти, то не имеет смысла при жизни.173 * Die Abschiedserzählung kann nicht erscheinen: was durch den Tod eine Bedeutung haben konnte, hat im Leben keinen Sinn.

Es bleibt zu schlussfolgern, dass die in den Vybrannye mesta versammelten Texte nur eine Andeutung dieser Erfüllung, der göttlichen Offenbarung aus Gogol’s Seele heraus, geben können. Die Abschiedserzählung, die diese darstellt, kann nie selbst erscheinen. In mehrfacher Hinsicht ist dies paradox: Wie kann Gogol’ davon sprechen, sie habe sich bereits seiner Seele entrungen und sie sei an das russische Volk gerichtet, wenn sie doch zugleich erst im Tod ‚erzählt‘ werden kann? Und doch: Als quasi von den Toten Auferstandener gibt er ja nun selbst seine Briefe ‚posthum‘ heraus, gerade hierin besteht seine große Geste als prophetischer Autor. Dennoch bleibt die

172 G VM, S. 221 f. 173 Ebd.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Frage bestehen, wie eine solche Erzählung das russische Volk erreichen sollte, denn die Abschiedserzählung „kann nicht erscheinen“. Sie ist, wie die Erfüllung, die die Gattung des romantischen Fragments verspricht, immer unerreichbar. Erst der Tod, die Vereinigung mit den „geistigen, höchsten Schöpfungen Gottes“ (duchovn[ye] vysš[ie] tvoren[ija] Boga)174 stellt ihre Erfüllung und zugleich die Negierung ihrer irdischen Vergegenständlichung dar. Insofern schließen die Vybrannye mesta an die romantische Fragmentästhetik an, die sich bereits in Ganc Kjuchel’garten und später den Arabeski sowie ironisch auch in den Večera wiederfindet. Auf die nicht explizit religiös zu verstehende, ‚fragmentästhetische‘ Einleitung der Arabeski als lebendiger, durch eine innere Einheit und tiefe Bedeutung geprägter Sammlung des Unterschiedlichen und Vermischten (die bereits im Vorwort von Ganc Kjuchel’garten ausgeprägt war) folgt in den Vybrannye mesta eine Umwertung des ‚beseelten Textes‘ zu einer prophetischen Gottesbotschaft an das russische Volk und deren ‚Präludium‘ in einer religiösen Erbauungsschrift. Insofern auch das Vorwort der Večera mit seinem einleitenden vorgreifenden Zitat der kritischen Beurteilung des Textes als bumagomaranie auf diese Ästhetik negativ Bezug nimmt, haben die Arabeski eine Zwischenstellung inne. Während das Vorwort der Večera selbst bereits sehr stark in einen erzählenden Gestus treibt und auf die Formästhetik der eigenen Zeit rein humoristisch Bezug nimmt, bestätigt Gogol’ in der Sammlung der Arabeski, die eine Zusammenstellung von fiktionalen und nichtfiktionalen Texten vorstellen, diese Formästhetik in ihrer ganzen Ambivalenz. Schließlich nimmt er in der Sammlung der Vybrannye mesta noch in einem ähnlichen Gestus des Autorenvorworts auf die romantische Formästhetik Bezug, stellt diese jedoch unter die Prämisse eines religiös fundierten und Fiktion ausschließenden Literaturbegriffs. Die Arabeski nehmen insofern vor allem in Bezug auf die Integration von fiktionalen Texten in eine Sammlung, die auch nichtfiktionale Essays enthält und deutlich das Konzept arabesker Form affirmiert, eine Zwischenstellung ein. Dabei werden die kločki (dt. „Fetzen“) der Večera, in denen die Manifestation der Unvollkommenheit des Textes in seiner nichtigen Materialität gerade humoristisch im Sinne eines grotesken Erzähl- und Körperkonzeptes fiktional produktiv gemacht wird, über die Affirmierung der romantischen Fragmentidee zu p’esy. Deren Grenzgang zwischen Bedeutung und Bedeutungsverlust tragen gerade die fiktionalen Texten der Sammlung aus.

3.2 Humoristische Defiguration in den Večera und Mirgorod In Gogol’s frühen Erzählsammlungen wird immer wieder die Permeabilität der medialen Praktiken von Mündlichkeit und Schriftlichkeit zum Beweggrund und Gegenstand des Erzählens. Die Defiguration der Schrift als Motiv markiert dabei oftmals eine

174 Ebd., S. 221

Humoristische Defiguration in den Večera und Mirgorod  

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Überlagerung von medialen Praktiken, die bestimmte Räume markieren (v. a. ländlich/ städtisch, aber auch etwa soziale Sphären wie bäuerlich/adlig). Es liegt dabei nicht eine Präferenz oder Valenz des jeweiligen medialen Gebrauchs der Sprache vor. Vielmehr kommt es zu einer Übertragung und Hinterfragung der diesen medialen Diskurs prägenden Kategorien von Körpernähe/Körperferne, Körper/Technik sowie Unmittelbarkeit/Mittelbarkeit. Dies trägt als Reflexion über die Materialität der Schrift in dieser früheren Phase des Gogol’schen Schaffens noch vor allem humoristische Züge. So inszeniert die Erzählung Noč’ pered Roždestvom (Die Weihnacht), die den den zweiten Teil der Večera na chutore bliz Dikan’ki einleitet, den Anfang der Erzählsammlung und zugleich ihren eigenen Beginn als Prozess der visuellen Figuration im Kontrast von Schwarz auf Weiß. Das schwarze Bild aus Rauch, der aus einem Kamin am Vorweihnachtsabend in Form einer Hexe aufsteigt, erscheint vor dem hellen Sternenhimmel und wird zum schwarzen Pünktchen, das über die weißen Sternpunkte wandert und sie verdeckt. Ein zweites Pünktchen tritt hinzu und dehnt sich zum dunklen Fleck aus, der schließlich das weiße Rund des Mondes umfasst und verschwinden lässt: Тут через трубу одной хаты клубами повалился дым и пошел тучею по небу, и вместе с дымом поднялась ведьма верхом на метле. […] Но где ни показывалось пятнышко, там звезды, одна за другою, пропадали на небе. Скоро ведьма набрала их полный рукав. Три или четыре еще блестели. Вдруг, с противной стороны, показалось другое пятнышко, увеличилось, стало растягиваться, и уже было не пятнышко. […] [Т]олько разве по козлиной бороде под мордой, по небольшим рожкам, торчавшим на голове, и что весь был не белее трубочиста, можно было догадаться, что он не немец и не губернский стряпчий, а просто черт […]. Между тем черт крался потихоньку к месяцу […]. Подбежавши, вдруг схватил он обеими руками месяц, кривляясь и дуя, перекидывал его из одной руки в другую […]; наконец поспешно спрятал в карман […].175 Da stiegen aus dem Schornstein einer Hütte dichte Rauschschwaden auf und wälzten sich als Wolke gegen den Himmel, und zugleich mit dem Rauch fuhr eine Hexe rittlings auf einem Besen hinaus. […] Wo sich aber dieses Pünktchen zeigte, dort verschwand ein Stern nach dem anderen vom Himmel. Alsbald hatte die Hexe deren einen ganzen Arm voll gesammelt. Nur drei oder vier blinkten noch. Plötzlich zeigte sich von der entgegengesetzten Seite ein anderes Pünktchen, wurde größer, dehnte sich aus und war bald kein Pünktchen mehr. […] [H]öchstens an dem Bocksbart unter der Schnauze, an den kleinen Hörnern, die aus dem Kopf ragten, und daran, daß es nicht weißer als ein Schornsteinfeger war, konnte man erraten, daß es sich nicht um einen Deutschen oder ein Gouvernementsfiskal handelte, sondern um den Teufel […]. Mittlerweile hatte sich der Teufel verstohlen an den Mond herangeschlichen […]. Er nahm einen Anlauf, packte plötzlich den Mond mit beiden Händen und warf ihn zappelnd und blasend aus einer Hand in die andere […]; schließlich steckte er den Mond geschwind in die Tasche […].176

175 G NR, S. 201–203. 176 Gogol, Nikolaj: „Die Weihnacht“, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen, S. 124–178, hier S. 125 f.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Die visuelle Figuration des Hell-Dunkel-Kontrasts, die zunächst eine Differenzierung des schwarzen Flecks zum Bild des Teufels ermöglicht, führt schließlich wieder in einen Fleck, die Absenz der Darstellung zurück, die durch ihre Ausdehnung über den ganzen weißen Hintergrund (Mond) eine monochrome dunkle Fläche schafft. Das visuelle Drama an der Himmelsfläche, die durch den Verlust der Kontrastdifferenz zur planen Schwärze geworden ist, schafft jedoch wiederum einen dunklen Raum, innerhalb dessen die folgende Erzählung beginnt, als der Dorfbewohner Čub in der ortslosen Schwärze herumirrt. Diese Differenzlosigkeit, die zu Beginn der Erzählung als Manifestation des Teuflischen eingeführt wird, markiert auch das spätere Übertreten des Schmieds Vakula vom dörflichen Raum in den städtischen Raum der Schrift: nach Petersburg, das er durch einen Teufelsritt am Himmel erreicht. Er kommt an den Hof der Zarin und wird als idealer Gegenstand eines neuen Werks des Literaten Denis Fonvizin diskutiert: „[…] Вот вам“, продолжала государыня, устремив глаза на стоявшего подалее от других средних лет человека с полным, но несколько бледным лицом […]: „предмет, достойный остроумного пера вашего!“ „Вы, ваше императорское величество, слишком милостивы. Сюда нужно, по крайней мере, Лафонтена!“ отвечал, поклонясь, человек с перламутровыми пуговицами. „По чести скажу вам: я до сих пор без памяти от вашего ‚Бригадира‘. Вы удивительно хорошо читаете! […]“177 „[…] Da habt ihr“, fuhr die Herrscherin fort, indem sie ihre Augen auf einen etwas abseits von den übrigen stehenden Mann mit vollem, doch etwas blassem Gesicht richtete […], „da habt Ihr einen Eurer geistreichen Feder würdigen Gegenstand!“ „Kaiserliche Majestät sind zu gnädig. Hier bedürfte es zum mindesten eines Lafontaine!“ antwortete der Mann mit den Perlmutterknöpfen, indem er sich verbeugte. „Ich will Euch ehrlich sagen: ich bin noch ganz hingerissen von Eurem ‚Brigadier‘. Ihr könnt erstaunlich gut vorlesen. […]“178

Schließlich kehrt Vakula auf dem Teufelsrücken wieder zurück in sein Dorf. Am Morgen nach der Nacht vertreibt er den Teufel mit der Rute. Der Prozess der Defiguration führt als diabolische Verdunkelung der Differenzen zu einer traumartigen Verbindung sonst getrennter Sphären: nicht nur sozialer, sondern auch medialer Räume. So dringt die mündliche (hier vor allem mit dem Gesang der Koljadki verbundene) Welt des ukrainischen Dorfes in den Petersburger Hof Katharinas II ein – Vakula lauscht als ihr Vertreter der eigenen literarischen Besprechung. Das Schließen der Lücken zwischen Weiß und Schwarz durch eine Verrußung auf dem reinen Bild des Mondes ist damit als metaphorisches Bild der Auflösung des – sowohl sozialen als auch materiellen – Schriftraums in seinem Hintergrund zu sehen, mit dem er fleckartig verfließt. Die Reflexion

177 G NR, S. 237. 178 Gogol: „Die Weihnacht“, S. 171.

Humoristische Defiguration in den Večera und Mirgorod  

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des Entstehens einer (schriftlichen) Erzählung aus einem Differenzspiel von schwarzen Pünktchen auf weißem Grund, die sich jedoch verselbständigen und einen düsteren Grund bilden, aus dem sich überhaupt erst ein Geschehen/eine Repräsentation heraus zu regen beginnt, transportiert zweierlei: die Erkenntnis der künstlerischen Imagination als unergründlich und autonom, verwurzelt in einem dunklen Fleck, aus dem sie sich speist, und ihr Willkommenheißen; zugleich eine Konstatierung der Eigenständigkeit der schwarzen Materie auf ihrem weißen Hintergrund, der Tinte, die sich wie der Ruß in rätselhaften Mustern ausprägt, wenn sie sich auf dem Blatt verselbständigt. Der diabolos ist in der Erzählung eine komische Figur, deren Dunkelheit den Quell des Erzählens bildet. Anders ist es zunächst in der Erzählung Povest’ o tom, kak possorilsja Ivan Ivanovič s Ivanom Nikiforovičem (Die Geschichte, wie sich Ivan Ivanovič mit Ivan Nikiforovič zerstritt) aus dem Zyklus Mirgorod: In dieser ist die Defiguration der Schrift Manifestation eines zeitlosen Zustands, innerhalb dessen der Streit der Ivane gleichsam festfriert, erstarrt. Die Schrift als Ausdruck und Medium des Gerichts wird in dieser Erzählung um den Streit der Ivane als feste Grenze zwischen den beiden Nachbarn eingezogen: Иван Никифорович, в упрек Ивану Ивановичу, выстроил новый гусиный хлев, хотя немного подальше прежнего, и совершенно застроился от Ивана Ивановича, так что сии достойные люди никогда почти не видали в лицо друг друга, – и дело все лежало, в самом лучшем порядке, в шкафу, который сделался мраморным от чернильных пятен.179 Ivan Nikiforovič hatte Ivan Ivanovič zum Trotz einen neuen Gänsestall erbaut, wenn auch etwas weiter weg als den ersten, und sich ganz gegen Ivan Ivanovič verbarrikadiert, so daß diese würdigen Leute fast nie mehr einander von Angesicht zu Angesicht sahen – und die Angelegenheit lag noch immer in der allerbesten Ordnung im Schrank [des Gerichts, C. S.], der von den Tintenflecken gleichsam marmoriert war.180

Die Marmorierung aus Tintenflecken ist nicht etwa, als Topos der romantischen Naturpoesie, ein hieroglyphischer Ausdruck eines erfühlbaren, alle Natur durchdringenden schöpferischen Prinzips, sondern Bild der toten Schrift oder der tötenden, zerteilenden Schriftpraktik. Jedoch zeigt die Erzählung auch die komische Übertretung der getrennt erscheinenden Räume der ländlichen Umgebung der Provinzstadt Mirgorod und ihres Gerichts, die eine ‚Belebung‘ dieser Praktik bewirkt: Когда судья вышел из присутствия в сопровождении подсудка и секретаря, а канцелярские укладывали в мешок нанесенных просителями кур, яиц, краюх хлеба, пирогов, книшей и прочего дрязгу, в это время бурая свинья вбежала в комнату и схватила, к удивлению присутствовавших, не пирог или хлебную корку, но прошение Ивана Никифоровича,

179 G PI, S. 263. 180 Gogol, Nikolaj: „Die Geschichte, wie sich Iwan Iwanowitsch mit Iwan Nikiforowitsch zerstritt“, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen, S. 500–562, hier S. 545.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

которое лежало на конце стола, перевесившись листами вниз. Схвативши бумагу, бурая хавронья убежала так скоро, что ни один из приказных чиновников не мог догнать ее, несмотря на кидаемые линейки и чернильницы.181 Als der Richter in Begleitung des Unterrichters und des Sekretärs das Gerichtszimmer verlassen hatte und die Kanzleibeamten die von den Bittstellern angeschleppten Hühner, Eier, Brotlaibe, Piroggen, Knische und den anderen Plunder in einen Sack legten, lief eine braune Sau in das Zimmer und packte zur Verwunderung aller Anwesenden nicht etwa eine Pirogge oder eine Brotrinde, sondern das Gesuch Ivan Nikiforovičs, das am Tischrand lag und mit einigen Blättern nach unten hing. Und nachdem sie das Papier gepackt hatte, lief das braune Grunztierchen so rasch davon, daß kein einziger Beamter es einzuholen vermochte, ungeachtet der ihm nachgeworfenen Lineale und Tintenfässer.182

Das Schwein, ähnlich wie das Teufelchen zu Beginn der Erzählung Noč’ pered Roždestvom, bewirkt eine Unordnung der Räume, die deren Strukturierung, und damit eine bestimmte mediale Praxis, stört. Das Bittgesuch Ivan Nikiforovičs wird nicht nur zur Schweinemahlzeit degradiert, sondern auch in dessen ländliches, nicht durch den Gebrauch von Schrift bestimmtes Umfeld weggeschleppt. Der Raum des Schriftgebrauchs gerät durcheinander; Tinte wird verschüttet. Am deutlichsten macht diese Zusammenhänge Gogol’s Erzählung Ivan Fedorovič Špon’ka i ego tetuška (Ivan Fedorovič Špon’ka und sein Tantchen) aus dem zweiten Teil der Večera,183 die mit einer Erklärung ihrer fragmentarischen Form anhebt: С этой историей случилась история: нам рассказывал ее приезжавший из Гадяча Степан Иванович Курочка. Нужно Вам знать, что память у меня, невозможно сказать, что за дрянь: хоть говори, хоть не говори, все одно. То же самое, что в решето воду лей. Зная за собою такой грех, нарочно просил его списать ее в тетрадку. Ну, дай бог ему здоровья, человек он был всегда добрый для меня, взял и списал. Положил я ее в маленький столик; вы, думаю, его хорошо знаете: он стоит в углу, когда войдешь в дверь … Да, я и позабыл, что вы у меня никогда не были. Старуха моя, с которой живу уже лет тридцать вместе, грамоте сроду не училась; нечего и греха таить. Вот замечаю я, что она пирожки печет на какой-то бумаге. Пирожки она, любезные читатели, удивительно хорошо печет; лучших пирожков вы нигде не будете есть. Посмотрел как-то на сподку пирожка, смотрю: писаные слова. Как будто сердце у меня знало, прихожу к столику — тетрадки и половины нет! Остальные листки все растаскала на пироги. Что прикажешь делать? на старости лет не подраться же!184

181 G PI, S. 255. 182 Gogol: „Die Geschichte, wie sich Ivan Ivanovič mit Ivan Nikiforovič zerstritt“, S. 535 f. 183 Die folgenden Ausführungen zur Erzählung Ivan Fedorovič Špon’ka i ego tetuška sind in ausführlicherer Form in meinem Aufsatz zum Thema nachzulesen: Schubert, Caroline: „Schrift als Materialrest. N. V. Gogol’s Ivan Fedorovič Špon’ka i ego tetuška (Ivan Ivan Fedorovič Špon’ka und sein Tantchen)“, in: Müller-Tamm, Jutta/Schubert, Caroline/Werner, Klaus Ulrich (Hg.): Schreiben als Ereignis. Künste und Kulturen der Schrift. Paderborn 2018, S. 111–134. 184 G IŠ, S. 283.

Humoristische Defiguration in den Večera und Mirgorod  

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Mit dieser Geschichte ist eine Geschichte passiert: uns hat sie der aus Gadjač gekommene Stepan Ivanovič Kuročka erzählt. Ihr müsst wissen, dass mein Gedächtnis, unmöglich zu sagen, was das für ein Mist ist: erzähl, oder erzähl nicht, alles eins. Gieß Wasser in ein Sieb, das ist dasselbe. Da ich diese Sünde von mir kenne, habe ich ihn eigens gebeten, sie in ein Heftchen zu schreiben. Nun, gebe ihm Gott Gesundheit, er war immer gut zu mir, so schrieb er’s auf. Ich legte es auf das kleine Tischchen; ihr, denke ich, kennt es wohl: es steht in der Ecke, wenn du zur Tür hereinkommst… Ach ja, ich habe ja vergessen, dass ihr noch nie bei mir wart. Meine Alte, mit der ich schon dreißig Jahre zusammenlebe, hat nie lesen und schreiben gelernt; und wozu es verheimlichen. Da bemerke ich, daß sie Piroggen bäckt auf irgendeinem Papier. Piroggen bäckt sie, meine freundlichen Leser, erstaunlich gut; bessere Piroggen werdet ihr nirgendwo essen. Ich schaute also auf den Boden der Pirogge, und schaue: geschriebene Worte. Als ob es mein Herz gewusst hätte, gehe ich zum Tischchen – und vom Heft ist die Hälfte weg! Die übrigen Blätter hat sie alle für die Piroggen verwendet. Was sollst du da tun? Im Alter rauft man doch nicht!“

Die Erzählung betreibt einerseits die Imitation des mündlichen Rededuktus eines Erzählers, der eine Zuhörer- und nicht eine Leserschaft gewohnt ist. Das Geschehen wird in einer mündlichen Kultur angesiedelt, die wie die anderen Erzählungen der Večera explizit jenseits der städtischen Schrift-Kultur und des Kontexts Petersburgs situiert ist, in dem sie geschrieben und rezipiert wird. Derart scheint man oberflächlich betrachtet die Erzählung im Sinne der skaz-Ästhetik Gogol’s als eine die Schriftlichkeit des Textes verdrängende Redeillusion betrachten zu können, die Ėjchenbaums Forderung nach innerhalb einer „Ohrenphilologie“ untersucht werden könnte.185 Der Text ist jedoch nicht darauf angelegt, sein tatsächliches Medium über einen mündlichen Erzählduktus und die inhaltlich aufgerufene mündliche Erzählkultur des Dorfes vergessen zu machen. Der zu Beginn erzählte Akt der illiteraten Schriftzerstörung erweist sich weniger als Abwehr und Negation der Schriftkultur,186 sondern vielmehr als ein komplexer Hinweis auf die materielle Dimension der Schriftpraktik Russlands um 1800. Das Textfragment, in einer humoristischen Anspielung auf die romantische Ästhetik des Fragments, wird dabei als Materialrest ausgestellt. Über eine

185 Ėjchenbaum, Boris: „Illjuzija skaza“ / „Die Illusion des skaz“, in: Striedter, Jurij (Hg.): Texte der russischen Formalisten. Bd. 1. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1969, S. 160–167; vgl. dazu Ėjchenbaum: „Kak sdelana ‚Šinel’‘ Gogolja“ / „Wie Gogol’s ‚Mantel‘ gemacht ist“: Derart würde skaz als „[oft nicht-standardsprachliche] Redemanier, die im schriftlichen Text imitiert wird“ definiert werden können. Vgl. Drubek-Meyer/Meyer: „Gogol’ medial“, S. 140: Die Autoren folgen der skaz-Definition Viktor Vinogradovs, die er in seinem Aufsatz „Das Problem des skaz in der Stilistik“ (1925) untersucht hat: Vinogradov, Viktor: „Das Problem des skaz in der Stilistik“, in: Jurij Striedter (Hg.), Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa. München 1971, S. 168–207. 186 Siehe zur Schriftzerstörung in der russischen Literatur Strätling: „Das tote Buch“. Die Perspektive, dass Gogol’s Text eine „Phono-Poetik“ betreibe, „die Fragmente als Zeugnisse rabiater Schriftkritik ausgibt“ (ebd., S. 106), wird in meiner Analyse erweitert. Ich gehe davon aus, dass eine ‚Schriftkritik‘ durch die Fragmentierung des Textes und eine vorgeschobene mündliche Erzählkultur vor allem als eine Hervorhebung der materiellen Dimension des Schriftlichen betrieben wird, die die romantische Schriftutopie der Transzendenz karikiert.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

vorgeschobene mündliche Erzählkultur, die die Zerstückelung eines geschriebenen Textes als Kollateralschaden mitführt, konterkariert und spiegelt Gogol’s Erzählung damit gerade eine poetische Ästhetik des Geistes und Gefühls, die die materiellen Aspekte der Schrift- und Buchproduktion in Richtung auf das immaterielle Unendliche zu überwinden versucht. Vor allem deren in eschatologischer Hinsicht figuraler Aspekt durch die Einführung der Erzählung ad absurdum geführt – nicht ein ins Unendliche vorausweisendes Textstück wird präsentiert, sondern eine Makulatur, ein zufälliger Materialrest. Die Defiguration der Schrift, bei der Text zerstört und als Parodie eines Druckvorgangs zugleich unabsichtlich im Akt des Backens reproduziert wurde (grotesk gespiegelt in der Verkürzung des Lexems pečatat’ [dt. „drucken“] zu peč’ [dt. „backen“]), stellt sich damit auch als Defiguration der romantischen Ästhetik der Figur dar. Der dabei ausgedrückte Zweifel an der Erkennbarkeit von Totalität führt jedoch in dieser Phase von Gogol’s Schaffen weniger in eine Kritik der Schrift,187 sondern vielmehr zu einem humoristischen Hinweis auf die endliche Materialität der Schrift – ihre Sichtund Tastbarkeit – und deren kreatives Potential. Getroffen wird damit auch der durch die Ästhetik der Empfindsamkeit beeinflusste Gedanke einer geistigen Belebung durch Schrift, den die romantische Fragmentästhetik mittransportiert. Die durch diesen Einfluss mitgetragenen Begriffe und Verfahren schriftlichen Austauschs und emotionaler Nähe unterläuft das Fragment Ivan Fedorovič Špon’ka i ego tetuška. Zunächst erweckt bereits die Unterteilung des Textes in nummerierte Kapitel (1. Ivan Fedorovič Špon’ka, 2. Doroga (Die Reise), 3. Tetuška (Das Tantchen), 4. Obed Das (Mittagessen) und 5. Novyj zamysl tetuški (Der neue Plan der Tante) den Anschein einer katalogartigen Abarbeitung seiner literarischen Vorlagen etwa über das Motiv der Reise. Die in die Erzählung integrierten Briefe stellen zudem über ihre vordergründige Motivierung der folgenden Reise Ivan Fedorovičs in mutwilliger Absicht profane Bemerkungen über Speisen, löchrige Wäsche und gar Tierfütterung aus. Diese parodistische Ausstellung sentimentalistischer Motive, die üblicherweise gerade über die fiktionale Integration des schriftlichen Mediums etwa in Form des Briefes Imaginationen emotionaler Nähe transportieren und auslösen wollen, erfolgt über die virulente Thematisierung von Motiven des Körperlichen, Niedrigen, ja Ekelerregenden. Gogol’s Text reiht sich dabei in eine zu dieser Zeit in Russland bereits selbst literarische Tradition zu haben scheinende Gattung der Fragmentparodie ein: Etwa erschienen in den Jahren 1829–30 im Moskovskij telegraf unter dem Namen Poėtičeskaja čepucha, ili Otryvki iz novogo al’manacha „Literaturnoe zerkalo“ (Poetischer Unsinn, oder Fragmente aus dem neuen Almanach „Literarischer Spiegel“) parodistische Gedichte und Prosatexte, die dann auch als ganzer Almanach 1832 in der Ausgabe Novyj živopisec obščestva i literatury von Nikolaj Polevoj herausgegeben wurden:188

187 Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler. Frankfurt a. M. 1983, S. 49–129. Vgl. Strätling: „Das tote Buch“, S. 104 f. 188 Morozov, Aleksandr A.: Poėtičeskaja čepucha, ili Otryvki iz novogo al’manacha Literaturnoe zer-

Humoristische Defiguration in den Večera und Mirgorod  

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Наша русская литература доныне состоит из отрывков; по крайней мере, главное содержание оной составляют отрывки литературы французской, немецкой, английской и проч., и проч. Сочинения новых наших поэтов (не говоря о немногих исключениях) суть сборники отрывков из Байрона, Гëте, Ламартина, Делавина, Шиллера и проч. Мы любим журналы и альманахи не потому ли, что это сборники отрывков? Наконец, без всяких фигур, наша словестность завалена отрывками из поэм, комедий, опер трагедий, драм, которые вполне не существуут и никогда не будут существовать. […] Сообразив все сие, мы надеемся угодить читателям, представляя отрывки из собрания отрывков, т.е. отрывки из альманаха, который предпологаем никогда издать.189 Unsere russische Literatur besteht bisher aus Fragmenten; zumindest versammelt ihr Hauptinhalt Fragmente aus der französischen, deutschen, englischen Literatur u.s.w., u.s.w. Die Werke unserer neuen Poeten (außer wenigen Ausnahmen) sind im Wesentlichen Sammlungen von Fragmenten aus Byron, Goethe, Lamartine, Delavigne, Schiller und weiterer. Lieben wir Journale und Almanache denn nicht deswegen, weil sie Sammlungen von Fragmenten sind? Schließlich ist unsere Literatur, ohne jede Gestalt, überhäuft von Fragmenten aus Poemen, Komödien, Opern, Tragödien, Dramen, die vollständig nicht existieren und nie existieren werden. […] Da wir dies alles verstanden haben, hoffen wir den Lesern gefällig zu sein, indem wir Fragmente aus einer Sammlung von Fragmenten vorstellen, d. h. Fragmente aus einem Almanach, den wir vorschlagen niemals herauszugeben.

In enger Verbindung mit der Entwicklung des literarischen Marktes und der Literaturkritik in Russland (siehe Kap. 2) bestätigt die Fragmentparodie dieses als „literarisches Faktum“190 und zielt gerade auf die vermeintliche Reflexionsdimension des Fragments. Humoristisch weist sie auf dessen materielle Basis und spöttisch auf dessen prätentiöse Unendlichkeitsästhetik hin. Die gegenwärtige Literatur sei bez vsjakich figur („ohne jede Gestalt“) und zavalena otryvkami („durch Fragmente überhäuft“). Das Fragment hat sein Potential, gerade in seiner Begrenztheit auf eine unendliche Ganzheit zu deuten, eingebüßt – die Figur ist zur Defiguration zerfallen, die ihre Verbindung zu einer sie übersteigenden Bedeutung verloren hat. Die poėtičeskaja čepucha hält dieser Literatur humoristisch den Spiegel vor,191 indem sie die Gattung des Fragments noch weiter ‚entleert‘: Sie versammelt wiederum Fragmente aus einem Almanach der Fragmente, den es nie gegeben hat und nie geben wird.

kalo. Kommentarii, in: Ders. (Hg.): Russkaja stichotvornaja parodija (XIII – načalo XX veka). Vstup. st., podgod. teksta, primeč A. A. Morozova. Leningrad 1960, S. 728–734, hier 728 f. 189 A. Feokritov s tovariščami (Polevoj, Nikolaj Alekseevič): Poėtičeskaja čepucha, ili Otryvki iz novogo al’manacha Literaturnoe zerkalo. Ot izdatelej, in: Morozov (Hg.): Russkaja stichotvornaja parodija (XIII – načalo XX veka), S. 322–349, hier S. 322. 190 Tynjanov, Jurij N.: „Literaturnyj fakt“, in: Ders.: Literaturnaja ėvoljucija. Izbrannye trudy. Sostavlenie, vstupitel’naja stat’ja, kommentarii Vl. Novikova. Moskva 2002, S. 167–188, hier S. 169 f.; Ders.: „Literaturnaja ėvoljicija“, in: Ders.: Literaturnaja ėvoljucija, S. 189–204, hier S. 194 f. 191 Dabei finden sich zahlreiche Anspielungen auf konkrete Werke und Autoren, die teilweise auch am Almanach selbst teilnahmen.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

3.3 F iktion/Nichtfiktion der Arabeski: Präsenz zwischen ­Negativität und Positivität Die beiden Bände der Arabeski aus dem Jahr 1835 enthalten nichtfiktionale Essays sowie fiktionale Texte in einer nicht-kategorialen Anordnung. Die Texte Skul’ptura, živopis’ i muzyka (Plastik, Malerei und Musik), Neskol’ko slov o Puškine (Ein paar Worte über Puškin) und Ob architekture (Über die Architektur) des ersten Bandes sowie Malorossijskie pesni (Kleinrussische Lieder) und O kartine Brjulova (Über das Bild Brjulovs) des zweiten Bandes widmen sich Fragen der Ästhetik sowohl der verschiedenen Künste im Allgemeinen als auch der Ästhetik der Werke einzelner Künstler (Puškin) bzw. einzelner Werke (Poslednij den’ Pompei [Der letzte Tag Pompejis] von Brjullov). An historischen Gegenständen bzw. Fragen der Historiographie sind die Essays O srednich vekach (Über das Mittelalter), O vseobščej istorii (Über die Universalgeschichte), Vzgljad na Malorossiju (Blick auf Kleinrussland) und Al-mamun im ersten Band sowie Žizn’ (Leben), Schlözer, Müller und Herder und Dviženie narodov v V veke (Die Bewegung der Völker im fünften Jahrhundert) orientiert. Allein die Zuordnung des Textes Žizn’ lässt sich nicht eindeutig treffen:192 Obwohl als Narration des Fiktionalen präsentiert (der erste Satz beginnt mit: Bednomu synu pustyni snilsja son193 / „Einem armen Sohn der Wüste träumte“) und insofern als eine kurze Erzählung einzuordnen, ist er durch seinen Gegenstand den historiographischen Essays zuzuordnen. Letztlich legt Žizn’ damit noch stärker als die anderen, eindeutig essayistischen Texte der Sammlung deren eigene, einer fiktionalen Erzählung nahestehende narrative Verfahrensweise offen, wie im Folgenden weiter ausgeführt wird. Die Essays des Bandes – sowohl die historiographisch als auch die ästhetisch orientierten Essays – widmen sich dem Versuch, ihren jeweiligen Gegenstand als Ausdruck einer ihm in allen seinen Ausprägungen zugrundeliegenden Idee oder Einheit zu definieren, die im Text des diese beschreibenden Autors hervortreten müsse. Derart hat Susi K. Frank die Kernthematik der Arabeski als Auseinandersetzung mit Fragen um ‚Schein‘ und ‚Sein‘ bestimmt und erkannt, dass Gogol’ in diesem Zusammenhang gemäß dem von ihr untersuchten Diskurs des Erhabenen eine Ästhetik der Vergegenwärtigung gegen Abbildlichkeit/Mimesis als Täuschung setze.194 Die Erhabenheit des

192 So wird es etwa in der kritischen Akademija-Ausgabe in Band 8: Stat’i (dt. „Aufsätze“) aufgeführt; diese Ausgabe hat die Arabeski nicht in ihrer ursprünglichen Fassung belassen, sondern die Texte in Erzählungen und Aufsätze eingeteilt und damit über verschiedene Bände verteilt. Ausgaben der Werke Gogol’s in anderen Sprachen folgen mal dieser Einteilung, mal nicht. Vgl. Gogol, Nikolaj: Das Leben, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Aus dem Russ. übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Josef Hahn. München 1961, S. 732–43; Gogol, Nikolaj: Das Leben, in: Ders.: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Bd. 4. Essays und ausgewählte Stellen aus dem Briefwechsel mit Freunden. Hg. v. Angela Martini. Aus dem Russ. übers. v. Irmgard Lorenz. Stuttgart 1981, S. 59–61. 193 G Ž, S. 82. 194 Frank: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’, S. 161.

Fiktion/Nichtfiktion der Arabeski: Präsenz zwischen ­Negativität und Positivität 

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Textgegenstandes solle als solche wiederum im erhabenen Text im Sinne einer Offenbarung des Erhabenen in der aisthetischen Erscheinung des Gegenstandes vergegenwärtigt werden. Den historiographischen Essays liege dabei vor allem der Gedanke des providenie (dt. „Vorsehung“) zugrunde. Wie Susanne Fusso gezeigt hat, übernahm Gogol’ diesen wohl vor allem von Žukovskij.195 Fusso und zudem Robert Maguire betonen,196 dass es dem Erzähler dieser historiographischen Essays gelinge, eine überblicksartige Position einzunehmen, von der aus er in der Lage sei, die Einheit der von ihm beschriebenen mannigfaltigen Erscheinungsweisen einer diese hervortreibenden inneren Idee zu erkennen und zu vermitteln. Im Gegensatz zum Erzähler in Gogol’s fiktionalen Texten verliere er nicht die Kontrolle: His world ist self-contained and comfortingly patterned. Conflict and contradiction are explained as functions of some larger idea or principle, whose importance is jugded by the retrospective and extratextual criterion of „how things turned out“. By contrast, one of the great themes of Gogol’s fiction is the vanity of attempting to order the world, even the world of the past, in such a fashion.197

Gogol’ verfolgt in seinen historiographischen Texten einen engen Bezug zu den Konzepten Herders und Schlözers, von denen v. a. der letztere eine Transformation des Negativen (des Einzelnen, des Fragments im negativen Sinne) ins Positive, Systemische anstrebte.198 Im Text Žizn’ träumt der genannte „Wüstensohn“ von den antiken Hochkulturen Ägypten, Griechenland und Rom. Er ist, selbst einen Standpunkt auf dem Mittelmeer einnehmend, geographisch umringt von den ursprünglichen Zentren ihrer Territorien, die auf ihn blicken und zur Menschheit sprechen (Narody, slušajte! 199 / „Ihr Völker, hört!“200). Die Reiche werden ekphrastisch in einem Zustand der Unbeweglichkeit und Gleichzeitigkeit beschrieben. Ihnen werden verschiedene Attribute – der Vegetation, der Architektur, der Kultur – zugewiesen, die einem bestimmten Charakter entsprechen (Ägypten geheimnisvoll und erhaben, Griechenland sinnlich und fröhlich, Rom kriegerisch und stark). Die Reiche erläutern der Reihe nach (der Historie ihrer Vorherrschaft entsprechend, obwohl sie im Traum gleichzeitig existieren) der Menschheit ihre jeweilige Lebensphilosophie. (Ägypten: Leben für den Tod [Vse požiraet smert’, vse živet dlja smerti. Daleko, daleko do voskresenija, da i budet li kogda voskresenie.201 / „Alles frisst der Tod, alles lebt für den Tod! Weit, weit ist es bis zur Auferstehung,

195 Ebd., S. 163; Fusso, Susanne: Designing Dead Souls. An Anatomy of Disorder in Gogol. Standford 1993, S. 72. 196 Ebd., S. 5–19, insb. S. 7; Maguire, Robert: Exploring Gogol. Stanford 1994, S. 271 f. 197 Ebd., S. 272. 198 Vgl. Fusso: Designing Dead Souls, S. 18 ff. 199 G Ž, S. 83. 200 Gogol: Das Leben, S. 733. 201 G Ž, S. 83.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

wenn denn eine Auferstehung sein wird.“202); Griechenland: Leben für die Genüsse (Žizn’ sotvorena dlja žizni. […] Gljadi, kak vypuklo i prekrasno vse v prirode, kak dyšit vse soglasiem. Vse v mire […].203 / „Das Leben ist für das Leben geschaffen. […] Siehe, wie alles herausgebildet und schön ist in der Natur, wie alles Eintracht atmet. Alles ist in der Welt […].“204); Rom: Leben für weltlichen Ruhm (Naslaždenie v gigantskom želanii. Prezranna žizn’ narodov i čeloveka bez gromkich podvigov.205 / „Der Genuss liegt im gigantischen Wunsch. Verächtlich ist das Leben der Völker und des Menschen ohne dröhnende Heldentaten.“206). Schließlich neigen sich alle drei Reiche sowie ebenso velikaja Azija207 („das große Asien“208) und der Ararat, drevnij prapraščur zemli209 („der alte Ururvater der Erde“210), dem im Osten neugeborenen Christuskind zu, das eine kamenista zemlja211 („steiniges Land“212) und ein prezrenen narod213 („ein verachtetes Volk“214) hervorgebracht haben. Einerseits wird hier wie ebenso in Gogol’s anderen historiographischen Essays die Einheit der mannigfachen Erscheinungen des Lebens bestimmter historischer Epochen im Sinne einer generellen Idee der Epoche und ihrer Entwicklung in diesem Sinne ausgespielt (ähnlich wie im Text O srednich vekach [Über das Mittelalter]).215 Dies ermöglicht die Personifikation der ekphrastischen und zugleich metonymischen Beschreibungen der ‚Charaktere‘ der drei antiken Reiche. Auf ihren (An-)Blick folgt die Ansprache an den Jüngling. Ihre jeweiligen Lebensphilosophien werden schließlich überführt in die Philosophie des Christentums, vor dessen Ankündigung sie sich verneigen (Ägypten), sich beunruhigen (Griechenland), den Blick senken (Rom). Der Text eröffnet eine eschatologische Perspektive auf die Menschheitsgeschichte: Die Reiche Ägypten, Griechenland und Rom erahnen bereits die Geburt Jesu, die wiederum selbst die Ankündigung von Tod und Wiederauferstehung Jesu und der Heilslehre des Christentums darstellt. Die Lebensphilosophie der drei Hochkulturen tritt zurück vor der Eschatologie des Christentums.

202 Gogol: Das Leben, S. 733. 203 G Ž, S. 83. 204 Gogol: Das Leben, S. 733. 205 G Ž, S. 83. 206 Gogol: Das Leben, S. 734. 207 G Ž, S. 84. 208 Gogol: Das Leben, S. 734. 209 G Ž, S. 84. 210 Gogol: Das Leben, S. 734. 211 G Ž, S. 84. 212 Gogol: Das Leben, S. 734. 213 G Ž, S. 84. 214 Gogol: Das Leben, S. 734. 215 Vgl. Maguire: Exploring Gogol, S. 270 f.

Fiktion/Nichtfiktion der Arabeski: Präsenz zwischen ­Negativität und Positivität 

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Dabei wird die Gleichzeitigkeit der ekphrastischen Gegenüberstellung der historisch gesehen nachfolgenden Reiche in einem geographischen Panorama als ein zeitloser Stillstand vor dem „Jüngsten Gericht am Ende der Welt“ bezeichnet. Die ‚Erzählung‘ schafft also einen zeitlosen Zustand, der es zugleich ermöglicht, der Menschheitsgeschichte eine figurale Deutung aufzuprägen, innerhalb derer auch im diachronen Verlauf der Historie deren letztliche Bestimmung immer schon präfiguriert ist – im Sinne eines heilgeschichtlichen providenie. Dieses jedoch kann nicht erzählt werden. Die Erzählung verliert sich im Schweigen (dem typographischen Zusatz „…“), das sich an die sich in Ägypten, Griechenland und Rom ausbreitende Ahnung über die Bedeutung der Geburt des „Knäbleins“ anschließt. Unaussprechlich bleibt die Erfüllung des Heils, das Aufgehen aller Erscheinungen des Lebens in der Unendlichkeit Gottes selbst. Der Text muss Fragment bleiben, das jedoch in der Nicht-Erfülltheit des göttlichen Heils, die sie erzählt, bereits dieses Heil angekündigt sieht. Insofern äußert sich hier eine Vorstellung vom apophatischen Textfragment als Ankündigung des Göttlichen. Betrachtet man das Fragment Žizn’ als Essay in der Reihe der anderen Aufsätze der Arabeski zu historiographischen und ästhetischen Fragen, so erscheint der Text diesen insofern äquivalent. Als fiktionales Erzählfragment differiert der Text eklatant von den anderen Erzählungen der Arabeski. Das „Leben“, das der Text Žizn’ als Einheit der Geschichte in der Erwartung des göttlichen providenie begreift, ist in diesen fiktionalen Erzählungen ein immer ungeordnetes, ständig sich entwickelndes und sich aufgebendes, teuflisches (täuschendes, totes/leeres) und schöpferisches, also ambivalentes Chaos aus Einzelheiten. In diesen Erzählungen wird ‚Geschichte‘, der Verlauf der Narration, als kontingent gezeigt – als hätte alles auch anderes erzählt werden können, und könnte gar noch immer anders erzählt werden.216 Winzige Details lassen die Narration ihres Ganzen, ihrer Form, verlustig gehen,217 den Erzähler sich selbst diesem Akt ergeben. Im Text Žizn’ hingegen gibt der Erzähler quasi selbst in göttlicher Manier dem „Wüstensohn“ seinen Traum von der Vorhersehung der Ankunft Gottes auf Erden als ewige, ja zeitlose Geschichte der Menschheit ein. Auf der anderen Seite häufen sich in den fiktionalen Erzählungen der Arabeski die Beschreibungen des Ordnungsverlustes: Необыкновенная пестрота лиц привела его в совершенное замешательство; ему казалось, что какой-то демон искрошил весь мир на множество разных кусков и все эти куски без смысла, без толку смешал вместе.218

216 Lotman: „The Truth as Lie in Gogol’s Poetics“. 217 Vgl. zur wichtigen Rolle des Gerüchts (v. a. über Wunderbares, Fantastisches) als Motor des Erzählens bzw. als Sujet der Erzählung bei Gogol’ Markovič, V.: Peterburgskie povesti Gogolja. Leningrad 1989, S. 21 ff. 218 G NP, S. 23 f.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Die ungewöhnliche Buntheit der Gesellschaft versetzte ihn in die größte Verwirrung; es schien ihm, als hätte ein Dämon die ganze Welt in eine Unmenge kleiner Stücke gerissen und alle diese Stücke ohne Sinn und Verstand durcheinandergewirbelt.219

Die Wahrnehmung des Künstlers Piskarev in Nevskij Prospekt wird im wahrsten Sinne verrückt; Phantasma, Traum, Fiktion stellen eine Verschiebung aus, innerhalb derer Sinn/Repräsentation, ein Inneres/die Seele/das Leben verlorengehen. Die Teufelei der Imagination lässt die Stücke in allen ihren Einzelheiten hervortreten – präsent werden – gerade indem sie diese Leere umkreisen:220 Множество картин было разбросано совершенно без всякого толку; с ними были перемешаны и мебели, и книги с вензелями прежнего владетеля […]. Китайские вазы, мраморные доски для столов, новые и старые мебели с выгнутыми линиями, с грифами, сфинксами и львиными лапами, вызолоченные и без позолоты, люстры, кенкеты — все было навалено, и вовсе не в таком порядке, как в магазинах. Все представляло какой-то хаос искусств. Вообще ощущаемое нами чувство при виде аукциона страшно: в нем все отзывается чем-то похожим на погребальную процессию.221 Eine Menge Bilder lagen oder standen völlig ungeordnet durcheinander, dazwischen sah man Möbel und Bücher mit den Initialen des früheren Besitzers […]. Chinesische Vasen, Marmorplatten für Tische, alte und neue Möbel mit verschnörkelten Linien, Greifen, Sphinxen und Löwenpranken, vergoldete und nicht vergoldete Lüster und Ampeln – alles kugelte wild durcheinander und war nicht einmal so gut geordnet wie in einem Laden. Alles stellte eine Art Chaos der Künste vor. Überhaupt ist das Gefühl, das wir beim Anblick einer Auktion empfinden, einfach schrecklich: es macht sich etwas Ähnliches bemerkbar wie bei einem Leichenbegräbnis.222

Die Ökonomie des Marktes beraubt die Kunst ihres Lebens, das im „Chaos der Künste“ verloren geht. Ähnlich wie bei Stepan Ševyrev in seinem Aufsatz Slovesnost’ i torgovlja (Literatur und Handel) (siehe Kap. 2) wird die weltliche Ökonomie des Handels gegen einen Begriff der Kunst gesetzt, dessen jenseitige Orientiertheit die monetäre Bewertung nicht erlaubt und darin eine Entwertung der Kunst zum rein materiellen Gegenstand annimmt. Hier präsentiert sich in nuce die ganze Erzählung um die ‚Entleerung‘ der künstlerischen Werke Čartkovs, die durch seine Zuwendung zu Modemalerei und weltlichem Ruhm ihren künstlerischen Wert verlieren. Es ist die dämonische Macht des zum Leben erwachten Bildes, das ihn zu Beginn in diese Entwicklung treibt: „Что это? – думал он сам про себя,– искусство или сверхъестественное какое волшебство, выглянувшее мимо законов природы? Какая странная, какая непостижимая задача! или для человека есть такая черта, до которой доводит высшее познание, и чрез которую

219 Gogol, Nikolaj: „Der Newskijprospekt“, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen, S. 735–777, hier S. 751. 220 Vgl. Lachmann: „The Semantic Construction of the Void“, S. 20 f. 221 G P, S. 117 f. 222 Gogol, Nikolaj: „Das Porträt“, in: Ders.: Sämtliche Erzählungen, S. 664–734, hier S. 708.

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шагнув, он уже похищает несоздаваемое трудом человека, он вырывает что-то живое из жизни, одушевляющей оригинал. Отчего же этот переход за черту, положенную границею для воображения, так ужасен? или за воображением, за порывом, следует наконец действительность, та ужасная действительность, на которую соскакивает воображение с своей оси каким-то посторонним толчком, та ужасная действительность, которая представляется жаждущему ее тогда, когда он, желая постигнуть прекрасного человека, вооружается анатомическим ножом, раскрывает его внутренность и видит отвратительного человека. Непостижимо! такая изумительная, такая ужасная живость! или чересчур близкое подражание природе так же приторно, как блюдо, имеющее чересчур сладкий вкус?“223 „Was ist das?“, dachte er für sich. „Kunst oder irgendeine übernatürliche Zauberei, die zwischen den Gesetzen der Natur hervorgeschaut hat? Was für eine merkwürdige, was für eine unergründliche Frage! oder es gibt für den Menschen diese Linie, zu der die höhere Erkenntnis führt, und wenn er sie übertreten hat, entwendet er schon ein nie durch Menschenwerk zu Erschaffendes, er reißt irgendetwas Lebendiges aus dem Leben, das das Original beseelt. Warum ist der Übergang über die Linie, die für die Einbildungskraft gezogene Grenze, so schrecklich? oder es folgt auf die Einbildungskraft, auf den Ausbruch, schließlich die Wirklichkeit, diese schreckliche Wirklichkeit, auf die die Einbildungskraft von ihrer Achse mit einer Art abseitigem Ruck abspringt, diese schreckliche Wirklichkeit, die dem nach ihr Begierigen dann erscheint, wenn er einen schönen Menschen zu erfassen wünscht, sich mit einem anatomischen Messer bewaffnet, sein Inneres enthüllt und den ekelhaften Menschen sieht. Unbegreiflich! diese wundervolle, diese schreckliche Lebendigkeit! oder ist die allzu nahe Abbildung der Natur genauso zuwider wie ein Gericht, das einen allzu süßen Geschmack besitzt?“

Diese Textstelle aus der ersten publizierten Fassung der Erzählung Portret (Das Porträt) in den Arabeski kann wegen ihrer poetologischen Explizitheit als eine Schlüsselstelle in Gogol’s Werk angesehen werden. Die Tatsache, dass sie in den später publizierten Fassungen des Sovremennik von 1842 und der ersten Werkausgabe von 1842 nicht mehr erschien,224 regt zu Spekulationen über die Gründe ihrer Streichung an (die hier jedoch nicht weiterverfolgt werden können). Die Überlegung Čartkovs kreist um das faszinierende Potential der Einbildungskraft, einerseits als Ermöglichungsgrund für die menschliche Erkenntnis, andererseits als selbstgesteuerte (aus ihrer Bahn springende) Bewegung. In beiden Vorstellungen liegt die Faszination dieser Kraft darin, eine Linie in Richtung auf das Leben, die Wirklichkeit zu übertreten. Die Einbildungskraft führt den Menschen aus sich selbst heraus und macht ihn zu einem Schöpfer dessen, was er gerade nicht erschaffen können soll. Diese dämonische Überkreuzung von Kunst und Leben wird als arabesk-mäandernde Linie vorgestellt, die ein phantasmagorisches

223 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: „Portret, povest’“, in: Ders.: Arabeski. Raznyja sočinenija N. Gogolja. Teil 1. Sanktpeterburg 1835, S.  197–186, hier S.  108 f. Zitiert nach G III: Portret. (Povest’). Redakcija ‚Arabesok‘, S. 401–445, hier S. 405 f. 224 Die Stelle ist nur in der Fassung der Arabeski, der Erstpublikation, enthalten. Siehe G III: Portret. (Povest’). Redakcija ‚Arabesok‘, S. 401–445.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Chaos erzeugt.225 Verfolgt man diese Metaphorik zu ihrem Ende, wird die Vorstellung einer Linie jedoch hinfällig: Der „Ausbruch“ der Einbildungskraft (poryv) hat die Grenzlinie, die Repräsentation und Original trennt, zum Fleck werden lassen, innerhalb dessen sich das Leben regt. Der žalkij obman („traurige Betrug“) der Kunst (Glava iz istoričeskogo romana [Kapitel aus einem historischen Roman]) ist so traurig doch nicht – sie ist mehr als eine leere Hülle.226 Sie entwickelt scheinbar aus sich selbst heraus eine schaurige Kraft. Die Dämonie des Gemäldes, die wiederum vom Künstler Čartkov Besitz ergreift, treibt ihn von Ehrsucht und Eitelkeit zu Neid und Kunsthass. Er erkennt die Mangelhaftigkeit seiner Erzeugnisse: Но душевное волненье оттого не умирилось: все чувства и весь состав были потрясены до дна, и он узнал ту ужасную муку, которая, как поразительное исключение, является иногда в природе, когда талант слабый силится выказаться в превышающем его размере и не может выказаться; ту муку, которая в юноше рождает великое, но в перешедшем за грань мечтаний обращается в бесплодную жажду […]. Им овладела ужасная зависть […]. Он начал скупать все лучшее, что только производило художество. Купивши картину дорогою ценою, осторожно приносил в свою комнату и с бешенством тигра на нее кидался, рвал, разрывал ее, изрезывал в куски и топтал ногами, сопровождая смехом наслажденья.227 Doch seine seelische Erregung ließ sich dadurch nicht besänftigen; seine Gefühle und sein ganzes Wesen waren bis auf den Grund erschüttert, und er lernte jene entsetzliche Qual kennen, die als erschütternde Ausnahme mitunter in der Natur vorkommt, wenn ein schwaches Talent bemüht ist, sich in einer seine Potenz übersteigenden Form auszudrücken, und sich nicht ausdrücken kann; jene Qual, die im Jüngling Großes bewirken kann, sich jedoch in einem Mann, der nur um ein Gran das Alter der Träume überschritten hat, in hoffnungslosen Durst verwandelt […]. Ein entsetzlicher Neid […] hatte sich seiner bemächtigt. […] Er begann das Beste aufzukaufen, was die Kunst nur hervorgebracht hatte. Wenn er ein Bild um teures Geld gekauft hatte, trug er

225 Jampol’skij, Michail: Tkač i vizioner. Očerki istorii i reprezentacii, ili O material’nom i ideal’nom v kul’ture. Moskva 2007, S. 353; vgl. Lotman, Jurij M.: „Problema chudožestvennogo prostranstva v Proze Gogolja“, in: Ders.: Izbrannye stat’i. Bd. 1. Stat’i po semiotike i tipologii kul’tury. Tallin 1992, S. 433 ff.; vgl. Mann, Jurij: Poėtika Gogolja. Variacii k teme. Moskva 1996, S. 369–372. Über den mehrfachen Gebrauch des Begriffs dejstvitel’nost’ (dt. „Wirklichkeit“) und der Bemerkung zum čeresčur blizkoe podražanie („übermäßig nahe Abbildung“) an dieser Stelle könnte man sich fragen, ob dabei nicht bereits auf einen Begriff künstlerischen Schaffens Bezug genommen wird, der in Richtung auf den Realismus weist. Der großen Diskussion über die Frage, ob Gogol’ als Romantiker oder als Realist zu lesen sei, geht diese Arbeit nicht nach, sondern schließt sich vielmehr an einschlägige Forschungspositionen zur romantischen Tradition seines Werks an (siehe hierzu v. a. die zitierten Arbeiten von Jurij Mann). An der hier zitierten Textstelle ist für diese Arbeit vor allem bedeutsam, dass die Selbsttätigkeit der Einbildungskraft als eine Kraft betont wird, die sich der Kontrolle des Künstlers entzieht, was ihre Lebendigkeit und damit die Lebendigkeit der Kunst ausmacht, und dass diese Selbsttätigkeit als problematische Kategorie thematisiert wird, deren Potentiale gerade über eine bloße Ab- oder Nachbildung hinausgehen. 226 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: „Glava iz istoričeskogo romana“, in: Ders.: Arabeski. Teil 1, S. 41–64, hier S. 52. 227 G P, S. 114 f.

Fiktion/Nichtfiktion der Arabeski: Präsenz zwischen ­Negativität und Positivität 

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es vorsichtig in sein Zimmer und stürzte sich mit der Wut eines Tigers darauf, stieß hinein, riß es entzwei, zerschnitt es in Stücke, stampfte mit den Füßen darauf herum – und begleitete alles mit vergnügtem Gelächter.228

Die Unfähigkeit des Künstlers Čartkov, ein Werk zu schaffen, das von der sila sozdan’ja […] v duše229 („Schöpferkraft […] in der Seele“)230 herrührt, führt zu Akten der Zerstörung eben gegen jene Werke hoher Kunst, zu Wahn, schließlich zu Sprachverlust und Tod. Die eigensinnige Selbsttätigkeit der Kunst hat den Künstler Čartkov dämonisch verführt und ihn zu dieser zerstörerischen Defiguration getrieben. Diese Selbsttätigeit schließt wiederum ein Begriff der Kunst als Schöpferkraft einer ‚reinen‘ Seele des Künstlers aus. Was im Falle von Čartkov ein zerstörerisches Ende nimmt und von vornherein mit den Sünden des Menschen (Ehrsucht, Gier, Neid, Hass) verbunden ist, wird andernorts deutlicher als Triebkraft des Schöpferischen, der Imagination, des fiktionalen Erzählens gezeigt. Gerade die drohende Leere, der drohende Verlust von Einheit und Repräsentation, der sich in einer autonomen Kunst auftut, ist der Springquell der Poiesis, der poetischen Produktivität.231 Dies wird das folgende Kapitel zu den Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) erweisen, die den zweiten Band der Arabeski abschließen – insofern deren ‚letztes Wort‘ darstellen – so wie der Text Žizn’ den zweiten Band als erster Text einleitet. Beide bilden insofern eine Klammer, indem sie jeweils die beiden Tendenzen des Gogol’schen Arabesken-Begriffs umreißen. In der Schwierigkeit, das Fragment Žizn’ zuzuordnen – fiktionale Erzählung oder historiographischer Aufsatz – kann man die Vermutung Robert Maguires bestätigt sehen, dass ein Text Gogol’s, der seine Vorstellung von idealer Geschichtsschreibung verwirklicht hätte, letztlich von fiktionaler Prosa ununterscheidbar gewesen wäre.232 Wie diese fiktionale Prosa in der Sammlung Arabeski bleibt Žizn’ fragmentarisch, jedoch auf positive Weise, in der Art der historiographischen Essays Gogol’s: Gerade als rückschauende Reflexion wird eine figurale Geschichtskonzeption als unerfüllte Ankündigung erzählt. Dabei führt das Fragment zugleich Gogol’s ästhetische Ansichten, wie sie etwa im Aufsatz Ob architekture (Über die Architektur) ausgedrückt werden, mit seiner geschichtsphilosophischen Betrachtungsweise zusammen, indem Kunst und Kultur ebenso als Ausdruck einer bestimmten Epoche unter dem weiten Schirm der Heilsgeschichte erscheinen. Die These, dass Gogol’s Sammlung der Arabeski

228 Gogol: „Das Porträt“, S. 705. 229 G P, S. 112. 230 Gogol: „Das Porträt“, S. 702. 231 Vgl. Lachmann: „The Semantic Construction of the Void“, S. 23 ff. Vgl. zum Begriff der Poiesis als poetischer Produktivität in der Romantik: Zill, Rüdiger: „Produktivität/Poiesis“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd. 5. Hg. v. Karlheinz Barck et al. Stuttgart/Weimar 2010, S. 40–86, hier S. 60–63. 232 Maguire: Exploring Gogol, S. 272.

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insgesamt – sowohl deren Ästhetik der Vergegenwärtigung, die sich von einem mimetischen Repräsentationsprinzip der Kunst abkehrt, als auch die mäandernde Mannigfaltigkeit der Narration der fiktionalen Texte – mit Friedrich Schlegels Begriff der Arabeske parallelisiert werden könnte,233 sollte weiter differenziert werden. Es scheint sich vielmehr über die Zusammenstellung der Sammlung aus historiographischen und kunstphilosophischen Aufsätzen und fiktionalen Texten ein Konflikt aufzutun, der dem Begriff der Arabeske bei Gogol’ (nicht explizit artikuliert) inhärent ist und der auch bei Friedrich Schlegel eher indirekt zutage tritt. Auch bei Schlegel ist die Arabeske Ausdruck eines ursprünglichen Prinzips der Fantasie, ist der arabeske Text autonom und vermag es gerade hierdurch, auf seinen Ursprung zu reflektieren. Insofern ist der arabeske Text durch den Geist bestimmt, besitzt eine selbstreflexive Form. Doch zugleich drückt diese arabeske Form ein Verfehlen aus, das Streben zu einem Ursprung, den sie nie erreicht. Ihre Autonomie ist zugleich Voraussetzung für ihr Suchen und dessen Aufgeben und Hindernis. Die Offenheit der Form ermöglicht ihr Denken als Figur, in der ihr Erkenntnisziel aufscheint, und bremst es zugleich mit ihren schlingernden Abwegen aus. So vermag sich die Arabeske von vornherein nicht abzugrenzen gegen einen gestaltlosen Hintergrund, vor dem sie sich freilich tendenziell durch ihre Harmonie abheben kann, doch prinzipiell stellt sie selbst ein Randornament dar. Dieses ist nun als Marginalie selbst ins Zentrum gerückt. Dass bei Friedrich Schlegel gerade die Trivialliteraturen seiner Zeit diesen Hintergrund bilden, ist auch für die folgende Deutung von Gogol’s Zapiski sumasšedšego von großem Interesse. In Gogol’s fiktionalen Erzählungen der Arabeski ist der drohende Verlust einer im arabesken Text angedeuteten, zwischen den mutwilligen Verzweigungen der Fantasie fragmentarisch aufscheinenden Repräsentation der Innerlichkeit/der Seele/ des Geistes ständig präsent. Dieser wird letztlich bei Schlegel eher indirekt im Eingeständnis des Verwandtschaftsverhältnisses von Arabeske und Trivialliteratur und des „kränklichen Witzes“234 der Fantasie thematisiert. Kreatives Potential und die Gefahren einer vollkommenen Willkürlichkeit, die aus der Selbsttätigkeit – sprich Lebendigkeit – des autonomen künstlerischen Imaginationsaktes entspringen, artikulieren sich bei Gogol’ gerade im fiktionalen Text. An Gogol’s Gegenüberstellung und gleichzeitiger Versammlung von nichtfiktionalen und fiktionalen Texten in den Arabeski wird damit die Zwiespältigkeit eines arabesken Formkonzeptes verdeutlicht. Präsenz und Lebendigkeit, die in den Essays über aisthetische Erscheinungen als Ausdruck einer figural sich in ihnen niederschlagenden Bestimmung vergegenwärtigt werden, haben in den fiktionalen Texten eine Wertigkeit des Unheimlichen: Sie zeigen Präsenz trotz und durch Absenz einer Bedeutung verleihenden Vorsehung. Aus dieser Perspektive besitzt die ihnen eigene Lebendigkeit einen Mangel und eine Falschheit, ist eine Lebendigkeit des Toten. Und zugleich stellt gerade dieser immer wieder

233 Frank: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’, S. 163. 234 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 329.

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artikulierte Mangel und Verlust das Potential der Kreation, das Verspielte des fiktionalen Textes dar. Letztlich muss diese Differenz auch als eine divergente Erzähllogik erkannt werden: Ideale figurale Ordnung, ein ‚geordnetes Chaos‘ wie in den Lebensweisen und Erscheinungen des Mittelalters (O srednich vekach [Über das Mittelalter]), lässt sich nur in der Rückschau erzählen. Das ‚Jetzt‘ des Erzählens, das trotz seines Präteritums seine Logik durchdringt,235 erlaubt jene vorgeprägte Ordnung nicht, es fächert sich vielmehr als potentiell unendlich verästeltes Dickicht der Möglichkeiten auf. Es ist, auch wenn ihm durch einen figuralen Formbegriff ein Moment der Vorsehung aufgeprägt werden soll, doch zugleich durch freie Willkürlichkeit und eine Zufälligkeit geprägt, als die sich die Selbsttätigkeit der Einbildungskraft dem imaginierenden Subjekt darstellen kann. Eben aus diesem Grunde steht das Vorwort der Arabeski und damit die Sammlung insgesamt, ästhetisch auch zwischen den Večera und der Sammlung der Vybrannye mesta: Im Vorwort der Arabeski tritt Gogol’ noch indirekt in die Position des rückschauenden Autors, der in seinen Schriften eine Wahrheit erkennt. Vollends führt er das, was dabei nur angedeutet ist, im Vorwort und dem Zaveščanie der Vybrannye mesta aus. Aus dem Jenseits, der Position, von der aus die figurale Erfüllung einzig wirklich erkannt werden kann, spricht er zu seinem Publikum. Dennoch, und dies weist auf sein letztendliches Verstummen voraus, kann auch hier die tatsächliche Erfüllung des endlichen menschlichen Wortes/der endlichen menschlichen Schrift mit dem Geist Gottes nur angekündigt werden – so hat er seine Proščal’naja povest’ nie verfasst.

3.4 Wildes Schreiben 3.4.1 M  ontage der Kločki iz zapisok sumasšedšego (Fetzen aus den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen) Die Zapiski sumasšedšego (Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen), vielleicht nicht zufällig der letzte – gewissermaßen den Schlusspunkt, das Fazit setzende – Text der zweiteiligen Sammlung, stellen in erzähltechnischer Hinsicht die radikalste Variante der in den Arabeski versammelten fiktionalen Texte dar. Darin sind die Tagebucheinträge eines Schreibers zu finden, die zunächst noch in chronologischer Abfolge präsentiert sind, dann zunehmend obskure Datumsangaben tragen, die nicht mehr eindeutig auf ihr zeitlogisches Verhältnis zu den anderen Einträgen zu schließen erlauben. Die Erzählung kommt als eine Collage zusammengefügter Textabschnitte daher, deren innere Kohärenz immer mehr abnimmt. Die Erzählung führt den Verlust von Textordnung/Repräsentation/innerem Wesen der Sprache vor, den auch die anderen fiktionalen Erzählungen der Arabeski thematisierten. Immer wieder ist in

235 Hamburger, Käthe: Logik der Dichtung. Stuttgart 1968, S. 61 ff.

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ihnen die eigene vermeintliche Leere, die eine Rede von der Fülle des scheinbar wesenhaften Anwesenden nur verdeckt, zum Fokus des Erzählten geworden. Als Fiktion eines Schreibprozesses betrachtet, wird dieser Vorgang in der Erzählung Zapiski sumasšedšego gerade dem Akt des Schreibens und seiner imaginativen Potentialität zugeordnet. Der Titel Kločki iz zapisok sumasšedšego (Fetzen aus den Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen), unter dem die Erzählung in der Erstausgabe des zweiten Bandes 1835 erschien,236 thematisiert damit gerade diesen Vorgang und seine erzählstrukturelle Ausprägung. Die von einem unbekannten und ungenannten Herausgeber vermutete Geisteskrankheit des Schreibers beurteilt den Text als inkohärente Anhäufung von Fetzen. Doch wie dieses Kapitel zeigen wird, ist gerade der Verlust einer kohärenten Zeichen- und Weltordnung dabei ein Quell für ein schöpferisches Potential, das eben in den sprunghaften und obskuren Assoziationsketten liegt, die ein Schreibprozess dem sich ihm hingebenden Subjekt eingibt. Die drohende Gefahr des Subjektverlustes, an die bereits der Titel gemahnt, liegt auf der Kehrseite dieses kreativen Akts. Letztlich offenbart sich an dieser Erzählung am deutlichsten in Gogol’s Werk die Tendenz einer der materiellen Dimension von Schreiben und Schrift eine ästhetische Relevanz zuerkennenden Schriftpoetik. Insofern bietet das Verfahren der „poetischen Akkumulation der meloči“237 (dt. „Nichtigkeiten“), das die Zapiski sumasšedšego wie kein anderer Text Gogol’s praktizieren, nicht unberechtigt eine Projektionsfläche für eine formalistische Deutung als „Montagetechni[k] avant la lettre“.238 Diese Projektionsfläche ergibt sich gerade aus einer Verschärfung des im Begriff der Arabeske bzw. einer romantischen Formästhetik angelegten Konflikts zwischen einem Willkommen gegenüber einem Formverlust, der unvermeidbar erscheint und zugleich in einem Begriff des Figürlichen zu sublimieren versucht wird. Doch die ständige Verfehlung des Unendlichen im Endlichen bleibt eine Verfehlung; und dem Willkommen einer fehlenden Ganzheit gerade in der Aussicht auf ihre zukünftige Erfüllung steht ein tiefes Bedauern – bzw. eine humoristische Bearbeitung, siehe dazu auch das vorige Kap. 3.2 – gegenüber. Fragmente wie die Zapiski sumasšedšego, deren Kombination als Vorausdeutung avantgardistischer Montage und Materialästhetik anmuten könnten, sind daher doch zugleich in diesem Konflikt tief verwurzelt, und ihre formalistische Deutung ist in diesem Sinne ahistorisch. Ob sich hier eine Moderne ankündigt, die eine Materialästhetik der Avantgarde und den Formalismus als einen theoretischen Begleiter ausbilden kann, kann in dieser Arbeit nicht diskutiert werden.239

236 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: „Zapiski sumasšedšego“, in: Ders.: Arabeski. Raznyja sočinenija N. Gogolja. Teil 2. Sankt-Peterburg 1835, S. 234–276, hier S. 235 (dort steht der Titel Kločki iz zapisok sumasšedšego). 237 Hansen-Löve: „‚Gøgøl’‘. Die Poetik der Null- und Leerstelle“, S. 194. 238 Ebd. 239 Hierbei, mit aller Vorsicht vor solchen Rückprojektionen, müsste die Frage im Vordergrund stehen, inwiefern sich der Konflikt eines Formbegriffs wie der Arabeske zwischen Formverlust und prospektiver Ganzheit letztlich historisch betrachtet in Richtung auf die Moderne entwickelt und welche

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Der Text beginnt mit dem Tagebucheintrag vom dritten Oktober. Wir erfahren, dass der Schreiber des Tagebuchs zugleich ein Schreiber im Dienst ist, der im Ministerium Dokumente kopiert – und dies höchst eigenwillig erledigt: Признаюсь, я бы совсем не пошел в департамент, зная заранее, какую кислую мину сделает наш начальник отделения. Он уже давно мне говорит: „Что это у тебя, братец, в голове всегда ералаш такой? Ты иной раз метаешься как угорелый, дело подчас так спутаешь, что сам сатана не разберет, в титуле поставишь маленькую букву, не выставишь ни числа, ни номера“. Проклятая цапля! он, верно, завидует, что я сижу в директорском кабинете и очиниваю перья для его превосходительства.240 Ich muß gestehn, ich wäre überhaupt nicht ins Departement gegangen, wußte ich doch schon jetzt, was für eine saure Miene unser Abteilungsleiter machen würde. Schon lange spricht er so mit mir: „Was hast du, Freundchen, nur immer für ein Chaos im Kopf? Manchmal rennst du wie angestochen hin und her, bisweilen wirfst du eine Akte so durcheinander, daß nicht einmal der Satan daraus schlau wird, im Titel schreibst du Kleinbuchstaben, führst weder Datum an noch laufende Nummer.“ Verfluchter Stänker! Gewiß ist er neidisch, weil ich im Kabinett unseres Direktors sitze und für ihn die Federn zuschneide.241

Die Information, dass der Schreiber des Tagebuchs offenbar die zu kopierenden Texte verwirrt und dekontextualisiert, ist wiederum als Zitat wiedergegeben. Der Schreiber – wie vom Abteilungsleiter anscheinend schon vermutet, durch eine Geistesverwirrtheit – fügt sich nicht in die Rolle des mechanischen Kopisten, sondern nimmt selbst die Position eines Autors ein und erzeugt damit Textchaos. Wie sich bald herausstellt, prägt dieses Verfahren nicht nur offenbar seine Arbeit im Ministerium, sondern seinen ganzen Tagebuchtext, der sich als eine Collage aus Fragmenten der vom Schreiber rezipierten Texte darstellt.242 Es finden sich etliche Verweise einerseits auf bereits zu jener Zeit kanonische bzw. sehr bekannte literarische Werke, die als Referenztexte immer präsent waren (wie Cervantes’ Don Quixote und Sternes Tristram Shandy, Cervantes’ und E. T. A. Hoffmanns literarische Bearbeitungen des Themas der schreibenden Tiere – Berganza und nicht zuletzt Kater Murr), zudem etwa auf Friedrich Schillers Drama Don Carlos. Dabei liest der Schreiber, wie er selbst mehrmals berichtet, auch die Zeitung – mit Vorliebe die Severnaja Pčela, die zuvor bereits erwähnte Petersburger Tageszeitung, in der hauptsächlich über Auslandsnachrichten geschrieben wurde. Abgeschrieben, wieder-, neugeschrieben und ‚verzerrt‘ wird hier also die

Spielarten die Auseinandersetzung mit der Problematik seiner Ambivalenz zwischen Positivität und Negativität hierbei erfährt. Dabei wäre auch zu klären, ob oder wie letztendlich das in der Frühromantik betonte Prospekt des Absoluten im Fragment innerhalb dieser diachronen Entwicklung behandelt wurde. 240 G ZS, S. 196. 241 Gogol, Nikolaj: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen. Novelle. Neu übers. und hg. v. Peter Urban. Berlin 2009, S. 5. 242 Vgl. den Aufsatz von Drubek-Meyer/Meyer: „Gogol’ medial“, S. 126 f.

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Literaturgeschichte, die auch eine Mediengeschichte ist. Reflektiert, ausgestellt oder ‚entblößt‘ werden in dieser Fiktion eines prozessualen Schreibaktes auch Ästhetik und Habitus von Rezeption und Produktion der Schrift. In einem zwar etwas anderen Geiste, aber doch ähnlich wie Chlestakov, dem schelmischen falschen Revisor, lebt der Schreiber der Zapiski sumasšedšego anscheinend „durch die Literatur“.243 Chlestakov rühmt sich seiner erfundenen Erfolge als Autor und des hohen Honorars, das er von Smirdin für seine Texte erhalte.244 Er hat eine Fantasie, die ihn zu Erfindungen anstiftet,245 mit der er spontan und scheinbar mühelos, immer auf seinen monetären und sozialen Vorteil bedacht, Tatsachen erfindet. Chlestakov erscheint wie ein dreister, der Schreiber der Zapiski sumasšedšego wie ein unverständiger Autor einer lubočnaja literatura, die sich aus immer wieder abgeschriebenen fremden Texten zusammensetzt. Dabei hat Merežkovskij richtig bemerkt, dass Chlestakov insofern eine Figur der Leichtigkeit darstellt, deren teuflisches (lügnerisches) Potential im Sinne der Gogol’schen pošlost’ (dt. „Niedrigkeit“/„Gemeinheit“) darin bestehe, Gedanken auf einen „kleinen, in der Mitte liegenden Punkt“ zurückzuschrumpfen.246 Diese Art der Verflachung oder Einebnung wird in den Zapiski sumasšedšego noch expliziter als ein intertextuelles Schreibverfahren gezeigt, das ein besonderes imaginatives Potential enthält. Allein durch die Form des ganzen Textes wird die empfindsame Tagebucherzählung zitiert (später noch verstärkt durch das Briefmotiv) und bereits durch den heftigen, ständig wütend-erregten und spöttischen Tonfall des Schreibers gebrochen. Der Text greift dabei eine empfindsame Schriftästhetik auf und entblößt sie auf parodistische Weise. Am deutlichsten ist dies in der voyeuristischen Fantasie des Schreibers, die ihm die Entfaltung einer Erotik des Weiblichen als Unberührbares erlaubt, dessen Annäherung gerade nur der einsame, imaginative Schreibakt erlaubt: Хотелось бы заглянуть туда, на ту половину, где ее превосходительство,  – вот куда хотелось бы мне! В будуар: как там стоят все эти баночки, скляночки, цветы такие, что и дохнуть на них страшно; как лежит там разбросанное ее платье, больше похожее на воздух, чем на платье. Хотелось бы заглянуть в спальню… там-то, я думаю, чудеса, тамто, я думаю, рай, какого и на небесах нет. Посмотреть бы ту скамеечку, на которую она становит […] свою ножку, как надевается на эту ножку белый, как снег, чулочек… ай! ай! ай! ничего, ничего… молчание.247 Ich möchte einen Blick werfen, in die andere Hälfte, wo Ihre Exzellenz ist, – dorthin möchte ich! Ins Boudoir: wie sie dort stehen, alle diese Döschen, Gläschen, und diese Blumen, an denen

243 G R, S. 49 (III, 6): „Я, признаюсь, лутературой существую.“ 244 Ebd., S. 48 f. (III, 6). 245 Ebd., S. 36 (II, 8): „Иногда что-нибудь хочется сделать – почитать, или придет фантазия сочинить что-нибудь […].“ 246 Mereschkowskij, Dimitrij: Gogol und der Teufel. Deutsch von Alexander Eliasberg. Hamburg/ München 1963, S. 48. 247 G ZS, S. 199 f.

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nur zu riechen man nicht wagt; wie dort ihr leicht hingeworfenes Kleid liegt, das mehr der Luft gleicht als einem Kleid. Ich möchte einen Blick werfen in das Schlafzimmer … dort, denke ich, ist das Paradies, das es nicht einmal im Himmel gibt. Schauen auf das Bänkchen, auf das sie […] ihr Füßchen setzt, wie über dieses Füßchen das wie Schnee weiße Strümpfchen gestreift wird … oje, oje! nichts, nichts … Schweigen.248

Die Pünktchen als Markierungen von Auslassungen und das Wort „Schweigen“ werden im ganzen Tagebuchtext mehrmals wiederholt. Eine übertriebene Präsenz haben sie jedoch an denjenigen Stellen, in denen das Begehren des Schreibers über das Symbol des Weiblichen thematisiert wird. In der Erzählung treten die Auslassungspunkte als bereits in der empfindsamen Literatur überstrapaziertes Verfahren zur Denotation erhabenen Schweigens als Zitat hervor. Das Pünktchen bezeichnet damit hier nicht ein beredtes Schweigen sondern vielmehr einen Repräsentationsverlust (wie bereits bei Puškin eingesetzt und von den Formalisten in ihrem Sinne analysiert). 249 Die Schrift, weil sie da ist, kann nicht ‚schweigen‘ – sie ist sichtbar, solange sie nicht dem Weiß der Seite weicht. Durch die Häufung dieses Verfahrens, seine ständige, deren erhabene Schwere entleerende Zitation, wird eine Schriftästhetik ‚entblößt‘,250 innerhalb derer Schreibakt und Schriftrezeption einen Austausch und Kontakt liebender Seelen ermöglichen. Der Schreibakt, dessen libidinöse Potentiale gerade in seiner Einsamkeit entdeckt werden,251 artikuliert in der Erzählung zugleich ein soziales Begehren, das an die Rangtabelle (wieder eine Schrift, die ihre Zitation im Tagebuch findet)252 geknüpft ist. Begehrt wird in der Tochter des Departementdirektors gerade ein sozialer Rang, dem der Rang des Schreibers, einem Titularrat (9. Rang von 14 Rängen), weit untersteht. Derart ist der Schreibakt, in dem der Tagebuchtext entsteht, auch als ein Akt der Selbstermächtigung zu sehen, über den ein Titularrat sein nie zu erfüllendes soziales Aufstiegsbegehren artikuliert – und, wie oft in der Forschung vermutet und schon von Vissarion Belinskij nahegelegt,253 daran wahnsinnig wird. Insofern erscheint die

248 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 15 f. 249 Drubek-Meyer/Meyer: „Gogol’ medial“, S. 126; Obermayr, Brigitte: „Auslassungspunkte als Materialspur am Beispiel A. S. Puškins Evgenij Onegin (im Vergleich mit dem Sentimentalismus)“, in: Sonderforschungsbereich 626 (Hg.): Ästhetische Erfahrung: Gegenstände, Konzepte, Geschichtlichkeit. Berlin 2006, S. 4; Šklovksij, Viktor: „‚Evgenij Onegin‘. Puškin i Stern“, in: Ders.: Očerki po poėtike Puškina, Berlin 1923 (Reprint De Hague, Paris 1969), S. 194–220, hier S. 212. 250 Vgl. hier den Begriff der „Entblößung“ bei den Russischen Formalisten, etwa: Tynjanov, Jurij N.: „Ritm kak konstruktivnyj faktor sticha“, in: Ders.: Literaturnaja ėvoljucija. Izbrannye trudy. Moskva 2002, S. 31–70, hier S. 39. Ders.: „Dostoevskij i Gogol’ (k teorii i parodii)“, in: Ebd., S. 300–339, hier S. 319. 251 Vgl. Murašov: „Orthographie und Karneval“. 252 Drubek-Meyer/Meyer: „Gogol’ medial“, S. 127. 253 „[…] эту псичическую историю болезни, изложенную в поэтической форме […].“ Belinskij, Vissarion Grigor’evič: „O russkoj povesti i povestjach g. Gogolja“, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 1. Stat’i i recenzii. Chudožestvennye proizvedenija 1829–1835. Hg. v. N. F. Bel’cikov. Moskva 1953, S. 259–307, hier S. 297.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Erzählung als eine Fallstudie über eine paranoide Geisteskrankheit, die am sozialen Begehren ihren Ausgang nimmt. In diesem Sinne kann der Schreibakt als Artikulation dieses Begehrens gedeutet werden, der als Selbstermächtigung des Schreibers gegenüber einer Gesellschaftsordnung, die im Recht der schriftlichen Urheberschaft Macht bestätigt und erzeugt, in eine verzerrende Neuordnung dieser Welt- und Gesellschaftsordnung führt. Я сегодня все утро читал газеты. Странные дела делаются в Испании. Я даже не мог хорошенько разобрать их. […] Говорят, какая-то донна должна взойти на престол. Не может взойти донна на престол. Никак не может. На престоле должен быть король. Да, говорят, нет короля. — Не может статься, чтобы не было короля. […] Король есть, да только он где-нибудь находится в неизвестности.254 Ich las heute den ganzen Morgen die Zeitung. Seltsame Dinge geschehen in Spanien. Ich konnte sie nicht einmal ordentlich begreifen. […] Man sagt, eine Donna soll den Thron besteigen. Eine Donna kann den Thron nicht besteigen. Kann sie einfach nicht. Auf den Thron gehört ein König. Ja, man sagt, es gäbe keinen König, – es kann nicht geschehen, dass es keinen König gibt. […] Den König gibt es, nur befindet er sich irgendwo an einem unbekannten Ort.255

Mehrere Tage später, nach einem intensiven Nachdenken über die spanische Frage, hat der Schreiber die Lösung gefunden. Unter dem Datum God 2000 aprelja 43 čisla256 („Im Jahr 2000 den 43. April“257) schreibt er: Сегодняшний день — есть день величайшего торжества! В Испании есть король. Он отыскался. Этот король я. Именно только сегодня об этом узнал я. Признаюсь, меня вдруг как будто молнией осветило. Я не понимаю, как я мог думать и воображать себе, что я титулярный советник. Как могла взойти мне в голову эта сумасбродная мысль? Хорошо, что еще не догадался никто посадить меня тогда в сумасшедший дом. Теперь передо мною все открыто. Теперь я вижу все как на ладони. А прежде, я не понимаю, прежде все было передо мною в каком-то тумане. 258 Der heutige Tag – ist der Tag des größten Triumphs! In Spanien gibt es einen König. Er hat sich gefunden. Dieser König bin ich. Ich muß gestehen, es erleuchtete mich wie der Blitz. Ich verstehe nicht, wie ich denken und mir einbilden konnte, ich wäre Titularrat. Wie hat mir dieser aberwitzige Gedanke in den Kopf kommen können? Gut daß es bisher noch niemandem eingefallen ist, mich ins Irrenhaus zu stecken. Jetzt liegt alles offen vor mir. Jetzt sehe ich alles wie auf der flachen Hand. Und früher, ich verstehe es nicht, früher lag alles vor mir wie in einem Nebel.259

254 G ZS, S. 206. 255 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 29. 256 G ZS, S. 207. 257 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 30. 258 Gogol’: ZS, S. 207. 259 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 30 f.

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Die Rezeption des Thronnachfolgestreits in Spanien führt zu einer Selbstkrönung des Schreibers, der sich selbst an die leere Stelle setzt (die tatsächlich nicht leer war, sondern von Isabella II (der Tochter Ferdinands VII) unter der Regentschaft ihrer Mutter Christine besetzt war). Im Verlauf des Textes wird jedoch klar, dass der Schreiber dabei die Lage in Spanien, über die in der Severnaja Pčela zwischen 1833 und 1835 ständig berichtet wurde, mit den Ereignissen in Spanien unter Ferdinand II am Ende des 16. Jhs. vermischt, die Friedrich Schillers Drama Don Carlos verarbeitet. Der Schreiber spricht wiederholt von Ferdinand II, den Kapuzinermönchen und der Inquisition, die unter Ferdinand II den größten Einfluss erlangte.260 Der Ausruf Teper’ peredo mnoju vse otkryto („Jetzt liegt alles offen vor mir“) erscheint hierbei als deutliches Zitat aus dem Drama: „Ha! Nun endlich! Jetzt seh’ ich – Jetzt wird alles Licht – “.261 Dieser Vorgang stellt sich speziell im Umgang mit dem ‚Prätext‘, den der Tagebuchtext dekontextualisierend und umdeutend einbindet, als paranoider Prozess der Suche nach einer (Text-)Ordnung dar, die gerade im Prozess des Schreibens, und dabei sich scheinbar potenzierend, verlorengeht. Ganz im Sinne von Jacques Lacans Deutung der Erzählung The Purloined Letter von Edgar Allen Poe erscheint der Schreibprozess als Suche nach einer begehrten Einheit/Repräsentation/Identität, nach einem Ursprung, den das symbolische Zeichen der Sprache nie erlangen kann, der sich nur immer weiter entzieht.262 In Poes Erzählung lässt der Präfekt der Pariser Polizei das Haus eines Diebes akribisch in kleinste Einheiten unterteilen, an denen nach dem entwendeten Brief gesucht werden soll, der jedoch nie aufgefunden wird. In Gogol’s Erzählung reißt der Schreiber des Tagebuches kleinste Fetzen eines Schriftdiskurses (auch materiell, dazu im Folgenden mehr) an sich und sucht in ihnen verborgene Bedeutungen. In diesem Prozess verliert er den Blick für ihre Ordnung immer mehr. In Poes Erzählung offenbart sich schließlich dem Detektiv Dupin der gesuchte Brief – getarnt als beschmutzter Fetzen im Hause des Diebes. Nur demjenigen, der es vermag, eine distanzierte Position zum Zeichen einzunehmen, geht nicht beim Versuch, sich ihm anzunähern, die Bedeutung verloren; andernfalls entsteht ein Chaos der Defiguration, dem sich der Suchende hingibt. Poes Erzählung erscheint in Lacans Deutung als ein Plädoyer für eine Reflexion, die es dem Subjekt (zumindest temporär) erlaubt, nicht vom Unbewussten beherrscht zu werden.263 Die Beobachtungen Lacans können mit einem Diskurs um das Lesen parallelisiert werden, der sich entlang der vermehrten Rezeption fiktionaler Literatur im

260 Diese intertextuelle Verbindung erkennt Peter Urban in seinen Anmerkungen zur Übersetzung. Urban, Peter: Anmerkungen, in: Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 51–64, hier S. 60. 261 Schiller, Friedrich: „Don Carlos“ (V, 1), in: SNA VI, S. 289. Vgl. Urban: Anmerkungen, in: Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, hier S. 60. 262 Lacan, Jaques: „Seminar on ‚The Purloined Letter‘“. Translated by Jeffrey Mehlman, in: Muller, John P./Richardson, William J.: The Purloined Poe. Lacan, Derrida and Psychoanalytic Reading. Baltimore/London 1988, S. 28–54, hier S. 39. 263 Ebd., S. 45 ff.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

achtzehnten Jahrhundert in Westeuropa entspinnt und im Zusammenhang mit der Lesesuchtdebatte die scheinbar universale Gegenfolie des „wilden Lesens“ entwirft.264 Das Modell „zivilen Lesens“265 erzielt vor diesem Schreckensbild intensiver Identifikation und potentiellem Identitäts- und Realitätsverlust vielmehr die Bildung des Subjekts und seiner Identität durch Tugend, Geschmack und Vernunft.266 Der sich vor allem den Gefahren des Lesens von Fiktion bewusste Leser soll maßvoll und reflexiv an die Lektüre herangehen. Ein universelles Beispiel für das Misslingen eines solchen selbstreflexiven Lesens stellt der Ritter Don Quixote aus Miguel de Cervantes’ El ingenioso hidalgo Don Quixote de la Mancha dar. Dessen Umgang mit dem fiktionalen Text spiegelt gleichsam das Kind Heinrich Heine, das beim Lesen des Romans nicht zwischen Welt der Fiktion und der Wirklichkeit unterscheidet: In meiner kindischen Ehrlichkeit nahm ich alles für baren Ernst; so lächerlich auch dem armen Helden von dem Geschicke mitgespielt wurde, so meinte ich doch, das müsse so sein, das gehöre nun mal zum Heldentum, das Ausgelachtwerden ebensogut wie die Wunden des Leibs, und jenes verdroß mich ebensosehr, wie ich diese in meiner Seele mitfühlte. – Ich war ein Kind und kannte nicht die Ironie, die Gott in die Welt hineingeschaffen, und die der große Dichter in seiner gedruckten Kleinwelt nachgeahmt hatte, und ich konnte die bittersten Tränen vergießen, wenn der edle Ritter für all seinen Edelmut nur Undank und Prügel genoß. Da ich, noch ungeübt im Lesen, jedes Wort laut aussprach, so konnten Vögel und Bäume, Bach und Blume alles mit anhören, und da solche unschuldige Naturwesen, ebenso wie die Kinder, von der Weltironie nichts wissen, so hielten sie gleichfalls alles für baren Ernst und weinten mit mir über die Leiden des armen Ritters; sogar eine alte ausgediente Eiche schluchzte, und der Wasserfall schüttelte heftiger seinen weißen Bart und schien zu schelten auf die Schlechtigkeit der Welt.267

In Heinrichs sinnliches Miterleben der Erfahrungen des Ritters spielt auch die Unerfahrenheit beim Lesen überhaupt hinein. Dass Heinrich laut vorliest, den Text also sinnlich-körperlich mitvollzieht, entspricht gerade noch nicht der Vorgabe einer stummen und innerlichen Rezeption, wie sie seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts deutsche Lesepropädeutiken wie etwa Johann Adam Bergks „Die Kunst des Lesens“ fordern.268 Heine schreibt, er „kannte nicht die Ironie“. Damit ist an dieser Stelle wohl zweierlei gemeint: Er kannte nicht die Ironie, mit der der Roman das Schicksal des Ritters Don Quixote, einer Parodie des Ritters aus den Ritterromanen

264 Assmann, Aleida: „Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S.  95–111, hier S.  96. Assmann zitiert in diesem Zusammenhang unter anderem Shaftesbury, Anthony Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Hg. v. J. M. Robertson. Bd. 2. London 1900, S. 176. 265 Assmann: „Die Domestikation des Lesens“, S. 100. 266 Assmann beschreibt diesen Modus am Beispiel der Schrift Soliloquy or Advice to an Author des dritten Earl of Shaftesbury. Assmann: „Die Domestikation des Lesens“, S. 100–103. 267 Heine, Heinrich: „Einleitung zu Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha“, in: Sämtliche Schriften. Hg. v. Klaus Briegleb. Bd. 4. München, S. 151–170, hier S. 152. 268 Vgl. Schön: Der Verlust der Sinnlichkeit, S. 99 ff.

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des siebzehnten Jahrhunderts, beschreibt. „Der Kerl ist ein Narr“,269 erkennt der ältere Heinrich dann. Zudem besteht diese von Heinrich unerkannte Ironie gerade darin, dass der Roman sich selbst und seine Gattung reflektiert, von Anfang an thematisiert und die Leserschaft in dieses selbstreflexive Spiel einbindet. Hierin mag ein Grund gelegen haben, dass Friedrich Schlegel ihn zu einem Vorbild des romantischen arabesken Romans erklärte.270 Das Lesen des Romantikers bewegt sich zwischen einer intensiven Identifikation, über die sich Autor wie Leser der Selbsttätigkeit eines Aktes der Imagination hingeben und dem Akt der Reflexion,271 der die Bildung einer Identität des Subjektes erlauben würde: Der Akt der Reflexion lässt das Subjekt sich der Grenzen von Text und seiner selbst bewusst werden. Lacans Analyse von Poes Purloined Letter erkennt im Dieb des Briefes, der diesen im eigenen Haus versteckt, dem Präfekten der Polizei und dem Detektiv Dupin Positionen des Subjekts, das sich im Unbewussten (der Blindheit) verliert, sobald es dem Zeichen zu nahe kommt. Die reflexive Position erlaubt eine subjektive Identität. Doch auch sie ist nur temporär, denn die Rollen verschieben sich in einem unendlichen Kreislauf. Diese Analyse Lacans ist demnach der romantischen, „hermeneutischen“ Lesart272 recht ähnlich: Es offenbart sich ein Konflikt zwischen einem sehnsüchtigen Denken der Sprache als Ursprache, über die Subjekt und Objekt eine Einheit bilden würden, und einem immerwährenden Geheimnis des Zeichens, das nie völlig mit seiner Repräsentation zusammentreffen kann. Der Moment der Reflexion ist ein ständiges Bewusstsein dieser Lücke oder Schranke, doch soll er immer wieder zur identifikatorischen Erforschung des Zeichens und gerade in diesem Wechselspiel zum Ursprung/zum Geist/zur Repräsentation zurückführen. Das romantische Lesen ist in sich widersprüchlich zwischen Identifikation und Identitätssuche angesiedelt, auch wenn es zugleich als Suche zutiefst positiv auf einen Ursprung hin gedacht ist. Die identifikatorische Dimension des Leseakts erlaubt die intensive Rezeption/Produktion des Sinnlichen, das bei einer unzensierten Selbsterforschung zutage tritt – die geistfixierte, identitätssuchende Dimension stößt sich wiederum am allzu Affektiven. Gogol’s Erzählung Zapiski sumasšedšego zeigt einen Schreib- und Leseakt, der sich innerhalb dieser konfligierenden Tendenzen der Identifikation zuneigt. Dem paranoid lesenden Schreiber erschließt sich kein ganzheitlicher Sinn, den er identitätsbildend aufnehmen könnte. Vielmehr ist eine solche Einheit verlorengegangen und in ein in diesem Sinne unlesbares Chaos zerfallen, innerhalb dessen Fetzen mit potentiell

269 Heine: „Einleitung zu Der sinnreiche Junker Don Quixote von La Mancha“, S. 153. 270 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, in: KFSA II, S. 335. 271 Assmann: „Die Domestikation des Lesens“, S. 110. Vgl. zur Diskussion über das Verständnis der romantischen Ironie auf der einen Seite als Konstatierung eines immer wieder hervortretenden und hervorzubringenden Bruchs zwischen Ich und Welt (P. de Man) und auf der anderen Seite als Vorwegnahme einer künftigen Einheit, die in der ironischen Slebstreflexion vorausgesetzt sei (z. B. P. Szondi) und dessen Kontext mit dem romantischen Begriff des Lesens v. a. Teil I, Kap. 3.2.1. 272 Assmann: „Die Domestikation des Lesens“, S. 103 ff.

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verborgener Bedeutung auftauchen. Diese werden „wild“ rezipiert und in ein unendlich sich erweiterndes, verschiebendes Netz von Zeichenordnungen eingebunden. Diese Tendenz löst die Erzählung von einer bloßen Darstellung eines Wahnsinnsprozesses. Die Einbindung etlicher Zitate aus anderen Texten in den Tagebuchtext, in dessen Verlauf sie umgedeutet, vermischt, verzerrt werden, stellt eine Literatur- und Mediengeschichte aus. Insofern müsste der Text vielmehr als eine (parodierte) Reflexion denn als Darstellung gelesen werden.273 Gerade die Repräsentation der dekontextualisierten Zeichen geht ja verloren, die Defiguration ihrer Ordnung führt zu deren Ausstellung und ‚Entleerung‘. Letztlich ist der Text gerade über die Spannung beider Dimensionen zu verstehen.

3.4.2 Somatisierung der Schrift: Permeabilität der Grenzen Die genannte ‚Entleerung‘ der zitierten Textstücke eines literarischen Diskurses hat in der Erzählung eine besondere materielle und sinnliche Dimension, die aus der Spannung zwischen Repräsentation und Repräsentationsverlust hervortritt. In Poes The Purloined Letter zeigt sich der entwendete Brief, das bedeutsame Schriftstück, als scheinbar unwichtiges beschmutztes Blatt, das unbeachtet herumliegt. Dem ‚Blinden‘, dem Präfekten der Polizei, muss es als solches erscheinen. Ihm präsentiert sich das Schriftstück als bedeutungsloser Fleck, als Makulatur, während er den Rest des Hauses akribisch nach Bedeutsamem durchsucht. Gogol’s Zapiski sumasšedšego erheben gerade das befleckte Stück Papier zum geheimnisvoll-bedeutsamen Zeugnis. In einem Prozess der Dissemination der Zeichen tritt ihre Materialität zutage – beschmutzte Fetzen, die sich am Straßenrand finden (vytaščil nebol’šuju svjazku malen’kich bumažek274 / „zog ein nicht großes Bündel Papierfetzen heraus“275), sind die geheimen Botschaften von Hunden, deren Schrift ebenso eine animalische, körperliche Präsenz erhält: А ну, посмотрим: письмо довольно четкое. Однако же в почерке все есть как будто чтото собачье. Прочитаем: […] Письмо писано очень правильно. Пунктуация и даже буква ѣ везде на своем месте.276 Nun, schauen wir doch mal: der Brief ist recht gut lesbar geschrieben. Auch wenn die Handschrift etwas Hündisches hat. Lesen wir: […] Der Brief ist nach allen Regeln geschrieben. Interpunktion und sogar der Buchstabe Jatj – alles an seinem Platz.277

273 Vgl. Drubek-Meyer/Meyer: „Gogol’ medial“, S. 123 ff. 274 G ZS, S. 201. 275 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 18. 276 G ZS, S. 201 f. 277 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 19.

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Nicht nur geben die Hundebriefe Anlass zu dieser eigentümlichen Kombination von Reflexion über die Korrektheit einer Schrifttopographie und ihrer Somatisierung, sie nehmen wiederum Bezug auf die sentimentalistische Briefliteratur, die in einer hündischen Autorschaft ihre Parodie findet. So wird auch der Schreiber des Tagebuchs nicht müde, die Banalität der besprochenen Themen zu bemängeln, die zwischen den – wiederum zitierten – empfindsamen Versatzstücken hervorbrechen: Мне кажется, что разделять мысли, чувства и впечатления с другим есть одно из первых благ на свете. Гм! мысль почерпнута из одного сочинения, переведенного с немецкого. Названия не припомню. […] Папа тоже очень часто ласкает. Я пью чай и кофий со сливками. Ах, ma chere, я должна тебе сказать, что я вовсе не вижу удовольствия в больших обглоданных костях, которые жрет на кухне наш Полкан. Кости хороши только из дичи, и притом тогда, когда еще никто не высосал из них мозга. Очень хорошо мешать несколько соусов вместе, но только без каперсов и без зелени; но я не знаю ничего хуже обыкновения давать собакам скатанные из хлеба шарики. Какой-нибудь сидящий за столом господин, который в руках своих держал всякую дрянь, начнет мять этими руками хлеб, подзовет тебя и сунет тебе в зубы шарик. Отказаться как-то неучтиво, ну и ешь; с отвращением, а ешь… Черт знает что такое! Экой вздор!278 Mich dünkt, seine Gedanken, Gefühle und Eindrücke mit einem anderen zu teilen, ist eines der ersten Güter auf Erden. Hm! ein Gedanke, geschöpft aus deinem aus dem Deutschen übersetzten Werk. An den Titel kann ich mich nicht mehr erinnern. […] Auch Papá streichelt mich sehr oft. Ich trinke Tee und Kaffee mit Sahne. Ach, ma chère, ich muß dir sagen, daß ich gar kein Vergnügen finde an den großen Knochen, die in der Küche unser Polkan frißt. Knochen sind gut nur vom Wildbret, und auch nur dann, wenn aus ihnen noch niemand das Mark ausgesogen hat. Sehr gut sind auch mehrere Saucen miteinander vermengt, nur ohne Kapern und ohne Gemüse; indes kenne ich nichts Schlimmeres als die Angewohnheit, Hunden aus Brot gerollte Kügelchen zu geben. Irgendein am Tisch sitzender Herr, der in seinen Händen allen möglichen Dreck gehalten hat, fängt mit diesen Händen an, das Brot zu kneten, ruft dich zu sich und streckt dir das Kügelchen zwischen die Zähne Es ablehnen wäre irgendwie unhöflich, als, du ißt es; mit Abscheu, aber du ißt es… Weiß der Teufel, was das soll! So ein Unsinn!279

Das Fressen, sowohl spielerisch zu kulinarischen Betrachtungen sublimiert, als auch Motive gezwungener Nahrungsaufnahme als Szenarien des Ekels und der Gewalt, sind subvertierend in den empfindsamen Brief eingeflochten. Gespiegelt durch die ablehnenden Kommentare des begierigen Lesers, wird diese Sinnlichkeit der hündischen Welterfahrung sogar in der Beschreibung des Geschmacks in seinem ursprünglichen, nichtsublimierten Sinne – am Eingang zum Körper über die Zunge – hervorgehoben:

278 G ZS, S. 302. 279 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 19 f.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

За столом он был так весел, как я еще никогда не видала, отпускал анекдоты, а после обеда поднял меня к своей шее и сказал: „А посмотри, Меджи, что это такое“. Я увидела какую-то ленточку. Я нюхала ее, но решительно не нашла никакого аромата; наконец потихоньку лизнула: соленое немного. Гм! Эта собачонка, мне кажется, уже слишком… чтобы ее не высекли! […] Чрезвычайно неровный слог. Тотчас видно, что не человек писал. Начнет так, как следует, а кончит собачиною.280 Bei Tisch war er so heiter, wie ich ihn noch nie gesehen habe, ließ Witze vom Stapel, und nach dem Essen hob er mich hoch an seinen Hals und sagte: „Nun schau mal, Madgie, was das ist.“ Ich sah irgendein Bändchen. Ich beschnupperte es, fand daran aber entschieden keinen Wohlgeruch; schließlich leckte ich vorsichtig daran: salzig ein wenig. Hm! Dieses Hündchen, scheint mir, treibt es ein wenig zu toll… daß man es nicht ausprügelt! […] Außerordentlich unregelmäßig der Stil. Man sieht sogleich, dass das kein Mensch geschrieben hat. Fängt alles an, wie es sich gehört, und endet mit einem Hundedreck.281

Über die humoristische Dimension dieser animalischen Umdeutung des empfindsamen Briefschrifttums hinaus (gewissermaßen seiner ‚De-sublimierung‘ auf die körperliche Erfahrungsdimension), hat eine solche Beschreibung einer haptisch-gustatorischen Erfahrung literaturgeschichtlich betrachtet eine besonders subversive Bedeutung. Nicht nur ist in dieser Textstelle der Zwang, das gerollte Brotkügelchen zu schlucken, ein Motiv des Ekelhaften, das im Rahmen einer klassischen Ästhetik kategorisch ausgeschlossen sein musste. Zudem wurde der niedere Sinn des Geschmacks in dieser Ästhetik als eine zu nahe, überwältigende Sinneserfahrung diskursiviert, die keine intellektuelle Distanzierung erlaubt.282 Vor allem aber die Überschreitung der Körpergrenze ist an dieser Stelle von subversiver Kraft: Es ist dabei das Motiv der Zunge Medium dieser Grenzüberschreitung von weltlicher Materie und menschlichem Körper, der zu dieser Zeit bereits durch eine diskursive Geschichte der hygienischen Eindämmung und Abschließung gegangen war.283 Das Motiv hat in der Erzählung eine auffällige Präsenz: Все это честолюбие, и честолюбие оттого, что под язычком находится маленький пузырек и в нем небольшой червячок величиною с булавочную головку, и это все делает какой-то цирюльник, который живет в Гороховой.284

280 G ZS, S. 202 f. 281 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 21. 282 Vgl. Menninghaus, Winfried: Ekel. Theorie und Geschichte einer starken Empfindung. Frankfurt a. M. 2002, S. 59–70. 283 Vgl. Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 43–65. 284 G ZS, S. 34.

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Alles das ist Ehrsucht, und die Ehrsucht kommt daher, daß sich unter dem Züngelchen ein Kapselchen befindet und in ihm ein Würmchen nicht größer als ein Stecknadelkopf, und all das macht ein Barbier, der in der Gorochovaja wohnt.285

An der Schwelle zum Inneren des Körpers bildet sich ein Auswuchs in Form eines Bläschens, der von außen ins Innere des Körpers gepflanzt wird. Die Vorstellung erhält eine weitere Umkehrung von Innen und Außen, indem dieses Bläschen als ein Auswuchs im Inneren des Körpers (im Mund, an der Zunge) selbst einen Innenraum erhält, in dem ein weiterer Körper lebt: ein Würmchen wird im Bläschen herangenährt. Diese Auflösung von körperlichen Grenzen bringt eine ambivalente Dynamik des Übergangs vom Äußeren des Körpers in sein Inneres und der Entäußerung seines Inneren über die Zunge mit sich. Auf absurde Weise werden Moralvorstellung,286 urbane Topologie und groteske Körperlichkeit in eine Abhängigkeit gebracht. An der Zunge manifestiert sich die Leiblichkeit eines Austauschs zwischen Körper und Welt, nicht zuletzt als Akt des Sprechens: Die Homonymie von jazyk (dt. „Sprache“ und „Zunge“)287 ist erklärlich als Metonymie, indem die Zunge ebenso als pars pro toto sowie als Ermöglichungsgrund der Sprache eingesetzt werden kann. Diese Homonymie von jazyk ist letztlich die Bestätigung für die unleugbare und unabdingbare Verwurzelung der Sprache im Körper. Unterlaufen wird damit scheinbar allein schon im russischen Wort jazyk ein Phono-Logozentrismus, innerhalb dessen der Ton der menschlichen Rede als größte Annäherung zum Geist betrachtet wird.288 Das Motiv der intuitiv-sinnlichen Interaktion mit der Welt über eine die Grenzen des Körpers permeabel werden lassende gustatorische Berührung bricht zugleich mit seiner Individualisierung im Rahmen einer Diskursgeschichte seiner Verschließung. Diese Diskursgeschichte bringt zugleich die ‚Verschriftlichung‘ seiner Austauschökonomie als Ausgangpunkt für das empfindsame Liebesschrifttum mit sich.289 Das Motiv der Ertastung des salzigen Geschmacks am Ordensbändchen deutet eine (kommunikative) Interaktion mit der Welt über die

285 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 210. 286 Vgl. zur Moral bei Gogol’ Tschižewkij: „Skovoroda – Gogol’“. 287 Auf die Doppelbedeutung von jazyk im Russischen weist ebenfalls hin: Drubek-Meyer: Gogol’s eloquentia corporis, S. 60. 288 Vgl. dazu die bereits in Teil I dieser Studie zitierte Textstelle bei Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Neu ed. v. Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Bd. 13. Vorlesungen über die Ästhetik I. Frankfurt am Main 1986, S.  22: „Indem sie [die Poesie, C. S.] weder für die sinnliche Anschauung arbeitet, wie die bildenden Künste, noch für die bloß ideelle Empfindung, wie die Musik, sondern ihre im Innern gestaltenden Bedeutungen des Geistes nur für die geistige Vorstellung und Anschauung selber machen will, so behält für sie das Material, durch welches sie sich kund tut, nur noch den Werth eines wenn auch künstlerisch behandelten Mittels für die Äußerung des Geistes an den Geist und gilt nicht als ein sinnliches Daseyn, in welchem der geistige Gehalt eine ihm entsprechende Realität zu finden im Stande sei. Dieß Mittel kann unter den bisher betrachteten nur der Ton, als das dem Geiste noch relativ gemäßeste sinnliche Material seyn.“ 289 Vgl. Koschorke, Albrecht: Körperströme und Schriftverkehr.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Körperflüssigkeiten an. Ob es nun diese allzu anzügliche Motivik allein oder die damit verbundene Degradierung des Militärordens war, die zur Zensur dieser von Gogol’ selbst als eine der „besten Stellen“ der Erzählung bezeichneten Passage führte, ist nicht festzustellen (die in dieser Studie zitierte Akademija-Ausgabe folgt wie auch Peter Urbans deutsche Übersetzung einem erhaltenen Originalmanuskript der Erzählung).290 Gebrochen wird an dieser Stelle auch insgesamt mit einem Begriff des eigenbestimmt handelnden Menschen als Individuum. Als Ehrgeiz hat die Leidenschaft vom Menschen Besitz ergriffen (vgl. hierzu die oben zitierten Stellen aus Portret). Die Metapher ihrer parasitären Natur, in der sie bei Gogol’ immer wieder einer ‚göttlichen‘ bzw. ‚erhabenen‘ Begeisterung gegenübergestellt wird,291 wird an dieser Stelle in ihrem somatischen Potential noch weitergetrieben. Die folgenden Sätze aus den Mertvye duši (Tote Seelen) stehen damit in einem deutlichen Zusammenhang: Быстро все превращается в человеке; не успеешь углянуться, как уже вырос внутри страшный червь, самовластно обративший к себе все жизненные соки. И не раз не только широкая страсть, но ничтожная страстишка к чему-нибудь мелкому разрасталась в рожденном на лучшие подвиги, заставляла его позабывать великие и святые обязанности и в ничтожных побрякушках видеть великое и святое.292 Schnell wandelt sich alles im Menschen, kaum hat man sich umgesehen, da wächst schon ein schrecklicher Wurm in seinem Inneren groß, der alle Lebenssäfte an sich zieht. Und mehr als einmal geschah es, daß nicht eine große, sondern eine völlig nichtige Leidenschaft zu etwas Kleinem, in einem Menschen, der zu den besten Taten geboren war, emporwuchs und ihn zwang, seine großen und heiligen Pflichten zu vergessen und in nichtigem Tand das Große und Heilige zu sehen. 293

Der Wurm als Bild eines niederen, parasitären Lebens steht etwa auch bei Lomonosov (als naheliegende Referenz dieser Textstelle) für die Verdammnis des Leibes.294 Zugleich erfährt in den zitierten Stellen aus Gogol’s Zapiski sumasšedšego die Schrift – als im empfindsamen Schrifttum sublimiertes Medium des Austauschs der Seelen, das anstelle der Mündlichkeit als eine ‚leiblose Kommunikation‘ wertgeschätzt wird –295 selbst wiederum eine ‚Versinnlichung‘. Dies geschieht nicht nur über die

290 Vgl. Komarovič, V. L.: „Kommentarii: Zapiski sumasšedšego“, in: G III, S. 699–703, hier S. 699. Komarovič zitiert Gogol’s Brief an Puškin vom Dezember 1834, in dem er von der Forderung der Zensur berichtet, die „besten Stellen“ zu streichen: „[…] я должен ограничиться выкидкою лучших мест…“ 291 Vgl. Tschižewkij, Dmitrij: „Skovoroda – Gogol’“, S. 317. 292 G MD, S. 242. 293 Übers. v. Tschižewkij: „Skovoroda – Gogol’“, S. 319. 294 Lomonosov, Michail Vasil’evič: „Kratkoe rukovodstvo k krasnorečiju“, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd.  7. Trudy po filologii 1739–1758 gg. Hg. v. S. I. Vavilov. Moskva/Leningrad 1952, S.  89– 378, hier S. 292: „О пища ты червей! О прах и пыль презренна! / О ночь! О суета! Зачем ты так гордишься?“ 295 Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr, S. 223.

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angebliche ‚Verhundung‘ ihres Bildes. Die Umkehrung der gesellschaftlichen Ordnung, die sich innerhalb des Schreibprozesses des Tagebuchtextes vollzieht, manifestiert sich zugleich in einer Verfehlung der ‚ordentlichen‘ Datumsangaben: Aus God 2000 aprelja 43 čisla296 („Im Jahr 2000 den 43. April“297) am Tage der Erkenntnis des Schreibers über seine Krönung zum spanischen König wird anschließend der Martobrja 86 čisla298 („86. Märzober“299), dann war Nikotorovo čisla. Den’ byl bez čisla300 („Keinerlei Datum. Der Tag war ohne Datum“301), schließlich: Čisla ne pomnju. Mesjaca tože ne bylo. Bylo čert znaet, čto takoe302 („Datum erinnere ich nicht. Monat war auch keiner. Es war weiß der Teufel was“303). Es folgen: Čislo 1304 („Am 1-en“305), Madrid. Fevruarij tridcatyj306 („Madrid. 30. Februarius“307), Janvar’ togo že goda, slučivšijsja posle fevralja308 („Januar im selben Jahr, der folget auf den Februar“309), Čislo 25310 („25-ter“311) und schließlich, über dem letzten Eintrag des Tagebuchs, eine Vertauschung, Auslassung und Umkehrung der Buchstaben (Abb. 23).

Abb. 23: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Zapiski sumasšedšego, in: Ders.: Arabeski. Raznyja sočinenija N. Gogolja. Teil 1. Sankt-Peterburg 1835, S. 230–276, hier S. 275. RGB.

296 G ZS, S. 207 297 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 30. 298 G ZS, S. 208. 299 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 31. 300 G ZS, S. 210. 301 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 34. 302 G ZS, S. 210. 303 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 35. 304 G ZS, S. 211. 305 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 35. 306 G ZS, S. 211. 307 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 36. 308 G ZS, S. 212. 309 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 38. 310 G ZS, S. 213. 311 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 40.

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Übersetzt hat Peter Urban diese Datumsangabe, bemüht um Nähe zum Russischen, als „Dn 34 ten Mt d Jhars Februar 349“ (wobei natürlich auch hier die Monatsangabe „Februar“ auf den Kopf gestellt wurde).312 Diese Umkehrung des Datums, so können wir heute schließen, muss in Absprache zwischen dem Autor Gogol’ und dem Drucker der Arabeski erzeugt worden sein, der für die vorletzte Seite der Erzählung die Metallsetzlinge umgedreht und so die Spiegelschrift erzeugt hat. Dabei zeigt sich eine frühe Form der schriftkünstlerischen Zusammenarbeit von Autor und Drucker, die in einem besonderen Bewusstsein für die typographische Materialität der Literatur und ihrer ästhetischen Relevanz vor sich geht. Diese Defiguration der Schrift, ihre Umkehrung als Bruch mit ihrer Figur, erscheint als Ende eines Prozesses, der bereits im ersten Tagebucheintrag als die Eigenwilligkeit des Schreibers ausgewiesen wurde, Abschriften mit unrichtigen Datumsangaben etc. zu verfälschen. Das „Chaos“ in seinem Kopfe drückt sich vermeintlich im „Chaos“ der Schrift aus. Doch es liegt an dieser Stelle vor allem die Verstärkung einer defigurativen Tendenz im fortschreitenden Schreibakt vor: Mit der Animalisierung der Schrift kommt eine Umkehrung der Gesellschaftsordnung, die den Schreiber zum König krönt. Mit seiner Krönung zum König wird die kalendarische Ordnung des Tagebuchtextes aufgehoben, dessen Zeichen nun ihrer zu Beginn vermeintlichen deiktischen Qualität über Zeit und Ort verlustig gehen. Die Datumsangaben verlieren zunehmend ihren Bezug zur chronologischen Zählung von Monaten und Tagen und dementsprechend ihre zeitliche Begrenzung. Diese wird permeabel, Monate wie Tage werden vertauschbar. Im schriftlichen Spiel mit der kalendarischen Ordnung entsteht zugleich auch eine semantische Grenzverschiebung: Die Ordnung des Datums in Zeitangaben, die sich in der Art von semantischen Räumen umschließen, wird aufgehoben. Tage werden unabhängig von Monaten, Monate unabhängig von Jahren. Auch der Ort des Schreibens verschiebt sich von Petersburg nach Madrid. In der Topographie des Blattes liegt der ganze geographische Raum, der im Akt des Schreibens durchwandert wird.313 Dies ist zugleich eine anagrammatische Buchstabenwanderung von pisanija zu ispanija (dt. „Schriften“/ „Spanien“)314. Schließlich wird auch die topographische Ordnung der Schrift revidiert – aus ihrem ‚Oben‘ wird ‚Unten‘. Und bedenkt man die religiöse Bedeutung von pisanie (svjaščennoe pisanie: dt. „Heilige Schrift“), dessen Pluralform im anagrammatischen Spiel zu ispanija umgeschrieben wird, erscheinen diese Kräfte der Permeabilisierung und Versinnlichung der Schrift tatsächlich als teuflisch: Bylo čert znaet, čto takoe („Es war weiß der Teufel was“). Es entsteht eine diabolische Unordnung.

312 Ebd. 313 Vgl. Vgl. Drubek-Meyer, Natascha/Meyer, Holt: „Gogol’ medial: Skaz(ki) und Zapiski“, S. 136. 314 Spieker, Sven: „Writing the underdog. Canine discourse in Gogol’s Zapiski sumasshedshego and its pretexts“, in: Wiener Slawistischer Almanach 28 (1991) S. 41–56; hier S. 42, nach Peace, Richard: The Enigma of Gogol. An examination of the writings of N. V. Gogol and their place in the Russian literary tradition. Cambridge u. a. 1981, S. 129.

Wildes Schreiben 

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3.4.3 Gogol’s Lubok Der Text Zapiski sumasšedšego offenbart sich als imaginatives Szenarium, innerhalb dessen sich der Schreiber eher erlebend als berichtend – weniger in Rückschau als präsentisch also – äußert. Der Text stellt mehr und mehr eine Form der Textrezeption und ihrer Verarbeitung im Tagebuchtext aus, die einer identifikatorischen Lese- und Schreibweise entspricht. Dass dabei Hunde zu schreiben beginnen, ein Körper groteske Auswüchse entwickelt und die Schrift auf dem Kopf steht, erscheint als eklatante Zitation bestimmter Verfahren und Motive des Lubok. Unschwer ist zu erkennen, dass Gogol’s Zapiski sumasšedšego die Erfahrung des „wilden Lesens“ einer Trivialliteratur und ihrer medialen Anbindung an den Bilderbogen aufnehmen. So reagiert etwa die Assoziation des Schreibers zu sprechenden Tieren auf ein Motiv des Lubok: Говорят, в Англии выплыла рыба, которая сказала два слова на таком странном языке, что ученые уже три года стараются определить и еще до сих пор ничего не открыли. Я читал тоже в газетах о двух коровах, которые пришли в лавку и спросили себе фунт чаю.315 In England, sagt man, sei ein Fisch aufgetaucht, der habe zwei Worte in einer so seltsamen Sprache gesagt, daß sich die Gelehrten schon drei Jahre lang abmühen, diese zu bestimmen, und bis heute noch nichts entdeckt haben. Auch las ich in der Zeitung von zwei Kühen, die in einen Laden kamen und ein Pfund Tee für sich verlangt haben.316

Dass dieser Bericht über sprechende Tiere und ihre wissenschaftliche Untersuchung dem Schreiber des Tagebuches gerade durch die Zeitung zu Ohren gekommen sein soll, zeigt sich deutlich als ein Hieb auf die Zeitung Severnaja Pčela, die von vielen Zeitgenossen aus Gogol’s Kreisen nicht nur als wenig informativ kritisiert wurde, indem sie fast nur Auslandsnachrichten präsentierte und sich über Inlandsangelegenheiten ausschwieg. Zudem enthielt die Zeitung naiv präsentierte Nachrichten über Kuriositäten, wie bereits in Kapitel 2 zur Sprache kam. Jurij Lotman sah darin durchaus eine Verbindung dieser Zeitung zur Lobok-Literatur und ihrer Motivik. Es ist festzuhalten, dass Gogol’s Erzählungen auch über die Erzählung Zapiski sumasšedšego hinaus nicht nur stark durch theatrale Elemente etwa des ukrainischen Vertep beeinflusst wurden,317 sondern auch das Medium des Lubok zitieren und es zudem im Kontext der lubočnaja literatura verarbeiten.318

315 Gogol’: ZS, S. 195. 316 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 8. 317 Vgl. Gippius, Vassilij: Gogol’. Leningrad 1924, S. 95; Rozov, V. A.: „Tradicionnye tipy malorusskogo teatra XVII–XVIII vv. i junošeskie povesti N. V. Gogolja“, in: Ders.: Pamjati Gogolja. Sbornik rečej i statej. Kiev 1911, S. 99–169; Shapiro: Nikolai Gogol and the Baroque Cultural Heritage, S. 40–57. 318 Jurij Lotman hat bereits auf den Einfluss von Lubok-Literatur auf Gogol’s Erzählung Zapiski sumasšedšego hingewiesen. Lotman: „Chudožestvennaja priroda russkich narodnych kartinok“, S. 395.;

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 Arabesken: P’esy und kločki („Stücke“ und „Fetzen“)

Zum Anlass einer ästhetischen Reflexion werden die Lubok-Bilder etwa zu Beginn der Erzählung Portret, als der Maler Čartkov die Rezeptionsweise des Lubok als gemeinschaftlich-performativ beschreibt und dabei ein soziologisches Panorama entwirft: Всякoй восхищается по-своему: мужики обыкновенно тыкают пальцами; кавалеры рассматривают серьезно; лакеи-мальчики и мальчишки-мастеровые смеются и дразнят друг друга нарисованными карикатурами; старые лакеи во фризовых шинелях смотрят потому только, чтобы где-нибудь позевать; а торговки, молодые русские бабы, спешат по инстинкту, чтобы послушать, о чем калякает народ, и посмотреть, на что он смотрит. […] Что русский народ заглядывается на Ерусланов Лазаревичей, на объедал и обпивал, на Фому и Ерему, это не казалось ему удивительным: изображенные предметы были очень доступны и понятны народу; но где покупатели этих пестрых, грязных масляных малеваний? кому нужны эти фламандские мужики, эти красные и голубые пейзажи, которые показывают какое-то притязание на несколько уже высший шаг искусства, но в котором выразилось все глубокое его унижение? […] Те же краски, та же манера, та же набившаяся, приобыкшая рука, принадлежавшая скорее грубо сделанному автомату, нежели человеку!319 Jeder begeistert sich auf seine Art: die Bauern stoßen gewöhnlich mit den Fingern darauf; die Kavaliere betrachten sie mit ernsten Mienen; die kleinen Lakaien und Lehrbuben lachen und necken einander mit den aufgemalten Karikaturen; die alten Lakaien in Friesmänteln lachen und schauen nur deshalb, um irgendwo gaffen zu können; und die Hökerinnen, diese jungen russischen alten Weiber, kommen instinktiv herbei, um zu hören, wörüber die Leute plappern, und zu sehen, was sich die anderen anschauen. […] Daß sich das russische Volk in Jeruslan Lasarewitsch, in diese Vielfraße und Saufhelden, und in Foma und Jerema vergaffte, schien ihm nicht verwunderlich: die abgebildeten Gegenstände waren dem Volk sehr zugänglich und verständlich; aber wo waren die Käufer dieser bunten, schmutzigen Ölpinseleien? Wer brauchte diese flämischen Bauern, diese roten und blauen Landschaften, die schon irgendeinen Anspruch auf eine etwas höhere Stufe der Kunst erhoben, aber in denen deren tiefste Erniedrigung zum Ausdruck kam? […] Dieselben Farben, dieselbe Manier, dieselbe aufdringliche routinierte Hand, die eher einem grobgemachten Automaten als einem Menschen zu gehören schien…320

Der Aushang der Lubok-Bilder vor dem Laden gibt dem Maler Anlass zu Betrachtungen über die Grenzen von Lubok, naiver Landschaftsmalerei und Kunst. Die ausgestellten Öllandschaften erhalten eine Zwischenstellung zwischen bereits von den in Čartkovs Auge primitiven Motiven des Lubok und einer Kunst, die als Ausdruck von Individualität betrachtet werden könnte. Den naiven Ölmalereien ermangelt es am gemeinschaftsbildenden Potential der Lubokbilder, deren wiederkehrende, selbst szenische Motive bestimmte wiederum typische performative Rezeptionsweisen anregen. Čartkovs

vgl. Shapiro: Nikolai Gogol and the Baroque Cultural Heritage, S.  58–106. Dilaktorskaja, Ol’ga G.: „Chudožestvennyj mir peterbrugskich povestej N. Gogolja“, in: Gogol’, N. V.: Peterbrugskie povesti. Sankt-Peterburg 1995, S. 207–257, hier S. 222 ff. 319 G P, S. 80 320 Gogol: „Das Porträt“, S. 665.

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Betrachtung des Lubok und der naiven Ölmalereien, gegen die er ein Negativ der Kunst abgrenzt, führt schließlich zum Fund des Porträts, das ihn mit seiner Lebendigkeit beeindruckt. Die unheimliche Lebendigkeit des Wucherer-Porträts markiert wiederum eine Übertretung des kreativen Potentials durch eine unmoralische Motivation. Das Idealbild der Kunst findet sich erst am Ende der Erzählung als Ausdruck einer erhabenen, überirdischen Kraft sowie Motivation: [K]артина между тем ежеминутно казалась выше и выше; светлей и чудесней отделялась от всего и вся превратилась наконец в один миг, плод налетевшей с небес на художника мысли, миг, к которому вся жизнь человеческая есть одно только приготовление.321 [D]as Bild dagegen schien allmählich höher und höher zu schweben; immer klarer und wunderbarer löste es sich von allem und hatte sich plötzlich in einen Augenblick, in die Frucht eines vom Himmel auf den Künstler herabgeflogenen Gedankens verwandelt – in einen Augenblick, für den das ganze Menschenleben nur Vorbereitung war.322

Innerhalb dieses Spektrums von naivem, auf die Szene der performativen Rezeption bezogenen Lubok-Bild, automatisch-technischer Landschaftsmalerei und einer Kunst, die diese Bezeichnung verdient, überstrahlt das an dieser Stelle beschriebene, in der Kunstakademie ausgestellte Bild das unheimliche Porträt des Wucherers durch seine metaphysische Kraft. Die Lebendigkeit des Porträts ist aufs Irdische gerichtet, seine rahmensprengende Kraft noch näher am Lubok mit seiner Performanzorientiertheit als an dem fast heilig erscheinenden Bild in der Akademie, das sich gerade vom Irdischen und Sinnlichen löst. Gogol’s Rezeption der Lubok-Motivik ist damit Teil einer künstlerischen Auslotung und Relfexion poietischer Potentiale, innerhalb derer grotesk-sinnliche Imaginationen eine Grenzüberschreitung zwischen Text und Welt bzw. Subjekt markieren. Nicht zuletzt ist dabei als immer wiederkehrendes Motiv die Nase auffällig. In den zahlreichen Beschreibungen ihres Aussehens und ihrer Laute (etwa das beeindruckende Schnauben Čičikovs oder das Schnarchen Petuchs in den Mertvye duši) deutet sich eine ‚Nasenobsession‘ Gogol’s an.323 Auch in den Zapiski sumasšedšego kommt es zu einer Reflexion über ihre Bedeutung:

321 G P, S. 112. 322 Gogol: „Das Porträt“, S. 702. 323 Renate Lachmann spricht von einer Rhinomanie Gogol’s und zitiert hierzu einen Brief Gogol’s an Marija Balabina von 1838 aus Rom: „Was für eine Luft! Es scheint, wenn man durch die Nase atmet, als wenn zumindest 700 Engel durch die Nasenflügel herinflögen […]. Manchmal habe ich das verrückte Verlangen, mich ganz in eine Nase zu verwandeln, so daß da nichts anderes mehr von mir ist – weder Augen noch Arme oder Beine, nichts außer einer stupenden Nase, deren Flügel wie große Eimer wären, so daß ich soviel wie möglich von diesem Duft und diesem Frühling einatmen könnte.“ (Gogol’, Nikolaj Vasil’evic: Sobranie socinenij. 7 Bde. Hg. v. S. I. Mašinskij. Bd. 7. Izbrannye pis’ma. Hg. v. G. M. Fridlender. Moskva 1967, S. 182–190, hier S. 187), zitiert nach: Lachmann, Renate: „Stadt als Phantasma. Gogol’s Petersburg- und Romentwürfe“, in: von Graevenitz, Gerhard: Die Stadt in der

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Лунь ведь обыкновенно делается в Гамбурге; и прескверно делается. Я удивляюсь, как не обратит на это внимание Англия. Делает ее хромой бочар, и видно, что, дурак, никакого понятия не имеет о луне. Он положил смоляной канат и часть деревянного масла; и оттого по всей земле вонь страшная, так что нужно затыкать нос. И оттого самая луна — такой нежный шар, что люди никак не могут жить, и там теперь живут только одни носы. И по тому-то самому мы не можем видеть носов своих, ибо они все находятся в луне.324 Gewöhnlich wird der Mond doch in Hamburg gemacht; und zwar miserabel gemacht. Ich muß staunen, daß England dem keine Aufmerksamkeit widmet. Gemacht wird er von einem hinkenden Böttcher, und offensichtlich ist, daß der Dummkopf vom Mond keine Ahnung hat. Er verwendet dazu ein gepichtes Tau und ein Teil Baumöl; und deshalb liegt über der ganzen Erde ein so schrecklicher Gestank, daß man sich die Nase zuhalten muß. Und deshalb ist der Mond selbst – eine so zarte Kugel, daß Menschen auf ihm nicht leben können, und dort leben heute ausschließlich Nasen. Und das genau ist auch der Grund, weshalb wir unsere Nasen nicht sehen können, denn sie befinden sich alle auf dem Mond.325

Wieder wird hier eine Vorstellung von Innen und Außen unterlaufen, indem das Innere nach außen entgrenzt und das Äußere nach innen invertiert wird: Der Mond befindet sich gleichzeitig auf der Erde (denn hier wird er gemacht) und im Weltall, ihrem Äußeren. Die Nasen der Menschen befinden sich nicht mehr in ihren Gesichtern, sondern auf dem Mond, das heißt im Äußeren des Körpers. Diese groteske Zerstückelung des Körpers ist zugleich eine Zerstückelung des Raumes. Raum und Körper sind damit nicht voneinander zu trennen. Der Körper verliert seine Geschlossenheit, und die Grenze von Körper und Welt löst sich auf.326 Ähnliches wiederfährt bekanntlich dem Major Kovalev in Nos (Die Nase), der seine eines Morgens verschwundene Nase als Staatsrat verkleidet auf den Straßen Petersburgs wiederfindet und zur Rückkehr in sein Gesicht zu bewegen versucht. Auch in dieser Erzählung werden die Körpergrenzen aufgelöst. Zugleich besteht zwischen der Nase als Körperteil und ihrer Existenz in der Tarnung als Beamter eine eigentümliche Diskrepanz, deren imaginativ nicht zu füllende ‚Lücke‘ immer wieder konstatiert worden ist. Wie im Zitat oben aus den Zapiski sumasšedšego wird gerade die Nase als prominenter Körperteil zum paradoxen Motiv gleichzeitiger An- und Abwesenheit.327 In Nos wie in den Zapiski sumasšedšego findet damit ein bekanntes Motiv des Lubok Eingang in den literarischen Text.328 Auch dabei

europäischen Romantik. Würzburg 2000, S. 227–250, hier S. 243. 324 G ZS, S. 212. 325 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 37 f. 326 Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Frankfurt a. M. 1987, 351 f.; vgl. Belyj, Andrej: Masterstvo Gogolja. München 1969 (Moskau 1934), S. 272: Andrej Belyj hat die Anhäufung der Nasen an dieser Stelle als Beispiel für das Hyperbolische in Gogol’s Texten angeführt. 327 Lotman: „Das Problem des künstlerischen Raumes in Gogol’s Prosa“, S. 246; vgl. Hansen-Löve: „‚Gøgøl’‘. Poetik der Leer- und Nullstelle“, S. 183–186. 328 Vgl. hierzu Pletneva, Aleksandra: „Povest’ N. V. Gogolja ‚Nos‘ i lubočnaja tradicija“, in: Novoe literaturnoe obozrenie 61 (2003), S.  152–163; vgl. Shapiro: Nikolai Gogol and the Baroque Cultural

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ist Nos eine Figur, die agiert, spricht – und sich durch eine markante Nase auszeichnet. Nos agiert zugleich als Personifikation der menschlichen Nase, die sich etwa mit dem Frost unterhält.329 Darüber hinaus ist die Nase im Lubok überhaupt ein sehr prominentes Motiv; mal wird sie durch rote Farbe extra hervorgehoben, mal in szenische Darstellungen explizit eingebunden.330 In der Erzählung Nos wird das Fehlen der Nase und die Suche nach ihr als einem eigenständig gewordenen Körperteil, der sich Personenrechte anmaßt, zum humoristischen Sujet. Dabei bietet sich wieder der Anlass für eine Referenz auf die Publiaktionspraxis der Zeit. Der Major Kovalev versucht eine Annonce über das Abhandenkommen seiner Nase aufzugeben und betrachtet die auf Zetteln niedergeschriebenen Angebote: В одной значилось, что отпускается в услужение кучер трезвого поведения; в другой — малоподержанная коляска, вывезенная в 1814 году из Парижа; там отпускалась дворовая девка девятнадцати лет, упражнявшаяся в прачечном деле, годная и для других работ; прочные дрожки без одной рессоры; молодая горячая лошадь в серых яблоках, семнадцати лет от роду; новые, полученные из Лондона, семена репы и редиса; дача со всеми угодьями: двумя стойлами для лошадей и местом, на котором можно развести превосходный березовый или еловый сад; там же находился вызов желающих купить старые подошвы, с приглашением явиться к переторжке каждый день от восьми до трех часов утра.331 Auf dem einen hieß es, ein Kutscher, der nicht trinke, sei zum Dienst abzugeben, auf dem anderen wurde eine 1814 aus Paris importierte, wenig benutzte Kutsche angeboten; dort war ein neunzehn Jahre altes Hausmädchen zu vergeben, das im Waschhandwerk geübt und auch für andere Arbeiten geeignet war; eine feste ungefederte Droschke, ein junger Apfelschimmel, siebzehn Jahre alt, neue aus London eingetroffene Samen von Rüben und Radieschen, eine Datscha mit allem, was dazu gehört: mit zwei Stallverschlägen für die Pferde und Land, auf dem man einen vortrefflichen Birken- oder Tannengarten anlegen könnte; ebenso fand sich dort ein Aufruf an diejenigen, die alte Schuhsolen zu kaufen wünschten, mit der Aufforderung, sich jeden Tag von acht Uhr morgens bis drei Uhr nachmittags auf dem Trödelmarkt einzufinden.332

Wie in der Sparte der smes’, die Gogol’ wegen ihrer Präsentation des Verschiedenen im Sinne einer Kategorie der arabesken Form entwarf (siehe Kap. 2.3), werden an dieser Stelle die Zettelanzeigen gesammelt und aneinandergereiht. Diese Reihung des Verschiedenen, die Anfüllung des Textes durch die Aufzählung, erscheint als Zelebrierung dieser Fülle und ihres kreativen Potentials.333 Dieses Verfahren ist mit dem Medium

Heritage, S. S. 86 ff. 329 Rovinskij: Russkija narodnyja kartinki. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi, Nr. 183; vgl. dazu Pletneva: „Povest’ N. V. Gogolja ‚Nos‘ i lubočnaja tradicija“. 330 Rovinskij, D.: Russkija narodnyja kartinki , Nr. 209 A, Nr. 212. 331 G N, S. 59 f. 332 Gogol, Nikolaj: Die Nase. Russisch/Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Dorothea Trottenberg. Stuttgart 1997, S. 33. 333 Hansen-Löve: „Gøgøl’‘. Die Poetik der Null- und Leerstelle“, S. 195.

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des Lubok eng verbunden. Wie auch in den Zapiski sumasšedšego geht an dieser Stelle groteske Körperlichkeit mit einer Feier der grotesken Anhäufung von Textelementen einher. In den Zapiski sumasšedšego zeigt sich diese positive Tendenz der Defiguration in Verbindung mit einer ‚wilden‘ Rezeptionsweise des Textes, einer identifikatorischen, emotional intensiven Leseweise, die einen ebensolchen Schreibakt hervorruft. Innerhalb dieses erlebenden Schreibakts werden Imaginationen von sinnlicher Intensität ausgelöst, die einer ebensolchen sinnlich-grotesken Wahrnehmung der schriftlichen Materialität korrespondieren. In dieser im Text Zapiski sumasšedšego zunehmenden Tendenz des ‚erlebenden‘ Schreibakts zeigt sich eklatant die bereits festgestellte Diskrepanz zu den Essays der Sammlung Arabeski, die einen Erzählakt aus einer erhabenen Perspektive vorstellen, von der aus die Unordnung und Zusammenhanglosigkeit des Einzelnen immer auch als Ausdruck einer tiefen Ordnung des Ganzen erkennbar werden soll. In den Zapiski sumasšedšego hält der Schreibakt ein Potential einer selbsttätigen Entwicklung des imaginativen Aktes bereit, der Grenzen zwischen Text und Welt, zwischen Subjekt und Text, zwischen gesellschaftlichen Rangordnungen, zwischen Zeichenordnungen der Schrift selbst aufzuheben vermag. Dies betont vor allem noch einmal der letzte Tagebucheintrag unter der umgekehrten Datumsangabe. Auch der Wunsch des Schreibers, in eine erhabene Höhe zu steigen und damit eine Möglichkeit der Distanzierung zu schaffen, scheitert. Der Versuch der Imagination einer erhabenen Leere führt letztlich wieder zum Niederen, zum grotesken Detail in seiner Präsenz zurück:334 Спасите меня! возьмите меня! дайте мне тройку быстрых, как вихорь, коней! Садись, мой ямщик, звени, мой колокольчик, взвейтеся, кони, и несите меня с этого света! Далее, далее, чтобы не видно было ничего, ничего. Вон небо клубится передо мною; звездочка сверкает вдали; лес несется с темными деревьями и месяцем; сизый туман стелется под ногами; струна звенит в тумане; с одной стороны море, с другой Италия; вон и русские избы виднеют. Дом ли то мой синеет вдали? Мать ли моя сидит перед окном? Матушка, спаси твоего бедного сына! урони слезинку на его больную головушку! посмотри, как мучат они его! прижми ко груди своей бедного сиротку! ему нет места на свете! его гонят! Матушка! пожалей о своем больном дитятке!.. А знаете ли, что у французского короля под самым носом шишка?335 Rettet mich! Nehmt mich mit! Gebt mir eine Trojka mit Pferden, schnell wie der Wirbelsturm! Setz dich, mein Kutscher klinge, mein Glöckchen, schwingt euch auf, Rosse, und tragt mich fort aus dieser Welt! Weiter, weiter, bis nichts, nichts mehr zu sehen ist. Da wölbt sich vor mir der Himme; ein Sternlein blinkt in der Ferne; greu breitet sich der Nebel unter den Füßen; eine Saite erklingt im Nebel; auf der einen Seite das Meer, auf der andern Italien; da sieht man auch russische Katen. Blaut dort nicht mein Haus in der Ferne? Sitzt dort nicht meine Mutter vor dem Fenster? Mutterherz, rette deinen armen Sohn! laß eine Träne fallen auf seinen kranken Kopf! schau, wie sie ihn

334 Vgl. Spieker, Sven: „Gogol’s via negationis: Aisthesis, Anaesthesia and the Architerctural Sublime in Arabeski“, in: Wiener Slawistischer Almanach 34 (1994), S. 115–142. 335 G ZS, S. 214.

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quälen! drück an die Brust dein armes Waisenkind! für ihn ist kein Platz auf der Erde! man verfolgt ihn! Mutterherz! erbarme dich deines kranken Kindes! … Und wißt ihr, daß der Dej von Algier [V.: „der französische König“, C. S.] mitten unter der Nase eine Knolle hat?336

Wieder schritt an einer Schlüsselstelle der Erzählung die Zensur ein und ließ den „französischen König“ streichen, der durch den „Dej von Algier“ ersetzt wurde (die deutsche Übersetzung folgt dieser publizierten Variante). An diesem Prozess wird im Grunde das Verfahren der Erzählung noch einmal bestätigt, die einen Schreibakt als Ermächtigungsakt vorführt, in dem ein Kopist sich zum Schreiber macht und die gesellschaftliche Ordnung verschiebt, sich gar selbst zum König krönt. Die Zensur des Textes an jenen „besten Stellen“, die Gogol’ bedauerte, führt noch einmal dieses Ermächtigungspotential des handschriftlichen Schreibakts vor, die der Text mit seinen sinnlichen Motiven des Grotesken und sogar Ekelhaften, der Infragestellung gesellschaftlicher Ordnungen bereits in Szene setzt. In seiner gedruckten Fassung gibt der Text in den zahllosen, ungestrichenen grotesken Motiven, und nicht zuletzt durch das typographische Experiment mit der umgekehrten Schrift dieses Potential des Schreibakts zwar fraglos dennoch wieder. Trotzdem zeigt der Zensurvorgang, dass gewisse Grenzübertretungen in jener Zeit doch dem privaten Manuskript vorbehalten blieben. Der Bezug zu einem Konzept der arabesken Form bleibt in der Erzählung immer ambivalent. Fokussiert man die explizite Sinnlichkeit und identifikatorische Praktiken der Rezeption und Produktion des künstlerischen Textes, die der Bezug zu Lubok bzw. lubočnaja literatura mit sich bringt, so wird der Einheitsgedanke der arabesken Form (die Ahnung einer Wahrheit, eines generischen Prinzips, das ihr zugrunde liegt und sie prägt) fallengelassen. Doch zugleich eignet der Erzählung Zapiski sumasšedšego eine durchgehend reflexive Tendenz, die ja gerade diese Rezeptions- und Schreibpraxis ausstellt, sie humoristisch vor dem Hintergrund von Begriffen der Formlosigkeit in der Literaturkritik ihrer Zeit entfaltet. Derart könnte man in der Erzählung die Forderung eines arabesken Formbegriffs erfüllt sehen, von der Darstellung auf die Form zu reflektieren. Die Formlosigkeit eines Textes, der kritisch als bloßer ‚Fetzen‘ bezeichnet werden könnte (und so ja auch im Titel durch einen unbekannten Herausgeber bezeichnet wird), führt jedoch ein kreatives Potential vor, das letztlich nicht zu einem Ursprung des Geistes zu führen vermag. Vielmehr treibt es immer nur weitere sinnliche Imaginationen hervor, die nicht auf eine höhere Einheit deuten. Der Text stellt somit eine humoristische Problematisierung einer arabesken Form dar, die sich immer am Rande ihrer Verflüchtigung in die bloße Defiguration, den Fleck, bewegt. In diesem Sinne kann auch Gogol’s nicht publizierte Umschlagzeichnung zu Nos verstanden werden (Abb. 24).

336 Gogol: Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen, S. 41.

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Abb. 24: N. V. Gogol’: Risunok obložki „Nosa“, podarennyj Gogolem Ščepkinu (Zeichnung des Um­­ schlags von „Nos“, wurde von Gogol’ Ščepkin geschenkt). OR IRLI RAN. F. 652. Оp. 1. Еd. chr. 66, S. 1.

In einer arabesken Verzierung der Titelzeile und Verfasserangabe schließt Gogol’ deutlich an die Tradition der Groteske in der Malerei an, nur dass zusätzlich zu den Tiergestalten, die dabei kein unübliches Motiv darstellen, immer wieder Nasen (ohne deren zugehörigen menschlichen Körper) das Blatt zieren. Unter dem Untertitel Povest’ (dt. „Erzählung“) ist eine Nase deutlich durch einen hinzugefügten Schatten vom Hintergrund abgegrenzt. Verschiedene, selbst schnabelartige Nasen wachsen aus einem ähnlich wie ein Baumstamm wirkenden Element am rechten Rand. Am oberen Bildrand tanzen mehrere Nasen um einen Kreis. Zudem verbirgt sich eine Nase in der Vase über der von zwei Vögeln gehaltenen Girlande, sodass die Vase als menschliche Karikatur erscheinen könnte (ihre Henkel dadurch wie zwei große Ohren wirkend). Letztlich findet sich die Form des Nasenmotivs nicht nur in den zahlreichen Nasen selbst, sondern auch im Vogelschnabel und den in die oberen Ecken gesetzten ornamentalen Gebilden, die Blumen sein könnten, deren Blätter in diesem Falle jedoch selbst wieder nasenähnliche Formen erhalten haben. ­Einerseits kann ein Bezug der Zeichnung zur barocken Emblematik mit ihren grotesken Elementen vermutet werden (ähnlich wie bei Gogol’s berühmtem Umschlagentwurf zu Mertvye duši [Tote

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Seelen], bei dem sich die Problematik ähnlich darstellt).337 Vor dem Hintergrund der Erläuterungen dieses Kapitels über das in der Erzählung dominante groteske Motiv kann man jedoch zugleich schließen, dass vor allem die Arabeske als Rahmenornament und bedeutendes sowohl malerisches als auch literarisches Formkonzept karikiert wird (siehe als Kontrast etwa die eine romantische Ästhetik des Absoluten affirmierenden Arabeskenmalereien Philipp Otto Runges). Interessant ist hierbei das Kreismotiv, das die Nasen umtanzen – der Leere des Kreises steht dabei die Überpräsenz der lustigen Nasen entgegen: die übermäßige Präsenz einer grotesken Körperlichkeit, einer Motivik der Fülle, umspielt die Leere, das Fehlen eines Ideals. Doch während dieses Fehlen in verschiedenen Erzählungen Gogol’s als eine teuflische Leere des künstlerischen bzw. imaginativen Scheinlebens ausgewiesen wird, besitzt eine Erzählung wie Nos die humoristische Tendenz, die Präsenz der imaginativen Elemente spielerisch auszukosten. Eine ‚Somatisierung‘ des arabesken Ornaments lässt einen immerwährenden Entzug einer absoluten Wahrheit im künstlerischen Wort/der künstlerischen Schrift/des künstlerischen Bildes zum lustigen Spiel werden, in dem sich die Nasen im Tanz um das immer Absente vervielfältigen.

337 Dmitrieva, Ekaterina E.: N. V. Gogol’ v zapadno-evropejskom kontekste. Meždu jazykami i kul’turami. Moskva 2011, S. 212 ff. Diese Deutung scheint bei Gogol’s Umschlagentwurf zu Mertvye duši auch angebracht, dessen engen Bezug zur Barocken vanitas-Symbolik Dmitrieva feststellt (Dies.: „Nikolaj Vasil’evič Gogol’ 1809–1852“, S. 42). Auch hier wäre allerdings eine Untersuchung des Bezugs zum arabesken Rand- und Bildmotiv in jener Zeit v. a. als Umschlagmotiv fruchtbar.

4 D  ie Poetik der Frische in den Mertvye duši (Tote Seelen): Plan und Scheitern einer figuralen Konzeption Старый, обширный, тянувшийся позади дома сад, выходивший за село и потом пропадавший в поле, заросший и заглохлый, казалось, один освежал эту обширную деревню и один был вполне живописен в своем картинном опустении.338 Einzig der alte, weitläufige Park, der sich hinter dem Haus hinzog, sich über das Dorf hinaus erstreckte und sich dann in den Feldern verlor, schien, verwildert und zugewuchert wie er war, dieses große Dorf zu beleben (wörtlich: „erfrischte“, C. S.), er allein war idyllisch in seiner malerischen Wildheit.339

Bereits Petr Pletnev erkannte, dass die Beschreibung von Pljuškins Garten im Roman Mertvye duši (Tote Seelen) eine poetologische Bedeutung besitzt: Ego kniga točno ėtot sad. („Sein Buch ist genau dieser Garten.“) 340 Lebendig erscheint der Garten gerade durch die Vereinigung der Natur mit dem menschlichen Plan, dessen künstlich gezogene Grenzen durch selbsttätige organische Wachstumskräfte übertreten werden. Die „Schönheit“, die der Erzähler in diesem „belebten“ (wörtlich: „erfrischten“) Bild erkennt, entsteht aus dem Bruch mit dem künstlichen Plan durch selbsttätiges Wachstum, wodurch wiederum ein größerer Plan deutlich wird, der durch die Einzelheiten des Bildes schimmert. Pletnev hat insofern Recht, als der Garten Pljuškins die Vorstellung einer Poetik verbildlicht, die in Momenten der Autonomie und Selbsttätigkeit aufgeht, diese jedoch auf einen ihnen vorausgehenden Ursprung zurückführt und in eine größere Ordnung einhegt. Eine derartige größere Ordnung durchdringt das Verhältnis von im Bild beschriebenem Vorder- und Hintergrund, von Einzelnem und Ganzem (siehe hierzu eingehender das folgende Kapitel 4.1). Dass der Versuch der Erzeugung eines diesem Garten ähnlichen Verhältnisses von Einzelnem und Ganzem die Verfahren von Gogol’s Mertvye duši prägt, steht außer Frage. Dennoch muss Pletnevs Feststellung einer Analogie von Gartenbeschreibung und Erzählverfahren der Mertvye duši im Ganzen spezifiziert werden: Der Roman stellt die Problematisierung eines solchen, im positiven Sinne arabesken Formverhältnisses dar. In diesem Zusammenhang tritt der Begriff der svežest’ (dt. „Frische“) auf, der im Feld der

338 G MD S. 112 f. 339 Gogol, Nikolai: Tote Seelen. Ein Poem. Aus dem Russischen neu übersetzt von Vera Bischitzky. Mannheim 2010, S. 139 ff. 340 Pletnev, Petr Aleksandrovič: Sočinenija i perepiska. Hg. v. Ja. Grot. Bd. 3. Sankt-Peterburg 1885, S. 493. https://doi.org/10.1515/9783110705140-011

Die Poetik der Frische in den Mertvye duši (Tote Seelen) 

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Lebendigkeit zentrale Bedeutung nicht nur innerhalb einer poetologischen Reflexion über eine erstrebenswerte literarische Form, sondern gerade auch als Begriff ihres Selbstverlustes erhält. Svežest’ ist damit ein Begriff, der die Ambivalenz eines derartigen figuralen Formbegriffs aufgreift. In ihm trifft sich das schöpferische Potential mit dem drohenden Verlust der Form, dem Kippen in die Defiguration, die nicht in einer figuralen Bestimmung aufgehoben werden kann. Das folgende Kapitel zeigt, dass vor allem diese spannungsgeladene Widersprüchlichkeit den Roman Mertvye duši prägt und letztlich das Alleinbleiben ihres ersten Teils bzw. die nur fragmentarische Existenz ihres zweiten Teils bedingt: Ein figurales Konzept der Form ist nicht einzuhalten – Gogol’s poetologischer Plan der Mertvye duši scheitert. Die ‚Idee‘ der Mertvye duši besteht tatsächlich in der gegenseitigen Einhegung des Allgemeinen und Spezifischen, des Einzelnen und Ganzen. Als dieses „Ganze“ setzt der Roman vor allem Russland ein. Die in der Erzählung geschilderten Ereignisse, Personen und Architekturen bzw. Geographien sind dabei nicht nur als pars pro toto zu begreifen. Sie können zugleich vor dem philosophisch-nationalistischen und intertextuellen Hintergrund des Romans im Kontext der Figuraldeutung verstanden werden. Die Bedeutung der ‚russischen Idee‘ im Roman speist sich dabei einerseits aus einer Auseinandersetzung mit romantisch-nationalistischen Diskursen um die Leere/Weite/Unendlichkeit Russlands und deren Anbindung sowohl an den biblischen Schöpfungsmythos (über Peter I) als auch an eine Theorie des Absoluten und die apophatische Tradition der Orthodoxie.341 Andererseits spielt die konzeptuelle Einfassung des Russischen Kaiserreichs in die Lehre der vier Weltreiche und die Translatio imperii (Moskau als drittes Rom)342 dabei eine zentrale Rolle, indem Russland eine heilige Bestimmung zugesprochen wird. Diese heilsgeschichtliche Deutung der Bestimmung Russlands korrespondiert wiederum dem deutlichen Bezug des Romans auf Dantes Divina commedia. Vor dem Hintergrund von Gogol’s Plan, die Erzählung als eine Trilogie analog zu Dantes Werk zu gestalten – als Wanderung durch Hölle, Fegefeuer und Paradies –,343 muss das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem im Roman in einer engen Verbindung zur Heilsgeschichte und einem mittelalterlichen Konzept der Figuraldeutung gesehen werden, die Dantes Werk prägt. Im Anschluss an die Realprophetie der Kirchenväter, innerhalb derer die Personen und Ereignisse des Alten Testaments zugleich als historisch und als Präfiguration des Neuen Testaments und damit der Erlösung durch Jesus Christus gedeutet wurden, werden dabei historische Ereignisse und Personen als Figuren einer zukünftig im göttlichen Heil

341 Vajskopf, Michail: „Imperial Mythology and Negative Landscape in Dead Souls“, in: Spieker, Sven (Hg.): Gøgøl: Exploring Absence. Negativity in 19th-Century Russian Literature. Bloomington, Indiana 1999, S. 101–112. 342 Hösch, Edgar: „Die Idee der Translatio Imperii im Moskauer Russland“, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Institut für Europäische Geschichte. Mainz 2010-12-03. URL: http://www.iegego.eu/hoesche-2010-de. URN: urn:nbn:de:0159-2010102586 (zuletzt abgerufen am 16.07.2018). 343 Šambinago, S.: Trilogija romantizma (N. V. Gogol’). Moskva 1911; Mann: Poėtika Gogolja, S. 348.

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sich erfüllenden Bestimmung gedeutet. Sie sind in dieser Ansicht sowohl tatsächlich eingetretenes Geschehen bzw. existente historische Personen als auch jene Figuren des Zukünftigen. In der Divina commedia treten derart Vergil, aber auch Dante selbst auf. Vergil ist sowohl der Dichter historischer Existenz als auch der poetische Führer, der hier derart seine Bestimmung findet; Dante ist ebenso historischer Dichter, der zugleich auf seinem Weg durch die drei Reiche des Jenseits erleuchtet wird. Sein Weg führt dabei über die Negativität der Hölle zum Fegefeuer und schließlich ins Paradies, die gemeinsam eine vollendete geordnete Einheit bilden.344 Dass Gogol’ die Mertvye duši als Analogie zu diesem Werk konzipiert hat, ist oft festgestellt worden. Inwiefern er sich jedoch produktiv mit diesem auseinandergesetzt hat und damit selbstverständlich von der Commedia differiert, ist Gegenstand einer nicht abschließend geführten Diskussion geblieben. Man ist dabei zu sich widersprechenden, manchmal auch ambivalenten Ergebnissen gekommen: Die These von Ironie und moderner Literarizität trifft auf die Feststellung eines ernsthaften, emphatischen Anschlusses.345 Eine angebliche Allegorisierung der im Roman auftretenden literarischen Figuren (und ihre Deutung im realistischen Sinne) steht wiederum der Feststellung einer bewusst betriebenen Entblößung der Sprache im formalistischen Sinne gegenüber.346 Nicht zuletzt stellt sich dabei die Frage, wie man mit dem Motiv der „toten Seelen“ umzugehen habe: Die Deutung der Gutsbesitzer selbst als „tote Seelen“, die eine Hölle bevölkern und dabei zugleich – analog zu diesem Verfahren bei Dante – dem Grad ihrer Sündhaftigkeit nach in aufsteigender Ordnung präsentiert werden,347 wurde ebenso einleuchtend argumentiert wie der philosophische Bezug zur Körper bzw. Materie-Seele-Problematik.348 Die Wendung „tote Seelen“ fordert eine Reflexion über das Verhältnis von unsterblicher Seele und sterblichem Körper, über die Frage des Verhältnisses von Geist oder Lebendigkeit und Materie, wie sie auch eine künstlerische Reflexion seit jeher geprägt hat. Und gerade der Bezug zur Divina commedia selbst fordert diese Reflexion heraus. Die Substanzlosigkeit der Sprache, ihre Entleerung oder Entblößung, die bereits durch die paradoxe Verbindung „tote Seelen“ betont zu werden scheint,349 läge demnach ebenso in der literarischen Erzeugung einer negativen Welt begründet, dem Inferno, durch das sich Čičikov auf seiner Reise hindurchbewegt. Die „toten Seelen“ sind dabei aber, jenseits der Deutung der die fiktive Welt bevölkernden Gutsbesitzer als jene „toten Seelen“, vor allem geschriebene Listen – Namen Verstorbener, die als lebendig geführt werden. Die Listen haben derart keine tatsächliche Referenz, sind

344 Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Berlin 1959, S. 181 f. 345 Mann: Poėtika Gogolja, S. 343 ff. 346 Shapiro, Marianne: „Gogol and Dante“, in: Modern Language Studies Vol. 17, Nr. 2 (1987), S. 37– 54, hier S. 37. 347 Mann: Poėtika Gogolja, S. 445 f. 348 Vgl. Shapiro: „Gogol and Dante“, S. 40 ff. 349 Ebd., S. 41.

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als Mittel des Behördenbetrugs nur Scheindokumente und zugleich Manifest eines projektiven Plans des Helden Čičikov. Die „toten Seelen“ sind somit die toten Namen, die tote Schrift, der eine Fiktion ihr Leben einhaucht, und der wiederum selbst durch „Frische“ der Schrift ihre eigene Lebendigkeit verliehen wird (siehe hierzu das folgende Kapitel 4.3). Dass Čičikovs Plan nie erfüllt wird, der Roman Mertvye duši sich also als eine Erzählung dessen ständiger Durchkreuzung darstellt,350 macht deutlich, dass die Negativität der „toten Seelen“ nicht auf die letztliche Erfüllung, die Wendung der Negativität ins Positive hinzielt. Darüber hinaus geht das Verhältnis von Einzelnem und Ganzem, das die formuly obobščenija (dt. „Allgemeinheitsformeln“) im Roman zu evozieren versuchen,351 nicht auf: Der Roman inszeniert vielmehr den bloßen Versuch, die Anlass zu Digressionen bietende Fülle an Details in jenes ‚Panorama‘, das die gesamtmenschliche heilsgeschichtliche und im Besonderen die Bestimmung Russlands betrifft,352 einzuhegen. Absolute Ganzheit und detaillierte Fülle treten dabei jedoch unvereinbar auseinander (siehe hierzu Kap. 4.1).353 Wie bereits im vorigen Kapitel zu Gogol’s Begriff des Arabesken erläutert wurde, zeigt sich in seiner Bearbeitung des Fiktionalen immer wieder dessen Differenz von seinem Begriff der Historiographie, der von ebendiesem Ganzheitsgedanken getragen wird.354 Im Gegensatz zum fiktionalen Text, der durch eine Offenheit der Gleichzeitigkeit geprägt scheint – eine Tatsache, die auch im Roman Mertvye duši durch den sich in seinen Digressionen verlierenden Erzähler immer wieder betont wird – erfolgt die Beschreibung der Historie in einer Rückschau. Die Idee einer Epoche vereint die einzelnen Erscheinungen, prägt sie und offenbart sich dem Auge des Historiographen. Es geht jedoch um mehr: Auch der Glaube an eine göttliche Bestimmung der Historie offenbart sich in Gogol’s historiographischen Schriften. Im fiktionalen Text ist diese heilsgeschichtliche Ausrichtung jedoch unhaltbar. Nicht nur verliert sich der Versuch der Anbindung der winzigen erzählten Details an die ‚russische Idee‘ im Absurden, auch Čičikovs Bestimmung in der Läuterung und Erfüllung in göttlicher Wahrheit bleibt unzugänglich. Gogol’ zerfetzt und verbrennt den zweiten Teil, beginnt den dritten Teil nicht. In den verbliebenen Fragmenten des zweiten Teils, vor allem dem fast vollständig erhaltenen Schlusskapitel, wird die Läuterung Čičikovs bereits als Möglichkeit angedeutet (siehe hierzu Kapitel 5.1). Dabei tritt vor allem der Begriff der Wahrheit prominent hervor, als Wille zur Ehrlichkeit, die durch die ausufernden, mäandernden Schreibakte der Beamten schließlich wieder zur Lüge wird. Die Schrift wird verzerrt. Es ist die Schrift der Fiktion, die sich nicht in Richtung auf eine figurale Bestimmung, die

350 Fusso: Designing Dead Souls, S. 20. 351 Mann: Poėtika Gogolja, S. 280. 352 Ebd., S. 281. 353 Vgl. Fusso: Designing Dead Souls, Kap. 2: „Plans and Accidents“ (S. 20–51). 354 Vgl. ebd., S. 18.

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Präfiguration göttlichen Heils bändigen lässt. Ihre Lebendigkeit ist in diesem Verständnis die Lebendigkeit der Lüge (siehe das folgende Kapitel 5), der selbsttätigen, ziellosen Entwicklung, die sich ständig von einem Ursprung und einer absoluten Bedeutung entfernt, eine fragmentarische Struktur bildend, die sich nie zur Ganzheit schließen lässt und dabei nicht von vornherein durch eine letztliche Aufhebung im Positiven bestimmt ist. Ebendiese Tendenz zur eigenständigen Weiterentwicklung, die gerade nicht in einer religiösen Bestimmung wurzelt, bestimmt die Poetik der Mertvye duši – sie ist dabei zentral für Gogol’s Poetik im Allgemeinen. So zeigt der Roman Mertvye duši eine Negativität, die durch die Fortsetzung zu einer letztendlichen Erfüllung im Positiven bestimmt war, diese Bestimmung jedoch nie erreicht hat. Auf der anderen Seite eignet der Poetik der „toten Seelen“ jedoch selbst eine lebendigpositive Kreativität, die gerade nicht auf eine Erlösungsgeschichte gerichtet ist. Dieses Schöpferische wurzelt in der Autonomie der über die Schrift entwickelten Fiktion. Gogol’s Begriff der svežest’ drückt diese Ambivalenz der Lebendigkeit aus: Sie schwankt zwischen ihrer Gerichtetheit auf einen Heilsplan, eine die Erscheinung übersteigende absolute Wahrheit, die in ihr bereits ausgedrückt ist, und einer losgelösten Eigentätigkeit ohne Anbindung an jeglichen Ursprung oder jegliches Zentrum. Es ist auch die Ambivalenz der arabesken Form, die ihren Hang zum Formverlust bereits enthält, ihn jedoch in Richtung auf einen unverrückbaren, wahren Ursprung und eine Harmonie zu übersteigen versucht.

4.1 Zwischen ungebändigter Kreativität und göttlicher Erscheinung Im Begriff der svežest’ versammeln sich bei Gogol’ im Roman Mertvye duši mehrere Momente eines Formkonflikts, der in entscheidender Weise mit dem Medium der Schrift und seinem literarischen Einsatz verbunden ist. Im Begriff entfaltet sich dabei eine Ambivalenz des Lebendigen, des Zufälligen, der Selbsttätigkeit und der sinnlichen Präsenz. Im Folgenden soll erläutert werden, wie der Roman um die im engeren Sinne schriftreflexiven Szenen herum (siehe zu diesen Kap. 4.2 und 4.3) diese Dynamik entfaltet und dabei die metapoetische Qualität des Begriffs der „Frische“ markiert. Dabei tritt zunächst die Gestalt des Gutsbesitzers Nozdrev hervor: Это был среднего роста, очень недурно сложенный молодец с полными румяными щеками, с белыми, как снег, зубами и черными, как смоль, бакенбардами. Свеж он был, как кровь с молоком; здоровье, казалось, так и прыскало с лица его.355

355 G MD, S. 64.

Zwischen ungebändigter Kreativität und göttlicher Erscheinung  

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Es war ein mittelgroßer, gut gebauter Kerl mit vollen roten Wangen, schneeweißen Zähnen und pechschwarzem Backenbart. Er war frisch wie Milch und Blut; die Gesundheit schien ihm förmlich aus dem Gesicht zu springen.356

Nozdrevs Lebenskraft scheint sich zu verselbständigen, wie sein unbändiges (lautes, grobes, sprunghaftes) körperliches Gebaren unterstreicht. Sein körperliches Störverhalten ist auch ein soziales: Etwa betrinkt er sich ohne Maß und gerät fortwährend in Prügeleien;357 zudem wird berichtet, er habe sich bei einem Ball zwischen die Tanzenden auf den Boden gesetzt und ihnen an den Röcken gezogen.358 Im Damespiel mit Čičikov spielt er auf eine anscheinend sehr offensichtliche und dreiste Weise falsch: — Нет, брат, я все ходы считал и всё помню; ты ее только теперь пристроил. Ей место вон где! — Как, где место? — сказал Ноздрев, покрасневши. — Да ты, брат, как я вижу, сочинитель! — Нет, брат, это, кажется, ты сочинитель, да только неудачно.359 „Nein, mein Lieber, ich habe alle Züge gezählt und erinnere mich an alles; du hast ihn eben erst versetzt; sein Platz ist nämlich dort!“ „Was soll das heißen, sein Platz ist dort?“, sagte Nosdrjow und lief rot an. „Wie ich sehe, mein Lieber, bist du ein Lügner!“ „Nein, mein Lieber, du scheinst ein Lügner zu sein, aber es nützt dir nichts.“360

In der zitierten Übersetzung von Vera Bischitzky richtigerweise im Sinne von „Fabulant“/„Schwindler“ mit dem Wort „Lügner“ übersetzt, entspricht das hier bedeutungsvolle sočinitel’ jedoch im Deutschen auch dem „Dichter“ (von sočinjat’, dt. „erdichten“/ „sich ausdenken“).361 Das Prinzip, nach dem sich Nozdrev verhält, ist nicht eigentlich auf „Lüge“ oder „Betrug“ gebaut, sondern tatsächlich auf der ständigen Grenzüberschreitung jenseits von moralischen Werten im Sinne einer anarchisch-schöpferischen Tätigkeit. Diese drückt sich auch immer wieder in den Sprechakten Nozdrevs aus, etwa, wenn er Čičikov auf seinem Grundstück herumführt und einfach die Grenze seiner Ländereien aufhebt: „Vot granica!“, skazal Nozdrev. „Vse, čto ni vidiš’ po ėtu storonu, vse ėto moe, i daže po tu storonu […] vse moe.“362 („‚Das ist die Grenze‘, sagte Nosdrjow. ‚Alles, was du auf dieser Seite siehst, das gehört mir, und sogar auf der anderen Seite […] ist

356 Gogol: Tote Seelen, S. 79. 357 G MD, S. 70, Gogol: Tote Seelen, S. 87. 358 G MD, S. 174; Gogol: Tote Seelen, S. 214. 359 G MD, S. 85. 360 Gogol: Tote Seelen, S. 103. 361 Vgl. hier und im Folgenden zu Nozdrev als Figur des Kreativ-Schöferischen Fusso: Designing Dead Souls, S. 43 f. 362 G MD, S. 74.

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auch alles meins.“363). Die Tätlichkeit dieses Sprechens verdeutlicht auch Nozdrevs Aussage vor dem Untersuchungskomitee gegen Čičikov. Nozdrev bestätigt jeden noch so abstrusen Verdacht und setzt, frei assoziierend und maßlos übertreibend, selbst mit Details und Anekdoten nach, nicht ohne sich auch selbst zu beschuldigen – nur um des Erzählens willen. Es spricht aus ihm wie von selbst heraus (skazalos’ kak-to samo soboju364 [„es sagte sich irgendwie von selbst“]) und jazyka nikak uže ne mog prideržat’365 („die Zunge war gar nicht mehr zu bändigen.“)366 Die Worte, die er bei seiner ausufernden mündlichen Aussage vor den Beamten äußert, führen schließlich zum Tod des Staatsanwalts: Oni podejstvovali na nego do takoj stepeni, čto on, prišedši domoj, stal dumat’, dumat’ i vdrug, kak govorit’sja, ni s togo ni s drugogo umer. („Sie wirkten in einem Maße auf ihn, dass er, nach Hause zurückgekehrt, zu grübeln begann und plötzlich mir nichts, dir nichts, wie es so schön heißt, starb.“)367 Es scheint, als hätten die Worte aus Nozdrevs Mund tatsächlich eine materielle, körperliche Qualität erhalten und seien geschossartig von seiner Zunge auf den Staatsanwalt gesprungen – wie kleine, tanzende Teufel,368 die er vo vsju glotku369 („aus vollem Halse“)370 herausrief, aus dem Schlund entließ (russ. glotko: dt. „Schlund“). Die kreative Sprechweise Nozdrevs, der eine ebenso agitierende Qualität wie seiner körperlichen Präsenz und Tatkräftigkeit zugeordnet wird, erinnert an Michail Bachtins Analyse der Anekdote von Harlekin und Stotterer, in der er die wesentlichen Züge des Grotesken aufzeigt.371 Der Stotterer bläht im Bemühen, das Wort auszusprechen, das Gesicht schwitzend auf; der Harlekin kommt und stößt ihm den Kopf in den Bauch: Der Stotterer spuckt das Wort aus. Dies deutet Bachtin als Neugeburt des Wortes, bei der das Wort als geistiger Akt entthront und auf die materiell-leibliche Ebene übertragen werde.372 Dass der Sprechakt Nozdrevs beinah selbst eine körperliche Dimension erhält, selbst zum Körperdrama wird ähnlich wie in der Commedia dell’arte (wenn auch in sublimierter Form), lässt Nozdrev als eine eng mit dem Lubok verbundene Figur anmuten. Auch sein Name, sprechend wie die Namen der anderen Gutsbesitzer im

363 Gogol: Tote Seelen, S. 91. 364 G MD, S. 208. 365 G MD, S. 209. 366 Gogol: Tote Seelen, S. 259 f. 367 Ebd., S. 261 368 Vgl. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 345–412: Bachtin geht in seinem Kapitel über die groteske Körperkonzeption stark auf das Motiv des Mundes als Schlund, als Eingang zur Körperhölle ein und weist es als althergebrachtes Motiv nach, das auch den Zeitgenossen Rabelais’ noch gut bekannt gewesen sei. Als besonders deutlich diese Bedeutung des Mundes widerspiegelndes Bild beschreibt er ein Bühnenbild aus dem siebzehnten Jahrhundert, das einen riesigen Kopf mit aufgesperrtem Schlund zeigte, in dem Teufelchen tanzten. 369 G MD, S. 172. 370 Gogol: Tote Seelen, S. 213. 371 Vgl. Bachtin: Rabelais und seine Welt, S. 350 ff. 372 Ebd., S. 350.

Zwischen ungebändigter Kreativität und göttlicher Erscheinung  

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Roman, zeigt dies: Nozdrev ist abgeleitet von nozdrja (dt. „Nasenloch“). Die Nase ist auch im Lubok ein eigenständiger Akteur, dem ganze Sujets gewidmet sind. Im Kapitel zu Gogol’s Arabesken (Kap. 3) wurde bereits gezeigt, wie eng bei ihm oftmals die Bezüge zum Lubok oder einer lubočnaja literatura sind. Dass Gogol’ dabei nicht in einem verurteilenden Sinne die Lubok-Literatur aufgreift, sondern in ihr eine literarische Qualität erkennt, die er auch in seinen Texten verhandelt, wird wieder einmal an der Figur Nozdrev deutlich. Nozdrev zeigt damit auch die Bedeutung der Tradition des Schelmenromans für Gogol’s Roman, eines Genres, das ebenfalls mit der Narrenkultur und dem Volkstheater, somit auch dem Lubok in jener Zeit eng verbunden war. Nicht nur ist natürlich der Roman im Allgemeinen mit dieser Tradition eng verknüpft;373 auch in einzelnen Motiven und gerade der Nähe einer Figur wie Nozdrev zur Commedia dell’arte offenbart sich diese literarische Tradition. Auch Nozdrev verkörpert vor dem Hintergrund der Lubok-Literatur und ihrer Kritik in jener Zeit eine selbstvergessene Hingabe an die gesetzlose Formlosigkeit, die einen unendlichen Quell des Schöpferischen darstellt. Sein dunkel sprießender schwarzer Bart ist von stol’ko rastitel’noj sily („solch großer Wachstumskraft“), die auch das Bauernmädchen bei Korokočka zu verkörpern scheint, die schier aus dem schwarzen Boden herauswächst (s bosymi nogami, kotorye izdali možno bylo prinjat’ za sapogi, tak oni byli oblepleny svežeju [Hervorhebung C. S.] grjaz’ju.374 / „mit nackten Füßen, die man von Weitem hätte für Stiefel halten können, so waren sie behaftet mit frischem [Hervorhebung C. S.] Schmutz“). Nozdrevs „Schlund“ ist wie der dunkle, wild wuchernde Bart auf seinen Wangen oder auf seiner Brust (krome otkrytoj grudi, na kotoroj rosla kakaja-to boroda375 [„außer der offenen Brust, auf der eine Art Bart wuchs“]) das Symbol des dunklen Chaos.376 Nozdrev ist die Verkörperung eines Mediums dieser dunklen Gestaltlosigkeit, der keine kosmische Ordnung vorangeht. Die Assoziation dieser chaotischen Vitalität mit dem Akt des Erzählens erfolgt deutlicher in der Einleitung des Kapitels über den Gutsbesitzer Pljuškin: Прежде, давно, в лета моей юности, в лета невозвратно мелькнувшего моего детства, мне было весело подъезжать в первый раз к незнакомому месту: […] [Н]ичто не ускользало от свежего тонкого вниманья […]. Уездный чиновник пройди мимо — я уже и задумывался: куда он идет, на вечер ли к какому-нибудь своему брату, или прямо к себе домой, чтобы, посидевши с полчаса на крыльце, пока не совсем еще сгустились сумерки, сесть за ранний ужин с матушкой, с женой, с сестрой жены и всей семьей […]. Теперь равнодушно

373 Striedter, Jurij: Der Schelmenroman in Russland. Ein Beitrag zur Geschichte des russischen Romans vor Gogol’. Berlin 1961, S. 7. 374 G MD, S. 58 f. 375 Ebd., S. 83. 376 Vgl. die Ableitung von Chaos ursprünglich von chaīno (dt. „klaffen“/„gähnen“), Chaos als „klaffender Urgrund“, „Leere“; und seine Assoziation mit Finsternis als „lichtloser Abgrund“ etwa bei Hesiod: Theisen, Bianca: „Chaos  – Ordnung“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Bd.  1. Stuttgart/Weimar 2010, S. 751–771, hier S. 753.

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подъезжаю ко всякой незнакомой деревне и равнодушно гляжу на ее пошлую наружность; моему охлажденному взору неприютно, мне не смешно, и то, что пробудило бы в прежние годы живое движенье в лице, смех и немолчные речи, то скользит теперь мимо, и безучастное молчание хранят мои недвижные уста. О моя юность! о моя свежесть!377 Einst, vor langer Zeit, in den Jahren meiner Jugend, in den Jahren meiner unwiederbringlich entschwundenen Kindheit, war mir so fröhlich zumute, wenn ich zum erste Mal an einem unbekannten Ort ankam: […] [N]ichts entging meiner frischen, wachen Aufmerksamkeit […]. Ging ein Kreisbeamter vorbei – gleich dachte ich: wohin er wohl gehen mag, zu einer Abendgesellschaft bei einem seiner Kollegen vielleicht oder direkt zu sich heim, um noch ein halbes Stündchen auf der Treppe vor seinem Haus zu sitzen, so lange sich die Dämmerung noch nicht ganz verdichtet hat, sich dann mit seiner Frau, der Schwester seiner Frau und der ganzen Familie zu einem frühen Abendessen zu Tisch zu setzen […]. Heute nähere ich mich jedem unbekannten Dorf voller Gleichgültigkeit und auch sein heruntergekommenes Äußeres lässt mich gleichgültig; mein erkalteter Blick ist müde, nichts kommt mir komisch vor, und das, was in früheren Jahren lebhafte Bewegung in mein Gesicht gezaubert, was Lachen und einen nicht enden wollenden Redefluss ausgelöst hätte, das gleitet jetzt an mir ab und meine reglosen Lippen verharren in gleichgültigem Schweigen. Oh, du meine Jugend! oh, du meine Frische!378

Die Eindrücke sind für den jungen Menschen noch neu, besitzen noch nicht die kategoriale Anbindung, die der Erzähler der Mertvye duši ja ständig zu betonen versucht. Die detailerfüllte Rede des Erzählers straft seine angebliche ‚Ernüchterung‘ gerade im Rückblick auf seine jugendliche Assoziationsgabe jedoch Lügen. Indem der Erzähler durch seine Maske der Melancholie bedauert,379 zur Frische der Aufmerksamkeit nicht mehr fähig zu sein, inszeniert er seine erzählerische Agilität und Selbstsubvertierung, mit der der Plan, der panoramatische Weitblick,380 dem Detail zum Opfer fällt. Der Begriff der „Frische“ bezeichnet gerade dieses Potential des Erzählens und korrespondiert damit dem anarschischen Schöpfertum, das über die Figur Nozdrev eingeführt worden war. Damit markiert die Einleitung des Kapitels die folgenden Passagen der Beschreibung des Pljuškinschen Dorfs, der Fassade des Gutshauses und des Gartens, auf die die Szene im grabesartigen Gutshaus folgt, als metanarrativ. Verfall und sprießendes Wachstum bzw. Lebendigkeit werden damit der romaneigenen Poetik analog im Wechsel gezeigt. Im Zentrum steht dabei die Gartenbeschreibung, die sich als Ideal dieser Poetik lesen lässt. Sie stellt sich als romantisches Ideal einer figuralen Poetik dar, innerhalb derer das unendliche Potential des imaginationsgeleiteten Erzählens – im Gegensatz zu der anarchisch-chaotischen Frische des Nozdrev und der „Frische der Jugend“ – Ausdruck einer metaphysischen Bestimmung ist:

377 G MD, S. 110 f. 378 Gogol: Tote Seelen, S. 137 f. 379 Wagner-Egelhaaf, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration. Stuttgart und Weimar 1997, S. 2. 380 Vgl. Fusso: Designing Dead Souls, S. 122 ff.

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Старый, обширный, тянувшийся позади дома сад, выходивший за село и потом пропадавший в поле, заросший и заглохлый, казалось, один освежал эту обширную деревню и один был вполне живописен в своем картинном опустении. Зелеными облаками и неправильными трепетолистными куполами лежали на небесном горизонте соединенные вершины разросшихся на свободе дерев. Белый колоссальный ствол березы, лишенный верхушки, отломленной бурею или грозою, подымался из этой зеленой гущи и круглился на воздухе, как правильная мраморная сверкающая колонна; косой остроконечный излом его, которым он оканчивался кверху вместо капители, темнел на снежной белизне его, как шапка или черная птица. […] Местами расходились зеленые чащи, озаренные солнцем, и показывали неосвещенное между них углубление, зиявшее, как темная пасть; оно было все окинуто тенью, и чуть-чуть мелькали в черной глубине его: бежавшая узкая дорожка, обрушенные перилы, пошатнувшаяся беседка, дуплистый дряхлый ствол ивы, седой чапыжник, густой щетиною вытыкавший из-за ивы иссохшие от страшной глушины, перепутавшиеся и скрестившиеся листья и сучья, и, наконец, молодая ветвь клена, протянувшая сбоку свои зеленые лапы-листы, под один из которых забравшись Бог весть каким образом, солнце превращало его вдруг в прозрачный и огненный, чудно сиявший в этой густой темноте. […] Словом, все было хорошо, как не выдумать ни природе, ни искусству, но как бывает только тогда, когда они соединятся вместе, когда по нагроможденному, часто без толку, труду человека пройдет окончательным резцом своим природа, облегчит тяжелые массы, уничтожит грубо-ощутительную правильность и нищенские прорехи, сквозь которые проглядывает нескрытый, нагой план, и даст чудную теплоту всему, что создалось в хладе размеренной чистоты и опрятности.381 Einzig der alte, weitläufige Park, der sich hinter dem Haus hinzog, sich über das Dorf hinaus erstreckte und sich dann in den Feldern verlor, schien, verwildert und zugewuchert wie er war, dieses große Dorf zu beleben (wörtlich: „erfrischte“, C. S.), er allein war idyllisch in seiner malerischen Wildheit. Grünen Wolken und unregelmäßigen, aus zitternden Blättern gebildeten Kuppeln gleich, ruhten die zusammengewachsenen Wipfel der in die Höhe ragenden Bäume am Himmelszelt. Der weiße kolossale Stamm einer Birke, bei einem Sturm oder Gewitter seiner Krone beraubt, ragte aus diesem Dickicht hervor, rund wie eine ebenmäßige, schimmernde Marmorsäule; seine schräge, zackige Bruchstelle, in die er oben statt eines Kapitells endete, hob sich dunkel von seiner schneeigen Weiße ab wie eine Mütze oder ein schwarzer Vogel. […] Stellenweise trat das grüne, von der Sonne beschienene Dickicht auseinander und gab den Blick in eine im Dunkel liegende Senke frei, die wie ein finsterer Rachen klaffte; sie war ganz in Schatten gehüllt, kaum merklich flimmernd in ihrer schwarzen Tiefe: ein schmaler, sich schlängelnder Pfad, umgestürzte Geländer, ein altersschwacher Pavillon, ein hohler, morscher Weidenstamm, ein graues Gebüsch, das hinter der Weide seine in der schrecklichen Enge vertrockneten und sich kreuz und quer verhakelten Zweige und Äste wie dichte Borsten hervorschob und schließlich ein junger Ahorntrieb, der von der Seite her seine grünen Blattpfötchen ausstreckte, unter eines von ihnen hatte sich, gottweiß wie, die Sonne eingeschlichen, die es in dieser undurchdringlichen Finsternis plötzlich in ein durchscheinendes, flammendes, herrlich leuchtendes Etwas verwandelte. […] Kurz und gut, alles war so wüst und schön, wie es sich weder die Natur noch die Kunst ausdenken kann, sondern wie es nur dann zustande kommt, wenn beide sich vereinen, wenn die Natur mit ihrem Meißel durch das so oft gedankenlos von Menschenhand aufgetürmte Werk hindurchfährt, die wuchtigen Massen mildert, die grob wirkende Regelmäßigkeit und die armseligen Lücken beseitigt, aus denen

381 G MD, S. 112 f.

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der Plan unverhohlen hervorschaut, und allem, was in der Kühle ausgeklügelter Berechnung und Ordnung entstanden ist, eine herrliche Wärme verleiht.382

Die Beschreibung ist ähnlich wie die vorige Beschreibung des Dorfes durch einen Wechsel von undifferenzierter, weit überblickbarer Masse und singulären Details strukturiert. Da ist das grüne Dickicht, das dann den Blick freigibt auf einen einzelnen, oben abgebrochenen Birkenstamm, der vor der grünen Weite des Hintergrunds scharf definiert ist (betont vor allem durch das Attribut ostrokonečnyj, dt. wörtlich „scharfendig“). Aus der anschließend beschriebenen schlundartigen dunklen Senke „flimmern“ dann wiederum die Überreste einer vor langer Zeit erschaffenen Gartenanlage heraus. Aus dem Hintergrundrauschen eines Gebüschs bricht dann erneut ein einzelnes Element hervor, das wiederum eine Gestalt vor einem Hintergrund bildet. Eine molodaja vetv’ klena, protjanuvšaja sboku svoi zelenye lapy-listy („ein junger Ahorntrieb, der von der Seite her seine grünen Blattpfötchen ausstreckte“), bildet das Zentrum dieses Bildes. Dieser Trieb wird wie eine wundersame, ja göttliche Erscheinung beschrieben: Bog vest’ kakim obrazom („gottweiß wie“) existiert er in der Dunkelheit der Senke – die Erwähnung des „Göttlichen“ dieser Erscheinung tritt hier hervor, denn es hätte ja auch „der Teufel weiß wie“ (čert znaet kak) heißen können, wie es durchaus oft bei Gogol’ vorkommt. Ein Blatt des Ahorntriebes wird innerhalb dieses „Schlunds“ durch die Sonne beschienen, sodass es gleich einem göttlichen Zeichen vdrug („plötzlich“) von der Sonne zu einem prozračnyj i ognennyj („durchscheinendes und flammendes“) gewandelt wird. Dieser Wechsel aus unförmigem Hintergrund und fein abgegrenzten Details des Vordergrunds stellt die Vereinigung von Natur und Kunst dar, die in Pljuškins Garten entstanden ist. Sie wird hervorgerufen durch das organische Wachstum der Pflanzen über die von Menschenhand angelegte Architektur hinaus. Gegenüber dem verfallenen Dorf und Herrenhaus markiert gerade diese Vereinigung die Einkehr des Lebens (mit dem Verb osvežat’ eingeführt, dt. „erfrischen“) in das allmählich Hinfällige, lückenhaft vom Menschen Geschaffene. Die Risse werden im Garten von den organisch gewachsenen Pflanzen geschlossen, „die armseligen Lücken beseitigt“. Eben der Wechsel aus menschlichem Plan und dem vom Menschen nicht Planbaren, dem, was sich seinem Einfluss und seiner Voraussicht entzieht, erzeugt diese positive Form des Gartenbildes, die auch als die angestrebte figurale Form des Romans Mertvye duši gelesen werden kann. Dabei schließt Gogol’ deutlich an einen romantischen Diskurs der Naturpoesie an, in dem die schöpferische Kraft der poetischen Sprache analog zur harmonisch und organisch schöpferischen Kraft der Natur begriffen wird (siehe hierzu v. a. Teil I, Kap. 1). Entscheidend ist hier die Tatsache, dass sich in diesem Gartenbild nicht ein Lob eines vollkommenen Verlusts der Form ausdrückt, sondern dass vielmehr die Aufgabe des strengen Plans der Form zu einer Offenbarung des

382 Gogol: Tote Seelen, S. 139–141.

Zwischen ungebändigter Kreativität und göttlicher Erscheinung  

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Göttlichen führt. Diese liegt in dem als „wüst und schön“ empfundenen Wechsel aus Gestaltlosigkeit, Defiguration, und sich vor dieser zeigenden Form, der Bewegtheit des Bildes. Diese entwickelt sich jedoch unweigerlich zu einem Zentrum hin, innerhalb dessen das Positive (das göttliche Licht) vor dem Negativen (die Finsternis der Senke) wie ein Nukleus erscheint. Dies ist also keinesfalls ein Lob des Chaos (des dunklen Schlunds, wie ihn auch schon die Figur Nozdrev verkörperte), sondern einer Empfindung des Göttlichen gerade in der scheinbaren Defiguration, die sich also letztlich als eine Erleuchtung entpuppt, als Figur. Diese Vorstellung ist recht nah an der Schlegel’schen Argumentation der Arabeske, wie sie im Gespräch über die Poesie entwickelt wird: Ja diese künstlich geordnete Verwirrung, diese reizende Symmetrie von Widersprüchen, dieser wunderbare ewige Wechsel von Enthusiasmus und Ironie, der selbst in den kleinsten Gliedern des Ganzen lebt, scheinen mir schon selbst eine indirekte Mythologie zu sein. Die Organisation ist dieselbe und gewiss ist die Arabeske die älteste und ursprünglichste Form der menschlichen Fantasie. Weder dieser Witz noch eine Mythologie können bestehn ohne ein erstes Ursprüngliches und Unnachahmliches, was schlechthin unauflöslich ist, was nach allen Umbildungen noch die alte Natur und Kraft durchschimmern lässt […].383

Dieses „erste Ursprüngliche und Unnachahmliche“, das die „alte Natur und Kraft durchschimmern lässt“, findet sich in Gogol’s Beschreibung des Pljuškinschen Gartens im göttlichen Licht, das durch die Finsternis bricht. Und tatsächlich wird hier ja das Blatt, das von diesem göttlichen Strahl beschienen wird, auch „durchschimmernd“, lässt den Quell des Lichts, der nie als solcher ansichtig werden kann, erahnen. Pljuškins Garten ist eine arabeske Figur, in der alle Bewegtheit, Lebendigkeit (Autonomie, Selbsttätigkeit), aller Wandel und alle Auflösung der Form zwischen Vorder- und Hintergrund, zwischen Randornament und Darstellung letztlich als Ausdruck einer tiefer liegenden Einheit, eines Ursprungs verstanden werden müssen, der die Erscheinungen formt. Die Gartenbeschreibung stellt ein ideales poetisches Verhältnis von Verlust, Vergänglichkeit und Lebendigkeit in der Verbindung von Natur und Kunst (dem menschlich Gemachten) dar. Jedoch wird die Vergänglichkeit, die die zahlreichen Motive des Verfalls symbolisieren, schließlich im Positiven aufgehoben. Es zeigt sich in der göttlichen Erscheinung letztlich die Aufhebung des Verfalls im Lebendigen, im Licht. Der Roman Mertvye duši führt in seiner der Leserschaft vorliegenden Fassung jedoch vielmehr den ständigen Konflikt vor, den ein solches figurales Formverständnis in sich birgt. Als erster Teil einer geplanten Trilogie, die schließlich in eine solche figurale Form münden sollte, blieb er allein.

383 Schlegel, F: „Gespräch über die Poesie“, S. 318.

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4.2 V  sjakaja vsjačina („Allerlei“): Frische und Grab des Vermischten 4.2.1 Rückblick: Die Frische von Enzyklopädie und Vermischtem Gogol’s Begriff der vsjakaja vsjačina (dt. wörtlich: „allerhand Allerlei“, Phraseologismus) tritt im Zusammenhang mit der hier besprochenen Ambivalenz der figuralen Form im Feld des Begriffs der svežest’ auf. Er ist dabei ebenso ambivalent und schlingert zwischen einem Begriff einer erstrebten bedeutungsvollen Figur und dem Begriff für eine Defiguration, die mit Stillstand, Verfall und Tod und dem Verlust der Zeichenhaftigkeit verbunden ist. Die im Folgenden aufgezeigte Ambivalenz der vsjakaja vsjačina transportiert in ihren verschiedenen Verwendungsweisen eine selbstreflexive Dimension in Bezug auf die Form und Materialität des Literarischen vor dem Hinterdrund des sich entwickelnden Marktes, einer Literatur der Masse, einer Masse an Material des Literarischen. Sie zeigt dabei noch einmal den Wandel in Gogol’s Werk, indem die positive Verwendung in Form eines intermedialen, romantischenzyklopädischen Sammelheftes in Gogol’s Frühwerk auftritt und als negative Vision der chaotischen Anhäufung in den Mertvye duši, seinem späteren Werk. Die frühe Verwendungsweise des Begriffs vsjakaja vsjačina tritt bei der Benennung von Gogol’s in den Jahren von 1826 bis 1832 geführten Notizbuches unter dem Titel Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie) hervor (siehe Abb. 25).384 Gogol’ verwendete das Notizbuch also in den Jahren seiner Gymnasialzeit und in den ersten Petersburger Jahren, die auch die Zeit seiner ersten literarischen Publikationen war (Ganc Kjuchel’garten [geschrieben 1827, publiziert 1829], die heute nicht mehr sehr bekannte Erzählung Bisarjuk, ili večer nakanune Ivana Kupala. Malorossijskaja povest’ [Bisarjuk, oder der Abend vor Ivan Kupala. Kleinrussische Erzählung] [publiziert 1830], Glava iz istoričeskogo romana [Kapitel aus einem historischen Roman] [publiziert 1831], weitere Erzählungen der ukrainischen Motivik, verschiedene historiographisch und pädagogisch orientierte Essays; die beiden Bände der Večera na chutore bliz Dikan’ki [Abende auf einem Weiler bei Dikan’ka] [1831, 1832]).

384 Das Notizbuch ist in Teilen in der kritischen Gogol’-Ausgabe der sowjetischen Akademie der Wissenschaften erschienen; hier wurden jedoch weder Bilder abgedruckt noch waren die Herausgeber um Vollständigkeit bemüht. Viele Texte wurden wegen ihres vermeintlich „rein illustrativen Charakters“ von der Publikation ausgespart (einbezogen wurden nur diejenigen Texte, die, wie die Autoren vermuten, „mit dem Ziel ihrer späteren schöpferischen Nutzung“ im Buch vorgefunden wurden; wie dieses „Ziel“, das bereits bei der Abfassung der Texte im Notizbuch vorgelegen habe, nun im Nachhinein bestimmt wurde, wird nicht gesagt). Auch die Gruppierung, die in den Kommentaren vorgenommen wird, scheint recht willkürlich und wird in die folgende Analyse nicht einbezogen. Ajzenštok, I. Ja.: „Kommentarii: ‚Kniga vsjakoj vsjačiny‘“, in: G IX, S. 653–657, hier S. 655; G KVV.

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Abb. 25: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch). 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 1.

Das Buch verfügt über eine alphabetische Einteilung, sodass die mit den Buchstaben versehenen Blätter stufenartig, wie man es heute teilweise bei Taschenkalendern mit ähnlichen Markierungen für die Monate kennt, die einzelnen Buchstaben des russischen Alphabets anzeigen. Es enthält Listen, Abschriften, Zeichnungen sowie Collagen unterschiedlicher Gegenstände: Etwa finden sich Auflistungen der Apothekenmaßeinheiten von Gewichten (Abb. 26), der Gewichtmaßeinheiten unterschiedlicher Länder, eine Tabelle der Währungen und ihrer Münzen in verschiedenen Staaten sowie eine Liste von Streckeneinheiten in verschiedenen Ländern; ein Wörterbuch des Handels in alphabetischer Reihenfolge mit Erklärungen verschiedener Begriffe. Dazwischen werden immer wieder Listen und Abschriften zur ukrainischen (bzw. kleinrussischen) Thematik aufgeführt (Leksikon malorossijskij [Kleinrussisches Lexikon] [alphabetisch, mit Erklärungen von Worten und russischen Übersetzungen] [Abb. 27], Abschriften aus ukrainischen Texten, eine Liste von Spielen [aus eigenem Gedächtnis, teilweise abgeschrieben aus Büchern und Briefen von Gogol’s Mutter], Taufnamen in alphabetischer Reihenfolge, Rätsel, Gerichte, Gewohnheiten und Bräuche, Lieder [Abschrift], Kleidung, Sprichwörter und Wortwendungen [Abb. 28]). Auch zur russischen Kultur vergangener Jahrhunderte finden sich Listen und Abschriften aus verschiedenen Quellen [Kleider und Gewohnheiten, eine Abschrift zur Masljanica aus Paul Oderborns Buch über Ivan Groznyj von 1698, ein Text über Hochzeitsfeiern im

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alten Russland, eine Liste altslawischer Ziffern). Zudem sind verschiedene Abschriften über eine allgemeine Geschichte enthalten (etwa aus einem Text von Augustin Thierry, auf Französisch), eine Abschrift von einer unbekannten Quelle über die Geschichte der Künste, eine Abschrift auf Russisch aus Carl Ritters „Sechs Karten von Europa“ (Rasprostranenie dikich kustov i derev v Evrope [„Die Verbreitung der wildwachsenden Sträucher und Bäume in Europa“]) sowie eine Abschrift aus einem Text Johann Joachim Winckelmanns, auf Russisch: Ob odežde persov („Über die Kleidung der Perser“). Es sind etliche Zeichnungen im Notizbuch festgehalten, teilweise in eincollagierter Form (in diesen Fällen wurde mit Tusche auf Wachspapier gezeichnet, das eingeklebt wurde). Häufig sind diesen Zeichnungen schriftliche Erklärungen bzw. Benennungen beigegeben in einer sehr genau ausgeführten, auch kalligraphisch zu nennenden Schrift, teilweise auf Italienisch oder Französisch.385 Die historische Thematik zieht sich durch; einerseits werden architektonische Details festgehalten, andererseits Gegenstände des Alltags: Mehrmals finden sich Zeichnungen (mit Tusche oder mit Bleistift) von antiken Säulen, deren Reliefs und Kapitelle gezeigt werden, mehrmals werden diesen auch einzelne ornamentale Formen beigegeben, die eingeklebt sind (Abb. 29–32). Ein weiteres wiederkehrendes Thema der Zeichnungen ist antikes Kriegszubehör – antike griechische Waffen sowie Schlachtattribute (Helm, Rohr). Zudem ist eine Zeichnung vielfältiger antiker Musikinstrumente enthalten (Abb. 33). Zeichnungen von Hausfassaden und Brücken sowie Rosetten (ebenfalls teilweise als Collagen, auch einzelner Ornamentformen, die aus Papier ausgeschnitten wurden) ergänzen die architektonische Thematik (Abb. 34–36). Zudem finden sich mehrmals Zeichnungen von Zäunen und Bänken, die auch eingeklebt wurden (Abb. 37, 38). Zudem gibt es ein Blatt, das Planetensysteme und deren kreisförmige Bewegungen zeigt und auch sehr genau beschriftet wurde (Abb. 39).

385 Vgl. Dmitrieva: „Nikolaj Vasil’evič Gogol’ 1809–1852“, S. 21.

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Abb. 26: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch). 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 7.

Abb. 27: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 20.

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Abb. 28: NN. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1. l90–191.

Abb. 29: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 8.

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Abb. 30: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 8 ob.

Abb. 31: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 16.

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Abb. 32: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 16ob.

Abb. 33: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 146.

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Abb. 34: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 203.

Abb. 35: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 203 ob.

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Abb. 36: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 139.

Abb. 37: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 89.

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Abb. 38: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 236.

Abb. 39: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 194.

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Der alphabetischen Ordnung an den Rändern des Buches entsprechend, sind die Texte und Listen nach ihren Thematiken in einer alphabetischen Reihenfolge präsentiert. Das Leksikon malorossijskij (Kleinrussisches Lexikon) ist wiederum, ebenfalls der alphabetischen Ordnung entsprechend, über das ganze Buch verteilt. Auch die Zeichnungen folgen scheinbar durchgängig, den Anfangsbuchstaben der sprachlichen Bezeichnungen für die abgebildeten Gegenstände nach, der alphabetischen Ordnung (Musikinstrumente demnach also unter „M“, Planetensysteme unter „P“). Insgesamt ist der Katalogcharakter des Buches durchgehend prominent, thematisch ist dabei einerseits Geschichte sowohl im allgemeinen Sinne als auch im spezifischen Sinne der Geschichte bestimmter Volksgruppen und ihrer phänomenalen Gegenständlichkeit (siehe etwa die aufgelisteten Artefakte) vorherrschend, zugleich wird ein starker Hang zur russischen und ukrainischen („kleinrussischen“) Volkskunde deutlich. Die Liste als Form, die sich auch durch die Zeichnungen und Collagen zieht – siehe etwa die Säulen, Zäune oder auch die Musikinstrumente – versammelt eine Vielfalt an Exemplaren und Erscheinungen, die unter einer bestimmten Kategorie aufgeführt werden.386 Die Wiederholung von ornamentalen Formen in den Zeichnungen scheint diese eher syntagmatisch-strukturelle Eigenschaft zudem motivisch aufzunehmen: Die Variation von Mustern ist ein durchgängiges Thema, etwa in den sich leicht verändernden Ausschnitten von Zäunen, den relativ ähnlichen Bänken und sehr prominent auch bei den Säulenkapitellen. Vielfalt zeigt sich auch im medialen Sinne. Das Buch besteht aus einem intermedialen Zusammenspiel von Schrift und Bild, siehe hierzu etwa die „Planetensysteme“: Die Schrift folgt den ikonisch auf die Bewegungen der Planeten verweisenden Kreisen, vollzieht damit also gewissermaßen deren Bewegungen nach. Die Kreise der Planeten und ihre Verbindung mit der schriftlichen Bezeichnung, die ihrer Form folgt, kann dabei als metonymisch für die Ästhetik des ganzen Buches angesehen werden. Das Bild zeigt ein Zusammenspiel, eine Interaktion von mehreren größeren und kleineren Kreisen, die eine ewige, unendlich sich wiederholende Bewegung der Planeten, der schwarzen Punkte, auf dieser Kreisbahn beschreiben. Der Kreis zeigt dabei eine in sich vollendete und zugleich unendliche Bewegung. In diese wird auch das schriftliche Medium einbezogen, das dabei einerseits als Orientierung und Bezeichnung dient und damit ein Schaubild vervollständigt. Zugleich aber wird die Schrift damit Teil des Nachvollzugs von unendlich repetierter Bewegung und vollendeter Form, die sie selbst beschreibt. Die Bewegung der Zirkulation, die die Planetensysteme darstellen, ist auch das ästhetische Verfahren der vsjakaja vsjačina – eines Wörterbuches, das katalogartig und dabei intermedial

386 Vgl. hierzu Dmitrieva: „Nikolaj Vasil’evič Gogol’ 1809–1852“, S.  24: Dmitrievas These, Gogol’s Ästhetik sei dabei vor allem durch den Barock beeinflusst, verfolge ich hier nicht weiter, sondern stütze mich vor allem auf den Kontext zur romantischen Formästhetik. Die Bezüge zur barocken Emblematik, zu den vanitas-Topoi und zur Apophatik im Allgemeinen bestehen und werden hier und im Folgenden durch Bezüge zur einschlägigen Sekundärliteratur aufgezeigt.

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Wissen zur Geschichte und Volkskunde in alphabetischer Ordnung versammelt. Der Untertitel područnaja ėnciklopedija (Handenzyklopädie) deutet dabei auf einen universalen Anspruch, den ebenfalls die Abbildung der Planetensysteme in sich noch einmal emblematisch darstellen. Griechisch enkyklios, als Wurzel des ersten Teils des Wortes, beschreibt in sich eine Kreisbewegung,387 paideia (dt. „Erziehung“) verweist zurück auf die ursprüngliche Verwendung der Verbindung von enkyklios paideia in der Ausbildung von Schülern („chorische Erziehung“). Später erhielt es die Bedeutung von „Kreis der Wissenschaften“,388 indem die ursprüngliche Bezeichnung der musischen Erziehung von Freigeborenen Jungen im antiken Griechenland dann seit dem fünfzehnten Jahrhundert synonym zum orbis doctrinae, der Bezeichnung von propädeutischen Grundlagenfächern nach den Pythagoreern, den Sophisten und Platon bei Vitruv und Quintilian, verwendet wurde. Gogol’s Verwendung des Begriffs der Enzyklopädie als Untertitel zur Bezeichnung eines alphabetischen Wörterbuchs besitzt einerseits eine Verbindung zur fundamentalen Wichtigkeit, die der Begriff im Kontext der Aufklärung erhalten hat: Die Enzyklopädien des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, der Dictionnaire Historique et Critique von Pierre Bayle und Diderots und d’Alemberts Encyclopédie ou Diotionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers verfolgten, alphabetisch geordnet und demnach weniger systematisch,389 einen universalen Anspruch der Ordnung und Bereitstellung des gesamten menschlichen Wissens. Die vielbändige Encyclopédie, an der über 30 Autoren verschiedener Wissensgebiete beteiligt waren, verweist in dieser ihrer Umfänglichkeit auf die Tatsache, dass sich die Gänze des Wissens nicht mehr im Geist eines einzelnen Menschen versammeln ließ, sondern nur im Buch versammelt werden konnte.390 Im Gegensatz zu einem ordo naturalis bleibt dabei die Ordnung des menschlichen Wissens „mithilfe der brutalen alphabetischen Assozationen“ in sich selbst befangen; einen „natürlichen Katalog“ stellt sie nicht dar.391 Erst in der Form des Buches und dabei der Sammlung unter dem Katalog des Alphabets, kommt das menschliche Wissen zu seiner Gänze und Rundheit zusammen und bildet in sich den Kreis einer ganzen Fülle, bleibt jedoch offen für die Erweiterung in jenem ordnenden Alphabet. Die Versammlung des Wissens im Katalog, im Wörterbuch, stellt sich also selbst als Schaffung der Voraussetzung seines Erhalts gerade auch durch seine Verbreitung, seine Nutzung, dar: Die Vorstellung der Zirkulation bestimmt damit nicht nur die Form der Sammlung, sondern auch deren Öffnung für die Leserschaft.

387 Mauthner, Fritz: „Enzyklopädie“, in: Ders.: Wörterbuch der Philosophie. Neue Beiträge zu einer Kritik der Sprache. Bd. 1. Zürich 1980, S. 251–266, hier S. 251. 388 Grunert, Frank: „Enzyklopädie“, in: Metzler Lexikon Philosophie. Begriffe und Definitionen. 3., akt. u. erw. Aufl. Hg. v. Peter Prechtl und Franz-Peter Burkard. Stuttgart 2008, S. 141–142, hier S. 141. 389 Vgl. Mauthner: „Enzyklopädie“, S. 254; S. 266. 390 Ebd., S. 266. 391 Ebd.

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Der Begriff der Handenzyklopädie ist vor diesem Hintergrund freilich noch einmal spezifischer:392 Er gibt dem Begriff gleichsam einen beschränkenden Sinn (im Sinne einer ‚kleinen‘ Enzyklopädie) wie auch die Bedeutung einer Arbeits- oder Behelfsenzyklopädie, die bei Fragen ‚zuhanden‘ ist, die im Rahmen einer Beschäftigung mit dem in der Enzyklopädie enthaltenen Wissen auftreten. Der Begriff fokussiert den Akt der Nutzung gerade auch in seiner Körperlichkeit: Die Hand, die das Buch greift, die Hand, die blättert. Handenzyklopädie meint gerade die Performativität der Nutzung, mit der einerseits ein körperlicher Akt vollzogen wird und andererseits das in dem Wörterbuch vorhandene Wissen begriffen wird, ins Wissen des Nutzers einfließt – zirkuliert. Spannungsvoll erscheint vor dem Hintergrund des Begriffs der Enzyklopädie in dieser Zeit und spezieller des Performanzbezuges der Bezeichnung Handenzyklopädie die Verbindung mit dem Begriff der vsjakaja vsjačina: Dieser betont doch vordergründig ein vollkommenes Fehlen einer Systematik, eine eher zufällige Ansammlung des Verschiedenen. Die Parallele des Begriffs zu einem (früh-)romantischen Begriff der ornamentalen, willkürlichen und doch zugleich von einem unverrückbaren und Bedeutung verleihenden Ursprung ausgehenden Figur ist jedoch deutlich. Erinnern wir uns an die Bemerkungen Friedrich Schlegels aus dem Brief über den Roman, mit denen er seinen Begriff der Arabeske einleitet, in denen er die Romane Jean Pauls als das „bunte Allerlei von kränklichem Witz“ bezeichnet,393 das als „wesentliche Form oder Äußerungsart der Poesie“394 in der Art eines arabesken Gemäldes begriffen werden müsse.395 Die Vermischung von Verschiedenem (hier freilich in der Verbindung mit dem „Witz“ und zudem als Beschreibungskategorie für den Roman und das Romantische) zu einer Sammlung, die nicht eine offensichtliche Systematik ordnet, ist die „Form […] der Poesie“. Die vsjakaja vsjačina, das Allerlei, kann auch als Benennung von Gogol’s Notizbuch in einem solchen Sinne als Form verstanden werden, die wie die Vorstellung der Arabeske Bewegtheit impliziert, ein Zusammentreffen und einen Austausch des Unterschiedlichen. Die Andeutung von Ganzheit und Einheit, die auch im Begriff der Arabeske zentral ist, erfolgt hier durch die Verbindung mit dem Begriff der Enzyklopädie. Auch dieser hat im Sinne der frühromantischen Formbegriffe und Formdiskussionen eine Umdeutung erfahren (siehe Teil I, Kap. 3.2.1). Novalis entwirft eine Vorstellung der Enzyklopädie als einer Vereinigung aller Künste und Wissenschaften, jedoch nicht in einer vielbändigen Reihe,396 sondern in einem einzigen, gleichsam

392 Es scheint sich über den Begriff područnaja ėnciklopedija bzw. Handenzyklopädie eine interessante Forschungsperspektive aufzutun, gerade in Verbindung mit der romantischen Begrifflichkeit der „Enzyklopädistik“, die Gogol’s Titel für sein Notizbuch Kniga vsjakoj vsjačiny andeutet, wie ich im Folgenden darlege. 393 Schlegel, F.: „Gespräch über die Poesie“, S. 330. 394 Ebd., S. 331. 395 Ebd., S. 330 f. 396 Vgl. Samuel, Richard: Einleitung zu Novalis’ „Dialogen“ und „Monolog“, in: N III, S. 655–660, hier S. 656 f.

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absoluten Buch, einer „neuen Bibel“ (Friedrich Schlegel), die die unendliche Fülle der Erscheinungen zugleich in einer unendlichen Einheit zu fassen hätte.397 Eine Realisierung einer tatsächlichen Enzyklopädie, die dieses erfüllen würde, wurde dabei nie angestrebt. Novalis spricht von der „Enzyklopädistik“,398 die als Denkweise die Einheit des Vielfältigen zu begreifen sucht. Der aufklärerische Glaube an die Möglichkeit der (wenn auch mit vielen Köpfen zu erlangenden) geistigen Fassbarkeit und materiellen Darstellbarkeit einer Ganzheit des menschlichen Wissens, der vor allem auch durch das Vertrauen auf Räsonnement und Vernunft gestützt war,399 ist der Ausgangspunkt für den romantischen Begriff der Enzyklopädistik. Dieser ist aber vor allem auf eine „freie, deregulierte, auch assoziative und dezidiert poetologische Konstruktion des Wissens“400 gerichtet im Sinne eines romantischen Literaturverständnisses der „Combinations- und Variationsfähigkeit“401. Die romantische Enzyklopädistik rekurriert dabei auf kombinatorische Verfahren des Barock, die sie mit den Wissensbegriffen der enzyklopädischen Projekte (nicht nur die Enzyklopädien selbst, sondern auch etwa Fichtes Wissenschaftslehre) „amalgamiert“.402 Eine romantische Enzyklopädie wird sich in Novalis’ und Friedrich Schlegels Verständnis jener Zeit nicht materiell realisieren, ist jedoch ungleich umfänglicher, ja universeller gedacht. Weniger als eine Sammlung des Wissens ist sie selbst eine Methode oder ein Weg der Erkenntnis über eine unendliche Einheit des Vielfältigen, die dem menschlichen Wissen bisher abgegangen und nicht in einem System darstellbar ist. Gogol’s Begriff einer „Handenzyklopädie des Allerleis“ löst sich ebenfalls von einem aufklärerischen Begriff der Enzyklopädie, auf dem jedoch sie zugleich aufbaut. Im Buch sind bestimmte Wissensgebiete versammelt, vor allem die Darstellung ukrainischer Kultur und Sprache scheint um eine ganzheitliche Darstellung im Rahmen von Gogol’s persönlichen Möglichkeiten bemüht. Damit korrespondiert seine Sammlung den in jener Zeit entstehenden Sammlungen Snegirevs und anderer, die sich für die künstlerischen Ausprägungen bestimmter volkskultureller Gruppen interessieren und diese in Sammlungen ethnographisch aufarbeiten. Der ganzheitliche Anspruch dieser Sammlungen war durch enzyklopädische Projekte und Kataloge des achtzehnten Jahrhunderts beeinflusst. Doch der Begriff der vsjakaja vsjačina impliziert Offenheit,

397 Vgl. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt  a. M. 1981, S.  233–266; S.  267–280; Pikulik, Lothar: Frühromantik. Epoche – Werk –Wirkung. München 1992, S. 119 ff.; Schreiber, Jens: Das Symptom des Schreibens. Roman und absolutes Buch in der Frühromantik. Frankfurt a. M. 1983, S. 118–181; Engel, Manfred: Der Roman der Goethezeit. Bd. 1. Anfänge in Klassik und Frühromantik. Transzendentale Geschichten. Stuttgart/Weimar 1993, S. 444–496. 398 Novalis: Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik, in: N III. 399 Mauthner: „Enzyklopädie“, S. 254. 400 Kilcher, Andreas B.: Mathesis und poiesis. Die Enzyklopädik der Literatur 1600 bis 2000. München 2003, S. 380. 401 N III, S. 277 (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 213); vgl. Kilcher: Mathesis und poiesis, S. 380. 402 Ebd., S. 379.

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Bewegtheit und eine lebendige Form, die einerseits der Handhabbarkeit der Materialsammlung (područnyj [dt. „Hand-“/„Behelfs-“]) entspricht. Sie kommt dem Nutzen für seine literarischen Texte jener Zeit, die sehr stark durch die ukrainische, volkstümliche Thematik geprägt sind, entgegen. Zugleich ist der Begriff vsjakaja vsjačina als ein Plädoyer für die Sammlung und das kontrastive, mischende Zusammentreffen unterschiedlicher Gegenstände, Medien, Stile gerade als Literatur zu verstehen. Erinnern wir uns an seinen Begriff der smes’, den er (einige Jahre nachdem er die Kniga vsjakoj vsjačiny nicht mehr weitergeführt hatte) in seinem Artikel über die Zeitschriftenliteratur einführt: Die Sparte der smes’ (dt. „Vermischtes“) ist bewegt, lebendig, frisch ([…] vmeščavšaja v sebe očen’ mnogo rsznoobraznych svežich novostej, otdelenie živoe, čisto žurnal’noe / „[…] vermischte viele verschiedene frische Neuigkeiten in sich, eine lebendige, rein journalistische Abteilung“).403 Sie entspricht seinem Begriff der frischen, lebendigen Zeitschriftenliteratur, die für Austausch und Zirkulation nicht nur zwischen Texten, sondern auch zwischen Leserinnen und Lesern sorgt: Журнальная литтература, это живая, свѣжая, говорливая, чуткая литтература, также необходима в области наукъ и художествъ, какъ пути сообщенiя для Государства, какъ ярмарки и биржи для купечества и торговли. Она ворочаетъ вкусомъ толпы, обращаетъ и пускаетъ въ ходъ все выходящее наружу въ книжномъ мирѣ, и которое безъ того было бы в обоихъ смыслахъ мертвымъ капиталомъ. Она быстрый, своенравный размѣнъ всеобщихъ мненiй, живой разговоръ всего тиснимаго типографскими станками; ея голосъ есть вѣрный представитель мнѣнiй цѣлой эпохи и вѣка, мнѣнiй безъ нсе бы исчезнувшихъ безгласно.404 Die Zeitschriftenliteratur, das ist eine lebendige, frische, gesprächige, feinfühlige Literatur, ebenso notwendig im Bereich der Wissenschaften und Künste, wie die Wege der Nachrichten für den Staat, wie die Messen und Börsen für die Kaufleute und den Handel. Sie führt den Geschmack der Menge, kontrolliert und entlässt alles in der Buchwelt Herauskommende, und das ohne dies im doppelten Sinne totes Kapital wäre. Sie ist ein schneller, launenhafter Abtausch allgemeiner Meinungen, ein lebendiges Gespräch alles mit den typographischen Maschinen Gedruckten; ihre Stimme ist ein wahrer Vertreter der Meinungen einer ganzen Epoche und eines Jahrhunderts, Meinungen, ohne die sie lautlos verschwunden wären.

Der Gedanke der Zirkulation, nicht nur in einem Sinne der Intertextualität, sondern auch in einem explizit ökonomischen Sinne, tritt im Rahmen einer Romantisierung der Journalliteratur hervor. Ihre Frische ist die Belebung des „toten Kapitals“ des Buches „im doppelten Sinne“: Einmal wird sein geistiges Kapital durch das Lesen, das Besprechen, das kritische Diskutieren entfaltet; auf der anderen Seite betrachtet Gogol’ dies als eine Belebung des Buches als materielles Kapital, das verlorenginge,

403 Gogol’: „O dviženii žurnal’noj litteratury“, S. 201. 404 Ebd., S. 192 f.

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wenn es nicht mehr als solches rezipiert würde. In dieser Ansicht wäre der Handel mit unverkauften Büchern als Makulatur ein Handel mit „totem Kapital“ (siehe zur ‚Romantisierung der Ökonomie‘ das folgende Kapitel 4.3).

4.2.2 Pljuškins Chaos der Makulatur Auch beim Gutsherr Pljuškin türmt sich das „tote Kapital“, das nicht belebt wird, nicht zirkuliert und so verfällt zu einer vsjakaja vsjačina im negativen Sinne. Der Gutsherr kann dabei vor dem Hintergrund der Sammeldiskurse der Zeit als ein Schreckensbild betrachtet werden, das dem Bibliotaphen gleicht. Gerade die Beschreibung von Pljuškins Zimmer legt diese Verbindung nahe. Denn die dort vorzufindende vsjakaja vsjačina enthält – als eine Anhäufung von nicht länger gebrauchten, um ihrer selbst willen angesammelten Dingen unterschiedlicher Herkunft, Beschaffenheit und Gebrauchsweise – auch einiges Schreibmaterial: Он вступил в темные широкие сени, от которых подуло холодом, как из погреба. Из сеней он попал в комнату, тоже темную, чуть-чуть озаренную светом, выводившим из-под широкой щели, находившейся внизу двери. Отворивши эту дверь, он наконец очутился в свету и был поражен представшим беспорядком. Казалось, как будто в доме происходило мытье полов и сюда на время нагромоздили всю мебель. На одном столе стоял даже сломанный стул, и рядом с ним часы с остановившимся маятником, к которому паук уже приладил паутину. Тут же стоял прислоненный боком к стене шкаф с старинным серебром, графинчиками и китайским фарфором. На бюре, выложенном перламутною мозаикой, которая местами уже выпала и оставила после себя одни желтенькие желобки, наполненные клеем, лежало множество всякой всячины: куча исписанных мелко бумажек, накрытых мраморным позеленевшим прессом с яичком наверху, какая-то старинная книга в кожаном переплете с красным обрезом, лимон, весь высохший, ростом не более лесного ореха, отломленная ручка кресел, рюмка с какою-то жидкостью и тремя мухами, накрытая письмом, кусочек сургучика, кусочек где-то поднятой тряпки, два пера, запачканные чернилами, высохшие, как в чахотке, зубочистка, совершенно пожелтевшая, которою хозяин, может быть, ковырял в зубах своих еще до нашествия на Москву французов. […] В углу комнаты была навалена на полу куча того, что погрубее и что недостойно лежать на столах. Что именно находилось в куче, решить было трудно, ибо пыли на ней было в таком изобилии, что руки всякого касавшегося становились похожими на перчатки […].405 (Hervorhebungen C. S.) Er trat in eine große, dunkle Diele, von der ihm Kälte entgegenwehte wie aus einem Keller. Aus der Diele gelangte er in einen Raum, der ebenfalls dunkel war und nur spärlich von einem Lichtschein erleuchtet wurde, der durch einen breiten Spalt unter der Tür fiel. Nachdem er diese Tür aufgemacht hatte, befand er sich schließlich im Hellen und war verblüfft von der Unordnung, die sich ihm darbot. Es sah aus, als ob im ganzen Haus die Böden gescheuert würden und man unterdessen sämtliche Möbel hier aufgetürmt hätte. Auf einem Tisch stand sogar ein zerbrochener Stuhl und daneben eine Uhr mit stehen gebliebenem Pendel, dem eine Spinne schon ihr Spinnen-

405 G MD, S. 114 f.

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netz angehängt hatte. Hier stand auch ein seitlich gegen die Wand gelehnter Schrank mit altem Silber, Karaffen und chinesischem Porzellan. Auf einem Schreibsekretär mit eingelegtem Perlmuttmosaik, das stellenweise schon herausgefallen war und nur noch gelbliche Lücken mit Klebstoffresten sehen ließ, lag eine Menge Krimskrams (im Orig.: vsjakaja vsjačina, C. S.) herum: ein Haufen eng beschriebener Papiere, auf denen ein grünlich angelaufener Briefbeschwerer aus Marmor lag, obendrauf ein Ei, ein altes Buch in einem Ledereinband mit rotem Schnitt, eine Zitrone, ganz vertrocknet und nicht größer als eine Haselnuss, eine abgebrochene Sesselehne, ein Glas mit einer Flüssigkeit und drei Fliegen darin, das mit einem Brief zugedeckt war, ein Stück Siegellack, ein Stück eines irgendwo aufgesammelten Fetzens, zwei mit Tinte bekleckste, schwindsüchtig ausgedörrte Schreibfedern und ein ganz und gar vergilbter Zahnstocher, mit dem sich der Hausherr vermutlich schon vor dem Einmarsch der Franzosen in Moskau in den Zähnen gestochert hatte. […] In einer Zimmerecke war auf dem Boden all das zu einem Haufen aufgetürmt, was gröber war und nichts auf einem Tisch zu suchen hat. Was sich genau in dem Haufen befand, war schwer festzustellen, denn es lag derart viel Staub darauf, dass die Hände eines jeden, der ihn berührt hätte, gleich wie Handschuhe ausgesehen hätten […].406 (Hervorhebungen C. S.)

Im Verlauf des Textes werden im Kontrast von Dorf, Herrenhaus, Gartenbeschreibung, der anschließenden Schilderung von Pljuskins Zimmer und der folgenden Abschrift der Namen (siehe Kap. 4.3) in einem zyklischen Wechsel Visionen des Verfalls und Visionen des Lebendigen einander gegenübergestellt.407 Die Lebendigkeitsvision des Gartens war dabei gerade aus der Verbindung von beiden Momenten konstruiert – ein ideales Bild des Zyklus aus Vergehen und Entstehen, den die Abfolge der Szenen auch als ganze repräsentiert. Pljuškins Zimmer zeigt vor dem Hintergrund der im Garten verfallenen ‚aufgetürmten‘ menschllichen Architektur ebenfalls eine solche verfallene Szenerie, hier jedoch in grabesartiger Atmosphäre (širokie seni, ot kotorych podulo cholodom, kak iz pogreba [„eine große, dunkle Diele, von der ihm Kälte entgegenwehte wie aus einem Keller“]) ohne das organische Wachstum der Natur. Die Parallele zur bei der Gartenbeschreibung herabgewürdigten Architektur des Menschen mit dem Adjektiv nagromoždennyj (dt. „aufgetürmt“/„angehäuft“; stammt von russ. gromozd, dieses wiederum von gromada [dt. „Haufen“, „Masse“])408 ist frappierend. Es beschreibt ähnlich wie das an dieser Stelle verwendete navalenyj (dt. „aufgetürmt“/„aufgehäuft“, vielleicht auch mit „angewälzt“ zu übersetzen; stammt von russ. val [dt. „Wall“ oder „Welle“/ „Walze“])409 eine zwar imposante, aber unelegante, grobe Form.

406 Gogol: Tote Seelen, S. 142. 407 Vgl. zur Vanitas-Motivik an dieser Stelle Hansen-Löve, Aage A.: „‚Wir sind alle aus Pljuškins Haufen hervorgekrochen‘: Ding – Gegenstand – Ungegenständlichkeit – Unding“, in: Hennig, Anke/ Witte, Georg: Der dementierte Gegenstand. Artefaktskepsis der russischen Avantgarde zwischen Abstraktion und Dinglichkeit. Wiener Slawistischer Almanach. Sonderband 71. Wien/München 2008, S. 251–346, S. 256. 408 Vasmer, Max: Russisches Etymologisches Wörterbuch. Bd.  1. Heidelberg 1953, S.  310 f.; Preobraženskij: Ėtimologičeskij slovar’ russkogo jazyka, S. 160 f. 409 Ebd., S. 63 f.; Vasmer: Russisches Etymologisches Wörterbuch. Bd. 1, S. 165 f.

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Die Differenz zwischen dem, was in Pljuškins Zimmer zu sehen ist, und der Architektur des Dorfes sowie den Überresten der Gartenarchitektur (umgestürzte Geländer, der alte Pavillon) liegt jedoch gerade im Gegensatz von Plan und Zufall, die deren Formen bestimmen. Aus der menschlichen Konstruktion „schaut“, wie der Erzähler sich bei der Beschreibung des Gartens ausdrückt, der „Plan noch unverhohlen hervor“ (progladyvaet neskrytyj, nagoj plan) und lässt dessen „armselige Lücken“ (niščenskie porechi) sehen. Dies ist gerade im Moment seines Verfalls zu konstatieren, wenn das organische Wachstum der Natur seine eigene Dichte und Lückenlosigkeit deutlich macht. In Pljuškins Zimmer erlangt die Anhäufung – als eine zwar von Menschenhand hergestellte Architektur – wiederum durch ihre Planlosigkeit eine eigene Qualität. Ein Moment des Zufälligen hält Einzug: Sowohl die Auswahl der Gegenstände als auch ihre Anordnung lassen keinen Plan vermuten, der ja gerade auf einen Gebrauch ausgerichtet wäre. So informiert der Erzähler auch etwas später über Pljuškins Verfahren, mit dem er bei der An- oder Ausfüllung des Zimmers vorgeht: Не довольствуясь сим, он ходил еще каждый день по улицам своей деревни, заглядывал под мостики, под перекладины и все, что ни попадалось ему: старая подошва, бабья тряпка, железный гвоздь, глиняный черепок, — все тащил к себе и складывал в ту кучу […] В комнате своей он подымал с пола все, что ни видел: сургучик, лоскуток бумажки, перышко, и все это клал на бюро или на окошко. […] С каждым годом притворялись окна в его доме, наконец остались только два, из которых одно, как уже видел читатель, было заклеено бумагою; с каждым годом уходили из вида более и более главные части хозяйства, и мелкий взгляд его обращался к бумажкам и перышкам, которые он собирал в своей комнате […].410 Nicht zufrieden damit, lief er jeden Tag durch die Straßen seines Dorfes, schaute unter den hölzernen Brücken nach und unter den Stegen und schleppte alles nach Hause, was immer er finden konnte: eine alte Schuhsohle, einen Weiberfetzen, einen Eisennagel, eine Tonscherbe, – alles schleppte er nach Hause und packte es auf den Haufen […] In seinem Zimmer hob er alles vom Boden auf, was ihm unter die Augen kam: ein Stück Siegellack, einen Papierfetzen, eine Schreibfeder und alles legte er auf den Sekretär oder auf das Fensterbrett. […] Mit jedem Jahr, das verging, wurden mehr Fenster in seinem Haus versperrt, schließlich blieben nur noch zwei übrig, von denen das eine, wie der Leser schon gesehen hat, mit Papier zugeklebt war; mit jedem Jahr, das verging, gerieten ihm die wesentlichen Dinge in der Wirtschaft mehr und mehr aus dem Blick und sein kleinliches Augenmerk richtete sich nur noch auf Papierfetzen und Schreibfedern, die er in seinem Zimmer hortete […].411

Die Fixierung Pljuškins auf das Einzelne, das dem undifferenzierten Haufen in seinem Zimmer eingespeist wird, lässt jegliche Verbindung zu einem diese motivierenden Zweck vermissen. Allein um ihrer selbst willen verfolgt Pljuškin die weitere

410 G MD, S. 117 ff. 411 Gogol: Tote Seelen. S. 145 ff.

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Anfüllung des Zimmers. Pljuškin ist geizig – wie oft ist er als personifizierter Geiz gedeutet worden,412 im Sinne der allegorischen Deutung der Reihe der Gutsbesitzer, deren Sünden, wie eingangs beschrieben, wie in der Divina Commedia in aufsteigender Abfolge dargestellt würden: Damit wäre Pljuškin, der Geiz, der schlimmste von allen. Es wird gesagt, manche Händler besuchten ihn erst gar nicht mehr und dächten, čto ėto bes, a ne čelovek413 („er sei ein Dämon und kein Mensch“)414. Damit übersteigt Pljuškin eigentlich die Personifikation des Geizes, denn sein Verhalten kann nicht mehr als übertriebene Sparsamkeit bezeichnet werden, vielmehr verkauft er ja überhaupt nichts mehr – alles, was auf seinem Gut hergestellt wird, kommt ins Lager und bleibt dort, bis es verfällt: [С]ено и хлеб гнили, клади и стоги обращались в чистый навоз, хоть разводи на них капусту, мука в подвалах превратилась в камень, и нужно было ее рубить, к сукнам, холстам и домашним материям страшно было притронуться: они обращались в пыль. Он уже позабывал сам, сколько у него было чего, и помнил только, в каком месте стоял у него в шкафу графинчик с остатком какой-нибудь настойки, на котором он сам сделал наметку, чтобы никто воровским образом ее не выпил, да где лежало перышко или сургучик. […] [В]се это сваливалось в кладовые, и все становилось гниль и прореха, и сам он обратился наконец в какую-то прореху на человечестве.415 [D]as Heu und das Getreide verfaulten, die Getreide- und Heuschober verwandelten sich in wahre Misthaufen, man hätte Kohl darauf ziehen können, das Mehl in den Vorratskellern wurde zu Stein, man musste es mit dem Beil abschlagen, es war ein Graus, Leinwand, Tuch und hausgewebte Stoffe zu berühren: sie zerfielen zu Staub. Er hatte schon selbst vergessen, wieviel er wovon besaß und erinnerte sich nur noch, an welcher Stelle in seinem Schrank die kleine Karaffe mit einem Likörrest stand, auf der er eigenhändig ein Zeichen angebracht hatte, damit ihn ja niemand in räuberischer Absicht austrank, oder wo eine Feder lag oder ein Stückchen Siegellack. […] [U]nd alles lag in den Lagerhäusern herum, und alles vermoderte, und wurde rissig und auch er selber verwandelte sich schließlich in eine Art Riss in der Menschheit.416

Den differenz- und wertlosen Haufen in Pljuškins Zimmer erzeugt eine absolute Eingrenzung und Verengung. Die Defiguration der kuča (dt. „Haufen“), so lässt sich diese Überlegung zusammenfassen, bedeutet also einen vollkommenen Zeichenverlust (Wert-, Repräsentationsverlust), der ihre Differenz auf kurz oder lang zu einem differenzlosen ‚All‘, einem differenzlosen ‚Nichts‘ aus Staub macht.417 Dieses ‚All‘ zeigt

412 Vgl. diese Deutung bereits im Essay Konstantin Aksakovs: Aksakov, Konstantin Sergeevič: „Neskol’ko slov o poėme Gogolja: Pochoždenie Čičikova ili Mertvye duši“, in: Ders./Aksakov, Ivan Sergeevič: Literaturnaja Kritika. Hg., eingeleitet u. komm. v. A. S. Krylov. Moskva 1981, S. 141–150. 413 G MD, S. 119. 414 Gogol: Tote Seelen, S. 147. 415 G MD, S. 119. 416 Gogol: Tote Seelen, S. 147. 417 Vgl. hier und im Folgenden Podoroga, Valerij: Mimesis. Bd. 1. N. Gogol’, F. Dostoevskij. Moskva 2006, S. 46 ff.; vgl. zudem Hansen-Löve: „‚Wir sind alle aus Pljuškins Haufen hervorgekrochen‘“,

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seine Eigenschaft, Differenz aufzulösen auch darin, dass eine Berührung sofort und unabdinglich kontagiös sein muss und dieses staubhafte Etwas auf den Berührenden gleich einem Handschuh überträgt. In der Gegenüberstellung von Pljuškins Zimmer und Garten zeigt sich der Kontrast eines positiven Begriffs der Defiguration, der in seiner Gerichtetheit auf die Figur (das durchschimmernde göttliche Licht als Zentrum des Bildes) aufgehoben wird und einer negativen Defiguration, die die Abwesenheit einer über die materielle Präsenz hinausgehenden Bedeutung bestimmt. Präsenz der Erscheinung ist bei einer positiv gedachten Defiguration in einem visuellen Bild wie Pljuškins Garten ebenfalls von zentraler Wichtigkeit – dabei verweist jedoch die visuelle Erscheinung auf ihr tieferes Ordnungsprinzip. Der Verlust einer Gebrauchszirkulation, der auf Wert- und Bedeutungszuschreibungen basiert, betrifft auch die zahllosen Papierstücke und Schreibutensilien, die sich in Pljuškins Zimmer befinden. Als Pljuškin dem Verkauf der „toten Seelen“ zustimmt, stellt sich in gewisser Hinsicht ein neuer Wert her, der das beschriebene Papier mit den Namen der toten Bauern aus der Masse herauslöst – die Staubdecke wird gelüftet: Развязывая всякие связки, он попотчевал своего гостя такою пылью, что тот чихнул. Наконец вытащил бумажку, всю исписанную кругом. Крестьянские имена усыпали ее тесно, как мошки. Были там всякие: и Парамонов, и Пименов, и Пантелеймонов, и даже выглянул какой-то Григорий Доезжай-не-доедешь; всех было сто двадцать с лишком.418 Er schnürte alle möglichen Bündel auf und hüllte seinen Gast in derart viel Staub, dass dieser niesen musste. Schließlich zog er ein Blatt hervor, das von oben bis unten vollgeschrieben war. Die Bauernnamen bedeckten es so dicht wie Gewitterfliegen. Alle möglichen gab es: einen Paramonow, einen Pimenow, einen Pantelejmonow, sogar einen Grigori-fahr-los-komm-niemals-an lugte heraus; insgesamt waren es mehr als hundertzwanzig.419

Sofort fällt die lautliche Spielerei auf, mit der Pljuškins Wühlen in seinem Dinghaufen beschrieben wird: Razvjazyvaja vsjakie svjazki (wörtlich: „allerlei Bündel ent-/aufbindend“; russ. svjaz’: „Verbindung“; svjazka: „Bündel“): Die permutativ anmutende Wortkombination, in der -zvjazyvaja/vsja-/svjaz- hintereinander gesetzt werden,

S. 255 f.: Ich stimme Podoroga zu, dass Pljuškins Haufen als dunkles Chaos zwischen einer Monstrosität und dem Banalen schwankt und ein Bild für eine semantische Entleerung in Gogol’s Text(-en) darstellt, die in ähnlicher Weise zwischen einem monströsen und banalen All oder Nichts hin und her kippen. Zugleich scheint mir die Überlegung, dass hier zugleich der Kreislauf von Verfall und NeuEntstehung (aus einem Haufen des Seins) dargestellt sei, etwas differenziert werden zu müssen. Mir scheint eher, dass dieser Kreislauf sich von der Schilderung des Dorfes, des Gartens über Pljuškins Zimmer bis zu der folgenden Schreib-Szene erstreckt, in der Čičikov die Namen abschreibt und wiederum eine arabeske Fantasie entwirft. 418 G MD, S. 125. 419 Gogol: Tote Seelen, 154.

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hat eine onomatopoetische Dimension, als würde sie das Rascheln von Papieren, das sie beschreibt, selbst imitieren. Hier zeigt sich unweigerlich die Ähnlichkeit zur Verbindung vsjakaja vsjačina, die sich ebenfalls aus einer Wiederholung der Silbe vsja- konstituiert – und auch die vsjakie svjazki stellen sich als eine Beschreibung der formlosen Ansammlung von allem Möglichen dar. Aus dieser Ansammlung tritt die Liste der Namen hervor, der zentrale Gegenstand, um den die Szene und der ganze Roman Mertvye duši kreist. Die Lautkombinatorik ist hier aber vor allem zunächst eine Buchstabenkombinatorik, die die Liste der geschriebenen Namen einleitet. Das Potential ihrer eigenen vsjakaja vsjačina, ihres eigenen „Allerleis“, offenbart sich später im Text (siehe das folgende Kapitel 4.3). Dabei spielt vor allem die Utopie einer sich im geschriebenen Namen offenbarenden Wahrheit und Selbstevidenz eine Rolle, die schon immer mit einer Praxis der Anagramme und Buchstabenpermutation verbunden war (siehe dazu zudem Kapitel 5.3). Die Namen der Bauern sind so dicht über das Blatt geschrieben, dass sie zunächst wie eine schwarze Masse aus Fliegen erscheinen, die das Papier bedecken. Dann erst werden einzelne Namen erkennbar. Die Differenzlosigkeit der schwarzen Flecken, die das Blatt bedecken, wird bereits hier aufgehoben, als der Käufer Čičikov, im Bewusstsein des Wertes, den die lange, volle Liste für ihn besitzt, seinen interessierten Blick darauf richtet (ein Prozess, der sich fortsetzt, als Čičikov die Namen schließlich selbst abschreibt). Die Enge der Zeilen, Pljuškins Schreibweise, die den Raum des Blattes zu füllen bemüht ist, steht noch einmal metonymisch für seine Sammelobsession, mit der er den Raum seines Hauses und seine Lagerräume anfüllt, sodass alles differenzlos und wertlos wird, so wie die Namen auf dem Blatt unlesbar werden. Мавра ушла, а Плюшкин, севши в кресла и взявши в руку перо, долго еще ворочал на все стороны четвертку, придумывая: нельзя ли отделить от нее еще осьмушку, но наконец убедился, что никак нельзя; всунул перо в чернильницу с какою-то заплесневшею жидкостью и множеством мух на дне и стал писать, выставляя буквы, похожие на музыкальные ноты, придерживая поминутно прыть руки, которая расскакивалась по всей бумаге, лепя скупо строка на строку и не без сожаления подумывая о том, что все еще останется много чистого пробела.420 Mawra ging hinaus, Pljuškin setzte sich in den Sessel, nahm eine Feder zur Hand, wendete den Viertelbogen noch lange hin und her und überlegte, ob sich von diesem Bogen nicht noch ein Achtel abtrennen ließe, kam aber zu dem Schluss, dass das nicht ging; so tauchte er die Feder ins Tintenfass mit einer verschimmelten Flüssigkeit und einer Unmenge Fliegen auf dem Boden und fing an zu schreiben, wobei er die Buchstaben wie Noten aufs Papier malte und dabei ständig den Schwung seiner Hand bremste, die übers ganze Blatt galoppieren wollte, stattdessen setzte er geizig Zeile an Zeile und dachte nicht ohne Bedauern daran, dass immer noch viel leerer Raum übrig blieb.421

420 G MD, S. 127. 421 Gogol: Tote Seelen, S. 156.

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Pljuškins Drang zur Ausfüllung des eigenen Raumes, dem er mit seinem unermüdlichen Sammeln nutzlos gewordener Gegenstände nachgeht, zeigt sich auch in dieser Füllung des leeren Raums des weißen Blattes. Pljuškins Obsession ist, wie nicht zuletzt durch die ständige Betonung der Schreibutensilien und Schriftfetzen in seinem „Haufen“ deutlich wird, der in jener Zeit entworfenen Obsession des Bibliotaphen als Typus des geizigen Buchsammlers ähnlich. Die Entstehung des diskursiven Konstrukts des Bibliotaphen spiegelt in jener Zeit ein immer stärkeres Bedürfnis von Archivierung und Katalogisierung, das nicht nur einem Erhalt, sondern auch einer Verbreitung von als kulturell bedeutsam Erkanntem dienen soll. Vor der Negativfolie der Bibliotaphie wird die Vorstellung entworfen, der Erhalt des Wissens sei gerade durch seine Ordnung (archivarische Aufbereitung) und Verbreitung, d. h. seine öffentliche Zugänglichkeit, aber natürlich auch die pädagogische Vermittlung zu gewährleisten (siehe Kapitel 2.1 und 2.4.1). Ein Bibliograph wie Vasilij Sopikov erschafft sein Selbstbildnis als erster Bibliograph Russlands vor allem vor dem Hintergrund des Schreckensbildes des geizigen Bibliomanen oder Bibliotaphen, der weder selbst lese noch anderen gestatte, seine Sammlung zu nutzen. Diese ‚Sammlung‘ sei zudem weder nach bestimmten Prinzipien der Auswahl oder Ordnung strukturiert, sondern entstehe rein um ihrer selbst willen. Bücher werden darin zu bloßen Dingen, und diese Dinge zu bloßem Material, das verfalle: При семъ не могу не замѣтить, что въ отечествѣ нашемъ многiе рѣдкiе и драгоцѣнные остатки древней Словестности Руской, индѣ снѣдаемые молiемъ и пылью, а индѣ обложенные позлащеннымъ переплетомъ, въ великолѣпномъ шкафѣ богатаго Библiомана, или въ темномъ углу у завистливаго Библiотафа, лежатъ заперты безъ достойнаго употребленiя и къ большему сожаленiю, находятся вo всегдашней опасности, отъ внезапныхъ случаевъ и тлѣния погибнуть невозвратно.422 Dabei kann ich nicht umhin zu bemerken, dass in unserem Vaterland viele seltene und wertvolle Zeugnisse der alten Russischen Literatur, hier um von Motten und Staub zerfressen zu werden, und dort in einen vergoldeten Einband geschlagen, im großartigen Schrank eines reichen Bibliomanen, oder in einer dunklen Ecke bei einem eifersüchtigen Bibliotaphen, unzugänglich daliegen ohne eine angemessene Nutzung, und zum großen Bedauern befinden sie sich in einer immerwährenden Gefahr, durch plötzliche Vorfälle und Fäulnis unwiederbringlich umzukommen.

Auch bei Sopikov wird die Lebendigkeitsmetaphorik bemüht; schließlich ist der Bibliotaph wörtlich übersetzt der Buchgräber. Der Bibliotaph agiert in diesem Diskurs also gerade nicht als Bewahrer eines erinnerungswürdigen Kulturgutes, sondern vernichtet dieses. Vor diesem diskursiven Hintergrund erscheint auch Pljuškins Sammelpraktik als ein ‚Dingfetischismus‘423 (und Dinge sind hier nicht nur die Gebrauchs­gegenstände,

422 Sopikov: Opyt rossijskoj bibliografii. Teil 1, XVIII. 423 Vgl. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006, S. 20 ff., S. 92 ff.

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die sich auf dem Schreibtisch und in der Ecke befinden, sondern auch die Speisereste oder die beschriebenen Papiere), der nicht auf Nutzen und Zweck gerichtet ist. Ein solcher Nutzen und Zweck wäre ja auch bereits deren Einordnung in ein System zur Wissensgenerierung, wie er auch im Museum noch gegeben ist, wo Dinge in Serie präsentiert (und dabei ja strenggenommen auch entpragmatisiert) werden. 424 Ein Fetisch, wie ihn Pljuškin betreibt, lässt sich also als ein gegensätzlicher Spiegel zur auf Zirkulation von Signifikanz gerichteten Präsentationspraxis eines Archivaren verstehen. Dabei erscheint er zugleich als notwendiges Gegenbild einer in dieser Zeit entstehenden Institutionalisierung von Sammlungen im Rahmen von Musealisierungsund Archivierungsprozessen, die ein Nationalbewusstsein installieren.425 Vor allem jedoch zeigen diese Institutionalisierungsprozesse von Sammlungen ein gesteigertes Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Scheidung des als bedeutend Erkannten vom unbedeutenden Rest an. Durch eine fortschreitende Industrialisierung und Urbanisierung nimmt der Müll in dieser Zeit eine ganz neue Dimension an und schiebt sich selbst ins Bewusstsein (siehe hierzu Teil I, Kap. 3.2.2).426 So wäre Pljuškin analog zu dem Bibliotaphen betrachtet derjenige, der das kulturell Wertvolle von seinem Wert abkoppelt, indem er dessen Zirkulation verhindert. Betrachtet man ihn allerdings vielmehr als Müllsammler, so erscheint er subversiv, hat sein „Haufen“ scheinbar eine ästhetische Dimension:427 Gebrauchsgegenstände und Semiophoren428 werden aus ihrem Zirkulationszusammenhang um ihrer selbst willen herausgelöst, auch das von seiner Bedeutung innerhalb einer kulturellen Wertung schon Ab-gefallene kann Teil des Pljuškinschen Aufgehobenen werden. Dennoch kommt es hier – wie besonders der Kontrast zur belebt-beweglichen Gartenszenerie verdeutlicht – noch nicht zu einer Ästhetisierung des Chaos als romantische Vorstellung des Figuralen. Der Text isoliert in dieser Beschreibung das chaotische Moment mit seinem Potential einer sinnlich fassbaren, sich aufdrängenden Materialität, an der ein Deutungsverfahren und Versuche der Zuschreibung immer wieder hängen- und stehenbleiben.

424 Hier würde ich gegenüber Hartmut Böhmes Konstatierung einer Fetischisierung des Dings im musealen Zusammenhang (vgl. ebd. S. 300) noch eine Differenz zu einer Fetischisierung, wie sie bei Pljuškin anzutreffen ist, einziehen: Im Museum besteht zumindest der pragmatische Zusammenhang einer öffentlichen Präsentation, die im Rahmen bestimmter Wissens- und Wertzusammenhänge geschieht; dem scheint Pljuškins Dingfetischismus, der scheinbar vollkommen abseits solcher Wertzuschreibungen vor sich geht (sowohl das wertvolle Gut wird einbezogen als auch das von der Kultur und Warenzirkulation Abgestoßene), eher diametral entgegengesetzt zu sein. 425 Vgl. Pomian, Krzysztof: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1998, S. 69 f. 426 Vgl. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999, S. 384, S. 389. 427 Toporov, Viktor: „Vešč’ v antropologičeskoj perspektive (apolopija Pljuškina)“, in: Ders.: Mif. Ritual. Simvol. Obraz. Issledovanija v oblasti mifopoėtičeskogo. Moskau 1995, S. 30–82, hier S. 30 ff., S. 66. 428 Zum Begriff der Semiophore vgl. Pomian: Der Ursprung des Museums, S. 92.

Die Frische der Namen: Schriftmagie und arabeske Ökonomie 

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4.3 Die Frische der Namen: Schriftmagie und arabeske Ökonomie Das kreative Potential des Ordnung und Differenz aufhebenden Chaos offenbart sich in der anschließenden Abschrift der auf dem Blatt Pljuškins versammelten Namen durch Čičikov. Die undifferenzierten Kleckse, die „wie Fliegen“ bei Pljuškin das Blatt bedeckt hatten, werden nun beim genaueren Hinsehen, einer durch den Schreibakt entstandenen Aufmerksamkeit für die besondere Form, zu detaillierten Schriftzügen. In ihrer Differenz scheinen sie eine Individualität des „Charakters“ auszudrücken: Потом в ту же минуту приступил к делу: перед шкатулкой потер руки […], и тот же час вынул из нее бумаги. […] Сам решился он сочинить крепости, написать и переписать, чтоб не платить ничего подьячим. Форменный порядок был ему совершенно известен: бойко выставил он большими буквами: „Тысяча восемьсот такого-то года“, потом вслед за тем мелкими: „помещик такой-то“, и все что следует. В два часа готово было все. Когда взглянул он потом на эти листики, на мужиков, которые, точно, были когда-то мужиками, работали, пахали, пьянствовали, извозничали, обманывали бар, а может быть, и просто были хорошими мужиками, то какое-то странное, непонятное ему самому чувство овладело им. Каждая из записочек как будто имела какой-то особенный характер, и чрез то как будто бы самые мужики получали свой собственный характер. Мужики, принадлежавшие Коробочке, все почти были с придатками и прозвищами. Записка Плюшкина отличалась краткостию в слоге: часто были выставлены только начальные слова имен и отчеств и потом две точки. Реестр Собакевича поражал необыкновенною полнотою и обстоятельностию, ни одно из качеств мужика не было пропущено; об одном было сказано: „хороший столяр“, к другому приписано: „дело смыслит и хмельного не берет“. […] Все сии подробности придавали какой-то особенный вид свежести: казалось, как будто мужики еще вчера были живы. Смотря долго на имена их, он умилился духом и, вздохнувши, произнес: „Батюшки мои, сколько вас здесь напичкано! что вы, сердечные мои, поделывали на веку своем? как перебивались?“429 Dann ging er sogleich ans Werk: vor der Schatulle rieb er sich […] die Hände […], und holte auf der Stelle die Papiere daraus hervor. […] Um den Gerichtsschreibern nichts zahlen zu müssen, beschloss er, die Kaufverträge selber aufzusetzen, sie zu schreiben und auch zu kopieren. Die Formalitäten waren ihm bestens vertraut; so schrieb er mit großen Buchstaben munter aufs Blatt: achtzehnhundert soundso, anschließend in kleinerer Schrift: ich, der Gutsbesitzer soundso, und alles andere. Zwei Stunden später war er fertig. Als er sich die Blätter dann ansah, diese Bauern, die tatsächlich einmal Bauern gewesen waren, die gearbeitet hatten, gepflügt, getrunken, Fuhrwerke gelenkt, ihre Herren betrogen und die vielleicht auch einfach nur gute Menschen gewesen waren, überkam ihn ein merkwürdiges, ihm selber unerklärliches Gefühl. Jedes der Verzeichnisse schien einen eigenen Charakter zu haben und dadurch schienen auch die Bauern ihren eigenen Charakter zu bekommen. Die Bauern, die der Korobotschka gehört hatten, waren fast alle mit Spitznamen und Anhängseln versehen. Pljuškins Liste unterschied sich durch seine [sic!; eigtl.: „durch die Knappheit im Stil“, C. S.] knappe Form: häufig waren nur die Anfangsbuchstaben von Vor- und Vatersname aufgeführt, dann folgten zwei Punkte. Sobakewitschs Register erstaunte durch seine außergewöhnliche Fülle und Ausführlichkeit: keine einzige lobende Eigenschaft der Bauern war

429 G MD, S. 135 f.

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ausgelassen: von einem hieß es „ein guter Tischler“, bei einem anderen war ergänzt „er versteht seine Sache und rührt einen Schnaps an“. […] Alle diese Einzelheiten verliehen dem Ganzen eine besondere Art von Frische: man hätte meinen können, die Bauern seien gestern noch am Leben gewesen. Lange betrachtete er ihre Namen und es überkam ihn ein Gefühl der Rührung, seufzend sagte er: „Du meine Güte, wieviele von euch hier zusammengepfercht sind! was habt ihr Guten in eurem Leben eigentlich getrieben?“430

Die zuvor so bewusst ausgeführte Tätigkeit des Schreibakts hat zu einer Aufmerksamkeit für die Vielfältigkeit und Differenz des Geschriebenen geführt, deren Bewusstheit gerade dem Unbewussten sein Einfallstor bietet (das den Schreiber als „unerklärliches Gefühl“ überwältigt). Dieses Unbewusste stellt sich als ein Gefühl für eine Individualität der geschriebenen Namen dar, das sich innerhalb einer gerührten Reminiszenz an das Čičikov unbekannte Leben der auf dem Blatt durch die Namen bezeichneten Bauern entwickelt. Das „unerklärliche Gefühl“ kündigt einen beginnenden Imaginationsprozesses an, der sich an der Erkenntnis über die Differenz der geschriebenen Namen und über das gleichzeitige Nichtwissen um ihre tatsächlichen, in Wahrheit geschehenen Schicksale entspinnt. Die „Frische“ der differentiellen Schriftzüge der Namen impliziert zweierlei: Die Attraktion ihrer Lebensnähe und das gleichzeitige Bewusstsein über die Vergangenheit des Lebens, das die Listen überhaupt (zum größten Teil, denn Pljuškins Bauern waren ja auch zum Teil entlaufen) bezeugen: [K]azalos’, kak budto mužiki ešče včera byli živy („[M]an hätte meinen können, die Bauern seien gestern noch am Leben gewesen“). Die Listen der Namen bezeugen fälschlich die Existenz von Leibeigenen, die Čičikov erworben habe. Tatsächlich sind sie jedoch längst gestorben. Mehrmals verweist Čičikov selbst (freilich in der Absicht, für sich einen günstigeren Kaufpreis zu verhandeln) auf die Tatsache, dass die Listen auf nichts verwiesen, und ein „Nichts“ bezeichnen, das verschiedene Synonyme erhält: — Но позвольте, — сказал наконец Чичиков, изумленный таким обильным наводнением речей, которым, казалось, и конца не было, — зачем вы исчисляете все их качества, ведь в них толку теперь нет никакого, ведь это всё народ мертвый. Мертвым телом хоть забор подпирай, говорит пословица. — Да, конечно, мертвые, — сказал Собакевич, как бы одумавшись и припомнив, что они в самом деле были уже мертвые, а потом прибавил: — Впрочем, и то сказать: что из этих людей, которые числятся теперь живущими? Что это за люди? мухи, а не люди. — Да всё же они существуют, а это ведь мечта.431 „Aber gestatten Sie“, sagte Tschitschikow schließlich, den dieser gewaltige Wortschwall, der offenbar kein Ende nehmen wollte, in Erstaunen versetzte, „weshalb zählen Sie denn alle ihre Eigenschaften auf, die nützen heute doch niemandem mehr, sie sind ja alle tot. Mit einem Toten kann man ja höchstens noch den Zaun abstützen, wie das Sprichwort sagt.

430 Gogol: Tote Seelen, S. 167 f. 431 G MD, S. 103.

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„Ja, natürlich sind sie tot“, sagte Sobakewitsch, als würde er Vernunft annehmen und sich besinnen, dass sie tatsächlich schon tot waren, fügte dann aber hinzu: „Übrigens, um auch das noch zu sagen: was hat man schon von denen, die heute als Lebende geführt werden? Was sind das denn für Leute? Fliegen sind das und keine Menschen.“ „Aber immerhin existieren sie, die anderen aber sind nichts als Hirngespinste.“432

Zu Korobočka, der der Kauf der „toten Seelen“ nicht als Scheinkauf mit betrügerischen Absichten verständlich wird und die mal eine gottlose Schurkerei, mal ein für sie unvorteilhaftes Geschäft vermutet, sagt er: — Послушайте, матушка… эх, какие вы! что ж они могут стоить? Рассмотрите: ведь это прах. Понимаете ли? это просто прах. Вы возьмите всякую негодную, последнюю вещь, например даже простую тряпку, и тряпке есть цена: ее хоть по крайней мере купят на бумажную фабрику, а ведь это ни на что не нужно. Ну, скажите сами, на что оно нужно?433 „Hören Sie, gute Frau… Was sind Sie bloß für ein Mensch! Wieviel sollen sie denn wert sein? Begreifen Sie doch: es ist Staub. Verstehen Sie? nichts als Staub. Nehmen Sie irgendein unbrauchbares, wertloses Ding, einen einfachen Lumpen zum Beispiel, auch der Lumpen hat seinen Wert: den kauft einem wenigstens jemand zur Papierherstellung ab, das hier aber ist zu gar nichts nutze. […]“434

Bei Nozdrev bedient er sich etwas derberer Worte: — Ну уж, верно, что-нибудь затеял. Признайся, что? — Да что ж затеял? из этакого пустяка и затеять ничего нельзя. — Да зачем же они тебе? — Ох, какой любопытный! ему всякую дрянь хотелось бы пощупать рукой, да еще и понюхать!435 „Du hast sicher was ausgeheckt. Gib’s zu, was denn?“ „Was soll ich schon ausgeheckt haben? mit dieser Lappalie (wörtlich: „Nichts“, C. S.) kann man doch wirklich nichts anfangen,“ „Und wozu brauchst du sie dann?“ „Du meine Güte, wie neugierig er ist! jeden Dreck möchte er anfassen und sogar noch dran riechen!“436

432 Gogol: Tote Seelen, S. 126. 433 G MD, S. 52. 434 Gogol: Tote Seelen, S. 64. 435 G MD, S. 78. 436 Gogol: Tote Seelen, S. 95.

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„Hirngespinst“, „Staub“, „Dreck“, „Nichts“ (russ. pustjak (von pustoj: dt. „leer“): dt. „Nichts“/„Nichtigkeit“/„Bagatelle“); „Fliegen“,437 die das Blatt bedecken. Das Nichtige, das nur scheinbar sowie das gerade noch Existente dienen als Synonyme der „toten Seelen“, der Namen auf dem Papier. Fast gegenteilig erscheint da das Attribut der „Frische“ dieser geschriebenen Namen, das Anlass zum Nachsinnen über ihr Leben bietet. Die sich anschließende Fiktion Čičikovs über das Leben der Verstorbenen oder Verschwundenen ist gerade aus dieser Ambivalenz der leeren oder referenzlosen Schrift geboren, deren arabeske Differenziertheit sowohl ein Faszinosum der Sichtbarkeit und als auch der gleichzeitigen „Charakterhaftigkeit“, der Wesenhaftigkeit, ihrer Essenz, ihrer Seele darstellt. Es sind die geschriebenen Namen selbst, die Čičikovs anschließende Rede auslösen, die sich dann zu einer eigenständigen Erzählung entwickelt: „Батюшки мои, сколько вас здесь напичкано! что вы, сердечные мои, поделывали на веку своем? как перебивались?“ И глаза его невольно остановились на одной фамилии: это был известный Петр Савельев Неуважай-Корыто, принадлежавший когда-то помещице Коробочке. Он опять не утерпел, чтоб не сказать: „Эх, какой длинный, во всю строку разъехался! Мастер ли ты был, или просто мужик, и какою смертью тебя прибрало? в кабаке ли, или середи дороги переехал тебя сонного неуклюжий обоз? Пробка Степан, плотник, трезвости примерной. А! вот он, Степан Пробка, вот тот богатырь, что в гвардию годился бы! Чай, все губерния исходил с топором за поясом и сапогами на плечах, съедал на грош хлеба да на два сушеной рыбы, […]. Где тебя прибрало? Взмостился ли ты для большего прибытку под церковный купол, а может быть, и на крест потащился и, поскользнувшись, оттуда, с перекладины, шлепнулся оземь, и только какой-нибудь стоявший возле тебя дядя Михей, почесав рукою в затылке, примолвил: „Эх, Ваня, угораздило тебя!“ — а сам, подвязавшись веревкой, полез на твое место. Максим Телятников, сапожник. Хе, сапожник! […] Знаю, знаю тебя, голубчик; если хочешь, всю историю твою расскажу […]“438 „Du meine Güte, wieviele von euch hier zusammengepfercht sind! was habt ihr Guten in eurem Leben eigentlich getrieben? wie habt ihr euch durchgeschlagen?“ Unwillkürlich blieb sein Blick an einem Namen haften, es war der bewusste Pjotr Saweljew, der Trogverächter, der einst der Korobotschka gehört hatte. Und wieder konnte er nicht anders als zu sagen: „Der ist aber lang, eine ganze Zeile nimmt er ein! Warst du ein Handwerker oder einfach nur ein Bauer, und wo hat dich der Tod erwischt? im Wirtshaus vielleicht, oder hat dich ein schwerer Wagen im Schlaft mitten auf der Landstraße überrollt? Und Probka-Stepan, der Zimmermann, das Beispiel an Nüchternheit. Ah! da haben wir ihn ja, den Stepan Probka, diesen Riesen, der für die Garde getaugt hätte! Bist sicher mit der Axt am Gürtel und den Stiefeln über der Schulter durch alle Gouvernements gewandert, hast für einen Groschen Brot gegessen und für zwei Groschen Dörrfisch […], wo hat es dich erwischt? Bist du vielleicht, um mehr zu verdienen, in die Kirchenkuppel hochgestiegen, oder gar aufs Kreuz geklettert, vom Querbalken abgerutscht und auf die Erde gestürzt und irgendein neben dir stehender Onkel Michej hat sich am Hinterkopf gekratzt, hat gemurmelt: ‚Ach, Wanja, wie hast du das denn fertiggebracht‘ und hat sich dann selber

437 Vgl. Hansen-Löve: „Muchi – russkie, literaturnye“, S. 95 f. 438 G MD, S. 136.

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das Seil umgebunden und ist auf denen Platz geklettert. Maxim Teljatnikow, Schuster. Ha, ein Schuster! […] Ich kenne dich, Früchtchen; ich kann dir deine ganze Geschichte erzählen, wenn du willst […]“439

Čičikov ist von der fragenden Möglichkeitsform zur Erzählung übergegangen: Er berichtet dem Schuster Maxim dessen Lebensgeschichte, von der Ausbildung bis zum Verkommen des Schusterladens und seiner Trunksucht. Als der Blick seiner Augen schließlich die Liste mit den Namen von Pljuškins entlaufenen Bauern erreicht, lässt seine Ansprache diese gar als sprechende Figuren in einer Szenerie auftreten, die ihr Leben gegenwärtig, wie in einem Theaterstück beschreibt: Попов, дворовый человек, должен быть грамотей: ножа, я чай, не взял в руки, а проворовался благородным образом. Но вот уж тебя беспашпортного поймал капитанисправник. Ты стоишь бодро на очной ставке. „Чей ты?“ — говорит капитан-исправник, ввернувши тебе при сей верной оказии кое-какое крепкое словцо. „Такого-то и такогото помещика“, — отвечаешь ты бойко. „Зачем ты здесь?“ — говорит капитан-исправник. „Отпущен на оброк“, — отвечаешь ты без запинки. „Где твой пашпорт?“ — „У хозяина, мещанина Пименова“. — „Позвать Пименова! Ты Пименов?“ — „Я Пименов“. — „Давал он тебе пашпорт свой?“ — „Нет, не давал он мне никакого папшорта“. — „Что ж ты врешь?“ — говорит капитан-исправник […].440 Popow, ein Gutsknecht, du konntest sicher lesen und schreiben: ein Messer hast du vermutlich nicht in die Hand genommen, bis beim Stehlen wohl geschickter vorgegangen. Jetzt aber hat dich Passlosen wohl der Bezirkshauptmann erwischt. Da stehst du nun munter bei der Gegenüberstellung. ‚Wem gehörst du?‘, fragt der Bezirkshauptmann und bedenkt dich bei dieser Gelegenheit mit einem deftigen Ausdruck. ‚Dem und dem Gutsherrn‘, antwortest du keck. ‚Und was hast du dann hier zu suchen?‘, fragt der Bezirkshauptmann. ‚Habe die Erlaubnis zu arbeiten’, antwortest du ohne rot zu werden. ‚Wo ist dein Pass?‘ ‚Bei meinem Hauswirt, dem Bürger Pimenow.‘ ‚Pimenow soll kommen! Bist du Pimenow?‘ ‚Ich bin Pimenow.‘ ‚Hat er dir seinen Pass gegeben?‘ ‚Nein, er hat mir keinen Pass gegeben.‘ ‚Weshalb lügst du?‘, sagt der Bezirkshauptmann […].441

Die Ansprache an die geschriebenen Namen eignet diesen selbst eine Präsenz zu, als wären sie nicht die schriftlichen Repräsentanten abwesender – toter oder verschwundener – Menschen: Sie sind zdes’ napičkano („hier zusammengepfercht“). Die Ansprache ergeht an das schwarze, und dabei differentielle Wimmeln auf dem weißen Blatt, die Antworten (die Čičikov freilich selbst spricht) kommen von der Schrift selbst, die seine Imagination auslöst, die darin aber auch zum Agenten wird. Die Gegenüberstellung in der Fantasie ist eine Gegenüberstellung von Čičikov und dem geschriebenen Namen Popov. Es erfolgt eine, wie schon Nabokov schrieb, Wiederbelebung der

439 Gogol: Tote Seelen, S. 168 f. 440 G MD, S. 137 f. 441 Gogol: Tote Seelen, S. 170.

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Seelen.442 In und durch Schrift wird dieser Akt vollzogen. Die Mündlichkeit des Sprechakts Čičikovs bestätigt in ihrer Ansprache an die geschriebenen Namen deren Wahrnehmung als ontologisch adressierbare Wesenheiten, deren besondere Präsenz ihre Sichtbarkeit sowie ihren besonderen „Charakter“ in sich vereint. Die Namen selbst werden, wie Andrej Sinjavskij schrieb, zum Instrument der Wiederbelebung des Menschen, seiner dinglichen Umgebung; die Namen selbst werden zum Träger der Seele.443 Diese Vorgänge erinnern an eine Magie des Namens, eine Mystik der reinen Präsenz und Evidenz in der Sprache, die mit ihrem bezeichneten Ding übereinstimmt: die Namen werden zu Menschen, die „tote“ Schrift wird zur Seele. Dabei tritt der Gedanke einer Ursprache der Namen, die von den Dingen nicht geschieden sind,444 mit der Sehnsucht nach einer Urschrift zusammen, die sich selbst als Offenbarung einer (göttlichen) Wesenheit zeigen würde.445 Der geschriebene Name ist präsent, das heißt er re-präsentiert nicht, ist auf paradoxe Weise Ding und Zeichen zugleich. Derart erhält der Name im Kontext romantischer Zeichenbegriffe eine besondere Relevanz (siehe hierzu eingehender Kap. 5.3). Er ist ähnlich der Hieroglyphe, dieser immer unlesbar bleibenden, aber zugleich mit einer Präsenz der Bedeutung im visuellen Zeichen belegten Utopie. Die Faszination des Namens zeigt sich an vielen weiteren Stellen im Roman Mertvye duši – etwa in der fasziniert-amüsierten Reflexion Čičikovs über die Prägnanz der Spitznamen im Russischen, in den Namen der Hunde bei Nozdrev, in der Anmerkung über die Obszönität des Buchstaben „f“ (ф) (dieser stellt, in einer Anmerkung des Erzählers extra noch einmal in seiner singulären Präsenz

442 Nabokov, Vladimir: Nikolai Gogol. New York 1944, S. 100 ff. 443 Terc, Abram (Andrei Sinyavsky): V teni Gogolja. London 1975, S. 475; Vajskopf, Michail: Sjužet Gogolja. Morfologija, ideologija, kontekst. Moskva 2002, S. 530 f. 444 Vgl. hierzu den Teil I der Arbeit; siehe auch die dicht zusammengestellte Referierung dieser Diskurse bei Hausdörfer, Sabine: „Die Sprache ist Delphi. Sprachursprungstheorie, Geschichtsphilosophie und Sprachutopie bei Novalis, Friedrich Schlegel und Friedrich Hölderlin“, in: Gessinger, Joachim/Rahden, Wolfert von (Hg.) Theorien vom Ursprung der Sprache. Bd. 1. Berlin/New York 1988, S. 468–497. Vgl. zu allgemeinen Wurzeln der Namensmystik Toporov, Vladimir: „Imena“, in: Tokarev, Sergej (Hg.): Mify narodov mira. Bd. 1. Moskva 1980, S. 508–510. Vgl. zur Namengläubigkeit und Namensmystik unter den Begriffen imjaslavie und imjadejstvie und deren Ursprüngen im Problem der sinnlichen Erfahrbarkeit oder Erkennbarkeit Gottes im byzantinischen und slavischen Hesychasmus, v. a. auch in der für die Orthodoxie und damit auch für spätere Differenzen und diskursive Abgrenzungen des Osten vom Westen bedeutsamen palamitischen Lehre den Aufsatz von Hagemeister, Michael: „Imjaslavie  – imjadejstvie. Namensmystik und Namensmagie in Rußland (1900–1930)“, in: Petzer, Tanja/Sasse, Sylvie et al. (Hg.): Namen. Benennung – Verehrung – Wirkung. Positionen der europäischen Moderne. Berlin 2009, S. 77–99. 445 Vgl. Hocke, Gustav René: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchemie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek 1959, S. 18; Brunnschweiler, Thomas: „Magie, Manie, Manier. Versuch über die Geschichte des Anagramms.“, in: Graeff, Max Christian (Hg.): Die Welt hinter den Wörtern. Alpnach 2004, S. 17–86, hier S. 20 ff.

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hervorgehoben, eine durchgestrichene Kreisform dar; siehe zur poetologischen Relevanz der Kreisform in diesem Zusammenhang Kap. 5.3). Auch in Gogol’s Erzählungen, nicht zuletzt in der schon von Boris Ėjchenbaum hervorgehobenen klanglichen Prominenz des Namens „Akakij Akakievič“ in Šinel’, haben Namen eine besondere Relevanz.446 Jedoch erzeugt diese Prominenz der Namen bei Gogol’ nicht eine tatsächliche Entleerung oder Entblößung der Materialität des sprachlichen Zeichens – ob nun in seiner mündlich-klanglichen Dimension oder in seiner schriftlichen Visualität und Tastbarkeit –, sondern vielmehr gerade die Spannung zwischen einer solchen ‚bloß‘ materiellen Präsenz und der Ahnung, dem Rauschen, vielleicht dem Wunsch nach der Präsenz eines Wesens in der namenhaften Benennung. Dabei ist diese Mystik eines selbstevidenten Zeichens im Namen gerade in der zitierten Stelle aus Mertvye duši in sich gebrochen: Einerseits wird eine Wiederbelebung der Seelen in der Schrift zu erzeugen versucht, die sich von einer „toten“ scheinbar zu einer natürlichen Schrift wandelt. Und doch stellt der Text andererseits explizit den Entstehungsprozess einer Fiktion dar, deren Willkürlichkeit als Auswahl imaginierter Möglichkeiten auch zu Beginn des Monologs Čičikovs herausgestellt wird (Master li ty byl, ili prosto mužik […]? / „Warst du ein Handwerker oder einfach nur ein Bauer […]?“; Vzmostilsja li ty dlja bol’šego pribytku pod cerkovnyj kupol, a možet byt’, i na krest poščatilsja […]“ / „Bist du vielleicht, um mehr zu verdienen, in die Kirchenkuppel hochgestiegen, oder gar aufs Kreuz geklettert […]?“). Diese Willkürlichkeit der Erzählung Čičikovs, derer sich dieser allerdings immer weniger bewusst ist, als er ganz in den szenischen Erzählmodus abgleitet, steht einer Absolutheit eines ursprünglichen Namenszeichens entgegen. Bedeutung ist in diesem durch eine natürliche Ordnung gegeben. Čičikovs Imaginations-, sein Redefluss, der die ‚Wiederbelebung‘ der Seelen ja enthält und ausführt, ist jedoch von einer solchen natürlichen Ordnung und Bedeutung, einer in sich präsenten Sprache unabhängig. Die Ausstellung seiner Autonomie ist zugleich eine Betonung der Differenz von Sprachzeichen und Bedeutung, die auch die Wiedererweckung der Seele im Namen zu einer „Scheinerweckung“ macht. Dies führt wieder zurück auf Čičikovs eigene Beteuerung, die „toten Seelen“ seien nur Staub, ein Dreck, ein Nichts. Die „Frische“ der Namen jedoch hat ihre eigene Magie: Die Reflexion über das Entstehen von Fiktionen aus und in der Schrift führt zu einer Reminiszenz an die Utopie einer Urschrift, die zugleich Teil einer Reflexion über die freie Willkür des Textes ist, der sich einer solchen absoluten Bedeutung entzieht. Eben jene Spannung birgt in sich der Begriff der Frische: Die Einzelheiten erfüllt eine Frische, die sie fast noch, eben nicht ganz lebendig erscheinen lässt; und doch sind sie mehr als Staub und Dreck, mehr als ein liegengelassener Rest, mehr als das Zeugnis des eigenen Verfalls. Die Frische ist gerade die Ankündigung eines neuen Entstehens. Dieses liegt in der

446 Ėjchenbaum: „Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“, S. 123.

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Spannung zwischen leerem, übrig gebliebenem, nur noch materiellem Ding, der vermeintlichen Referenzlosigkeit und Leere seiner zugleich erkennbar werdenden schriftlichen Zeichenhaftigkeit, und der Faszination dieser schriftlichen Differenziertheit. Gerade die Spannung aus Präsenz und Referenzverlust erzeugt den Anschein der Präsenz von Bedeutung im Zeichen als Ding. Dabei entsteht eine Fiktionslust, die sich an der Präsenz, die den Anschein von Wesenhaftigkeit erweckt, und ihrer gleichzeitigen Opazität entzündet. Die ausgestellte Kontingenz der entstehenden Fiktion – die Eigenschaft dessen, das sie entwirft, nicht absolut notwendig, sondern vielmehr möglich zu sein – entsteht dabei gerade aus der Frische heraus. Die Frische ist impulsgebend für eine nicht von vornherein in ihrem Inhalt determinierte, sondern sich erst im Moment ihres Entstehens für immer neue Möglichkeiten entscheidende Fiktion. Ihre Bedeutung ist nicht an eine absolute Ordnung gebunden bzw. vorgegeben. Vielmehr erfährt die Fiktion gerade daher ihre Berechtigung, dass sie Möglichkeiten entwirft, aus denen wieder weitere Möglichkeiten entstehen und so fort. Die Selbsttätigkeit dieses Vorgangs speist sich gerade aus dem Absehen von einer über diese Gegenwärtigkeit seines Prozesses hinausgehenden, schon vorgängigen und wiederum projektiven Bestimmung. Und doch enthält dieser Prozess in sich – und dabei zeigt sich wieder und in unmittelbarem Anschluss die Ambivalenz des in diesem Kapitel diskutierten Frische-Begriffs – die Utopie einer solchen großen Bestimmung. Es ist die Utopie der Figuration einer in den gleichzeitigen Einzelheiten sich bereits manifestierenden Ganzheit die sich in Zukunft erfüllen soll. Dies wird bei der sich unmittelbar an Čičikovs Imagination anschließenden Erzählerdigression deutlich, die eine Vision der Leben der entlaufenen Bauern als Treidler entwirft: И в самом деле, где теперь Фыров? Гуляет шумно и весело на хлебной пристани, порядившись с купцами. Цветы и ленты на шляпе, вся веселится бурлацкая ватага, прощаясь с любовницами и женами, высокими, стройными, в монистах и лентах; хороводы, песни, кипит вся площадь, а носильщики между тем при криках, бранях и понуканьях, нацепляя крючком по девяти пудов себе на спину, с шумом сыплют горох и пшеницу в глубокие суда, валят кули с овсом и крупой, и далече виднеют по всей площади кучи наваленных в пирамиду, как ядра, мешков, и громадно выглядывает весь хлебный арсенал, пока не перегрузится весь в глубокие суда-суряки и не понесется гусем вместе с весенними льдами бесконечный флот. Там-то вы наработаетесь, бурлаки! и дружно, как прежде гуляли и бесились, приметесь за труд и пот, таща лямку под одну бесконечную, как Русь, песню.447 Und tatsächlich, wo mochte Abakum Fyrow jetzt sein? [wörtlich: „Und tatsächlich, wo ist Fyrov jetzt?“, C. S.] Laut und fröhlich treibt er sich am Getreidehafen herum, nachdem er bei den Kaufleuten angeheuert hat. Mit Blumen und Bändern am Hut vergnügt sich die Treidlerschar, nimmt Abschied von ihren Liebchen und ihren Frauen, den Hochgewachsenen, Schlanken, mit ihren

447 G MD, S. 139.

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Glasperlenketten und Bändern; Reigentänze, Lieder, der ganze Landungsplatz brodelt, die Lastträger laden sich derweil unter Schreien, Fluchen und anfeuernden Rufen mit den Haken neun Pud schwere Lasten auf den Rücken und lassen dann Erbsen und Weizen unter Getöse in die Tiefe der Schiffe prasseln, wälzen Säcke mit Hafer und Graupen vor sich her, und weithin zu sehen sind de über den ganzen Platz verteilten Haufen der zu Pyramiden gestapelten Säcke, wie Kanonenkugeln, welch gewaltigen Anblick bietet dieses ganze Getreidearsenal, bis es dann in den Tiefen der Schiffe verstaut ist und sich die endlose Flotte in langer Reihe zusammen mit dem Frühjahrseis in Bewegung setzt. Dort wird es Arbeit in Hülle und Fülle geben, ihr Treidler! und einmütig, wie ihr zuvor gefeiert habt und ausgelassen wart, werdet ihr euch ans Werk machen und euren Schweiß vergießen, wenn ihr das Schleppseil zieht, und dazu ein Lied singen, endlos wie das russische Land.448

Die Treidlerschar, ihr vielfältiges Treiben am Hafen, die vielen aufgestapelten Waren fügen sich zusammen zu einem vielfältigen Bild der Bewegung. Es ist ein Bild des Handels als Zirkulation, das in eine Vision des Gesangs mündet – aus der Vielfalt fügt sich gerade im Bild des bewegten Handels und seiner Akteure eine Einheit, die unendlich ist (beskonečnaja) wie die Rus’ (das „russische Land“). Diese Äußerung des Erzählers führt zu den Bemerkungen ganz zu Beginn dieses Kapitels zurück, in denen dargelegt wurde, dass der Roman Mertvye duši eine ständige Anbindung des vielfältigen, vermischten Einzelnen und des Ganzen versucht, die einer Vision einer heiligen Bestimmung Russlands im Rahmen einer Translationslehre entsprechen würde. Es wurde in diesem Kapitel mehrmals betont, dass der Roman selbst eine solche Anbindung immer wieder durchkreuzt. An dieser Stelle entwirft der Text wieder einmal die Vision einer solchen figuralen Bestimmung. (Im nächsten Moment wird diese auf komische Weise durchkreuzt, als Čičikov mit einer Bemerkung über die fortgeschrittene Zeit einschreitet und seine zeitfressende Träumerei bedauert.) Diese figurale Vision erscheint als eine arabeske Ökonomie, eine rein positiv besetzte Selbstorganisation des Handels,449 die ornamentale Bilder wie an der Hafenszenerie mit den sich verabschiedenden Treidlern und ihren Waren erzeugt. Ein solches Bild ist zugleich selbst bewegt und Ausdruck einer Zirkulationsbewegung des Handels aus einem „merkantilischen Geist“, wie ihn Novalis lobt, der eine ebensolche figurale Vision der Handelsbewegung tatsächlich als „Dichten mit lebendigen Figuren“450 verfolgt. Noch einmal zeigt der Text den Kontrast zu einem Stillstand und einer Eingrenzung des Warenflusses wie bei Pljuškin. Der Warenfluss zeigt und ist

448 G Tote Seelen, S. 171 f. 449 Vgl. zur Poetisierung ökonomischer Zirkulationstheorien um 1800 den Aufsatz von Vogl, Joseph: „Ökonomie und Zirkulation um 1800“, in: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturwissenschaften 1 (1997), Jg. 43, S. 69–78. 450 N III, S. 469 (Das Allgemeine Brouillon, Nr. 1097): „Schöne, liberale Oeconomie. Bildung einer poëtischen Welt um sich her. Dichten mit lebendigen Figuren.“ Vgl. hierzu Vogl, Joseph: „Ökonomie und Zirkulation um 1800“, S. 73.

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Lebendigkeit und deutet zugleich in sich noch einmal die Vision für den Roman Mertvye duši an. Dieser soll nicht nur Čičikov zu seiner geläuterten Bestimmung im dritten Teil führen, sondern auch Russlands Bestimmung, die Bestimmung der Rus’, aufzeigen. Eben dies gelingt Gogol’ nicht. Er wird auf seine Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami (Ausgewählten Stellen aus einem Briefwechsel mit Freunden) ausweichen, um den Plan einer Weisung auf den Weg einer figuralen Bestimmung ohne die Abwege einer Fiktion weiterzuverfolgen, deren arabeske Verschlungenheit ihre eigene vorgedachte Figuralität immer wieder durchkreuzt.

5 W  ahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler 5.1 Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II Kalligraphische Übungen, so zeigen Gogol’s hinterlassene Handschriften, stellten eine scheinbar ständige Beschäftigung des Autors dar. Es finden sich Schreibübungen im Griechischen, Lateinischen und Italienischen sowohl in Form von Wörterlisten mit deren russischer Übersetzung als auch kurzen Sprüchen (Abb. 40 und 41), zudem Blätter mit scheinbar rein übungsgebundenen einzelnen Schriftzügen, die dann teilweise mit Zeichnungen und Kritzeleien überdeckt wurden (Abb. 42 und 43).

Abb. 40: N. V. Gogol’: Materialy zanjatij inostrannymi jazykami. Vypisannye grečeskie slova i oboroty s perevodom na russkij, latinskij i ital’janskij jazyki (Übungsmaterialien fremder Sprachen. Eingetragene griechische Worte und Wendungen mit Übersetzung in die russische, lateinische und die italienische Sprache). 1845–1849. OR RGB F. 74. K.4. Ed.chr. 60.

https://doi.org/10.1515/9783110705140-012

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Abb. 41: N. V. Gogol’: Materialy zanjatij inostrannymi jazykami (Übungsmaterialien fremder Sprachen). Dialogus cum bibliopola. 1845–1849. OR RGB 74. K. 4. Ed.chr. 64.

Abb. 42: N. V. Gogol’: Zapisnaja Kniga (Notizbuch) 1836–1842. OR RNB. F. 199. Op. 1. Ed. chr. 4, l. 75.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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Abb. 43: N. V. Gogol’: Zapisnaja Kniga (Notizbuch) 1836–1842. OR RNB. F. 199. Op. 1. Ed. chr. 4, l. 75.

Abb. 44: N. V. Gogol’: Obščija pravila o soderžanii domašnjago kota (Allgemeine Regeln zum Halten der ­Hauskatze). Zapisnaja Kniga (Notizbuch) 1826–1835. OR RGB 74. K.6. Ed. chr. 1. l. 21.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Abb. 45: N. V. Gogol’: Vypiski iz Biblii. – Psaltyr’ (psalmy 1–11). (Abschriften aus der Bibel. – Psalter (Psalmen 1–11). 1848–1851. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. chr. 44, l. 1–2.

Abb. 46: N. V. Gogol’: Razmyšlenija o božestvennoj liturgii. Zaključenie. (Betrachtungen über die göttliche ­Liturgie. Schluss). 1848–1841. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. Chr. 32.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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Ein Notizbuch, in dem einige Texte der Arabeski sowie verschiedene PorträtSkizzen nicht identifizierbarer Personen zu finden sind, enthält ebenso zwischengeschobene Schreibübungen, die sich als Abschriften von Texten zu profanen Themen darstellen, so etwa Obščija pravila o soderžanii domašnjago kota (Allgemeine Regeln zum Halten der Hauskatze) (Abb. 44). An der Menge und Varianz dieser verschiedenen kalligraphischen Hinterlassenschaften zeigt sich sowohl eine Lust am Abschreiben, die zunächst ohne besondere Beachtung des Inhalts auf die Erzeugung einer bestimmten Form der Schrift gerichtet ist (und besonders die Schreibübungen im Heft der Arabeski zeigen dabei die große Differenz zur üblichen Handschrift des Autors). Im Vergleich hierzu liegt der Wert der kalligraphischen Wiedergabe fremdsprachiger Wortlisten in deren Erinnerungsfunktion. Griechisch, Latein und Italienisch besitzen als Schriften der abendländischen Philosophie und Geistesgeschichte einen Wert an sich, der mit dem Zweck der Memorierung einzelner Worte zugleich bei der kalligraphischen Abschrift verinnerlicht wird. Zeugnisse wie die oben abgebildeten Schrift-Bild-Palimpseste aus dem Notizbuch 1836–1842 verweisen vor allem auf die malerische Komponente der Kalligraphie, die nicht nur vor allem durch die Referenzfunktion des schriftlichen Zeichens,451 sondern auch explizit durch aisthetische Qualitäten der materiellen Form bestimmt ist. In den beiden Abbildungen aus dem Notizbuch 1836–1842 treffen sich Zeichnungen und Schriftzüge, die nur noch teilweise als Schriftzeichen lesbar bleiben. Doch auch die Zeichnungen lösen sich teilweise in formloses Linienspiel auf.452 Die Linie, Mittel und Formelement der Kursivschrift, tritt als Zeichnung und Handschrift verbindender Graphismus hervor.453 Die kalligraphische Manifestation schriftlicher Zeichen und die bildnerische Zeichnung lösen sich durch ihre Kombination und ihr Zusammenspiel auf zu einer Darstellung ihrer Genese, der Entstehung ihrer jeweils eigenen Zeichenhaftigkeit sowie materiellen Ästhetik. Das Ganze hat einen ungemein dynamischen, dabei spielerischen und karikaturesken, ja humoristischen Anschein, den andere kalligraphische Zeugnisse vermissen lassen. Am stärksten tritt deren Divergenz zu einem anderen Corpus dieser Übungen hervor, den kalligraphischen Ab- und Niederschriften mit religiöser Valenz. Zu diesen zählen etwa Gogol’s Abschriften von Psalmen sowie verschiedene mit kalligraphischen Überschriften versehene handschriftliche Fassungen seiner Razmyšlenija

451 Vgl. Coulmas, Florian: Über Schrift. Frankfurt a. M. 1981, S. 141 f. 452 Vgl. zu den „Zwischenlinien“, die „jenen graphischen Raum [erschaffen und bevölkern], in dem es noch keine Formen oder schließlich keine Formen mehr gibt“: Driesen, Christian: Theorie der Kritzelei. Wien 2016, S. 278. 453 Siehe hierzu André Leroi-Gourhans Verständnis des Graphismus als ursprünglich vielmehr der bildenden Kunst als der gesprochenen Sprache verwandte Erscheinung, die erst seit ihrer Linearisierung als Teil des Sprachapparats zu begreifen sei. Leroi-Gourhan, André: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Mit 53 Zeichnungen des Autors. Übers. v. Michael Bischoff. Frankfurt a. M. 2000, S. 237–272.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

o božestvennoj liturgii (Betrachtungen über die göttliche Liturgie). Vor allem die Abschriften der Psalmen zeichnen sich durch große Genauigkeit in der gleichförmigen Ausführung von Bögen und Schwüngen der Buchstaben und ihres Abstands aus (Abb. 45). Diese religiös konnotierten kalligraphischen Schriften weisen auf das Heilige des biblischen Textes hin, dem sich der Abschreiber hingibt und dessen Medium er wird. Die ‚Schönschrift‘ ist damit sowohl ein Zeugnis dieser Hingabe des Schreibers an den Text als auch des Gedankens der erzielten vollkommenen Form, die der Heiligkeit des Textes gerecht wird. Vor allem die Genauigkeit der Psalmenabschriften scheint auf eine besondere Ernsthaftigkeit dieser Tätigkeit hinzudeuten. Diese ist in der heiligen Wahrheit begründet, die dem biblischen Text zugesprochen wird. Wie einführend zu diesem Teil III der vorliegenden Studie bereits erläutert wurde, berührt die Frage der Wahrheit der Schrift eine Problematik, die das Werk Gogol’s durchzieht und in seinem schlussendlichen Verstummen gipfelt. Die Frage, ob das geschriebene Wort eine (göttliche) Wahrheit zu äußern vermöge, findet laut Forschungsmeinung bei Gogol’ eine stets negative Antwort.454 Diese Negativität in Gogol’s Schaffen, als Umgangsweise mit der Problematik der Unsagbarkeit, wurde sowohl mit einer barocken Vanitas-Symbolik455 als auch mit der mystischen Theologie der Apophatik456 als auch mit dem Vorausdenken eines (post-)modernen Nihilismus in Verbindung gebracht.457 Von der ständigen Auseinandersetzung Gogol’s mit der Frage einer (vor allem schriftlich) transportierbaren Wahrheit zeugt auch das folgende Lösch- und Schmierblatt, das einer handschriftlichen Fassung des letzten Kapitels der Mertvye duši II beigelegt war.

454 Siehe hierzu auch Anm. 22 in der Einführung zu diesem Teil III der Arbeit. Vgl. Belyj: Masterstvo Gogolja, S. 124, S. 191, S. 256; vgl. Lotman: „Das Problem des künstlerischen Raumes in Gogol’s Prosa“, S.  246; Chizhevsky: „About Gogol’s ‚Overcoat‘“; Tschiževskij: „Gogol  – Skovoroda“; Ders.: „GogolStudien“; vgl. zudem an neueren P-ublikationen zur Thematik v. a. Spieker (Hg.): Gøgøl. Exploring Absence. Vgl. allgemein zur Thematik von Wahrheit und Schrift: Schmitz-Emans, Monika: Schrift und Abwesenheit. Historische Paradigmen zu einer Ästhetik der Entzifferung und des Schreibens. München 1995, S. 33 f. 455 Hansen-Löve: „‚Gøgøl’‘. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“, S. 189. 456 Lossky, Vladimir: Die mystische Theologie der morgenländischen Kirche. Graz u. a. 1961, S. 37 f. 457 Vgl. Hansen-Löve: „‚Gøgøl’‘. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“, S. 188 f.; Derrida, Jacques: Wie nicht sprechen. Verneinungen. Hg. v. Peter Engelmann. Aus dem Frz. v. Hans-Dieter Gondek. Wien 1989, S. 19.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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Abb. 47: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite).

Abb. 48: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite); Ausschnitt 1, vergrößert.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Abb. 49: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite); Ausschnitt 2, vergrößert.

Abb. 50: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Rückseite, l. 22a); Ausschnitt, vergrößert.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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Abb. 51: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Rückseite, l. 22a).

Als Lösch- und Schmierblatt erscheint dieses einzelne Blatt wegen seines vom Rest des Schreibhefts verschiedenen länglichen Formats, in das es, teilweise abgeknickt, hineingelegt wurde. Zudem sind darauf mehrere Tintenflecke verteilt, die neben einigen, teilweise nicht voll ausgeschriebenen Worten zu sehen sind. Diese Schriftzüge werden im Verzeichnis der Handschriftenabteilung in der Moskauer Staatsbibliothek als „Federprobe“ angegeben (OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38). Ein Versuch, die neben und an den Flecken ausgeführten Schriftzüge zu entziffern, kommt zu folgendem Ergebnis (Varianten in Klammern):458 OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite); Ausschnitt 1: не правда ваша правое и прод (проз) возвратился приславля троичное пение траснов

458 Für die Hilfe bei der Transkription danke ich Ekaterina E. Dmitrieva.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

правда и характ Правда Правда ist nicht eure wahrheit das wahre und prod459 (proz) kehrte zurück prislavlja460 dreifaltiger gesang trasnov461 wahrheit und charakt Wahrheit Wahrheit

OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite); Ausschnitt 2: правды (правди) простые (простие) wahrheiten einfache

OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Rückseite, l. 22a); Ausschnitt: просил возвратиться и (и в) ляври… (лeври…) (веври…) прошу вас им (и) принести bat zurückzukehren und (und in) ljavri… (levri…) (vevri…)462 ich bitte euch ihnen zu bringen

459 Unübersetzbar, Wort nicht existent. 460 Unübersetzbar, Wort nicht existent. 461 Unübersetzbar, Wort nicht existent. 462 Unübersetzbar, Wort nicht existent.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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Die Schriftzüge können als Federproben identifiziert werden: Wir sehen eine scheinbar spielerische Schreibung der Worte vor uns, die teilweise nicht ganz entzifferbar sind und vielleicht nur versuchsweise angedeutet wurden. Es sind Flecken neben diesen Schriftzügen über das Blatt gestreut, die bei den ersten Schreibversuchen entstanden sein mögen. Inhaltlich lässt sich durch wiederkehrende Worte und Wendungen aus den Schriftzügen die Thematik der Wahrheit und des Gebets bzw. religiöser Äußerungspraktiken herauslesen. Diese Tatsache ist zunächst deswegen interessant, weil eine Federprobe im Grunde als Schreibpraxis weniger auf die ‚Botschaft‘ denn funktional auf den technischen Akt des Schreibens hin orientiert ist. Stephan Kammer bezeichnet diese funktionale Orientierung der Federprobe mit Bezug auf Roman Jakobsons Kommunikationsmodell als „phatisch“.463 Die phatische Funktion meint in diesem Kommunikationsmodell die Orientierung auf den Kanal, der die Botschaft übermittelt. Die phatische Orientiertheit der Federprobe bewirkt im schriftlichen Äußerungsakt die Problematisierung der technischen Mittel des Schreibakts selbst als Test, der die Eignung dieser technischen Mittel für die Übermittlung einer Botschaft überprüft. In dieser Hinsicht ist die Federprobe der Auftakt, die Vorform des noch kommenden Schreibakts, bei dem die technischen Mittel ebendiese mediale oder Kanalfunktion erfüllen sollen. Auf dem Prüfstand und in Frage steht bei der Federprobe also das Potential des Mediums, transparent und handhabbar zu sein, ohne die Übermittlung der sprachlichen Repräsentation im Äußerungs- d. h. Schreibakt zu stören, ohne also selbst hervorzutreten. Insofern kann die Federprobe als ein auf die Materialität des schriftlichen Mediums reflektierender Schreibakt begriffen werden, bei dem die Instabilität des Ensembles der Schreibszene problematisiert wird.464 Daher tauchen oft einzelne Worte und Buchstaben im Sinne dieser Problematisierung der technischen Funktionalität von Schreibwerkzeug und -material in Federproben auf. Traditionell werden zudem auch Sprüche, die ebendiesen Akt thematisieren, oder auch biblische Psalmen sowie Textstellen aus dem Werk der Kirchenväter und antiker Autoren, die aus dem Gedächtnis (dabei aber oft verzerrt oder lückenhaft) niedergeschrieben werden, zum schriftlichen Gegenstand der Federprobe. Diese zeigt dabei ihren historischen Bezug zum mittelalterlichen Schreibunterricht.465 Obwohl also thematisch oft an religiöse Schriften und auch Schreibpraktiken (das Abschreiben biblischer Texte im Mittelalter) angeknüpft wird, ist zugleich die häufig festzustellende Korrumpierung dieser Texte im Akt der Federprobe ein Zeugnis für den Verlust des

463 Kammer, Stephan: „Hölderlins Materialproben“. Unveröff. Manuskript zum Vortrag am 02.11.2015 in der Ringvorlesung „‚Ein Zeichen sind wir, deutungslos…‘. Neue Wege zu Hölderlin“ im Programm des Studium Generale an der Universität Tübingen. 464 Ebd; Campe, Rüdiger: „Die Schreibszene, Schreiben“. In: Zanetti, Sandro (Hg.): Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte. 2. Auf. Frankfurt a. M. 2015, S. 269–282, hier S. 270 f. 465 Milde, Wolfgang: „Federprobe“, in: Lexikon des gesamten Buchwesens. Hg. v. Severin Corsten, Günther Pflug u. Friedrich Adolf Schmidt-Künsemüller unter Mitw. v. Bernhard Bischoff. Bd. 2. Zweite, völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 1989, S. 561.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Gebots einer originalgetreuen Wiedergabe des heiligen oder religiös geehrten Textes. Die Orientierung auf die Technizität des Schreibens tritt dabei hervor; zugleich verdeutlichen etwa traditionelle, in den Federproben oft auftretende Sprüche über das Gelingen des Schreibakts das selbstreflexive Potential dieser Praktik. Die Anbindung der Gogol’schen Federprobe an die Thematik der Wahrheit und religiöse Praktiken der Ansprache an diese (göttliche) Wahrheit überrascht vor diesem Hintergrund dann vielleicht nicht allzu sehr. Vielleicht sind die oben transkribierten Wortreihen Spuren von Psalmen, die nicht ausgeschrieben, derer nur einzelne Worte und Wortverbindungen probeweise angedeutet wurden. Doch dabei wird vor allem durch mehrmalige Wiederholung des Wortes „Wahrheit“, das durch die zweimalige Groß- und auch ‚Größerschreibung‘ noch mehr hervortritt, die Selbstreflexion der Federprobe in Hinsicht auf ihre materielle und körperliche Bedingtheit noch betont. Unfehlbares Zeugnis dieser Bedingtheit sind die Kleckse. Ein Klecks kann als Verhinderung der Übermittlung einer Wahrheit in der schriftlichen Repräsentation angesehen werden; diese scheitert an der Materialität und sperrigen Instrumentalität, an deren Zusammenspiel in der Schreibgeste. Die Kleckse auf dem Gogol’schen Schmierblatt sind eine schlichte materielle Spur, Zeugnis der Geste, vielleicht Zeugnis eines misslungenen Schreibversuchs, und dabei Index auf Körper und Material des Schreibakts. Sie sind Zeugnisse der immer nur bedingten Kontrollierbarkeit des Schreibakts gerade in dieser seiner momentanen, materiellen Dimension. Die Kleckse bezeugen die ständige Bedingtheit und die Gefahr des Scheiterns einer schriftlichen Bezeichnung einer religiösen Wahrheit und im Gebet angestrebten Transzendenz. Die materielle – d. h. von zum Teil widerspenstigen, zu kontrollieren versuchten Faktoren bedingte – Kontingenz des Schreibakts, von der die Federprobe überhaupt ausgeht,466 hat insofern ihre eigene, ganz banale, gewissermaßen ‚platte‘ Wahrheit. Eine Schrift, die jene religiöse bzw. göttliche Wahrheit ausdrücken könnte, wäre als eine Offenbarung zu denken, die jenseits eines etwaigen Einflusses solcher in dieser Perspektive banaler und nichtiger Faktoren erfolgte. Die Äußerung einer solchen Offenbarungsschrift wäre damit vollkommen von göttlicher Vorsehung bestimmt und ganz ohne unbeabsichtigte Faktoren und in einer idealen Form materialisiert. Die vorliegende Federprobe stellt die sprachliche Huldigung dieser religiösen Wahrheit in einen auf deren materielle Bedingtheit im Schreibakt reflektierenden Kontext. Ohne dass der Federprobe damit hier eine besondere Intentionalität unterstellt werden soll, erweist sie aber vor dem Hintergrund der zuvor referierten Forschungsmeinungen zur Gogol’schen Apophatik seine ständige Beschäftigung mit dem Bezeichnungsversuch einer göttlichen Wahrheit, die er immer wieder gerade über das Medium der Schrift problematisierte und infrage stellte. Dass dieses ‚Schmierblatt‘ dem Schreibheft beilag, in dem eine handschriftliche Fassung des Schlusskapitels des zweiten Teils der Mertvye duši enthalten ist, kann

466 Kammer: „Hölderlins Materialproben“.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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wiederum als ein Zufall betrachtet werden, eine nicht unbedingt intentionale Assoziierung verschiedener Schriftstücke – und die Deutung dieser Tatsache mag wiederum als eine ‚Überinterpretation‘ erscheinen, die bei der Deutung einer Federprobe überhaupt von Anfang an dräut.467 Das Blatt ist unabhängig nicht nur als einzelnes, sondern eben auch durch seinen ‚Übungscharakter‘ von dem Kapitel des Romans geschieden, das im Schreibheft (lückenhaft) ausformuliert wurde. Ob es während des Schreibprozesses des Kapitels entstanden ist oder überhaupt unabhängig und später in das Heft gelegt wurde, kann ebenso wenig bestimmt werden wie der Entstehungsprozess des Blattes selbst. Dennoch hervorzuheben ist die Tatsache, dass tatsächlich die Frage der Wahrheit in Verbindung mit einer dezidierten Schriftreflexion in diesem letzten Kapitel des zweiten Teils der Mertvye duši zentral ist. Unabhängig von der Frage, ob die Federprobe beim Arbeitsprozess an diesem Kapitel entstanden ist, kann damit deren schriftreflexive Dimension in Verbindung mit dem wiederholten Wort „Wahrheit“ als Anregung für eine Auseinandersetzung mit diesem handschriftlichen Schlusskapitel dienen. Diese heute einzig erhaltene fragmentarische Arbeitsfassung des Schlusskapitels der Mertvye duši II blieb von dem Autodafé verschont, mit dem Gogol’ den zweiten Teil seines Romans, der Aussagen seiner Freunde zufolge schon vollendet war, zum zweiten Mal vernichtete.468 Übrig blieben Vorfassungen wie dieses Schreibheft, in dem das lückenhafte Manuskript des Schlusskapitels enthalten ist. Dieses zeigt Čičikovs erneute Versuche, mit den „toten Seelen“, diesen nur auf dem Papier existenten Leibeigenen, durch Spekulation zu Geld und Besitz zu kommen.469 Es stellt den Auftakt für den geplanten dritten Teil dar, der die Läuterung des Helden zum Thema haben sollte.470 Čičikovs kriminelle Taten werden entdeckt, ihm selbst seine Habseligkeiten und vor allem die Schatulle abgenommen, in der er alle Listen der „toten Seelen“ und weitere Dokumente aufbewahrt, die ihm einmal zu finanziellem Nutzen verhelfen könnten. Man setzt ihn zunächst im örtlichen Gefängnis fest. Čičikov gibt vor Murazov (ein Anagramm von „Razumov“ [russ. razum: dt. „Verstand“])471 seine Schuld zu, als dieser ihn im Gefängnis besucht und mit dieser Schuld konfrontiert sowie Hilfe beim Versuch anbietet, Čičikovs Freilassung zu erwirken, sofern dieser Besserung gelobe: „Забудьте этот шумный мир и все его обольстительные прихоти. […] Вы видите: всё в нем враг, искуситель или предатель.“

467 Vgl. ebd. 468 Komarovič, V. L., et al.: „Kommentarii: Mertvye duši II“, in: G MD II, S.  391–432, hier S.  400, S. 407. 469 Siehe zur Idee für dieses Sujet, das Gogol’ angeblich von Puškin angeboten wurde: Ždanov, V. A./ Zajdenšnur, Ė. E.: „Kommentarii: Mertvye duši“, in: G MD, S. 879–908, hier S. 900. 470 Vgl. hier die Reflexionen über die Anlage der Mertvye duši mit Bezug auf Dantes Divina Commedia etwa Šambinago: Trilogija romantizma; Mann: Poėtika Gogolja, S. 348 471 Diese Beobachtung macht Keil, Rolf Dietrich: Puškin- und Gogol’-Studien. Köln u. a. 2011, S. 350.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

„Непременно, непременно. Я уже хотел, уже немеревался повести жизнь, как следует […]. Демон-искупатель сбил, совлек с пути, сатана, чорт, исчадье.“ Какие-то неведомые дотоле, незнакомые чувства, ему необъяснымые, пришли к нему. Как будто хотело в нем что-то пробудиться, что-то далеко, что-то заранее подавленное из детства суровым, мертвым поученьем, […] бессемейным одиночеством, нищетой и бедностью первоначальных впечатлений, и как будто то, что суровым взглядом судьбы, бзглянувший на него скучно, сквозь какое-то мутное, зенесенное зимней вьюгой [окно, хотело вырваться на волю]. Стенанье изнеслось из уст его, и, наложив обе ладони на лицо свое, скорбным голосом поризнес он: „Правда, правда“.472 „Vergessen Sie diese lärmende Welt und ihre verführerischen Launen. […] Sehen Sie selbst: sie ist voller Feinde, Verführer oder Verräter.“ „Unbedingt, unbedingt. Ich wollte ja schon, hatte ja schon vor, ein Leben zu führen, wie es sich gehört […]. Der dämonische Verführer hat mich davon abgehalten, er hat mich vom Weg abgebracht, der Satan, der Teufel, die Höllenbrut.“ Bisher ungeahnte, nie gekannte, ihm unerklärliche Gefühle überkamen ihn. Als wolle etwas in ihm erwachen, das früher, in der Kindheit, durch die strengen, gefühllosen Unterweisungen […], durch die Einsamkeit eines Lebens fern der Familie, die Armut und Dürftigkeit der ersten Eindrücke unterdrückt worden war, und als wolle das, was durch den strengen Blick des Schicksals unterdrückt worden war und ihn finster durch ein vom Schneesturm zugewehtes Fenster angeschaut hatte, nun in die Freiheit drängen. Ein Stöhnen entrang sich seinen Lippen, er schlug beide Hände vors Gesicht und sagte mit schmerzerfüllter Stimme: „Es ist wahr, es ist wahr.“473

Dieses Geständnis ist zugleich Čičikovs Erkenntnis seiner fehlenden Motivation zum Guten. Auch bei Murazovs Ermutigung, er müsse nur die Grundlage seines Tuns ändern, um zum guten Menschen zu werden, spürt er seine Schuld zu schwer: „Нет, поздно, поздно“, застонал он голосом, от которого у Муразова чуть не разорвалось сердце. „Начинаю чувствовать, слышу, что не так, не так иду […], но уже не могу. […] Нет такой охоты подвизаться для добра, какова есть для полученья имущества. Говорю правду – что ж делать.“474 „Nein, es ist zu spät, es ist zu spät“, stöhnte er mit einer Stimme, die Murasov fast das Herz zerriss. „Ich fühle es, ich spüre es, dass ich in eine falsche Richtung gehe […], aber es geht nicht mehr. […] Es drängt mich nicht, gute Taten zu vollbringen, wie es mich drängt, Besitz zu erwerben. Ich sage die Wahrheit – so ist es eben.“475

Čičikov und Murazov führen ein Beichtgespräch. Čičikovs Ahnung über das hinter dem zugewehten Fenster ihn anblickende Auge scheint sowohl die Ahnung eines tief in ihm verborgenen Wissens um das Gute wie auch eine stumme Anklage, die gleich

472 G MD II, S. 113. 473 Gogol: Tote Seelen II, hier S. 437. 474 G MD II, S. 113 f. 475 Gogol: Tote Seelen II, S. 438.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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dem eigentlichen Kern seines menschlichen Wesens im Inneren eines Hauses eingeschlossen ist. Murazov, obwohl nicht ganz in der autoritären Weise eines Priesters, aber doch mit dem Anspruch auf ein weises Urteil und in der Position, dem Schuldigen zu seinem Wohl zu verhelfen, erlegt Čičikov eine Lebensweise auf, in der er sich zum Guten wenden solle, auch ohne dass er die natürliche Neigung dazu hätte. Diese würde sich durch Übung von allein einstellen. Čičikov willigt in diese Maßnahmen ein. Allein zurückgeblieben, mit dem ‚Segen‘ Murazovs (Bog vas da podkrepit v ėtom namerenii476 [„Gott möge Sie in dieser Absicht stärken“477]), formuliert er noch einmal in einer gebetsartigen Rede seine Vorsätze: „Сам не умею и не чувстбую, но все силы употреблю, чтобы другим дать почувствовать; […] сам дурной и ничего не умею, но все силы употреблю, чтобы других настроить […]“ Так думал Чичиков и полупробужденными силами души, казалось, что-то осязал. Казалось, природа его темным чутьем стала слышать, что есть какой-то долг, который нужно исполнять человеку на земле […]. И трудолюбивая жизнь, удаленная от шума городов и тех обоьщений, которые от праздности выдумал, позабывши труд, человек, так сильно стала перед ним рисоваться […].478 „Selber kann ich es nicht und fühle es nicht, doch ich will alle Kräfte aufbieten, damit es andere fühlen können; […] selber bin ich ein schlechter Christ, aber ich will alle Kräfte aufbieten, um niemanden in Versuchung zu bringen. […]“ So dachte Tschitschikow und es hatte den Anschein, als hätte er mit den halb zum Leben erweckten Seelenkräften etwas verspürt. Es hatte den Anschein, als würde sein Wesen mit einem dunklen Gefühl ahnen, dass es eine Pflicht gibt, die der Mensch auf Erden zu erfüllen hat […]. Ein arbeitsames Leben, fern vom Lärm der Städte und jener Verlockungen, die sich der Mensch aus Müßiggang ausgedacht und darüber die Arbeit vergessen hat, trat ihm so lebhaft vor Augen […].479

Die Ironie dieses Schlusskapitels, ganz im Sinne des ersten Teils der Mertvye duši, besteht in der unmittelbar folgenden Durchkreuzung dieser guten Absichten. Die von Čičikov gesprochenen Worte sind derart nicht als Figuration ihrer Erfüllung schon im Moment der hier tatsächlich ehrlichen Aussprache zu sehen. Vielmehr werden sie als selbst noch in diesem ehrlichen Moment zur Unehrlichkeit verdammte Worte entlarvt, die durch das folgende Handeln des ‚Sünders‘ Čičikov Lügen gestraft werden. Es scheint, als ob der ‚Blick aus dem Inneren des Hauses‘ doch weiterhin derart vom Schnee verweht wird, dass er immer wieder verschwinden muss. Auf das Angebot des Beamten Samosvistov, Čičikov gegen eine Geldsumme zu helfen, dass durch eine Verwirrung der Dokumente seine Anklage fallengelassen werde, willigt er sofort ein. Bald erhält er seine Schatulle unberührt zurück:

476 G MD II, S. 114. 477 Gogol: Tote Seelen, S. 439. 478 G MD II, S. 115. 479 Gogol: Tote Seelen II, S. 439.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Чичиков, оставшись, всё еще не доверял словам, как не прошло часа после этого разговора, как была принесена шкатулка, бумаги, деньги – всё в наилучшем порядке. […] Так что Чичиков, вместе с бумагами, получил даже и всё теплое, что нужно было для покрытия бренного его тела. Это скорое доставление обрадовало его несказанно. Он возъимел сильную надежду, и уже начали ему вновь грезиться кое-какие приманки: вечером театр, плясунья, за которою он волочился. Деревня и тишина стали казаться бледней, город и шум – опять ярче, ясней. О, жизнь!480 Tschitschikow konnte diesen Worten noch immer nicht glauben, als er allein zurückgeblieben war, doch es war noch keine Stunde nach diesem Gespräch vergangen, dass die Schatulle, die Papiere und das Geld hereingebracht wurden – alles in allerbester Verfassung. […] Sodass Tschitschikow zusammen mit seinen Papieren sogar lauter warme Sachen bekam, die er brauchte, um seinen vergänglichen Leib zu bedecken. Dass dies so schnell erledigt worden war, freute ihn unsagbar. Er schöpfte große Hoffnung und begann schon wieder von allerlei Verlockungen zu träumen: abends ins Theater, die Tänzerin, der er den Hof gemacht hatte. Das Landleben und die Stille begannen zu verblassen, die Stadt und das Getriebe wurden heller und klarer. Oh, Leben! 481

Es wiederholt sich: Die Schatulle ist die Metonymie von Čičikovs Begehren, sowohl pars pro toto seiner prospektiven Machenschaften als auch Auslöserin seiner Fantasien. Die Schatulle ist somit das Symbol der Fiktionen, um die der ganze Roman der Mertvye duši kreist. Von diesen ausgehend nimmt er überhaupt seinen Anfang und erzählt deren Widerstreit mit der Wende Čičikovs zum Guten als Vorhaben der Romanerzählung. Dies ist auch der Widerstreit einer sich derart figurativ zu erfüllen habenden Handlung als Erlösungsgeschichte mit den Erzähldigressionen und scheinbar uferlosen Details und Möglichkeiten des Erzählens, das sich dieser Möglichkeiten in jedem Moment bewusst ist und einen solchen prospektiven Plan scheinbar ständig aufgibt (siehe hierzu die Einführung zu Kapitel 4). Čičikovs Fiktionen sind Ausgeburten seines Begehrens, auf das die in der Schatulle verschlossenen Listen gerichtet sind; ein Begehren des „Lebens“ – irdische Genüsse in allen Formen, gesellschaftlicher Erfolg und Anerkennung. Die Listen sind dabei Zeugnis und selbst Manifestation der Lüge. Als vermeintlich totes Papier, das ebenso tote, papierne Namen führt, sind sie dabei gerade selbst Auslöser für das ‚Leben der Fiktion‘. Wieder werden derart ein Leben der Lüge und des Bösen und ein Leben der Wahrheit und des Guten kontrastiert. Die Fiktion der Mertvye duši soll, und das scheint ihre Herausforderung von Beginn an, einerseits die Wende von der Lüge zur Wahrheit und damit die bereits in der Lüge zu Beginn letztlich ausgedrückte Wahrheit erzählen. Doch sie steht dabei im Bunde mit der Lüge, ist zugleich ihre Motivation und ihre Folge. Auch im Anschluss an die Rückgabe der Schatulle kommt es zu einer weitschweifigen Digression, die die Verwirrung der Arbeit von Justiziariat und Gericht durch die bewusste Verzerrung der schriftlichen Dokumente erzählt:

480 G MD II, S. 117. 481 Gogol: Tote Seelen II, S. 441.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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А между тем завязалось дело размера беспредельного в судах и палатах. Работали перья писцов, и, понюхивая табак, трудились казусные головы, любуясь, как художники, крючкотой строкой. Юрисконсульт, как скрытый маг, незримо ворочал всем механизмом; всех опутал решительно, прежде чем кто успел осмотреться. Путаница увеличилась. […] Произошла такая бестолковщина: донос сел верхом на доносе, и пошли открываться такие дела, которых и солнце не видало, и даже такие, которых и не было. […] Скандалы, соблазны и все так замешалось и сплелось вместе с историей Чичикова, с мертвыми душами, что никоим образом нельзя было понять, которое из этих дел было главнейшая чепуха: оба казались равного достоинства. […] В другой части губернии расшевелились раскольники. Кто-то пропустил между ними, что народился антихрист, который и мертвым не дает покоя, скупая какие мертвые души. Каялись и грешили и, под видом изловить антихриста, укокошили неантихристов.482 Unterdessen nahm sein Fall in den Gerichten und Ämtern ein beispielloses Ausmaß an. Die Federn der Schreiber arbeiteten, die Federfuchser werkelten tabakschnupfend und ergötzten sich wie die Maler an ihren verschnörkelten Zeilen. Wie ein Magier lenkte der Rechtsbeistand aus dem Hintergrund den ganzen Mechanismus. Noch ehe man sich’s versah, hatte er alle vollständig durcheinandergebracht. Das Durcheinander wurde immer größer. […] Ein unglaublicher Wirrwarr entstand: eine Anzeige krönte die nächste und es kamen Dinge zum Vorschein, wie sie die Sonne noch nie gesehen hatte, ja sogar solche, die es überhaupt nicht gab. […] Skandale, Verführungen und dergleichen wurde so mit Tschitschikows Geschichte und mit den toten Seelen verknüpft und vermengt, dass man um keinen Preis mehr begreifen konnte, welche dieser Geschichten am unsinnigsten war: sie schienen sich um nichts nachzustehen. […] In einem anderen Teil des Gouvernements hatten sich die Altgläubigen geregt. Jemand hatte unter ihnen verbreitet, der Antichrist sei geboren worden, der auch den Toten keine Ruhe lasse und irgendwelche toten Seelen aufkaufe. Sie taten Buße, sündigten wieder und dann machten sie unter dem Vorwand, den Antichrist fangen zu wollen, Nicht-Antichristen den Garaus.483

Es ist das „Wirrwarr“ der Schrift, das in „verschnörkelten Zeilen“ die Wahrheit verhüllt und zugleich eine überquellende Fülle von zu Erzählendem erzeugt. Die Beamtenschrift erzeugt mit ihren kalligraphischen Zügen scheinbar eine Ordnung, in deren Dienste sie steht. Doch ihre Schnörkel sind nichts als leeres Ornament und stehen im Dienste der Unordnung – im Dienste jenes „Teufels“, dessen Verführungen sich Čičikov ausgeliefert sieht. Die Erwartung des Anti-Christen selbst ist an dieser Stelle scheinbar wahnhafte Ausgeburt und düsterer Hinweis auf die teuflische Natur der Vielfalt der Ereignisse, die Čičikovs Listen „toter Seelen“ als Schrift der Fiktion auszulösen imstande sind. Damit erfolgt am Ende des zweiten Teils der Mertvye duši, des letzten Kapitels also, das von diesem Roman geschrieben wurde, eine Reflexion über das Zerteilende, Wahrheitsstörende der Schrift. In der Erzählung der Mertvye duši steht sie im Bunde mit der Unwahrheit der Fiktion und nimmt, wie schon zuvor betont, von dieser gerade als einem unmoralischen Vorhaben ihren Ausgang, obwohl sie letztendlich dem Schicksal

482 G MD II, S. 117 f. 483 Gogol: Tote Seelen II, S. 442 f.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Čičikovs zum Guten zustreben sollte. Dies blieb jedoch ein uneingelöstes Versprechen. Abschließend sollen die Worte des Fürsten vor einer Versammlung der korrupten Beamten mahnend diese Erfüllung vorausnehmen, doch es geschieht das Unvermeidliche: Я обращаюсь к тем из вас, кто имеет понятье какое-нибудь о том, что такое благородство мыслей. Я приглашаю вспомнить долг, который на всяком месте предстоит человеку. Я приглашаю рассмотреть ближе свой долг и обязанность земной своей должности, потому что это уже нам всем темно представляется, и мы едва 484 Ich wende mich an jene unter Ihnen, die eine Vorstellung davon haben, was edle Gesinnung bedeutet. Ich fordere Sie auf, sich der Pflicht zu erinnern, die den Menschen auf Schritt und Tritt erwartet. Ich fordere Sie auf, genauer zu betrachten, was Ihre Pflicht und Schuldigkeit auf Erden ist, denn wir alle haben davon nur noch eine dunkle Vorstellung, und wir können kaum [ ]485

Die Herausgeber der Akademija-Ausgabe weisen durch eine Anmerkung am unvollendeten letzten Satz der Rede des Fürsten auf das abrupte Ende des Manuskripts an dieser Stelle hin: Na ėtom rukopis’ obryvaetsja („Hiermit bricht die Handschrift ab“, wörtlich: „Hiermit reißt die Handschrift ab“). Gerade die Aussage des Fürsten beweist geissermaßen das Manuskript des Schlusskapitels selbst durch sein Abbrechen ins Schweigen, ins leere Papier: Die Wahrheit des Guten ist nicht zu erkennen, nicht auszusprechen, nicht aufzuschreiben. Gogol’ verbrennt den zweiten Teil anscheinend gerade mit diesem Gedanken. Das Autodafé stellt sich als ein Aufgeben vor dem Versuch dar, die Erfüllung des Guten im Menschen zu erzählen, das bereits in seinem sündigen Verhalten vorgeprägt sei und zu dem er letztlich hinstrebe. Die Schrift, wie an dieser zentralen Stelle am Ende des zweiten Teils noch einmal betont wird, stellt sich eher in den Dienst der Unordnung, der narrativ nicht zu bewältigenden Fülle der Details, als in den Dienst der Ordnung. Gerade in ihrer scheinbar ordnenden Funktion birgt sie diese Gefahr. Damit reflektiert das Schlusskapitel sowohl das selbsttätige Moment der Schrift als ornamentaler Form, die im spielerisch-gestischen Akt des Schreibens entsteht, als auch das mit diesem einhergehende Imaginationspotential, das sich durch Schrift entfaltet. Unabhängig von einem bestimmten erzielten oder vorgegebenen Sinn wird sich der Akt des Schreibens in seiner gestischen und imaginativen Selbsttätigkeit selbst zum Ziel. Teilweise stellen auch Gogol’s Federproben und Schreibübungen das spielerische Potential des Schreibakts aus, siehe etwa auch den Entwurf zum Fragment Žizn’ (Abb. 52), in dem sich die Schrift vom Textsinn und einer vorgegebenen räumlichen Ordnung auf dem Blatt emanzipiert. Zweifellos kann man Gogol’s exakte Psalmenabschriften hierzu im Kontrast als den Versuch einer getreuen Abschrift des gottgegebenen Textes betrachten, der keinen Raum für gestisch-spielerische oder gar

484 G MD II, S. 127. 485 Gogol: Tote Seelen II, S. 452.

Schreibübungen, Federprobe und Gebet zum Schlusskapitel der Mertvye duši II 

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imaginative Abweichungen bietet. Auch der Schriftraum selbst ist exakt festgelegt (siehe das Linienblatt aus dem Schreibheft, Abb. 53). Der Versuch einer schriftlichen Bezeichnung der Wahrheit duldet keine materielle, körperliche oder imaginative Einflussnahme. Das Eigenleben der Schreibgeste wird in Gogol’s Texten immer wieder zum Ausgangspunkt und Gegenstand poetischer Produktivität. Im Spiegel einer göttlichen Wahrheit erscheint diese schriftgebundene Poiesis mangelhaft und auch negativ in einem wertenden Sinne (als Lüge, s.o.), doch ihr unbändiges Potential wird in diesen motivischen Darstellungen unstreitig bekräftigt.

Abb. 52: N. V. Gogol’: Žizn’ – očerk. Pervonačal’nyj nabrosok (Leben – Skizze. Allererster Entwurf). 1834. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 10.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Abb. 53: N. V. Gogol’: Vypiski iz Biblii. – Psaltyr’ (psalmy 1–11). (Abschriften aus der Bibel. – Psalter (Psalmen 1–11). 1848–1851. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. chr. 44, l. 28.

5.2 Akakijs teuflische Fehler: Schriftfetisch in Šinel’ (Der Mantel) Dass Gogol’s Erzählung Šinel’ den Stil des Mündlichen inszeniert,486 ist durch Boris Ėjchenbaum überzeugend dargelegt und später immer wieder betont worden.487 Den Eindruck von Mündlichkeit erzeugt die Erzählung über einen immer wieder abschweifenden, vergesslichen Erzähler, durch die Lautverliebtheit (wie sie sich etwa in der ausgiebigen und klangvollen Inszenierung der Namen ausdrückt), aber auch durch das Insignifikante der Rede Akakij Akakievič Bašmačkins. Dass Gogol’ in der Erzählung zugleich über den Ministeriumsschreiber Akakij das Motiv des Schreibens

486 Ėjchenbaum: „Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“. 487 Vgl. Chizhevsky: „About Gogol’s ‚Overcoat‘“, S. 299 ff. Ich stimme Tschiževskij im folgenden Kapitel auch darin zu, dass entgegen der frühen Lesart der Erzählung deren Sinn nicht in der pathetischen Anfangspassage („Ja tvoj brat“ / „Ich bin dein Bruder“) gelesen werden kann, da sie schon am Anfang der Erzählung steht und deren weiterer Verlauf diese pathetische Lesart vollkommen widerlegt. Vgl. ebd., S. 295 f.

Akakijs teuflische Fehler: Schriftfetisch in Šinel’ (Der Mantel) 

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und der Schrift einführt, ist ebenso oft bemerkt und überzeugend reflektiert worden. Šinel’ ist vielleicht gerade diejenige Erzählung Gogol’s, an der die Wichtigkeit der Schriftreflexion in seinem Werk bisher am deutlichsten und auch öftesten herausgearbeitet wurde.488 Vor allem wurde die Hingabe Akakijs an das schriftliche Wort hervorgehoben, die in komplementärer Weise die Insuffizienz seiner mündlichen Rede ergänzt. Auch im Gebrauch der Schrift scheint er unfähig, die Position eines Urhebers zu beziehen. Selbst vor dem Versuch, auf den Vorschlag eines Vorgesetzten hin eine grammatische Änderung an einem Schriftstück vorzunehmen, schreckt er zurück.489 Dass sich Akakijs ‚Schrifthörigkeit‘ analog zur Schrifttreue der Altgläubigen lesen lasse,490 scheint eine plausible Annahme, muss jedoch etwas differenzierter betrachtet werden. Renate Lachmann bezeichnet Akakijs Haltung zur Schrift zugleich als einen „skribentischen Hedonismus“,491 der es erlaube, Lust und eine religiös erscheinende Hingabe in der Kopiertätigkeit zu verbinden. Вряд ли где можно было найти человека, который так жил бы в своей должности. Мало сказать: он служил ревностно, — нет, он служил с любовью. Там, в этом переписыванье, ему виделся какой-то свой разнообразный и приятный мир. Наслаждение выражалось на лице его; некоторые буквы у него были фавориты, до которых если он добирался, то был сам не свой: и подсмеивался, и подмигивал, и помогал губами, так что в лице его, казалось, можно было прочесть всякую букву, которую выводило перо его.492 Es wäre kaum möglich gewesen, irgendwo einen Menschen zu finden, der derart in seiner Pflicht gelebt hätte. Es wäre wenig zu sagen: er diente fleißig, – nein, er diente mit Liebe. Dort, in diesem Abschreiben, erschien ihm eine Art eigene vielgestaltige und angenehme Welt. Der Genuss äußerte sich auf seinem Gesicht; einige Buchstaben waren seine Favoriten, bei denen er, wenn er zu ihnen gelangte, außer sich war: er kicherte und blinzelte und half mit den Lippen, sodass man auf seinem Gesicht, wie es schien, jeden Buchstaben ablesen konnte, den seine Feder ausführte.

Akakij schreibt also nicht mechanisch ab, sondern gibt sich körperlich und zugleich geistig lustvoll hin, eben dies macht die „Liebe“ seines Dienstes aus. Es ist also keinesfalls ein auf die Transzendenz gerichteter Gottesdienst (wenn man seine Tätigkeit analog zu einem solchen religiösen Dienst betrachtet), sondern tatsächlich ein „skribentischer Hedonismus“, dessen Liebe rein auf den lustvoll-körperlichen Akt des Abschreibens gerichtet ist. Derart macht zwar die Analogie zur Schrifthörigkeit eines Altgläubigen Sinn, wenn etwa gesagt wird:

488 Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte. Frankfurt a. M. 2002, S. 195–237; Dies.: „Kalligraphie, Arabeske, Phantasma. Zur Semantik der Schrift in Prosatxten des 19. Jahrhunderts“, in: Poetica 29, Nr. 3/4 (1997), S. 455–498; Murašov: „Orthographie und Karneval“; Drubek-Meyer/Meyer: „Gogol’ medial“. 489 Vgl. Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 200. 490 Ebd., S. 202. 491 Ebd. 492 G Š, S. 144.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Написавшись всласть, он ложился спать, улыбаясь заранее при мысли о завтрашнем дне: что-то Бог пошлет переписывать завтра? Als er sich sattgeschrieben hatte, legte er sich schlafen, bereits lächelnd im Gedanken an den morgigen Tag: was wird Gott wohl morgen zum Abschreiben senden?

Doch dieser kalligraphische Akt ist gerade nicht auf die Transzendenz Gottes ausgerichtet. Daher hat die Lesart der ‚Schrift- und Schreibliebe‘ Akakijs analog zur gotthingegebenen Bibelabschrift eines Altgläubigen einen abseitigen Drall, der zum „skribentischen Hedonismus“ nicht recht passt. Dass der Prozess des Abschreibens zu einer „rituellen Handlung“ werde, die „wie diese eine lustvolle, dem Sakralen und dem Schönen zugleich sich verschreibende Hingebung“493 erlaube, ist nur insofern richtig, als das „Sakrale“ dabei rein in den Buchstaben selbst, und überhaupt nicht in der durch sie transportierten geheiligten Bedeutung liegt. Dies deutet sich auch in der Bemerkung des Erzählers über die noch innerhalb von Akakijs grenzenloser Liebe zum Schreibdienst sich zeigenden besonderen Vorlieben an: Einmal sind es bestimmte Buchstaben, seine „Favoriten“ (s.o.), dann ist es eine ungewöhnliche Adresse: Заметивши, что желудок начинал пучиться, вставал из-за стола, вынимал баночку с чернилами и переписывал бумаги, принесенные на дом. Если же таких не случалось, он снимал нарочно, для собственного удовольствия, копию для себя, особенно если бумага была замечательна не по красоте слога, но по адресу к какому-нибудь новому или важному лицу.494 Wenn er fühlte, dass der Magen begann sich aufzublähen, stand er vom Tisch auf, nahm ein Fässchen mit Tinte heraus und schrieb Papiere ab, die er mit nach Hause genommen hatte. Wenn sich solche doch nicht vorfanden, machte er einfach so, zu seinem eigenen Vergnügen, eine Kopie für sich selbst, besonders wenn ein Papier bemerkenswert war nicht durch die Schönheit des Stils, sondern durch die Adresse an irgendeine neue oder wichtige Person.

Es wird betont, dass es hierbei nicht um den Stil geht, also eine Kategorie der Sprache, die bereits jenseits ihrer schriftlichen Gestalt mit Semantik und Grammatik und vor allem mit deren Beurteilung verknüpft ist. Abgesehen davon, dass eine solche sprachstilistische Beurteilung eines amtlichen Dokuments möglicherweise sowieso von vornherein verfehlt erscheinen könnte (je nachdem welche Kriterien hier entworfen werden), dringt schon gar nicht der Schreiber Akakij zu einer solchen Ebene der kritischen Beurteilung seiner Vorlagen vor. Der Hinweis, dass ihn die Adressaten zur Abschrift inspirieren, ist in zweifacher Hinsicht von Interesse: Einmal scheint die Besonderheit des Namens der adressierten Person über eine rein schriftphänomenologische Ebene

493 Lachmann: Erzählte Phantastik, S. 202. 494 G Š, S. 145.

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hinauszugehen. Denn einmal liegt die Beurteilung dieser Besonderheit im Falle einer „wichtigen Person“ etwa auf der Ebene der Rangtabelle, einer schriftlichen Referenz mit gesellschaftlicher Realität. Doch zugleich wird diese Besonderheit mit der „Neuheit“ einer adressierten Person gleichgesetzt („die Adresse an irgendeine neue oder wichtige Person“). Deren Eigenschaft, für Akakij bemerkenswert zu sein, ergibt sich allein aus ihrer Differenz zu weiteren Schriftstücken, in denen Name und Adresse bisher nicht aufgetaucht waren. Damit wird letztlich die gesellschaftliche Rangordnung der Petersburger Beamtenwelt relativiert, in der einer „wichtigen Person“ ob ihres gesellschaftlichen Stands Wertschätzung gebührt. Diese Wertschätzung wird in Akakijs eigenem Wertsystem der ‚Schriftliebe‘ jedoch mit der schriftphänomenologischen Differenz der ‚neuen Adresse‘ zu den vorigen Adressen gleichgesetzt. Dies könnte freilich als ein erneuter Hinweis auf die religiöse Konnotation seiner Weltabgewandtheit verstanden werden, andererseits deutet es jedoch auch gerade wieder auf die rein phänomenologischen und physischen Aspekte des Schreibens, denen er „mit Liebe“ dient. Но Акакий Акакиевич если и глядел на что, то видел на всем свои чистые, ровным почерком выписанные строки, и только разве если, неизвестно откуда взявшись, лошадиная морда помещалась ему на плечо и напускала ноздрями целый ветер в щеку, тогда только замечал он, что он не на середине строки, а скорее на средине улицы.495 Aber auch wenn Akakij Akakievic irgendwo hinblickte, sah er auf allem seine reinen, mit gleichmäßiger Handschrift ausgeschriebenen Zeilen, und nur etwa dann, wenn, unbekannt woher sie kam, eine Pferdeschnauze sich auf seiner Schulter befand und durch die Nüstern einen vollen Wind auf die Wange entließ, nur dann merkte er, dass er nicht in der Mitte der Zeile, sondern eher in der Mitte der Straße war.

Die Wahrnehmung der Reinheit und Ordnung der Schrift überdeckt den Schmutz der Welt, der den Schreiber umgibt, sich ihm als Pferdekopf auf die Schulter legt, ihn im wahrsten Sinne einhüllt, sich gar auf die Speisen legt, um von ihm unbemerkt einverleibt zu werden: Вне этого переписыванья, казалось, для него ничего не существовало. Он не думал вовсе о своем платье: […] И всегда что-нибудь да прилипало к его вицмундиру: или сенца кусочек, или какая-нибудь ниточка; к тому же он имел особенное искусство, ходя по улице, поспевать под окно именно в то самое время, когда из него выбрасывали всякую дрянь, и оттого вечно уносил на своей шляпе арбузные и дынные корки и тому подобный вздор.496 Außerhalb dieses Abschreibens, so schien es, existierte für ihn nichts. Er dachte überhaupt nicht an seine Kleidung: […] Und immer klebte auch etwas an seiner Vizeuniform: entweder ein Stückchen Heu oder irgendein Fädchen; dazu beherrschte er die besondere Kunst, wenn er die Straße

495 G Š, S. 145. 496 Ebd.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

entlangging, unter einem Fenster anzulangen zu der genauen Zeit, als aus ihm aller möglicher Dreck geworfen wurde, und daher trug er ewig auf seinem Hut Wasser- und Zuckermelonenrinden und ähnlichen Unfug weg. Дорогою задел его всем нечистым своим боком трубочист и вычернил все плечо ему; целая шапка извести высыпалась на него с верхушки строившегося дома.497 Auf dem Weg streifte ihn der Schornsteinfeger mit seiner ganzen dreckigen Seite und schwärzte ihm die ganze Schulter; eine volle Kappe Kalk rieselte vom Dach eines im Bau befindlichen Hauses auf ihn herunter. Приходя домой, он садился тот же час за стол, хлебал наскоро свои щи и ел кусок говядины с луком, вовсе не замечая их вкуса, ел все это с мухами и со всем тем, что ни посылал Бог на ту пору.498 Zuhause angekommen, setzte er sich direkt an den Tisch, löffelte bald seinen Šči und aß ein Stück Rindfleisch mit Zwiebeln, wobei er deren Geschmack überhaupt nicht bemerkte, er aß all das mit Fliegen und allem, was Gott ihm nicht zu dieser Zeit gesandt hatte.

Die Figuration der Schrift auf Akakijs Gesicht beim Abschreiben, seine Vision der Straße als „reine“ und „gleichmäßige“ Zeile, innerhalb derer er sich mit seinem Körper und Geist fortbewegt, wird von der weltlichen Beschmutzung abgesetzt, von Akakijs Pech im wahrsten Sinne, das ihn immer wieder in diesen Schmutz hineinführt. Doch über alles legt sich seine geistige und zugleich körperliche Fokussierung auf die Schriftfiguration. Weniger als eine Sublimierung des Irdischen hin zum Transzendenten ist sie also eher eine Wahrnehmungsweise des Schrift- und Schreibbegehrens in seiner ebenfalls ‚irdischen‘, seiner sinnlichen Dimension. Die Figuration der Buchstaben auf Akakijs Gesicht drückt nicht die Liebe zum Wunderbaren aus – anders als bei Anselmus in Hoffmanns Goldenem Topf (Teil II, Kap. 2.1), dessen kalligraphische Schreibarbeit Ausdruck seiner Liebe zur transzendenten Serpentina in „Sinn und Gedanken“ 499 ist. Vielmehr erweist der Abdruck der Buchstaben auf Akakijs Gesicht eine vollkommene ‚Schriftliebe‘, bei der „Sinn und Gedanken“ rein auf die Figuration der Buchstaben gerichtet sind. Es ist eine Somatisierung der Schrift, bei der Sprachmimik und Schriftfiguration zueinander finden.500 Doch diese Somatisierung beruht nicht auf einer sich in dieser ausdrückenden imaginativen und damit schöpferischen Kraft. Vielmehr wird die vollkommene Abwesenheit einer solchen Urheberkraft Akakij Akakievičs immer wieder im Text betont. Denn mit der Beflecktheit und Löchrigkeit seines Mantels (Tol’ko slava čto sukno, a poduj veter,

497 Ebd., S. 152. 498 Ebd., S. 145. 499 H GT, S. 274: „Ach! könntest du denn das vollbringen, wenn du sie nicht in Sinn und Gedanken trügest, wenn du nicht an sie, an ihre Liebe glaubtest?“ 500 Murašov: „Orthographie und Karneval“, S. 87.

Akakijs teuflische Fehler: Schriftfetisch in Šinel’ (Der Mantel) 

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tak razletitsja.501 / „Das ist nur dem Ruf nach ein Stoff, aber bläst mal der Wind, so fliegt er auseinander“) geht die Löchrigkeit und Leere seiner Rede einher, die auf die vollkommene Abwesenheit eigener Motivation deutet: Нужно знать, что Акакий Акакиевич изъяснялся большею частью предлогами, наречиями и, наконец, такими частицами, которые решительно не имеют никакого значения. Если же дело было очень затруднительно, то он даже имел обыкновение совсем не оканчивать фразы, так что весьма часто, начавши речь словами: „Это, право, совершенно того…“ — а потом уже и ничего не было, и сам он позабывал, думая, что все уже выговорил.502 Man muss wissen, dass Akakij Akakievič sich zum Großteil mit Verhältnisworten, Umstandsworten und, schließlich, mit den Partikeln ausdrückte, die entschieden gar keine Bedeutung haben. Wenn eine Angelegenheit sehr kompliziert war, so hatte er sogar die Angewohnheit, die Sätze überhaupt nicht zu beenden, sodass es oft geschah, dass er eine Rede mit den Worten anfing: „Es ist, tatsächlich, überhaupt…“ – und danach war schon nichts mehr, und er vergaß selbst, dachte, dass er schon alles gesagt hatte.

Das Zusammentreffen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit in einem sich in der Mimik manifestierenden Schreibakt, bei dem Akakij „außer sich“ gerät (sam ne svoj), betont die Abwesenheit jeglicher sonstigen Motivation, an deren Stelle gerade das Abschreiben tritt. Akakijs Schriftliebe ist dabei tatsächlich ein Schriftbegehren, das ebendiese Leere ausfüllt und derart einnimmt, dass Akakij außerhalb dieses Begehrens nichts mehr wahrnimmt. So ist Akakijs ‚Liebesdienst‘ an der Schrift auch eher ein Schriftfetisch zu nennen als dass er tatsächlich analog zu einer Abschrift der Bibel als religiöser Gottesdienst verstanden werden könnte. Der Schrift selbst in ihrer gegenständlichen Phänomenologie kommt die Verehrung und das Begehren zu, sie in der Abschrift zu somatisieren. Obwohl ihr tatsächlich die autoritäre Macht eines biblischen Wortes zugebilligt wird, ist die Verehrung gerade auf ihre Materialität und nicht ihre Transzendenz gerichtet. Die Erwähnung Gottes als Absender der Fliegen auf dem Braten betont das eher noch einmal als es zu widerlegen. Derart muss auch das Mantelbegehren weniger als ein „Verlust des Selbst“503 betrachtet werden, das als Leidenschaft teuflisch von außen in den treuen Gottesdiener Akakij hineingelegt wird. Denn Akakij besitzt wohl ein solches „Selbst“ von Beginn an gar nicht und entwickelt ja erst durch das Mantelbegehren eine Motivation, die menschlich und verstehbar erscheint. Dass das Begehren in der Erzählung freilich als teuflisch ausgewiesen wird, legt der Text mehrmals durch deutliche Hinweise nahe.504 So wird der Schneider Petrovič mehrmals als Teufel bezeichnet

501 G Š, S. 150. 502 Ebd., S. 149. 503 Chizhevsky: „About Gogol’s ‚Overcoat‘“, S. 320. 504 Ebd., S. 315 ff., S. 319 ff.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

(kogda […] „osadilsja sivuchoj, odnoglazyj čert“505 / „wenn […] ‚er sich mit Fusel abgesetzt hat, der einäugige Teufel‘“) und das Attribut des verhornten Fußnagels wirkt wie eine Anspielung auf den Teufelshuf: Ноги, по обычаю портных, сидящих за работою, были нагишом. И прежде всего бросился в глаза большой палец, очень известный Акакию Акакиевичу, с каким-то изуродованным ногтем, толстым и крепким, как у черепахи череп.506 Die Füße waren, wie nach der Gewohnheit der Schneider, die bei der Arbeit sitzen, splitternackt. Und als erstes fiel der große Zeh ins Auge, den Akakij Akakievič gut kannte, mit einem verkrüppelten Nagel, dick und stark wie der Panzer einer Schildkröte.

Dmitrij Tschižewskij hat immer wieder betont,507 dass in Gogol’s Verständnis die äußere Welt den Menschen durch Leidenschaften (zadory) verführe, während die Ausrichtung auf Gott eine innere Ausrichtung auf eine immer jenseits dieser äußeren Welt liegende Größe, das ‚centrum securitatis‘ sein müsse. In der äußeren Welt verführe der Teufel den Menschen selbst schon mit solchen Trivialitäten wie einem neuen Mantel. Der Teufel sei „[t]he main hero of nearly all Gogol’s works, whose name we encounter in nearly every work“.508 Keine Stelle kann diese Annahme – zumindest für Šinel’ – so verdeutlichen wie die Bemerkung über Petrovičs Tabakdose, aus der er zweimal schnupft, bevor er sich den Mantel noch einmal genau ansieht und sein vernichtendes Urteil über dessen Nichtvorhandensein spricht: Петрович взял капот, разложил его сначала на стол, рассматривал долго, покачал головою и полез рукою на окно за круглой табакеркой с портретом какого-то генерала, какого именно, неизвестно, потому что место, где находилось лицо, было проткнуто пальцем и потом заклеено четвероугольным лоскуточком бумажки. Понюхав табаку, Петрович растопырил капот на руках и рассмотрел его против света и опять покачал головою. Потом обратил его подкладкой вверх и вновь покачал, вновь снял крышку с генералом, заклеенным бумажкой, и, натащивши в нос табаку, закрыл, спрятал табакерку и наконец сказал: — Нет, нельзя поправить: худой гардероб! Petrovič nahm den Kapot, breitete ihn zuerst auf dem Tisch aus, betrachtete ihn lange, schüttelte den Kapot und tastete mit der Hand am Fenster nach einer runden Tabaksdose mit dem Porträt irgendeines Generals, wessen genau, ist nicht bekannt, weil der Ort, wo sich das Gesicht befand, mit dem Finger durchstoßen worden war und danach mit einem viereckigen Flickchen Papiers zugeklebt worden war. Als er den Tabak geschnupft hatte, spreizte er den Kapot auf den Händen auf und betrachtete ihn gegen das Licht und schüttelte wieder den Kopf. Danach wendete er ihn mit dem Futter nach oben und schüttelte wieder den Kopf, nahm wieder den Deckel mit

505 G Š, S. 149. 506 Ebd. 507 Chizhevsky: „About Gogol’s ‚Overcoat‘“; Tschiževskij: „Gogol – Skovoroda“; Ders.: „Gogol-Studien“. 508 Chizhevsky: „About Gogol’s ‚Overcoat‘“, S. 319.

Akakijs teuflische Fehler: Schriftfetisch in Šinel’ (Der Mantel) 

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dem General, der mit dem Papier zugeklebt war, und schloss, nachdem er Tabak in die Nase gesteckt hatte, die Tabaksdose und sagte schließlich: – Nein, der ist nicht auszubessern: dünne Garderobe!

Tschižewskij bemerkt, dass an dieser Stelle, die über Akakijs weiteres Schicksal entscheidet und letztlich seinen Tod herbeiführt, der gesichtslose General mehrmals erwähnt wird – und gesichtslos sei auch der Teufel.509 Es scheint tatsächlich so, als führe hier die Tabakdose Regie, unter deren Einfluss der Schneider dann auch plötzlich sein finales und unumkehrbares Urteil fällt. Das Teuflische, so scheint es, muss mit der leeren Präsenz des Papierflickens, des Fetzens, der Makulatur verbunden werden. Immer wieder – und nicht zuletzt im Anschluss an Tschižewskijs Studien zum möglichen Einfluss des ukrainischen Dichters Gregorius Skovoroda auf Gogol’ – wurde betont, dass Gogol’ sich an die negative Theologie anschlösse, innerhalb derer gerade das Teuflische mit jenem ‚Nichts‘ verbunden ist.510 We have to assume that evil exists as an accident. It is there by means of something else. Its source does not lie within itself. Hence something we do for the sake of God looks right and yet is not really so when we consider to be good what is actually not so. Desire and event are clearly different. Thus, evil is contrary to progress, nature, purpose, cause, source, goal, definition, will and substance. It’s a defect, a deficiency, a weakness, a disproportion, a sin.511

Vor dem Hintergrund dieser Definition des Bösen in der negativen Theologie des Pseudo-Dionysius macht es Sinn, dass Paul Ricœur in seiner „Symbolik des Bösen“ dieses durch den „negativen Zug“ charakterisiert, innerhalb dessen auch die Sünde mit einer „Idee des ‚Nichts‘“ verbunden sei.512 Die Sünde bedeutet eine Entfernung des Menschen von „seinem ontologischen Ort“;513 „Verstoß, Abweichung, Aufstand, Verirrung“ sind Entsprechungen der Sünde im Griechischen und Hebräischen.514 Insofern auch der Fleck, als Symbol der Sünde, eine solche Verschiebung vom Ort, einen Bruch des positiv Seienden zu bezeichnen vermag (im Gegensatz zu seiner eigenen positiven Bedeutung als Ort), ist auch er mit diesem Grundgedanken des Bösen als Negativität verbunden (siehe Teil I, Kap. 3.4). In Gogol’s Šinel’ tritt der leere Papierfetzen als Zeichen für den Verlust eines Ortes, einer Orientierung und Bedeutung in diese Symbolik ein.

509 Ebd., S. 320. 510 Putney, Christopher: „Gogol’s Theology of Privation and the Devil in ‚Ivan Fedorovič Špon’ka and His Auntie‘“, in: Spieker (Hg.): Gøgøl. Exploring Absence, S. 73–84, hier S. 75 f. 511 Pseudo-Dionysius: „The Divine Names“, in: Ders.: The Complete Works. Mahwah, New Jersey 1987, S. 47–133, hier S. 94. 512 Ricœur, Paul: Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II. Freiburg/München 1971, S. 88. 513 Ebd., S. 87. 514 Ebd., S. 88.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

So kommt es bald nach dem vernichtenden Urteil des Schneiders Petrovič – bzw. des gesichtslosen Generals – zu einer Verirrung: „Так этак-то! вот какое уж, точно, никак неожиданное, того… этого бы никак… этакое-то обстоятельство!“ Сказавши это, он, вместо того чтобы идти домой, пошел совершенно в противную сторону, сам того не подозревая. Дорогою задел его всем нечистым своим боком трубочист и вычернил все плечо ему; целая шапка извести высыпалась на него с верхушки строившегося дома.515 „So ist es also so! so etwas ist ja, wirklich, überhaupt unerwartet… das wäre ja nie… eine solche Sache!“ Als er das gesagt hatte, ging er, anstatt nach Hause, in eine völlig entgegengesetzte Richtung, ohne dass er es vermutete. Auf dem Weg streifte ihn der Schornsteinfeger mit seiner ganzen dreckigen Seite und schwärzte ihm die ganze Schulter; eine volle Kappe Kalk rieselte vom Dach eines im Bau befindlichen Hauses auf ihn herunter.

Abweg und Befleckung treffen zusammen. Akakij merkt nicht, dass er schon auf diesen Abweg geraten ist, bevor er in die Anfertigung des Mantels eingewilligt hat. Die Finanzierung dieser Neuanfertigung ermöglicht er unter großen Entbehrungen – Fasten, abendliche Dunkelheit im Zimmer, behutsames, die Sohlen der Schuhe schonendes Gehen. Bald wird Akakij zum Opfer seiner Leidenschaft für den neuen Mantel. Он сделался как-то живее, даже тверже характером, как человек, который уже определил и поставил себе цель. С лица и с поступков его исчезло само собою сомнение, нерешительность — словом, все колеблющиеся и неопределенные черты. Огонь порою показывался в глазах его, в голове даже мелькали самые дерзкие и отважные мысли: не положить ли, точно, куницу на воротник? Размышления об этом чуть не навели на него рассеянности. Один раз, переписывая бумагу, он чуть было даже не сделал ошибки, так что почти вслух вскрикнул „ух!“ и перекрестился.516 Er wurde irgendwie lebhafter, sogar festeren Charakters, wie ein Mensch, der sich schon ein Ziel bestimmt und gesetzt hat. Aus seinem Gesicht und seinem Verhalten entschwand von selbst der Zweifel, die Unentschiedenheit – mit einem Wort, alle wankenden und unbestimmten Eigenschaften. Ein Feuer zeigte sich zeitweilig in seinen Augen, im Kopf flimmerten die frechsten und kühnsten Gedanken: nicht etwa doch Marder an den Kragen legen? Die Gedanken daran brachten ihn beinahe zu Achtlosigkeiten. Einmal, als er ein Papier abschrieb, hätte er beinahe sogar einen Fehler gemacht, sodass er fast hörbar „uch!“ aufschrie und sich bekreuzigte.

In seinem Mantelbegehren wird Akakij der Schrift abtrünnig. Seine Zerstreutheit – rassejannost’ ist im Russischen wörtlich die ‚Zerstreutheit‘ nach dem Bild verstreuter Samen (sejat’: dt. „säen“) – verdeutlicht wieder die Verirrung seines Weges im Sinne der Sünde des Mantelbegehrens, zu dem ihn der Schneider verleitet hat. Der Betrug an seinem ursprünglichen Begehrensobjekt durch die Zerstreutheit wird umso stärker

515 G Š, S. 152. 516 Ebd., S. 155.

Akakijs teuflische Fehler: Schriftfetisch in Šinel’ (Der Mantel) 

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betont als der Schreibfehler ja gar nicht geschieht: Nur „beinahe“ wird Akakij achtlos, nur „beinahe“ macht er „sogar“ einen Fehler. Wie Tschižewskij in seiner Analyse betont hat,517 scheint der häufige Gebrauch des Wortes daže (dt. „sogar“) in der Erzählung konzeptuell zu sein – die Amplitude eines Sachverhalts, auf die „sogar“ hinweist, wird dabei ständig nicht erfüllt. Auch in der zitierten Stelle: Akakij macht „sogar beinahe“ einen Fehler – „sogar“ weist auf die Unerhörtheit der Tatsache hin, dass Akakij überhaupt in diesem Moment ein Fehler hätte passieren können, obwohl das Ereignis des Fehlers ja gar nicht eingetreten ist. „Beinahe“ und „sogar“ schließen sich, die typisch Gogol’sche ‚Hyperbole des Nichts‘ bildend,518 eigentlich aus – wenn man den fast geschehenen Fehler eben nicht, sondern gerade nur den tatsächlich eingetretenen Fehler als Ereignis betrachtet. Es ist, wie Tschižewskij richtig betont hat, die Perspektive Akakijs, die der Erzähler durch den Gebrauch von daže vermittelt.519 So schreit Akakij auch nur „fast hörbar“ sein „uch!“ heraus – wieder eine Hyperbole, die eine Kontradiktion enthält und sich selbst auflöst, denn schreien kann man schließlich nur hörbar. Die ganze Beschränktheit und Einfachheit seiner Existenz, sowohl im sozialen und finanziellen als auch im geistigen Sinne, wird durch den Hinweis auf die permanent drohende Übersteigung dieses begrenzten Kreises im Wörtchen daže angezeigt. Akakijs Geist wird an dieser Stelle nicht mehr durch die Liebe zur Gegenständlichkeit der Schrift gefüllt. Das Mantelbegehren ist an deren Stelle getreten. Während Akakijs Schriftliebe und seine ganz auf diese Schriftliebe ausgerichtete Existenz letztlich Ausdruck einer Leere sind, die auch durch Akakijs sinnlose Rede angezeigt wird, füllt das Mantelbegehren nun diese Leere mit einer ‚Scheinfülle‘ an, die ihn „irgendwie lebhafter“ erscheinen lässt. Er wird „wie ein Mensch“. Wenn der skaz-Stil des Erzählers – der ebenso zu einer Formentblößung der Rede und zum Repräsentationsverlust neigt520 – Akakijs Perspektive einnimmt, so meint das auch immer die sprachliche Äußerung, die um eine Sinnentleerung spielt. Ergänzend kann auch Merežkovskijs These hinzugezogen werden, der betonte, Gogol’ habe mit der pošlost’ (dem „Niederen“, „Vulgären“) in seinen Texten das Teuflische herausgearbeitet, das sein ganzes Werk präge.521 Pošlost’ ist stets die Mitte, das Böse im Undefinierten, Unauffälligen. Derart muss, wie oben bereits erklärt wurde, Akakijs Haltung zur Schrift auch bereits als ein solches Begehren gesehen werden, ein Fetisch, bei dem sich Huldigung und lustvolle Hingabe auf die Gegenständlichkeit und ihr physisches Nacherleben im Schreibakt richten. Dieses Begehren besetzt die Leere, die Akakijs eigene Person ist. In diesem Kontext kann auch der Akt der Bekreuzigung verstanden werden:

517 Chizhevsky: „About Gogol’s Overcoat“ , S. 302 ff. 518 Belyj: Masterstvo Gogolja, S. 285. 519 Chizhevsky: „About Gogol’s Overcoat“, S. 305 f. 520 Ėjchenbaum: „Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“, S. 125. 521 Mereschkowskij: Gogol und der Teufel, S. 25 f.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Die Bekreuzigung zeigt sich sowohl zunächst als ein erneuter Hinweis auf die religiöse Bedeutung der Abschrift, die einem Gottesdienst gleichkommt, indem dem Original die Autorität eines geheiligten Textes zugesprochen wird als auch als Hinweis auf die Sünde Akakijs, mit der er sich von diesem Dienst entfernt hat und von der er sich durch die Geste befreien will. Dabei ersetzt das Kreuzzeichen, das gestisch auf den Körper gezeichnet wird, in frappanter Weise die Figuration der Buchstaben auf seinem Gesicht, von der zu Beginn des Textes gesprochen wird. Das Kreuzzeichen als dreiteilige Figur symbolisiert die Dreifaltigkeit des christlichen Gottes; seine Ausführung auf dem eigenen Körper ordnet den Gläubigen dieser dreifachen Existenz zu. Es ist zugleich als eine Selbstvergewisserung, als Preisung sowie auch als Gebet um göttliche Leitung und Zuwendung anzusehen. Mit dem Ausdruck der Zugehörigkeit des bekreuzigten Menschen zu Christus wendet sich dieser im Gebet mit Leib und Seele dem „Segen seines Geistes“ (Eph 1,3) zu.522 Vor diesem Hintergrund ist die Geste Akakijs eine Schlüsselstelle in der Erzählung: Es wird noch einmal deutlich, dass die ‚Gottgesandtheit‘ der Buchstaben in Akakijs Wahrnehmung zwar nahegelegt, jedoch aber durch die vollkommene Leere von Akakijs Person, der sich rein ihrer sinnlichen Gestalt und ihrem sinnlichen Nacherleben verschrieben hat, zugleich unterlaufen wird. Dass schließlich das Kreuzzeichen auf den Leib tritt und nicht mehr die freudig nachgeahmten Buchstaben, macht allein deutlich, dass das Schriftbegehren nun durch das weltliche Mantelbegehren ersetzt worden ist. Der Fehler – der Riss, der Verlust der Repräsentation, des „ontologischen Ortes“ – ist von Anfang an eingeschrieben. Das Kreuzzeichen markiert letztlich nichts weiter als die Verdrängung des Schriftbegehrens durch das Verlangen nach dem Mantel. Dies bedeutet derart einen Verlust der lustvollen Einheit von Physis, Wahrnehmung und ganz auf diese Physis gerichtetem Geist beim Abschreiben, das Akakij zu Beginn so vollkommen bestimmt hatte. Akakijs Schriftdienst sollte also nicht analog zu einer Sakralisierung der Schreibarbeit verstanden werden. Vielmehr deuten die von Anfang an nahegelegte Leere der Sprache und die Leere der Person, die rein durch das sinnliche Schriftbegehren gefüllt wird, auf den Verlust einer solchen Innigkeit des Zeichens zu einer transzendenten Bedeutung hin. Dass Akakij auch nach dem Raub seines Mantels, seiner anschließenden Krankheit und seinem abschließenden Tod nicht zur Ruhe kommt und als mantelräuberischer Geist die Straßen Petersburgs unsicher macht, ist gerade aus diesem Sachverhalt heraus verstehbar. Es zeigt wieder einmal die poetologische Relevanz dessen an, das immer wieder als Gogol’s Neigung zur Negativität und Sprachkritik analysiert worden ist: Die Leere Akakijs, die sich in der Erzählung in seinen stammelnden Reden, seinem somatisierten Schrifterleben

522 Wie der Katechismus der Katholischen Kirche erwähnen auch die Katechismen der russischorthodoxen Kirche den Akt des Bekreuzigens als im Ritus hergestellte symbolische Verbindung des Gläubigen zur Heilslehre. Hauptmann, Peter: Die Katechismen der russisch-orthodoxen Kirche. Göttingen 1971, S. 187, S. 193; Katechismus der Katholischen Kirche. München u. a. 1993, Nr. 1671.

Gogol’s Kreise: Über Autorsignaturen und kalligraphische Ründe 

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wie auch dem skaz der Erzählung selbst wiederfindet, ist der Antrieb für eben diese Erzählung. Die Leere erzeugt ein Begehr, das ein Ende der Erzählung auch nach dem Tod des Beamten verhindert. Damit entsteht eine poetische Produktivität, die aus der Warte einer figuralen Poetik mit metaphysischem Anspruch gerade unter negativem Vorzeichen erfolgt. Diese poetische Produktivität ist durch die Aufgabe eines Versuchs der Andeutung transzendenter Bedeutung geprägt. Wie auch in den Zapiski sumasšedšego oder der Erzählung Nos hat sie ebenso tragische wie komische Aspekte, die von einer Freude an der Abkehr von einer geheiligten Transzendenz zeugen, die zum poetologischen Prinzip gemacht wird. Doch diese Abkehr bleibt problematisch und ihre negative Bewertung aus der Perspektive eines an göttlicher Wahrheit orientierten Literatur- und Schriftverständnisses Gegenstand einer Verhandlung, die in Gogol’s fiktionalen Texten immer wieder ausgetragen wird, bis er sich von ihnen abwendet.

5.3 G  ogol’s Kreise: Über Autorsignaturen und kalligraphische Ründe 5.3.1 Die Signatur „oooo“ Gogol’ publizierte sein Erzählfragment Glava iz istoričeskogo romana (Kapitel aus einem historischen Roman) in der Literaturzeitschrift Severnye cvety von 1831 unter dem Kürzel „oooo“.523 Bereits der Literaturhistoriker Vladimir Gaevskij vermutete,524 dass es sich hierbei um die vier O in Gogol’s Namen handelte: Nikolaj Gogol’-Janovskij. Dass die Vervierfachung der O die Bildlichkeit der Buchstabenfolge deutlich hervorkehrt, hat bereits mehrmals Anlass zu Reflexionen gegeben. Über die Reihung werden die O verfremdet, könnten auch als eine Reihe von Kreisen oder Nullen verstanden werden. Darauf weist nicht zuletzt Gogol’ selbst in einem Brief an seine Mutter hin, der er seine Unterschrift als eine Reihe von vier Nullen beschreibt.525 Er beteuert in

523 Das folgende Kapitel 5.3 erscheint auch als Aufsatz in Heller, Jacob C./Martin, Erik/Schönbeck, Sebastian (Hg.): Bild und Ding in der europäischen Romantik. Berlin 2020. 524 Licej knjazja Bezborodko, S. 177. 525 Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Brief an M. I. Gogol’ (21. 08. 1831), in: G X, S. 205 f., hier S. 206: „[…] Книжка вам будет приятна, потому что в ней вы найдете мою статью, которую я писал, бывши еще в нежинской Гимназии. Как она попала сюда, я никак не могу понять. Издатели говорят, что они давно ее получили при письме от неизвестного и если бы прежде знали, что моя, то не поместили бы, не спросивши наперед меня, и потому я прошу вас не объявлять ее моею никому; сохраняйте ее для себя. Приятно похвастать чем-нибудь совершенным; но тем, что носит на себе печать младенческого несовершенства, не совсем приятно.— Она подписана четырьмя нулями: 0000. Прощайте, будьте здоровы! Целую вас и сестриц несколько сот раз и остаюсь вечно любящим вас сыном […].“ („[…] Das Büchlein wird Ihnen gefallen, weil Sie in ihm

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

dem Brief zudem, sein derart unterschriebener Text sei ohne sein Wissen abgedruckt und den Verlegern durch den Brief eines Unbekannten zugestellt worden. Diese hätten seinen Namen selbstverständlich abgedruckt, hätten sie ihn gekannt. Die Erklärung Gogol’s an seine Mutter, begleitet von der Bitte, den Text ganz für sich zu behalten und auf keinen Fall jemandem zu zeigen, schließt eng an die Beobachtungen des 3. Kapitels („Arabesken“) zu den Bescheidenheitsgesten und Selbstinszenierungen seiner Vorworte an. Dies zeigt deutlich, dass die O-Reihe als Signatur zunächst im Zusammenhang mit Publikationspraktiken der Zeit und nicht zuletzt mit Gogol’s eigenen Publikationspraktiken betrachtet werden kann. Denn die Praktik, den eigenen Namen durch ein Kürzel zu verschleiern, war in jener Zeit bei weitem keine Ausnahme, dies erweist schon allein das Inhaltsverzeichnis der Severnye cvety dieses Jahrgangs, in dem Gogol’s O-Reihe durch das Kürzel „ь. ъ. й.“ (Weichheitszeichen, Härtezeichen, „j“) gefolgt wird, hinter dem sich Vladimir Odoevskij verbirgt.526 Auch ohne den Autorennamen zu kennen, kann ein Leser aus dem Kürzel direkt schließen, dass es sich jeweils nicht um die Initialen, sondern die letzten Buchstaben des abgekürzten Namens handelt (bzw. in diesem Fall des Titels Knjaz’ (Fürst), des Vornamens und des Familiennamens). Vielleicht ist hier der schriftbildliche Effekt im Vergleich zu Gogol’s O-Reihe sogar noch stärker, da Weiche- und Härtezeichen kein Lautäquivalent besitzen, das Namenskürzel also nicht laut gelesen werden kann. Gogol’s Signatur „oooo“ würde ja durchaus noch eine Aussprache ermöglichen. Besonders wäre dabei dann die ikonische Übereinstimmung von Lippen- und Buchstabenform, die umso expliziter ist bei einer Vervielfachung des Buchstabens zur Reihe. Doch zunächst muss auch Gogol’s Kürzel als eine Ausprägung einer Praktik der Autorschaft der Zeit um 1800 betrachtet werden, in der sich Autoren über Herausgeberfiguren, fiktive Autoren, Pseudonyme oder Kürzel selbst inszenieren, wobei diese Inszenierung mal mehr, mal weniger offensichtlich als solche zutage tritt oder zutage treten soll. Auch Gogol’ machte nicht nur häufig von dieser Praktik Gebrauch. Vielmehr veröffentlichte er zu Beginn seiner schriftstellerischen Laufbahn fast nur Texte unter Pseudonymen („V. Alov“; „P. Glečik“; später taucht auch das Kürzel „***“ auf, vielleicht das Äquivalent zu den vier O)527 oder überhaupt ohne Angabe eines Namens.

meinen Aufsatz finden werden, den ich schrieb, als ich noch im Gymnasium in Nežin war. Wie er dorthin gekommen ist, kann ich überhaupt nicht verstehen. Die Herausgeber sagen, dass sie ihn schon vor längerer Zeit erhalten hätten durch einen Brief eines Unbekannten, und hätten sie früher gewusst, dass er meiner sei, so hätten sie ihn nicht aufgenommen, ohne mich zuvor zu fragen, und daher bitte ich Euch ihn niemandem als meinen zu offenbaren; heben sie ihn für sich auf. Es ist angenehm, sich mit etwas vollendetem zu brüsten, aber dadurch, dass er den Stempel der jugendlichen Unvollendetheit trägt, ist es nicht sehr angenehm. – Er ist mit vier Nullen unterschrieben: 0000. Leben Sie wohl, bleiben sie gesund! Ich küsse Sie und die Schwestern hundertmal und bleibe auf ewig Ihr liebender Sohn […].“) 526 Oglavlenie, in: Del'vig, Anton Antonovič (Hg.): Severnye cvety na 1831 god. Sanktpeterburg 1830. 527 Licej knjazja Bezborodko, S. 177 ff.

Gogol’s Kreise: Über Autorsignaturen und kalligraphische Ründe 

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Der erste Text, den er unter einem Kürzel publizierte, das auf seinen tatsächlichen Namen schließen lässt, ist der Essay Neskol’ko mislej o prepodavanii detjam geografii (Einige Gedanken über die Lehre der Geographie für Kinder), der in der Literaturnaja gazeta 1831 veröffentlicht wurde. Dann folgte der Essay Ženščina (Die Frau), ebenfalls in der Literaturnaja gazeta im selben Jahr, den er mit „N. Gogol’“ unterschrieb. Es ist auffällig, dass er sich zunächst als Autor von nichtfiktionalen Texten zu erkennen gab (auch weitere Essays, die er später in den Arabeski erneut publizierte, erschienen Anfang der 1830er Jahre unter seinem Namen), während er die fiktionalen Texte entweder mit Pseudonymen oder gar nicht unterschrieb oder sie fiktiven Herausgebern zuordnete: So präsentiert er die Večera na chutore bliz Dikan’ki (Abende auf einem Weiler bei Dikan’ka) durch den Herausgeber Rudyj Pan’ko, der darin die Erzählungen verschiedener fiktiver ukrainischer Erzähler versammelt. Doch nicht nur über die in dieser Zeit häufig anzutreffende Praktik von Autoren, sich durch fiktive Herausgeber hindurch als Autoren zu kreieren, ist Pan’ko als Gogol’s Maske erkennbar. Als Imker ist Rudyj Pan’ko auch durch die Symbolik der Biene dem Autorenberuf zugeordnet. Bereits Lukrez, Horaz und Seneca verglichen ihre schriftstellerische Tätigkeit mit dem Sammeln und der Metamorphose der Bienen und auch russische Autoren des Barock wie Maksim Grek und Aleksej Korobovskij griffen diese Symbolik auf.528 Pan’ko, als Maske Gogol’s, ermöglicht es diesem, nicht selbst realiter vor dem Publikum in Erscheinung zu treten und derart dessen potentielle Kritik spielerisch in Pan’kos Vorwort zu reflektieren. Er nimmt damit humoristisch auf die Publikationspraktiken und literarischen Genres der Zeit Bezug. Erst mit der Sammlung Mirgorod tritt Gogol’ mit seinem tatsächlichen Namen für seine literarischen Texte ein. Die Sammlung schließt explizit an die Večera an. Im Untertitel wird sie als Fortsetzung dieser Sammlung des Autors N. Gogol’ bezeichnet (Povesti, sluzhaščie prodolženiem Večerov na chutore bliz Dikan’ki. N Gogolja).529 Gogol’ tritt an die Stelle Pan’kos, dessen Herausgeberschaft in Mirgorod plötzlich vergessen ist. In diesen Praktiken zeigt sich nicht nur das ständige Zurücktreten des Autors hinter verschleiernde Pseudonyme, fiktive Herausgeber oder die Leerstelle der Anonymität. Zudem erweisen sie wieder eine eigene Problematik des fiktionalen Textes, dem Gogol’ noch zögerlicher als dem essayistischen (ob nun historiographischen oder pädagogischen) Text seinen Namen zusprach. Was hat es mit einer solchen Praxis auf sich? Die Zuordnung des eigenen Textes nicht zum eigenen Namen verschleiert die Identität des ‚wahren‘ Autors. Indem sich dieser selbst als Herausgeber inszeniert, wie es auch E. T. A. Hoffmann etwa bei den Lebens-Ansichten des Katers Murr getan hat, entsteht freilich noch einmal eine besondere Situation, die auf das Spiel mit den Grenzen von Wirklichkeit und Imagination, Fingiertheit, Fiktionalität und Fiktivität hinweist (siehe Teil II, Kap. 3). Die Praxis der fiktiven Herausgeberschaft wie auch andere

528 Shapiro: Nikolai Gogol and the Baroque Cultural Heritage, S. 113, S. 115. 529 Licej knjazja Bezborodko, S. 178.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

Selbstverschleierungstaktiken begleiten die moderne Entstehung von Autorpersonae wie Nikolaj Gogol’, deren Selbstinszenierung gerade über den Bruch der Autorschaft als Entzug des Textes vom eigenen Namen beginnt. Der ‚wahre‘ Autor ist von Beginn an eine inszenierte Figur zwischen Fiktion und Wirklichkeit, ist nicht die feste Urheberinstanz von ungebrochener Identität, sondern wird mit in das textuelle Spiel einbezogen,530 das seine Identität spaltet und multipliziert. Vielleicht auch deswegen die vier Nullen? Vladimir Nabokov war der erste, der einen Zusammenhang des „quadruplet of zeros“ mit Gogol’s Poetik vermutete: „The selection of a void and its multiplication for concealing his identity is very significant on Gogol’s part.“531 Tatsächlich hat Gogol’s Kürzel, wie oben angedeutet, einen verfremdenden Effekt: Über die zweimalige Verdopplung der O werden diese ‚neu gesehen‘ (das schriftgestalterische, das Augenmerk auf die Form der Buchstaben lenkende Element scheint nach diesen formalistischen Vokabular zu verlangen; davon unten mehr). Das O wird als graphischer Verwandter des Kreises und der Null erkennbar. Gerade die besondere Eigenschaft der Null als Zahlsymbol scheint dann auch verdeutlichen zu können, inwiefern eine Lesart des Kürzels als Chiffre für die Poetik Gogol’s Sinn macht. Denn die Null ist ein Zeichen, das eine Abwesenheit bezeichnet, das Nichts.532 Das Bezeichnen des Nichts, das sich Gogol’ mit dem 0-Kürzel selbst zuschreibt, ist mit verschiedenen Momenten seiner Poetik in Verbindung gebracht worden. Einmal mit der Selbstreferentialität des skaz-Stils. Diesen bezeichnete Ėjchenbaum als ‚reproduktiv‘,533 eine Form des literarischen Schreibens, bei dem über den Klang eine bloße Aufmerksamkeit auf die Reproduktion eines Klangs gelenkt werde, die Repräsentation jedoch verloren gehe. Es ist eine Rede, bei der die Linearität der Narration aufgegeben wird: eine Meta-Rede, die sich laut Ėjchenbaum dann als leer bis auf ihren Klang erweisen müsste. In diesem Zusammenhang ist auch wieder Belyjs ‚Figur der Fiktion‘ anzuführen,534 mit der er Gogol’s „Rhetorik des Nichts“ umschrieb,535 die aus kontradiktorischen und hyperbolischen semantischen Kombinationen entstehe, die sich gegenseitig aufhöben. Zur These, dass Gogol’s lautmalerische Prosa zudem gerade im Sinne einer „Semantisierung anagrammatischer Strukturen“ gelesen werden könne, die aus der „Entfaltung des Laut- und Buchstabenbestandes seines Familiennamens“ entspringt,536 wurde Aage Hansen-Löve durch die Erzählung Nos (Nase) angeregt (oftmals wurde in der Forschung die anagrammatische Verschiebung von son (dt. „Traum“) zum

530 Vgl. Wirth, Uwe: Die Geburt des Autors aus dem Geist der Herausgeberfiktion. Editoriale Rahmung im Roman um 1800 (Wieland, Goethe, Jean Paul, E. T. A. Hoffmann). München 2008. 531 Nabokov: Nikolai Gogol, S. 26 f. 532 Rotman, Brian: Signifying nothing. The Semiotics of Zero. Hampshire/London 1987, S. 58. 533 Ėjchenbaum: „Wie Gogol’s Mantel gemacht ist“, S. 125. 534 Belyj: Masterstvo Gogolja, S. 124, S. 191, S. 256. 535 Hansen-Löve: „‚Gøgøl’‘. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“, S. 229. 536 Ebd.

Gogol’s Kreise: Über Autorsignaturen und kalligraphische Ründe 

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titelgebenden nos (dt. „Nase“) erkannt). Die Doppelsilbe GO-GO(-L) bilde, so HansenLöve, die wortkünstlerische Basis von Gogol’s Texten, in denen alle Worte, die aus diesen Silben konstruiert sind, ein Bezugsnetz bildeten (Hansen-Löve führt etwa die in ihre Silben geteilten Worte LO-GOS, GLA-GOL (glagol, dt. „Verb“), GOL-YJ (golyj, dt. „nackt“), GOL-OD (golod, dt. „Hunger“) und weitere auf). Die Silbe GO sei in diesem Sinne als Archisem zu verstehen.537 Das O als lautsprachliches und ikonographisches Zentrum von Gogol’s Prosa müsse dabei zugleich als Ausruf der Verwunderung, der Sprachlosigkeit, des Fehlens wie auch eine ikonographische Abbildung der Form der Lippen bei der Aussprache des Lauts berücksichtigt werden.538 Dabei werde mit dem doppelten O aus Gogol’s Namen, wie Nabokov es konstatiert hat, die Nullität, die Nichtigkeit, das Nichts in den Text verpflanzt, und das gerade über die an Schlüsselstellen immer wiederkehrenden O-Laute bzw. den Buchstaben O.539 In Nos haben diese Thesen insofern ihre Berechtigung, als tatsächlich der ganze Text um die leere, glatte Stelle (gladkoe mesto) im Gesicht des Majors Kovalev kreist, die wieder anzufüllen er sich bemüht. Das Verfahren der (Selbst-)Annullierung – der (Selbst-)Vernichtung –540 wie es das Kürzel „oooo“ für den eigenen Namen anzuzeigen scheint, ist umso interessanter, wenn man sich die weitere Publikationsgeschichte des Textes Glava iz istoričeskogo romana (Kapitel aus einem historischen Roman) ansieht. Bei seinem ersten Erscheinen im Inhaltsverzeichnis der Zeitschrift durch „oooo“ angekündigt, erscheint der Text erneut in den Arabeski unter Gogol’s tatsächlichem Namen. Dort allerdings wird der Titel mit einem Sternchen versehen und am unteren Rand der Seite folgende Anmerkung eingefügt: (*) Изъ романа подъ заглавiемъ: Гетьманъ; первая часть его была написана и сожжена, потому что самъ авторъ не былъ ею доволенъ; двѣ главы, напечатанныя в перiодических изданiях, помѣщаются в этомъ собранiи.541 (*) Aus einem Roman unter dem Titel: Hetman; sein erster Teil wurde geschrieben und verbrannt, weil der Autor selbst nicht mit ihm zufrieden war; zwei Kapitel, die in Periodika abgedruckt wurden, befinden sich in dieser Sammlung.

Einerseits lässt sich die Anmerkung derart verstehen, dass die Selbst-Annullierung, als die die „oooo“-Signatur gelesen werden kann, nun auf den Zerstörungsakt

537 Ebd., S. 229 f. 538 Ebd., S. 230. 539 Ebd., S.  230–232. Hansen-Löve zitiert eine solche Schlüsselstelle und kennzeichnet darin und die Fülle der O-Laute. 540 Vgl. zur psychoanalytischen Deutungsweise dieses Vorgangs „‚Gøgøl’‘. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“, S.  230 (Anm. 182); Drubek-Meyer: Gogol’s eloquentia corporis, S.  249, S.  323; Rancour-­ Lafarierre, D.: Out from under Gogol’s Overcoat. A Psychoanalytic Study. Ann Arbor 1982, S. 88. 541 Gogol’: „Glava iz istoričeskogo romana“, in: Ders.: Arabeski, S. 41.

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 Wahrheit und Schrift: Kalligraphie, Federproben und Schreibfehler

gegenüber dem eigenen Text übertragen wird. Doch zugleich wird interessanterweise damit eine andere Deutungsart der Signatur möglich, die sich im Kontrast der beiden Präsentationsweisen des Textes zeigt: Der Hinweis darauf, der Text sei ein Überrest eines mangelhaften Ganzen, das weder des Lesens noch der Publikation wert gewesen sei, lässt den vorliegenden Text als ein fragmentum im ursprünglichen Sinne des lateinischen Wortes erscheinen: als ein Bruchstück. Dass der Autor mit diesem Kapitel des Textes offensichtlich ‚zufrieden‘ war, sodass es vom Verbrennungsakt verschont blieb und publiziert werden konnte, lässt den Text nicht unbedingt zu einem geformten Ganzen werden. Der Hinweis hat also eher den Effekt, eine Fragmentästhetik, die gerade die prospektive, durch Reflexion angedeutete Totalität erzielt, zu ‚dämpfen‘. Das Fragment ist derart nicht figural im eschatologischen Sinne zu verstehen, sondern viel eher als defigurativer Rest. Freilich spielt der Hinweis gerade mit dieser Ästhetik, die eben auch die Erstpublikation des Textes zitiert. Und gerade der in der Bemerkung hergestellte Kontext mit den nichtfiktionalen Essays O srednich vekach (Über das Mittelalter) und Vzgljad na Malorossiju (Blick nach Kleinrussland) in einer Sammlung unter dem Titel Arabeski ironisiert wiederum diese scheinbare Existenz des Bruchstücks und lässt die Versammlung der drei Texte und ihre Anordnung in der Sammlung wieder als bedeutsam erscheinen. Dies ermöglicht rückwirkend auch eine andere Deutung der Erstpräsentation des Textes in den Severnye cvety im Sinne einer Affirmation der Fragmentästhetik. Dabei wäre die Reihe der O nicht unbedingt negativ als eine Reihe von Nullen anzusehen, sondern könnte auch als eine mysteriöse, vielleicht unendlich fortsetzbare Reihe aus Kreisen, Ganzheitssymbolen verstanden werden. Denn auch dies trägt die Symbolik der Null mit sich: Sie ist nicht nur eine in sich geschlossene Linie, die einen Außen- und Innenraum teilt, in sich ein ‚Nichts‘ enthaltend542 (gegenüber dem einfachen Punktsymbol, das bloße Anwesenheit markiert und derart als ihr konventioneller Gegensatz betrachtet werden kann).543 Sie ist gerade auch der in sich geschlossene Kreis, der Unendlichkeit, einen ständigen Übergang von Beginn und Ende, d. h. Schöpfung und Tod, symbolisiert. Der Kreis als universelles Symbol der Ganzheit als Unendlichkeit ist zugleich das Symbol der Abwesenheit, und die Darstellung und Reflexion von Gegensätzen und Paradoxa des ‚Alles‘ und ‚Nichts‘ hat zahlreiche verwandte Symbole hervorgebracht: das Ei, die sich in den Schwanz beißende Schlange (auch als Hieroglyphe Ouroboros, siehe Teil II, Kap. 2.1), das mystische O der Kabbala.544 Nicht nur bildet die Frage des logischen Umgangs mit dem ‚Nichts‘ den Anlass für eine zentrale theologische Diskussion im Christentum in dessen Auseinandersetzung mit seinem Erbe jüdischer, aber auch griechischer Philosophie und ist überhaupt eine der seit

542 Rotman: Signifying Nothing, S. 59. 543 Ebd. 544 Ebd., S. 29; vgl. Colie, Rosalie L.: Paradoxia epidemica: The Renaissance Tradition of Paradox. Princeton, New Jersey 1966, S. 226.

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den Anfängen der Philosophie zentralen Fragen.545 Die Problematik der creatio ex nihilo trifft auch die romantische Auseinandersetzung mit Fragen der menschlichen (Sprach-)Schöpfung und Selbsterkenntnis. Einerseits wird ein Konzept der künstlerischen Sprachschöpfung aus dem Nichts, ohne eine Anerkennung einer außerhalb dieser liegender, in der Sprachschöpfung bearbeiteter Wahrnehmung abgelehnt.546 Diese Ablehnung trifft auch die Annahme einer Schöpfung des künstlerischen Genies, die sich von der literarischen Tradition und ihren Prätexten freimachen könnte.547 Zugleich spielt die Frage der Erkenntnismöglichkeit des Unendlichen gerade im Zusammenhang mit dem Einfluss des deutschen Idealismus auf die Frühromantiker eine besondere Rolle; und im Entwurf der Fragmentästhetik wie auch im Gedanken der romantischen Ironie wird diese Frage bearbeitet. Dabei ist der ständige „Wechsel aus Selbstschöpfung und Selbstvernichtung“, den Friedrich Schlegel als Erklärung der romantischen Ironie anführt,548 im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit den Gedanken Johann Gottlieb Fichtes über die der Reflexion vorgeordnete Absolutsetzung des Ich im Sinne einer solchen creatio ex nihilo des Bewusstseins zu verstehen.549 Die fragmentarische Form ist die immerwährend begrenzte, aber gerade in ihrer Begrenztheit die ‚schlechte Unendlichkeit‘ (die unendliche Fülle) der Welt in Richtung auf eine Totalität aufheben wollende Form.550 Eine letztliche, endliche Einholung dieser Totalität, der Unendlichkeit in der Sprachform als menschlicher (Selbst-) Erkenntnis ist unerreichbar, aber immer durch die ironische Reflexion vorausgedacht. Die romantische Ironie ist daher ein Verfahren des Paradoxen und quittiert zugleich die ewige Paradoxalität von Kreation und Zerstörung, Endlichkeit und Unendlichkeit, von Allem und Nichts, das auch der in sich eine Leere umrahmende Kreis zu bedeuten vermag. Derart kann auch Gogol’s „oooo“-Chiffre gedeutet werden: Sie ist im negativen Sinne die Nicht-Bezeichnung, die Selbstentleerung des Zeichens, zugleich kann sie als der Versuch der Bezeichnung von Totalität, das Hinstreben auf Totalität begriffen werden, das freilich immer wieder in sich gebremst und ins Negative verkehrt wird. Die Wahl der vier Kreise als Chiffre schließt dabei also auch an die Utopie eines Aufscheinens des Unendlichen im Endlichen an, das im Romantischen gerade Teil einer Sprachkritik ist, die eine Sehnsucht nach dem Urzeichen, der Ursprache artikuliert.

545 Vgl. Rotman: Signifying Nothing, S. 60–72. 546 Vgl. Bär, Jochen: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik: Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin/New York 1999, S. 327. 547 Kuhnle, Till R.: „Tradition – Innovation“, in: Ästhetische Grundbegriffe. Bd. 6. Stuttgart/Weimar 2005, S. 74–116, hier S. 92. 548 KFSA II, S. 172 (Athenäums-Fragmente, Nr. 51). 549 Vgl. Heinemann, Paul: Potenzierte Subjekte – potenzierte Fiktionen. Ich-Figurationen und ästhetische Konstruktion bei Jean Paul und Samuel Beckett. Würzburg 2001, S. 35. 550 Frank, Manfred: „Das fragmentarische Universum der Romantik“, in: Dällenbach, Lucien/Hart Nibbrig, Christiaan L.( Hg.): Fragment und Totalität. Frankfurt a.M. 1984, S. 212–224, hier S. 213.

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Nicht zuletzt wird in diesem Zusammenhang der Begriff der Hieroglyphe eingeführt, der als ein solches für immer verschlossenes, unlesbares Zeichen verstanden werden kann, dessen tiefe Bedeutsamkeit aber spürbar sei. Der Kreis als Name des Autors lässt diesen als Manifest einer solchen Sehnsucht nach einer ursprünglichen Sprache erscheinen, in der das Zeichen bedeutet, was es ist, der Name in sich die Präsenz und Evidenz seiner Bedeutung sei. Ohne Zweifel nimmt dabei die Selbst-Chiffrierung des Autornamens im „oooo“ die Fantasie einer Namensmagie in den Mertvye duši vorweg (siehe Kap. 4.3). Dort zeigt sich die Sehnsucht der Wirksamkeit eines selbstevidenten Zeichens. Dass diese immer nur eine in sich selbst und ihre Endlichkeit, die Leere des Zeichens zurückfallende Sehnsucht ist, ist ebenfalls durch den Kreis symbolisiert. Ebendies macht ja das Paradoxe eines Zeichenkonzeptes aus, wie es durch die romantische Hieroglyphe artikuliert wird.551

5.3.2 Psalmenabschriften und Permutationen Der Kreis drückt sich in der Ründe einer Linienbewegung, bzw. eines Umrisses aus, den er zugleich symbolisiert. Dies ist nicht nur im Sinne einer Fülle, dem Vollen des Endlichen, Seienden zu deuten, das mit den zahlreichen Motiven des Runden bei Gogol’ in Zusammenhang gebracht werden kann (etwa die Ründe und Fülle Čičikovs552 [Vot, posmotri, […] kakoj u menja podborodok: sovsem kruglyj!553 / „Schau doch mal […] was für ein Kinn ich habe; ganz rund ist es!“554] oder die fetten Plinsen in den Večera na chutore bliz Dikan’ki wie auch in den Mertvye duši). Dabei wäre die Ründe im Sinne der pošlost’, der Nichtigkeit der banalen Präsenz, der Dekadenz und Eitelkeit des Leiblichen anzusehen. Ründe kann vielmehr, und gerade im Zusammenhang mit dem Schreibakt, auch als Ausdruck von Harmonie angesehen werden. Als solche prägt sie das Hauptprinzip des kalligraphischen Aktes, das im rhythmischen Wechsel von Gerade und Kurve besteht.555 Gogol’s Vypiski iz Biblii (Abschriften aus der Bibel) scheinen die intensive Beschäftigung des Autors mit der ‚schönschriftlichen‘ Ausführung der Abschrift des als heilig angesehenen Textes zu bestätigen, die die Tradition der Kalligraphie seit dem Mittelalter prägte. Ihre sehr genaue und regelmäßige Ausführung bei Buchstabenform und Zeilenabstand wurde oben bereits erwähnt (Kap. 5.1, siehe Abb. 53). Der Rhythmus aus regelmäßigen Kurven und Geraden, die bei ihrer Wiederholung möglichst invariable Buchstabenformen bilden, hat eine religiöse Bedeutung. In der Harmonie

551 Keiner, Astrid: Hieroglyphenromantik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie. Würzburg 2003, S. 110. 552 Vgl. Hansen-Löve: „‚Gøgøl’‘. Zur Poetik der Null- und Leerstelle“, S. 231. 553 G MD, S. 135. 554 Gogol: Tote Seelen, S. 167. 555 Kunze, Reinhard: DuMonts Handbuch Kalligraphie. Einführung in Geschichte, Theorie und Gestaltung. Köln 1992, S. 67.

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der Schrift, die wiederum von einem in seiner ausführenden Bewegung harmonischen Schreibakt zeugt, drückt sich die Huldigung ihrer heiligen Bedeutung aus. Zugleich mit der absoluten Regelmäßigkeit des Schriftbildes, die eine Abweichung scheut, wird die Texttreue, die vollkommene Treue zum Original ausgedrückt. Dies lässt in Gogol’s Psalmenabschrift zweifellos eine Huldigung der Autorität des geheiligten Originals vermuten. Dann jedoch findet sich am Ende des Hefts, durch ein paar leere Seiten getrennt von den Psalmenabschriften, ein Blatt, das keine Bibelabschrift und wohl überhaupt keine Abschrift darstellt. Wir sehen darauf teilweise ausgeschriebene Worte, teilweise aneinandergereihte Buchstaben, und immer wieder Reihen von O.

Abb. 54: N. V. Gogol’: Vypiski iz Biblii. – Psaltyr’ (psalmy 1–11). (Abschriften aus der Bibel. – Psalter (Psalmen 1–11). 1848–1851. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. chr. 44, l. 24 ob.

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Eine Transkription erhält folgendes Ergebnis:556 оборительно oбориска браска oс oбрискаго Вороскаго Б Б Вороского правиламъ возам В В В Вoзно o oooo Волоколамъ ooooo Володимирски бл пбкн трасф , кo o o o Волоколамсо фоскоскоскобxобное o o o ooooс сooo oooooнаст осмот [oboritel’no oboriska braska os obriskago Voroskago B B Voroskogo pravilam vozam V V V Vozno o oooo Volokolam ooooo Volodimirski bl pbkn trasf , ko o o o Volokolamso foskoskoskobchobnoe o o o oooos sooo ooooonast osmot]

556 Ich halte mich bis auf einige kleine Modifikationen an die Transkription bei Dmitrieva, Ekaterina E.: N. V. Gogol’ v zapadnoevropejskom kontekste: meždu jazykami i kul’turami. Moskva 2011, S. 214.

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Das Blatt stellt einen Gegensatz zur Psalmenabschrift dar. Die Buchstabenkombinationen bilden zumeist nur Wortansätze (osmot [vielleicht der Anfang von osmotret’, dt. „schauen“/„betrachten“]), Neologismen (foskoskoskobchobnoe), teilweise Namen (Volodimirski; Voroskij). Auch Worte, die als solche erkennbar sind (z. B. vozam [Dat. Pl. von voz, dt. „Fuhre“] oder pravilam [Dat. Pl. von pravilo, dt. „Regel“]), scheinen in dieser Reihe nicht unbedingt wegen ihrer Bedeutung aufzutauchen. Vielmehr stechen die Wiederholung von Buchstabenkombinationen und die Buchstabenpermutation ins Auge, die auf dem Blatt betrieben werden: von obori(tel’no) zu obori(ska), von (o)boriska zu braska, von ob- zu os zu ob-, von oboriska zu obriska, von (obri)skago zu (Voro)skago, von (pravil)am zu (voz)am, von vozam zu V V V Vozno, dann die Reihung von über- und untereinandergeschrieben „o“s und „V“s, von Volo(kolam) zu Volo(dimirski); von trasf k ooo zu foskoskos(kobchobnoe), von Volo(dimirski) zu Volo(kolamso) (und Volokolam zu Volokolam([so]), dann folgt wieder eine Reihung von über- und untereinander geschriebenen „o“s. Nicht darstellbar in der Transliteration sind die Wiederholungen der Rundung der „o“s auch in den Buchstaben „V“ (В) und „B“ (Б) und „s“ (с). Verloren gehen bei der Transkription die graphischen Besonderheiten der Handschrift, die auf die Schreibbewegung deuten, etwa die ebenfalls Ründe erzeugenden Schwünge der „V“s (В) und „B“s (Б), die die Buchstaben visuell der Ründe der „o“s annähern. Unter Nutzung der Räumlichkeit des Blattes sie sind zudem derart untereinander gesetzt, dass auch die runden Schwünge miteinander korrespondieren und zweimal ein Dreieck bilden. Das gesamte Blatt stellt, auch bei der ständigen Permutation ganzer Silben, eine Variation auf den Buchstaben O dar. Positioniert am Ende des Schreibhefts, räumlich durch einige leere Blätter abgetrennt, erscheint das Blatt als Federprobe, als Test der Geschmeidigkeit der Handbewegung, der Feder auf dem Blatt, der Gleichmäßigkeit des Tintenflusses. Einige in der obigen Transkription nicht angegebene Buchstaben sind nur versuchsweise angedeutet (siehe Abb. 54, etwa das schräge Ka unter oboritel’no). Dabei nimmt die Permutation der Buchstaben, die in den aufgeschriebenen Worten bzw. Buchstabenkombinationen hin und her getauscht werden, diese gleitende Bewegung auf. Auch die Nutzung der Räumlichkeit des Blattes suggeriert eine bewegte Dynamik, eine Freiheit von den strengen Linien, nach denen der Rest des Schreibhefts gefüllt wurde (Abb. 53). Die Verschiebung des Zeilenanfangs lässt eine unregelmäßige Wellenlinie entstehen, in der sich die Zeilen in ihrer unterschiedlichen Länge über das Blatt ziehen. Als Federprobe hat das Blatt bereits von vornherein eine in Bezug auf die Materialität des Schreibens selbstreflexive Dimension, sodass der hier ausgeführte Schreibakt rein auf diese bezogen und ohne besondere semantische Bedeutung erscheint. Doch dass bei dieser Federprobe eine Permutation entsteht, stellt das Verhältnis verschiedener mit dem Schreibakt verbundener Komponenten noch einmal neu zur Diskussion. Es eröffnen sich dabei sowohl Fragen zum Verhältnis von Bedeutung und Zeichen als auch zur Autorität von Schreiber, Autor und Text. Denn bei dieser Federprobe wird nicht ein Text als Übung aufgeschrieben, sondern Gogol’ reiht vielmehr assoziativ

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Buchstaben aneinander, verfahrend nach einer Bevorzugung von Schwüngen und des Buchstabens O. Die Federprobe erlangt damit eine schöpferische Dimension, die gerade im Kontext des Schreibhefts als Anhang der Psalmenabschriften verblüfft, wie im Folgenden ausgeführt werden soll. Die lange Geschichte von Anagramm und Buchstabenpermutation kann an dieser Stelle nur skizzenhaft wiedergegeben werden. Sie ist von Beginn an mit dem schöpferischen Moment dieser Praktiken verbunden. Die Permutation wurde seit ihren Anfängen in der Antike immer wieder als Praktik der Buchstabenmagie und -mystik mit religiöser Bedeutung belegt und als Instrument und Medium göttlicher Offenbarung angesehen. 557 Später wird die im zwölften und dreizehnten Jahrhundert entstandene Kabbala bei der Praktizierung anagrammatischer und Permutationstechniken einflussreich. Buchstaben sind dabei „Instrumente der Schöpfung“ im Sinne einer „sprachmystischen Kosmogonie und Kosmologie“.558 Im Zuge der Rezeption der Kabbala durch die Humanisten der Renaissance und ihre hermetische Interpretation der Alchemisten erlangt die Buchstabenpermutation als Technik große Bedeutung im Sinne einer christlichen Übernahme als von Gott offenbartes (Pico della Mirandola) bzw. als magisches Wissen (bei Paracalsus und den Rosenkreuzern).559 Im Barock setzt eine Ästhetisierung der kabbalistischen Anagrammatik ein, die diese zu einer „manieristischen Stilistik“ macht.560 Das Anagramm wird schließlich eine Praktik der ‚Kasuallyrik‘ und in normative Poetiken aufgenommen.561 Doch vor allem die Praktik der seriellen Anagramme und deren Einsatz in Barockpredigten zeigt deren noch ungebrochene Verbindung zum Geheiligten. Das Anagramm hat dabei eine weiterhin theologische Bedeutung.562 Die Bewertung dieser Praktiken schwankte nicht nur zwischen ihrer Ansicht als Offenbarung göttlichen Wissens und manieristischem Letternspiel, sondern sie wurden auch immer wieder als blasphemische Tätigkeit angesehen (ein Durcheinanderwerfen der Buchstaben als teuflisches Tun: διάβολος [diábolos] stammt von διαβάλλειν [diabállein]: dt. „auseinanderwerfen“ 563, siehe Teil I, Kap. 3.4).564 Nach der Hochzeit im siebzehnten Jahrhundert, die auch bereits die Kritik am Anagramm als inventio geprägt hatte,565 setzt im achtzehnten Jahrhundert eine Popularisierung von Anagramm und Permutation ein, die auch deren zunehmende Bewertung als

557 Vgl. Hocke: Manierismus in der Literatur, S. 18; Brunnschweiler: „Magie, Manie, Manier“, S. 20 ff. 558 Scholem, Gershom: Ursprung und Anfänge der Kabbala. Berlin/New York 2001, S. 22, S. 26. 559 Brunnschweiler: „Magie, Manie, Manier“, S. 34. 560 Kilcher, Andreas B.: Die Sprachtheorie der Kabbala als ästhetisches Paradigma. Die Konstruktion einer ästhetischen Kabbala seit der Frühen Neuzeit. Stuttgart 1998, S. 264. 561 Brunnschweiler: „Magie, Manie, Manier“, S. 38. 562 Ebd., S. 48 ff. 563 Pape: Griechisch-deutsches Handwörterbuch. Bd. 1, S. 572. 564 Brunnschweiler: „Magie, Manie, Manier“, 64 565 Ebd., S. 59.

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willkürliches Zeichenspiel bestimmt.566 Schließlich greifen die europäischen Avantgarden die Technik der Permutation bzw. des Anagramms wieder auf, wobei sie Materialität und Sinnlichkeit von Sprache und Schrift einen Stellenwert verleihen. Dies kann gleichermaßen als Ikonisierung gerade dieser sinnlichen Präsenz wie als Akt im Gedenken an die Zuschreibungsgeschichte mystischer Bedeutung verstanden werden.567 Ekaterina Dmitrieva meint, die Gogol’sche Schreibübung auf dem letzten Blatt der Psalmenabschriften lasse bereits an avantgardistische Schriftexperimente denken, wie sie Vladimir Majakovskij und David Burljuk betrieben.568 Der Fokus auf die Schrifterscheinung und deren gestische und zugleich assoziative Zelebrierung ist im Blatt allerdings prominent, auch wenn die Annahme einer Vorwegnahme avantgardistischer Schreibpraktiken vor dem Hintergrund der in dieser Arbeit gezeigten Konflikte im Gogol’schen Schriftverständnis gewagt erscheint. Die der Assoziation des Schreibers Raum gebende Schreibpraktik des angehängten Blatts steht gerade vor den in diesem Kapitel erläuterten Konflikten um die Frage von Wahrheit und Schrift in einem eklatanten Kontrast zur Psalmenabschrift. Deren kalligraphische Ausführung ist ganz auf die geheiligte Bedeutung des biblischen Textes gerichtet. Dabei ist auch der Psalter nicht ein wahllos aus der Heiligen Schrift ausgewählter Text, sondern hat als Sammlung von Gebetsgesängen eine besondere Stellung im Bibeltext. Derart kann Gogol’s eigene Abschrift der ersten elf Psalmen als ein schriftlicher Gebetsakt angesehen werden, bei dem die Abschrift, wie oben bereits ausgeführt wurde, in absoluter Gleichförmigkeit das heilige Original wiederholt. Gogol’s Abschrift der Psalmen findet dabei höchstwahrscheinlich vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Auseinandersetzung um die Legitimität einer russischen Bibelübersetzung und insbesondere von lyrischen und teilweise auch frei variierenden Übertragungen der Psalmen ins Russische durch verschiedene Dichter schon seit dem achtzehnten Jahrhundert statt (etwa Michail Lomonosovs stark am Originaltext orientierte Preloženija psalmov, später Fjodor Glinkas auf freierer Imagination basierende lyrische Opyty svjašcennoj poėzii [1826]).569 Gogol’s Psalmenabschriften scheinen auf der einen Seite eine konservative Haltung wiederzugeben, indem sie vom altkirchenslawischen Original und ohne eigene dichterische Freiheiten genommen werden. Auf der anderen Seite überträgt er jedoch zugleich dieses Original in die moderne Kursivschrift. Die Möglichkeit des Sakrilegs durch die schriftsystemische und schriftvisuelle Abweichung steht auch hier schon im Raum,570

566 Ebd., S. 57. 567 Vgl. Brunnschweiler: „Magie, Manie, Manier“, S. 67. 568 Dmitrieva: N. V. Gogol’ v zapadnoevropejskom kontekste, S.  213 f.; vgl. zum „archaistischen Sprachideal der (russischen, C. S.) Avantgarde“, die zu den „Buchstaben und Lauten als ‚Ur-Elementen‘ der Sprache vordringen wollte“ (mit besonderem Bezug zu Majakovskij): Witte: „Katalogkatastrophen“, S. 48 f. 569 Gall, Alfred: Hermetische Romantik. Die religiöse Lyrik und Versepik F. N. Glinkas aus systemtheoretischer Sicht. Bern u. a. 2001, S. 99–138, insb. S. 99–110. 570 Für diesen Hinweis danke ich Alfred Gall.

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auch wenn die textuelle Originaltreue zugleich gegeben und als Hinweis auf einen religiösen Schreibakt im Bewusstsein der Heiligkeit der Vorlage als göttlicher Offenbarung zu verstehen ist. Der Kontrast der Permutation auf dem letzten Blatt zur Psalmenabschrift liegt im je unterschiedlichen Verhältnis zur Bedeutung der Schrift und der Rolle des Autors. Die Abschrift der Psalmen ist als Gebetsakt auf den transzendentalen Sinn und die Ordnung der Heiligen Schrift gerichtet (siehe die strenge Einhaltung der Reihenfolge der nummerierten Psalmen in Gogol’s Schreibheft). Der ‚Autor‘ ist dabei gläubiger Abschreiber, Medium für die Schrift der geheiligten Bedeutung und ihrer Wahrheit. In der Permutation liegt die Bedeutung in der Schrift selbst: Im Rahmen ihrer religiösen Tradition wird sie durch einen Schreiber als Akt im Glauben an die göttliche Offenbarung gerade in der Präsenz des Zeichens selbst ausgeführt,571 der Schreiber ist Zuschauer ihres buchstäblichen Erscheinens. Als Letternspiel ist die Permutation eine ebensolche auf die Schriftpräsenz fokussierte Praxis, deren Erscheinen jedoch kein über dieses hinausgehender göttlicher Offenbarungscharakter zugeschrieben wird. In Gogol’s Federprobe am Ende des Schreibhefts wird diese auf den buchstäblichen Schreibakt und sein assoziatives Potential hinweisende Bedeutung vorgeführt. Der gestische Schreibakt hinterlässt seine schwungvollen Bögen und Rundungen. Die Kombination der Worte ist rein auf die Buchstabenkombinationen konzentriert, die vielmehr assoziativ als ein verborgenes Muster suchend aufgereiht sind. Derart steht die Federprobe in einem eklatanten Kontrast zur Psalmenabschrift: Einmal ist Gogol’ tief gläubiger (Ab-)Schreiber (Psalmen), einmal ein Zuschauer der buchstäblichen Kombinationen (Federprobe), die seinen Assoziationen entspringen. Der schriftgetreuen Abschrift im Dienst an der Transzendenz des Schriftsinns steht damit eine dezidiert den materiellen und gestischen Schreibakt zelebrierende Federprobe gegenüber, in deren Permutationen sich die im Schreiben ausgelöste Spontaneität der Assoziationen offenbart. Dass Gogol’ einst die Viererreihe aus O zu seinem Pseudonym erklärte, indem er permutativ die vier O aus seinem Namen herausgriff und sie zu einer eigenen Reihe erklärte, lässt sich ebenso in die Tradition von Permutation und Anagramm einordnen, die zur Praktik der Publikation unter Pseudonym hingeführt hat (zunächst bei den Alchemisten). Bereits François Rabelais veröffentlichte unter dem Pseudonym „Alcofribas Nasier“ den ersten Teil des Gargantua.572 Die Nutzung von Autoren-Pseudonymen nimmt also gerade mit der Technik des Anagramms ihren Anfang. Gogol’s O-Signatur

571 Vgl. hierzu die von Georg Witte betonte Differenz eines magischen Zeichenverständnisses (bei dem Buchstaben eine evokatorische und apotropöische Qualität zugeschrieben wird und Buchstabenordnungen als Reproduktion kosmischer Ordnungen angesehen werden) und eines Verständnisses geheiligter, auratischer Schrift (Buchstaben, Abececarien, die im mittelalterlichen Kontext auch einen direkten Gebetsbezug haben), die diese Qualität aus der Autorität eines Textes mit einem „extraordinären Wahrheitsanspruch“ bezieht. Witte: „Katalogkatastrophen“, S. 35 f. 572 Brunnschweiler: „Magie, Manie, Manier“, S. 36.

Gogol’s Kreise: Über Autorsignaturen und kalligraphische Ründe 

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weist in diesem Zusammenhang sowohl auf die religiös überhöhte Bedeutung von Permutation und Anagramm als auch auf die potentielle Aufgabe dieser im sich selbst entblößenden im Letternspiel hin. Vor diesem Hintergrund deutet auch das den Psalmenabschriften angehängte Blatt mit der Schreibübung in seinen O-Variationen und Schwüngen auf die Harmonie der kalligraphischen Ründe hin, die es zelebriert. Im Kontrast zur Bibelabschrift, in der die kalligraphische Harmonie die Autorität und heilige Bedeutung des Abgeschriebenen bezeugt, unterstreicht die Ründe des O im angehängten Blatt jedoch das Emanzipationspotential der Schrift von einer geheiligten oder festgeschriebenen Bedeutung und Zeichenordnung im Permutationsspiel. Sie kann damit als handschriftliche Verwandte der O-Reihe angesehen werden, mit der Gogol’ auf die Utopie eines Urzeichens der Offenbarung, und auf den Verlust der Bedeutung im in sich selbst präsenten Zeichen verweist: auf die ständige gegenseitige Inversion von Universalität und Nullität, mit der er sich als Autor identifiziert.

Schlussbemerkung: Die Defiguration der Schrift und ihre Modernität In dieser Studie wurden literarische Texte und verschiedene handschriftliche Zeugnisse von E. T. A. Hoffmann und Nikolaj Gogol’ untersucht, um eine in diesen jeweils entwickelte Schriftpoetik zu erweisen, die sich aus Motiven und Phänomenen der Defiguration der Schrift herauslesen lässt. Die Untersuchung zeigte in diesem Zusammenhang auftretende Konflikte, die sich aus einer bereits in der deutschen Frühromantik nachweisbaren, in sich durch Widersprüche geprägten Schriftreflexion ergeben. Einerseits entsteht eine utopische Vorstellung der Schrift als Ermöglichung der einenden Verbindung des Subjekts mit der Natur und damit mit dem Unendlichen über die Einbildungskraft. Die Schrift ist in dieser Vorstellung eine Figur, die diese Einheit in Aussicht stellt. In der Frühromantik entworfene Begriffe für dieses Verhältnis – neben der Figur wurden die Hieroglyphe und die Arabeske untersucht – betonen die Visualität einer solchen Schrift, die sowohl auf die Sinnlichkeit der Einbildungskraft als auch auf die offene und mysteriöse (Natur-)Form des Textes verweisen, die diese auslöst: Das Fragmentarische, in gewisser Hinsicht Unlesbare ist in sich Manifest einer essentiellen Präsenz des Unendlichen im Endlichen. Andererseits wird diese Utopie als Täuschung reflektiert: Mal humoristisch, mal warnend stellen die in dieser Studie untersuchten Texte und Zeugnisse ihre Endlichkeit und Arbitrarität, ihre banale materielle Stofflichkeit aus. Sie führen die Irrwege einer an ihr entzündeten selbsttätigen Einbildungskraft vor, die einen Selbstverlust oder eine Degradierung der gesuchten metaphysischen Bedeutung auf groteske Motive des Körperlichen und Sinnlichen hervorruft. Motive und Phänomene einer Defiguration der Schrift stellen einen Spiegel dieser gegenseitigen Abhängigkeit dar, die sich aus einem ständigen Wechsel aus Positivität und Negativität, aus Produktivität und Destruktivität konstituiert. Mit diesem Wechsel wird die Materialität von Schreiben und Schrift einerseits kritisch entblößt und erhält andererseits eine poetologische Relevanz. Diese Verarbeitung der (früh-)romantischen Schriftreflexion treibt deren Konflikt zwischen dem Verlust einer metaphysischen Weltsicht und dem Versuch ihrer künstlerischen Neudeutung und Aufrechterhaltung auf die Spitze. Die Schriftpoetiken Hoffmanns und Gogol’s stellen sich damit als Verarbeitung dessen dar, was Karl Heinz Bohrer als die sich in der Romantik niederschlagende „moderne Aporie zwischen Bedeutungssehnsucht und Bedeutungsleere“1 bezeichnet hat. Diese bestimmt Bohrer in dem romantischen Bewusstsein für das Punktuelle, das Subjektive, sowie

1 Bohrer, Karl Heinz: „Die Modernität der Romantik. Zur Tradition ihrer Verhinderung“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 42 (469) 1988, S. 179–198, hier S. 188. https://doi.org/10.1515/9783110705140-013

Schlussbemerkung: Die Defiguration der Schrift und ihre Modernität 

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in der Form des Fragments und deren projektivem Kreisschlag zum Kosmischen, Universellen, ­Totalen.2 In Hoffmanns Texten wird ein Schwanken zwischen ebendieser „Bedeutungssehnsucht und Bedeutungsleere“, die seine Texte in Motiven, Form und Verfahren thematisieren, stets aufrechterhalten. Während der eindeutige Versuch ihrer Einebnung nicht stattfindet, ist jedoch zugleich festzustellen, dass eine humoristische Auseinandersetzung mit der genannten Aporie im Werk zunimmt. Die (selbst-)ironischen Reflexionen über den Literaturmarkt in den Irrungen und Geheimnissen und über die ungestalte Menge der Literatur, die der Kater Murr collageartig und entstellend in seinen Text einarbeitet, sind als Auseinandersetzung mit einer drohenden „Bedeutungsleere“ weitaus deutlicher als in früheren Texten wie etwa dem Goldenen Topf. Dabei sind jedoch auch narrativ oder motivisch erzeugte Andeutungen von Harmonie und Universalität bis zuletzt nicht abwesend und geben einen weiterhin bestehenden Anschluss an eine metaphysische Universalitätssehnsucht zu erkennen. Indem Gogol’s späteres Werk seit den Vybrannye mesta iz perepiski s druz’jami ganz explizit von seiner Religiosität ausgeht, scheint eine „Bedeutungssehnsucht“ quittiert und eine drohende „Bedeutungsleere“ zu überwinden versucht werden: In den Begriff literarischen Schaffens tritt der Glaube an eine durch die Autorität der Religion gesicherte göttliche Wahrheit ein, die sich im dichterischen Text ausdrücke. Gogol’s Entwicklung mutet vor diesem Hintergrund als Resultat eines (wiederum scheiternden und sein Verstummen hervorbringenden) Kompensationsversuchs an. Die Anerkennung der Autonomie künstlerischen Schaffens, seiner Vieldeutigkeit und Offenheit, der gebrochenen Form, die diese Offenheit selbstreflexiv bestätigt, führt bei Gogol’ schließlich zum Versuch einer religiös autorisierten Sinnbestimmung des literarischen Textes und seiner Produktion. Damit reflektieren Erbauungsschrifttum und Liturgiebetrachtung bei Gogol’ gerade diese gesteigerte Potentialität des Ästhetischen jenseits autoritär gesicherter Wahrheiten, die Gogol’ zuvor in seinen Texten über seine Schriftpoetik verhandelte, und vor der er letztlich zurückschreckt. Eine solche Reduktionsbewegung der bereits durch die deutsche Frühromantik quittierten und widersprüchlich metaphysisch eingehegten Potentialität des Ästhetischen findet sich auch bei anderen Romantikern, nicht zuletzt bei Friedrich Schlegel. Die frühromantische Verbindung von mystisch-religiöser Erfahrung und Poesie erlangt bei ihm eine besondere Relevanz im Zusammenhang mit seiner Konversion zum Katholizismus und seiner sich in diesem Zuge herausbildenden Vorstellung eines „poetischen Katholizismus“.3 Diese Entwicklung zwischen 1800 und 1808 hat Schlegel selbst rückblickend als „Übergang zur Religion aus dem bloß Poetischen“ beschrieben.4

2 Vgl. zudem Bürger, Peter: Prosa der Moderne. Frankfurt a. M. 1988, S. 79. 3 Korngiebel, Johannes: „Katholizismus, Protestantismus“, in: Endres, Johannes (Hg.): Friedrich Schlegel Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2017, S. 313–316, hier S. 314. 4 KFSA VIII, CVIII. Zitiert nach Korngiebel: „Katholizismus, Protestantismus“, S. 313.

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 Schlussbemerkung: Die Defiguration der Schrift und ihre Modernität

Schlegels Wende zum Katholizismus, als dezidierte Wende zur Religion, strebt die Vorstellung eines „universellen Christentums“ an,5 das wiederbelebt werden solle. Auch das Poetische schließt Schlegel in den Bedeutungshorizont der katholischen Religion ein. Diese fülle für ihn, wie Johannes Kornbiegel meint, „eine Lücke, die die Neue Mythologie und das Bibel-Projekt hinterließen, durch die Orientierung an traditionellen Symbolsystemen“.6 Es scheint, dass eine in der Zeit des Athenäums und etwa speziell im Gespräch über die Poesie gepflegte, noch vage begrifflich auf die metaphysische Dimension der Dichtung anspielende Denkweise damit allmählich auf eine eindeutig an der katholisch-christlichen Religion orientierte Bedeutung hin verschoben wird. Ohne dass die wissenschaftliche Aufarbeitung dieser Wende an dieser Stelle genauer reflektiert werden kann, sei doch noch deren Bedeutung für Schlegels Entwicklung zum Konservatismus betont, die ihm Zeitgenossen sowohl in ästhetischer als auch politischer Hinsicht unterstellten, und die die heutige Forschung bestätigt.7 Ähnliche Fälle romantischer Schriftsteller, die sich im Spätwerk von der ironischspielerischen Schreibweise ihrer früheren Texte abwandten, kommen dabei in den Sinn: etwa Clemens Brentanos Wende zum Erbauungsschrifttum, das lange in der literaturwissenschaftlichen Forschung – ganz ähnlich wie in der Gogol’-Forschung8 – zu einer Teilung des Werks und einer Vernachlässigung der späten Schriften geführt hat.9 Vor diesem Hintergrund scheint auch Gogol’s Rückzug vom fiktionalen Schreiben und später überhaupt vom Publizieren aus der „modernen Aporie“ der Romantik motiviert zu sein.10 Die Defiguration der Schrift trifft in ihren verschiedenen Valenzen und Ausprägungen im literarischen Text und in handschriftlichen Zeugnissen bei Hoffmann und Gogol’ gerade in die genannte „moderne Aporie von Bedeutungssehnsucht und Bedeutungsleere“ hinein. Sie berührt damit den weiteren Rahmen der Frage nach der Modernität der Romantik,11 die sich an deren Umgang mit einer ersehnten oder

5 Ebd., S. 314. 6 Ebd. 7 Ebd., S. 315. 8 Frank, Susi K.: Der Diskurs des Erhabenen bei Gogol’ und die longinsche Tradition. München 1999, S. 13 ff. 9 Goślicka, Xenia: Die Kraft der Berührung. Eine Poetik der Auserwählung. Das Körperbild der Stigmatisation  – Clemens Brentanos Emmerick-Projekt  – Die Josephsromane Thomas Manns. Paderborn 2015, S. 181; vgl. Menke, Bettine: „Mund und Wunde: Zur grundlosen Begründung der Texte“, in: Dies./Vinken, Barbara: Stigmata: Poetiken der Körperinschrift. München 2004, S. 269–294, hier S. 279 ff. 10 Siehe zur Diskussion um die angenommene Modernität von Gogol’s Werk: Hansen-Löve: „Gøgøl. Poetik der Leer- und Nullstelle“, in: Wiener Slawistischer Almanach 39 (1997), S. 183 –303, hier S. 194; Mann, Jurij V.: Russkaja literatura XIX veka. Ėpocha romantizma. Moskva 2007, S. 498–500. 11 Siehe zur angenommenen Modernität von Hoffmanns Werk: Kremer, Detlef: „Grundzüge der Hoffmann-Forschung“, in: Ders. (Hg.): E. T. A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung. Berlin 2010, S. 593– 616, hier S. 614. Kremer bezieht diese bilanzierende Aussage über die neueren Forschungsmeinungen

Schlussbemerkung: Die Defiguration der Schrift und ihre Modernität 

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fallengelassenen metaphysischen Bedeutungssphäre entscheidet.12 Bei beiden hier untersuchten Autoren stellen Motive und Phänomene der Defiguration der Schrift sowohl „Bedeutungssehnsucht“ als auch „Bedeutungsleere“ aus und reflektieren damit das noch in der Frühromantik zu überkommen versuchte Dilemma zwischen Autonomie des Ästhetischen und metaphysischer Sehnsucht explizit innerhalb einer an der Aisthetik der Schriftmaterialität orientierten Poetik. Vorstellungen von Schrift als Mangel und von Schrift als Potential, ja der Schrift als Utopie einer Offenbarung des Unendlichen werden vor- und nacheinander, neben- und auch miteinander in Motiven und Phänomenen der Defiguration der Schrift gezeigt. Der komische Hinweis auf die Banalität des Endlich-Materiellen, der Ausdruck eines bedauernden Scheiterns sowie Reflexionsmomente einer sich aus der Materialität des Schreibakts konstituierenden Produktivität sind dabei wechselseitig aufeinander bezogen. Sie bilden die Valenzen einer Verhandlung der Selbsttätigkeit des Poetischen vor dem Horizont einer sich ständig entziehenden, aber doch ersehnten Universalität.

vor allem auf Kofman, Sarah: Schreiben wie eine Katze… Zu E. T. A. Hoffmanns „Lebens-Ansichten des Katers Murr“. Wien 1984; Momberger, Manfred: Sonne und Punsch. Die Dissemination des romantischen Kunstbegriffs bei E. T. A. Hoffmann. München 1986; Laußmann, Sabine: Das Gespräch der ­Zeichen. Studien zur Intertextualität im Werk E. T. A. Hoffmanns. München 1992; Liebrand, Claudia: Aporie des Kunstmythos. Die Texte E. T. A. Hoffmanns. Freiburg 1996; Kremer, Detlef: E. T. A. Hoffmann. Erzählungen und Romane. Berlin 1999, S. 212 ff.; Neymeyr, Barbara: Nachwort, in: E. T. A. Hoffmann: Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Stuttgart 2005, S. 63–92, S. 89. 12 Bohrer, Karl Heinz: „Die Modernität der Romantik. Zur Tradition ihrer Verhinderung“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 42 (469) 1988, S. 179–198, hier S. 180. Vgl. auch Bohrer, Karl Heinz: Die Kritik der Romantik: Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 1989. Siehe hierzu auch die These zum Beginn der modernen Literatur am Ende des achtzehnten Jahrhunderts aufgrund der Begründung ihrer Autonomie durch Karl Philipp Moritz, Kant und Schiller bei Borchmeyer, Dieter/Žmegač, Viktor: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Berlin 1994, S. 9–14, hier S. 10. Vgl. auch Žmegač, Viktor: Moderne/Modernität, in: Ders./Borchmeyer: Moderne Literatur in Grundbegriffen, S. 278–286, hier S. 282: Das „Moderne“, das die Romantik selbst als Begriff bereits eingeführt hat, wird bei Žmegač vor allem aufgrund des Gedankens ständiger Erneuerung, der mit der Autonomisierung der Kunst in der Romantik einhergeht, mit ihrer Modernität auch vor dem Hintergrund der heute rückblickend erfassten weiteren Entwicklung der Literatur seit der Romantik mit der Eigenschaft der Modernität identifiziert.

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374 

 Literatur

Hoffmann, E. T. A.: Brief an Friedrich Wilmans, 08. September 1821: urn:nbn:de:bvb:22dtl-0000027062 (Staatsbibliothek Bamberg, Sign: Autogr. H 76). Zuletzt eingesehen am 16.01.2018. Hoffmann, E. T. A.: Todesanzeige für den Kater Murr, zweite Fassung, an Julius Eduard Hitzig: urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000026862 (Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: Autogr. H 40). Zuletzt eingesehen am 17.01.2018. Hoffmann, E. T. A.: Todesanzeige für den Kater Murr, dritte Fassung, an Theodor Gottlieb von Hippel: urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027211 (Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/2). Zuletzt eingesehen am 17.01.2018. Hoffmann, E. T. A.: Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. 3 Bde. Berlin 1814–1822. München 1968–1969. Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe. Mit Einleitungen, Anmerkungen und Lesarten von Carl Georg von Maassen. Neunter und zehnter Band: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. München 1928. Hoffmann, E. T. A.: Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern. Mit Anhang und Nachwort hg. v. Hartmut Steinecke. Stuttgart 1972. Hoffmann, E. T. A.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Hg. v. Hartmut Steinecke u. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen u. Ursula Segebrecht. Frankfurt a. M. 1985–2004. Bd. 2/1. Fantasiestücke in Callot’s Manier. Werke 1814. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen u. Wulf Segebrecht. Frankfurt a. M. 1993. Die Abenteuer der Sylvester-Nacht, S. 325–359. Der goldene Topf. Ein Märchen aus der neuen Zeit, S. 229–321. Bd. 3. Nachtstücke. Klein Zaches. Prinzessin Brambilla. Werke 1816–1820. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen. Frankfurt a. M. 1985. Das öde Haus, S. 163–198. Bd. 4. Die Serapions-Brüder. Hg. v. Wulf Segebrecht unter Mitarbeit v. Ursula Segebrecht. Frankfurt a. M. 2001. Das fremde Kind, S. 570–616. Bd. 5. Lebens-Ansichten des Katers Murr. Werke 1820–1821. Hg. v. Hartmut Steinecke unter Mitarbeit v. Gerhard Allroggen. Frankfurt a. M. 1992. Lebens-Ansichten des Katers Murr nebst fragmentarischer Biographie des Kapellmeisters Johannes Kreisler in zufälligen Makulaturblättern, S. 9–458. Die Irrungen. Fragment aus dem Leben eines Fantasten, S. 461–508. Die Geheimnisse. Fortsetzung des Fragments aus dem Leben eines Fantasten: Die Irrungen, S. 509–568. Hoffmann, E. T. A.: Die Abentheuer der Sylvester-Nacht. Hg. v. Barbara Neymeyr. Stuttgart 2005. Hoffmann, E. T. A.: Ponert, Dietmar Jürgen: E. T. A. Hoffmann – Das bildkünstlerische Werk: ein kritisches Gesamtverzeichnis. Hg. v. der Staatsbibliothek Bamberg. Bd. 1. Text. Bd. 2. Abbildungen. Petersberg 2012. Hogarth, William: Zergliederung der Schönheit, die schwankenden Begriffe von dem Geschmack festzusetzen. The analysis of beauty, written with a view of fixing the fluctuating ideas of taste. Reprodr. Nachdr. der Ausg. Berlin [u. a.] 1754, Bristol 2001. Jean Paul: „Grönländische Prozesse“. Zweites Bändchen, in: Ders.: Sämtliche Werke. Im Auftr. der Preuß. Akademie der Wissenschaften begr. v. Eduard Berend. 1. Abt. Bd. 1.: Satirische Jugendwerke. Hg. v. Eduard Berend. Weimar 1927, S. 119–218. Jean Paul: „Siebenkäs“, in: Ders.: Werke. Hg. v. Norbert Miller. 11 Bde. Bd. 2. Siebenkäs. Flegeljahre. Hg. v. Gustav Lohmann. München 1959, 7–576.

Literatur 

 375

Kant, Immanuel: Gesammelte Schriften. Bd. 5. Kritik der praktischen Vernunft. Kritik der Urteilskraft. Hg. v. der Königl. Preuß. Akademie der Wissenschaften. Berlin u. a. 1962 [Nachdr. d. Neudr. 1912]. „Kritik der praktischen Vernunft“, S. 1–164. „Kritik der Urteilskraft“, S. 165–486. Kant, Immanuel: Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik [1766]. Unter Verwendung des Textes v. Karl Vorländer mit einer Einleitung hg. v. Klaus Reich. Hamburg 1975. Karamzin, Nikolaj Michailovič: „O knižnoj torgovle i ljubvi k čteniju v Rossii“, in: Ders.: Izbrannye sočinenija. 2 Bde. Bd. 2: Stichotvorenija. Kritika. Publicistika. Glavy iz istorii gosudarstva rossijskogo. Hg. v. B. Berkov u. G. Makogonenko. Moskva/Leningrad 1964, S. 176–180. Kohl, Johann Georg: Petersburg in Bildern und Skizzen. Zweiter Theil, Dresden/Leipzig 1846. Kušelev-Bezborodko, Graf G. A. (Hg.): Licej knjazja Bezborodko. Sanktpeterburg 1859. Lomonosov, Michail Vasil’evič: „Kratkoe rukovodstvo k krasnorečiju“, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. 11 Bde. Bd. 7. Trudy po filologii 1739–1758 gg. Hg. v. S. I. Vavilov. Moskva/Leningrad 1952, S. 89–378. Men’šikov, Dmitrij Alekseevič: „Voobraženie“, in: Ėnciklopedičeskij leksikon. Bd. 12. V tipografii A. Pljušara. Sanktpeterburg 1838. Morgenstern, Karl: Johannes Müller oder Plan im Leben nebst Plan im Lesen und von den Grenzen weiblicher Bildung. Drey Reden. Leipzig 1808. Moritz, Karl Philipp: Vorbegriffe zu einer Theorie der Ornamente. Berlin 1793. Müller, Wilhelm: Rezension zu E. T. A. Hoffmanns Die Geheimnisse, in: Literarisches ConversationsBlatt, 04.01.1822 (Nr. 3), S. 11. Novalis: Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. 4 Bde., e. Materialbd. u. e. Ergänzungsbd. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel unter Mitarbeit v. Heinz Ritter u. Gerhard Schulz. 2., nach den Hs. erg., erw. u. verb. Aufl. Stuttgart 1960 ff. Bd. 1. Das dichterische Werk. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Stuttgart 1960. Die Lehrlinge zu Saïs, S. 71–114. Heinrich von Ofterdingen, S. 135–334. Bd. 2. Das philosophische Werk I. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Stuttgart 1965 Dialogen, S. 655–671. Blüthenstaub, S. 417 f. (Nr. 16). Logologische Fragmente [2], S. 545 (Nr. 105). Bd. 3. Das philosophische Werk II. Hg. v. Paul Kluckhohn u. Richard Samuel. Stuttgart 1968. Das Allgemeine Brouillon. Materialien zur Enzyklopädistik, S. 256 (Nr. 87), S. 277 (Nr. 213), S. 387 (Nr. 647), S. 451 (Nr. 953), S. 463 (Nr. 1052), S. 464 (Nr. 1059), S. 469 (Nr. 1097). Die Christenheit oder Europa, S. 507–526. Fragmente und Studien 1799–1800, S. 685–686 (Nr. 671). Novalis: Novalis Werke. Hg. u. komm. v. Gerhard Kurz. München 1987. Odoevskij, Vladimir Fedorovič: Russkie noči, in: Ders.: Sočinenija. Vstup. st., sostavl., komment. V. I. Sacharova. 2 Bde. Bd. 1. Russkie noči. Stat’i. Moskva 1981, S. 55–66. Odoevskij, Vladimir Fedorovič: Skazka o mertvom tele, neizvestno komu prinadležaščem, in: Ders.: Sočinenija. Vstup. st., sostavl., komment. V. I. Sacharova. 2 Bde. Bd. 2. Povesti. Moskva 1981, S. 12–20. Ostaf’evskij archiv knjazej Vjazemskich. Bd. 3. Izdanie grafa S. D. Šeremeteva. Pod redakciej i s primečanijami V. I. Saitova. Sankt-Peterburg 1899. Ovid: Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In dt. Hexameter übertragen und mit dem Text herausgegeben von Erich Rösch. München 1961. Ovsjannikov, N. G.: Vospominanija starogo knigoprodavca, Sankt-Peterburg 1879.

376 

 Literatur

Paracelsus: „De generatione rerum naturalium“, in: Völker, Klaus (Hg.): Künstliche Menschen. Über Golems, Homunkuli, Androiden und lebende Statuen. Frankfurt a. M. 1994, S. 49–59. Platon: Der Staat. Platons Werke. Teil 3. Bd. 1. Hg. v. F. Schleiermacher. Berlin 1828. Platon: Sophistes, in: Platons Werke. Teil 2. Bd. 1. Hg. v. Friedrich Schleiermacher. Berlin 1857. Pletnev, Petr Aleksandrovič: Sočinenija i perepiska. Hg. v. Ja. Grot. Bd. 3. Sankt-Peterburg 1885. Plinius d. Ä.: C. Plinii Secundi: Naturalis historiae Libri XXXVII. Liber XXXV/C. Plinuius Secundus d. Ä. Naturkunde. Buch XXXV. Farben, Malerei, Plastik. Lat.-dt. Hg. u. übers. v. Roderich König. 3. Aufl. Düsseldorf 2007, XLIII 151. Polevoj, Nikolaj Alekseevič: A. Feokritov s tovariščami: Poėtičeskaja čepucha, ili Otryvki iz novogo al’manacha Literaturnoe zerkalo. Ot izdatelej, in: Morozov (Hg.): Russkaja stichotvornaja parodija (XIII – načalo XX veka), S. 322–349. Pseudo-Dionysius: The Complete Works. Transl. by Colm Luibheid. Mahwah, New Jersey 1987. Puškin, Aleksandr Sergeevič: „Novyja knigi“ in: Sovremennik, literaturnyj žurnal, izdavaemyj A. Puškinym, Bd. 1. Sanktpeterburg 1836, S. 296–318. Puškin, Aleksandr Sergeevič: „Razgovor knigoprodavca s poėtom“ („Stiški dlja vas odna zabavna“), in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. Maksim Gor’kij et al. Bd. 2.1: Stichotvorenija 1817–1825. Licejskie stichotvorenija v pozdnejšich redakcijach. Hg. v. M. A. Cjavlovskij. Leningrad 1947, S. 324–330. Puškin, Aleksandr Sergeevič: Povesti pokojnogo Ivana Petroviča Belkina, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. Maksim Gor’kij et al. 14 Bde. Bd. 8.1. Romany i povesti, putešestvija. Hg. v. S. M. Bondi, V. V. Vinogradov et al. Leningrad 1948, S. 57–130. Puškin, Aleksandr Sergeevič: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. Maksim Gor’kij et al. 14 Bde. Bd. 14. Perepiska 1828–1831. Hg. v. L. L. Domger. Leningrad 1941. Quintilian: M. Fabii Quintiliani: Institutionis Oratoriae. Libri XII. Pars prior./Marcus Fabius Quintilian: Ausbildung des Redners. Hg. u. übers. von Helmut Rahn. Erster Teil. Darmstadt 1988. Rosenkranz, Karl: Ästhetik des Häßlichen. Hg. und mit einem Nachwort versehen von Dieter Kliche. Stuttgart 2007. Rovinskij, D. [Rovinskij, Dmitrij Aleksandrovič]: Russkija narodnyja kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Bd. 1. Skazki i zabavnye listi. Sanktpeterburg 1881. Šalikov, K.: Dopolnenie k istorii našej knižnoj torgovli, in: Vestnik Evropy, Nr. 4 (1815), S. 303–307. Schiller, Friedrich: Schillers Werke. Nationalausgabe. Begr. v. Julius Petersen, fortgef. v. Lieselotte Blumenthal u. Benno v. Wiese. Hg. im Auftr. der Stiftung Weimarer Klassik u. des SchillerNationalmuseums Marbach v. Norbert Oellers. Weimar 1943 ff. Bd. 3. Die Räuber. Hg. v. Herbert Stubenrauch. Weimar 1953. Die Räuber, S. 1–136. Bd. 6. Don Karlos. Hg. v. Paul Böckmann. Weimar 1973. Bd. 20. Philosophische Schriften, Teil 1. Unter Mitw. v. Herlmut Koopmann hg. v. Benno v. Wiese. Weimar 1962. Über das Pathetische, S. 196–222. Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, S. 309–412. Bd. 21. Philosophische Schriften, Teil 2. Unter Mitw. v. Helmut Koopmann hg. v. Benno von Wiese. Weimar 1963. Fragmente aus Schillers ästhetischen Vorlesungen, S. 66–88. Schiller, Friedrich: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Bd. 8: Theoretische Schriften. Hg. v. Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt a. M. 1992. Schlegel, August Wilhelm: Vorlesungen über Ästhetik [1798–1802]. Bd. 1. Hg. v. Ernst Behler. Paderborn u. a. 1989.

Literatur 

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Schlegel, Friedrich: Literary Notebooks 1797–1801. Hg., eingeleitet u. komm. v. Hans Eichner. Fragmente I. London 1957. Schlegel, Friedrich: Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe. Hg. v. Ernst Behler unter Mitwirkung von Jean-Jacques Anstett und Hans Eichner. München u. a. 1958 ff. Bd. 1 (1. Abt.). Studien des klassischen Altertums. Eingeleitet u. hg. v. Ernst Behler. München u. a. 1979. Über das Studium der griechischen Poesie, S. 217–367. Bd. 2 (1. Abt.). Charakteristiken und Kritiken I (1796–1801). Eingeleitet u. hg. v. Hans Eichner. München u. a. 1967. Athenäums-Fragmente, S. 172 (Nr. 51), S. 182 f. (Nr. 116). Gespräch über die Poesie, S. 285–351. Bd. 8 (1. Abt.). Studien zur Philosophie und Theologie. Eingeleitet u. hg. v. Ernst Behler u. Ursula Struc-Oppenberg. München u. a. 1975. Über die Sprache und Weisheit der Indier, S. 105–433. Bd. 18 (2. Abt.). Schriften aus dem Nachlaß: Philosophische Lehrjahre, 1796–1806 nebst philosophischen Manuskripten aus den Jahren 1796–1828, 1. Hg. v. Ernst Behler. München u. a. 1963. Philosophische Fragmente. Erste Epoche. III, S. 128 (Nr. 76). Philosophische Fragmente. Zweyte Epoche. II, S. 344 (Nr. 274). Schubert, Gotthilf Heinrich von: Ahndungen einer allgemeinen Geschichte des Lebens. Leipzig 1806. Senkovskij, Osip Julian Ivanovič, in: Biblioteka dlja čtenija. Bd. 9. Buch 3. Abt. 6, S. 8–10 (Rezension zu Gogol’s Arabeski). Ševyrev, Stepan Petrovič: „Slovesnost’ i torglovlja“, in: Moskovskij nabljudatel’. Žurnal ėnciklopedičeskij, Nr. 1 (1835) Teil 1, S. 1–29. Shaftesbury, Anthony Earl of: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Hg. v. J. M. Robertson. Bd. 2. London 1900. Snegirev, Ivan Michailovič: „O prostonarodnych izobraženijach“, in: Sočinenija v proze i stichach. Trudy obščestva ljubitelej rossijskoj slovesnosti. Teil 4. Moskva 1824, S. 119–148. Snegirev, Ivan Michailovič: O lubočnych kartinach russkogo naroda. Moskva 1844. Snegirev, Ivan Michailovič: Lubočnyja kartinki russkago naroda v moskovskom mire. Moskva 1861. Sopikov, Vasilij Stepanovič: Opyt rossijskoj bibliografii. Hg. v. V. N. Rogožin. London 1962 (SanktPeterburg 1814). Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Ed. with an Intr. and Notes by Ian Campbell Ross. Oxford 2009. Storch, Andrej Karlovič/Adelung, A.: Sistematičeskoe obozrenie literatury, vyšedšej v Rossii v tečenie pjatiletija, s 1801 po 1805 god. 2 Teile. Sanktpeterburg 1810–1811. Strachov, Nikolaj: Moi peterburgskie sumerki. Teil 2. Sankt-Peterburg 1810. Tieck, Ludwig: Schriften. Bd. 6: Phantasus. Hg. v. Manfred Frank. Frankfurt a. M. 1985. Welp, Treumund: Petersburger Skizzen. Dritter Theil. Leipzig 1842. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 19. Halle/Leipzig 1739. Zedler, Johann Heinrich: Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, welche bishero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden. Bd. 47. Halle/Leipzig 1744. Zimmermann, Johann Georg: Ueber die Einsamkeit. Bd. 4. Leipzig 1785.

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 Literatur

Unaufgelöste Anonyma

Leben, Thaten und Meinungen des Vetter Hans Dampfs: eine komische Geschichte wider das Todtschiessen und Todtärgern, auch zugleich Hochzeit-, Braut- und Neujahrs-Geschenk für lustige Leute, Spassvögel, Buch- und Tauschhändler, Gewürz- und Makulatur-Krämer, mit Holzschnitten, Zeichnungen und Musik. 1804. Rezension zu E. T. A. Hoffmanns Die Irrungen, in: Literarisches Conversations-Blatt, 12.12.1821 (Nr. 285), S. 1137. „Über den Unterschied des leeren und bedruckten Papiers, und von dem Nutzen des letztern“/ „Makulatur“, in: Hesperus: enzyclopädische Zeitung für gebildete Leser Nr. 51 (1812), S. 407–408. (Nachdruck aus: Makulatur oder Zeitschrift für Narren Nr. 1 (1811)). Zustand der Literatur. „Korrespondenznachrichten St. Petersburg, Januar“, in: Morgenblatt für gebildete Leser 32 (1838), S. 188.

Weitere Literatur Ajzenštok, I. Ja.: „Kommentarii: ‚Kniga vsjakoj vsjačiny‘“, in: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. N. L. Meščerjakov et al. 14 Bde. Bd. 9. Nabroski, konspekty, plany, zapisnye knižki. Hg. v. G. M. Fridlender et al. Moskva 1952, S. 653–657. Althaus, Thomas: „Romantischer Philistrismus. Die Notwendigkeit des Gewöhnlichen in Hoffmanns Texten“, in: E. T. A. Hoffmann Jahrbuch 16 (2008), S. 53–69. Amann, Wilhelm: „Die stille Arbeit des Geschmacks“. Die Kategorie des Geschmacks in der Ästhetik Schillers und in den Debatten der Aufklärung. Würzburg 1999. Assmann, Aleida: „Die Domestikation des Lesens. Drei historische Beispiele“, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 57/58 (1985), S. 95–111. Assmann, Aleida/Gomille, Monika/Rippl, Gabriele (Hg.): Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Tübingen 1998. Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses. München 1999. Auerbach, Erich: Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur. Berlin 1959. Auerbach, Erich: „figura“, in: Ders.: Gesammelte Aufsätze zur romanischen Philologie. Bern 1967, S. 55–92. Austin, John Langshaw: How to do things with words. Oxford 1962. Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1971. Bachtin, Michail M.: „Rabelais und Gogol’. Die Wortkunst und die Lachkultur des Volkes“, in: Ders.: Die Ästhetik des Wortes. Hg. von Rainer Grübel. Frankfurt a. M. 1979, S. 338–348. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur. Aus dem Russ. v. Gabriele Leupold. Hg. u. mit einem Vorwort versehen v. Renate Lachmann. Frankfurt a. M. 1987. Bär, Jochen: Sprachreflexion der deutschen Frühromantik: Konzepte zwischen Universalpoesie und Grammatischem Kosmopolitismus. Berlin/New York 1999. Bark, Irene: Steine in Potenzen. Konstruktive Rezeption der Mineralogie bei Novalis. Tübingen 1999. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“. Aus dem Französischen von Matías Martínez, in: Wirth, Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M. 2002, S. 104–110. Barthes, Roland: Variations sur l’écriture/Variationen über die Schrift. Französisch – Deutsch. Übers. v. Hanns-Horst Henschen. Mit einem Nachwort v. Hanns-Josef Ortheil. Mainz 2006. Baudelaire, Charles: [„De l’essence du rire“ (1855)]. „Vom Wesen des Lachens und allgemein von dem Komischen in der Bildenden Kunst“, in: Ders.: Sämtliche Werke/Briefe in acht Bänden.

Literatur 

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Bd. 1: Juvenilia – Kunstkritik 1832–1846. Hg. von Friedhelm Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost. München 1977, S. 284–305. Bauer, Matthias: Der Schelmenroman. Stuttgart/Weimar 1994. Bayer, Dorothee: Der triviale Familien- und Liebesroman im 20. Jahrhundert. Zweite, erw. Aufl. Tübingen 1971. Beardsley, Christa-Maria: E. T. A. Hoffmanns Tierfiguren im Kontext der Romantik. Bonn 1985. Bedenk, Jochen: Verwicklungen. William Hogarth und die deutsche Literatur des 18. Jahrhunderts (Lessing, Herder, Schiller, Jean Paul). Würzburg 2004. Behler, Ernst: „Friedrich Schlegels Theorie der Universalpoesie“, in: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft. Jg. 1 (1957), S. 211–252. Behler, Ernst: „Friedrich Schlegels Theorie des Verstehens. Hermeneutik oder Dekonstruktion?“, in: Ders./Hörisch, Jochen (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. München 1987, S. 141–160. Behler, Ernst/Hörisch, Jochen (Hg.): Die Aktualität der Frühromantik. München 1987. Behler, Ernst: Frühromantik. Berlin/New York 1992. Behler, Ernst: „Das Fragment der Frühromantik“, in: Ders.: Studien zur Romantik und zur idealistischen Philosophie. Band 2. Paderborn, München u. a. 1993, S. 27–42. Belyj, Andrej: Masterstvo Gogolja. Moskva/Leningrad 1934. Belyj, Andrej: Masterstvo Gogolja. München 1969 (Moskau 1934). Benjamin, Walter: „Das Paris des Second Empire bei Baudelaire“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 1.2. Unter Mitw. v. Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem hg. v. Rolf Tiedemann und Herrmann Schwepphäuser. Frankfurt a. M. 1978, S. 511–604. Benne, Christian: Die Erfindung des Manuskripts. Zur Theorie und Geschichte literarischer Gegenständlichkeit. Berlin 2016. Berndl, Homer: Semantik der Verdunkelung. Die Ambivalenzen des „Schatten“-Motivs und ihre Tradition in der Literatur der frühen Moderne. Würzburg 2016. Berthold, Christian: Fiktion und Vieldeutigkeit, Zur Entstehung moderner Kulturtechniken des Lesens im 18. Jahrhundert. Tübingen 1993. Blumenberg, Hans: „Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Begriffsbildung“, in: Studium Generale. H.1, 10. Jg. (1957), S. 432–446. Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt. Frankfurt a. M. 1981. Bočarov, S. G./Derjugina, L. G.: „Kommentarii: Arabeski“, in: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Polnoe sobranie sočinenij i pisem. 23 Bde. Hg. v. Ju. V. Mann et al. Bd. 3. Arabeski. Raznye sočinenija N. Gogolja. Hg. v. S. G. Bočarov, S. 501–898. Bogdanov, Konstantin A.: Iz istorii kljaks: Filologičeskie nabljudenija. Moskva 2012. Böhme, Harmut: „‚Kein wahrer Prophet‘. Das Zeichen und das Nicht-Menschliche in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften“, in: Greve, Gisela (Hg.): Goethe. Die Wahlverwandtschaften. Tübingen 1999, S. 97–125. Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006. Bohrer, Karl Heinz: „Die Modernität der Romantik. Zur Tradition ihrer Verhinderung“, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 42 (469) 1988, S. 179–198. Bohrer, Karl Heinz: Die Kritik der Romantik: Der Verdacht der Philosophie gegen die literarische Moderne. Frankfurt a. M. 1989. Bolz, Norbert W.: „Der Geist und die Buchstaben. Friedrich Schlegels hermeneutische Postulate“, in: Nassen, Ulrich: Texthermeneutik. Aktualität, Geschichte, Kritik. Paderborn u. a. 1979, S. 79–112. Bonnefoy, Ives: „Melancholie, Wahnsinn, Genie, Poesie“, in: Clair, Jean (Hg.): Melancholie. Genie und Wahnsinn in der Kunst. Berlin 2006, S. 14–24. Borchmeyer, Dieter/Žmegač, Viktor: Vorwort, in: Dies. (Hg.): Moderne Literatur in Grundbegriffen. Berlin 1994, S. 9–14.

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 Literatur

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Abbildungsverzeichnis I Abb. 1:

Herders „Erste Hieroglyphe“: Herder, Johann Gottfried: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Erster Band, welcher den ersten, zweiten und dritten Theil enthält. Riga 1774, S. 171. (I, Kap. 2.2.) Abb. 2: Tafel zu der Philister-Abhandlung, in: Brentano, Clemens: Werke. Bd. 2. Hg. v. Wolfgang Frühwald u. Friedhelm Kemp. Darmstadt 1963, Abb. 4. (I, Kap. 3.2.)

II Abb. 3: Die unendliche Dunkelheit, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. Faksimile-Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 58 [S. 26]. (II, Kap. 2.1.) Abb. 4: „Hic forma lucida in hylae abyssi“, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. FaksimileEdition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 61 [S. 29]. (II, Kap. 2.1.) Abb. 5: „Quod universa coelorum tam spiritualis, quam corporalium substantia fit aut elementum aut ex elementis compositum“, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. FaksimileEdition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 69 [S. 37]. (II, Kap. 2.1.) Abb. 6: „Chaos seu materia confusa & indigesta moles, in qua omnia, puta, quatuor elementa erant confusa et commixta“, in: Fludd, Robert: Utriusque Cosmi Historia. Faksimile-Edition der Ausgabe Oppenheim/Frankfurt. Hg. u. mit ausführlichen Einleitungen versehen v. Wilhelm Schmidt-Biggemann. Bd. 1. Stuttgart/Bad Cannstatt 2018 [Oppenheim 1617], S. 73 [S. 41]. (II, Kap. 2.1.) Abb. 7: Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Vol. 1. Fourth Ed. London 1760, S. 73. (https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=gri.ark:/13960/ t92873p3z&view=1up&seq=87, zuletzt abgerufen am 09.04.2020. Public Domain.) (II, Kap. 2.1.) Abb. 8: Sterne, Laurence: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Vol. 3. Fourth Edition. Printed for J. Dodsley. London 1761, S. 169. (https://babel.hathitrust.org/cgi/ pt?id=gri.ark:/13960/t18m4324b&view=1up&seq=173, zuletzt abgerufen am 09.04.2020. Public Domain.) (II, Kap. 2.1.) Abb. 9: Hoffmanns „Kunzischer Riß“, in: https://etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/lebenund-werk/orte/berlin/kunzscher-riss/. Zuletzt abgerufen am 15.04.2020. Dort zitiert nach: E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Herausgegeben von Friedrich Schnapp. 2. Band, Berlin 1814–1822, München 1968. Abb. 10: Schlemihl, Erasmus Spikher und „ein Kleks“ in Hoffmanns „Kunzischem Riss“, in: https:// etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/leben-und-werk/orte/berlin/kunzscher-riss/. https://doi.org/10.1515/9783110705140-016

396 

Abb. 11:

Abb. 12:

Abb. 13:

Abb. 14:

Abb. 15:

Abb. 16:

Abb. 17:

 Abbildungsverzeichnis

Zuletzt abgerufen am 19. 11. 2018. Dort zitiert nach: E. T. A. Hoffmanns Briefwechsel. Gesammelt und erläutert von Hans von Müller und Friedrich Schnapp. Herausgegeben von Friedrich Schnapp. 2. Band, Berlin 1814–1822, München 1968. (II, Kap. 2.2.) E. T. A. Hoffmann: Todesanzeige für den Kater Murr (dritte Fassung, Original); http://www. nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027211; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/2. (II, Kap. 3.2.) E. T. A. Hoffmann: Quartblatt mit den Schriftzügen des Katers Murr; http://www. nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027202; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/1. (II, Kap. 3.2.) E. T. A. Hoffmann: Quartblatt mit den Schriftzügen Murrs (Rückseite), http://www. nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027202; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: EvS.G H 4/1. (II, Kap. 3.2.) Widmung E. T. A. Hoffmanns für Heinrich Meyer, http://www.nbn-resolving.de/ urn:nbn:de:bvb:22-dtl-0000027502; zuletzt abgerufen am 16.01.2018. Staatsbibliothek Bamberg, Sign.: Sel.229-c(1#enthalten der Verfasser; [Adressat:] Herrn Doctor H. Meier) (II, Kap. 3.2.) Einbandillustrationen zu Band 1 der „Lebens-Ansichten des Katers Murr“, Berlin 1820. Aquatinta-Radierungen von Carl Friedrich Thiele nach Vorlagen von E. T. A. Hoffmann. Staats­bibliothek Bamberg, Sign. (Sel.229(1). (II, Kap. 3.5.) Einbandillustrationen zu Band 2 der „Lebens-Ansichten des Katers Murr“, Berlin 1822. Aquatinta-Radierungen von Carl Friedrich Thiele nach Vorlagen von E. T. A. Hoffmann. Staats­bibliothek Bamberg, Sign. (Sel.229(2). (II, Kap. 3.5.) Einbandillustration zu „Meister Floh“, Frankfurt 1822 (Rückseite). Aquatinta-Radierung von Carl Friedrich Thiele nach Vorlage von E. T. A. Hoffmann, Staatsbibliothek Bamberg, Sign. (Sel.240). (II, Kap. 3.5.)  





III OR IRLI РАН = Otdel rukopisej (Handschriftenabteilung). Institut russkoj literatury (Puškinskij Dom) Rossijskoj akademii nauk (Russisches Literaturinstitut [Puschkin-Haus] der Russischen Akademie der Wissenschaften). OR RGB = Otdel rukopisej (Handschriftenabteilung). Rossijskaja gosudarstvennaja biblioteka (Russische Staatsbibliothek). OR RNB = Otdel rukopisej (Handschriftenabteilung). Rossijskaja nacional'naja biblioteka (Russische Nationalbibliothek). Abb. 18: Nikolaj V. Gogol’: Poslednie slova; OR RGB F. 74. K. 6. Ed. chr. 10. (III, Kap. 1.) Abb. 19: Pis’mo k Belinskomu, Vissarionu Grigor’eviču (1847 konec ijulja – načalo avgusta, Ostende) (Brief an Vissarion Grigor’evič Belinskij (Ende Juli – Anfang August 1847, Ostende), OR RGB F. 74. K. 7. Ed. chr. 1, S. 7ob. (III, Kap. 1.) Abb. 20: Sochranivšiesja časti razorvannogo lista s tekstom iz tret’ej glavy vtorogo toma „Mertvych duš“ („Erhaltene Teile eines zerrissenen Blattes mit dem Text aus dem dritten Teil des zweiten Bandes der ‚Toten Seelen‘“). RGB, in: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Mertvye duši II. Polnoe sobranie sočinenij. Hg. v. N. L. Meščerjakov et al. Moskva-Leningrad 1937–1952, Bd. 7. Hg. v. N. I. Mordovčenko et al. Leningrad 1951, Abb. S. 272. (III, Kap. 1.)

Abbildungsverzeichnis 

 397

Abb. 21: „Šut Gonos“, in: Rovinskij, D.: Russkija narodnyja kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Atlas. Bd. 1 (2). Sanktpeterburg 1881, Nr. 204 b. RGB. (III, Kap. 2.4.) Abb. 22: Prevraščajuščijasja golovy, in: Rovinskij, D.: Russkija narodnyja kartinki. Sobral i opisal D. Rovinskij. Atlas. T. 1 (2). Sanktpeterburg 1881; Nr. 284. RGB. (III, Kap. 2.4.) Abb. 23: Gogol’, Nikolaj Vasil’evič: Zapiski sumasšedšego, in: Ders.: Arabeski. Raznyja sočinenija N. Gogolja Teil 1. Sankt-Peterburg 1835, S. 230–276, hier S. 275. RGB. (III, Kap. 3.4.) Abb. 24: N. V. Gogol’: Risunok obložki „Nosa“, podarennyj Gogolem Ščepkinu (Zeichnung des Umschlags von „Nos“, wurde von Gogol’ Ščepkin geschenkt). OR IRLI RAN. F. 652. Оp. 1. Еd. chr. 66, S. 1. (III, Kap. 3.4.) Abb. 25: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch). 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 1. (III, Kap. 4.2.) Abb. 26: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch). 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 7. (III, Kap. 4.2.) Abb. 27: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 20. (III, Kap. 4.2.) Abb. 28: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1. l90–191. (III, Kap. 4.2.) Abb. 29: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 8. Abb. 30: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 8 ob. (III, Kap. 4.2.) Abb. 31: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 16. (III, Kap. 4.2.) Abb. 32: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 16ob. (III, Kap. 4.2.) Abb. 33: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 146. (III, Kap. 4.2.) Abb. 34: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 203. (III, Kap. 4.2.) Abb. 35: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 203 ob. (III, Kap. 4.2.) Abb. 36: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 139. (III, Kap. 4.2.) Abb. 37: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 89. (III, Kap. 4.2.)

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 Abbildungsverzeichnis

Abb. 38: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 236. (III, Kap. 4.2.) Abb. 39: N. V. Gogol’: Kniga vsjakoj vsjačiny, ili područnaja ėnciklopedija. Zapisnaja kniga (Buch des Allerleis, oder Handenzyklopädie. Notizbuch) 1826–1832. OR RGB F. 74. K. 5. Ed. chr. 1, l. 194. (III, Kap. 4.2.) Abb. 40: N. V. Gogol’: Materialy zanjatij inostrannymi jazykami. Vypisannye grečeskie slova i oboroty s perevodom na russkij, latinskij i ital’janskij jazyki (Übungsmaterialien fremder Sprachen. Eingetragene griechische Worte und Wendungen mit Übersetzung in die russische, lateinische und die italienische Sprache). 1845–1849. OR RGB F. 74. K.4. Ed.chr. 60. (III, Kap. 5.1.) Abb. 41: N. V. Gogol’: Materialy zanjatij inostrannymi jazykami (Übungsmaterialien fremder Sprachen). Dialogus cum bibliopola. 1845–1849. OR RGB 74. K. 4. Ed.chr. 64. (III, Kap. 5.1.) Abb. 42: N. V. Gogol’: Zapisnaja Kniga (Notizbuch) 1836–1842. OR RNB. F. 199. Op. 1. Ed. chr. 4, l. 75. (III, Kap. 5.1.) Abb. 43: N. V. Gogol’: Zapisnaja Kniga (Notizbuch) 1836–1842. OR RNB. F. 199. Op. 1. Ed. chr. 4, l. 75. (III, Kap. 5.1.) Abb. 44: N. V. Gogol’: Pravila o soderžanii domašnjago kota (Regeln zum Halten der Hauskatze). Zapisnaja Kniga (Notizbuch) 1826–1835. OR RGB 74. K.6. Ed. chr. 1. l. 21. (III, Kap. 5.1.) Abb. 45: N. V. Gogol’: Vypiski iz Biblii. – Psaltyr’ (psalmy 1–11). (Abschriften aus der Bibel. – Psalter (Psalmen 1–11). 1848–1851. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. chr. 44, l. 1–2. (III, Kap. 5.1.) Abb. 46: VRazmyšlenija o božestvennoj liturgii. Zaključenie. (Betrachtungen über die göttliche Liturgie. Schluss). 1848–1841. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. Chr. 32. (III, Kap. 5.1.) Abb. 47: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite). (III, Kap. 5.1.) Abb. 48: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite); Ausschnitt 1, vergrößert. (III, Kap. 5.1.) Abb. 49: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Vorderseite); Ausschnitt 2, vergrößert. (III, Kap. 5.1.) Abb. 50: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Rückseite, l. 22a); Ausschnitt, vergrößert. (III, Kap. 5.1.) Abb. 51: N. V. Gogol’: Mertvye duši, č. II. Gl. zalkjučitel’naja. 1844–1845, 1849–1850. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 38, l. 22 (Rückseite, l. 22a). (III, Kap. 5.1.) Abb. 52: N. V. Gogol’: Žizn’ – očerk. Pervonačal’nyj nabrosok (Leben – Skizze. Allererster Entwurf). 1834. OR RGB F. 74. K. 1. Ed. chr. 10. (III, Kap. 5.1.) Abb. 53: N. V. Gogol’: Vypiski iz Biblii. – Psaltyr’ (psalmy 1–11). (Abschriften aus der Bibel. – Psalter (Psalmen 1–11). 1848–1851. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. chr. 44, l. 28. (III, Kap. 5.1.) Abb. 54: N. V. Gogol’: Vypiski iz Biblii. – Psaltyr’ (psalmy 1–11). (Abschriften aus der Bibel. – Psalter (Psalmen 1–11). 1848–1851. OR RGB F. 74. K. 4. Ed. chr. 44, l. 24 ob. (III, Kap. 5.3.)

Register A Apophatik/apophatisch 72, 184, 241, 273, 294, 322, 328 Aristoteles 117 B Batjuškov, Konstantin Nikolaevič 191 Baudelaire, Charles 50, 81 Baumgarten, Alexander G. 26, 65, 117 Belinskij, Vissarion Grigor’evič 197–199, 203–205, 209, 217–219, 251 Bibliomanie 46, 47, 187, 188, 190, 191, 305 Bibliophilie/bibliophil 3, 187–189, 195, 210 Bibliotaph 189, 190, 299, 305, 306 Brentano, Clemens 3, 58, 59, 61, 72, 74, 91, 107, 158, 364 C Cervantes, Miguel de 52, 140, 158, 249, 254 Chamisso, Adelbert von 109–112, 114, 115, 117 D Diderot, Denis 38, 39, 42, 52, 295 E Einbildungskraft/Imagination 6, 12–14, 16, 17, 22, 23, 25, 27, 28, 37, 43, 62, 79, 80, 83, 84, 88–90, 96, 105, 107, 108, 114, 121, 123–129, 142, 168, 178, 185, 217, 218, 233, 236, 242–247, 255, 265, 268, 269, 280, 308, 311, 313, 314, 334, 350, 359, 362 F Fantasie 13, 30, 31, 33, 39, 40, 41, 43, 45, 46, 50, 64–66, 79, 96, 117, 124, 135, 145, 161, 246, 250, 283, 303, 311, 332, 354 Fichte, Johann Gottlieb 13, 23, 26, 55, 77, 112, 297, 353 Fludd, Robert 98–100, 102, 104, 105 Fragment/ fragmentarisch 11, 23, 50, 97, 104, 129, 134, 138, 140, 141, 154, 159, 174, 180, 201, 203, 204, 226, 228, 230, 234–237,

https://doi.org/10.1515/9783110705140-017

239, 241, 245, 246, 248, 249, 273, 275, 276, 329, 334, 347, 352, 353, 362 G Goethe, Johann Wolfgang von 38, 44, 64, 126, 136, 237 Groteske 12, 33, 39, 41, 52, 85, 270 Groteskes/grotesk 57, 81, 96, 125, 127, 184, 213, 230, 236, 259, 263, 265, 266, 268, 269, 270, 271, 278, 362 H Hamann, Johann Georg 29, 136 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 32, 33 Heine, Heinrich 128, 254 Herder, Johann Gottfried 29, 32, 34, 40, 160, 238, 239 Hogarth, William 88 hýlē 65, 95, 117 I Ironie 4, 24, 26, 45, 52, 53, 57, 104, 128, 129, 163– 168, 191, 254, 255, 274, 283, 331, 353 J Jean Paul 41, 42, 50–52, 126, 136, 296 K Kant, Immanuel 13, 23, 26, 27, 55, 62, 365 Karamzin, Nikolaj Michailovič 8, 13, 186, 197 Karneval/karnevalesk 54–58, 61, 81, 147, 151, 158, 159, 166–169, 184, 212, 213, 215 L Lavater, Johann Caspar 112, 154 Liminal/Liminalität 6, 10, 11, 84, 141, 142, 146, 147, 151 Lomonosov, Michail Vasil’evič 197, 260, 359 M Melancholie 125–127, 129, 130, 280 Moritz, Karl Philipp 38–40, 85, 136, 365 N Novalis 9, 14, 21, 22, 26, 32, 34, 40, 46, 47, 56, 77, 78, 83, 89, 205, 296, 297, 315

400 

 Register

O Odoevskij, Vladimir Fedorovič 178, 198, 199, 348 Ovid 112 P Platon 31, 112, 116, 117, 195, 295 Pletnev, Petr Aleksandrovič 192, 272 Plinius d. Ä. 113, 117, 118 Poiesis 21, 27, 83, 88, 96, 97, 121, 123, 125, 127, 129–131, 140, 245, 335 Polevoj, Nikolaj Alekseevič 236 pošlost’ 250, 345, 354 Pseudonym 201, 348, 349, 360 Puškin, Aleksandr Sergeevič 3, 74, 191–193, 197–199, 203, 206, 219, 221, 224, 226, 238, 251, 260, 329 Q Quintilian 295 R Rousseau, Jean-Jacques 136 Rovinskij, Dmitrij Aleksandrovič 207–211, 215 S Schelmenroman 43, 54, 55, 57, 58, 158, 167, 279 Schiller, Friedrich 44, 63, 237, 249, 253, 365 Schlegel, August Wilhelm 27, 32, 205 Schlegel, Friedrich 4, 9, 13, 15, 22, 24, 26, 27, 30–40, 42, 43, 46, 47, 50, 52, 53, 59, 62, 64–66, 77, 84, 96, 97, 104, 114, 140, 204–206, 224, 225, 246, 255, 283, 296, 297, 353, 363, 364

Schreibgeste 6, 81, 142, 147, 156, 157, 159, 328, 335 Schreibszene/Schreib-Szene 7, 79, 83, 90, 133, 168, 303, 327 Schriftkritik/Schriftskepsis 2, 15, 31, 32, 72, 235 Selbsttätigkeit 6, 13, 16, 96, 118, 119, 178, 183, 245–247, 255, 272, 276, 283, 314, 334, 365 Senkovskij, Osip Julian Ivanovič 200, 201, 203, 221, 227 Ševyrev, Stepan Petrovič 179, 193, 194–199, 204, 205, 209, 242 Shakespeare, William 136, 140 Signatur 150, 153, 154, 347, 348, 352, 360 skaz 183, 235, 345, 347, 350 Smirdin, Aleksandr Filippovič 192, 197, 250 Snegirev, Ivan Michailovič 207–210, 214–217, 297 Sopikov, Vasilij Stepanovič 187–190, 195, 206, 209, 210, 305 Sterne, Laurence 38, 42, 46, 52, 98, 102–105, 134, 140, 158, 159, 249 T Tieck, Ludwig 33, 107, 123 U Unheimliches/unheimlich 12, 69, 246, 265 V voobraženie 13, 217, 243 Z Zimmermann, Johann Georg 34, 47