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German Pages 349 Year 2017
1 Gewaltpolitik und Menschenrechte
Olaf Glöckner/Roy Knocke (Hrsg.)
Das Zeitalter der Genozide Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert
Duncker & Humblot • Berlin
OLAF GLÖCKNER/ROY KNOCKE (Hrsg.)
Das Zeitalter der Genozide
Gewaltpolitik und Menschenrechte Herausgegeben von Rolf Hosfeld, Sönke Neitzel und Julius H. Schoeps Redaktion Olaf Glöckner und Roy Knocke
Band 1
Das Zeitalter der Genozide Ursprünge, Formen und Folgen politischer Gewalt im 20. Jahrhundert
Herausgegeben von
Olaf Glöckner und Roy Knocke
Duncker & Humblot · Berlin
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Inhalt Inhalt
Olaf Glöckner und Roy Knocke Einleitung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
Aghet und Schoah Christin Pschichholz Historiografische Entwicklung unter besonderen Umständen. Die Erforschung des Völkermordes an den Armeniern zwischen Westeurozentrismus und türkischem Nationalmythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Dan Stone Der Holocaust und seine Historiografie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Christoph Beeh Ein europäischer Völkermord? Anerkennung und Leugnung von Schoah und Aghet im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Genozidale Logiken und Massengewalt Daniel Bultmann Die Revolution der Roten Khmer .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 Scott Straus Muster von Genozid und Massengewalt in Subsahara-Afrika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Martina Bitunjac Srebrenica, Juli 1995. Genozid, Verantwortung, Gedenken .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Perspektiven in der Täterforschung Frank Neubacher Wie können Menschen so etwas tun? Kriminologische Aspekte der Täterforschung . 131 Stefan Kühl Zur Rolle von Organisationen im Holocaust. Warum sich Hunderttausende von Deutschen an der Deportation und Ermordung von Juden beteiligt haben . . . . . . . . . . . . . . . 139 Mihran Dabag Ideologie und gestaltende Gewalt. Aspekte der Formierung genozidaler Tätergesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
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Inhalt Aufarbeitung, Erinnerungspolitik und Prävention
Hans-Christian Jasch Holocaustverbrechen vor alliierten und deutschen Gerichten. Zu den Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die spätere Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte in Verfahren gegen Holocausttäter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Gerd Hankel Ruanda. Das zweifelhafte Verhältnis von Genozid, Erinnerung und Politik . . . . . . . . . 197 Yair Auron Holocaust und Völkermord in Bildung und Lehre heute. Eine kritische Bestands aufnahme in Israel und anderswo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Shashi Tharoor Das Zeitalter des Genozids und die Schwierigkeiten einer globalen Antwort . . . . . . . 223
Kulturelle und philosophische Repräsentationen genozidaler Gewalt Medardus Brehl Narrative der Vernichtung in der deutschen Literatur um 1900 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 Irene Heidelberger-Leonard Imre Kertész: „Der Holocaust als Kultur“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Roy Knocke Genozid als philosophisches Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Ellen Rinner Die Kunst des Mahnmals. Zwischen Geschichtspolitik, Darstellungstabu und Gedächtnisstiftung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281
Anhang Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Bildnachweise .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Personenregister .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346
Einleitung Von Olaf Glöckner und Roy Knocke Olaf Glöckner und Roy Knocke Einleitung
Am 24. August 1941 sprach Winston Churchill in der BBC zur britischen Bevölkerung. Anlass war nicht nur der seit zwei Monaten stattfindende Feldzug der deutschen Armee gegen die Sowjetunion, sondern auch Informationen über die Tätigkeiten deutscher Einsatzgruppen in der Ukraine und Russland und die damit verbundenen Massentötungen. Diese Taten des Nazi-Regimes, die dem britischen Geheimdienst nach und nach im Detail bekannt wurden, bezeichnete Churchill angesichts der Ausmaße und Gräuel in seiner Rede als „crime without a name“.1 Drei Jahre später gab der Jurist Raphael Lemkin in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe. Laws Of Occupation, Analysis Of Government, Proposals For Redress diesen Verbrechen einen Namen: „genocide“.2 Genozid ist damit ein noch recht junger Terminus und hat seit seiner ersten Verwendung eine beispiellose Karriere gemacht. In hochpolitisierten Erinnerungsdiskursen um Viktimisierungen3, in medienaffinen Aufmerksamkeitskämpfen4 und als Vorbild für vermeintlich neue Formen politischer Gewalt:5 Wo von Genozid gesprochen wird, muss nicht mehr differenziert argumentiert werden, denn die Emphase des Begriffs soll für sich sprechen. Zum wissenschaftlichen Diskurs hat in den letzten drei Jahrzehnten das Feld der „Genocide Studies“ mit seinen zahlreichen Publikationen beigetragen.6 Darin wird einerseits bis heute diskutiert, was 1 Rede Churchills nach seinem Treffen mit Roosevelt am 24. 8. 1941 (Online: https:// www.ibiblio.org/pha/timeline/410824awp.html) 2 Lemkin (1944), S.79. Eine Hybridbildung aus dem griechischen „γένος“ (Herkunft, Abstammung, Familie, Stamm) und dem lateinischen „caedere“ (töten, morden). Das deutschsprachige Wort „Völkermord“ wurde allerdings schon viel früher verwendet. Wohl zuerst bei August von Platen-Hallermünde in dem Gedicht Der unterirdische Chor aus seinen Polenliedern (1832) und dann in dem Gedicht Der künftige Held (1834). Beide Gedichte klagen Russland des Völkermordes an, da nach dem niedergeschlagenen Novemberaufstand 1830/31 Kongresspolen seine Verfassung verlor, Bürgerrechte aufgehoben und rund 80.000 Polen nach Sibirien deportiert worden sind. Bei von Platen-Hallermünde schwingt die seinerzeit weitverbreitete Polenschwärmerei mit. Die Verwendung des Begriffs Völkermord verweist dabei dezidiert auf die Furcht des Verlustes einer polnischen nationalen Kultur. 3 Vgl. Chaumont. 4 Zum Beispiel die „Holocaust auf dem Teller“-Kampagne der Tierschutzorganisation PETA. Vgl. Sztybel. 5 Gemeint sind Sub-Typologien von Genozid wie „autogenocide/self-genocide“, „ethnocide“, „politicide“, „democide“, „feminicide“, „ecocide“. Vgl. Barth, S. 257. 6 Für einen Überblick vgl. Bartrop/Jacobs.
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eigentlich unter Genozid verstanden werden kann, häufig verbunden mit der Suche nach einer noch präziseren Definition des Phänomens. Andererseits haben die „Genocide Studies“ Überlegungen zu einer vergleichenden Perspektive von politischer Massengewalt in die wissenschaftliche Debatte eingebracht. Raphael Lemkins Überlegungen zu Genozid in Axis Rule haben ihre Spuren in der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, die am 9. Dezember 1948 von der Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen wurde, hinterlassen.7 Seit der Formierung der „Genocide Studies“ in den 1980er Jahren wird an Hand von Fallbeispielen darüber diskutiert, ob der restriktive Gruppenbegriff in der UN-Konvention, die nur „national, ethnical, racial or religious groups“8 vorsieht, noch adäquat sei und wer eigentlich die Akteure bei der Ausführung eines Genozids sind. Letzteres ist in der frühen Phase der „Genocide Studies“ eindeutig beantwortet worden. So definiert die Politikwissenschaftlerin Barbara Harff Genozid „as a particular form of state terror […] mass murder, pre-meditated by some power-wielding group linked with state power.“9 In einem der ersten umfassenden Sammelbände zum Thema kritisieren der Historiker Frank Chalk und der Soziologe Kurt Jonassohn den Ausschluss von politischen und sozialen (Opfer-)Gruppen in der Konvention. Genozid wird von ihnen als „form of one-sided mass killing in which a state or other authority intends to destroy a group, as that group and membership in it are defined by the perpetrator“ konzeptualisiert.10 Auffällig an diesen beiden Definitionen ist der Fokus auf physische Dimensionen („mass murder“ oder „mass killing“) und dem Staat als ausführendem Akteur. Die Soziologin Helen Fein betont dagegen auch die sozialen Mechanismen von Gruppenzerstörungen und die Möglichkeit nicht-staatlicher Akteure, wie anderer Gruppen oder Kollektive, als Täter: „Genocide is sustained purposeful action by a perpetrator to physically destroy a collectivity directly or indirectly, through interdiction of the biological and social reproduction of group members, sustained regardless of the surrender or lack of threat offered by the victim. […] The perpetrator may represent the state of the victim, another state, or anoth er collectivity.“11
Mittlerweile existieren über zwanzig Definitionen von Genozid, die sich manchmal nur in Nuancen voneinander unterscheiden.12 Nicht zuletzt führte die Asymmetrie zwischen der Jagd nach Definitionen und deren mangelndem Analysepotential in einzelnen Fallstudien zu anderen Konzepten, um vernichtende Massengewalt zu verstehen. So schlägt der Historiker Christian Gerlach das Konzept der „extrem gewalttätigen Gesellschaften“ vor. Staatliche Organe sind Teil 7 Lemkin war eine der wichtigsten antreibenden Kräfte hinter dem Vorhaben, die Konvention zu verabschieden. Vgl. Cooper und Irving-Erickson. 8 Artikel II der Konvention in Bundesgesetzblatt, S. 730. 9 Harff (1986), S. 165f. 10 Chalk/Jonassohn, S. 23. 11 Fein (1990), S. 24. 12 Vgl. die 25 Definitionen in Jones, S. 23 – 27.
Einleitung
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extremer Gewalt, aber besonders die Massenbeteiligung sozialer Gruppen aus einer Vielzahl von Gründen ist ein Schlüsselelement, um „die sozialen Wurzeln der Menschenvernichtung zu ergründen.“13 Verbindet man diese Einsicht von Genozid als soziale Praxis mit einer Reflexion über die Randgebiete multiethnischer Imperien als kritische Regionen für die Entstehung von genozidaler Gewalt, so offenbart diese nicht nur eine hochdynamische Entwicklung.14 Sie führt auch zu einem Narrativ des 20. Jahrhunderts, in dem diese spezifische Form von Gewalt nicht aberrant, sondern integraler Bestandteil ist. Demnach orientieren sich diese neueren Forschungsansätze weniger an einer starren Definition von Genozid, sondern befragen bestimmte geografische Zonen in der Entwicklung von Nationalstaaten auf den Zusammenhang von sozialer Ordnung und Gewalt. Dieser Ausgangspunkt birgt auch das Potential, Genozidforschung aus dem erinnerungspolitischen Korsett von Aufmerksamkeits- oder Einzigartigkeitskämpfen zu lösen. In der deutschen akademischen Forschung ist das Feld der „Genocide Studies“ aus einem systematischen Blickwinkel bisher nahezu unberücksichtigt geblieben. Die geschichtsphilosophische These von der Einzigartigkeit der Schoah hat zu einer gewissen diskursiven Sedierung und Skepsis gegenüber komparativen Aspekten geführt.15 Man könnte meinen, das sei angesichts des Anspruches der „Genocide Studies“ auch zu begrüßen, denn bei genauem Blick auf die Arbeiten in diesem Feld fällt eher eine Vielzahl von Einzelstudien auf, die oft nur durch „methodische Pirouetten“ vergleichbar werden. Wie schwierig ein Vergleich tatsächlich sein kann, zeigt sich beispielsweise an der Studie des Historikers Eric Weitz zur Sowjetunion unter Lenin und Stalin, dem Nationalsozialistischen Regime in Deutschland, der Herrschaft der Khmer Rouge in Kambodscha und dem früheren Jugoslawien.16 Die eingeführten Kategorien des Vergleichs – utopische Visionen der Zukunft, Rassentheorien und extremer Nationalismus – sind nur durch eine starke Dekontextualisierung den einzelnen Fallbeispielen zuzuordnen. So lässt sich kritisch fragen, inwiefern rassentheoretische Modelle auf die Massenverbrechen in der Sowjetunion wirklich anwendbar sind und ob die bosnischen Serben beispielsweise die einzige Gruppe waren, die vor und während des Bosnienkrieges utopische Visionen eines ethnisch „gesäuberten“ und homogenen Nationalstaates hegten.17 Eine substantielle komparative Sichtweise, die die Geschichte exzessiver Gewalt systematisch und 13 Gerlach (2011), S. 7. Genozid als soziale Praxis wird explizit in den Arbeiten von Daniel Feierstein eingeführt. Darunter versteht er die destruktive Auflösung und Reorganisierung sozialer Relationen. Historisch kontextualisiert, lassen sich demnach vier Basistypen von Genozid unterscheiden: „constituent genocide“, „colonial genocide“, „postcolonial genocide“ und „reorganizing genocide“. Vgl. Feierstein, S. 45 – 51. 14 Zu diesen als „rimlands“ bezeichneten Gebieten siehe die umfassenden Studien von Levene (2013). 15 Daran änderte auch der sogenannte Historikerstreit 1986/87 nicht viel, war er doch eher ein Meinungskampf um (west-)deutsche Identität und Auseinandersetzung um kulturelle Hegemonie. Vgl. Herbert (2003). 16 Weitz. 17 Vgl. Hirsch und Dahlmann/Toal.
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differenziert erfassen will, scheint sich nur auf einer quellengesättigten Grundlage und im Bewusstsein der Trennung von Ereignis- und Erinnerungsgeschichte bewegen zu können.18 Ebenso wichtig ist eine transdisziplinäre Perspektive, die sich kritisch der Faktorisierung genozidaler Gewaltphänomene widmet, um dynamische Handlungslogiken in genozidalen Gesellschaften auf verschiedenen Ebenen nachzuspüren. So konstatiert der Historiker A. Dirk Moses, dass im Feld der „Genoc ide Studies“ ein systematisches Nachdenken über Parameter der Untersuchung von Genoziden fehlt. Bisher stellen die meisten Arbeiten einfach verschiedene Beispiele episodisch nebeneinander, um daraus allgemeine Regeln über die Funktion von genozidaler Gewalt abzuleiten. Dabei blieben aber oft die Verbindungen zwischen den Einzelfällen unklar. Ob daraus eine Form von „Critical Genocide Studies“19, welche jenseits von endogenen zeitgeschichtlichen und ideologiegeschichtlichen Analysen operieren soll, entstehen kann, bleibt abzuwarten. Mit diesem Band wollen die Herausgeber einen transdisziplinären Überblick über Genozide im 20. Jahrhundert und die darüber entbrannten Debatten geben, ohne sich auf ein angebotenes Deutungsmodell des Phänomens festzulegen. Versammelt sind Experten aus verschiedensten Ländern und Disziplinen, die sich aus unterschiedlicher Perspektive einerseits den größten Genozid-Verbrechen des 20. Jahrhunderts (u.a. die Schoah und die Völkermorde in Armenien, Ruanda, dem ehemaligen Jugoslawien, Kambodscha und in den Subsahara-Staaten) im Hinblick auf Genese, Verlauf, Täter- und Opfergruppen zuwenden, zum anderen aber auch Gemeinsamkeiten und Unterschiede beschreiben, kollektive Dynamiken und Radikalisierungen untersuchen, Täterprofile in Augenschein nehmen und nicht zuletzt internationale Reaktionen auf juristischer Ebene nachverfolgen.20 Zudem wird die Frage aufgeworfen, welche literarischen, künstlerisch-darstellerischen wie auch intellektuellen Möglichkeiten vorhanden sind oder sich entwickeln, um der Erinnerung an das „unvorstellbare Grauen“ und an die vielen Millionen Genozid-Opfer am Ende doch eine erkennbare Gestalt zu geben. Das erste thematische Kapitel Aghet und Schoah widmet sich der Historiografie des Völkermordes an den Armeniern während des Ersten Weltkrieges und der Vernichtung der europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg. Christin Pschichholz beschreibt, wie lange und nachhaltig politische Determinanten, allgemeine Ignoranz, emotionale Blockaden und strategisches Kalkül eine länderübergreifende Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern erschwert haben. Dan Stone steuert einen profunden Einblick in die schon Mitte des 20. Jahrhunderts einsetzende Historiografie des Holocaust bei, welche immer wieder durch neue Debatten und Kontroversen beflügelt wurde. Christoph Beeh zieht einen Doppelvergleich Steinbacher. Eher skeptisch Kundrus/Strotbek. Eine Skizze dieses Ansatzes findet sich bei Moses (2008) und Hinton (2012). 20 Die meisten der Autorinnen und Autoren waren Teilnehmer der internationalen Konferenz „Aghet und Shoah. Das Jahrhundert der Genozide“, die das Lepsiushaus Potsdam und das Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam gemeinsam im November 2015 in der Topographie des Terrors in Berlin ausrichteten. 18 So
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von Anerkennung und Leugnung von Aghet und Schoah mit besonderem Blick auf die Erwartungshaltung einer transnationalen europäischen Erinnerungspolitik. Im folgenden Kapitel Genozidale Logiken und Massengewalt werden Fälle von kollektiver politischer Gewalt erörtert, die im Diskurs nicht immer als genozidale Gewalt behandelt werden, und somit oft Ausgangspunkt systematischer Diskussionen um den Begriff Genozid sind. So beschreibt Daniel Bultmann die Strukturen kollektiver Gewalt unter der Diktatur der Roten Khmer und zeichnet nach, wie der ideologisch intendierte Massenmord an rund zwei Millionen Kambodschanern mit technokratischer Konsequenz und zugleich hochgradiger Irrationalität von statten ging. Scott Straus dokumentiert statistisch Fälle und analysiert strukturell die Muster der Massentötungen von Zivilisten der Subsahara-Region – u.a. in Ruanda, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo, im Sudan und Süd-Sudan. Martina Bitunjac beschreibt die Ursprünge, Rahmenbedingungen und die kalte Rationalität, mit der die bosnisch-serbische Armee unter General Ratko Mladić im Juli 1995, während des Krieges in Bosnien-Herzegowina, mordete, um dem Ziel eines ethnisch-homogenen serbischen Großstaates näherzukommen. Das Kapitel Perspektiven in der Täterforschung widmet sich in verschiedenen Ansätzen der Frage nach der sozialen Organisation genozidaler Gewalt. Aus kriminologischer Perspektive argumentiert Frank Neubacher, dass die alleinige Suche nach individuellen Täter-Abnormitäten bzw. -pathologien bei der Erklärung eines genozidalen Gesamtgeschehens nur wenig Erfolg habe. Gesellschaftliche Makroebene („System“), Meso- bzw. Zwischenebene („Gruppe“) und Mikroebene („Individuum“) müssten im Verbund untersucht werden, um das Handeln der Täter besser nachvollziehen zu können. Stefan Kühl nimmt eine dezidierte Kritik der bisherigen Täterforschung am Beispiel des Holocaust vor. Eine systemtheoretische Annäherung zeigt, dass nicht nur Akteure in auf Massentötungen spezialisierten Organisationen häufig ganz normale Menschen sind, sondern dass auch solche Organisationen, über die Massentötungen geplant und durchgeführt werden, Merkmale ganz normaler Organisationen aufweisen. Schließlich sieht Mihran Dabag im Aspekt der sozialen und gesellschaftlichen Rahmungen und der Schnittflächen, die zur Verschiebung des Handelns von Akteuren führen können, ein besonderes Analysepotential. Vorgeprägte Handlungsimpulse der Täter können in einer spezifischen Situation mit dem Versprechen von ideologischer Kohärenz ausgelöst werden und somit zum Genozid führen. Wie sich die Erfahrung genozidaler Gewalt in Form der Erinnerung und Bewältigung auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen ausprägt, ist Thema des Kapitels Aufarbeitung, Erinnerungspolitik und Prävention. Hans-Christian Jasch gibt einen Überblick über die Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die spätere Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte in Verfahren gegen Holocausttäter und beschreibt anhand konkreter Gerichtsprozesse gegen Einzeltäter und Tätergruppen, wie die (bundes-)deutsche Justiz schwer belastete NS-Täter häufig als „Tat-Gehilfen“ durchgehen ließ. Gerd Hankel zeigt am Beispiel Ruanda auf, dass der Völkermord nach 1994 de facto aus dem öffentlichen Diskurs, nicht aber aus
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dem individuellen Bewusstsein der Menschen verschwunden ist. Eine aktive Erinnerungskultur wird tabuisiert und politisch ein konsensuales Schweigen durchgesetzt. Yair Auron beschreibt, wie stark die kollektive Identität der israelischen Gesellschaft vom Umgang mit dem Holocaust, seiner Aufarbeitung und der Gewährleistung eines „Nie wieder!“ geformt wird und wie andere Genozide des 20. Jahrhunderts, speziell auch der Völkermord an den Armenien, nur marginal oder überhaupt nicht im öffentlichen Diskurs erscheinen. Shashi Tharoor nimmt die globalen Reaktionen auf die Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts in seinen Fokus und bietet eine Genealogie des juristischen und präventiven Umgangs mit Genozid in der internationalen Gemeinschaft. Das Schlusskapitel Kulturelle und philosophische Repräsentationen genozidaler Gewalt widmet sich literaturwissenschaftlichen, ästhetischen und philosophischen Diskursen über kollektive politische Gewalt. Medardus Brehl zeigt anhand von Beispielen aus der Theaterwelt, Reiseberichten, Tagebuchaufzeichnungen und theologischen Streitschriften Narrative der Vernichtung um 1900 auf. Nicht nur die Unterwerfung vermeintlich „minderwertiger“ Völker, sondern auch ihre Auslöschung konnten somit in der Öffentlichkeit als legitim oder gar moralisch dargestellt werden. Irene Heidelberger-Leonard analysiert das schriftstellerische Werk des ungarischen Holocaust-Überlebenden Imre Kertész und beschreibt, wie Literatur nach (und zu) Auschwitz nicht nur möglich ist, sondern auch zum einzigen „Zufluchtsort des Individuums“ werden kann, um aus einer verwalteten Welt auszusteigen. Roy Knocke wendet sich dem Phänomen des Genozids als „philosophischem Problem“ zu, da die Erkenntnisse der historischen Forschung zu einzelnen Genoziden und deren komparativer Reichweite bisher nicht ausreichend philosophisch gewürdigt worden seien. Er plädiert für eine Verknüpfung von Geschichtsund Sozialphilosophie, um Lemkins „polykausalen“ Anspruch an das Phänomen Genozid philosophisch betrachten zu können. Schließlich fragt Ellen Rinner, was die „Kunst des Mahnmals“ heute – in Anbetracht der unvorstellbaren Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts – zwischen Geschichtspolitik, Darstellungstabu und Gedächtnisstiftung vermitteln kann. An verschiedenen Beispielen zeigt sie, dass auch das Nachleben von Mahnmalen – egal ob zerstört, vergessen oder überlagert – Formen der Erinnerung inspirieren kann. Mit diesem Band ist der Anfang für die Reihe Gewaltpolitik und Menschenrechte gemacht, die sich über das Thema Genozide hinaus auch mit anderen Formen der kollektiven Gewalt und spezifischen Tätergruppen, mit ungelösten ethnischen, politischen und religiösen Konflikten, mit der Verfolgung heutiger Minderheiten, letztendlich aber auch mit zivilgesellschaftlichen Gegenkräften, markanten Solidarisierungsbewegungen und Erinnerungsdiskursen in postgenozidalen Gesellschaften beschäftigen wird. Spezieller Dank gilt dem Verlag Duncker & Humblot, dem Lepsiushaus Potsdam, dem Moses Mendelssohn Zentrum Potsdam und der Moses Mendelssohn Stiftung Erlangen, die das Zustandekommen dieses ersten Reihen-Bandes ermöglicht haben. Potsdam, August 2017
Die Herausgeber
Aghet und Schoah
Historiografische Entwicklung unter besonderen Umständen Die Erforschung des Völkermordes an den Armeniern zwischen Westeurozentrismus und türkischem Nationalmythos Von Christin Pschichholz Christin Pschichholz
Historiografische Entwicklung unter besonderen Umständen. Die Erforschung des Völkermordes an den Armeniern zwischen Westeurozentrismus und türkischem Nationalmythos
Während des Ersten Weltkrieges organisierte das Zentralkomitee der jungtürkischen Partei Komitee für Einheit und Fortschritt im Jahre 1915 – nach erfolgloser Offensive gegen Russland – die Deportation von Armeniern aus den kaukasischen und persischen Frontgebieten in Richtung syrischer Wüste. Hierfür wurden offiziell militärische Gründe angeführt: Man unterstellte den Armeniern, Aufstände zu planen und damit die russischen Truppen hinter den eigenen Linien zu unterstützen. Die Deportationen wurden bald ausgeweitet auf alle in Kleinasien lebenden Armenier. Das Ziel war allerdings nicht, wie zunächst vorgeschoben, die Wiederansiedlung der armenischen Bevölkerung, sondern ihre Ermordung. Für die Jahre 1915 – 1917 ist von mehr als einer Million Todesopfern auszugehen.1 Im Folgenden wird thematisiert, wie lange und nachhaltig politische Determinanten, allgemeine Ignoranz, emotionale Blockaden und strategisches Kalkül eine länderübergreifende Aufarbeitung des Völkermordes an den Armeniern trotz seiner Dimensionen bis heute erschwert haben. Das Ringen um die angemessene Erinnerung und die Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern wirkt sich noch heute auf das Verhältnis zwischen verschiedenen Staaten aus. Besonders die Kaukasusregion, die verschlossene Grenze zwischen Armenien und der Türkei, der Bergkarabach-Konflikt und auch die innertürkischen Konflikte stehen hier als Beispiel. Gleichzeitig verhindert die komplizierte und angespannte (geo-)politische Lage in verschiedenen Konfliktregionen einen offenen Umgang mit einem Jahrhundertverbrechen, das als Genozid zu bezeichnen ist und auch den Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs, die Türkei, mit einem Menschheitsverbrechen in Verbindung und somit in tiefe moralische Bedrängnis und Autoritätsverlust bringt. Kaum eine andere Frage verdeutlicht die Bedeutung nationaler Narrative und das schwierige gegenseitige Verständnis von Geschichtsdeutung so stark wie die um die Anerkennung des Genozids an der armenischen Bevölkerung, weil gerade die gegensätzliche Deutung tief verwurzelt, ja, Fundament nationaler Identitäten ist.
1 Über die in der Wissenschaft genannten Opferzahlen und die zum Teil kontroversen Diskussionen s. Bijak/Lubman.
Christin Pschichholz
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I. Die Zeit des Ersten Weltkrieges bis zur Zwischenkriegszeit Das Ringen um die Deutung der Geschehnisse 1915/16 beginnt bereits mit den Ereignissen an sich und ist ein sensibles Thema geblieben, da der Völkermord seinerzeit ein Teil der „Türkisierungspolitik“ war, die in spätosmanischer Zeit begonnen hatte und in der Anfangszeit der türkischen Republik fortgesetzt wurde. Der Völkermord an den Armeniern hat somit eine zentrale Bedeutung für die Gründung des türkischen Nationalstaates. Der Völkermord ist, genauso wie weitere radikale Maßnahmen der Bevölkerungspolitik etwa gegenüber den Pontosgriechen, Assyrern und später dann gegenüber den Kurden, Alewiten und Arabern, die vom Beginn der türkischen Republik an enormem Assimilierungsdruck ausgesetzt waren, Teil des Fundaments der türkischen Republik, auch wenn das Gewaltverbrechen an der christlichen Bevölkerung noch unter osmanischer Herrschaft stattfand. Diesen Umstand anzuerkennen würde bedeuten, Minderheitenrechte zu diskutieren, die Bedeutung des „Türkischseins“ und die Grenzen des Landes zu hinterfragen. Das würde die Grundfeste der Republik erschüttern; auch heute noch besteht die Angst, dass dies eine Kettenreaktion in Gang setzt, die die Form, die Grenzen und die demografische Zusammensetzung des heutigen Anatoliens im Ganzen hinterfragen könnte, und dies beinhaltet natürlich auch die tiefsitzende Furcht vor kurdischen Autonomiebestrebungen.2 Mit Blick auf die Jahre 1915/16 fällt auf, dass die Massaker an der armenischen Bevölkerung von den osmanischen Akteuren keineswegs verschwiegen wurden. Allerdings erfolgte von 1915 bis zur Republikgründung 1923 die Einordnung geschehener Gewalt gegenüber den Armeniern nicht einheitlich, sondern auch vor dem Hintergrund unterschiedlicher Zukunftsvisionen für das ehemalige Großreich. Während es durchaus Vertreter gab, die auch in dieser Zeit das osmanische Staatsmodell eines multiethnischen Imperiums noch für reformierbar und somit für zukunftsträchtig hielten, war die stark nationalistische Perspektive eine andere: die multiethnischen Bevölkerungsstrukturen des alten Reiches galten hier als überholt. Beide Perspektiven ließen die Frage nach den Ursachen für die Massaker zu. Die stärker osmanisch-imperialistisch ausgerichtete Sicht erklärte die Gewalt eskalation mit dem Zusammenwirken zwischen leicht manipulierbaren Armeniern und korrupten muslimischen Beamten, die sich bereichern wollten. In der nationalistisch geprägten Deutung kommt es zu einer noch stärkeren Verschiebung der Täter-Opfer-Rolle: Das Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung, so die Lesart, sei notwendig gewesen, um das eigene Land zu verteidigen. Dabei wurden besonders die Gräueltaten armenischer Banden an Türken in der Kaukasusregion während des Krieges als das ursächliche Geschehen in den Mittelpunkt gerückt, die das Vorgehen gegen die armenische Bevölkerung dann „zwangsläufig“ nach sich ziehen musste. Beide Interpretationsmuster sind in verschiedenen Varianten verwendet worden, beide aber betonten die existenzielle Zukunftsangst vor dem 2
Kieser/Öktem/Reinkowski, S. 5.
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Verlust von Territorium; allerdings wurde das nationalistische Narrativ bis zur türkischen Republikgründung deutlich stärker.3 In welchem Kontext das Ringen mit der Vergangenheit bei gleichzeitiger Konzipierung der Zukunft stattfand, verdeutlichen die Istanbuler Prozesse, die von April 1919 bis März 1920 stattfanden. Das Osmanische Reich wurde nach dem Ersten Weltkrieg von italienischen, französischen, britischen und griechischen Truppen besetzt. Nach der Niederlage der Osmanen gegen die Entete hatte der Vertrag von Sèvres die Aufteilung des Landes bestimmt, für das ehemalige Großreich war darin nur noch ein bescheidener Rumpfstaat als osmanisches Territorium vorgesehen. Um diesen Rumpfstaat herum sollte das Gebiet zwischen Armenien, Griechenland, Großbritannien, Frankreich und Italien aufgeteilt werden. Kurden wurde die Autonomiemöglichkeit eingeräumt. Das gefürchtete Szenario der Jungtürken war somit wahr geworden. Der wiedereingesetzte osmanische Sultan kooperierte allerdings mit den Siegermächten, und auf britisches Drängen hin fanden Prozesse gegen Kriegsverbrecher statt. Der Staatsanwalt sprach von Verbrechen gegen die Menschheit, die verübt worden waren. 17 Todesurteile wurden gefällt, von denen allerdings nur drei vollstreckt werden konnten, da die überwiegende Zahl der Angeklagten schon vor Beginn der Prozesse geflohen waren. Die Protokolle der Zeugenvernehmung gehören zu den wichtigsten Quellen der Ereignisse von 1915/16.4 Die begonnene Auseinandersetzung mit dem Verbrechen rückte aber angesichts der türkischen Nationalbewegung Anfang der 1920er Jahre in den Hintergrund. Mit der unter Mustafa Kemal (Atatürk) organisierten Nationalbewegung kam es zum Widerstand gegen den Sultan, gegen die militärische Besetzung und gegen den noch nicht ratifizierten Vertrag von Sèvres. Das Ende des Ersten Weltkrieges mündete in Anatolien fast übergangslos in den Unabhängigkeitskrieg, dem sich zahlreiche ehemalige Mitglieder des Komitees für Einheit und Fortschritt anschlossen und in dem die muslimische Bevölkerung noch einmal mobilisiert wurde. Diese Übergangszeit ließ keinen Raum für eine kritische Sicht auf die jüngste Vergangenheit.5 Durch die erfolgreiche Wiedereroberung Anatoliens durch die türkische Armee und den Rückzug der Besatzungsmächte wurde der Vertrag von Sèvres nicht umgesetzt und die Grenzen der heutigen Türkei durch den Vertrag von Lausanne festgelegt. Die Gründung der modernen Türkei basiert auf diesem erfolgreichen „Befreiungskrieg“. Nach einer langen und wechselvollen Kriegsphase, die mit dem Tripoliskrieg und der Besetzung des osmanischen Teils Nordafrikas (Libyen) durch Italien 1911/12 begann, mit dem desaströsen Ausgang der Balkankriege fortgeführt wurde und in der verlustreichen und erfolglosen Beteiligung am Ersten Weltkrieg mündete, stand die nach den anschließenden „Befreiungskriegen“ gegründete Republik abschließend als Sieger da. Auf dieser Grundlage konnte ein heroischer Nationalmythos entstehen, der bis Bloxham/Göçek, S. 347. Die Gerichtsprotokolle sind veröffentlicht in Dadrian/Akçam. 5 Zürcher. 3 4
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in die Gegenwart hinein stark identitätsprägend wirkt. Zudem erlaubte die in Atatürks berühmter 36-Stunden-Rede (Nutuk) im Jahr 1927 festgelegte Interpretation der türkischen Geschichte keinen Blick zurück: Das darin präsentierte Konstrukt türkischer Geschichte begann demnach 1919 mit der Landung Mustafa Kemals in Samsun, und war ganz auf die erfolgreichen „Unabhängigkeitskriege“ und die anschließende Republikgründung ausgerichtet.6 Dieses Geschichtsbild sah keine Kontinuitäten und keine Übergangszeit vor, obwohl die Generation von 1908 – und somit die radikale Gruppe der Jungtürken – den Habitus der Republik noch weit über das Todesjahr Atatürks hinaus prägen sollte. Personen wie etwa Şükrü Kaya7, Kazım Özalp8 und Abdülhalik Renda9, die während des Ersten Weltkrieges in die Organisation der Massaker an der armenischen Bevölkerung involviert waren, erhielten zentrale Machtpositionen unter Atatürk. Ein Großteil der herrschenden Elite hatte direkt oder indirekt immens von der Vernichtung der Armenier profitiert. Dies kritisch zu thematisieren, hätte die Stabilität des jungen politischen Systems in der Türkei vermutlich extrem gefährdet.10 Der nie ratifizierte Vertrag von Sèvres aber blieb in der anti-imperialistischen Rhetorik des kemalistischen Nationalismus das „Symbol spätosmanischer Willfährigkeit, armenisch-griechischer Maßlosigkeit und imperialistischer Dominanz.“11 Das Sèvres-Syndrom, verursacht durch das imperiale Gebaren europäischer Mächte, und die anschließenden „Befreiungskriege“, ließ in der jungen Republik eine Selbstwahrnehmung als Opfer und Helden entstehen, die die Reaktionsmuster auf Angriffe von außen schon vorgab.12 Die Aufforderung, den Völkermord an den Armeniern anzuerkennen, konnte und kann von türkischen Regierungen, gleich welcher Partei, auf dieser Grundlage immer auch als Angriff auf die territoriale Integrität interpretiert werden. Historische Forschung findet nie losgelöst von gesellschaftlichen und politischen Bedingungen statt. Erst recht nicht beim Gebrauch des Wortes Genozids, das als juristischer Begriff verwendet wird, politisch aufgeladen sein kann und empfindlich in das Wesen und kollektive Empfinden von Gesellschaften eingreift.13 Göçek, Reading, S. 43. war vom Ministerium des Inneren als Verschickungskommissar nach Aleppo bestimmt worden. 8 Özalp war Kommandeur der Gendarmie während des Aufstandes von Van 1915. 9 Renda war Gouverneur von Bitlis und Aleppo und verantwortlich für die Deportationen von Armeniern aus Bitlis und die Todesmärsche von Aleppo nach Deir ez-Zor. 10 Zürcher, S. 316. 11 Kreiser, S. 34. 12 Prägnant zusammengefasst Kramer/Reinkowski, S. 102; ausführlicher bspw. Göçek, Transformation, S. 105 ff. 13 So die einmütige Feststellung in einer Roundtable-Diskussion auf dem Workshop Ottoman Cataclysm: Total War, Genocide and Distant Futures in the Middle East (1915 – 1917): „the Armenian genocide has undergone a process of normalization in the intellectual debate. It can be discussed independently from real-political sensitiveness and power struggles.“ Das ist auf der einen Seite eine befreiende Feststellung. Auf der anderen Seite zeigt die 6
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Aber die Intensität der Auseinandersetzung auch in der Wissenschaft ist im Falle des Völkermordes an den Armeniern eine besondere, wenn auch hier der alleinige Blick in die Türkei nicht ausreicht. Genauso wenig wie für die Schoah gilt für den Genozid an den Armeniern, dass es keine Stimmen gegeben hätte, die die Ereignisse gleich im Anschluss kritisch thematisierten.14 Während und nach dem Krieg waren es vor allem überlebende Armenier, die über den Völkermord Material sammelten und publizierten. Dokumentierte Erinnerungen armenischer Überlebender etwa im Libanon, in Syrien oder in westlichen Staaten wurden in kleinen Auflagen veröffentlicht. Es ist allerdings zu vermuten, dass diese – auch wegen der sprachlichen Barrieren – wenig gelesen und noch weniger rezipiert wurden.15 Nicht selten wurden diese Berichte auch negiert und ignoriert, weil sie durch den starken Gegensatz zur türkischen Darstellung und der während des Ersten Weltkrieges herrschenden Kriegspropaganda schlichtweg als zu subjektiv galten. Wie schwierig es für überlebende, geflüchtete oder bereits vor 1915 ausgewanderte Armenier war, sich Gehör zu verschaffen, verdeutlicht ihr Schicksal in Frankreich: Sie waren zunächst einmal „nur“ eine Gruppe von Millionen von Menschen im Nachkriegseuropa, die aus ihrer angestammten Heimat flohen. Sie waren zudem Staatenlose, für die – anders als etwa für die russischen Flüchtlinge in Frankreich, die wegen des bolschewistischen Regimes gezwungen waren, ihre Heimat zu verlassen – noch kein Rechtsstatus existierte. Dies geschah erst 1924 durch Festlegungen der League of Nations’ High Commission for Refugees. Für die französische Verwaltung, die aufgrund nationalstaatlicher Paradigmen handelte, war dies nach dem Krieg eine große national-politische und administrative Herausforderung. Für die Armenier selbst bedeutete dies aber, dass sie erst langsam eigene Strukturen aufbauen konnten, in denen auch die Beschäftigung mit den verlorenen Familienmitgliedern, der – anders als bei anderen Flüchtlingen – für immer verlorenen Heimat und dem kollektiven Trauma begonnen werden konnte. Nach außen wurde der Wunsch nach Aufarbeitung lange nicht vertreten; zu stark war der Anpassungsdruck in einem vom Krieg noch selbst gebeutelten Land, das ihnen Unterschlupf gewährte und eine Form der Integration in einem staatszentrierten Modell favorisierte, das wenig Raum für „Armenischsein“ beließ. Die Aufarbeitung von Genozid-Erfahrungen hätte die transnationale Identität der nun französischen Armenier nur unerwünscht deutlich zum Ausdruck gebracht.16 Dies setzte sich bis in die 1930er Jahre fort, war doch die Stimmung im Land durch die Ankunft von neuen, vor dem Faschismus aus Deutschland fliehenden Flüchtlingen Äußerung das Bedürfnis zu artikulieren, wie steinig der Weg der Debatte bisher war. Vgl. Tagungsbericht: Ottoman Cataclysm: Total War, Genocide and Distant Futures in the Middle East (1915 – 1917), 28. 10. 2015 – 31. 10. 2015 Zurich, in: H-Soz-Kult, 14. 03. 2016. (Online: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6445, letzter Zugriff: 21. 10. 2016). 14 Zuletzt Fritz/Kovács/Rásky; siehe auch den Beitrag von Dan Stone im vorliegenden Sammelband. 15 Anderson/Reynolds, S. 464. 16 Mandel, S. 20 f. Siehe dazu auch: Hofmann.
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angespannt. Pierre Audiat, ein französischer Journalist, fasste die tragische Situation der Armenier in einem 1935 erschienenen Artikel über die Geschichte von Fremden und Immigranten in Frankreich als „Waisen einer Nation“ zusammen und verdeutlichte damit, dass es kein Zurück mehr in die Heimat gab; die Verbindungen waren durch den Völkermord und die Bevölkerungspolitik des Nachfolgestaates Türkei unter Atatürk gekappt.17 Das europäische Interesse am Schicksal der armenischen Bevölkerung war durch die Probleme der Kriegs- und Nachkriegszeit ebenfalls überlagert worden. Allerdings gab es Ausnahmen. Am bekanntesten ist die Schrift von Johannes Lepsius, deutscher Theologe und Menschenrechtler, der sich bereits Ende des 19. Jahrhunderts für die Belange der armenischen Bevölkerung einsetzte. Er veröffentlichte nach einer Reise ins Osmanische Reich 1916 seinen Bericht über die Lage des armenischen Volkes in der Türkei und lieferte auf der Grundlage von armenischen, amerikanischen und deutschen Quellen eine präzise Darstellung der Zeitabläufe, der unterschiedlichen regionalen Ereignisse und eine Analyse der Ursachen für das Geschehene. Lepsius‘ Bericht beschrieb im Kern, dass ab Frühjahr 1915 vor allem in Anatolien eine staatlich geplante ethnische Säuberung stattgefunden hatte, die, exekutiert von Organen der jungtürkischen Partei, unmittelbar in genozidale Maßnahmen umgeschlagen war.18 Den erstellten Bericht wollte Lepsius nutzen, um die deutsche Öffentlichkeit zu informieren und Spendengelder zu akquirieren. 19 Das zeitgenössische Wissen um die osmanisch-armenische Katastrophe ist auch dem Briten Arnold Toynbee zu verdanken. Mit einer Sammlung und Analyse von Augenzeugenberichten beschrieb Toynbee, was sich unter der diktatorischen Führung des Komitees für Einheit und Fortschritt ereignet hatte: ein systematischer, reichsweiter staatlicher Angriff auf eine über zwei Millionen Mitglieder zählende ethno-religiöse Gemeinschaft, an dessen Ende die Mehrheit tot, die Überlebenden vertrieben und Besitz, Eigentum und Kulturgüter in dem jahrhundertealten Kernland Armeniens in Ostanatolien unwiederbringlich verwüstet worden waren.20 Beide Werke entstanden noch während des Krieges und wurden auch kurz rezipiert. Danach war ihnen eine längere Nachwirkung verwehrt, denn sowohl Besiegte als auch Sieger des Ersten Weltkrieges beschäftigten sich nun vor allem mit den Folgeschäden des Krieges im eigenen Land. So klagten im Deutschen Reich fast alle politischen Kräfte über die empfundene Einseitigkeit der Kriegsschuldfragen und den als ungerecht empfundenen Versailler Vertrag. Großbritannien durchlebte schwere politische Krisen, und die Regierungen Frankreichs und Italiens standen vor dem Problem, ihrer Bevölkerung erklären zu müssen, warum sich dieser mit höchsten Opfern errungene Sieg nicht in einen praktischen Gewinn verwandeln ließ. Mit der Kriegsmüdigkeit der Entente-Staaten verlor sich nach dem Ersten 17
Ebd., S. 220, Anm. 11. Lepsius, S. 217. 19 Hosfeld, S. 23. 20 Bryce/Toynbee. 18
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Weltkrieg auch der humanitäre Einsatz für die Armenier. Auf die Umsetzung des Vertrages von Sèvres wurde verzichtet und das für die Armenier historisch bedeutende Kilikien aus französischer Besatzung an die Türkei zurückgegeben. Die vorangegangenen Ereignisse von 1915/16 rückten aus westeuropäischer Sicht nun völlig in den Hintergrund, da es keinen nennenswerten Anknüpfungspunkt zur eigenen Nationalgeschichte zu geben schien. Der Prozess um den Mörder des Innenministers und Großwesirs des Osmanischen Reichs Talât Pascha, einer der Hauptverantwortlichen des Völkermordes, erregte allerdings international Aufmerksamkeit, wenn auch nur kurz. Der armenische Attentäter Soghomon Tehlirian hatte den in Berlin lebenden Talât Pascha 1921 auf offener Straße erschossen. Er wurde von einem Berliner Strafgericht freigesprochen, weil es der Verteidigung gelungen war, erfolgreich auf eine eingeschränkte Willensfreiheit zu plädieren. Gutachter und Verteidiger erwirkten, dass es ausführlich zur Beschreibung der Verbrechen des Opfers Mehmet Talât kam und somit eine Verkehrung der Gerichtsverhandlung in einen indirekten Völkermordprozess möglich wurde. Im Zuge der Berichterstattung zu diesem Prozess wurden in deutschen Zeitungen die Massaker an der armenischen Bevölkerung 1915/16 thematisiert.21 Wie zuvor die Prozesse in Istanbul, erregte dieses Gerichtsverfahren das Interes se des polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin, des maßgeblichen Verfassers der UN-Genozidkonvention, die 1948 beschlossen wurde und in der die bis heute gültige völkerrechtliche Definition des Genozids formuliert ist. Die Konvention wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt seiner Arbeit, hatte sie doch zum Ziel, Prävention und Bestrafung genozidaler Gewalt im internationalen Recht zu verankern. Nur ein kleiner Teil von Lemkins historischen Abhandlungen über Massengewalt ist bisher bekannt, geschweige denn kritisch eingeordnet worden. Die wenigen erfolgten Untersuchungen deuten zwar an, dass er im Abgleich mit neuen wissenschaftlichen Studien zu Massengewalt in Teilen wenig quellenkritisch und methodisch ungenau gearbeitet hat22. In dem hier diskutierten Zusammenhang ist allerdings bedeutender, dass diese Arbeiten – wie die Stimmen der überlebenden Armenierinnen und Armenier nach dem Ersten Weltkrieg – nur kurzzeitig und dürftig rezipiert wurden und somit eine kritische Auseinandersetzung mit der Bevölkerungspolitik in Anatolien kaum stattfand. Dass sich dies durch den Zweiten Weltkrieg noch einmal verstärkte, bedarf angesichts des Ausmaßes des Kriegsgeschehens und der Schoah keiner Erklärung. Allerdings ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, dass NS-Größen die Staatsgründung der Türkei unter Mustafa Kemal (Atatürk) aufgrund der Homogenisierung der Bevölkerung inklusive der Revision des Vertrages von Sèvres bis zur Neufestlegung durch den Vertrag von Lausanne genau und bewundernd zur Kenntnis nahmen.23 Ihrig (2017). Schaller/Zimmerer. 23 Stefan Ihrig verweist in diesem Zusammenhang auf den bisher vernachlässigten Bezugspunkt vieler NS-Ideologen und Politiker, die besonders in den 1920er Jahren nicht 21
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II. Identitätskonstellationen und Historiografien nach dem Zweiten Weltkrieg Die UN-Genozidkonvention von 1948 war und ist ein Ausgangspunkt, der sowohl Armenierinnen und Armeniern in der Diaspora als auch in der Republik Armenien darin bestärkte, repräsentativere Formen der Erinnerung an die Jahre 1915/16 zu suchen und einzufordern. Als ein Höhepunkt dieses Armenian Revival lassen sich die Demonstrationen anlässlich des 50. Jahrestages des Genozids 1965 beschreiben.24 100.000 Menschen protestierten in der sowjet-armenischen Hauptstadt Jerewan für die Anerkennung des Völkermordes von sowjetischer Seite und für den Bau eines Denkmals, das 1968 eröffnet wurde. Um die Bedeutung dieses zivilgesellschaftlichen Aufbruchs zu erkennen, muss beigefügt werden, dass es die bis dahin größten unabhängigen politischen Demonstrationen innerhalb der Sowjetunion waren.25 Das Interesse an diesem Meilenstein armenischer Erinnerungskultur blieb in Westeuropa und den USA dennoch vergleichsweise gering. Die scharfen ideologischen Gegensätze des Kalten Krieges ermöglichten, dass die Belange der Sowjetrepublik Armenien als Propaganda abgetan oder zumindest als stark relativierungsbedürftig wahrgenommen wurden. Es muss aus armenischer Sicht eine bittere Erkenntnis gewesen sein, dass die Nähe zu Russland als Argument ausreichte, um die Massengewalt während des Ersten Weltkrieges zu relativieren, da 1915 die jungtürkische Konstruktion einer Dolchstoßlegende, die die armenische Bevölkerung geschlossen verdächtigte, auf der Seite des Kriegsgegners Russland zu stehen, die Rechtfertigung der tödlichen Deportationen ausmachte.26 Im Gegenzug war das NATO-Bündnis ein Garant für die Türkei, dass nationale Empfindlichkeiten nicht kritisch hinterfragt wurden; galt das Land doch als verlässlicher Partner in wichtiger geopolitischer Lage. Die Entwicklung in der Türkei wurde durch ihre damalige starke Westorientierung wohlwollend und bisweilen naiv begleitet, ohne den fundamentalistischen Laizismus als Hemmnis für die Demokratisierung zu problematisieren. Diese westeuropäische Vermeidungsstrategie hielt vornehmlich auch den Attentaten armenischer Terroristen stand, die zwischen 1975 und 1986 auf türkische Diplomaten verübt wurden und unter anderem die Aufmerksamkeit auf die Genozid-Leugnung lenken sollten. Die türkische Regierung reagierte allerdings prompt, und staatlich geförderte Publikationen griffen wieder auf das spätosmanische Narrativ zurück: Demzufolge hätten die imperialen europäischen Mächte den multireligiösen und multiethnischen Frieden im Omanischen Reich zerstört, nur auf den Faschismus in Italien blickten, sondern eben auch in die Türkei. Vgl. Ihrig (2014). 24 Kieser (2006), S. 45. 25 Zum Themenkomplex siehe Smith (2012). 26 Dass in der DDR und in der BRD das Wissen um den Genozid so unterschiedlich ausgeprägt war, lässt sich hierauf zurückführen.
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und durch die Illoyalität der armenischen Bevölkerung wäre es in der angespannten Kriegssituation zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen mit Todesopfern auf allen Seiten gekommen. Erfolgte Deportationen der armenischen Bevölkerung seien aus Sicherheitsgründen notwendig gewesen und wegen der allgemein schlechten Versorgungslage bedauerlicherweise tödlich verlaufen. Eine Intention zur Tötung habe es aber nicht gegeben. Die neuerlichen armenischen Attentate veranlassten die türkische Regierung, Historiker anzuheuern, welche anhand selektiver osmanischer Quellen Kontinuitätslinien konstruierten und den Armeniern eine generelle Neigung zur Gewalt attestierten.27 Allerdings weigerten sich viele Wissenschaftler, ihre Forschung nach diesen Vorgaben auszurichten, so dass man sich an pensionierte Wissenschaftler wandte, die wiederum selbst noch Zeiten der Vertreibungspolitik miterlebt hatten. Damit kam es, generationsperspektivisch gesehen, zu einer Verschiebung des Diskurses, der allerdings auch starken Einfluss auf das in den Schulen unterrichtete Geschichtsbild in der Türkei hatte, immer noch hat und tief über alle Parteigrenzen hinweg gesellschaftlich verankert ist.28 Gepaart mit dem bereits angesprochenen heroischen Nationalmythos der Unabhängigkeitskriege, entstand das Gegenteil der kontraphobischen Reaktionsbildung, mit der Dan Diner die deutsche Nichtidentifikation mit dem eigenen Land, das die historische Schuld des Holocausts auf sich geladen hat, beschrieb.29 Die vermeintlich von außen und mit – so empfundenem – kolonialem Habitus an die Türken herangetragene historische Schuld erscheint in diesem Denkschema als unvereinbar mit der Identität einer heldenhaften Nation. Die unterschiedlichen Erfahrungs- und Erinnerungswelten aus den beiden Weltkriegen begründen bis heute die Probleme der europäisch-türkischen Kommunikation. Durch das Nichteingreifen der Türkei während des Zweiten Weltkrieges blieb eine Auseinandersetzung mit dem Holocaust und damit auch zu Fragen von Minderheitenschutz und zur Dynamik von Massengewalt weitgehend aus. Im Gegenzug entwickelte sich im Kampf um die Anerkennung des Genozids ein armenisches Narrativ, das besonders durch armenisch-amerikanische Historiker geprägt wurde. Dieses Geschichtsbild zeichnet sich durch eine Kontinuitätsthese aus, wie sie etwa Vahakn Dadrian darstellt: die Massaker an der armenischen Bevölkerung im 19. Jahrhundert sind mit den Ereignissen im 20. Jahrhundert verknüpft. Der Genozid wird so zum Ausdruck eines lange gehegten fanatischen Hasses der Muslime auf Christen. Im Grunde wird ein osmanischer Sonderweg beschrieben, der beinhaltet, dass es dem Staat nicht gelang, das Millet-System aufzulösen und durch Reformen für die Gleichstellung der christlichen Osmanen zu sorgen.30 Allerdings wird der Kontext der osmanischen Bevölkerungspolitik, 27 Zu den türkischen Institutionen, die in dieser Hinsicht besonders aktiv waren, siehe: Goltz, S. 23. 28 Ausführlich dazu Göçek (2014), S. 457 – 465. 29 Z. B. Diner (1999); Diner (1995). 30 Dadrian (1995); siehe auch: Hovannisian.
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die auch anderen Bevölkerungsgruppen galt, in dieser Erzählung weitgehend ausgeblendet. Offenbar ging es bei der Abfassung entsprechender wissenschaftlicher Werke auch weniger um eine Kontextualisierung, als vielmehr um den Nachweis der Intention und damit der Rechtfertigung des Genozidbegriffs. Diese Fokussierung gipfelte im Vergleich mit den NS-Verbrechen und, wie bei Dadrian, zusätzlich in einer Analogiebildung zwischen der jüdischen Bevölkerung im Deutschen und der armenischen Bevölkerung im Osmanischen Reich.31 Der Vergleich eines Massenverbrechens mit dem Holocaust war damals methodisch in den Geschichts- und Kulturwissenschaften noch eine Ausnahme und diente eher der nachvollziehbaren, notwendigen Steigerung der Aufmerksamkeit. Aus wissenschaftlicher Sicht blieb der Erkenntnisgewinn allerdings überschaubar. Die gegensätzliche Haltung der meist armenisch- und türkischstämmigen Wissenschaftler, die in der Frage um die Intention zu Rede und Gegenrede ansetzten, war es ebenso. Diese Auseinandersetzung fand nur partiell Eingang in die internationale Wissenschaft.32 Das politische Szenario des Kalten Krieges und des NATO-Bündnisses war dafür aber nur ein Grund. In Westeuropa dominierte nach dem Zweiten Weltkrieg die Beschäftigung mit der europäischen Nachkriegsordnung, die den Frieden, die Demokratisierung von Gesellschaften und die neue europäische Staatsgemeinschaft sichern sollte. Diese Neuverortung steigerte die westeurozentrische Sicht, die bereits bei dem zeitgenössischen Blick auf den Ersten Weltkrieg eine Rolle spielte, noch einmal. Auch der nationalsozialistische Völkermord stand nach 1945 nicht unmittelbar im Mittelpunkt nationaler Erinnerungen. Außerhalb Deutschlands entwickelte sich das Geschichtsbild um den jeweiligen Widerstand gegen Diktatur und Besatzung als Grundstein nationalhistorischer Meistererzählungen. Es dauerte Jahrzehnte, bis die fundamentale historische Fokussierung auf den Widerstand in Frage gestellt wurde. Viele Franzosen hinterfragten etwa erst seit den 1980er und 1990er Jahren ihre eigene Geschichte zwischen Résistance und Kollaboration.33 Eins zu eins lässt sich dies nicht auf die Geschichtswissenschaft übertragen: was allerdings in die universitären Strukturen eingemeißelt schien, war die Konzentration auf die eigene nationale Geschichte. Noch wirkmächtiger für die Geschichtswissenschaften in Westdeutschland war die Debatte um die Einzigartigkeit des Holocaust während des Historikerstreits ab 1986, der jedoch weniger die Opfer der NS-Vernichtungspolitik thematisierte oder eine wissenschaftliche Ausdifferenzierung erzielte. Er war eher, so fasst es NS-Forscherin Sybille Steinbacher zusammen, „ein Meinungskampf um die westdeutsche Identität nach dem Holocaust“. Der Historikerstreit verdeutlichte, „wie sehr die Geschichte des Holocausts noch in die Gegenwart hineinreichte, und deutsche Historiker zur Positionierung zwang“.34 Verbunden war damit die These Dadrian (1988). Eine Ausnahme blieb etwa Ternon. 33 In diesem Zusammenhang immer noch richtungsweisend: Flacke. 34 Steinbacher, S. 21. 31
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von einem deutschen Sonderweg, die zwar wissenschaftlich bald ausdifferenziert oder bestritten wurde, aber politpädagogisch eine enorm wichtige Rolle spielte und noch spielt; ihre Akzeptanz scheint schließlich den „einzig möglichen Ausgangspunkt für einen deutschen Bruch mit der Vergangenheit“ zu bieten.35 Die amerikanische Historikerin Margaret Lavinia Anderson zitiert in einer Rezension aus dem Jahr 2003 einen deutschen Historiker anonym, der gefragt wird, warum kaum Forschung zum Genozid an den Armeniern stattfindet: „Natürlich können wir diese Forschung nicht erbringen; es würde so aussehen als ob wir versuchen von unseren Verbrechen abzulenken“.36 Anders als die Diskussion um die Einzigartigkeit der Schoah in Deutschland ist diese, auch innerjüdische und emotional in den USA und Israel geführte Debatte in der Hauptsache erfahrungsgeschichtlich zu deuten. Das Bewusstsein, einer Ausnahmesituation ausgesetzt zu sein, dürfte sich unter deutschen Juden angesichts des eruptiven Einbruchs von Gewalt in ihr Leben wahrscheinlich schon seit 1933 herausgebildet und im Krieg unter der jüdischen Bevölkerung anderer besetzter Länder auf traumatische Weise ins Gedächtnis eingebrannt haben. Ein Vergleich mit anderen Phänomenen der Massengewalt galt als Relativierung. Dass auch in der Geschichtsschreibung, etwa von Steven Katz oder Yehuda Bauer, auf „absolut einzigartigen Umständen“ dieses Völkermordes bestanden wird, ist in diesem Zusammenhang noch zu deuten.37 Für weitere Opfergruppen ist in diesen Debatten bis heute wenig Raum, obwohl die Konferenz des International Network of Genocide Scholars 2016 in Jerusalem darauf hindeutete, dass sich eine allmähliche Öffnung gegenüber anderen Sichtweisen vollzieht.38
III. Interdisziplinäre Tendenzen und aktuelle Interpretationen Ein weiteres Hemmnis für eine differenziertere Forschung zum Völkermord an den Armeniern waren neben bestimmten gesellschaftspolitischen Konstellationen und der Konzentration auf nationale Geschichte die nur wenigen interdisziplinären und transnationalen Perspektiven. Auch das Fach Osmanistik blieb, wie angrenzende Fächer, lange Zeit eine geschlossene Gesellschaft. Osmanisch war eine Verwaltungssprache, die sich aus Persisch, Türkisch und Arabisch zusammensetzt und die es für Studierende neu zu erlernen galt. Ein schneller Zugriff auf das Quellenmaterial – und die Archive der Türkei waren und sind zudem noch Restriktionen unterworfen – ist dadurch nicht möglich. Zudem war dieses Fach, so beschreibt es Mit dem Hinweis auf Kurt Sontheimer: Schulze (2002), S. 230. Anderson/Reynolds/Kieser/Balakian/Moses/Akçam, S. 464. 37 Kurz zusammengefasst bei Steinbacher, S. 20. 38 Die Tagung in Jerusalem verlief im Vorfeld nicht ohne Diskussion ab. Israel W. Charny veröffentlichte einen Artikel über vermeintlich antisemitische und antiisraelische Tendenzen im akademischen Journal des International Network of Genocide Scholars: vgl. Charny. Den Vorwürfen ist begegnet worden in Goldberg/Kehoe/Moses/Segal/Shaw/Wolf. 35
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der Osmanistikprofessor Donald Quataert, mit einem Tabu versehen. Stark geprägt vom Einfluss der offiziellen türkischen Geschichtsschreibung, gab es „eine Aura der Selbstzensur“, die die Beschäftigung mit religiösen Minderheiten speziell am Ende des Osmanischen Reiches vermied.39 Das skizzierte Konglomerat aus politischen wie strukturellen Problemen führte dazu, dass sich eine Historiografie zum Völkermord an den Armeniern lange Zeit kaum entwickelte. Mit dem Ende des Kalten Krieges setzten langsam neue Möglichkeiten der Selbstreflexion ein, und transnationale Fragestellungen erweiterten den geografischen Horizont der Geschichtswissenschaften. In der westlichen Wissenschaft wurde der armenische Völkermord entweder aus der Perspektive nichtosmanischer Staatsbürger untersucht, indem etwa Missionare, Diplomaten, Hilfsorganisationen als Seismografen der Veränderungen staatlicher und gesellschaftlicher Strukturen verstanden wurden.40 Oder es wurde nach den Interventionsmöglichkeiten verschiedener Staaten und deren Rezeption der Massengewalt gefragt.41 Diese Fragestellung ist zum einen aus den sprachlichen Möglichkeiten der Quellenanalyse heraus zu verstehen, zum anderen aus der spezifischen Erfahrung der Kriege im ehemaligen Jugoslawien und in Zentralafrika in den 1990er Jahren, bei denen die Staatengemeinschaft ebenfalls nur zögerlich oder gar nicht eingriff. Angesichts der Dimension der Schoah scheint es nicht verwunderlich, dass lange Zeit nach ideologischen und personellen Kontinuitäten auf deutscher Seite gesucht worden ist. Besonders frühere Arbeiten machten sich für die These einer direkten deutschen Verwicklung in den Völkermord an den Armeniern stark,42 nicht selten beeinflusst durch Henry Morgenthaus noch während des Krieges erschienene Erinnerungen an seine Zeit als US-amerikanischer Botschafter in Konstantinopel von 1913 – 1916. Der Gewaltforscher Donald Bloxham hat sich schon früh ausführlich mit Thesen dieser Art beschäftigt und beurteilt sie als Konstruktionen, die mit dem Stand der Genozidforschung nicht vereinbar sind und vor allem die Verantwortung der osmanischen Machthaber relativieren.43 Neuere wissenschaftliche Betrachtungen beschäftigen sich aufgrund komplexeren Detailwissens und des angezweifelten Erkenntnisgewinns kaum noch mit möglichen Kontinuitäten oder gar der Vorstellung, die Idee des Genozids sei von Deutschen an das Komi-
39 Genauere Untersuchungen, wie sich das auch außerhalb der Türkei über Jahrzehnte auswirkte, stehen noch aus. 40 Z. B. Kieser (2000). 41 Beispielsweise für die USA: Winter. Zur Wahrnehmung des Völkermordes an den Armeniern in Deutschland siehe: Schaller; Pschichholz; für die Schweiz: Kieser (1999). Pionierarbeit bei der Erfassung der Quellen des Auswärtigen Amtes Berlin leistete der Journalist Wolfgang Gust mit seiner Quellensammlung: Gust. 42 Dadrian (1998); Dadrian (1996); Dinkel. 43 Bloxham (2002).
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tee für Einheit und Fortschritt herangetragen worden.44 Der Grundtenor aktueller Forschung zu dieser spezifischen Frage lässt sich in etwa so zusammenfassen: Die deutsche Reichsregierung hat die Verfolgung der armenischen Bevölkerung weder unterstützt noch befürwortet, allerdings muss man ihr eine deutliche moralische Gleichgültigkeit und ein außerordentlich schlechtes Urteilsvermögen attestieren. Im Jahr 2015 veranstaltete das Lepsiushaus Potsdam in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Museum in Berlin die erste internationale Konferenz zu diesem Thema. Ein Ergebnis dieser Tagung war, dass für ein angemessenes differenziertes Bild Fallstudien und Untersuchungen zu Einzelfragen benötigt werden. Nur so sei ein in der Gesamtheit breitgefächerter Eindruck der deutschen Handlungsspielräume im Osmanischen Reich zu erhalten.45 Die Vernichtung der Armenier in Anatolien fand aber auch über einen anderen Weg Eingang in breitere wissenschaftliche Untersuchungen: Durch die Universalisierung der Erinnerung an den Holocaust ab den 1980er Jahren und die große Bandbreite der „Holocaust Studies“ entwickelte sich im anglo-amerikanischen Raum die vergleichende Genozidforschung rasant. Sie hat zum Ziel, die einzelnen Völkermorde genauer zu erforschen und systematisierende und vergleichende Ansätze und Typologien zu entwickeln. Die Thematisierung des Völkermordes an den Armeniern stand nun, anders als bei den Pionierarbeiten armenischer Historiker, deutlich weniger unter geschichtspolitischen Vorzeichen. In diesem Zusammenhang wurden Fragen aufgeworfen, inwieweit der Völkermord an den Armeniern für das 20. Jahrhundert als paradigmatisch gelten kann und welche Lerneffekte sich daraus einstellen lassen. Einen methodisch umfangreicheren Zugang wählten Hans-Lukas Kieser und Dominik J. Schaller als Herausgeber des Sammelbandes Der Völkermord an den Armeniern und die Shoah46. Besonders erkenntnisreich erscheinen die Aufsätze, die nicht auf einen direkten Vergleich abzielen, sondern sich von Fragestellungen aus der ausdifferenzierten Holocaustforschung anregen lassen. Hans-Lukas Kieser vollzieht beispielsweise mit einem biografischen Ansatz die Radikalisierung des Gouverneurs des Bezirks von Diyarbakır, Mehmed Reşid Bey, nach und analysiert einen besonders eifrigen Täter, weil er, mit Ian Kershaws Worten („working towards the Führer“) Talât Pasha so entgegen arbeitete, dass dieser sich gezwungen sah, ihn bei der Ausweitung der Opfergruppen zu bremsen.47 Zudem hat die Holocaustforschung gezeigt, dass ökonomische Zusammenhänge – im Gegensatz zur Ideengeschichte von Ideologien und Nationalstaatenbildung im Kontext von Ethnie und Identität – häufig in den Hintergrund rücken, jedoch eine nicht zu vernachlässigende Größe bei Massengewalt sein können. Christian Gerlach verweist beispielhaft auf die enorme Dynamik, die die Übernahme des 44 Morgenthau, S. 365: „(…) the Germans had suggested this deportation to the Turks. But the all-important point is that this idea of deporting people en masse is, in modern times, exclusively Germanic“. 45 Ausführlich dazu: Hosfeld/Pschichholz. 46 Kieser/Schaller. 47 Kieser (2011).
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armenischen Besitzes bei der Nationalisierung der türkischen Wirtschaft in Kleinasien entwickelte.48 Übergeordnete Interpretationen lieferten Wissenschaftler aus den „Genocide Studies“. Mark Levene ordnet den Genozid an den Armeniern, der nun in der Geschichtsforschung deutlich stärker vertretenen globalgeschichtlichen Perspektive folgend, mit einer transnationalen Sicht auf Massengewalt ein. Im Zentrum seiner Untersuchung stehen die rimlands, die Randgebiete der multiethnischen Imperien, etwa des Russischen Reichs, Österreich-Ungarns und eben des Osmanischen Reichs, mit ihrer dort lebenden heterogenen Bevölkerung, deren Vielfältigkeit in Sprache, Kultur und Religion als Teil imperialer Herrschaft Normalität war. Mit dem Wunsch nach der Durchsetzung eines Nationalstaatsprinzips schien dies den politischen Akteuren aber höchst problematisch. Die Krisen multiethnischer Großreiche und ihre Zusammenbrüche hätten das nationalistische Denken verstärkt – mit katastrophalen Konsequenzen für Gruppen in den rimlands, die nicht in die Konstruktion der jeweiligen Nationalität passten. Genozidale Gewalt war, so Levene, kein Sonderfall, sondern integraler Bestandteil der modernen Nationalstaatenbildung.49 Donald Bloxham interpretiert die Situation, die zum Genozid führte, als Zusammentreffen des politischen Verfalls im Osmanischen Reich, der eigennützigen Politik der europäischen Mächte, des aufkommenden Nationalismus im Nahen Osten und der Aktivitäten einiger armenischer Nationalisten, die von türkischen Nationalisten zu einer allgemeinen armenischen Gefahr aufgebauscht wurden und so wiederum Repressionen gegenüber den Armeniern legitimierten. Die Gegenreaktionen der Armenier, wie etwa der Aufstand in Van 1915, hätten dann zu einer weiteren Radikalisierung der osmanischen Führungsspitze geführt. Bloxham beschreibt dies als einen Prozess der kumulativen Radikalisierung – ein Ansatz, der aus der Historiografie des Holocausts bekannt ist. Diese Radikalisierung habe dazu geführt, dass eine weitgehend wehrlose Gruppe auf Willen staatlicher Akteure hin vernichtet wurde.50 So hilfreich diese Einordnungen für weitergehende Fragen zu den Ereignissen von 1915/16 sind, so deutlich blieb der Osmanistikprofessor Donald Quataert in seiner kritischen Rezension über die genannte Monografie Bloxhams: Durch die kaum stattfindende Heranziehung von osmanischen Quellen bliebe das Gesamtbild lückenhaft. Quataert forderte gleichzeitig die osmanisch kundigen Wissenschaftler auf, sich noch stärker von den Fesseln der lange anhaltenden Selbstzensur im Fachgebiet Osmanistik zu befreien, um eine wissenschaftliche Erforschung schneller voranzutreiben und sich an der Diskussion zu beteiligen.51 48 Gerlach, Extrem, S. 124 – 161. Im Detail: Der Matossian, Taboo; Kaiser (2006); Üngör/Polatel. 49 Levene (2005). 50 Bloxham (2005), S. 96. 51 Quataert, S. 253.
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Die Entwicklung in diesem Fachbereich ist tatsächlich in Bewegung geraten: Ein erster Schritt zum fälligen Tabu-Bruch waren Publikationen von Fikret Adanır, Hamit Bozarslan, Fatma Müge Göçek und Halil Berktay. 1996 veröffentlichte Taner Akçam, der in den 80er Jahren am Hamburger Institut für Sozialforschung arbeitete, seine Dissertation Armenien und der Völkermord – Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. Neben seinem Doktorvater, dem Soziologen Peter Gleichman, wurden der ebenfalls in Deutschland lehrende türkische Professor Fikret Adanır und der armenisch-amerikanische Historiker Vahakn Dadrian in das Prüfungskomitee berufen, was eine große Symbolkraft hatte. Weitere Publikationen des inzwischen an der Clark-Universität lehrenden Akçam, sowie der zuvor Genannten wurden breit und international rezipiert. Das Armenian Forum, eine vom Gomidas Institute London bereitgestellte wissenschaftlichen Plattform, veröffentlichte Ende der 90er Jahre Artikel von Fachleuten armenischer und osmanischer Geschichte, die darüber hinaus in einen konstruktiven Dialog traten. Ein nun leichterer Zugang zu den Archiven in der Türkei förderte diese Entwicklung zusätzlich. Auch in der türkischen Zivilgesellschaft entwickelten sich Diskurse, die u.a. die Bedeutung und das Schicksal von religiösen und ethnischen Minderheiten neu fokussierten. Durch das damalige politische Klima, welches die Annäherung an die EU durch Reformmaßnahmen von 1999 – 2005 vorantrieb, und die deutliche Intensivierung des internationalen akademischen Austausches wurde eine Grundlage geschaffen, die das Hinterfragen des nationalistischen Narrativs und der anti-imperialistischen Rhetorik des kemalistischen Nationalismus in vielfältiger Form ermöglichte. Der Übergang vom spätosmanischen Reich zur Republik Türkei war damit automatisch in den Fokus geraten, und auch wenn sich viele Forschungsarbeiten zunächst einmal nicht direkt mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigten, beleuchteten sie doch den Hintergrund zu den Ereignissen von 1915/16. Mitten hinein in diese hoffnungsvolle Phase initiierten Fatma Müge Göçek, Gerard Libaridian und Ronald G. Suny 1998 den Workshop on Armenian Turkish Scholarship (WATS) mit mehreren aufeinanderfolgenden Veranstaltungen, die türkische und armenische Wissenschaftler und weitere internationale Spezialisten miteinander ins Gespräch brachten, um eine objektive zeithistorische Annäherung an 1915/16 – fernab gesellschaftspolitischer Interessenlagen – zu ermöglichen. Das Konzept von WATS und der daraus erarbeitete Sammelband A Question of Genoc ide? blieben aber nicht ohne Kritik.52 So warf der Historiker Bedross Der Matossian vor allem den Herausgebern vor, ihre Arbeit sei mit einer politischen Motivation auf Versöhnung ausgerichtet und ließe den Genozidbegriff wieder verhandelbar erscheinen. Einem Teil der armenischen Stimmen, die im Gegensatz zur These der kumulativen Gewalt während des Ersten Weltkrieges stärker die These von der bereits vor dem Krieg begonnenen Planung der Vernichtung der Armenier vertreten, wäre hier zu wenig Raum gegeben. Des Weiteren mahnt Matossian die stärkere Einbindung armenischer Quellen an, die im Gegensatz zu den osmanischen nicht 52
Suny/Göcek/Naimark.
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genügend berücksichtigt würden, weil ihnen scheinbar noch immer das Manko des zu Subjektiven anhafte.53 Der bisher wohl bedeutendste Meilenstein jüngerer Forschung dürfte allerdings die 2005 in Istanbul durchgeführte Konferenz „Ottoman Armenians During the Decline of the Empire: Issues of Scientific Responsibility and Democracy“ gewesen sein. Die Veranstalter sahen sich im Vorfeld harscher Kritik – bis hin zum Vorwurf des Landesverrates – ausgesetzt; vor allem von politischen Parteien und nationalistisch gesinnten NGOs, wie etwa der Türkischen Gesellschaft für Geschichte (Türk Tarih Kurumu). Eine terminliche Verschiebung der Konferenz wurde durch verbale Angriffe des damaligen Justizministers Cemil Çiçek bei einer von der Republikanischen Volkspartei (Cumhuriyet Halk Partisi, CHP) organisierten Parlamentsdebatte bewirkt. Ein weiterer Versuch eines Istanbuler Verwaltungsgerichtes, die Konferenz zu stoppen, misslang wohl auch, weil die türkische Regierung erneute Kritik aus der EU vermeiden wollte. Die Konferenz fand dann allerdings nicht an der staatlichen Bosporus-Universität statt, sondern an der privaten Bilgi-Universität.54 Der Auseinandersetzung mit dem Völkermord an den Armeniern ist trotz dieser Konferenz noch weit entfernt vom Curriculum türkischer Universitäten. Aber dass wir heute so viel mehr über die Jahre 1915/16 wissen, ist auch türkischen und kurdischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern zu verdanken, die unbequeme Auseinandersetzungen nicht scheuten. Der enorme Zuwachs an wissenschaftlichen Arbeiten ermöglicht inzwischen eine breite Debatte, die weitere Fragen aufwirft und immer wieder nach einer generellen Einordnung verlangt. Wie diskussionsbedürftig die allgemeinen Einordnungen sein können, verdeutlicht beispielsweise das 2015 erschienene Buch von Ronald G. Suny.55 Er argumentiert, dass der Völkermord an den Armeniern kein Ergebnis längerer Planung, nicht religiös motiviert und nicht Ausdruck älterer ethnischer Spannungen war, sondern als pathologische Reaktion auf die Wahrnehmung einer existentiellen Bedrohung des osmanischen Territoriums in der konkreten Situation des Ersten Weltkrieges gesehen werden sollte. Allerdings nimmt die Vorgeschichte zu den Weltkriegsereignissen inklusive den ethnisch-religiösen Spannungen drei Viertel seines Buches ein. Sowohl der Umfang als auch der Inhalt der Studie könnten darauf hindeuten, dass Suny seiner eigenen These nicht traut. Selbst wenn von einer kumulativen Radikalisierung der Gewalt auf Initiative der fanatischen Führung des Komitees für Einheit und Fortschritt auszugehen ist, bleibt der Hergang der Entscheidungsfindung weiter im Detail zu diskutieren. Wie sehr Grundlagenforschung noch fehlt, etwa zu den Sondereinheiten (Teşkilat-ı Mahsusa), die die Deportationen maßgeblich durchführten, oder dem zu hinterfragenden Bild von Talât, Enver und Cemal Pascha als vermeintlich einheitlichem Triumvirat zeigDer Matossian, Definitiveness. Goltz. Eine weitere wichtige Konferenz fand unter der Führung der Hrant Dink Stiftung statt: The Social and Economic History of Mardin Region, 1838 – 1938 im November 2012. 55 Suny. 53
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te zuletzt die Diskussion bei der Konferenz „Demographic Concepts, Population Policy, Genocide – The First World War as a Caesura?“ in Potsdam 2016.56 Vor allem eine holistische Sicht auf die Bevölkerungspolitik, das social engineering in spätosmanischer Zeit, insbesondere in Verbindung mit den Balkankriegen und die stärkere Einbindung in die Ereignisse eines eben nicht nur in Europa geführten Weltkrieges versprechen Erkenntnisgewinn.57 Eine wichtige Voraussetzung für die Weiterentwicklung dieses Diskurses ist das Bewusstsein, dass kritische Forschung, auch wenn die letzten Jahrzehnte positiv verliefen, kein Selbstläufer ist. Die Ereignisse von 1915/16 auch weiterhin ungehindert aufarbeiten zu können, erfordert seitens der Forscherinnen und Forscher möglicherweise immer wieder neue Anstrengungen – auch über die der wissenschaftlichen Arbeit hinaus.
56 Tagungsbericht: Demographic Concepts, Population Policy, Genocide – The First World War as a Caesura?, 29. 09. 2016 – 01. 10. 2016 Potsdam, in: H-Soz-Kult, 23. 11. 2016. (Online: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6834) 57 Siehe etwa den Sammelband Kieser/Öktem/Reinkowski mit Aufsätzen von Emre Erol, Y. Doğan Çetinkaya, Yuval Ben Bassat, Mehmet Polatel u. a.
Der Holocaust und seine Historiografie Von Dan Stone Dan Stone Der Holocaust und seine Historiografie
Es stimmt nicht, dass im ersten Jahrzehnt nach 1945 niemand etwas über den Völkermord an den europäischen Juden zu sagen hatte, obwohl dies oft angenommen wird. In der Tat wurde eine beträchtliche Menge an Zeugnissen und Studien veröffentlicht, allerdings zum größten Teil in Sprachen, die Englisch sprechenden Forschern nicht zugänglich waren, bzw. an Orten, die für all jene, die nicht direkt mit den Netzwerken der Überlebenden zu tun hatten, obskur blieben.1 Es gab außerdem etliche populäre und künstlerische Darstellungen des Holocaust, wiewohl der Völkermord an den Juden freilich noch nicht unter diesem Namen abgehandelt wurde.2 Dennoch wirkt der Mangel an Geschriebenem im unmittelbaren Nachgang des Krieges umso frappierender, wenn man den Vergleich mit der geradezu schwindelerregenden Produktion historischer (und anderer) Forschung sowie von populären Büchern und Filmen im letzten Viertel des zwanzigsten Jahrhunderts bemüht – ein Strom, der für die nähere Zukunft kein Abebben erwarten lässt. Die Historiografie des Holocaust ist heutzutage in zahlreiche Unterdisziplinen aufgespalten, die in vielen Sprachen betrieben werden und auf sehr unterschiedlichen methodologischen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen beruhen. Ihr Umfang ist so beträchtlich, dass kein Einzelner mehr hoffen kann, sie je ganz zu überblicken. Die logische Konsequenz daraus ist, dass ich in diesem Überblick nur einige der Haupttrends dieser Historiografie präsentieren, einige ihrer Erfolge und Schwachstellen erörtern und die Holocaust-Literatur in Beziehung zu jüngsten Trends in der vergleichenden Genozidforschung setzen werde.
I. Historiografien Frühe Geschichten des Holocaust basierten im Wesentlichen auf den vom Nürnberger Internationalen Militärgerichtshof gesammelten Dokumenten, die in 42 Bänden veröffentlicht wurden. Doch neben den Werken von Léon Poliakov, Z. B. Szende; YIVO Bleter 30 (1947), 1 und 2 zum Thema „The Years of Catastrophe“ (auf Jiddisch); Billig; und die zahlreichen Yizker-Bikher (Erinnerungsbücher, ebenfalls zum größten Teil jiddisch). Überdies gilt, wie Judith Baumel bemerkt hat, dass in der unmittelbaren Nachkriegszeit mehr Memoiren von Frauen veröffentlicht wurden als von Männern und dass diese in der Tendenz eher ignoriert wurden und schnell vergriffen waren: Baumel, S. 55 – 56. Vgl. auch Wieviorka, Era. Ich bin Andy Pearce und Zoë Waxman für ihre Anmerkungen zu einer früheren Version dieses Beitrags zu Dank verpflichtet. 2 Baron; Diner (2003); Wieviorka (1989); Wyman (1996); Ofer. 1
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Gerald Reitlinger, Joseph Tenenbaum, Raul Hilberg, Nora Levin, Helmut Krausnick und Lucy Dawidowicz gab es bereits in den späten 1950er Jahren zahlreiche Fachpublikationen – etwa die israelischen Yad Vashem Studies (deren erster Band 1957 erschien) – sowie viele Artikel und Bücher zu verschiedenen Aspekten des Holocaust, wie man jetzt zu sagen begann, insbesondere Studien zum jüdischen Widerstand und zur nationalsozialistischen Ideologie. In den 1980er Jahren war die historische Forschung bereits umfangreich genug, die Publikation historiografischer Gesamtschauen zu rechtfertigen. Sowohl Michael Marrus’ The Holocaust in History (1987) als auch Ian Kershaws The Nazi Dictatorship (1985) wurden zu Klassikern und lieferten klare wie auch noch heute nützliche Überblicke über das Feld. Schließlich war es 1983 die – wenn auch eher eklektische – Konferenz The Historiography of the Holocaust Period in Yad Vashem (Tagungsband veröffentlicht 1988), die Anleitungen zu und Hinweise auf eine vielseitige und sonst (für Englischsprecher) unzugängliche Literatur lieferte, etwa die sowjetische und israelische Historiografie. In der jüngeren Zeit ist einiges an Essay- und Dokumenten-Sammlungen sowie Enzyklopädien und Readern herausgekommen, und weitere sind aktuell in Planung.3 Darüber hinaus stellt der Holocaust den Gegenstand einer ganzen Menge theoretischer Literatur dar, verfasst von Historikern, Literaturwissenschaftlern, Philosophen und anderen, in der es um den Platz des Holocaust im zwanzigsten Jahrhundert geht, um die Natur des geschichtswissenschaftlichen Unterfangens oder die „Grenzen der Repräsentation“. Eine besonders wichtige Rolle hat der Holocaust im Zusammenhang der Debatte um die Postmoderne gespielt; für einige Gelehrte war der Holocaust in der Tat der Vorbote des postmodernen Denkens mitsamt seiner Zurückweisung „großer Narrative“ und seiner Skepsis gegenüber Konzeptionen des Fortschritts und der Vernunft.4 Im Folgenden wird das Ziel nicht sein, die genannten historiografischen Überblickswerke in Augenschein zu nehmen. Sie seien hier nur erwähnt, um die Größe und Bedeutung des Forschungsgebiets anzudeuten und um keine Zweifel zu lassen, dass ein knapper Abriss, wie ihn dieser Essay darstellt, nicht mehr als ein Ausgangspunkt sein kann. 3 Stone, Holocaust; Hochstadt; Gigliotti/Lang; Levi/Rothberg; Hilberg (2001); Michman; Rozett, Approaching; Bartov (1999); Cesarani, Holocaust; Berenbaum/Peck; Laqueur/ Baumel; Rozett/Spector; Gutman/Jäckel/Longerich; Diefendorf; Petropoulos/Roth. Ältere Sammlungen wie Arad et al., Dawidowicz und Noakes/Pridham sind alle noch greifbar und weiterhin äußerst nützlich. 4 U. a., um hier nur englischsprachige Publikationen aufzuführen: Friedländer (1992); Friedländer (1993); Diner (2000); LaCapra (1994); LaCapra (1998); LaCapra (2001); Lang (1990); Lang (1999); Lang (2005); Lang (1988); Langer (1995); Langer (1998); Langer (2006); Kritzman; Rosenfeld (1997); Sicher; Young (1988); Bernstein (1994); Hartman; Kren/Rappoport; Rosenberg/Myers; van Alphen; Reiter (2000); Cohen (2003); Postone/Santner; Rubenstein/Roth; Bauer/Rotenstreich; Milchman/Rosenberg; Eaglestone; Stone (2001); Rothberg; Eisenstein. Die Literatur zu Erinnerung, Fotografie, Literatur, Zeugenberichten und Film ist zu umfangreich, als dass man sie hier aufführen könnte. Eine gute Einführung geben Levi/ Rothberg. Zur Erinnerung vgl. auch Stone (2008).
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II. Erklärungen, alte und neue Die jüngste Fragmentierung innerhalb der Geschichtsschreibung des Holocaust ist zum Teil sicherlich der Tatsache geschuldet, dass der Holocaust zu einem Kernbestandteil des westlichen Bewusstseins geworden ist – ein Phänomen, für das im bescheidenen Rahmen dieses Beitrags keine Erklärung geliefert werden kann –, zum anderen Teil wurde sie aber auch dadurch befördert, dass seit dem Ende des Kalten Krieges viel mehr Dokumente entdeckt wurden, als die Historiker es nach Ende der Nürnberger Prozesse für möglich gehalten hätten. Zwar hatten frühe Historiker des Holocaust wie Léon Poliakov, Gerald Reitlinger und Philip Friedman umfangreiche Dokumentationen zur Verfügung, doch keineswegs in der Menge und Vielfalt, auf die sich ihre heutigen Kollegen stützen können.5 Die Sammlungen des United States Holocaust Memorial Museum (Washington, D. C.) und von Yad Vashem (Jerusalem) umfassen mittlerweile Kilometer von Regalen und unzählige Mikrofiches. Um nur ein paar willkürlich gewählte Beispiele zu nennen: Es sind nach und nach in enormen Mengen Dokumente zugänglich geworden zum Holocaust in Rumänien und der rumänisch besetzten Ukraine (Transnistrien); zum nationalsozialistischen Besatzungsregime und Völkermord in Ostgalizien, Weißrussland und Litauen; über den Vatikan, seine Beziehungen zum Dritten Reich und seine Haltung den Juden gegenüber; zur Verwicklung deutscher Großunternehmen wie Schering, Dresdner Bank, Deutsche Bank, I.G. Farben, Daimler Benz, Degussa u. a.; über das Ausmaß der Mitschuld der deutschen Bevölkerung angesichts ihrer Teilhabe am Prozess der „Arisierung“ und Weiterverbreitung enteigneter Besitztümer; zu den diversen Aktivitäten antisemitischer Forschungsinstitutionen, unabhängiger (d. h. solcher, die von nationalsozialistischen Organisationen betrieben wurden) wie universitärer, und zur europaweiten Beihilfe zum Völkermord. Diese neue Archivforschung hatte verschiedene Auswirkungen. Die erste ist, dass sich die Historiker seit den 1990er Jahren von theoretischen Ansätzen und Debatten abgewandt haben – was einer gewissen Ironie nicht entbehrt: ist es doch in der theoretischen Literatur oftmals gerade der Holocaust, der als jenes Ereignis angeführt wird, das besondere Aufmerksamkeit für die erkenntnistheoretischen und methodologischen Grundlagen des historischen Fachs gebietet. Wie Saul Friedländer anmerkt, ist es „gerade die ‚Endlösung‘, die es dem postmodernen Denken erlaubt, die Zulässigkeit einer jeden totalisierenden Sicht der Geschichte, jeglicher Referenz auf einen definierbaren Metadiskurs in Frage zu stellen.“6 Nur wenige Historiker haben es freilich für nötig befunden, auf Friedländers Problemstellung zu reagieren. Als zweite Folge hat es sich ergeben, dass wir auf der empirischen Ebene heute viel mehr über das Ausmaß und die Durchführung des Verbrechens wissen. Wir kennen die Funktionsweisen und den Umfang der Verwicklung großer Mengen nicht-deutscher Kollaborateure, seien sie Individuen oder Staaten. Drittens 5 Man sollte dennoch nicht vergessen, wie wichtig ihre Arbeiten waren. Vgl. Poliakov (1956); Reitlinger; Friedman (1980). 6 „Introduction“ in Friedländer (1992), S. 5.
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sind als direkte Konsequenz neue interpretatorische Differenzen unter den Gelehrten zutage getreten (die ich weiter unten erkunden werde), obwohl solch umfangreiches Quellenmaterial erschlossen wurde, mit dem die Historiker arbeiten können und das einen breiten Konsens über gewisse grundlegende Fakten des Holocaust ermöglicht hat. Für die meisten Geschichtswissenschaftler ist das Hauptproblem heute weniger die theoretische oder quasi-philosophische Besorgnis, wie ihr Fach den Holocaust darstellen kann bzw. ob das historische Handwerkszeug bestenfalls unbrauchbar oder schlimmstenfalls korrumpiert ist: Nur wenige Historiker befassen sich mit Moishe Postones Behauptung, dass der Holocaust „die Grenzen der normalen Geschichtsschreibung, wenn man so will, sprengt und mit ihnen die jedes herkömmlichen Umgehens mit der Geschichte“.7 Weitaus mehr interessieren sie sich für verschiedene Erklärungsparadigmen, insbesondere hinsichtlich der relativen Bedeutung, die man der Ideologie auf der einen und der Kontingenz auf der anderen Seite zuschreiben sollte. Aus diesem Grunde ist hier zu allererst die langlebige Debatte zwischen „Intentionalisten“ und „Funktionalisten“ zu erörtern. Bis in die 1980er Jahre vertraten die meisten Historiker – wobei Hilberg die bedeutendste Ausnahme war – die These, dass die Hauptursache des Holocaust der Antisemitismus der Nazis war. Diese Position ist einfach nachzuvollziehen – muss die Ermordung der Juden nicht etwas mit Judenhass zu tun gehabt haben? Tatsächlich konnte diese Denkungsart erst mit einem Namen – „Intentionalismus“ – belegt werden, als ein neuer Ansatz aufkam – „Funktionalismus“ oder „Strukturalismus“ genannt –, der ihre vermeintliche Offensichtlichkeit in Zweifel zog.8 Intentionalisten wie Lucy Dawidowicz, Eberhard Jäckel, Andreas Hillgruber, Gerald Reitlinger, Deborah Lipstadt oder Yehuda Bauer meinen, dass Hitler den Plan hatte, die Juden zu ermorden, und diesen sofort, als die Gelegenheit günstig war, in die Tat umsetzte. Es ergab sich, dass dieser Augenblick im Schatten des Krieges kam, als das genozidale Projekt zwischen allgemeiner Unsicherheit und weitreichender Zerstörung einfacher abgetarnt werden konnte. Diese Interpretation geriet in den 1970er und 1980er Jahren zunehmend unter Beschuss, als die Forschung entdeckte, wie wenig geradlinig sich der genozidale Prozess in Wirklichkeit entwickelt hatte. Stattdessen „wand“ sich der Weg nach Auschwitz, wie es ein Historiker ausdrückte.9 Wenn Hitler wirklich von vornherein beabsichtigte, die Juden zu ermorden, so wurde argumentiert, warum wäre dann ein gradueller Prozess der sozialen Exklusion vonnöten gewesen, wie er sich zwischen 1933 und 1938 abspielte? Warum wurde danach noch die „räumliche Lösung“ einer Deportation der Juden nach Nisko in Ostpolen oder Madagaskar herbeifantasiert?10 Überdies begannen Historiker, zu argumentieren, dass die Ghettos zu Beginn mitnichten als „Zwischenlager“ bis zur Deportation in die Vernichtungszentren eingerichtet wurden, und sie äußerten Zweifel an dem (sofern es von vornherein einen Plan gab, ohnehin paradox erscheiPostone (1990), S. 233. Die Benennung der „Schulen“ entstammt Mason. 9 Schleunes. Vgl. auch Adam. 10 Vgl. Brechtken. 7 8
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nenden) Gedanken, dass die berüchtigte Wannseekonferenz des 20. Januar 1942 eine so ausschlaggebende Rolle im Entscheidungsprozess spielte, wie die meisten Vertreter der Zunft glaubten.11 Die Debatte war stark polarisiert, wobei einige funktionalistische Historiker behaupteten (namentlich Martin Broszat und Hans Mommsen), dass es nicht nur keinen Plan gab, sondern dass Hitler niemals eine einzelne „Entscheidung zugunsten der Endlösung“ traf. Mommsen zufolge war der Antisemitismus tatsächlich nur ein rhetorisches Mittel der Hetze und der Holocaust ein „Ausweg aus der Sackgasse“, in die die Nazis sich während des Krieges verrannt hatten. Die Funktionalisten betonten, dass ihre Behauptungen die exklusive Beachtung Hitlers, Himmlers und Heydrichs beendeten und stattdessen den Blick weiteten für die Schuld großer Teile der deutschen Bevölkerung und verschiedener Sektoren der Verwaltung des Reichs. Die Intentionalisten betrachteten dieses Argument hingegen als eine Art Zerstreuung der Schuld in dem Sinne, dass die „kumulative Radikalisierung“, die zum Völkermord führte, mehr oder weniger zufällig auftrat. (Die Abwesenheit aktiven Handelns ist hier von Bedeutung.) Es war dies ein klassischer Historikerstreit zwischen jenen, die die Welt als vom Handeln bewegt auffassen und daher die Rolle individueller Akteure hervorheben und ihren Gegnern, die sozialen Kräften und Strukturen das Primat geben, da individuelle Entscheidungen unweigerlich von solchen gelenkt und begrenzt werden.12 Etwa ab 1990 schien es freilich so, als habe die Debatte sich beruhigt. Als Christopher Browning sich als „moderaten Funktionalisten“ bezeichnete und Philippe Burrin sich als „bedingten Intentionalisten“, schien ein Kompromiss gefunden. Dank der Arbeiten deutscher Historiker, die sich in die frisch geöffneten Archive der vormals kommunistischen Länder Europas begaben, wurde das Interesse an der Frage allerdings neu entflammt. Diese Wissenschaftler – u. a. Götz Aly, Christoph Dieckmann, Thomas Sandkühler, Christian Gerlach und Dieter Pohl – vertraten in ihren „regionalen“ Studien des nationalsozialistischen Besatzungsregimes in Osteuropa die Auffassung, dass die genozidalen Schläge gegen die Juden zwar gewiss in einem vom gewalttätigen Antisemitismus durchtränkten Klima geführt wurden, dass aber gleichzeitig die unmittelbaren Ursachen des Mordens andernorts zu suchen sind, z. B. in Nahrungsmittelknappheit in der Region oder in den Plänen zur „Germanisierung“ von Stadt und Land. Insofern er auf Archiv arbeit beruht, vermag dieser „neue Funktionalismus“ zwar zu überzeugen, er hat aber dennoch Schwachstellen, da er außer Acht lässt, dass was in den Dokumenten steht, nicht notwendigerweise das ist, was tatsächlich geschehen ist. Allein die Tatsache, dass ein paar junge Statistiker, Demographen und Ernährungswissenschaftler mit Karriereambitionen im Schlepptau der Besatzung Papiere produzierten, in denen der Elimination der Juden das Wort geredet wird, belegt noch nicht, dass diese auch ursächlich dafür waren, dass es genau so kam. Tatsächlich haben die 11 12
Vgl. zum Wannsee-Thema Roseman (2002). Vgl. für eine exzellente Diskussion Moses (1998).
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genannten Historiker bemerkenswert wenig über die SS zu sagen oder darüber, welche Entscheidungen in Berlin getroffen wurden, obwohl sie die Bedeutung des Antisemitismus als des Bezugssystems anerkennen, innerhalb dessen politische Maßnahmen ergriffen wurden. Ihre Arbeiten liefern auch genauso wenig eine zufriedenstellende Erklärung für die westeuropäische Dimension des Holocaust.13 Aus diesem Grund ist in der Literatur der letzten Jahre eine „Rückkehr der Ideologie“ zu beobachten. Während der akademische Konsens der 1980er ein funktionalistischer war, ist die Betonung der „Modernität“, „Technologie“ oder „kumulativen Radikalisierung“ heute weitestgehend einem Akzent auf „Gewalt“, radikalem Antisemitismus und Fantasie gewichen.14 Der Grund dafür war nicht Daniel Goldhagens Buch, das – falls es irgendwelche positiven Auswirkungen hatte – zum Katalysator für Forschung wurde, die bereits im Gange war, etwa zur ideologischen Indoktrinierung in der SS, dem radikalen Antiemitismus in der Weimarer Republik15 und über das Ausmaß, in dem „Rasse“ beachtlich viele Aspekte des Dritten Reichs strukturierte und antrieb (was ich weiter unten diskutiere). Dennoch: es fällt auf, dass heute nur wenige Historiker entweder eine extrem intentionalistische oder eine extrem funktionalistische Position vertreten. Die meisten akzeptieren mittlerweile, dass es vor 1941 oder 1942 keinen klar formulierten Plan für den Völkermord gab und dass im Zentrum des Regimes eine Weltanschauung lag, die auf mystischem Rassedenken basierte und insbesondere auf Antisemitismus. Eine treffende Illustration für diese Diagnose liefert die Debatte zwischen Christopher Browning und Peter Longerich über den Zeitpunkt der Entscheidung zugunsten der Endlösung: Beide sind sich über viele Annahmen einig, aber Ersterer hebt stärker die Kriegsumstände des Herbstes 1941 hervor und gibt der Tatsache weniger Gewicht, dass die Vernichtungslager erst 1942 in Betrieb gingen, wohingegen Letzterer die Kontinuität der „Judenpolitik“ betont, die zwar immer „den Juden“ beseitigen wollte, aber erst 1942 genozidale Züge annahm.16 Wie man diese beiden Sichtweisen versöhnen soll, bleibt unklar. Es ist dies auch nicht unbedingt die wichtigste Frage, mit der sich Historiker auseinandersetzen müssen, obwohl sie weiterhin von entscheidender Bedeutung für die Historiografie ist. Es wäre also ein Irrtum anzunehmen, dass die heftigen Debatten, die Intentionalisten und Funktionalisten sich vor zwei Jahrzehnten lieferten, völlig verstummt sind. Es ist wohl angemessen, wie Christian Gerlach zu sagen, dass sie nachgelassen haben: Das aktuelle Ausbleiben von Kontroversen zwischen Forschern mit völlig verschiedenen Ansätzen zur Holocaustforschung ergibt sich aus der Tatsache, dass viele deutsche His13 Für Beispiele einflussreicher „Regionalwissenschaft“ vgl. Gerlach (1999); Gerlach (1998); Pohl; Sandkühler; Aly, Final Solution; Musial (1999); Gerlach/Aly; Cole; Angrick/ Klein. 14 Friedländer (1997), mit seiner Betonung des „Erlösungsantisemitismus“, und Friedländer (2007); Tal; Nolzen; Burrin (2003); Burrin (2005); Confino. 15 Walter; Hecht; Weisbrod; Wildt (2000); Hoffmann/Bergmann/Smith. 16 Browning (2004); Browning/Matthäus; Longerich (1998); Longerich (2001).
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toriker (und natürlich keineswegs nur deutsche) nicht mehr nach exklusiven Erklärungen – bzw. der einen wahren Erklärung – suchen, da die Komplexität der Wurzeln des Holocaust immer breiter zur Kenntnis genommen wird. Ja, es gibt noch immer abweichende Meinungen, aber die gegenwärtige Forschung befasst sich mit Erklärungselementen und umfasst den Versuch, den Holocaust so zu verstehen, dass er mehrere Ursachen hatte.
Letztlich gesteht Gerlach dennoch zu, dass „die Frage, ob die Hauptursache des Holocaust die Ideologie war, ein wichtiges Unterscheidungskriterium für verschiedene Zugänge in der Historiografie bleibt.“17 So ist zwischen den „mehreren Ursachen“, die Gerlach anspricht, noch immer dieselbe Frage sichtbar, die den früheren Disput zwischen Intentionalisten und Strukturalisten befeuerte: die Rolle der Ideologie einerseits und der Umstände andererseits, jetzt allerdings in einem viel weiteren, empirisch reichhaltigeren und nicht zuletzt komplexeren historischen Kontext.
III. Neueste Trends Die Geschichtsschreibung des letzten Jahrzehnts hat noch nicht die Grenzen der klassischen Unterscheidung zwischen Opfern, Tätern und bystandern durchbrochen.18 Thematisch orientierte Forschung – etwa zu Geschlecht oder Erinnerung – bietet die Gelegenheit dazu, aber der Trend zur zunehmenden Spezialisierung bedeutet auch, dass nur wenige Historiker willens sind, etablierte Interpretationsrahmen in Frage zu stellen. Innerhalb solcher Rahmensysteme wurde freilich eine enorme Menge an origineller Forschung betrieben. Beginnen wir bei den Tätern. Von Dan Diner stammt die Beobachtung, dass wiewohl „es zweifellos nicht ausreicht, zu behaupten, dass historiografische Narrative einzig und allein aus der Verwurzelung des Historikers in einer gewissen ‚ethnischen‘, nationalen bzw. einer anderen Kollektivzugehörigkeit herzuleiten sind“, es dennoch „ein exzessiver Rationalismus wäre, die Auswirkungen traditioneller Gruppenerinnerung auf die Geschichtsschreibung zu ignorieren.“19 Es ist folglich keine Überraschung, dass deutsche Historiker in Studien dieser Art die führende Rolle spielen und dass die Täterforschung in Deutschland eine eigene Teildisziplin geworden ist. Natürlich gibt es etliche Beispiele für nicht-deutsche Historiker, die ebenfalls zu Tätern forschen, doch im Allgemeinen ist Diners Beobachtung sehr treffend. Um den Argumenten der Sozialpsychologen zur Bedeutung situationsbezogener Faktoren (als Gegenentwurf zur intrinsisch „bösen“ Natur Einzelner20) Substanz zu verleihen, hat sich die Forschung auf Individuen konzentriert. Außerdem gab es einen Fokus auf Institutionen, von denen bis vor kurzem überraschend weniGerlach (2004), S. 291 f. Hilberg, Catastrophe. 19 Diner (2000), S. 177. 20 Die sozialpsychologische Literatur liegt jenseits des Themenbereichs dieses Beitrags. Für brauchbare Ansätze, vgl. Baum; Kelman; Darley; Bandura; Lang, Killing. Eine gute Apologie des situationalistischen Zugangs findet sich in Roth. 17
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ge überhaupt Gegenstand ernsthafter Untersuchungen waren. So wurde etwa das Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA), das zum SS-Imperium des RSHA gehörte und das die Historiker allzu lange vernachlässigten, von Michael Thad Allen erforscht; der SD wurde von Michael Wildt im Detail untersucht; dem Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (RuSHA) wurde dank Isabel Heinemann eine erste wissenschaftliche Monografie zuteil.21 Der Fokus rangiert hier zwischen Funktionären der hohen Ebene (beim SD) und mittleren SS-Bürokraten (Allen und Heinemann), und was in all diesen Fällen zum Vorschein kommt, ist die Bedeutung der Ideologie. Allens Arbeit weist etwa darauf hin, dass die SS unzählige Unternehmen gründete, um ihre vorherrschende Stellung innerhalb des Nazi-Reichs voll auszunutzen, und Himmler war es ein Anliegen, „moderne“ Management-Techniken dort einzuführen, um sie so effizient wie möglich zu machen. Doch Allen zeigt auch, wie die ideologische Motivation ständig das behinderte, was funktionalistische Historiker als Bürokratisierung oder Routinisierung bezeichnet haben. Stattdessen wurde der wirtschaftliche Erfolg etlicher SS-Unternehmungen, wie der Deutschen Erde- und Steinwerke (DESt), durch ideologischen Ballast behindert, insbesondere hinsichtlich der Ausbeutung unausgebildeter Sklavenarbeiter, die mit dem Drang nach effizientem Management kaum zusammenzubringen war. Und Wildt konnte zeigen – wie vor ihm schon Ulrich Herbert und Lutz Hachmeister jeweils in ihren Biografien zu Werner Best und Alfred Six22 – dass die SD-Männer keine leidenschaftslosen „Schreibtischmörder“ waren, sondern gebildete Ideologen, radikalisiert durch den Ersten Weltkrieg und der Vision einer rassischen Erneuerung Deutschlands treu ergeben. Weniger überraschend – zumindest für eine Studie, die sich mit einer der Rasse-Institutionen der SS befasst – konnte Heinemann zeigen, dass das RuSHA überzeugt war, dass sein Projekt, die Bevölkerung Osteuropas nach rassischen Kriterien zu klassifizieren, den nationalsozialistischen Plan einer „Regermanisierung“ des Gebiets vorantreiben würde. Ein ähnliches Szenario hat sich hinsichtlich einiger hochrangiger Nationalsozialisten ergeben, die in neueren Studien behandelt wurden. Peter Longerich konnte bestätigen, dass Himmler ein überzeugter Rasse-Ideologe war, und David Cesarani hat klargemacht, dass Adolf Eichmann mitnichten ein „Zahnrad“ in der Vernichtungsmaschinerie darstellte, sondern einen ihrer Hauptantriebe.23 Ihre Untergebenen, sowohl in der Verwaltung der Konzentrationslager als auch im T4-Apparat (Eu thanasieprogramm) und der Zivilverwaltung des besetzten Ostens, sind allesamt als ideologisch motivierte Täter identifiziert worden. Zum Beispiel haben Yaacov Lozowick und Hans Safrian einige weniger bekannte „Bürokraten des Todes“ beleuchtet, die in der Tat emotional und ideologisch wesentlich stärker im völkermörderischen Projekt des Regimes involviert waren, als es die traditionell funktionalistische oder eine im engeren Sinne intentionalistische Herangehensweise vermuten ließe.24 Allen (2002); Wildt (2003); Heinemann. Herbert (2001); Hachmeister. Siehe auch Orth (2004). 23 Longerich (2008); Cesarani, Eichmann. 24 Lozowick; Safrian. 21
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Der wahrscheinlich signifikanteste Teil der Täterforschung hat sich mit der Wehrmacht und ihr angegliederten Entitäten (z. B. den Polizeibataillonen) in Osteuropa befasst. Die Wehrmachtsaustellung von 1995 hat die Vorstellung einer „sauberen Wehrmacht“ endgültig begraben, von der Historiker sich freilich schon längst verabschiedet hatten.25 Selbst die entschärfte Version der Ausstellung – aus der etliche Fotos entfernt wurden, für die sich eine definitive Identifizierung als unmöglich erwies – zeigte deutlich, dass sich „gewöhnliche“ Soldaten in breitem Ausmaß an Gräueltaten beteiligt hatten. Außerdem begannen Historiker, ausgehend von Brownings Ordinary Men (1992), über die schon wohlbekannten Einsatzgruppen hinaus – mobile Todesschwadronen des RSHA, die der Wehrmacht in die Sowjetunion folgten und mehr als eine Million Juden erschossen –, die Frage zu untersuchen, ob solche Täter wie die Angehörigen der Polizeibataillone einfach Pech hatten, sich in einer schrecklichen Situation wiederzufinden, oder ob sie womöglich doch stärker ideologisch motiviert waren, als Browning es angenommen hatte. Arbeiten von Edward Westermann, Ben Shepherd, Konrad Kwiet, Jürgen Matthäus, Wolf Kaiser und anderen legen nahe, dass die Wehrmacht ein gut organisiertes Programm der ideologischen Indoktrination hatte. Es geht daraus hervor, dass viele Soldaten und Polizisten, die zu Tätern des Holocaust wurden, – obwohl Browning mit der Behauptung, dass situationsbezogene Faktoren (inklusive so vermeintlich banaler wie Alkoholkonsum, Karrierismus oder Gruppendruck) zu berücksichtigen seien, überzeugender war als Goldhagen (und auch angenehm maßvoll) – scheinbar sehr stark von der nationalsozialistischen Ideologie beeinflusst waren.26 All diese Täter sind „normale Männer“ in dem Sinne gewesen, dass sie weder Psychopathen waren noch anderweitig geistesgestört; aber sie wurden zum größten Teil Anhänger einer Ideologie, die aus heutiger Sicht klar „irrational“ erscheint. Wie George Browder in einer hilfreichen Rezension anmerkt, könnte der Gegensatz von „überzeugtem Ideologen“ und „banalem Bürokraten“ gar eine falsche Dichotomie sein; diese zwei Etiketten sind höchstens die zwei Extrempunkte eines mehrdimensionalen Täterspektrums.27 Stattdessen war, in Mark Rosemans Worten, „die ‚Intention‘, um bei der Terminologie der älteren Debatte zu bleiben, viel weiter verbreitet, als die Historiker einst meinten … wir sollten den Antisemitismus nicht als ein abstraktes Dogma behandeln, sondern effektiv als eine Linse, die die Art und Weise beeinflusste, wie andere Faktoren wahrgenommen und bewertet wurden.“28 Es ist folglich keine Überraschung, dass Forschungsinstitute, die auf Antisemitismus und Rassenlehre ausgerichtet waren, im NS-Staat zahl- und einflussreich Vgl. den Begleitband Heer/Naumann. Westermann; Shepherd; Matthäus (2003); Mann (2000); Kaiser (2002); Curilla. Vgl. auch die wichtige Studie von Welzer. 27 Browder. Siehe Matthäus (2004) für weitergehende Erörterungen dazu, dass die Historiker „die Bedeutung der Ideologie im Allgemeinen und des Antisemitismus im Besonderen für Verfolgung und Massenmord“ (S. 211) noch detaillierter untersuchen müssen. 28 Roseman (2003). 25
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waren. Unmittelbar nach dem Krieg enthüllten mehrere wichtige Veröffentlichungen das Ausmaß der Komplizenschaft von Intellektuellen und Wissenschaftlern beim Aufstieg des Nationalsozialismus und in seinen verbrecherischen Aktivitäten.29 Im vergangenen Jahrzehnt haben Forscher im Detail untersucht, welche Rollen verschiedene Berufsgruppen und Akademiker aller couleur spielten, inklusive – mit Verspätung – der Historiker.30 In The Nazi Conscience (2003) argumentierte Claudia Koonz, dass das allgegenwärtige Rassevokabular – in der Presse, der Propaganda und in gelehrten Journalen wie Walter Gross’ Neuem Volk – ausschlaggebend war darin, den Boden für den Holocaust zu bereiten: „Worte wie Ausrottung, Säuberung und Vernichtung bevölkerten die Fantasien von Antisemiten des harten Kerns lange bevor der Zweite Weltkrieg einen Kontext erschuf, in dem der Massenmord an den Juden zur Realität werden konnte.“31 Koonz betont ganz wie Matthäus und andere die Bedeutung der Ausbildung im „Rassenkrieg“. In Studying the Jew (2006) führt Alan Steinweis das Prestige und den Einfluss vor, die Einzelne und ganze Institute, die sich der Bearbeitung der „Judenfrage“ widmeten, genossen. Auch Patricia von Papen-Bodek erkundet in ihrer Studie über das Frankfurter Institut zur Erforschung der Judenfrage das Netzwerk von Forschungsinstitutionen, das „frustrierten und erfolglosen Akademikern eine Nische bot“, aber dennoch über beträchtlichen Einfluss verfügte, weil die Natur des Regimes ihm diesen zubilligte und lokale antisemitische Netzwerke in ganz Europa es unterstützten.32 Die ausgesprochen angesehenen und wichtigen Kaiser-Wilhelm-Institute, Vorläufer der heutigen Max-Planck-Gesellschaft, sind ebenfalls zum Gegenstand außergewöhnlich gründlicher Forschung geworden, was für eine Dachorganisation, die einige der weltweit bekanntesten Anthropologen und anderer Wissenschaftler beheimatete, nur recht und billig ist.33 Die Netzwerke der Verfolgung und Komplizenschaft waren also viel weiter gespannt, als es Historiker in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vermuteten. Jenseits des RSHA, der Forschungsinstitutionen und der Behörden war auch die breite Bevölkerung Deutschlands tief verstrickt. Neben anderen hat Frank Bajohr anhand der „Arisierung“ und anderer Enteignungsmaßnahmen gezeigt, dass, wiewohl man die Wirtschaft nicht als den primären Antrieb des Holocaust betrachten sollte, es dennoch verkehrt wäre, sie als „unbedeutendes Nebenprodukt des Holocaust“ zu sehen, wozu die Historiker für lange Zeit neigten.34 Die Enthüllungen der 1990er Jahre über schlummernde Schweizer Bankkonten, gestohlenes Gold und geplünWeinreich; Poliakov/Wulf; Poliakov (1989). Haar/Fahlbusch; Berg; Haar; Schulze/Oexle; Aly, Macht; Schöttler. Eine ausgezeichnete Diskussion findet sich in Jarausch. 31 Koonz, S. 230. 32 Steinweis (2006); von Papen-Bodek. Siehe auch Rupnow. 33 Schmuhl (2005), d. i. Band 9 einer Serie, die sich mit der Geschichte der KWI im Nationalsozialismus befasst. Andere Bücher der Reihe mit direkter Relevanz für die Historiografie des Holocausts sind u. a. Schmuhl (2003) und Sachse. 34 Bajohr. 29
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derte Kunstwerke haben in Verbindung mit öffentlichen Debatten zur Entschädigung der Zwangsarbeiter, der Einrichtung nationaler Untersuchungskommissionen in der ganzen Welt, von Europa bis nach Lateinamerika, der Öffnung von Unternehmensarchiven für Historiker und historischer Forschung zu „Judenmärkten“ oder dem elitären Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg zu einer sprichwörtlichen Explosion des Interesses an dem heiklen und emotional schwierigen Thema finanzielle Implikationen der Judenverfolgung geführt.35 Die linke Kritik des „Faschismus“, die auf der Definition des Kommunisten Georgi Dimitrov von 1935 basierte, bestand zu Zeiten des Dritten Reichs und verstärkt auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges auf einer notwendigen Verbindung von Faschismus und big business. Dimitrov zufolge stellte der Faschismus „die offen terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischsten und imperialistischsten Elemente des Finanzkapitals“ dar. Die meisten westlichen Historiker haben seit den 1970er Jahren das Argument, Hitler sei eine Marionette der Kapitalisten gewesen, abgelehnt. Doch seit Ende des Kalten Krieges wurden die Verbindungen zwischen Nationalsozialismus und Wirtschaft in der Geschichtswissenschaft noch einmal neu bewertet. Zwar würden wenige heute die Vorstellung aus den 1960er Jahren vom „Faschismus“ als nichts anderem als dem „Krisenkapitalismus mit dem Knüppel“36 unterschreiben, doch auf der Grundlage empirischer Detailarbeit in den Firmenarchiven glauben mittlerweile etliche, dass viele deutsche (und internationale) Unternehmen von der Gleichschaltung der Industrie über das Funktionieren des Versicherungs- und Finanzwesens bis zur Beschäftigung von Zwangsarbeitern in viel größerem Ausmaß in den Holocaust verstrickt waren, als es die westdeutsche Nachkriegserinnerung wahrhaben wollte, die viel lieber das Wirtschaftswunder zelebrierte.37 Es liegen detaillierte und gründliche Studien zu Deutscher Bank, Dresdner Bank, Daimler Benz, I.G. Farben, Degussa, Schering, Allianz, Krupp, Volkswagen und anderen vor und sie machen ein ganz neues Teilgebiet der Historiografie des Holocaust aus, das auf Nichtspezialisten einschüchternd wirken mag, aber in seiner nuancierten Darstellung der komplizierten und zeitweise problematischen Beziehung zwischen Industrie und Nationalsozialismus verdienstvoll ist.38 Wenn die Erstere auch keineswegs die Strippenzieherin der kommunistischen Mythologie war, so war sie doch tief verstrickt in die NS-Verbrechen und blieb bis zur Mitte des Krieges zum größten Teil willens, die Forderungen des Nazi-Regimes zu erfüllen, da sie weiterhin finanziell davon profitierte. Christopher Kobrak und Andrea H. Schneider fassen die komplexe Natur dieser Historiografie wie folgt zusammen: für einige Unternehmen war es während des NS-Regimes mindestens punktuell business as usual, von menschlichem Elend zu profitieren; andere Firmen zogen es vor, auf Abstand zu gehen zu Aktivitäten, die als unmoralisch erscheinen hätten sollen und die Beker; USHMM (2003); Junz; Bazyler (2007). Maier, S. 71. 37 Wiesen; Berghahn. 38 Kobrak/Schneider geben einen umfassenden Überblick zum Thema. 35
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auf lange Sicht ihrem internationalen Ruf nur schaden würden. Studien legen auch nahe, dass das Verhalten sogar innerhalb von Unternehmen keineswegs uniform war. Fortschritte in diesem Bereich werden nicht unbedingt durch einen Mangel an Belegen blockiert, sondern eher durch die Komplexität der ökonomischen Bewertung und Fragen zur Rolle der Intention im Gegensatz zum Ergebnis und des Leids im Gegensatz zum Profit.
Zum Ende geben sie allerdings ein klares Statement ab: „Obwohl sich isolierte Beispiele von Unternehmenschefs finden, die sich unermüdlich gegen die Verlockungen der Macht wehrten, mit denen das Regime seine Position festigte, war die Wirtschaft insgesamt doch sehr eifrig dabei, von der ökonomischen Rettung durch die Nazis zu profitieren.“39 Forschung zur Zwangsarbeit und zum Wirtschaftsimperium der SS hat aufgezeigt, dass es zuvor überraschenderweise nur wenige detaillierte Studien der nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslager gab. Die Museen in den ehemaligen Lagern haben alle ihre Lagergeschichten vorgelegt und natürlich gibt es zahlreiche Studien, Zeugenberichte und populäre Darstellungen, doch nur wenige dieser Arbeiten haben die neusten historischen Belege berücksichtigt. Diese Anomalie wird aktuell nach und nach behoben. Zu nennen sind hier S ybille Steinbachers Auschwitz-Monografie, die Teil einer von Bernd C. Wagner herausgegebenen vierbändigen Historie ist, die Veröffentlichungen der Forscher des Museums Auschwitz-Birkenau, Bogdan Musials Aufsatzsammlung über die Lager der Aktion Reinhard (Belzec, Sobibor, Treblinka) und detaillierte Untersuchungen des Lagersystems im Allgemeinen, seiner Struktur, Funktionsweise und Entwicklung.40 Steinbachers Arbeit ist in gewisser Weise mit der der oben genannten „neuen Funktionalisten“ verknüpft, da sie argumentiert, dass der emblematische Status Auschwitz’ sich aus der Tatsache ergab, das „es eine Zusammenstellung der Haupt elemente der Germanisierungspolitik im eroberten Osten wurde: ein Konzentrationslager für die Vertriebenen, eine ‚Musterstadt‘ für jene, die sie ersetzen sollten, und eine gigantische Fabrik, in der beide Gruppen Beschäftigung finden würden, zumindest zeitweise und zu sehr unterschiedlichen Bedingungen“, wie Peter Hayes es trefflich zusammenfasst.41 Mit anderen Worten: Man muss den Völkermord an den Juden, obwohl er auch ein Projekt sui generis war, ebenfalls im breiteren Kontext nationalsozialistischer Pläne zur Umgestaltung Europas nach „rassischen“ Gesichtspunkten verstehen. Dieses Argument scheint zwar die übergreifenden Ambitionen der Nazis zu erhellen, doch es verfällt demselben interpretatorischen Kurzschluss wie die Behauptung, dass Nahrungsmittelknappheit den Entschluss, die Juden zu ermorden, antrieb: Es verlässt sich zu sehr auf Funktionäre der mittleren Ebene und das, was uns deren umfangreichen und faszinierenden AufzeichnunKobrak/Schneider, S. 161 und S. 164. Herbert/Orth/Dieckmann; Orth (1999); Długoborski/Piper; Wagner et al.; Musial (2004). Frühere Studien zu Auschwitz sind u. a. Gutman/Berenbaum; van Pelt/Dwork. Die einzige Monografie zur Aktion Reinhard ist auch weiterhin Arad. 41 Hayes, S. 343. Vgl. auch Allen (2007), für eine wichtige Arbeit, die die zentrale Bedeutung Auschwitz’ für die Ursprünge des Holocaust bekräftigt. 39
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gen über ihre Ambitionen verraten. Es verortet den Völkermord an den Juden allzu bereitwillig in ihren Plänen und legt nahe, dass der Antisemitismus nicht per se die Ursache des Holocaust war, sondern bloß seine notwendige Rahmenbedingung. Aktuell wird weitere Forschung zur Frühgeschichte der Konzentrationslager in Deutschland betrieben42 und man darf detailliertere Arbeiten zu den vielen Facetten der unterschiedlichen Lager erwarten. Eine wissenschaftliche Studie zu Reinhard Heydrich ist weiterhin ein Desiderat, ebenso wie angemessen kontextualisierte Untersuchungen anderer Haupttäter.43 Tatsächlich fehlt, trotz all der gelehrten Anstrengungen, die in die genannten mehrbändigen Veröffentlichungen eingegangen sind, eine einbändige Gesamtschau Auschwitz’ noch immer, genauso wie ein aktueller Überblick über das Lagersystem als solches. Letztlich wird die zukünftige Forschung zu den Lagern auch die Opfer stärker in den Blick nehmen müssen. Die lang erwartete englische Veröffentlichung von Gideon Greifs beeindruckenden Interviews mit überlebenden Angehörigen des Auschwitzer Sonderkommandos (Männer, die man zur Arbeit im Komplex der Gaskammern gezwungen hatte) sollte in der Lage sein, auch über das Genre der Zeugenerinnerungen hinaus Interesse an dem Thema zu stimulieren.44 Die Arbeiten zu medizinischen Experimenten und Rasse-Wissenschaft, der Postenstruktur und den Befehlsketten unter SS-Wachmannschaften, der Entwicklung des Lagers und seines Interessengebiets, Zwangsarbeit und Großindustrie sowie zum SS-Imperium im Allgemeinen müssen allesamt um komplementäre Studien über die Stellung der Insassen in den Lagern, jüdischer wie nicht-jüdischer, inklusive der Kapos, ergänzt werden. So haben wir auf der einen Seite eine täterzentrierte Wissenschaft, die den Holocaust zunehmend als einen bloßen Teil der nationalsozialistischen imperialen Visionen für die besetzten Territorien des Ostens ansieht, der Hand in Hand ging mit einer gigantischen „Umsiedlung“ (lies: Genozid) der Slawen und der kolonialen Besiedlung des Landes mit ethnischen Deutschen. Es gibt aber auf der anderen Seite auch eine eher opferzentrierte Literatur, die die Bedeutung der Ideologie hervorhebt. Jene, die das Lagersystem erforschen und die sich ihren Reim auf die vielen konkurrierenden Akteure innerhalb des SS-Imperiums machen müssen, sind eher geneigt, eine strukturalistische Interpretation zu bevorzugen, gerade weil sie in den Archiven einer komplexen Menge einander widersprechender Dokumente begegnen, die sich neben „Rassepolitik“ im engeren Sinne eben auch mit wirtschaftlichen Interessen, militärischen Angelegenheiten, ziviler Verwaltung und Aspekten der kolonialen Siedlung befassen. Wer zu nationalsozialistischen Forschungsinstitutionen, Rassewissenschaft oder zur NS-Ideologie arbeitet, wird wahrscheinlich eher einer Sicht des Holocaust den Vorzug geben, die einen direkten Nexus zwischen Ideen und Taten unterstellt, wenngleich das nicht dasselbe sein muss wie ein „intentionalistischer“ Ansatz im älteren Sinne. Und wenn die HistoUnter Leitung von Nikolaus Wachsmann vom Birkbeck College, London. Inzwischen ist eine solche Studie erschienen: vgl. Gerwarth. 44 Greif. Das Buch erschien zehn Jahre vorher auf Hebräisch und auf Deutsch. Siehe auch Friedler/Siebert/Kilian. 42 43
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riografie der Lager die Brücke zwischen Tätern und Opfern noch nicht geschlagen hat, so ist dies mit Blick auf die Ghettos noch weniger der Fall. In der Literatur zu den Ghettos ist ganz klar eine auf die Opfer zentrierte Perspektive prävalent. So etwas wie eine Holocaust-Historiografie „aus der jüdischen Perspektive“ (Dan Michmans Desiderat) mag es noch immer nicht geben, doch wo es um die Ghettos geht, machen die Erfahrungen ihrer Insassen den Löwenanteil der Literatur aus. Geschichtsschreiber der jüdischen Erfahrung des Holocaust haben es der relativ großen Anzahl an Tagebüchern, Fotos und anderen Dokumenten (Reden, Dramen, Lyrik, Musik, medizinische Aufzeichnungen usw.), die aus den größeren Ghettos erhalten sind, zu verdanken, dass sie zu ihrem Thema sehr viel Material finden konnten. Es ist dieser Bereich – neben Debatten über die Judenräte, jüdischen Widerstand und versteckte Juden45 –, in dem die Antworten der Juden auf ihre Verfolgung am genausten analysiert wurde. Forscher haben insbesondere in Texten zum Widerstand zu zeigen versucht, dass „geistiger Widerstand“ in den Ghettos eine von vielen Juden erlebte Realität war. Wir wissen mittlerweile eine Menge über den Mut jener, die in den Ghettos Kinder entgegen den Vorgaben der Deutschen in religiösen und weltlichen Gegenständen unterwiesen, Theater und Musik aufführten und wissenschaftliche Forschung betrieben.46 Auch die Courage der Ärzte und Krankenschwestern im Ghetto ist hier zu erwähnen.47 Doch wurde das Konzept des „geistigen Widerstands“ auch in Frage gestellt. Zunächst einmal birgt das von israelischen Historikern zur Charakterisierung des gewaltlosen Widerstands in Anschlag gebrachte Amidah-Konzept („Stehen“) das Risiko, eine große Menge an bewaffnetem Widerstand, den es ebenfalls gab, zu marginalisieren. (Im Gegensatz zu Behauptungen der frühen Nachkriegszeit, dass die Juden „wie Lämmer zur Schlachtbank“ gegangen seien, gab es in Ghettos und Lagern sowie in Gestalt von Partisaneneinheiten wesentlich mehr bewaffneten Widerstand, als man es für möglich gehalten hätte – und gewiss in einem Ausmaß, das den Vergleich mit den nationalen Widerstandsbewegungen im deutsch besetzten Europa nicht zu scheuen braucht.) Zweitens stellt es die Tatsache, dass solche Dinge geschahen, keineswegs in Abrede, wenn man vermutet, dass es womöglich zu einfach ist, zu glauben, dass die Aufführung von Stücken oder Musik den Menschen im Ghetto in Gestalt einer bloßen Ablenkung von der unerträglichen Realität Kraft gegeben hätte. Zwar gab es das Bedürfnis des Eskapismus durchaus, zu sehen etwa am Beispiel des Vilnaer Ghetto-Theaters, doch wie Shirly Gilbert in ihrer exzellenten Studie zu Musik und Holocaust zeigen konnte, haben unterschiedliche Gruppen in unterschiedlichen Lagern Musik in verschiedenen Weisen verwendet – von Liedern polnischer Nationalisten, die die NS-Herrschaft lächerlich machten bis zu den jiddischen Gesängen des Ghettos, in denen die Zerstörung ganzer Gemeinschaften Vgl. zu den Versteckten insbesondere Paulsson. Michman, S. 217 – 48; Bauer (2001), S. 143 – 66; Rozett, Resistance. 47 Vgl A. B. Szwajgers bemerkenswerte Memoiren. 45
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beklagt wird. Am wichtigsten ist aber, dass sie zeigt, wie insbesondere jüdische Lagerinsassen oftmals zum Auftreten gezwungen wurden und welche Auswirkungen diese Art Musik auf die sie Vortragenden, andere Lagerinsassen und die Wachmannschaften hatte, die die Orchester zusammenstellten und die sie auch zu ihrer persönlichen Unterhaltung spielen ließen. Von vielen bewegenden Beispielen für die komplexe Natur des Phänomens Musik unter dem nationalsozialistischen Joch gibt Gilberts Beschreibung, wie das Orchester von Szymon Laks in Birkenau Weihnachten 1943 gezwungen wurde, Weihnachtslieder für die Insassen des Frauen-„Krankenhauses“ im Lager zu singen, ein besonders eloquentes Zeugnis der monströsen Effekte, die Musik haben konnte.48 Gilbert bestreitet nicht, dass Musik unter gewissen Umständen hilfreich gewesen sein mag, den Durchhaltewillen von Insassen zu stärken, besonders bei deutschen politischen Häftlingen in einem Lager wie Sachsenhausen, die sich eines etablierten Repertoires an politischem Liedgut bedienen konnten. Aber sie liefert auch ein überzeugendes Argument, dass Musik in den Ghettos und Lagern von den Deutschen womöglich nicht akzeptiert wurde, weil sie von ihrer Existenz nicht wussten, sondern vielmehr weil sie nützlich dabei war, „Frieden zu halten“: „In ironischer Umkehrung des Arguments vom ‚geistigen Widerstand‘“, so schreibt sie mit Blick auf das Warschauer Ghetto, „scheint es, als wäre die Musik eine der vielen Aktivitäten gewesen, die von der SS gerade darum toleriert wurden, weil sie die Aufmerksamkeit der Opfer ablenkte von dem, was mit ihnen wirklich geschah, und so dazu beitrug, jeden Widerstandsdrang ihrerseits zu zerstreuen.“49 Ähnliches gilt für Sachsenhausen, wo sie auf die relative Freiheit hinweist, die die politischen Häftlinge hinsichtlich des Musizierens und Aufführens genossen; „es ist wichtig, sich klarzumachen, dass diese Freiheit den Politischen niemals zugebilligt worden wäre, hätte die SS diese Aktivitäten als eine ernsthafte Bedrohung aufgefasst.“50 Weiterhin argumentiert Gilbert, dass es kein Bedürfnis nach Widerstand war, das „Menschen in die Konzertsäle trieb, sondern eher der Wunsch, mindestens zeitweise der nagenden Realität von Hunger und Angst zu entfliehen.“51 Sie lässt auch keinen Zweifel daran, dass in Auschwitz nur die sehr kleine Minderheit der privilegierten Insassen in den Genuss von Musik gekommen sein könnte und dass solche Dinge für die meisten im Lager völlig irrelevant waren. Gleichermaßen waren es in den Ghettos nur ihre prominenten Bewohner, die sich, während Kinder in den Straßen verhungerten, an musikalischen Soireen erfreuten, wie es die bemerkenswerten Fotografien bezeugen, die Henryk Ross im Ghetto von Łódź aufgenommen hat. Debatten dieser Art über den Widerstand sind noch immer im Gange, weil die Historiker erst etwa im letzten Jahrzehnt dahin gekommen sind, dieses Thema in einer Weise zu erörtern, die weniger auf „Nationalcharaktere“ abstellt und sich Gilbert, S. 183 f. Ebd., S. 37. 50 Ebd., S. 119. 51 Ebd., S. 44. 48 49
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mehr auf leidenschaftslose Analyse beschränkt. Sogar was die Ghettos anbelangt, für die uns viele Quellen zur Verfügung stehen, ist nur sehr wenig bekannt über all jene, die nicht zu der Handvoll großer, in vielerlei Hinsicht nicht repräsentativer Ghettos gehörten wie Warschau, Łódź, Vilna, Minsk, Lemberg und Białystok, den untypischen Beispielen Amsterdam und Budapest oder zum fast gänzlich unklassifizierbaren Theresienstadt. Aus diesem Grunde hat Martin Dean vom USHMM, ein Experte für die Kollaboration auf lokaler Ebene in Osteuropa, ein Projekt auf den Weg gebracht, in dem er von den ungefähr 1.000 Ghettos, die unter der nationalsozialistischen Herrschaft eingerichtet wurden – manche waren winzig und existierten nur für wenige Tage – so viele wie möglich zu dokumentieren sucht. Ob ihm damit mehr gelingen wird, als die Namen und einige grundlegende Fakten aufzuzeichnen, bleibt abzuwarten. Ein Thema, das die Holocaust-Historiografie des vergangenen Jahrzehnts energetisiert hat, ist das des Geschlechts bzw. gender. In Diskussionen der Ghettos, Lager und des Widerstandes sind gegenderte Analysen mittlerweile als MainstreamAnsatz etabliert, obwohl es zunächst beträchtliche Widerstände gab, als die Idee in den 1980ern zuerst von wissenschaftlichen Pionieren wie Joan Ringelheim und Sybil Milton eingeführt wurde. Aus Sicht der Täter hat Elizabeth Harvey vorgeführt, in welchem Umfang Frauen in die Kolonisierung Osteuropas verwickelt waren; etliche Forscher haben die Rolle beleuchtet, die Wissenschaftlerinnen und Anthropologinnen bei der Legitimierung des Genozids gespielt haben und inwiefern sie sogar daran teilnahmen; außerdem wird aktuell zur weiblichen SS gearbeitet, den Lageraufseherinnen und Frauen im Euthanasieprogramm.52 Hinsichtlich der Opfer ist die einigermaßen unschöne und unproduktive Debatte, ob denn nun Männer oder Frauen erfolgreicher im Überleben waren (worin die Argumente ironischerweise oft genau die feministische Agenda unterliefen, die sie augenscheinlich motivierte, indem etwa insistiert wurde, dass Frauen wegen ihrer traditionellen Festlegung auf das Häusliche besser im „Kümmern und Teilen“ gewesen seien), einer anspruchsvolleren Methodologie gewichen. Zoë Waxman hat bemerkt, dass man, sofern man Frauen ausschließlich häusliche, mütterliche und fürsorgliche Rollen zuschreibt, „die Vielfalt der weiblichen Holocaust-Erfahrungen verunklart.“53 Die Gelehrten sind folglich nicht mehr überrascht, wenn sie sehen, dass Frauen auch brutal oder aggressiv sein konnten, und sie etikettieren solche Frauen nicht mehr automatisch als „vom Weiblichen abweichend“.54 Es gibt allerdings nur wenig Forschung zur Männlichkeit, und bisher hat das gender-Konzept in der Holocaust-Wissenschaft in der Praxis vor allem Frauen- und immer mehr auch Familien-Studien bezeichnet, insbesondere im Kontext der Displaced Persons. Überdies stellte in den letzten Jahren auch die Erfahrungswelt der Überlebenden in der unmittelbaren Nachkriegszeit einen gewissen Wachstumsbereich dar.55 Harvey; McFarland-Icke; Schafft; Heschel. Waxman (2003); Waxman (2006). Für eine umfassende Diskussion: Pine. 54 Heschel, S. 311. 55 Wyman (1998); Brenner; Königseder/Wetzel; Kochavi (2001); Geller; Kolinsky. 52 53
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Konzeptuelle und methodische Fortschritte in der Anwendung des gender-Konzepts auf die Holocaust-Studien haben bewirkt, dass momentan die Geschlechterforschung graduell von der Forschung zu Kindern entkoppelt wird, da die Gelehrten sich darüber klar werden, dass das volle Spektrum der weiblichen Erfahrungen in den Jahren des Holocaust mehr als nur Mutterschaft umfasst und dabei auch Arbeiten zu Kindern als eigenständige Abteilung immer anspruchsvoller werden. In den vergangenen fünf Jahren hat sich womöglich kein anderer Bereich der Historiografie des Holocaust so rapide fortentwickelt. Wo es noch vor einem Jahrzehnt gerade einmal zwei nennenswerte Studien gab, ist die Literatur nun pilzartig emporgeschossen.56 Dieser Befund hat zweifellos zum einen damit zu tun, dass heute kaum noch Überlebende da sind, die seinerzeit nicht Kinder gewesen wären, und zum andern mit dem Wilkomirski-Skandal, als der Mann, der behauptete, für die überlebenden Kinder zu sprechen und ihnen, die vormals übersehen worden waren, eine Stimme zu verschaffen, als Betrüger aufflog, wodurch ein Bedarf an verlässlicher Information über die Kinder geschürt wurde.57 Dies bedeutet, dass Forschung zu Kindern und dem Holocaust für die jüngsten Entwicklungen nicht nur in der Geschichts- sondern auch in der Literaturwissenschaft gleichermaßen wichtig ist, und es sind auch einige bedeutende Publikationen erschienen, die sich mit den Tagebüchern und Zeugenberichten von Kindern befassen.58 Zu guter Letzt wurde auch das Konzept des bystanders eingehenden theoretischen Untersuchungen unterzogen, und insbesondere für den Kontext Polens ist auch neue Forschung zu bystanders erschienen. Der wichtigste Auslöser für diese Debatte und weitere Arbeiten war Neighbors von Jan Tomasz Gross, erschienen 2.000 auf Polnisch und ein Jahr darauf in Englisch. Gross argumentierte, dass die Ermordung der jüdischen Bevölkerung des Dorfes Jedwabne in der Gegend um Białystok 1941, kurz nach Beendigung der fast zweijährigen sowjetischen und zu Beginn der sich anschließenden deutschen Besatzung, das Werk ihrer polnisch-katholischen Nachbarn war, nicht das der Deutschen. Die Schwierigkeit dabei lag nicht in der lokalen Beobachtung, dass Menschen, die zuvor friedlich beisammen lebten, einander brutal abschlachten konnten (dank Kambodscha, Ruanda und Bosnien ist uns dieses Szenario mittlerweile sehr vertraut), sondern sie betraf das nationale Selbstbild: Dass Polen, Angehörige des „Christus unter den Nationen“, die Opfer des Zweiten Weltkriegs, selbst andere zu Opfern machen konnten, war für die polnische Identität äußerst heikel. Die Nachwirkungen von Neighbors sind immer noch zu spüren, da dem Holocaust in Polen mittlerweile sehr viel Aufmerksamkeit gewidmet wird. Jenseits der Debatte in Polen wurde auch viel zu den „neutralen“ Ländern des Zweiten Weltkriegs gearbeitet. Die Erfahrungen von Ländern wie der Türkei, Spanien und Irland waren naturgemäß alle verschieden, aber keines von ihnen ist durch Eisen; Dwork. Wilkomirski. Die umfänglichste Diskussion bietet Maechler. 58 Stargardt; Reiter (2006); Brostoff; Holliday; USHMM (2004).
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die Arbeit von Forschern in ein allzu rosiges Licht getaucht worden. Doch am meisten gelitten hat das jeweilige Selbstbild in Schweden und der Schweiz. Um Letztere rankten sich große Skandale hinsichtlich ihrer Einwanderungspolitik, bzw. des Fehlens einer solchen und – die größeren Wellen schlagend – der Bankkonten und Vermögen von ermordeten Juden. Ersteres bekam es mit Enthüllungen zu tun, die seine Handelspolitik mit Deutschland während des ganzen Krieges betrafen und die seine Reputation als eines sicheren Zufluchtsorts für die Juden Dänemarks beschädigt haben. Auch Finnland – wiewohl genau genommen nicht neutral (es war aus dem geopolitischen Grund, sich die UdSSR vom Leib halten zu müssen, mit dem Dritten Reich verbündet) – wurde zum Gegenstand von Untersuchungen, die es in einem ähnlichen Kontext verorteten. Es ist hier noch mehr Arbeit zu erwarten, nicht nur über die neutralen Länder als solche, sondern zur Idee des bystanders im Allgemeinen, seien sie in Gestalt von Einzelnen aufgetreten, als NGOs wie das Rote Kreuz oder als Staaten. Ob eine „Grauzone“, in der die Unterscheidungen zwischen Tätern, Opfern und bystandern komplizierter oder verwischt werden, wünschenswert ist und ob sie sich überhaupt herausbilden kann, ist bis auf weiteres offenbar unklar.
IV. Holocaust und/als Genozid Hannah Arendt hat darauf bestanden, dass die nationalsozialistischen Verbrechen begrifflich zu unterscheiden seien von solchen, die als „Genozid“ bezeichnet werden. Zum „moralischen Kern der Sache dringt man niemals vor“, so schrieb sie, „solange man das, was geschehen ist, mit dem Namen ‚Völkermord‘ belegt oder nur die vielen Millionen Opfer zählt: die Ausrottung ganzer Völker gab es vorher bereits, in der Antike wie im modernen Kolonialismus.“ Mag diese ihre Behauptung auch im Kontext des vorliegenden Buches fragwürdig erscheinen, so sind Arendts folgende Punkte doch eine Überlegung wert: Wir erreichen ihn erst, wenn wir uns klarmachen, dass dies im Rahmen einer Rechtsordnung geschah und dass der Grundstein dieses „neuen Gesetzes“ das Gebot war „Du sollst töten“, nicht deinen Feind, sondern unschuldige Menschen, die nicht einmal potentiell gefährlich waren, und aus keiner Notwendigkeit heraus, sondern im Gegenteil sogar wider alle militärischen oder sonstigen Nützlichkeitserwägungen. Das Tötungsprogramm sollte nicht mit dem letzten lebendigen Juden, den man auf Erden finden würde, enden, und es hatte nichts mit dem Krieg zu tun, außer dass Hitler glaubte, er brauchte einen Krieg zur Verschleierung seiner nicht-militärischen Tötungsoperationen; diese Operationen waren so angelegt, dass sie in Zeiten des Friedens in noch gigantischerem Ausmaß fortgesetzt worden wären. Und diese Taten wurden nicht von Gesetzlosen begangen, Ungeheuern oder rasenden Sadisten, sondern von den angesehensten Mitgliedern der respektablen Gesellschaft.59
Die jüngste Forschung hat Arendts Argument auf den Kopf gestellt (obwohl man sie paradoxerweise für ihre Behauptung in den Ursprüngen des Totalitarismus, 59
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dass der Imperialismus ein Vorläufer des Faschismus gewesen sei, als intellektuelle Inspiration in Anspruch nahm), indem sie nahelegte, dass die Tatsache, dass „die Ausrottung ganzer Völker“ auch früher schon stattfand, für das Verständnis des Holocaust relevant sei. Im folgenden letzten Abschnitt werde ich den Einfluss von Arbeiten untersuchen, die den Holocaust mit dem Thema dieses Buches verknüpfen: Genozid. Diskussionen zur „Einzigartigkeit“ des Holocaust werden auch weiterhin geführt, wenn auch nicht so lautstark wie noch in den 1980er und 1990er Jahren.60 Doch wir haben es in zunehmendem Maße mit empirisch basierter Historiografie zu tun, die der von Arendt inspirierten Behauptung nach und nach Substanz verleiht, dass es bedeutende Verbindungen zwischen kolonialen Völkermorden und dem Holocaust gibt und dass man dem Denken über den Holocaust im Sinne der vergleichenden Genozidforschung bedeutende konzeptuelle Einsichten abgewinnen kann.61 Zum einen berufen sich Historiker des Holocaust immer öfter, und sei es nur en passant, auf die „kolonialen“ Aspekte des nationalsozialistischen Projekts im Allgemeinen und des Holocaust im Besonderen. So bemerkte etwa Robert Gellately dass „die Mentalität der [nationalsozialistischen] Eroberer sowie der Intellektuellen, die sie unterstützten, einen an die Imperialisten des späten neunzehnten Jahrhunderts in Afrika gemahnt.“62 In seiner neuen großen Studie zum Entscheidungsprozess hinter der „Endlösung“ schreibt Christopher Browning, dass „Hitlers Glaube an die Notwendigkeit deutschen Lebensraums implizierte, dass die Nazis in Osteuropa analog zu dem, was andere imperialistische Mächte Europas in Übersee erschaffen hatten, ein Kolonialreich errichten würden. Es sollte nicht überraschen, dass dies bedeutete, dass das NS-Regime vorbereitet war, die unterworfenen Völker Europas, insbesondere die Slawen im Osten, mit denselben Herrschaftsmethoden und Maßnahmen der Bevölkerungsdezimierung zu traktieren, die die Europäer zuvor auf unterworfene überseeische Völker angewandt hatten.“63 Auch Robert Cribb konstatiert „eine deutliche Parallele zwischen den Taten westlicher Siedler in den Ländern indigener Völker und den Maßnahmen Nazi-Deutschlands in Osteuropa, wo Vertreibung und ausgedehntes Morden in Verbindung mit Seuchen und Hunger auf Veränderung der demografischen Realitäten ausgerichtet waren.“64 Die Historiker sind aber auch bereits über derlei beiläufige Erwähnungen hinausgegangen. So bemüht sich beispielsweise Wendy Lower in ihrer wichtigen Studie des Holocaust in der Ostukraine, diesen ins Paradigma des „kolonialen Völkermords“ einzuordnen. Sie argumentiert, dass die nationalsozialistischen Besatzer der Ukraine „ihre Taten Stone (2003), Kap. 5; Stone (2006); Rosenfeld, Uniqueness. King/Stone für eine weitergehende Untersuchung von Arendts Relevanz für diese anhaltende Debatte. 62 Gellately, S. 259. 63 Browning/Matthäus, S. 14. 64 Cribb, S. 137. 60 Vgl. 61 Vgl.
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als in legitimer Weise mit Europas Geschichte der Eroberung und Herrschaft verknüpft wahrnahmen“, einer Geschichte, die routinemäßig „Erkundung, Eroberung, Wanderung und massenhafte Vernichtung von Völkern“ umfasste. Folglich „demonstrierte die nationalsozialistische Besatzung Osteuropas, dass derlei Praktiken nicht ausschließlich Formen der Eroberung und Herrschaft in Übersee waren und dass die schlimmsten Aspekte des Kolonialismus – erzwungene Bevölkerungswanderung, Sklavenarbeit und Massenmord – in enormem Maßstab, innerhalb weniger Jahre und auch im Herzen des ‚zivilisierten‘ Europa kombiniert und durchgeführt werden konnten.“65 Es sind dies Argumente, die antikoloniale Schriftsteller wie Frantz Fanon, Aimé Césaire und Albert Memmi schon vor vielen Jahren artikuliert haben und die von postkolonialen Theoretikern wie Julian Pefanis, Vinay Lal und Achille Mbembe in jüngerer Zeit weiterentwickelt wurden.66 Erst jetzt allerdings sind Historiker dazu übergegangen, nicht nur dieselben Behauptungen aufzustellen, sondern auch empirische Belege dafür beizubringen. Zum andern sucht eine wachsende Literatur, den Holocaust in den größeren Rahmen einer Geschichte des Genozids einzuordnen. Die Arbeiten von A. Dirk Moses, Jürgen Zimmerer, Ann Curthoys und insbesondere John Docker haben den Versuch unternommen, zu zeigen, inwiefern eine Konzeptualisierung des Holocaust als eines „Genozids“ weder den Holocaust kleinreden, noch das charakteristische Grauen anderer Ereignisse überzeichnen muss – die Hand in Hand gehenden Befürchtungen der Relativierung einerseits bzw. der Inflation andererseits, die jene Kritiker umtreiben, deren Ausgangspunkt die Einzigartigkeit des Holocaust ist. Curthoys und Docker haben im Gefolge Ward Churchills und Patrick Wolfes argumentiert, dass Kolonialismus inhärent genozidal sei.67 Die Errichtung dessen, was Alfred Crosby „Neo-Europas“ nennt, hätte nach dieser Auffassung ohne Völkermord niemals so schnell vonstattengehen können, wiewohl Crosby sich diese Sicht nicht zu eigen macht.68 Moses merkt an, dass „die logische Folge der Gleichsetzung des Holocaust mit Genozid ist, dass Genozid und staatlich sanktionierter Massenmord wesensgleich sind.“69 Dies, so glaubt er im Gefolge Lemkins, ist aber nur ein Aspekt davon, was Genozid ausmacht, und nicht der häufigste. In der Kritik eines solchen „liberalen“ Verständnisses von Genozid und im Eintreten für ein „postliberales“ an seiner statt, das sich nicht auf den Staat konzentriert, versucht Moses, die Signifikanz des Holocaust zu erhalten und gleichermaßen zu zeigen, dass es wenig hilfreich für ein Verständnis des Wesens der meisten anderen GenoLower, S. 6 und S. 19 – 20. Vgl. auch Berkhoff. Pefanis; Mbembe; Lal. 67 Curthoys/Docker; Docker. Siehe auch Wolfe. 68 Crosby, S. 345, Fn. 38. Crosby spricht freilich von einem „erbärmlichen genozidalen Prozess“ (S. 213) und bemerkt, dass „Europas überseeische Besitzungen auf der ersten Stufe ihrer modernen Entwicklung Beinhäuser“ (S. 209) waren. Doch er bezieht sich dabei auf die Auswirkungen von aus Europa eingeschleppten Seuchen, nicht auf eine „Vernichtungsabsicht“ im Sinne der UN-Konvention. 69 Moses (2004), S. 534. 65
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zide ist, wenn man den Holocaust als paradigmatischen Fall behandelt. Er erkennt freilich dennoch an, dass aus der Holocaust-Historiografie abgeleitete Methodologien von zentraler Bedeutung für die Entwicklung der Geschichtsschreibung anderer Genozide waren. Z. B. bezieht Ben Kiernan hilfreiche Einsichten für die Durchdringung der Weltanschauung der Roten Khmer aus der Betrachtung der nationalsozialistischen „Furcht vor deutschen Gebietsverlusten und der Auslöschung des Volkes“; Donald Bloxham wendet Hans Mommsens Konzeption der „kumulativen Radikalisierung“ zur Erklärung von Entwicklungen der jungtürkischen Politik während des Völkermords an den Armeniern an; und Mahmood Mamdani zieht Vergleiche zwischen nationalsozialistischem Rasse-Denken und dem der Hutu Power.70 Am wichtigsten ist aber laut Moses, dass die Gelehrten endlich den Holocaust im Zusammenhang mit anderen Vorkommen von Völkermord und ethnischer Säuberung studieren, ohne dass sie „fromme Gesten zur Absicherung ihrer moralischen Glaubwürdigkeit“ einstreuen müssten. „Die Ungeheuerlichkeit und die einzigartigen Züge des Holocaust werden in der wissenschaftlichen community universell akzeptiert.“71 Diese Behauptung Moses’ wird in den Arbeiten von Forschern wie Norman Naimark, Eric D. Weitz, Benjamin Valentino und Alexander Hinton bezeugt.72 Ihre Geltung zeigt sich aber am deutlichsten im Werk Jürgen Zimmerers, der die Einzigartigkeit des Holocaust klar ablehnt, zu zeigen versucht, wie der nationalsozialistische Völkermord im deutschen Kolonialgenozid präfiguriert war, den Holocaust aber keineswegs kleinreden will. Zimmer beschreibt den deutschen Krieg gegen Polen und die Sowjetunion als „zweifellos den größten kolonialen Eroberungskrieg der Geschichte“.73 Er betrachtet den Holocaust als verknüpft mit deutscher Siedlungspolitik im Allgemeinen und hebt hervor, dass viele Opfer der Nazis von Angesicht zu Angesicht erschossen und nicht in Gaskammern ermordet wurden (ein Punkt, an dem der Holocaust sich in der Tat von kolonialen Genoziden unterscheidet).74 Zimmerer beschließt seine Arbeit mit der These, dass „die strukturelle Ähnlichkeit zwischen Kolonialismus und Nationalsozialismus über die bloße Kontinuität seit dem Hererokrieg hinausging. Mit ihren Zentralbegriffen ‚Rasse‘ und ‚Raum‘ stand die nationalsozialistische Politik der Ausdehnung und Vernichtung mit beiden Füßen auf dem Boden der Tradition des europäischen Kolonialismus, einer Tradition, die auch in den Genoziden der Nazis wiedererkennbar ist.“75 In dieser Lesart ist der Holocaust nur die extreme Variante eines den Europäern aus der Geschichte ihrer kolonialen Eroberungen schon vertrauten Phänomens.76 70
Ebd., S. 547 f. Ebd., S. 548. Vgl. auch Rabinbach. 72 Naimark; Weitz; Valentino; Hinton. 73 Zimmerer (2004), S. 49. 74 Ebd., S. 59. 75 Ebd., S. 67. Zimmerer (2007); und, für eine andere Perspektive, Hull. 76 Vgl. Moses (2008) für die jüngste und überzeugendste Formulierung dieser These. 71
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Wem all dies zu leidenschaftslos, ja kalt klingt, der sollte sich erinnern, dass auch jene, die diesen breiten „Genozidtheorie-Ansatz“ verfolgen, hinsichtlich des Grauens des Holocaust nicht abgestumpft sind. Sie sehen im Mord an den Juden auch nicht nur ökonomisches, zweckrationales Handeln am Werk. Eine frappierende Beobachtung zu kolonialem Genozid wie auch zum Holocaust ist stattdessen, in welch enger Art und Weise diese Aspekte Hand in Hand gehen mit transgressiven, „irrationalen“ oder, wie LaCapra sagt, „karnevalesken“ Dimensionen. Wie uns Mark Levene in einer Erörterung des Holocaust im Kontext seines neuen Buchs über Völkermord erinnert, führt „Fantasie“ direkt ins Herz des nationalsozialistischen Projekts: Die üblicherweise brutale und oft absolut sadistische physische Folter und Auslöschung von Säuglingen, ihren Müttern, ihren ganzen Familien, die Beschlagnahme von Wertsachen und Besitz ihrer Gemeinschaften, die Verwüstung einer Landschaft, in der diese Menschen lebten und arbeiteten, und mit ihr die bewusste Austilgung der Elemente dieser Landschaft, die den Menschen dort am wertvollsten waren, so als hätte es diese Gemeinschaften und ihre Überzeugungssysteme mit ihnen nie gegeben – ganz zu schweigen von der absoluten Leugnung, dass irgend eine dieser Taten je stattgefunden habe – all dies, die gemeinsamen Bestandteile aller Genozide, suggeriert etwas anderes als ein simples, geradliniges Nutzenkalkül. Erst recht nicht das Wirken einer gut geschmierten – bzw. wenn einem diese Lesart nicht liegt – missgestalteten Modernität.77
Levene betont des Weiteren, dass die Täter, wenn sie ihren Opfern irrational überirdische Kräfte zuschreiben, „nicht einfach eine bequeme Rationalisierung suchen, sondern dies ernstlich glauben.“78 Den Holocaust im größeren Kontext der Genozidforschung zu verorten macht Völkermord daher nicht zu einem normalen Faktum des menschlichen Daseins, zumindest nicht „normal“ im Sinne einer Verbindung mit alltäglichen Gedankengängen.
V. Schlussfolgerungen Die Historiografie des Holocaust hat einen beachtlichen Umfang. Doch trotz der verschiedenen Teilbereiche und der großen Breite und Tiefe historischer Gelehrsamkeit, die sich darin finden, ist sie in gewissen Hinsichten etwas eingeschränkt. Das Feld bleibt auch weiterhin von der politischen Historie dominiert und zarte Knospen sozial- und kulturgeschichtlichen Einflusses (etwa Mikrogeschichte) sind noch immer recht klein. Bestimmten Themen, wie den Kapos in ihren „Grauzonen“ oder den Erfahrungen von Displaced Persons im unmittelbaren Nachkrieg, wird erst aktuell die Aufmerksamkeit zuteil, die sie verdienen. Und die Verbindung des Holocaust mit einer weiter reichenden Theorie und Geschichte der Genozide setzt sich, wie wir sahen, im Mainstream der Historiografie gerade erst und langsam durch, viele der entsprechenden Beiträge sind noch immer von polemischer Natur. In anderen Hinsichten ist diese Geschichtsschreibung allerdings auch be77 78
Levene, S. 142 f. Ebd., S. 205.
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merkenswert konventionell. Saul Friedländer hat vor einigen Jahren angemerkt, dass beim Schreiben der Geschichte des Holocaust ein „moralischer Imperativ“ vorherrscht, über das Thema nur innerhalb „gewisser akzeptierter Normen der ästhetischen Zusammenarbeit oder des intellektuellen Diskurses“ zu reden.79 Eine stillschweigende Ablehnung des Theoretisierens ist in der jüngsten historischen Forschung sehr auffällig. Raoul Hilberg sagte Claude Lanzmann in seinem Film Shoah berühmterweise, dass „ich in all meiner Arbeit nie damit angefangen habe, die großen Fragen zu stellen, weil ich immer Angst hatte, dass ich mir kleine Antworten ausdenken würde; und ich habe es vorgezogen, jene Dinge anzusprechen, die Einzelheiten sind oder Details, damit ich dann in der Lage wäre, in einer Gestalt ein Bild zusammenzufügen, das, wenn auch keine Erklärung, doch mindestens eine Beschreibung ist, eine umfassender Beschreibung dessen, was nach außen drang.“80 Archivforschung hat fraglos ein besonderes Moment – Ricoeur nennt sie den „Sieg der Geschichte über das Willkürliche“81 – und ihre besessenen Vertreter, die Jahre damit zubringen, eine einzelne Fotografie oder einen einzelnen Film zu studieren, sind oft genug jene, denen man am liebsten zuhört oder die man mit dem größten Vergnügen liest, weil die Tiefe ihres Wissens so bemerkenswert ist (z. B. Richard Raskin oder Stig Hornshøj Møller82). Doch Hilberg gibt sich zu bescheiden. Es wäre ein Irrtum, zu glauben, dass man durch das Schreiben empirischer Historie die Theorie vermeiden kann. Kein Historiker ist explizit verpflichtet, theoretische Probleme anzusprechen, aber das meint nicht, dass es sie nicht gibt; es bedeutet auch nicht, dass eine „Erklärung“ oder eine Antwort auf die „großen Fragen“ nicht implizit in der Arbeit vorhanden wäre. Der Boom der empirischen Geschichte war hinsichtlich der Erweiterung und Bereicherung unserer Kenntnisse über den Holocaust immens lehrreich. Womöglich wird bald wieder eine Zeit der Reflexion über dieses Korpus anbrechen, in der wir es mit der Herausforderung konfrontieren können, die von Geschichtsphilosophen formuliert wurde, die argumentieren, dass der Holocaust Neubewertungen von Geschichte, Historiografie und Historizität hervorbringen sollte. Die Historiker könnten sich wieder einmal explizit Fragen der Interpretation zuwenden, und ebenso auch größeren theoretischen Problemstellungen, die das Wesen der Geschichtswissenschaft angehen und die Herausforderung, der sie sich – in Gestalt des Holocaust – gegenübersieht und die bis dato meistens nur betreten beiseite gewischt wird. Aus dem Englischen von Ralf Kozian. Übersetzung des Beitrages aus: Dan Stone, The Historiography of Genocide, published 2008 by Palgrave Macmillan; reproduced with permission of Palgrave Macmillan. Friedländer (1989), S. 30 – 97. Lanzmann (1985), S. 70. 81 Ricoeur, S. 147. 82 Raskin; Arbeiten von S. H. Møller unter http://www.holocaust-history.org/der-ewigejude/ Siehe auch Lang (2004) und Wagenaar für weitere bewegende Beispiele. 79
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Ein europäischer Völkermord? Anerkennung und Leugnung von Schoah und Aghet im Vergleich Von Christoph Beeh Christoph Beeh Ein europäischer Völkermord? Anerkennung und Leugnung von Schoah und Aghet im Vergleich
I. Einleitung Zentrales Thema dieses Artikels ist das vergleichende Nachzeichnen der Prozesse und Begleitumstände von Anerkennung und Leugnung von Schoah und Aghet in der Bundesrepublik Deutschland. Durch die Spannweite des Themas im gegebenen Rahmen zu Kürzungen veranlasst, wird der Gegenstand durch das europäische Prisma betrachtet. Die sich daraus ergebende Verknappung bietet einerseits einen deutlich übersichtlicheren Rahmen, andererseits aufschlussreiche, aktuelle Einsichten in Konstruktionsprozesse europäischer Identität und fragt darüber hinaus nach den Funktionen, die Erinnerungsarbeit übernehmen kann: Der Umgang mit der eigenen Vergangenheit wird so zu einem Schlüsselmoment europäischer Identität in einer Zeit, die den Zusammenhalt Europas auf eine Probe stellt. An Umgang mit und Verständnis von Geschichte zeigt sich möglicherweise auch, auf andere Art und Weise als an den Kopenhagener Kriterien,1 ob die Türkei als europäisch gelten kann oder ob sich, im Sinne multipler Modernen, eine türkische von einer europäischen Moderne abgekoppelt hat.2 Gezeigt werden soll vor allem, dass und wie sich in diesem Problemkomplex zentrale Themen europäischer Identität verschränken; dass sich die für die Ausbildung einer europäischen Identität maßgebliche Erinnerungskultur dadurch definiert, dass und wie kommuniziert wird, nicht so sehr dadurch, worüber kommuniziert wird; und dass es sich bei dem Problemkomplex demnach vor allem auch um ein Kommunikationsproblem handelt. Anerkennung und Leugnung bestimmter Ereignisse, bzw. in diesem Fall die Integration von Schoah und Aghet in ein kollektives deutsches und europäisches Gedächtnis, geschehen im Kontext bestimmter Prozesse, die benennbar sind. Auf ei1 Die Kopenhagener Kriterien vom 22. Juni 1993 beinhalten Voraussetzungen, um Mitglied der Europäischen Union zu werden. Dazu zählen: eine stabile demokratische und rechtsstaatliche Ordnung, Wahrung der Menschenrechte und Minderheitenschutz, funk tionierende und wettbewerbsfähige Marktwirtschaft und die Übernahme des gesamten EURechts. 2 Zum Begriff der türkischen Moderne vgl. Kaya/Tecmen.
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nen knappen historischen Abriss (Abschnitt II.) folgt die Kontextualisierung dieser Ereignisse unter Rückgriff auf bestimmte Forschungstendenzen, die sich m. E. als besonders fruchtbar erwiesen haben: Vergangenheitsaufarbeitung (Abschnitt III.), Kulturelles Trauma (Abschnitt IV.) und Europäische Identität (Abschnitt V.).
II. Historischer Abriss Zunächst sollen Anerkennung und Leugnung der beiden Genozide getrennt voneinander betrachtet werden. Dabei wird auch augenfällig, dass nicht wenige Verbindungslinien zwischen beiden gezogen und wieder zertrennt worden sind. Namentlich die Vergleichbarkeit beider Genozide ist zu einem der herausragenden Merkmale der Diskurse geworden. Die Tendenz einer Zunahme der Genozid-Anerkennung im politischen Bereich ist nicht gleichzusetzen mit einer aufklärerischen Hoffnung, die evidente Wahrheit der Geschichte werde sich von allein durchsetzen. Im kulturellen und auch akademischen Bereich wird der Status des Genozids durchaus geleugnet und angefochten. Geschichtsschreibung geschieht nicht objektiv, und die Einordnung und Deutung von Fakten unterliegt veränderlichen Begleitumständen. Im Versuch, die heutige Lage um den Aghet-Diskurs zu verstehen, sollen Anerkennungs- und Leugnungspositionen ernst genommen und von einer Metaebene betrachtet werden, die die Aussagen symbolisch deutet. Eingangs soll noch die Leitfrage formuliert werden, warum der Deutsche Bundestag die Bundesrepublik „in der Verantwortung [sieht], die Aufarbeitung dieses Verbrechens [des Aghet, C. B.] zu fördern und die Erinnerung daran wachzuhalten“,3 während er es einer anderen Völkergruppe, nämlich den Nama und Herero, bisher verwehrt hat. 1. Anerkennung und Leugnung des Aghet Die historische Dimension von Anerkennung und Leugnung des Aghet als Genozid, dessen einer Meilenstein sicher die Verabschiedung des Bundestagsantrags vom 2. Juni 2016 ist, reicht bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, als Pogrome gegen die armenische Bevölkerung bezeugt, aus politisch-ökonomischen Gründen aber von offizieller Seite geleugnet wurden. Hervorgehoben sei hier Eduard Bernsteins Schrift Vom Leiden des armenischen Volkes und den Pflichten Europas von 1902, in der er auf den Berliner Vertrag von 1878 rekurriert und somit die (heute zwar anders realisierte, aber damals sich bereits anbahnende) Verkettung einzelstaatlicher Identitäten mit Europa zeigt: „Europa, und mit Europa das deutsche Volk, hat eine direkte Verpflichtung gegenüber dem armenischen Volk einzulösen“.4
3 4
Deutscher Bundestag, S. 4. Bernstein (1900), S. 23, Hervorh. i. Orig.
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Als weitere Wegmarke wären Johannes Lepsius’ engagierte Berichte vom eigentlichen Völkermord vor dem Deutschen Reichstag am 5. Oktober 1915 zu nennen, deren Symbolik einer verspäteten Anerkennung sich auch der Bundestag bewusst war. Dem Ende des Ersten Weltkriegs folgten 1919 die sogenannten Unionistenprozesse zur Bestrafung einiger Verantwortlicher des Aghet, was die türkische Regierung heute als Anlass dazu nimmt, den Armenierinnen und Armeniern jegliche (vermeintlich doppelte) juristische Anerkennung zu verwehren. Nach der Etablierung des Begriffs Genozid durch die UNO-Völkermordkonvention von 1948 wurde der Aghet erstmals seit 1965, auf breiterer internationaler Ebene 1985 durch die UNO-Menschenrechtskommission, als Völkermord anerkannt, worauf die Anerkennung des Europäischen Parlaments 1987 folgte. Das Europäische Parlament sähe die Anerkennung des Aghet gern als Kriterium im laufenden Beitrittsprozess der Türkei zur Europäischen Union, erfährt dabei allerdings nicht die Unterstützung aller Mitgliedstaaten oder anderer europäischer Instanzen wie des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der die Völkermord-Leugnung mit einem Urteil vom 15. Oktober 2015 unter das Recht auf Meinungsfreiheit subsumierte.5 Was Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler betrifft, die den Genozid anerkennen und als solchen benennen, sind u. a. Hans-Lukas Kieser, Ronald G. Suny, Raymond Kévorkian und Fatma Müge Göçek zu nennen. Hervorzuheben sind zum einen die Schriften des türkischen Historikers Taner Akçam, der auf Grund seiner Arbeiten in der Türkei inhaftiert wurde und schließlich nach Deutschland geflohen ist. Heute ist er als Professor für Geschichte an der Clark University in den USA tätig. Zum anderen sind die Beiträge des armenischen Soziologen und Genozidforschers Vahakn Dadrian von Bedeutung, der seit den 1990er Jahren einschlägige Publikationen nicht nur zur historischen Faktenlage des Genozids (The History of the Armenian Genocide, 1995), sondern auch zur deutschen Beteiligung (German Responsibility in the Armenian Genocide, 1996) veröffentlicht hat. Weitere, nicht unumstrittene Schritte der Aufarbeitung und Bekanntmachung des Themas im deutschsprachigen Raum sind durch den Publizisten Wolfgang Gust geschehen. Zusammen mit Sigrid Gust macht er Dokumente aus dem deutschen Auswärtigen Amt auf der Internetseite Armenocide öffentlich zugänglich, wo er auch seine Repliken auf die vom deutsch-amerikanischen Historiker Hilmar Kaiser geäußerten Kritiken veröffentlicht.6 Zu den prominenten, anerkennenden Auseinandersetzungen mit dem Aghet gehören auch Domänen außerhalb der Wissenschaften. Eine der frühesten ist Franz Werfels 1933 erschienener Roman Die vierzig Tage des Musa Dagh, mit dem der Autor vor der nationalsozialistischen Ideologie warnen wollte.7 Zuletzt für Schlagzeilen sorgte das Musikstück aghet agit, eine trilaterale (armenisch-deutsch-türDie Rede ist vom Fall Perincek v. Switzerland, vgl. EGMR. Gust, Antwort. 7 Vgl. Knocke/Treß. 5
6 Vgl.
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kische) Initiative der Dresdner Sinfoniker und des Gitarristen Marc Sinan, deren Aufführung im deutschen Generalkonsulat in Istanbul im November 2016 von türkischer Seite abgesagt worden war. Neben etlichen beschwichtigenden und leugnenden Stimmen aus der Wissenschaft, darunter der bekannte britisch-amerikanische Orientalist Bernard Lewis und der amerikanische Historiker Justin McCarthy, ist die wohl wichtigste der türkische Staat, der sich gleichzeitig als Repräsentant der Idee der türkischen Nation versteht. In diesem Sinne wird im Folgenden von „der Türkei“ als leugnender Instanz gesprochen, womit nicht gesagt sein soll, dass die türkische Gesellschaft als Ganzes diese Position teilt. Die türkische Identität versteht sich als exklusiv und toleriert Minderheitenidentitäten so wenig, dass sie mitunter als schizophren8 oder kollektiv paranoid9 ausgelegt wird. Tatsächlich gründet die türkische Nation auf der Tabuisierung mehrerer Themen, darunter die Minderheitenfrage und der Aghet. Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk implementierte in den späten 1920er Jahren Reformen, die durchaus alltägliche Lebensbereiche (wie den Gebrauch von Schrift und Namen oder Kleidungsgewohnheiten) betrafen. Damit sollte ein Schlussstrich unter die osmanische Vergangenheit gesetzt werden, der die türkische Nation verwestlicht bzw. europäisiert.10 Jegliches Antasten dieser Tabus stellte die türkische Nationalidentität so sehr infrage, dass es einen Strafbestand darstellen konnte. Interessant ist, dass das osmanische Erbe unter der Regierungszeit der AKP eine Renaissance erlebt hat, während an den eigentlichen Tabuthemen nach wie vor nicht gerüttelt werden konnte. Wichtige Initiativen zum Abbau von Vorurteilen, zur Aufklärung der historischen Faktenlage und zum armenisch-türkischen Dialog kommen daher von Nichtregierungsorganisationen. Erwähnenswert ist dabei, dass deutsche Institutionen eine Mittlerrolle einnehmen. So hat die Türkeivertretung der Heinrich-Böll-Stiftung 2006 einen zweisprachigen (deutsch-türkischen) Sammelband herausgegeben, der im Titel anstelle von Genozid bewusst von der Armenierfrage spricht, wie es auch vom türkischen Staat offiziell genannt wird. Erklärtes Ziel ist es, „die Sensibilität dafür zu schärfen wie dieses Problem im aktuellen politischen, gesellschaftlichen und sozialen Diskurs und Alltag verankert ist“.11 2. Anerkennung und Leugnung der Schoah Zur Anerkennung der Schoah haben wichtige Auseinandersetzungen sowohl jüdischer als auch nicht-jüdischer Historiker beigetragen, deren Forschungen mitunter sehr unterschiedliche Perspektiven einnehmen. Die selbstverständlich schei8 Vgl. Akçam (2004), S. 227 ff., der damit die Getrenntheit von staatlicher und gesellschaftlicher Erinnerung bezeichnet, die zum Hauptelement theoretischer Analysen gemacht werden müsse, um den Aghet-Diskurs in der Türkei zu verstehen. 9 Vgl. Karaosmanoglu, S. 194. 10 Kaya/Tecmen, S. 23; vgl. auch Üngör, Making, S. 224 ff. 11 Dufner, S. 5.
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nende Bereitschaft zu Aufbereitung von Entstehung und Verlauf der Schoah bleibt bis heute nicht ohne Gegenstimmen. Was den Völkermord an den europäischen Juden betrifft, hat sich der Begriff „Holocaust“ etabliert, der erst seit einer 1978 unter diesem Titel laufenden US-Fernsehserie breitere Verwendung fand. Eberhard Jäckel verwehrt sich beispielsweise gegen diesen Begriff zugunsten der Formulierung „Mord an den europäischen Juden“. So macht Jäckel klar, was die Schoah ausmache: dass nämlich ein Staat als Aggressor gegenüber einer Volksgruppe auftritt und diese zum numerisch größten Teil außerhalb der eigenen Staatsgrenzen verfolgt hat. Dies liefert eines von mehreren Argumenten für die sogenannte Singularitätsthese, die zum einen die Einzigartigkeit der Schoah herausstellen will, zum andern aber jeden Vergleich als Versuch der Relativierung der Morde auffasst. Jäckel sieht darüber hinaus in Adolf Hitler eine entscheidende Figur der zentralen und intentionalen Planung der Schoah. Demgegenüber steht die funktionalistische Auffassung beispielsweise Martin Broszats oder Hans Mommsens, dass die Vernichtungspolitik keinem geplanten Ablauf nach, sondern „eher improvisiert und sprunghaft“12 erfolgt sei. Zeitgenössischer Umgang mit der Vergangenheit wird u. a. bei Norbert Frei, der bereits der Nachkriegsgeneration angehört, und Ernst Nolte (gest. 2016) thematisiert. Noltes 1986 erschienener bekannter Aufsatz Vergangenheit, die nicht vergehen will sah zwar keine Abkehr von der Singularitätsthese, aber dennoch eine Kontextualisierung vor: Inwiefern reiht sich die Schoah in die Gewaltverbrechen des 20. Jahrhunderts ein? Unter Verwendung des Begriffs der „Zeitgeschichte“ fragte Nolte auch nach dem Platz der Bundesrepublik „in einer künftigen Welt […], welche kein ungeschichtliches Idyll sein wird, aber ebensowenig eine bloße Fortsetzung der Vergangenheit“13. Zeitgeschichtsforschung sei immer zugleich Interpretation, da ihr die Distanz zum Vorgefallenen fehle. Aus heutiger Sicht kann eingeschätzt werden, dass die Befürchtung des in den späten 1980er Jahren als Historikerstreit bekannt gewordenen Problems der Historisierung nicht zu einer allgemeinen Relativierung der Schoah geführt hat. Im Gegenteil kann man behaupten, dass das Gedenken der Schoah-Opfer ein zentraler Bestandteil deutscher Identität im 21. Jahrhundert ist14 und dass Noltes Beiträge eine wichtige Grundlage für weiterführende vergleichende Betrachtungen darstellen. Dennoch gibt es auch heute beschwichtigende und leugnende Stimmen. Zu den ersteren zählen solche, wie jüngst die Partei Alternative für Deutschland (AfD), die den zentralen Stellenwert der Schoah als etwas Negatives auslegen, wenn sie bestrebt sind, die deutsche Erinnerungskultur „zugunsten einer erweiterten Geschichtsbetrachtung aufzubrechen, die auch die positiven, identitätsstiftenden Aspekte deutscher Geschichte mit umfasst“.15 Zu den letzteren zählen Personen wie Broszat, S. 771. Nolte (1970), S. 11. 14 Vgl. dazu auch Wittlinger, S. 43 f. 15 AfD-Grundsatzprogramm, S. 48. 12 13
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Ernst Zündel, die zu beweisen versuchen, dass die Schoah eine Lüge sei. Zündel steht in internationaler Vernetzung zu anderen Leugnern. Er selbst publizierte u. a. 1973 Thies Christophersens „zum Inbegriff der Holocaustleugnung gewordenen Broschüre ‚Die Auschwitz-Lüge‘“16 und veranlasste Frederick Leuchter dazu, den sog. Leuchter-Report zu verfassen; eine Schrift, die, zum ersten Mal mit (pseudo-)naturwissenschaftlichen Mitteln den Nachweis erbringen sollte, dass die Massenermordungen in den Gaskammern von Auschwitz und Majdanek unmöglich gewesen seien. 1988 sagten die französisch-britischen bzw. britischen Publizisten Robert Faurisson und David Irving bei Zündels bereits zweitem Prozess in Kanada für ihn aus – nach seiner Abschiebung ist er 2007 in Deutschland zur Höchststrafe von fünf Jahren Haft verurteilt worden. Irving vertrat in seinem zweibändigen Buch Hitlers Krieg [Hitler’s War] zunächst die These, dass die Massenvernichtungen ohne den Befehl oder gar das Wissen Hitlers umgesetzt worden seien. Dies veranlasste zwar weitere wichtige Auseinandersetzungen zu dieser Frage,17 war aber von Anfang an umstritten. Seitdem er seit Ende der 1980er Jahre öffentlich Leugner-Positionen einnahm, ist ihm in mehreren Ländern, darunter in der Bundesrepublik Deutschland, Rede- und Einreiseverbot erteilt worden. Entwickelt hat sich in den letzten Jahren auch ein umstrittener Disput über Instrumentalisierung von Gedenken: Darf die Ermordung mehrerer Millionen Menschen in etwas Positives umgewandelt werden? Darf daraus gar Kapital geschlagen werden? Unter Verwendung der Begrifflichkeit „Auschwitz-Industrie“ wurden einerseits im Grunde berechtigte moralische Zweifel an einer Vermarktung der Schoah geäußert, die aus dem Leiden des jüdischen Volkes Profit zu ziehen suche. Weltweites Aufsehen erregte hierbei das im Jahre 2000 erschienene Buch Die Holocaust-Industrie des amerikanisch-jüdischen Politologen Norman Finkelstein, in dem er auch gegen die Singularitätsthese argumentiert. Ähnlich steht es mit dem Begriff „Auschwitz-Kitsch“, der die Verbindung von Ästhetischem mit Schoah-Erlebnissen kritisiert, wie zuletzt als Vorwurf gegen den ungarischen Film Son of Saul [Saul fia].18 Andererseits lieferte dies antisemitischem Gedankengut, allem voran der rechtsextremen Überzeugung von einer jüdisch-kapitalistischen Weltverschwörung, neuen Auftrieb. 3. Anerkennung und Leugnung im Vergleich Die Singularitätsthese mag einerseits dazu beigetragen haben, relativierende und leugnende Positionen nicht salonfähig werden zu lassen. Andererseits hat sie der vergleichenden Genozidforschung in Deutschland einen schwierigen Start bereitet. Erst 1994 legte Mihran Dabag mit der Gründung des Instituts für Diasporaund Genozidforschung an der Ruhr-Universität Bochum einen Grundstein dafür. Zudem besteht überhaupt kein Konsens darüber, was genau einzigartig sei. Daniel Mentel (2011), S. 174. Broszat, S. 739 f. 18 Vgl. Lueken. 16
17 Vgl.
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Blatman kontrastiert unterschiedliche Begründungen für die Singularitätsthese namhafter jüdischer Historiker wie Saul Friedländer und Yehuda Bauer und vermutet dahinter zum einen „a moral obligation to the memory of the victims“, zum andern den Glauben, dass die Schoah als „a sort of barrier against the growth and resurgence of antisemitism“ eingesetzt werde.19 Dass die Singularitätsthese wiederum mehr als reine Opfermentalität ist, beweist die Tatsache, dass auch nicht-jüdische Historiker wie Jäckel sie vertreten. Fragwürdig ist allerdings, ob nicht umgekehrt mit der Singularitätsthese der Schoah eine Relativierung anderer Genozide einhergeht. So erinnert Jäckels Wortwahl, der „[d]ie Morde an den Armeniern im Ersten Weltkrieg im Osmanischen Reich […] eher [als] von Morden begleitete Evakuierungen, und sie vollzogen sich im eigenen Lande“20 bezeichnet, eher an die Apologetik des türkischen Staates. Da eine allgemeingültige Definition von Genozid nicht existiere,21 stellen Dominik Schaller und Hans-Lukas Kieser die Frage „ob Genozidforschung überhaupt Sinn macht und die Verwendung des Begriffs ‚Völkermord‘ vielleicht ein Fehler ist“.22 Dass vergleichende Positionen durchaus fruchtbar sein können, zeigen aber u. a. die vielfältigen, mehrsprachigen Beiträge ihres Sammelbands The Armenian Genocide and the Schoah von 2003, dem sie diese Frage voranstellen. So hat sich die vergleichende Genozidforschung heute insofern auch in Deutschland etablieren können, als ihr erklärtes Ziel nicht die Relativierung der Schoah ist, sondern der Aufbau eines breiteren Verständnisses der dynamischen Prozesse, die zu solchen Morden führen, und wie diese Erkenntnisse einsetzbar sind, um genozidale Tendenzen in Zukunft erkennen und vermeiden zu können. Dass ein der Schoah vergleichbares Ereignis wiederholbar und allein in diesem Sinne nicht einzigartig sei, schreiben etwa Hagen Schulze oder Zygmunt Bauman. Letzterer will weniger zur Faktenlage der historischen Aufarbeitung beitragen, als, aufbauend auf Theodor W. Adorno und Hannah Arendt, die Bedeutung der Schoah für die Struktur der Moderne herausarbeiten.23 Dieser Richtung, und Noltes Einordnung von interpretierender Zeitgeschichte verwandt, kann Jan Assmann den Gedanken formulieren, dass der „‚Holocaust‘ zur fundierenden Geschichte und damit zum Mythos geworden“24 sei. Der Begriff „Mythos“ ist hier zunächst alarmierend. Mit Assmanns These geht aber keinerlei Leugnung einher:25 Der Autor macht klar, dass er die Schoah als „eine geschichtliche Tatsache“ sieht, die kraft kollektiver Blatman, S. 25; vgl. dazu auch Yegenoglu, S. 149. Jäckel. 21 Zwar gibt es die bekannte und vielzitierte Definition von Raphael Lemkin (vgl. Lemkin), die jedoch eines breiten Konsens entbehrt und immer wieder Anlass zu Grundsatzdebatten liefert. 22 Kieser/Schaller, S. 56. 23 Vgl. Bauman (2000), darin insbesondere das Nachwort, S. 222 ff. 24 Assmann (2007), S. 76. 25 Für eine kritische Reflexion der Begriffe „Auschwitzlüge“ vs. „Auschwitzmythos“ vgl. Kämper-Jensen. 19
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Erinnerung „darüber hinaus (und übrigens erst in den letzten zehn Jahren [d. h. seit Mitte der 1980er Jahre, C. B.])“26 semiotisiert worden sei. Zweifellos hat diese Entwicklung auch mit dem Generationenwechsel und dem damit einhergehenden Verlust von Augenzeugen zu tun. Autorität und Appell eines „Nie wieder!“ speisen sich nun nicht mehr aus Augenzeugenberichten allein, doch reicht auch das Faktenwissen nicht aus. Faktenwissen, auch um die Schoah, wird in der heutigen Informationsgesellschaft abgewertet, da solch Wissen schnell austauschbar ist. So beantwortete der ungarische Schriftsteller Imre Kertész, seinerseits Überlebender mehrerer Lager, die Frage nach einem Nutzen der Schoah dahingehend, dass der „Holocaust [ein universales Erlebnis ist]“27, dem eine „moralische Reserve“28 inne sei (das aus reinem Faktenwissen erst hervorgehe) und von dem wir „einzig durch die ästhetische Einbildungskraft eine Vorstellung gewinnen“29. Da die Schoah rational nicht zu verstehen sei, bestehe das eigentliche Problem nicht eigentlich in den immer wieder aufkommenden Schlussstrich-Debatten, sondern darin, „daß es [das ‚Problem Auschwitz‘, C. B.] geschehen ist und daß wir an dieser Tatsache mit dem besten, aber auch mit dem schlechtesten Willen nichts ändern können“.30 Insofern liegen zwei interessante, beide Völkermorde betreffende Parallelen vor. Eine ist die Tendenz einiger Angehöriger der Täterseite, sich selbst als Opfer darzustellen, das sich verteidigen musste. Die türkische Regierung gibt an, die Umsiedlung der Armenier sei als Akt der Verteidigung in den Wirren des Krieges zu verstehen. Ebenso haben viele Deutsche ihr Mitläufertum als Unschuld ausgelegt und die Schuldfrage, in Ablehnung einer Kollektivschuld, auf Parteimitglieder projiziert. Auf diese Verzerrung der Opferperspektive durch diejenigen, die während der Morde auf der Seite der Privilegierten standen, wird zurückzukommen sein. Eine zweite Gemeinsamkeit von Schoah- und Aghet-Gedenken besteht darin, dass die Erinnerung – trotz oder wegen der historisch wachsenden Distanz – „warm“ (bzw. „heiß“)31 gehalten werden muss, wenn sie in sich wandelnden Gesellschaften nicht an Bedeutung verlieren sollen. Geschichte kann zur Grundlage gesellschaftlichen Wandels gemacht werden, oder aber im Gegenteil aus dem Zentrum kollektiver Erinnerung auch (wieder) ausgewiesen werden. Für beide Genozide gilt, dass ein Schuldbekenntnis zwar ein wichtiger Schritt in Richtung Anerkennung und Aussöhnung ist, aber allein mit dem Blick auf die aufzuarbeitende Vergangenheit nicht ausreicht. Es bedarf gleichzeitig einer Zukunftsperspektive, an deren Verwirklichung alle Beteiligten im Dialog arbeiten.32 Dass in der ErinAssmann (2007), S. 76; Hervorh. C. B. Kertesz, Stille, S. 90. 28 Ebd., S. 68. 29 Ebd., S. 86. 30 Kertesz, Heureka, Hervorh. i. Orig. 31 Zur Opposition von „heißen“ vs. „kalten“ Gesellschaften in Bezug auf unterschiedliche Erinnerungskulturen vgl. Assmann (2007), S. 66 ff. 32 Vgl. Akçam, Leugnung. 26 27
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nerung des einen auch anderes ausgeblendet wird, gehört zum natürlichen Prozess der Dinge. Jan und Aleida Assmann sprechen hier von „struktureller Amnesie“, die zum Politikum werden kann, wenn verdrängte bzw. vergessene Erinnerung von betroffenen Gruppen (i. d. R. von „Beherrschten, Unterdrückten und Unterprivilegierten“) „zu einer Form des Widerstands“ wird.33 Genozide (zumal dieses Ausmaßes) sind rational allein nicht begreifbar und das entstandene Leid ist auch durch Entschuldigungen nicht wiedergutzumachen – Restitutionsleistungen können sogar für neue Ungerechtigkeiten sorgen –, und so kann keine Gesellschaft „heil und unbeschadet“34 aus ihnen hervorgehen.
III. Der Diskurs um Vergangenheitsaufarbeitung Der gegenwärtige deutsche Aghet-Diskurs ist geprägt von einem Terminus, der sich in Bezug auf die Schoah etabliert hat und der es als Lehnübersetzung auch in andere Sprachen geschafft hat; die Rede ist von der Vergangenheitsbewältigung bzw. der Vergangenheitsaufarbeitung. Letzterer scheint angemessener zu sein, da anfechtbar ist, ob eine Vergangenheit je als bewältigt, als fertig aufgearbeitet gelten kann.35 Spätestens mit dem Einzug der AfD in Landesparlamente dürfte auf ganzer Linie augenfällig geworden sein, dass ebendies nicht der Fall ist, nachdem auch zuvor immer schon der Wunsch geäußert worden war, das Kapitel Nationalsozialismus nun endlich hinter sich zu lassen. Allein das Erschüttertsein über das Warum der Geschichte (Warum war die Schoah möglich?) immunisiert nicht gegen die Möglichkeit ihrer Wiederholung. Die Ursachen, wie Adorno sie meint, siedelt Bauman dann auch auf einer tiefer liegenden, strukturellen und darum unscheinbaren Ebene an: Völkermord beginne mit Klassifikation.36 Entscheidend ist demnach, wer im gesellschaftlichen Gefüge über Definitionsmacht verfügt und wie diese eingesetzt wird. Da 2015 das Jahr war, in dem sich der Völkermord an den Armeniern und Armenierinnen im Osmanischen Reich zum hundertsten Mal jährte, ist diesem Thema seitdem eine verstärkte mediale, auch populärmediale, Präsenz zuteilgeworden. Dabei ist die Betrachtung in der deutschsprachigen Öffentlichkeit, meiner Beobachtung nach, so sehr um eine Frage gekreist, dass es der konstruktiven Auseinandersetzung mit dem Thema und einer prospektiven türkisch-armenischen Aussöhnung eher abträglich war. Die Frage, die das deutsche Publikum bewegte, war, warum sich die Türken nicht dazu durchringen können, ihre Schuld einzugestehen Assmann (2007), S. 72 f. Kertész, Stille, S. 150. 35 Ich halte es daher mit der Interpretation Theodor W. Adornos aus seiner programmatischen Schrift Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit? , wenn er sagt, „[a]ufgearbeitet wäre die Vergangenheit erst dann, wenn die Ursachen des Vergangenen beseitigt wären“. Adorno, Aufarbeitung, S. 572. 36 Bauman (1994), S. 4. 33
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und sich zu entschuldigen.37 Regelmäßig stieß dies die türkische Seite vor den Kopf und das Resultat war, dass die türkische Seite unverstanden, die armenische Seite darüber meist ungehört blieb. Hier soll nicht bestritten werden, dass die deutsche Erfahrung von Vergangenheitsaufarbeitung einen Schatz bergen kann, von dem auch andere Kollektive lernen mögen.38 Diese Denkweise hat jedoch zwei Probleme. Zum einen scheint ein Schuldeingeständnis als Lösung des Problems verstanden zu werden. Dabei wird unterschätzt, dass dieser Schritt nur der erste von vielen nachfolgenden Verhandlungsetappen ist. Geschichte ist keine evidente Entität, die einfach herausgelesen werden kann, sondern unterliegt den Mechanismen kollektiver Erinnerung. Zum anderen scheint den Türken die deutsche Erfahrung eins zu eins aufgezwungen zu werden und ruft daher selten etwas Anderes als Ablehnung hervor. Seit die türkische Republik 1923 als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reiches gegründet wurde, wird der Genozid staatlicherseits geleugnet und keine sachlichen Argumente haben zu einer Inkorporierung des armenischen Gedächtnisses ins nationale Narrativ führen können. Nach meinem Dafürhalten liegt hier also auch ein kommunikatives Problem vor, das sich auf politischer Ebene äußert, in dem es eher symbolisch um Gehört- und Verstandenwerden als um die „richtige“ Auslegung der Geschichte geht – womit keinerlei Relativierung der Geschehnisse oder eine Legitimierung der Leugnerposition einhergehen darf. Weiters ist im Zusammenhang mit tiefergreifenden soziokulturellen Strukturveränderungen (zu deren weiterem Umkreis etwa die Schlagwörter Globalisierung, Postkolonialismus und Postnationalismus zu rechnen sind) die Frage gestellt worden, inwiefern der „gute“ Umgang mit der Erinnerung nicht einer neuerlichen kulturellen Hegemonie Vorschub leiste oder der Diskurs darüber zumindest tiefer liegende Probleme verdecke:39 Es stimmt, dass die ritualisierten und Absolution verheißenden Schuldbekenntnisse an die christliche Ethik der Vergebung der Sünden erinnern. Dies als Erklärung dafür ins Feld zu führen, dass das Benennen einer Kollektivschuld in islamischen Kulturen unbekannt sei,40 halte ich jedoch für reduktionistisch. Bekennen und Vergeben haben, so argumentieren auch Daniel Levy und Natan Sznaider, „den christlichen Container verlassen“ und niemand könne sich dieser Ethik entziehen.41 Eine ähnliche Beobachtung wird diskutiert in Quenzel, S. 133. Fremderfahrungen bei der Findung einer Sprache und eines Bewusstseins für Unrecht behilflich sein können, zeigen bspw. die Holocaust Centres in Kapstadt, Durban und Johannesburg. (Online: http://www.ctholocaust.co.za, letzter Zugriff: 08. 12. 2016). 39 Vgl. Kühne. Stolz, die „richtigen“ Lektionen gelernt und Demokratie und Menschenrechte für sich etabliert zu haben, zeigt sich nicht zuletzt durch die aktuelle Flüchtlingspolitik (hier aber besonders drastisch). Man beachte auch, wie brüchig dieses Modell ist, wenn es selbst nicht zu Veränderung bereit ist. 40 Vgl. Giesen, S. 149 ff., der selbst anerkennt, dass dieses Argument für sich genommen nicht ausreicht und es auf die „conditions of international communication and global observation“ ausweitet. 41 Levy/Sznaider, S. 244. 37
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Für eine Rückweisung des Aghet aus der europäischen Erinnerung ist es auf Grund einer Transnationalisierung von Erinnerung bereits zu spät:42 Für die in EU-Ländern aufwachsenden Türkinnen und Türken, Armenier und Armenierinnen gehört diese Frage mit zu ihrer Geschichte, und folglich ist die Anerkennung des Aghet als Völkermord auch stark mit der Anerkennung von Migrationsbewegungen in Europa verzahnt. So scheint mir der Diskurs um den Aghet auf eine Verwerfungslinie hinzuweisen, die der Diskurs um die Schoah bisher allein nicht aufzudecken vermochte. Dies betrifft den ganz allgemeinen Umgang mit „dem Anderen“, also dem als „ganz anders“ Imaginierten: Vor dem Zweiten Weltkrieg waren dies in Deutschland (und Europa) vornehmlich die Juden, nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem der Sozialismus, seit 1990 (wieder) der Islam. Da die Türkei als islamisch geprägtes Land gelten kann, ist die Beitrittsfrage der Türkei zur EU eine besonders weitreichende. Sie stellt die grundlegenden Werte der Union insofern infrage, als mit der Aufnahme eines als nicht-europäisch konstruierten Elements ein wichtiger Pfeiler europäischer Identität wegfiele, wenn bedacht wird, dass innerer Zusammenhalt oft nur durch scheinbare oder wirkliche äußere Bedrohung hergestellt worden ist. Gerard Delantys Skizze zufolge haben seit dem 16. Jahrhundert die Türken als äußere und die Juden als innere Bedrohung mehr zum Zusammenhalt Europas beigetragen als eine positiv gewendete genuin europäische Kultur.43 Indem also nun die Türkei europäisiert werden soll, pfropft Europa auch seine eigenen ungelösten Probleme dem Anderen auf, um sie dort aus sicherer Distanz zu lösen: Wenn die Türken ihre Vergangenheit „richtig“ aufarbeiteten und sich bei den Armeniern entschuldigten, würde „Alteuropa“ nicht nur die Türken als ihresgleichen anerkennen, sondern in ihnen sich selbst erkennen. Doch wird das Problem so nur scheinbar gelöst. In Wirklichkeit zementiert es die bereits existierenden „double standards of morality in Europe, one for candidates [sic] countries and another for the EU member states where their own controversial history is – only too often – consensually buried“.44 Was hier verdeckt wird, sind die Erinnerungen von Gewalt und Zerstörung des Kolonialismus, zu deren Aufarbeitung das derzeitige EU-Projekt noch wenig Bereitschaft zeigt und möglicherweise auch wenig geeignet ist. Es ist festzuhalten, dass eine Vergangenheitsbearbeitung auch in der Türkei geschieht.45 Auch, wenn dies bedeutet, dass konstruktive Aufarbeitung hauptsächlich abseits des offiziellen Geschichtsbildes stattfindet. Viele Familien haben wiederentdeckt, dass sie von Armeniern oder, noch häufiger, von Armenierinnen abstammen, wie dies beispielsweise in Fethiye Çetins Erzählung Meine GroßmutVgl. zum Begriff der Transnationalisierung Glick-Schiller et al. Delanty (1995), Kap. 3.;für eine systematische Betrachtung der Beziehungen Europas zum Islam vgl. auch Cardini. 44 Aydin et al., S. 3; vgl. auch Delanty/Rumford, S. 66 ff. 45 Den Begriff „Vergangenheitsaufarbeitung“ gibt es äquivalent in der türkischen Sprache als „gecmisle hesaplasma“. 42
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ter [Anneannem] thematisiert wird.46 Der entscheidende Unterschied zwischen deutscher und türkischer Vergangenheitsaufarbeitung ist hier also, dass, wo die Geschehnisse in der Türkei öffentlich geleugnet oder aber gerechtfertigt werden, sie auf lokaler und persönlicher Ebene Anerkennung finden können. Demgegenüber steht die Erfahrung Westdeutschlands, das unter der Aufsicht der alliierten Re-education gar keine andere Wahl hatte, als das Schuldbekenntnis ins neue nationale Narrativ mitaufzunehmen. Es sei daran erinnert, dass dieses Schuldbekenntnis auf lokaler und persönlicher Ebene bis in die 1960er Jahre (und darüber hinaus) keineswegs so selbstverständlich war, wie es heutzutage erscheint. Nach 1945 wog das Schoah-Trauma noch zu schwer, um direkt thematisiert zu werden. Statt seiner Benennung wurde von einer Stunde Null gesprochen, die jedoch alles andere als ein „radikaler Neuanfang ohne Rekurs auf die Vergangenheit“ war, da im Osten wie im Westen auf tiefer liegende Schichten der Vergangenheit, etwa die Revolution von 1848, zurückgegriffen wurde.47 Erst nach 1990 wird der bis dahin umstrittene „blinde[ ] Fleck in der deutschen Erinnerungsgeschichte“48 zu einer ausgesprochenen Grundlage des neuen Deutschlands: „Germans shared a perverse uniqueness in having committed this crime. The close relation to perpetratorship thus helped to constitute German national identity after 1990“.49 Weniger eine einseitige Überzeugungsarbeit, als vielmehr ein aktives, empathisches Zuhören sollte ein künftiges europäisches Geschichtsbewusstsein leisten können. Miteinander im Widerstreit stehende nationale Gedächtnisse können auf europäischer Ebene in einem „gemeinsamen Identitäts- und Werterahmen […] nebeneinander bestehen, ohne die alten Konflikte durch immer neuen Zündstoff wiederzubeleben. Auf diese Weise berühren sich Vergangenheitsbewahrung und Vergangenheitsbewältigung.“50 Bisher haben keinerlei Maßnahmen vermocht, „die“ Türken und „die“ Armenier von ihren divergierenden Standpunkten und Interessen abrücken zu lassen. Dies mag in dem begründet liegen, was Aleida Assmann das Zeitregime der Moderne nennt, sodass jede moderne Geschichtswissenschaft sicherstellen muss, „dass die Vergangenheit, mit der es der Historiker zu tun bekommt, auch wirklich vergangen ist“, sie mithin zu einer „denaturalisierten und dekulturalisierten homogenen Zeit wird“.51 Dem hat die lebhafte „heiße Erinnerungsarbeit“52 der Armenierinnen und Armenier weltweit – im Gegensatz zu den Bestrebungen „kalter“ türkischer Geschichtspolitik – bisher vehement entgegengewirkt. In ihrer Analyse darüber, mit welchen Mitteln sich die armenische Diaspora Vgl. auch Thelen, Kap. 3. Assmann/Frevert, S. 152. 48 Ebd., S. 97. 49 Kramer, S. 158. 50 Assmann (2014), S. 270. 51 Assmann (2013), S. 185. 52 Staudt spricht in diesem Zusammenhang auch von einem neutralen Begriff des „Erinnerungslobbyings“, der der Idee des Widerstands durch Erinnern von Aleida und Jan Assmann sehr nahekommt, vgl. Staudt, S. 63. 46 47
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in Deutschland und Frankreich politisches Gehör verschafft, stellte Kirsten Staudt fest: Die funktionale Seite der „Armenierfrage“ für die armenische Gemeinschaft als Ganzes – das Engagement junger Menschen und die politische Vernetzung – taucht im Gespräch gar nicht auf und scheint bewusst kaum eine Rolle zu spielen. Im Gegenteil, die Problematik wird als Frage von Wahrheit und Gerechtigkeit wahrgenommen und [scheint] gerade deshalb so große motivatorische Wirkung zu entfalten.53
Aus Sicht der Opfer-Nachkommen dauert das Unrecht an, während für die türkische Regierung die Völkermord-Frage ein Fall für das Archiv ist. Symbolisch aufgefasst, wird erkenntlich, dass bei armenischer (wie auch jüdischer und anderer) Erinnerungsarbeit „nicht ein ‚produktives Ziel‘, wie zum Beispiel die Verbesserung der türkisch-armenischen Beziehungen oder die Öffnung der türkischen Zivilgesellschaft, verfolgt werden muss. In erster Linie“, so Staudts Lesart, „geht es um ein Sich-Wehren, um den ‚Determinismus‘ der Geschichte zu überwinden“.54 So wichtig die Symbolik eines Schuldbekenntnisses seitens der Täterinnen und Täter ist: Am Vorhandensein von Schmerz und Schock über das Geschehene ändert es indes nichts und es kann, wie Kertész geschrieben hat, den alten Zustand nicht wiederherstellen. Die Frage ist: Kann Europa diesen symbolischen Rahmen schaffen, innerhalb dessen es Türkinnen und Türken, Armenierinnen und Armeniern gelingt, sich zu äußern, Gehör und gegenseitige Anerkennung zu finden und darüber eine Gemeinsamkeit, eine geteilte Erinnerung, zu begründen? Dazu müsste nicht nur die Türkei von ihrem exklusiven Nationalismus abrücken und die armenische Katastrophe als „eigene“ Katastrophe konstruieren, anstatt sie, wie bisher, gegen eigene Verluste aufzurechnen. Europa selbst dürfte die im Entstehen begriffene postnationale Identität nicht nach dem Vorbild seiner Nationalstaaten wiederholen, da vielfach die Gefahr einer „europäischen Apartheid“55 besteht, die, im Dienste der Suche nach einer eigenen Identität, allem voran „den“ Islam pauschal ausklammert. Problematisch ist, dass Europa am Aghet nicht unbeteiligt war.56 Zu Teilen war das Deutsche Reich in Ablauf und Legitimierung des Aghet verwickelt: Die politisch-militärische Kooperation veranlasste die Wilhelmstraße zu Leugnung, und mit den wirtschaftlichen Zielen der so genannten Bagdadbahn waren handfeste Präferenzen vorgegeben. Der amerikanische Historiker Sean McMeekin erinnert daran, dass der Istanbuler Bahnhof Haydarpaşa nicht nur ein Symbol fortschrittlicher deutscher Ingenieurskunst war, sondern als Ausgangspunkt einer Bahnstrecke bis zum Persischen Golf noch heute einen weitgehend vergessenen Traum Kaiser 53
Ebd., S. 156. Ebd., Hervorh. i. Orig. 55 Vgl. Balibar. 56 Zwar geht es im Folgenden um die deutsche Involviertheit im Aghet, dennoch kann von europäischer Präsenz gesprochen werden, da auch die Franzosen und Briten Anteile an der Eisenbahngesellschaft hielten sowie Kontrolle über Finanz-, Transport- und Postwesen des Osmanischen Reiches hatten, vgl. McMeekin, S. 37 ff. 54
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Wilhelms II. versinnbildlicht. Dieser hatte, um sein Imperium auszubauen, mit Sultan Abdul Hamid II. paktiert und durfte das Großprojekt im bankrotten und finanziell abhängigen Osmanischen Reich durchsetzen. Dabei wurden auch Armenier als Arbeitskräfte eingesetzt. Deren Deportationen und Ermordungen gaben ab 1915 den Deutschen zwar Anlass, diplomatisch zu intervenieren, aber im Mittelpunkt des deutschen Interesses stand das Fortbestehen des Eisenbahnbaus, das ohne fähige Arbeiter gefährdet wäre – obwohl die armenische Frage für die türkische Seite kein wirtschaftliches, sondern ein nationales Problem darstellte.57 Somit erhärtet sich der Vorwurf gegenüber einer deutschen Teilschuld, da man Kenntnis über die Vorgänge hatte, diese aber duldete. Die genaue Auseinandersetzung mit dem Aghet wirft Licht auf den eigenen blinden Fleck der Kaiserzeit, in deren Periode weitere Gewaltverbrechen an indigenen Völkern fallen. Deutschland (wie prominenter Weise auch Frankreich) kann darum heute den Vorwurf der Türkei, selbst „Leichen im Keller“ zu haben, nicht abwehren. Durch den erhofften Neubeginn einer Stunde Null und die Besinnung auf positive Bilder mitausgeklammert, sind die gewaltvollen Jahre des Deutschen Reiches als Kolonialmacht verdrängt, aber nicht vergessen worden und seit einigen Jahren wieder zunehmend Gegenstand öffentlicher Debatten. Beispielhaft sei hier die Präsenz des Vereins Berlin Postkolonial genannt, der sich auch für die Anerkennung des Genozids an den Nama und Herero durch den Deutschen Bundestag einsetzt. In Deutschland ist die Erinnerung an den Genozid demnach nicht, wie von der türkischen Regierung gefordert, nur der Geschichtswissenschaft vorbehalten. Seit den 1980er Jahren „wurde immer deutlicher, dass die Vergangenheit nicht nur ein Gegenstand der Wissenschaft, sondern eben auch im Politischen, Sozialen und Privaten eine wichtige Bezugsgröße für die Gesellschaft ist“.58 Die Ausdehnung einer kritischen deutschen Vergangenheitsaufarbeitung von der Schoah auf die Kolonialzeit ist allerdings nicht unumstritten, weil damit eine bisherige „Kolonialapologetik“ in Frage gestellt würde59: „Die strikte Scheidung der Geschichte des Dritten Reiches vom Rest der deutschen Geschichte hatte aber vielen geholfen, sich mit der deutschen Geschichte zu arrangieren“, schreibt Jürgen Zimmerer in seinen Beiträgen zum Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust.60 Dieses Arrangement ist seit einigen Jahren im Wanken begriffen und so sind deutsche und europäische Erinnerung wieder im Fluss. Interessanterweise ist dabei auch die Verschränkung der Anerkennung von Schoah und Aghet in den öffentlichen Debatten sichtbar. So habe Bundestagspräsident Norbert Lammert der Zeit gegenüber geäußert, „[w]er vom Genozid an den Armeniern 1915 im Osmanischen Reich spreche, der müsse auch die Verbrechen des deutschen Militärs im Jahrzehnt davor beim Namen nennen“.61 Üngör/Polatel, S. 166. Assmann (2013), S. 277 f. 59 Zimmerer (2011), S. 15. 60 Ebd., S. 10. 61 Anonymus. 57
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Somit muss die „Entkontextualisierung der Schoah“ nicht mit ihrer Relativierung einhergehen, wenn damit eine Universalisierung moralischer Werte bei Beibehaltung der Partikularität historischer Erinnerung gemeint ist, die das Tätergedächtnis nicht auflöst, sondern konserviert.62 Vielmehr kann das Blickfeld für die Anerkennung weiterer, bisher ausgeblendeter Unrechtstaten geweitet werden.
IV. Kulturelles Trauma als Stigma Über den Rückgriff auf den Begriff des Traumas und seiner Anwendung über die Individualpsychologie hinaus auf Kollektive sind innerhalb der letzten Jahrzehnte eine Vielzahl interessanter sozialpsychologischer und psychohistorischer Ansätze erwachsen.63 Ein Trauma kann durch einschneidende Erlebnisse in Individuen und Kollektiven ausgelöst werden, wenn dabei menschliche Grundbedürfnisse stark infrage gestellt oder angegriffen werden, und infolgedessen das Wohlsein der Akteure erschüttert wird.64 Die Aufarbeitung des Traumas hat eine Integration des Unverarbeiteten zum Ziel, wobei die Wiederherstellung eines „heilen“ prätraumatischen Zustands unmöglich ist. Zur Auseinandersetzung mit dem Trauma gehört es, die Versehrtheit in das neue Selbstverständnis einzufügen. Bis es aber zu Akzeptanz und Aufarbeitung kommt, werden die traumatischen Erfahrungen per Wiederholungszwang abgewehrt oder verschleiert und sind den Akteuren dadurch oft nur unbewusst zugänglich. Dabei kann ein Trauma sowohl bei Opfern als auch bei Tätern entstehen.65 Traumata nehmen in heutiger Zeit in etwa den identitätsstiftenden Platz ein, der früher Revolutionen zukam; Delanty und Chris Rumford sprechen von einer Kultur der Apologie oder Kultur der Vergebung, die durch Bilder wie Brandts Kniefall versinnbildlicht werde.66 Der Schoah kommt hierin aufgrund ihres Ausmaßes ein zentraler Stellenwert zu, der nicht nur mehr von Betroffenen verstanden und empathisch nachvollzogen wird, sondern weltweit Resonanz findet. Was passiert nun, wenn sich ein spezifisches Gedenken auf andere Sinnhorizonte öffnet? Geht etwas verloren oder wird etwas hinzugewonnen? Levy und Sznaider haben diese Entwicklung in Bezug auf die Schoah wie folgt zusammengefasst: Die Erinnerung an den Holocaust wird zu einer europäischen Erinnerung, die Europa dazu verhelfen kann, ein eigenes (wenn auch negatives) Wertesystem zu entwickeln. Der Preis, der dafür gezahlt wird, ist die Entkontextualisierung der Geschichte. Wenn aus ehemaligen Feinden nun Freunde werden, muss der alte historische Kontext verdrängt werden.67 Assmann (2014), S. 256 f. sei hier besonders auf Alexander et al. für eine allgemeine Betrachtung, für den deutschen Kontext auf Mitscherlich/Mitscherlich. 64 Alexander, S. 6. 65 Zum Begriff „Tätertrauma“ vgl. Giesen. 66 Delanty/Rumford, S. 98. 67 Levy/Sznaider, S. 11. 62 Vgl.
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Doch zunächst einen Schritt zurück. Ich halte „verdrängt“ hier für eine irreführende Wortwahl, da in ihrer Aufarbeitung traumatische Erinnerungen nun eben nicht mehr verdrängt, sondern anders wahrgenommen werden. Ganz allgemein lässt sich aus der bisherigen Geschichte des Umgangs mit der Schoah folgern, „that collective memory can shift substantially, and that it must be understood as an ever-changing, unstable entity that may be re-arranged constantly […]“68 Das gilt auch heute für die Schoah, selbst wenn (oder gerade weil) sie seit der Wiedervereinigung sichtbar mit zur deutschen Identität gehört. „Das Trauma“, erinnert Aleida Assmann, „führt nicht zu einer Einprägung, die als Grundlage für die Erinnerung dienen könnte; da nichts registriert wird, entsteht eine Leerstelle, die das Bewußtsein im Nachhinein durch verspätete Konstruktionen aufzufüllen versucht“, sodass sich die „ungesunde“ Abwehr des Traumas „noch langfristig in diffusen Symptomen niederschlägt“.69 Zu diesen Symptomen zählen Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem Buch Die Unfähigkeit zu trauern u. a. die politische Apathie bei gleichzeitigem, enormem wirtschaftlichem Aufschwung im Westdeutschland der Nachkriegszeit.70 Betont sei noch einmal, dass gerade bei einem viel umforschten Thema wie der Schoah Leerstellen (blinde Flecke) weitergetragen werden. Was lässt sich daraus für den Umgang mit dem Aghet ableiten? Ein weiteres Hindernis stellt der deutsche Umgang mit der Schoah dar, wenn er zum Maßstab gemacht wird, an dem sich die Türkei messen lassen muss. Anstatt dass sich eine (eigene) Sprache über das Vorgefallene bilden kann – und gerade das Finden einer Sprache für das Erlebte ist ein Schlüsselelement bei der Integration des Traumatischen, um nicht in zirkuläre Wiederholungs- und Verdrängungsschleifen zu verfallen –, wird in den (fremden) Kategorien der Schoah gesprochen, werden „die“ Türken „den“ Armeniern gegenübergestellt und über den geschichtlichen Diskurs werden eigentlich gegenwärtige Befindlichkeiten zementiert. Taner Akçam hat es so formuliert: „We think, when we are talking to each other, that we are discussing history, but what we are actually doing, more often than not, is discussing the present“.71 In dem, was gesagt wird, schwingen also oft andere Dinge mit, die nicht expliziert werden. Dazu kann im Falle der Türkei das so genannte Sèvres-Trauma zählen. Resultierend aus den Folgen des Ersten Weltkriegs, steht es bis heute für die Befürchtung, „fremde“ (seien dies innere oder äußere) Mächte könnten Hand an türkisches Territorium legen. Die türkische Nationalidentität sieht keinerlei Öffnung gegenüber Armeniern (oder anderen ethnischen Gruppen) vor, da diese neben Reparations- auch Gebietsansprüche erheben könnten. Auch wenn die türkische Regierung rhetorisch einer Anerkennung zwar schon sehr nahe gekommen ist, wie in einer Rede Recep Tayyip Erdogans, zu der Zeit Ministerpräsident der Türkei, vom 23. April 2014 (dem Vortag des Aghet-Gedenktages), wurde sie in letzter Konsequenz jedoch immer verwehrt: So sprach Erdogan von den DeKramer, S. 159. Assmann/Frevert, S. 115 f. 70 Vgl. Mitscherlich/Mitscherlich, S. 16 ff. 71 Akçam (2004), S. 249. 68 69
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portationen der armenischen Bevölkerung als „unser aller gemeinsamer Schmerz [hepimizin ortak acisidir]“, hatte aber vorausgeschickt, dass es nicht akzeptabel sei, dieses als „Vorwand gegen die Türkei auszunutzen oder zum Gegenstand politischer Konflikte zu machen [1915 olaylarinin Türkiye karsitligi icin bir bahane olarak kullanilmasi ve siyasi catisma konusu haline getirilmesi de kabul edile mez]“.72 Damit bleibt die Deutungshoheit der gemeinsamen Geschichte weiterhin allein bei den Mächtigen und wird an Historiker höchstens delegiert. Ein Aufbrechen der Deutungshoheit zugunsten eines Mitsprache- und Gestaltungsrechts von Minderheiten ist unzulässig. Eine augenfällige Ähnlichkeit in Bezug auf das deutsche Verhalten gegenüber den Nama und Herero ist dabei nicht von der Hand zu weisen und bereits öffentlich satirisch kommentiert worden.73 Die deutsche Mittlerposition ist in der Zwickmühle: Eine einseitige Unterstützung der Armenier ist Wasser auf die Mühlen der türkisch-nationalistischen Verschwörungstheoretiker und Perpetuierung des Sèvres-Traumas. Das Abweichen von einer klaren Stellungnahme unter Verwendung des Wortes „Genozid“ wiederum ist ein Schlag ins Gesicht der Aghet-Opfer und ihrer Hinterbliebenen, und bedeutet eine Wiederholung derselben Unterlassung wie 1915. Bedenkenswert ist hierbei, dass die Türkei sich auch in der „Armenierfrage“ als Opfer und nicht als Aggressor sieht.74 Diese Verzerrung der Opferperspektive, wiewohl auf politisch-diplomatischer Ebene aufgrund der historischen Faktenlage nicht tolerierbar, ist kommunikationspsychologisch nicht zu vernachlässigen, da hierauf die hartnäckige Leugnerposition aufbaut: auch verzerrte Realität wird als Realität wahrgenommen, sodass die Täterseite jegliche Vorwürfe zunächst als Unrecht erlebt. Bedingungsloses Mitgefühl ohne Aufrechnung oder Opferkonkurrenz kann die Türkei nur dann leisten, wenn der Genozid als eigene Tragödie aufgefasst wird. Das bedingt allerdings gerade, dass der türkische Staat lernt, sich selbst kraft der den türkischen Staat begründenden rechtlichen Vorläuferorganisationen als Aggressor wahrzunehmen. Die Ausweisung der armenischen Identität aus dem staatlichen Narrativ,75 wie überhaupt der radikale Bruch mit der osmanischen Vergangenheit, stehen diesem Prozess jedoch im Wege. Sich ausschließlich auf die Zukunft anstatt auch auf die Vergangenheit zu konzentrieren, mag zunächst im Dienste einer „Normalisierung“ stehen. Ein Trauma kann zwischen anderen (scheinbar) intakten Menschen und sozialen Gruppen als Makel, als Stigma aufgefasst werden. Wie der kanadische Soziologe Erving Goffman in seinen Untersuchungen über die Techniken der Bewältigung beschädigter Identität festgestellt Erdogan, Übersetzungen C. B. Zu einer näheren Einschätzung derselben Rede vgl. Akçam, Leugnung. 73 Vgl. Heute Show, 7. Juni 2016, Min. 22:40 – 26:25. 74 Als Beispiel mag der Ausstellungsraum des türkischen Militärmuseums [Askeri Müze] in Istanbul dienen, der sich diesem Kapitel widmet. Dort werden u. a. Fotos als Beweismaterial türkischer „Unschuld“ ausgestellt. Vgl. dazu die Museums-Homepage: http://www.askerimuze.tsk.tr/ust_kat_salonlar.html. (Letzter Zugriff: 08. 12. 2016). 75 Vgl. Kentel. 72
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hat, ist „Stigma-Management ein allgemeiner Bestandteil von Gesellschaft“, der „auftritt, wo immer es Identitätsnormen gibt“76 – und dieses Kriterium trifft in besonderem Maße auf Nationen zu. Da eine stigmatisierte Person oder Gruppe glaubt, dass sie „nicht ganz menschlich“77 oder, in Kertész’ Worten, nicht „heil und unbeschadet“ ist, wird sie alles tun, um „Normalität“ zurückzugewinnen. So mag eine erste erfolgreiche Phase der Zukunftsorientiertheit darüber hinwegtäuschen, dass man selbst versehrt, beschädigt ist. Mit der Zeit bedarf es für das Aufrechterhalten dieser Illusion aber immer größeren Aufwandes, weil das Trauma, bis seine Integration vollzogen ist, immer wieder auflebt.
V. Europäische Identität Erinnerung ist ein Schlüssel zu Identität und Politik, zu politischer Handlungsfähigkeit und Verantwortung. Darin, wessen auf welche Art und Weise gedacht wird, zeichnet sich das Selbstverständnis eines Kollektivs ab. Dem Begriff Verantwortung kommt dabei eine ebenso zentrale wie diffuse Bedeutung zu. Worin besteht die Verantwortung im Wachhalten der Erinnerung? Während das deutsche Modell zum Vorbild wird und als solches die Gefahr in sich birgt, präskriptiv zu sein oder, wie Thomas Kühne meint, die Schoah zu trivialisieren und auszubeuten,78 kann sein Umgang mit Geschichte als „europäisch“ gelten. Das türkische Modell hingegen gab vielen Seiten Anlass, die Türkei in toto als „nichteuropäisch“ auszuweisen. Was können wir nun über die Konstruktion eines europäischen Selbstverständnisses im Widerschein der Techniken kollektiver Vergangenheitsaufarbeitung ableiten? Zunächst ist zu unterscheiden zwischen der EU und Europa allgemein, sprich zwischen einem supranationalen, politisch-institutionellen Gebilde und einer Idee, die ein kulturelles Produkt ohne eigentliche lebensweltliche Entsprechung ist, die keine Grenzen kennt und keine Geographie. Wenn also Landstriche, die geographisch in Asien (Zypern), Afrika (bspw. La Réunion) oder Südamerika (bspw. Guyana) ohne weiteres in die EU aufgenommen werden, stellt sich nur noch die Frage: Wann und wie ist Europa?, nicht aber: Wo ist Europa? Die Zurückweisung des marokkanischen Beitrittsgesuchs von 1987 steht also im Widerspruch zur gegenwärtigen anachronistisch-euphemistischen Definition europäischen Territoriums mit der Regelung so genannter „GÄR“: Gebiete in äußerster Randlage. Diese Idee Europa ist zugleich etwas, deren Bedeutung Wandlungen unterlag und das „von unten“ kommt. Komplementär dazu steht das institutionell verankerte Brüsseler Europa, das seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges entsteht Goffman, S. 160 f. S. 13. Bekannte Auseinandersetzungen mit der Versehrtheit menschlicher Integrität infolge der Einwirkung staatlicher-repressiver Macht finden sich beispielsweise bei Jean Améry, Imre Kertész, Primo Levi und Herta Müller. 78 Vgl. Kühne. 76
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und eine von vielen konkreten Ausformungen der abstrakten Idee ist. Was, wo und wie Europa ist, kann je nach Kontext unterschiedlich mit Sinn gefüllt werden. Die EU möchte ich als „Europa von oben“ betrachten, das nur deshalb möglich ist, weil die Idee Europa schon seit Jahrhunderten in den Köpfen der Menschen existiert. So argumentieren auch Delanty und Rumford, wenn sie sagen, dass diskursive Transformationen zu soziokognitiven Transformationen führen würden, die Lernprozesse im kollektiven Bewusstsein anregen können.79 So entstünde aus einem Europa, das dem nationalstaatlichen Diskurs zunächst untergeordnet dient, allmählich ein eigenständiges Konzept Europa. Eine Person kann dann in erster Linie Europäerin sein, bevor sie sich mit ihrer nationalen Herkunft identifiziert – jedoch ohne die nationalen Grenzen dabei in Frage stellen zu müssen.80 Die nationalen Geschichten, nationalen Mythen, Helden und Heldinnen, nationalen Symbole und eben Identitäten bleiben bestehen und inwieweit man sich als Europäer oder Bürger eines Nationalstaats (oder als beides oder nichts davon) definiert, kann im Sinne einer post- oder andersmodernen Betrachtungsweise nicht vom Staat festgelegt werden, ohne gegen Integrität und Würde Einzelner zu verstoßen. Dass die EU historisch kontingent ist und auch anders aussehen könnte, zeigen die vielen anderen Organisationen, die den Namen „Europa“ in sich tragen, allen voran der Europarat mit seinen 47 Mitgliedstaaten, aber auch die Europäische Rundfunkunion mit 73 Vollmitgliedern aus 56 Staaten, nun auch Marokko darunter. Europäisch oder nichteuropäisch? Und: nach welchem Kriterium? Darüber hinaus haben Claus Leggewie und Anne Lang auf den Wortsinn einer geteilten Erinnerung hingewiesen, womit zweierlei gemeint ist: zum einen, dass die Erinnerung der gemeinsame Faktor, zum anderen, dass sie der teilende Faktor ist. Da die EU ein Gebilde sui generis ist, zielt die Unionsbürgerschaft nicht darauf ab, die nationalen Bürgerschaften zu ersetzen. Die bewusste Nachbildung eines europäischen Nationalstaats wäre also verfehlt, falls sie überhaupt realistisch ist – und dennoch vollzieht sich die Formung einer europäischen Identität in der EU-Kulturpolitik entlang nationalstaatlicher Strukturen. Die Dynamik zwischen nationaler und europäischer Kultur sieht dergestalt aus, dass beide Sphären einander bedingen. Auch bei der zunehmenden Europäisierung im politischen Sinne der Abgabe bestimmter Kompetenzbereiche nach Brüssel kann nicht von einer Aufgabe nationaler Identität die Rede sein. In ihrer Analyse der EU-Kulturpolitik hat Gudrun Quenzel herausgestellt, dass, wo es keine genuin europäischen Artefakte gibt, die Konstruktion einer europäischen Identität durch die „Strategie der Rückführung kultureller Vielfalt auf eine der Vielfalt vorgängige europäische Kultur“ verfolgt wird.81 Das heißt, dass nationale Subjekte als Mitglieder ihrer Nation angerufen und gleichzeitig gleichwertig als Teil Europas bestimmt würden. „Durch diesen Prozess“, resümiert Quenzel, „schwingt bei der Delanty/Rumford, S. 19 f. Quenzel, S. 160 ff. 81 Ebd., S. 160. 79
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Anrufung nationaler Subjekte zugleich eine Anrufung als Europäer/innen mit und die nationale Identität wird zum Teil einer europäischen Identität“.82 Dieser Prozess funktioniere auch umgekehrt, wenn die europäische Identität als Teil der nationalen Identität insofern deklariert wird, als bei der Anrufung europäischer Subjekte jeweils die sich als europäisch verstehenden Nationen angesprochen fühlen. Eine Verschmelzung von nationaler und europäischer Identität nimmt seit 1989 zu und zeichnet sich in der politischen Rhetorik deutlich ab. Als Beispiel dafür mag die Rede des Bundespräsidenten Joachim Gauck dienen, die er aus Anlass der 25. Jahrestags der Wiedervereinigung Deutschlands in Frankfurt am Main hielt. Dort sagte er: „Es kann keine Lösung in der Flüchtlingsfrage geben – es sei denn, sie ist europäisch“.83 Angesichts des Unwillens vieler anderer Staatsoberhäupter in EU-Ländern, die nationale Souveränität in der Flüchtlingspolitik abzugeben, ist das bemerkenswert, zumal es aus Anlass der deutschen Wiedervereinigung gesagt wurde und eine Aussage über die seitdem gewachsene neue Nationalidentität treffen will. Gaucks Plädoyer, die „Erinnerung als Brücke“84 zu nutzen, steht für ein selbstbewusstes Deutschland, das ohne Europa so nicht denkbar wäre. Stellt das Schoah-Gedenken also einen gemeinsamen Faktor europäischer Identität dar, unter dem sich heute Täter- wie Opfergruppen gleichermaßen begegnen können, so ist es aber auch ein teilender Faktor. Innerhalb Europas gibt es nämlich noch eine deutliche Ost-West-Teilung, die sich im kollektiven Bewusstsein niederschlägt. Dominiert wird die EU-europäische Erinnerung dabei vom Gedenken an die Schoah, da die Überwindung und Aufarbeitung der sozialistischen Regime deutlich jüngeren Datums sind. Mit einem Vorsprung von zwei Generationen haben Teile des „Westens“ dieses Kapitel der Geschichte aufarbeiten können, während dies in vielen mittel- und osteuropäischen, aber auch in der gesamtdeutschen Gesellschaft, erst ab 1990 der Fall war. Diese Teilung gilt es nicht anzugleichen, sondern anzuerkennen, sodass die gemeinsame Erinnerung eben nicht in einem vereinheitlichten Diskurs besteht, sondern auf der Metaebene angesiedelt ist, in seiner Diskursivität, und gleichzeitig der Aufarbeitung und Integration osteuropäischer Erinnerung Platz einräumt.85 Die türkische Leugnerposition entspricht somit, wenn sie die Würde ihrer Nation bewahren will,86 nicht der „neue[n] Gedächtniskonfiguration“87 einer Anderen oder Zweiten Moderne, wie Levy und Sznaider sie sehen, und die zum Fundament europäischer Identität wird: Die Wahl [einer nationalen Identität, C. B.], so unsere These, wird immer mehr von der Art und Weise, wie man sich an den Holocaust erinnert, geprägt. Die historische 82 Ebd.
Gauck, S. 5. Ebd., S. 1. 85 Vgl. Leggewie. 86 Vgl. Özgönül. 87 Levy/Sznaider, S. 229. 83
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Erinnerung an den Holocaust (und ihre zukunftsweisende Vereinnahmung für Genozid und „ethnische Säuberungen“) ist zu einem Symbol für eine kritische nationale Rückschau geworden und hat somit mythologische Erinnerungen an die heroische Nation verdrängt.88
Nicht, worüber gesprochen wird, sondern dass und wie darüber gesprochen wird, machen, diesem abstrakt-kulturellen Verständnis folgend, Europa und europäische Erinnerung aus. Dazu gehört die Beobachtung, dass die EU, wie sie derzeit ist, sich selbst europäisieren, d. h. ihre Werte auf sich selbst anwenden muss.89 Denn das Schoah-Gedenken stellt dabei in seiner Entkontextualisierung nicht nur die Begründung einer Kultur der Apologie dar. In der Behauptung ihrer Singularität verdeckt seine zentrale bzw. „privilegierte Stellung“90 die Möglichkeit der Anerkennung weiterer Gewaltverbrechen.91 Dass die EU bisher nicht imstande war, ein europäisches Geschichtsbewusstsein hervorzubringen, liegt an ihrer Verfasstheit, da ihr demokratische Legitimation92 und ein Modell aktiver Bürgerschaft und Partizipation93 fehlen. Das eklektische Selbstverständnis der EU als Grenzüberwinderin und Friedensnobelpreisträgerin ist nur die eine Seite, deren andere, dunklere Seite (das Tätergedächtnis von Kolonialverbrechen) abgespalten oder aktiv vergessen wird. Wessen sich Europa schuldig gemacht hat, wurde einseitig auf die die EU konstituierenden Nationen abgewälzt, was eine Abwertung alles Nationalen zur Folge hatte. Es hat zwar weder im Kolonialismus noch im „Dritten Reich“ eine vergleichbare europäische Körperschaft sui generis gegeben. Ausschlaggebend aber war die Idee der europäischen Zivilisation, als deren Vorreiter sich die Nationen jeweils sahen, sodass die Trennlinie in den Kolonien weniger zwischen den einzelnen Nationen als zwischen Europäern und Nicht-Europäern gezogen wurde.94 Damit wiederholt die gegenwärtige EU-Konstruktion, insbesondere in ihrer Kulturpolitik,95 den Prozess der Nationenbildung. Nach der sogenannten Eurosklerose der 1970er und 1980er Jahre erfolgte seit der politischen Wende 1989 die Wiedervereinigung des Kontinents. Mit dem Wieder entdecken von Teilschuld (insbesondere infolge von Kollaboration mit den Nazis) und damit der Abwertung des Nationalstaats ging die einseitig positive Aufladung europäischer Kultur einher. Um Europa als Friedensbringer und „Grenzsprenger“ zu etablieren, muss die gewaltsame Seite geleugnet beziehungsweise ausgelagert werden. In diesem Sinne spiegelt die abwehrende Geste der Türkei europäisches Verhalten auf nationaler Ebene. 88 Ebd.
Vgl. dazu Balibar, S. 10 ff.; Leggewie, S. 52; Shore, S. 27 ff.; Yegenoglu, Kap. 4 und 5. Yeğenoğlu, S. 149. 91 Vgl. dazu auch Stannard, der denselben Umstand in Bezug auf die Morde an indigenen Völkern Amerikas beobachtet. 92 Vgl. Shore. 93 Vgl. Delanty (2007) sowie Balibar. 94 Vgl. Delanty (1995), insbesondere Kap. 6 und 7. 95 Quenzel, S. 203. 89
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VI. Fazit Der vorliegende Beitrag hat unter anderem die Frage gestellt, ob der Aghet ein europäischer Völkermord ist. Durch das Nachzeichnen von Anerkennung und Leugnung von Schoah und Aghet wurde der Versuch unternommen, diese Prozesse aus kommunikationspsychologischer Sicht so zu deuten, dass eine Aussage über das europäische Selbstverständnis erkennbar wird. Dabei wird Europa primär als kulturelle und historisch kontingente Idee aufgefasst, zu deren konkreten politischen Umsetzungen die EU als eine von mehreren möglichen Ausformungen zählt. Das Europäische ist dabei derart mit dem Nationalstaatlichen verwoben, dass bei Anrufung des einen immer auch das andere mitschwingt. Somit wird der Aghet, mag man auch seinen Schauplatz qua Geografie als asiatisch ausweisen, zu einem europäischen Problem: weil Europa seinerzeit mindestens durch das Hinnehmen der Morde darin verstrickt war; weil die Morde in eine Phase ausdrücklicher Europäisierung der türkischen Nation fielen; und weil die Nachkommen der Täter und Opfer heute auch in der EU leben, vor allem in Deutschland und Frankreich. Bei der Ausformung einer Identität spielt u. a. Erinnerungskultur eine Schlüsselrolle, die nicht nur auf dem Erinnern gewisser Dinge beruht, sondern gleichzeitig immer auch auf dem Vergessen anderer. Sozialpsychologisch gewendet, wird das Vergessen als traumatisch erlebter Ereignisse als Technik der Stigma-Handhabung betrachtet, die das Trauma abspalten oder verdrängen will. Gegenwärtige europäische Erinnerungskultur stützt sich auf das Gedenken an die Schoah bei gleichzeitiger Ausweisung des Gedenkens an die Opfer kolonialer Gewalt. Das seit 1989 voranschreitende eklektische Selbstverständnis Europas als Repräsentant von Frieden und Menschenrechten baut gleichzeitig auf der Ausweisung des Islam, sodass die türkische EU-Beitrittsfrage im Allgemeinen und der Aghet-Diskurs im Speziellen die europäische Identität infrage stellen, indem sie auf deren Leerstellen hinweisen. Dies wird anhand des Aghet-Diskurses in Deutschland ersichtlich, da nicht nur die deutsche Vergangenheitsaufarbeitung zum europäischen Vorbild avanciert und damit zum Maßstab für die Türkei geworden ist, sondern die deutsche Beteiligung an Aghet und weiteren Gewaltverbrechen zur Kaiserzeit im transnational (armenisch-deutsch-türkisch) geführten Diskurs neu aufgearbeitet werden muss. Der oberflächlich sichtbare politisch-diplomatische Konflikt hat der EU bzw. ihren Mitgliedstaaten bisher einen Anlass, aber keinen Grund geliefert, die Türkei aus der EU auszuschließen – zu sehr rührte eine einfache Exklusion an die Doppelstandards und die eigenen blinden Flecke, die unaufgearbeiteten Vergangenheiten Deutschlands und Europas. Vielmehr zeigen sich zwei Umstände: Zum einen, dass, wo Anerkennung und Leugnung zweier unterschiedlicher historischer Ereignisse so eng miteinander zusammenhängen, Geschichte im Fluss und Gegenstand nicht nur staatlich legitimierter Geschichtswissenschaft, sondern mehrerer, auch ziviler, Parteien ist. Zum anderen, dass europäische Identität nicht nur an Geographie und politisch-ökonomischen Kriterien festgemacht wird, sondern auch an der Art und Weise, wie die eigene Vergangenheit betrachtet wird. Das Beschwichtigen oder Leugnen der Völkermorde und die damit einhergehende Verzerrung der Opfer-
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perspektive sind zwar politisch nicht tolerierbar, können aber symbolisch als Ausdruck eines Tätertraumas gedeutet werden. Zudem würde ein Schuldeingeständnis nicht den Abschluss der Debatte, sondern nur eine weitere Verhandlungsetappe darstellen. Für die Aufarbeitung des Aghet kann die deutsche Schoah-Aufarbeitung zwar ein Vorbild sein, jedoch muss sich eine eigene Sprache entwickeln, um nicht auf Stellvertreter-Kategorien zurückzufallen. Europäische Erinnerung hat, wenn sie auf einer Metaebene angesiedelt ist, die Integration von Vergangenheitsbewahrung und Vergangenheitsaufarbeitung zum Ziel. Dergestalt kann eine Identität ohne Verzerrung der Täter-/Opferperspektiven sowohl auf einem Blick in die Vergangenheit als auch einem Blick in die Zukunft gebaut werden, sodass weder ein Schlussstrich gezogen werden noch Handlungsfähigkeit aufgegeben werden muss. Diese Umsetzung einer europäischen Erinnerungskultur ist durch die EU jedoch nicht gewährleistet, da deren Kulturpolitik eher nationalstaatliche Strukturen imitiert und zum Begründen einer Identität bisher die Türkei als konstitutives Anderes, den Aghet mithin als türkisches Problem ausweist.
Genozidale Logiken und Massengewalt
Die Revolution der Roten Khmer Von Daniel Bultmann Daniel Bultmann Die Revolution der Roten Khmer
Phnom Penh fiel wie eine reife Frucht. Fünf Jahre nach dem Putsch Lon Nols gegen den Staatschef und ehemaligen König Norodom Sihanouk, dem Übergreifen des Vietnamkrieges auf kambodschanisches Territorium und Jahren massiven US-amerikanischen Bombardements rückten die Truppen der Kommunistischen Partei Kampucheas (KPK) in einer Koalition mit dem im chinesischen Exil lebenden Prinzen Sihanouk in die Hauptstadt ein. Der Abzug der Amerikaner aus Indochina im Jahr 1973 und damit die Einstellung der verheerenden Luftunterstützung für die Regierung Lon Nols, die den Kommunisten Futter für die Rekrutierung von Kämpfern geliefert hatte, hinterließ ein militärisches Vakuum, das die durch Korruptionsskandale und durch den Zusammenbruch der Wirtschaft noch zusätzlich geschwächte Regierung nicht mehr zu füllen vermochte. Anfangs hofften die Menschen in der Hauptstadt, die während der Kriegswirren von 600.000 auf 2 Millionen Einwohner angewachsen war, noch auf die Rückkehr des gestürzten Königs und auf Frieden. Doch die kindlichen bis jugendlichen Kader der Roten Khmer ordneten umgehend die „Evakuierung“ der Stadt an. Behauptungen, man wolle die Menschen lediglich vor drohenden Bombardements der Amerikaner beschützen oder eine Hungersnot verhindern, wurden durch Schüsse auf jene konterkariert, die sich weigerten zu gehen. Jeder – egal, ob jung, alt oder krank – musste die Stadt umgehend verlassen. Zwei Millionen Menschen machten sich auf den Weg zur Zwangsarbeit auf den Reisfeldern und in Dammbauprojekten in den Provinzen. Schätzungsweise 20.000 Menschen starben schon unterwegs; ermordet als Mitglieder der Regierung oder weil sie den Gewaltmarsch alters- und krankheitsbedingt nicht schafften. Die Revolution im Arbeiter- und Bauernstaat „Demokratisches Kampuchea“ (DK) begann. Dabei sah es noch 1969 nicht gut für die Roten Khmer aus, schließlich umfasste die Organisation im entlegenen Nordosten des Landes gerade einmal 800 bis bestenfalls 1.500 Kämpfer.1 Doch neben den sich immer mehr ausweitenden US-amerikanischen Bombardements, die anfangs nur die Versorgungspfade der Vietcong über den Ho-Chi-Minh-Pfad im Osten des Landes treffen sollten, letztlich dann aber mit der Machtergreifung Lon Nols das ganze Land überzogen, spielten Sihanouk und die Vietnamesen der kommunistischen Partei in die Karten. Sihanouk verschaffte den „Roten Khmer“ – wie er sie selbst getauft hatte – tausende Rekruten, indem er auf Druck Chinas unter Mao eine Koalition mit seinen 1 Zur Geschichte der Roten Khmer im Folgenden siehe Kiernan (1985), Kiernan (1996) und Bultmann (2017).
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ehemaligen Feinden einging, um wieder an die Macht zu kommen. Die Ränge der Roten Khmer schwollen nach seinem Ruf zu den Waffen massiv an. Und auch die Nordvietnamesen halfen kräftig mit, indem sie den Roten Khmer bis 1972 große Gebiete als „befreite Zonen“ eroberten, bevor sie sich dann zurückzogen und ihren Zöglingen den weiteren Kampf überließen – unter der Führung eines im Geheimen operierenden Zirkels ehemaliger Pariser Studenten, allen voran Saloth Sars – besser bekannt unter seinem Kriegsnamen „Pol Pot“. Die Verwüstungen durch die – lange Zeit geheim gehaltenen – amerikanischen Bombardements bis 1973 sowie die direkte Unterstützung Sihanouks und für einige Jahre auch der Nordvietnamesen verschafften der schattenhaft agierenden, höchst klandestinen Organisation Kontrolle über große Gebiete des Landes und ein kampferprobtes Militär mit mehr als 60.000 Kadern am Tag der Machtergreifung – dem 17. April 1975.2 Die kommunistische Organisation verbarg sich auch nach der Machtübernahme weiterhin hinter dem Namen „Angkar“ (deutsch: die Organisation). Ihr Weg zur Macht im Schatten und auf dem Rücken anderer brachte jedoch ein großes Problem mit sich: Die Bevölkerung und sogar weite Teile der eigenen Gefolgschaft waren weit davon entfernt, gläubige Sozialisten zu sein.3 Doch für die Führungsriege Angkars gab es eine relativ leichte Lösung für ihr Legitimationsdefizit: Die Khmer waren nämlich ihrer Ansicht nach – unterhalb der Verblendung durch den Kapitalismus – ihrem ursprünglichen Wesen nach allesamt Sozialisten. Allein das durch Individualismus und kapitalistische Ausbeutung geschaffene „falsche Bewusstsein“ – so die Theorie der Parteiführung – stünde den Khmern und einer Modernisierung des Landes im Weg. Es war die „ausbeuterische und individualistische Umwelt“, die ihr sozialistisches Wesen und ihr eigentlich revolutionäres Denken über die Jahrhunderte verdorben hätte. Es bedurfte daher der Transformation der Gesellschaft und der Lebens- und Arbeitswelten der Menschen in eine vollkommen egalitäre Ordnung, um sie von ihrem „Irrweg“ abzubringen. Denn das Denken formte sich für die Roten Khmer – wie für Marx und Mao – in der produktiven Tätigkeit des Menschen, in seiner Arbeit innerhalb des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Es bildet sich in der Lebens- und Arbeitswelt heraus und spiegelt die dort im Klassenkampf vertretenen Interessen wider. Zu denken, zu handeln und zu fühlen wie ein Sozialist, das sollten die vom Individualismus und Kapitalismus verdorbenen Khmer nun in den Reisfeldern, in einer revolutionären Gemeinschaft mit den Bauern lernen, deren Lebensweise die Partei auch ohne intensivere Umerziehung bereits nah an einem ursprünglichen Sozialismus wähnte. Egalitäre Lebenswelten, basierend auf einer modern-kollektivistischen Produktionsweise – so die Theorie der Intellektuellen um Pol Pot, Nuon Chea, Son Sen, 2 Vgl. Becker sowie Shawcross. In der Forschung schwankt die Zahl der geschätzten Todesopfer durch die 539.200 Tonnen Bomben zwischen 50.000 und 300.000. Manche Autoren nehmen einfach die Schätzung von 600.000 Opfern des Bürgerkrieges zwischen 1970 und 1975 als Schätzung der Opfer der US-amerikanischen Bombardements. Vgl. Bultmann (2017), S. 66. 3 Vgl. Bultmann (2011).
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Khieu Samphan und Ieng Sary –, sollten radikal egalitär und progressiv denkende Menschen hervorbringen, und damit einhergehend: der Partei folgsame Sozialisten, die eine radikale Modernisierung des Staates auf den Weg bringen.4 Die Landwirtschaft sollte dabei in eine Fabrik umgewandelt werden, geradezu nach dem Vorbild fordistisch-genormter Produktionsabläufe. Die Schätzungen der Opferzahl dieser Gedanken- und Wirtschaftsreform gehen je nach ideologischem Hintergrund der Schätzenden weit auseinander. Jahre des Bürgerkrieges vor und nach den Roten Khmer machen eine exakte Zählung – wie bei fast allen Zahlen zu den Roten Khmer – nahezu unmöglich. Derzeit beziffert das Rote Khmer-Tribunal die Opfer durch Hunger, Krankheit, Erschöpfung und Ermordung in einer Analyse aller bisherigen Schätzversuche und verfügbaren Daten daher in einer breiten Spanne von 1.6 bis 2.2 Millionen.5 Die Herrschaft der Roten Khmer erschöpfte sich dabei nicht im gängigen Klischee eines bloßen „Abschlachtens“ gebildeter Bürger oder Brillenträger. Vielmehr handelte es sich um die Umsetzung einer radikal-modernen Ordnungsfantasie, die die Einhaltung einer kollektivistischen Norm über einen bürokratischen Gewaltapparat überwachte, der Verrat an der revolutionären Ordnung in der Bevölkerung und in den eigenen Reihen bereits im kleinsten Detail gnadenlos verfolgte. Zwar fielen zuerst obere Wirtschafts- und Bildungsschichten der Transformation verstärkt zum Opfer und wurden bereits bei allerkleinsten Vergehen zu Feinden der Revolution erklärt. Die Revolution machte allerdings letztlich vor keiner Bevölkerungsgruppe und keiner sozialen Klasse Halt. Es ging den Roten Khmer nicht um einen Rückschritt in eine kommunistische Steinzeit, in der es nur noch ungebildete Bauern gegeben hätte. Es ging ihnen um ein Programm gesellschaftlicher Modernisierung, das das Reich der Khmer – sobald losgelöst vom schlechten Einfluss des kapitalistischen Weltsystems – in einem an Mao angelehnten „Super-großen Sprung nach Vorn“ aus seiner Unterentwicklung befreien sollte. Aus Sicht des Zentralkomitees der KPK fesselten individualistische und kapitalistische Lebenswelten die Kräfte der Khmer, die – einmal bereinigt von „internationaler Knechtschaft“ und „individualistischen Unreinheiten“ – diesen kollektivistischen Kraftakt sozialistischer Modernisierung ermöglichen würden. Doch hierzu mussten sie zuallererst in eine sozialistische Ordnung eingebunden werden, die ihnen die korrekte, revolutionäre Lebensweise beibringen würde.
I. Sozialistische Ordnungsfantasie Da das Denken ein Abbild der Umwelt ist, in der die Menschen aufwachsen, arbeiten und in der sie sich zeit ihres Lebens bewegen, glaubte Angkar, die Einrichtung einer perfekt sozialistischen Umwelt inmitten einer agrarisch-industrialisierten Produktionsstätte würde einen perfekten Sozialisten erschaffen können. Bultmann (im Erscheinen). Diese aktuelle Schätzung findet sich in der Studie von Tabeau/Kheam.
4 Vgl. 5
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Ein zur alltäglichen Lebenswelt gewordener Kollektivismus sollte den kollektivistischen Geist der Khmer wecken, der dann als Motor der gesellschaftlichen Modernisierung und wirtschaftlichen Entwicklung dienen sollte. Die Gedankenreform begann mit der Vertreibung der Menschen aus der Stadt und der Tötung jener, die als nicht „reformierbar“ galten: der Herren der alten Ordnung, hier vor allem der Mitglieder des Militärs und der Regierung Lon Nols. Der Rest der Bevölkerung sollte durch ein Leben in der neuen Ordnung umerzogen, nicht vernichtet werden. Angkar schloss hierzu umgehend die Grenzen, um das Land vom schlechten Einfluss des kapitalistischen Weltsystems und seinen „Ausbeutungsmechanismen“ zu isolieren. Schulen als Hort der Bildung der alten Ordnung wurden ebenso geschlossen. Religion blieb zwar offiziell erlaubt, jedoch wurden Mönche dem gleichen Diktat unterworfen wie alle, mussten ihre Roben ablegen und zur Feldarbeit schreiten. Die Pagoden des Landes wurden in Lagerhallen, Ställe für Vieh oder aber Gefängnisse umfunktioniert. Um Individualismus und kapitalistischen Handel gar nicht erst aufkommen zu lassen, wurden Geld und Privatbesitz jeglicher Art abgeschafft – Land, Geräte, Küchenutensilien, absolut alles musste abgegeben werden. Handel wurde verboten und eine zentralistische Verteilung von Essensrationen eingeführt. Die Menschen sollten nunmehr in Kooperativen arbeiten, in denen Nahrung beim kommunalen Essen strikt nach revolutionärem Status und politischer Eignung zugeteilt wurde. Das sogenannte „alte“ oder „Basisvolk“ der Revolution, also jene, die zum Zeitpunkt der Machtergreifung als Bauern auf dem Land gewohnt hatten, erhielten die meisten Rechte und die größten Essensrationen. Jene, deren Status aufgrund familiärer Verbindungen zu den herrschenden Klassen nicht komplett rein war, wurden als Kandidaten eingestuft, mussten sich beweisen und erhielten kleinere Rationen. Ganz unten in der Nahrungskette standen die ehemaligen Stadtbewohner und Mitglieder ausbeuterischer Klassen. Sie taufte das Regime „neues Volk“. Sie erhielten keinerlei Rechte, konnten nicht Teil des Revolutionsapparates werden und bekamen nur Hungerrationen zugeteilt. Aufgrund der Versorgungslage und der Anordnung vieler Parteikader war dies zumeist nur noch ein wässriger Brei. Doch nicht nur Produktion und Besitz waren in diesem System sozialistisch genormt. Die Roten Khmer führten auch einheitliche, schwarze Kleidung und einen gleichförmigen Haarschnitt für jedes Geschlecht ein. Jegliche Form von Schmuck war untersagt. Männer, Frauen, Kinder und Alte kamen in jeweils unterschiedliche Kooperativen. Die Kooperative sollte über der Familie stehen, die Familie allein dem Kollektiv dienen. Familienverbände wurden so praktisch aufgebrochen. Die Kooperativen wurden voneinander isoliert, indem man Kommunikation zwischen ihnen untersagte und Bewegungen zwischen ihnen von einer offiziellen Erlaubnis abhängig machte. Die Partei griff damit nicht nur in die Lebenswelten der Menschen, sondern auch in das Privateste der Familien ein, um es der neuen Ordnung anzupassen. Ehen wurden zum Beispiel nicht mehr – wie traditionell – von den Eltern arrangiert, sondern von der Partei, die Menschen – ebenso nach revolutionärem Status und Zweck – in Massenzeremonien zwangsverheiratet. Kinder wur-
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den den Eltern im sozialen Status vorgezogen und dazu angehalten, ihre Eltern zu denunzieren, sollten sie sich nicht an die sozialistische Verhaltensnorm halten. Die meisten Kooperativen verfügten über Kinder als Spione, die die Arbeit, das Handeln und die Äußerungen der Untertanen überwachen sollten. Sogar in der Sprache ebnete die Partei hierarchisierte Formen der Anrede und der höflichen Begrüßung ein (das traditionelle Verbeugen sampeah) und ersetzte sie durch das Wort mitr (Genosse).6 Die traditionelle soziale Ordnung wurde praktisch auf den Kopf gestellt: ungebildete Bauern galten nunmehr als modern und als Speerspitze der Revolution und konnten über die Essensrationen ehemals übergeordneter sozialer Gruppen entscheiden. Insbesondere Kinder sah Angkar als weiße Blätter an, die leicht mit revolutionärem Denken beschrieben werden konnten. Daher bildeten ungebildete Kinder und Jugendliche von armen Bauern den Kern des Parteiapparates. Sie wurden ihren Eltern entrissen, indoktriniert, misshandelt und so auf den Dienst im Sicherheitsapparat vorbereitet. Die mittleren und unteren Ränge des Militärs und die Sicherheitskräfte in den Kooperativen wurden größtenteils aus solchen Kinderrekruten gebildet. Und nicht nur sie: auch die Fabriken des Landes, die ersten revolutionären Schulen und ein Großteil der Krankenstationen wurden mit ungebildeten Kadern ausstaffiert. Die Partei hatte zwar kein Problem mit modernen Institutionen, jedoch mit den Menschen, mit denen sie bisher bestückt worden waren. Vor allem mit Blick auf die medizinische Versorgung hatte diese Haltung verheerende Folgen, wenn ungebildete Kinder zu Ärzten auserkoren wurden. Auch die Wirtschaft wurde von Angkar bis in das kleinste Detail geplant und an ihre Vision von Moderne angepasst. Neben ellenlangen Listen, welche Güter die Bevölkerung wann erhalten sollte (von Häusern über Essensrationen bis zu Stiften und Sandalen), legte die Führungsriege in ihrem ersten Vierjahresplan für die Jahre 1977 bis 1980 fest, dass Angkars Untertanen im Schnitt drei Tonnen Reis pro Hektar Land produzieren sollten;7 mancherorts sogar vier Tonnen. Über die Jahre sollte der Ertrag aus dem Reisanbau dann aufgrund einer Modernisierung der Produktion noch schrittweise gesteigert werden. Der anvisierte Ertrag wurde dann aufgeteilt in Reis für die Nahrungsversorgung, für Saatgut und für den Export im Tausch gegen Maschinen und Waffen (vor allem aus China). Die Partei glaubte die Produktion so exakt normieren zu können, da ihr eine radikale Neuordnung der nationalen Anbauflächen vorschwebte. Wie auf einem Schachbrett sollten alle Felder einer gleich großen quadratischen Form unterworfen und von gigantischen Dämmen zur Wasserversorgung umgeben werden. Diese fordistisch-normierten Felder und Dämme bildeten die Grundlage einer modernisierten Landwirtschaft, die das Land aus seiner von fremden Kräften erzwungenen Unterentwicklung befreien 6 Vgl. Marston. Die Ersetzung des Wortes für Ich (khnyom) durch Wir (yerng) wird zwar gerne rezipiert, war jedoch scheinbar keine gängige Praxis. Alle Quellen rezipieren dabei den Erfahrungsbericht von Laurence Picq. Andere Primärquellen gibt es meines Wissens nicht. Vgl. Picq, S. 35 – 36. 7 Eine Übersetzung des Plans findet sich in Chandler/Kiernan/Boua, S. 44 – 119.
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sollte. Die Reisproduktion sollte die Basis bilden für eine schnelle Modernisierung der Nation. Das Landleben sollte zur Fabrik werden, in der alle Untertanen zwölf Stunden am Tag für den gemeinschaftlichen Mehrwert arbeiten. Exakt gleich große Felder für jeden – so die an die Produktionslogik einer Fabrik angelehnte Theorie Angkars – würden eine bei jedem Menschen messbare, gleich große Ernte ergeben. Die Landwirtschaft sollte in dieser utopischen Ordnung einer Massenproduktion an Fließbändern mit monofunktionalen und exakt messbaren Abläufen gleichen, in der jeder seinen Anteil in die kollektive Maschinerie einbringt – das Sinnbild der Moderne schlechthin. In der Wirtschaftsordnung verwirklichte die Partei ihren radikal egalitären Kollektivismus und begann mit dem Bau riesiger Dämme nach dem Vorbild der alten Anlagen Angkors, den berühmten Tempelanlagen der Khmer, die ebenfalls mit einer umfangreichen hydraulischen Wasserversorgung ausgestattet waren.8 Tag und Nacht arbeiteten die hungernden Menschen an diesen Bewässerungsanlagen oder in den Reisfeldern des Landes. Die quadratischen Felder sollten die Modernisierung der Produktion herbeiführen, einen China noch übertreffenden „Super-großen Sprung nach Vorn“. Spät abends wurde dann allen überarbeiteten und hungernden Untertanen noch die neue Ordnung der Partei in politischen Indoktrinationsstunden vermittelt. Jegliche Abweichung von der Norm, der kleinste Widerstand gegen die neue Ordnung – sei es auch nur das eigenmächtige Beschaffen von Nahrung aus den Wäldern oder Gewässern – wurde mit harschen Strafen beantwortet. Immer wieder wurden in den Arbeitskooperativen zudem Selbstkritikstunden durchgeführt, in denen die Untertanen ihre eigenen Mängel und die der anderen öffentlich kritisieren mussten. Zu wenig Kritik an der eigenen Einhaltung der kollektivistischen Norm war dabei genauso gefährlich wie zu starke Kritik an sich oder den anderen. Absolut alles konnte in lebensgefährliche Strafen münden. Diese Strafen waren indes nicht für jeden gleich gestaffelt. Auch hier waren – zumindest zu Beginn – die Klassenposition und der revolutionäre Status entscheidend.
II. Die Politik der Sozialstruktur und das Gefängnissystem In den ersten Monaten glaubte die Partei noch fest daran, dass sich der Widerstand gegen die neue Ordnung am Grad kapitalistischer Verblendung der Untertanen ausrichtet. Den Großteil der Bevölkerung wähnte sie in seinem Denken der Revolution nah. Dabei kannte sie nicht nur Bauern und Brillenträger. Vielmehr teilte sie die Bevölkerung in vierzehn verschiedene Klassen ein, die dann oftmals noch in untere, mittlere und obere Schichten unterteilt wurden (so etwa die untere, mittlere und obere Bauernschaft oder die untere, mittlere und obere Bourgeoisie).9 Jede dieser Klassen war nun unterschiedlich stark einer sozialistischen Neuordnung zu- oder abgeneigt, bedurfte dementsprechend einer verschieden intensiven 8 9
Zur hydraulischen Utopie der Roten Khmer siehe Bultmann (2012). Zur Klassenlehre Angkars siehe Ly.
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Gedankenreform. Dabei gab es mit Ausnahme jener, die für den Staat unter Lon Nol gedient und gekämpft hatten, keine Klasse, die an und für sich konterrevolutionär war. Letztlich entscheidend war die politische Haltung des Einzelnen. Sie war zwar bedingt durch seinen vorrevolutionären Status, jedoch konnte sie jeder überwinden und eine gute oder schlechte Haltung zur Revolution einnehmen, unabhängig von der sozialen Herkunft.10 Über diese Figur ließ sich auch rechtfertigen, dass Mitglieder aus der alten politischen Elite des Landes sich in der Führung der Partei wiederfanden. Die Intellektuellen aus gut situierten Familien in der Führung Angkars erklärten nicht einfach ihresgleichen zum Feind, sondern letzten Endes all jene, die sich gegen ihre Ordnungsfantasie richteten. Anfangs standen primär Mitglieder oberer Klassen unter Verdacht des Volksverrates, sollten sie auch nur die kleinste Regung von Widerstand oder Normabweichung zeigen. Die Widerständigen wurden dann zumeist des Nachts abgeholt und kehrten nicht mehr zurück. Die Menschen in den Kooperativen glaubten, die Abgeholten würden umgehend ermordet und in ein Massengrab geworfen werden. In Wahrheit stand ihnen jedoch noch eine teils monatelang andauernde Tortur in den 196 Umerziehungs- und Sicherheitszentren des Regimes bevor. Das Lagersystem erstreckte sich über das ganze Land. Darüber hinaus verfügte jede der 225 Kooperativen über eine Möglichkeit, Untertanen kurzzeitig festzuhalten, zu befragen und gegebenenfalls zusätzlicher Zwangsarbeit zuzuteilen.11 Auch hier wurde mancherorts bereits gefoltert. Oberhalb der Verwahrungsstätten der Kooperative gab es dann – streng hierarchisch gestaffelt – die Gefängnisse der Distrikte, der Regionen, der Zonen sowie ein Zentralgefängnis in Phnom Penh unter dem Codenamen S-21 – auch bekannt unter dem Namen Tuol Sleng. Die Häftlinge wurden je nach Grad des Verrates, vor allem aber je nach politisch-militärischem Rang weiter oben oder weiter unten in der Lagerhierarchie eingeordnet. Die Gefängnisleiter lieferten von unten nach oben detaillierte Berichte ab, mittels derer dann der Sicherheitschef Angkars, Verteidigungsminister Son Sen, bis hinein in die Distriktaktivitäten des Lagersystems auf dem Laufenden gehalten wurde. Je höher das Gefängnis in der Hierarchie situiert war, desto unwahrscheinlicher war es, dort je wieder lebend und „nur“ mit Zwangsarbeit bestraft wieder heraus zu kommen. In Distriktgefängnissen lag die Überlebensrate noch bei knapp dreißig Prozent, in S-21 reduzierte sie sich dann im Endeffekt auf null. Da allerdings die meisten Häftlinge in den Distriktlagern landeten, fanden sich dort mit bis zu 60.000 Toten pro Lager auch die meisten Opfer. Die Häftlinge mussten in den Internierungslagern ihren Verrat eingestehen und teils monatelang unter Folter an ihren manchmal hunderten Seiten langen Geständnissen arbeiten. Erst nach Ablegung der Geständnisse, der Prüfung durch alle übergeordneten Instanzen innerhalb und außerhalb der Lager sowie einer penibel genauen Dokumentation aller Vorgänge wurden die zumeist von Anfang an Todgeweihten zu einem Heder (2012). Details zum Lagersystem der Roten Khmer finden sich bei Ea, bei Chandler (1999) und bei Locard. 10 Vgl. 11 Die
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Massengrab gebracht, wo man sie – um Kugeln zu sparen – mit einem Schlag in den Nacken ermordete. Das Lagersystem war dabei erstaunlich strikt organisiert, um Effizienz bemüht und uniform. Es gab keine regionale Abweichung, es funktionierte überall und immerzu gleich. Nur eines wandelte sich mit der Zeit: die Zusammensetzung der Insassen. Während im ersten Jahr noch nahezu ausschließlich Mitglieder der gestürzten Lon Nol-Regierung und des Militärs auf den oberen Ebenen des Lagersystems und Menschen aus dem „neuen Volk“ in den unteren Lagern interniert wurden, waren es ab Mitte 1976 zunehmend die eigenen Kader und damit auch überwiegend Mitglieder des „Basisvolkes“. Auch hier haben sich verschiedene Forscher an Schätzungen versucht, wieviel Prozent des „neuen“ im Vergleich zum „Basisvolk“ unter den Roten Khmer gestorben sind. Oftmals gereichte es bereits zur Überraschung, dass überhaupt Menschen aus dem „Basisvolk“ der Revolution ähnlich häufig gestorben sein könnten. Der Historiker Ben Kiernan schätzte, dass 25 % des „neuen Volkes“, aber auch ganze 13 % des „Basisvolkes“ umgekommen sind.12 Und im Lagersystem ermordet wurden wahrscheinlich sogar überwiegend die eigenen Kader aus dem Partei- und Militärapparat, schließlich machten sie bereits ab Mitte 1976 den mit Abstand größten Teil der Gefangenen und Exekutierten in den Umerziehungs- und Sicherheitszentren aus. Was war also geschehen?
III. Die Revolution frisst sich selbst Nicht nur der real existierende Widerstand aus der Bevölkerung wurde lange Zeit in der Forschung unterschätzt (einige Einheiten Lon Nols kämpften weiter, und die muslimische Minderheit der Cham erhob sich schon zu Beginn gegen das neue Regime). Auch der interne Widerstand blieb zumeist unter dem gängigen Klischee einer rein paranoiden Führung verborgen. Die Partei ging jedoch ab Mitte 1976 gezielt gegen Widerstand aus den eigenen Reihen vor. Pol Pot hielt eine Rede, in der er von einer Krankheit sprach, von „Mikroben“, die den Parteiapparat befallen hätten. Sie seien schwer auszumachen, zerstörten die Revolution von innen und seien daher besonders gefährlich.13 Zwar sahen die Feinde für die Partei aus wie Khmer, also dem eigenen Volk und sogar dem eigenen Parteiapparat zugehörig. Doch seien es Khmer, deren Denken verdorben worden wäre, zumeist durch ausländische Kräfte wie die Geheimdienste CIA, KGB oder aber den Erzfeind Vietnam, die allesamt in den Augen Angkars daran arbeiteten, das Regime zu stürzen. Daher taufte das Regime sie Khmer mit vietnamesischem Verstand. Gemäß dieser Theorie einer organisierten Konterrevolution drangen sie in den Parteiapparat wie Würmer und Mikroben ein, mit dem alleinigen Ziel, die Revolution zu zerstören. Tatsächlich war die Partei bereits im Bewusstsein an die Macht gekommen, dass es ihr in der
12 13
Kiernan (1996), S. 456. Chandler (2008), S. 267.
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Bevölkerung und in der eigenen Bewegung an Legitimation mangelte. Sie wappnete sich daher auch für den Kampf gegen Widerstand aus den eigenen Reihen. Und tatsächlich kam Widerspruch gegen die Maßnahmen Angkars von Anfang an aus dem innersten Führungszirkel – von den Intellektuellen Hu Nim und Hou Youn sowie von einigen Kadern aus Zeiten, in denen die Pariser Intellektuellen rund um Pol Pot noch nicht das Zepter in der Partei übernommen hatten. Es war nicht bloß Paranoia. Viele von ihnen waren alte Kämpfer aus dem anti-kolonialen Widerstand gegen die Franzosen und gehörten bereits 1951 der neu formierten Revolutionären Volkspartei Khmer (RVPK) an, die damals noch in den Wirren des ersten Indochinakrieges aus der Kommunistischen Partei Indochinas (KPI) hervorgegangen war. Die Aktivitäten der Partei standen damals noch weitestgehend unter der Kontrolle nordvietnamesischer Kader. Nach Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1954 zerbrach die Partei jedoch weitestgehend und schrumpfte auf diesen kleinen kommunistischen, eng an Vietnam angebundenen Rest, zusammen. In der Führungsriege Angkars gab es mehrere Kader aus dieser Periode wie Chou Chet, Nhem Ros, Koy Thuon, Keo Meas oder aber Ney Sarann, die nun Zonenleiter oder hochrangige Parteimitglieder waren und die die Maßnahmen bereits bei der ersten Parteiversammlung kurz nach der Vertreibung der Menschen aus den Städten massiv kritisiert hatten. Zwei Zwischenfälle Mitte 1976 – eine Explosion in der Stadt Siem Reap mit Sichtung eines Flugzeugs und Gefechte mit einer Militäreinheit aus der Zone Ost am Königspalast und am Nationalmuseum – überzeugten Pol Pot davon, dass diese Parteigenossen planten, die Revolutionsführung zu stürzen. Immer mehr Mitglieder aus ihrem Netzwerk wurden wegen Putschverdachts inhaftiert, und Pol Pot änderte symbolisch das Gründungsdatum der Partei von 1951 auf 1960 – das Jahr, in dem Pol Pot und seine Pariser Kollegen Son Sen, Ieng Sary und einige andere führende Positionen in der Partei, die nunmehr umbenannte Arbeiterpartei Kampucheas (APK), übernommen hatten.14 Alle Mitglieder der Partei, die vor dem offiziellen Datum 1960 eingetreten waren, sollten ihre Mitgliedschaft nunmehr als Null und Nichtig ansehen, da sie sich der Partei in einer Periode angeschlossen hatten, in der die Partei noch nicht „unabhängig“ gewesen sei – will heißen: unter dem Einfluss Vietnams und nicht Pol Pots stand. Unter Folter mussten sie dann in S-21 gestehen, dass sie 1951 als Gründungsdatum gegenüber 1960 bevorzugten.15 Zusätzlich verschärft wurde die Suche nach den „Mikroben“ nun durch das Scheitern des ersten Vierjahresplans. Die Ernte-Vorgaben von drei Tonnen Reis Chandler (1983). Pol Pot übernahm die Leitung der Partei dann nach der Ermordung des damaligen Vorsitzenden Tou Samouth im Jahr 1963. Anfang der 70er benannte er dann die Partei heimlich in Kommunistische Partei Kampucheas (KPK) um. Offiziell gemacht wurde die Existenz der Partei jedoch erst in einer Radiodurchsage im September 1977, obwohl er die Führung des Landes durch eine revolutionäre Partei bereits in einer Rede nach Maos Tod 1976 verkündet hatte. Hier nannte er sie jedoch nicht beim Namen, sondern nur eine „revolutionäre Organisation“ (angkar padevoat). 15 Chandler (1999), S. 59 – 60. 14 Vgl.
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pro Hektar Land konnten nirgends eingehalten werden, stattdessen breiteten sich Hungersnöte und Mangelversorgungen in allen Bereichen aus. Und die Schachbrettfelder mit den gigantischen Bewässerungsanlagen verschlechterten die Erträge noch, da es vielerorts aus Mangel an hydraulischen Kenntnissen bei den ungebildeten Kadern Angkars zu Überschwemmungen kam.16 Ein Großteil der neuen Bewässerungssysteme funktionierte nicht oder richtete gar Schäden an, da natürliche Stromverläufe einfach ignoriert wurden und die Kader die ausgerufene Bebauungsnorm einfach ohne Rücksicht auf lokale Bedingungen umsetzten. Die schlechten Erntezahlen ließen sich in den Zonen oftmals noch eine Weile verbergen, und viele Zonenleiter vermeldeten lange Zeit noch gute Ernten, obwohl es in ihren Bereichen bereits zu Hungersnöten kam. Sie sahen jedoch auch, dass Kader, die schlechte Zahlen vermeldeten, abgeholt wurden und versuchten zumindest genügend Reis in den Lagerhallen für den Export zu haben, um den Anschein einer Planerfüllung in ihren Kooperativen aufrecht zu erhalten. Dadurch entstand eine grausame Logik: Zwar gab es theoretisch genug Reis, um die Bevölkerung zu versorgen.17 Um jedoch die geforderten Abgaben leisten zu können (und damit das eigene Überleben zu sichern), wurde ein bedeutender Teil für den Export zurückgehalten. Nur so konnten lokale Kader die Lage in ihren Kooperativen als erfolgreich darstellen, denn leere Mägen fielen der Führung zunächst nicht auf. Die Kader in den Kooperativen und Distrikten des Landes standen vor der Wahl, an welchem Ende sie sparen sollten: bei den Nahrungsrationen oder den Abgaben an Angkar. Anfangs wählten viele noch die besseren Rationen.18 Doch nachdem diese Kader wegen ihrer mangelnden Quotenerfüllung ausgetauscht wurden, verschlechterte sich die Versorgungslage noch zusätzlich.19 Als dann immer häufiger Meldungen auftauchten, dass die Rationen für die Menschen gekürzt werden müssten, intensivierten sich auch die Parteisäuberungen. Sie folgten dabei exakt den Meldungen mangelhafter Planerfüllung. Am schwersten traf es Zonen mit Leitern, die bereits länger unter Verdacht standen, die Führung stürzen zu wollen und die darüber hinaus einen höheren Anteil an in der Feldarbeit unerfahrenen Stadtbewohnern zu versorgen hatten. Trotz schlechterer Infrastrukturen, höherer Malariaraten und fehlender Erfahrung in der Feldarbeit gab ihnen Angkar mit vier Tonnen Reis pro Hektar teils sogar noch höhere Produktionsziele vor, da ihre Zonen als fruchtbarer galten als andere. In den Zonen Nordost, Nord und West war die Lage besonders desaströs, bei gleichzeitig besonders hohen Erwartungen an die Ernte. Hier fanden nun nacheinander die intensivsten Parteisäuberungen statt. Kader aus dem Südwesten unter der Leitung des Pol Pot getreuen Ta Mok Himel. Nicht die Menge, sondern die Verteilung der produzierten Nahrungsmittel innerhalb des Aufteilungsschlüssels der Partei war entscheidend. Hätte man alles zur Ernährung der Bevölkerung aufgebracht, hätte die Menge als Grundversorgung wohl zumindest ausgereicht. Vgl. DeFalco. 18 Vgl. Um, hier vor allem S. 38 – 49. 19 Vgl. Locard. 16 Vgl. 17
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ersetzten schrittweise die ehemaligen Genossen aus dem alten anti-kolonialen Widerstand und ihr Gefolge in den unteren Rängen bis hinab in die Distrikte. Das Programm einer gesellschaftlichen Modernisierung und wirtschaftlichen Entwicklung scheiterte, und die Partei witterte Sabotage als Ursache. In den Gefängnissen des Landes mussten die „konterrevolutionären Kräfte“ nun die Manipulation der Wirtschaft, das gezielte Zerstören von Ernten und das absichtliche Falschbauen der Bewässerungsanlagen eingestehen.20 Letztlich führte die Partei ihr Ende dann sogar noch selbst herbei. Vom ersten Tag ihrer Machtergreifung an erhöhte sie den Konfrontationskurs mit dem Erzfeind Vietnam. Pol Pot entsandte in einer seiner ersten Maßnahmen Truppen zur Stärkung der schlecht demarkierten und seit Jahrzehnten umkämpften Grenze. Immer wieder kam es zu kleineren Scharmützeln. Pol Pot wähnte zunehmend Vietnam als Drahtzieher hinter dem vermeintlichen internen Verrat. Und auch Vietnam rüstete auf, nachdem Pol Pot ab Anfang 1977 immer näher an China unter Maos Nachfolger Hua Guofeng heranrückte. China und Vietnam hatten eine ähnlich schwierige Beziehung zueinander wie Kambodscha und Vietnam. China nutzte die Animositäten der kambodschanischen Genossen gegenüber Vietnam aus, um nicht selbst auf Konfrontationskurs gehen zu müssen.21 Immer mehr chinesische Waffen wurden nunmehr nach Kambodscha geliefert und der Konflikt so noch zusätzlich angeheizt. Nach dem Abschluss eines Kooperationsabkommens zwischen Vietnam im Osten und Laos im Norden fühlte sich Pol Pot in seinem Glauben an Vietnams Expansionspläne bestätigt und drohte dem Nachbarn nach einem Staatsbesuch in China immer expliziter mit Krieg. Ende 1977 rückten die Vietnamesen bereits einmal kurz im Osten Kambodschas ein. Sie hatten dabei leichtes Spiel. Viele Kader Angkars schlossen sich sogar freiwillig den vietnamesischen Truppen an und gingen ins Exil. Nach dem baldigen Abzug der Vietnamesen aus den angrenzenden Provinzen verkündete Pol Pot offiziell zwar einen glorreichen Sieg, intern begannen nun jedoch auch in der Zone Ost direkt an der vietnamesischen Grenze die Säuberungen. Pol Pot war der Meinung, dass sich die Kader in der Zone gegen die Vietnamesen nicht genügend zur Wehr gesetzt hatten. Zonenleiter So Phim stand ohnehin bereits länger unter Verdacht, dem Erzfeind Vietnam nahe zu stehen. Kurz bevor er gefasst werden konnte, beging er Selbstmord. Seine Zone wurde gesäubert, mit neuen Kadern ausgestattet und viele Menschen in andere Zonen vertrieben. Vietnam schloss derweil ein Abkommen mit der Sowjetunion ab und bereitete Einheiten von desertierten Roten Khmer auf einen längeren Krieg vor. 20 Es gibt vereinzelte Hinweise darauf, dass Pol Pot selbst einsah, dass der Plan mit einer Drei-Tonnen-Norm für alle etwas ungenau gewesen sein könnte. Schließlich forderte er immer häufiger, genauere Pläne zu machen sowie das Land besser einzuteilen und zu kartographieren, um besser auf lokale Bedingungen Acht geben und lokales Wissen einbinden zu können. Der nächste Vierjahresplan wäre wahrscheinlich komplexer geworden. Vgl. Tyner/Will. 21 Zur geopolitischen Konfliktlage in Südostasien zu dieser Zeit siehe Chanda.
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So war es nur noch eine Frage der Zeit, bis der sozialistische Stellvertreterkrieg ausbrechen würde. Pol Pot träumte derweil den Traum vieler kambodschanischer Nationalisten vor ihm: die Rückeroberung „Kampuchea Kroms“, des südlichen Mekong-Deltas rund um Ho-Chi-Minh-Stadt (Saigon), das im 17. Jahrhundert an das vietnamesische Reich gegangen war. Als das vietnamesische Militär an Weihnachten 1978 dann in Kambodscha einrückte, erfuhr es kaum Widerstand durch das von Parteisäuberungen und Mangelversorgung moralisch wie personell massiv dezimierte Militär Kambodschas. Ursprünglich wollte man nur die östliche Hälfte des Landes besetzen, doch angetrieben von den eigenen Erfolgen, entschied sich die vietnamesische Führung bereits kurz vor Silvester, zur Hauptstadt vorzurücken. Das nahezu menschenleere Phnom Penh fiel nur knapp eine Woche später am 7. Januar 1979; der Rest des Landes folgte in nur drei Wochen. Die Vietnamesen waren selbst überrascht, wie leicht sie in Kambodscha einzurücken vermochten, und installierten nun die zuvor exilierten Roten Khmer der Front Uni National pour le Salut du Kampuchea (FUNSK) unter der Führung Heng Samrins als neue Regierung einer ebenfalls kommunistischen Volksrepublik Kampuchea (VRK). Das, was von den Roten Khmer übriggeblieben war, floh an die thailändische Grenze. Dort begannen sie ihr „zweites Leben“ unter dem Schutzmantel der Vereinten Nationen und versorgt von internationalen Hilfsorganisationen.22 Vietnam okkupierte das Land bis Ende der 1980er Jahre – bis der Zusammenbruch der Sowjetunion eine Fortführung der Besatzung unmöglich machte. Und erst Ende der 1990er Jahre, nachdem die Bewegung im Anschluss an die Friedensmission United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) vollständig in sich zerfiel, sollten auch die Ordnungsfantasien der Roten Khmer ihr verspätetes Ende finden.
IV. Schluss: Die Logik der Gewalt unter den Roten Khmer Es gab keine gesellschaftliche Gruppe und keine soziale Klasse im damaligen Kambodscha, die vom Programm einer radikal-sozialistischen Modernisierung und Ordnungsfantasie der Roten Khmer nicht betroffen war. Es gab nur Variationen im Leid. So verhungerten aufgrund der Staffelung der Essensrationen, der häufigeren und oftmals härteren Zwangsarbeit und der ungewohnten Arbeitsbelastung vor allem die Menschen aus den Städten. Sie waren es auch, die sich im ersten Jahr bereits bei kleinsten Vergehen am häufigsten in den Umerziehungslagern wiederfanden. Viele waren zudem Teil des Lon Nol Regierungs- oder Militärapparates und wurden daher – sobald ihre Vergangenheit aufflog – umgehend in den Lagern gefoltert und ermordet. Das „Basisvolk“ genoss dagegen zu Beginn noch oftmals seine neugewonnenen Privilegien, ungewohnten Machtbefugnisse und höheren Nahrungsrationen. Jedoch wendete sich das Blatt spätestens mit der Order Pol Pots 22 Mehr zum „zweiten Leben“ der Roten Khmer findet sich bei Rowley und bei Bultmann (2015).
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Mitte 1976, verstärkt nach Feinden in den eigenen Reihen zu suchen. Jene, die den Menschen aus dem „neuen Volk“ halfen, wurden zudem schnell selbst ermordet. Und auch rassistische Motive erklären eine gewisse Variation. So erklärten die Roten Khmer Vietnamesen, Chinesen und Cham zu eigenen ausbeuterischen Klassen.23 Bei den Cham kam dann noch ein bewaffneter Widerstand hinzu, der sie prozentual häufiger zu Opfern des Regimes machte.24 Und auch ein positiver Rassismus sorgte für Variation: Die Minderheit der Khmer Lœu wurde als Gemeinschaft ursprünglicher Sozialisten, unberührt vom Kapitalismus, verklärt. Sie fanden sich daher auch in wichtigen Einheiten des Militärs wieder und fielen dem Regime anteilig weniger häufig zum Opfer. Doch letztlich glaubten die Roten K hmer bei allen Gruppen – wahrscheinlich nur die Vietnamesen ausgenommen – an die Möglichkeit, ihnen die „richtige“ Haltung zur Revolution anerziehen zu können. Zwar sahen sie Chinesen als Händler in den Städten und Cham als Händler auf dem Land an, jedoch glaubte man auch sie „reformieren“ zu können. Eine gezielte Vernichtungspolitik der Parteiführung aufgrund ethnischer Zughörigkeit gab es wahrscheinlich nur gegen die Vietnamesen. Und selbst sie wurden anfangs „nur“ des Landes verwiesen. Die Gewalt unter den Roten Khmer erschöpfte sich nicht in der Vernichtung von Ethnien oder von oberen Klassen, von Intellektuellen und – im deutschen Diskurs besonders beliebt – von Brillenträgern. Sie richtete sich gegen alles, was sich der neuen Ordnung widersetzte – bis hinein in den eigenen Parteiapparat. Die Gewalt diente der Transformation des Volkes, der Gemeinschaft an und für sich in eine radikal sozialistische Gesellschaftsordnung. Bis in den inneren Führungszirkel Angkars wurden alle Opfer eines totalitären Systems, eines Programms gewaltgesteuerter nationaler Modernisierung und gesellschaftlicher Entwicklung entlang einer agrarisch-kollektivistischen Utopie. Zwar zerstörte Angkar dabei für viele Beobachter alles, was ihnen als modern gilt. Die Partei tat es jedoch mittels eines höchst modernen, bürokratischen Gewaltapparates und darüber hinaus mit dem Ziel einer anderen, einer agrarisch-industriellen und radikal kollektivistischen Moderne. Einer Moderne ohne Ungleichheit, ohne Ausbeutung, ohne Besitzstrukturen und ohne Hunger. Die Ordnungsfantasie schlug dabei jedoch um in eine Gegenwart totalitärer Herrschaft, existenzieller Angst vor dem Sicherheitsapparat sowie einer gnadenlosen Ausbeutung durch Kader an der Grenze zwischen Allmacht und Ohnmacht – inmitten einer zusammenbrechenden Wirtschaft und medizinischen Versorgung und einer um sich greifenden Hungersnot.
Heder (1997). Ysa Osman schätzt, jeder dritte muslimische Cham fiel dem Regime zum Opfer – im Vergleich zu jedem vierten buddhistischen Khmer. Vgl. Osman. 23 Vgl. 24
Muster von Genozid und Massengewalt in Subsahara-Afrika Von Scott Straus Scott Straus Muster von Genozid und Massengewalt in Subsahara-Afrika
I. Einleitung Subsahara-Afrika ist eine vielgestaltige Kontinental-Landschaft, bestehend aus annähernd 50 Ländern. Seit ihrer Unabhängigkeit haben die meisten afrikanischen1 Staaten einen Krieg erlebt – darunter etwa 65 % der Subsahara-Staaten –, viele aber auch nicht. Darüber hinaus gab es in etwa 40 % der afrikanischen Staaten Perioden von Massentötungen, wozu alle vorsätzlichen Tötungen von mindestens 1.000 Zivilisten pro Jahr gerechnet werden.2 Tatsächlich ereigneten sich einige der bekanntesten Fälle von Massengewalt der letzten drei Jahrzehnte in Afrika, darunter in Ruanda, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo, im Sudan und Süd-Sudan. Aus diesen Gründen wird die Region von vielen Beobachtern, global gesehen, als diejenige mit den meisten Fällen von Massengewalt eingestuft. Dies ist jedoch nicht zutreffend: Seit 1960 gab es in Asien und im Nahen Osten pro Land mehr Fälle von Massentötungen als in Subsahara-Afrika.3 Entsprechend der globalen Entwicklung ist die Zahl der Vorfälle von Massengewalt in Subsahara-Afrika außerdem seit Erreichen des Höchststands in den frühen 1990er Jahren stetig zurückgegangen.4 Obwohl Massengewalt also eine zentrale Erfahrung vieler afrikanischer Staaten gewesen ist, neigt Afrika nicht in besonderer Weise zu dieser Art von Gewalt; die Massentötung von Zivilisten bleibt ein selten auftretendes Ereignis, verglichen mit all den anderen Eventualitäten, die auftreten können; und die Frequenz solcher Ereignisse ist rückläufig. Nichtsdestoweniger fanden in der Region einige Fälle schwerster Massengewalt statt; in diesem Aufsatz werde ich dokumentieren, welche Muster es auf der Makroebene gibt, und kurze Zusammenfassungen jener Fälle von anhaltender Massengewalt gegen Zivilisten geben, die die höchsten Opferzahlen verzeichnen. Im ersten Abschnitt nehme ich eine Kategorisierung der Fälle massiver Gewaltausübung in Subsahara-Afrika vor, die sich in den ersten etwa 45 Jahren nach der Unab1
Im Folgenden bezieht sich „afrikanisch“ auf die 48 Subsahara-Staaten. Straus (2012), S. 191. 3 Ebd. 4 Ebd., S. 192. 2
Scott Straus
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hängigkeit ereigneten. „Massive Gewalt gegen Zivilisten“ definiere ich in diesem Zusammenhang als Kategorie, die Genozid miteinschließen kann, aber nicht muss. Im zweiten Abschnitt untersuche ich etwa zehn von den Fällen mit dem größten Ausmaß an Massengewalt. Zuletzt arbeite ich einige typische Muster des Auftretens von Massengewalt heraus. Ich argumentiere insbesondere dafür, dass Massengewalt gegen Zivilisten in Afrika primär im Kontext bewaffneter Konflikte auftritt. Dieses Muster entspricht Theorien über Massengewalt, die das strategische Element solcher Tötungen betonen und davon ausgehen, dass Staaten diese Art von Gewalt (hauptsächlich) als Reaktion auf Bedrohungssituationen anwenden.5
II. Muster von Massengewalt in Subsahara-Afrika (1960 – 2008) 6 Um eine Übersicht der afrikanischen Fälle zu erstellen, beginne ich damit, drei größtenteils öffentlich zugängliche und allgemein anerkannte Datenbestände zu Massentötungen und Genoziden zusammenzuführen. Jeder dieser Datensätze kommt auf unterschiedliche Weise zu seinen Ergebnissen. Jay Ulfelder und Benjamin Valentino führen Fälle von Massentötungen mit mindestens 1.000 zivilen Opfern auf, die von staatlichen Kräften verübt wurden.7 Alex Bellamy erfasst Fälle mit mindestens 5.000 zivilen Opfern (begangen von staatlichen und/oder nichtstaatlichen Akteuren).8 Und Barbara Harff zählt Fälle staatlich gelenkter, gruppenselektiver Gewalt (Politizide, Genozide oder beides), allerdings ohne einen zahlenmäßigen Grenzwert festzulegen.9 Durch die Zusammenführung der drei Datensammlungen ergeben sich Kompatibilitätsprobleme in Bezug auf Anfang und Ende der Jahresdaten sowie der Anzahl der zivilen Opfer. So gibt es beispielsweise für ganz Subsahara-Afrika nur sechs Fälle in drei Ländern, in denen es eine klare Konvergenz der Anfangs- und Enddaten und der Gewaltraten gibt.10 Bellamy listet für Subsahara-Afrika fast dreimal so viele Fälle auf (N=37) wie Harff (N=14) (letztere erfasst allerdings nur den Zeitraum bis in die frühen 2000er Jahre). Die Datensätze versammeln überdies ziemlich heterogene Fälle – solche wie Malawi mit vergleichsweise geringer politischer Repression (und einer relativ niedrigen Zahl von insgesamt 6.000 Todesop-
Die Argumente und einige der Daten in diesem Kapitel stammen aus Straus (2015). Aufgrund der hier von mir verwendeten Datensammlungen endet die Analyse in diesem Abschnitt im Jahr 2008. 7 Ulfelder/Valentino. 8 Bellamy. 9 Harff. 10 Ruanda 1963 – 1964; Ruanda 1994; erster und zweiter Bürgerkrieg zwischen Nordund Südsudan; und Uganda unter Idi Amin und der zweiten Amtszeit von Milton Obote. 5
6
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fern),11 aber auch Fälle wie Ruanda im Jahr 1994 oder den zweiten Bürgerkrieg zwischen Nord- und Südsudan (mit geschätzten 500.000 bis einer Million Todesopfern). Diese Diskrepanzen sind sowohl den unterschiedlichen Konzeptualisierungen der Ergebnisse geschuldet als auch der Schwierigkeit, valide Einschätzungen der Gräueltaten zu erstellen, weshalb eine gewisse Vorsicht angebracht ist. Um die Heterogenität der Datensätze zu verringern, nehme ich drei weitere Schritte vor. Zunächst lege ich einen Schwellenwert pro Jahr fest. Wenn es darum geht, das Ausmaß von Gewalt zu messen, ist es irreführend, Fälle, die sich über einen Zeitraum von 15 oder 30 Jahren ereigneten, mit solchen zu vergleichen, die ein bis zwei Jahre dauerten. Deshalb nehme ich den Durchschnittswert der niedrigsten und höchsten Schätzungen der Anzahl ziviler Opfer und teile diesen durch die Anzahl der Jahre, in denen die Gräueltaten stattfanden. Auf den Einzelfall bezogen, entsteht dadurch zwar das Problem, dass die jeweiligen Schwankungen im zeitlichen Verlauf verflacht wiedergegeben werden, doch erlaubt dieser Schritt, die Schätzwerte auf ein Jahr umzurechnen.12 Zweitens betrachte ich nur Fälle mit 1.000 vorsätzlichen Tötungen pro Jahr. Jeder numerische Schwellenwert ist stets willkürlich gewählt, und die Bevölkerungsgröße als Ausgangsbasis variiert von Land zu Land beträchtlich. Entscheidend ist jedoch, dass der von mir festgelegte Grenzwert die Idee von anhaltenden Massentötungen vermittelt. Drittens geht es mir darum, die Genauigkeit der bisherigen Schätzwerte auf Grundlage meines Forschungswissens über Subsahara-Afrika zu verbessern. Alles in allem verzeichnet der neue Datensatz 34 Fälle von Massengewalt gegen Zivilisten. Von diesen haben 25 einen Jahresdurchschnitt von 5.000 oder mehr Todesopfern; in 17 Fällen beläuft sich die Zahl auf mindestens 10.000, in acht Fällen auf mindestens 50.000 und in weiteren fünf Fällen auf 100.000 oder mehr Todesopfer pro Jahr.13 141516
11 Wie ich in Straus (2015) ausführe, erreicht der Fall Malawi meines Erachtens nicht die Schwelle der Massengewalt (weswegen ich den Fall nicht in meine Liste aufnehme). 12 Liberia ist ein gutes Beispiel für die Problematik dieser Umrechnung auf Jahresbasis. Laut den Schätzungen der Wahrheitskommission Liberia wurden in dem Land zwischen 1989 und 2003 250.000 Menschen getötet. Eine von drei Wissenschaftlern durchgeführte Detailanalyse zeigt hingegen deutliche Höhepunkte der Gewaltausübung in den Jahren 1990, 1994 und 2003. Durch die von mir vorgenommene Umrechnung aufs Jahr möchte ich derartige Schwankungen im zeitlichen Verlauf keineswegs leugnen und ich bin mir dieser Schwäche bewusst. Abschlussbericht von 2009, online: http://trcofliberia.org/reports/ final-report. 13 Jeder dieser Werte (oder andere) könnte als Schwellenwert für die Definition von „Massengewalt“ eingesetzt werden, doch vorerst werde ich alle Fälle mit einer annualisierten 151416Rate von 1.000 oder mehr Todesopfern miteinbeziehen.
Äquatorialguinea Äthophien Äthophien Äthophien Äthophien
1969 – 1979 1961 – 1990 1977 – 1978 1977 – 1985 1983 – 1985
5.000 – 20.000 250.000 (AW) 5.000 – 20.000 40.000 – 60.000 (UV) 215.000 – 317.000
1.100 8.300 6.800 5.600 90.300
150.000
1998 – 2003 900.000 (HSRP 2010) Nein Ja Ja Ja Ja
Nein
Ja
115.000
1996 – 1997 200.000 – 230.00015
Ja
Ja Ja Ja Ja
Ja
4.200 1.800 2.700 12.800
2.300
37.800 2.000 – 5.000 (UV) 5.000 – 11.000 (AB) 1.000 – 50.000 (AB, BH)
Nein Ja Ja Ja Ja
Ja
Ja
Nein
Nein
Ja Nein Ja Ja
Gruppen- Bewaffselektiv neter Konflikt Nein Ja Ja Ja Ja Ja Ja Ja
1993 – 1996 8.000 – 10.000
1982 – 1990 1964 – 1965 1997 – 1999 1964 – 1965
Tschad Kongo-Brazzaville Kongo-Brazzaville Demokratische Republik Kongo Demokratische Republik Kongo Demokratische Republik Kongo Demokratische Republik Kongo Demokratische Republik Kongo
60.000 – 375.000 (UV) 200.000 (RL) 15.000 (RL) 150.000 – 200.000 (UV*)
Todes opfer pro Jahr 7.800 200.000 15.000 13.500
1.800
1975 – 2002 1972 1988 1993 – 2005
Angola Burundi Burundi Burundi
Todesopfer gesamt14
1977 – 1979 3.000 – 8.000 (AB, BH)
Jahre
Land
AB, UV
AB, BH
AB, UV AB, UV AB, UV AB, BH
UV, BH Alle Alle Alle
Staat Staat Staat Staat Staat
Staat, Rebellen, Zivilisten
Alle AB, UV AB, UV
AB, UV
Alle
„Roter Terror“ Region Ogaden Region Tigray
Todesfälle hauptsächlich durch indirekte Ursachen
DatenBemerkungen sammlung
Staat, Rebellen ALLE
Zivilisten
Staat
Staat, Rebellen Staat Staat Staat, Rebellen, Zivilisten Staat Staat Staat, Rebellen Staat
Akteure
Muster von Massengewalt in Subsahara-Afrika, 1960 – 2008 100
Scott Straus
1975 – 1992 100.000 – 200.000 (AB) 1966 7.000 – 30.000
1967 – 1970 1.000.000 – 1.500.000 1963 – 1964 5.000 – 10.000 1994 527.500
1991 – 2002 50.000 – 100.000 (AB)
1988 – 1989 50.000 – 60.000 1955 – 1972 400.000 – 600.000 (UV) 1983 – 2005 1.500.000 – 2.000.000 (UV) 2003 – 2006 200.000 – 300.000 1964 3.000 – 10.000 1971 – 1979 50.000 – 300.000 1981 – 1986 200.000 – 300.000 (UV) 1983 – 1985 3.800 – 6.000
Mosambik Nigeria
Nigeria Ruanda Ruanda
Sierra Leone
Somalia Sudan Sudan 62.500 6.500 19.400 41.700 1.600
27.500 27.800 76.100
6.250
312.500 3.750 527.500
8.300 18.500
1.000 16.700
Ja Ja Nein Ja Ja
Ja Ja Ja
Nein
Ja Ja Ja
Nein Ja
Nein Nein
Ja Nein Ja Ja Nein
Ja Ja Ja
Ja
Ja Ja Ja
Ja Nein
Nein Ja
Staat Staat Staat Staat Staat
Staat Staat, Rebellen, Zivilisten Rebel Staat, Zivilisten Staat Staat Staat, Rebellen16 Staat, Rebellen, Zivilisten Staat Staat Staat AB, UV AB, UV Alle Alle UV
Alle Alle Alle
AB, UV
AB, UV Alle Alle
AB AB
AB, UV AB, UV
14 Quellen sind wie folgt: AB=Bellamy ; UV=Ulfelder/Valentino; BF=Harff; HSRP=HSRP; RL= Lemarchand (2008); AW=Africa Watch; RLTRC=RLTRC, S. 61. Schätzwerte ohne Quellenangaben werden in diesem oder späteren Abschnitten begründet. 15 Für diese Schätzungen siehe die Diskussion im weiteren Verlauf dieses Abschnitts. Mit „Staat“ ist hier Ruanda gemeint, das in dieser Periode hauptverantwortlich für Gewalttaten in der Demokratischen Republik Kongo (DRC) war. 16 Die Schätzungen der Zahl der Todesopfer stammt aus Des Forges (1999), S. 15 f. Laut ihren Kalkulationen wurden von staatlichen und regierungstreuen Kräften 500.000 Zivilpersonen, hauptsächlich Tutsi, und wiederum 25.000 bis 30.000 Zivilisten, von denen die meisten Hutus waren, von Rebellen getötet. Dies sind derzeit die besten verfügbaren Schätzungen.
Sudan Tansania Uganda Uganda Simbabwe
1960 – 1984 3.000 – 50.000 1989 – 2003 250.000 (RLTRC)
Guinea Liberia
Erster Bürgerkrieg Zweiter Bürgerkrieg Darfur Sansibar
Biafra
Norden
Höchststände in 1990, 1994, 2003 Muster von Genozid und Massengewalt in Subsahara-Afrika 101
102
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III. Kurze Fallstudien In diesem Abschnitt gebe ich kurze Zusammenfassungen der bedeutendsten Fälle von Massengewalt gegen Zivilisten, die sich während bewaffneter Konflikte ereigneten. Ich gehe chronologisch vor, beginnend in den 1960er Jahren, und betrachte all jene Fälle mit einer durchschnittlichen Jahresrate von mindestens 50.000 zivilen Todesopfern. Außerdem beziehe ich auch Uganda mit ein, wo die Opferzahlen ähnlich hoch waren. Es sei erneut darauf hingewiesen, dass jede Festlegung eines Schwellenwerts stets arbiträr ist, doch handelt es sich bei den hier dargestellten Ereignissen um die schlimmsten Fälle von Massengewalt auf dem Kontinent seit Erlangung der Unabhängigkeit. 1. Nigeria: Der Biafra-Bürgerkrieg (1967 – 1970) Der Biafra-Bürgerkrieg stellt einen Wendepunkt in der afrikanischen Politik dar, der auf dem ganzen Kontinent zu einer Spaltung diplomatischer Loyalitäten führte und eine massive humanitäre Krise auslöste, die als Vorläufer ähnlicher Krisen in den 1990er und 2000er Jahren gesehen werden muss. Aufgrund der gezielt gegen die Zivilbevölkerung gerichteten Politik des nigerianischen Staates verloren bis zum Ende des Bürgerkrieges mehr als eine Million Zivilisten, darunter hauptsächlich Igbo, ihr Leben. Hinzu kommt, dass ein Jahr vor Ausbruch des Krieges im Norden des Landes Tausende christliche Igbo von größtenteils muslimischen lokalen Akteuren mit militärischer und teilweise auch offizieller Unterstützung niedergemetzelt worden waren. Beide Fälle sind in der Tabelle aufgeführt. Begünstigt durch das Erbe der Kolonialpolitik und die institutionellen Strukturen Nigerias, wurden politische Mobilisierung und Wettkämpfe nach Erlangung der Unabhängigkeit vor allem innerhalb dreier ethnisch-regionaler Blöcke ausgetragen: den Hausa im Norden, den Yoruba im mittleren Westen und den Igbo im Osten. In Nigeria herrschte zu Beginn der Unabhängigkeit zwischen den Anführern dieser drei Bevölkerungsgruppen ein fragiles Gleichgewicht, das leicht zugunsten der nördlichen Regionen ausfiel. Doch entstand 1966 in der Folge eines Putschversuchs von Igbo-Offizieren, an den sich ein Gegenputsch und Pogrome gegen Igbo anschlossen, schließlich eine Igbo-geführte Sezessionsbewegung im Osten des Landes. Der Biafra-Krieg zwischen den staatlichen Streitkräften und Sezessionisten brach im Juli 1967 aus. Während des Krieges griffen die staatlichen Streitkräfte die Zivilbevölkerung im Osten gezielt auf unterschiedliche Weise an. Zu den Hauptstrategien zählten Hungerblockaden, Luftangriffe gegen zivile Ziele und gruppenselektive Anti-Igbo-Massaker in einigen, wenn auch nicht allen während des Krieges besetzten oder wiederbesetzten Gebieten. Im Verlauf des Krieges verloren die Sezessionisten 1967 und 1968 die Kontrolle über eine Reihe von wichtigen Gebieten für die Nahrungsmittelproduktion, woraufhin die Regierung eine Blockade verhängte und die Lieferung von Hilfsgütern in die Region verweigerte. Massive Hungersnot und Unterernährung waren die Folgen dieser Maßnahme, deren Endergebnis Beobach-
Muster von Genozid und Massengewalt in Subsahara-Afrika
103
ter heute als erste schwere internationale humanitäre Katastrophe in der Ära des Kalten Krieges bezeichnen. Auf dem Höhepunkt der Krise im August und September 1968 starben Schätzungen zufolge täglich 5.000 bis 6.000 Zivilisten, die meisten davon Kinder.17 Angesichts der Tatsache, dass die nigerianischen Behörden in den Jahren 1967 und 1968 über längere Zeiträume Hilfslieferungen ablehnten oder Flugzeuge mit Hilfsgütern abschossen, wertet die Mehrheit der Beobachter die Hungerblockade als gezielte politische Strategie.18 Massengewalt gegen die Zivilbevölkerung nahm im Biafra-Krieg enorme Ausmaße an; den meisten Schätzungen zufolge liegt die kumulative Zahl der Todesopfer unter der Zivilbevölkerung bei ein bis eineinhalb Millionen Menschen.19 2. Burundi (1972) Ein weiterer bedeutsamer Fall war die Gewaltkampagne gegen Angehörige der Elite und der gebildeten Zivilbevölkerung der Hutu in Burundi in den 1970er Jahren. Nach der Unabhängigkeit verfolgten die regierenden Tutsi die gewaltsame Revolution der Hutu im benachbarten Ruanda und ihre desaströsen Folgen für die dortigen Tutsi. In Burundi selbst hatten die Tutsi-Eliten in den 1960er Jahren eine Reihe von Hutu-geführten Putschversuchen abgewehrt, aber im Jahr 1972 erschütterte ein bewaffneter Angriff aus zwei Teilen des Landes die Tutsi-Autoritäten, die aufgrund interner Machtkämpfe ohnehin bereits geschwächt waren. Nach der Niederschlagung der Gewalt, begannen die Tutsi-dominierten Behörden mit der Eliminierung der Hutu-Eliten; schlussendlich kamen dabei auf Seiten der Hutu nicht weniger als 200.000 Zivilisten ums Leben.20 In diesem Fall ging die empfundene Bedrohung auf das demographische Ungleichgewicht zurück, denn die Hutu machten 85 % der Bevölkerung aus; ausschlaggebend war aber in besonderem Maße, dass die Tutsi-Elite davon ausging, die Hutu würden eine Revolution nach dem Vorbild Ruandas anstreben. Einer der führenden Wissenschaftler zum Thema der Gewalt in Burundi, René Lemarchand, schreibt mit Blick auf die Täter, dass „extreme Bedrohungen extreme Lösungen erforderten“.21 Laut Lemarchand und Martin war die Gewaltanwendung „prophylaktisch“ und zielte darauf ab, „nicht nur der Rebellion, sondern auch der Hutu-Gesellschaft den Kopf abzuschlagen und dabei zugleich den Grundstein für eine völlig neue Ordnung zu legen.“22
Cruise O’Brien. Höhere Opferzahlen nennt Jacobs, S. 5. Ekwe-Ekwe, S. 87; Forsythe, S. 175 – 182; Waugh/Cronjé, S. 14. 19 Vgl. Cruise O’Brien; Waugh/Cronjé, S. 115. 20 Lemarchand (2008). 21 Lemarchand (2008) (Übersetzung ER). 22 Lemarchand/Martin, S. 18 (Übersetzung ER). 17 Vgl. 18
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3. Äthiopien unter Mengistu (1974 – 1991) Äthiopien verzeichnet die meisten bewaffneten Konflikte und Fälle von Massengewalt in Afrika seit der Unabhängigkeit. Ich konzentriere mich auf die wohl gewalttätigste Periode in der politischen Geschichte des Landes nach 1960, nämlich zwischen 1974 und 1991, als Äthiopien vom kommunistischen „Derg“-Regime unter der Führung von Mengistu Haile Mariam beherrscht wurde. Nach seiner Entmachtung im Jahr 1991 wurde er nachträglich in absentia vor Gericht gestellt und des Genozids schuldig gesprochen. Die politische Gewalt unter Mengistu besaß verschiedene Komponenten, insbesondere die Gewalt des „Roten Terrors“ gegen rivalisierende politische Fraktionen, die Maßnahmen zur Aufstandsbekämpfung im Norden Äthiopiens, vor allem in Tigray, die Kampagnen zur Niederschlagung von Aufständen in Eritrea, die unter Mengistus Vorgänger, Kaiser Haile Selassie, begannen und von ihm fortgesetzt wurden, und die Kampagnen zur Aufstandsbekämpfung im Süden und Südosten des Landes, hauptsächlich in den Ogadenund Oromo-Regionen, die unter Haile Selassie, Mengistu und seinem Nachfolger, Meles Zenawi, andauerten. Aus Platzgründen beschränke ich mich hier auf die schwersten Fälle von Gewaltausübung unter Mengistu – den Roten Terror und die Aufstandsbekämpfung in Tigray. Der marxistisch-leninistisch orientierte Derg kam 1974 nach einem Militärputsch an die Macht und wurde von den Amharen, der Armee und urbanen Linken unterstützt; schon kurze Zeit später kam es zu selektiver Gewaltanwendung gegen politische Gegner.23 In den Jahren 1977 und 1978 erreichte die Gewalt ihren Höhepunkt – im sogenannten „Roten Terror“ –, als die Derg-Führung versuchte, rivalisierende marxistische Fraktionen zu eliminieren, insbesondere die Ethiopian People’s Revolutionary Party (EPRP). Diese hatte 1976 gezielte Attentate, darunter auch mehrere Anschläge auf Mengistu, verübt und damit eine staatlich geführte Kampagne von Gewaltaktionen gegen die EPRP, ihre Führung und Kader sowie andere „Feinde der Revolution“ ausgelöst.24 In der Folgezeit breiteten sich mehrere Wellen der Gewalt aus, die sich auch gegen andere als Dissidenten angesehene Gruppen, wie Mitglieder einer anderen marxistischen Splitterpartei, Universitätsstudenten und Kaufleute, richteten.25 Die Gewaltaktionen konzentrierten sich zunächst auf die Hauptstadt Addis Abeba, weiteten sich aber bald auf andere städtische Gebiete im ganzen Land aus. Verlässliche Schätzungen der Todesrate des Roten Terrors gehen von 5.000 bis 20.000 Opfern aus.26 Die politische Gewalt des Derg gegen seine Gegner in den Städten fand vor dem Hintergrund von vier zeitgleich geführten, peripheren Kriegen statt: im Norden gegen die 1974 gegründete Tigray People’s Liberation Front (TPLF); dem seit den 1960er Jahren andauernden Kampf gegen eritreische Separatisten; und den Kriegen in den Ogaden- und Oromo-Gebieten Chege; Tareke. Africa Watch, S. 102 (Übersetzung ER). 25 Africa Watch, S. 104; Halliday/Molyneux. 26 Keller, S. 200; Africa Watch, S. 110. 23
24
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105
im Süden und Südosten des Landes. Von diesen forderte die Gewalt in Tigray und Eritrea die meisten Opfer. Dabei fing der Aufstand der TPLF zunächst klein an. In einer ersten Phase strebten die Rebellen an, ihren Stand in der Region zu festigen, vor allem während sich das Mengistu-Regime noch auf politische Gefahren im urbanen Raum konzentrierte.27 Doch die Rebellen gewannen schnell an Stärke und kontrollierten bis 1980 bereits weite Teile des Tigray-Territoriums und ab 1982 auch Teile des Wollo-Gebiets.28 Angesichts des zunehmenden Einflusses und der wachsenden territorialen Kontrolle der Rebellen und unter dem Eindruck der erfolgreichen Niederschlagung seiner politischen Gegner in den Städten, richtete das Regime seine Aufmerksamkeit nun stärker auf die Aufständischen in Tigray und Eritrea, die zunehmend die größte militärische Bedrohung darstellten. Ab 1980 wurde die Kriegsführung gegen die eigene Bevölkerung („counter-population warfare“) zur staatlichen Strategie, um die Rebellen durch Angriffe auf ihre Versorgungsbasis zu schwächen.29 Als das Land in den frühen 1980er Jahren von einer Dürreperiode heimgesucht wurde, verschärfte das Regime die Krise erheblich, indem es die Mobilität der Bevölkerung und damit den Zugang zu Nahrungsmitteln weiter einschränkte.30 Die Dynamiken staatlicher Gewalt im nördlichen Äthiopien und in Biafra ähneln sich in vielerlei Hinsicht – von gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung bis zum Einsatz von Nahrungsmitteln als strategische Waffe zur Niederschlagung von Aufständen, die über große lokale Unterstützung, territoriale Kontrolle über eine Region und wachsende militärische Stärke verfügten. Sowohl in Äthiopien als auch in Biafra waren die Gewalthandlungen mit einer Reihe von militärischen Offensiven verbunden, darunter Boden- und Luftangriffe, die sich gegen die Zivilbevölkerung und Dörfer, in denen ein Nahrungsmittelüberschuss bestand, richteten. Seit 1980 gab es außerdem fast täglich Bombardements, oft gegen Marktplätze, sowie Restriktionen des Getreidehandels und der Bewegungsfreiheit der Bevölkerung.31 Ein Kommandeur der Luftwaffe sagte in Bezug auf vergleichbare Angriffe in Eritrea im selben Zeitraum, die Strategie sei gewesen, „alles zu bombardieren, was sich bewegte“.32 In Verbindung mit der Dürreperiode in der Mitte der 1980er Jahre bereitete die Kampagne zur Aufstandsbekämpfung so der Entstehung einer massiven Hungersnot in der Region den Boden, der eine halbe Million Menschen zum Opfer fielen. Alex de Waal geht in seiner Einschätzung der Konsequenzen der staatlichen Aufstandsbekämpfung für Africa Watch davon aus, dass zwischen 225.000 und 317.000 der insgesamt 500.000 Toten
Young (1997), S. 92 – 144. Africa Watch, S. 139 f. 29 Ebd., S. 141. 30 De Waal, S. 117. 31 Africa Watch, S. 141 – 154. 32 Africa Watch, S. 123 (Übersetzung ER). 27
28
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auf die Maßnahmen der Regierung zurückzuführen sind.33 Das Gros der Todesfälle fiel in die Jahre zwischen 1983 und 1985. 4. Uganda unter Obote (1980 – 1985) Wie Äthiopien zählt auch Uganda zu den afrikanischen Ländern, die seit ihrer Unabhängigkeit am stärksten von Konflikten und Gewalt betroffen waren. Seit den 1970er Jahren bis heute gab es in zahlreichen Regionen des Landes eine ganze Reihe von Aufständen gegen verschiedene ugandische Regime. In vielen Fällen bestanden die staatlichen Strategien zur Bekämpfung dieser Rebellionen in gezielten Angriffen auf die Zivilbevölkerung oder in politischer Repression – oder beidem. Doch im Hinblick auf anhaltende Massengewalt gegen Zivilisten stechen zwei besonders gewalttätige Zeitperioden hervor: das Regime von Idi Amin in den Jahren 1971 bis 1979 und das Regime unter Milton Obote von 1980 bis 1985. Amins Regime war gekennzeichnet durch weit verbreitete politische Gewalt gegen mutmaßliche politische Gegner sowie Kampagnen der Aufstandsbekämpfung, die sich kollektiv gegen Zivilisten richteten. Bekanntermaßen vertrieb Amin außerdem die asiatische Gemeinschaft, die seit 1972 in Uganda ansässig gewesen war. Obotes Herrschaft war im Hinblick auf die Zerstörung der Zivilgesellschaft sogar noch brutaler, weil regierungstreue Kräfte Massengewalt gegen Zivilisten durchgehend und konsequent zur Schwächung und Niederschlagung von Aufständen einsetzten. Eine detaillierte und zuverlässige Bestimmung der Opferzahlen in Uganda ist schwierig, und die existierenden Schätzwerte gehen weit auseinander und sind unbestätigt. Für die Herrschaft Amins liegt die Zahl zwischen 50.000 und 300.000 Opfern;34 unter Obotes Regime waren es zwischen 300.000 und einer Million.35 Die letztgenannte Zahl ist mit hoher Wahrscheinlichkeit zu hoch angesetzt und wird politisiert.36 Vorsichtigere Schätzungen, die ich in obiger Tabelle verwende, gehen von 200.000 bis 300.000 Todesopfern aus.37 Laut der Aussage eines Beamten des Außenministeriums vor dem Kongress töteten Regierungskräfte allein 1984, auf dem Höhepunkt des Bürgerkriegs, zwischen 100.000 und 200.000 Menschen, die meisten darunter Zivilisten.38 Im Folgenden konzentriere ich mich auf die Herrschaft Obotes. Schon bald nach seiner Machtübernahme sah sich Obote mit einer Reihe von Revolten konfrontiert, unter anderem von der United National Rescue Front (die von den Westnilregionen unterstützt wurde), dem Uganda Freedom Movement, das primär urban operierte und auf Umsturz durch Aufruhr setzte, und dem National Africa Watch, S. 176. Amnesty International, S. 13. 35 Kasozi, S. 4. 36 Ebd., S. 289. 37 Ulfelder/Valentino. 38 Kasozi, S. 289. 33
34
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107
Resistance Movement (NRM, mit Unterstützung der südwestlichen Gebiete des Landes). Von diesen stellten die Erst- und Drittgenannten die größte Bedrohung für Obote dar. Wieder gingen die Aufstände von Bevölkerungsgruppen aus, deren Identitätsverständnis nicht dem der herrschenden Zentralregierung entsprach und die deswegen ihr Misstrauen weckten, und Obotes Regime reagierte ähnlich wie andere in diesem Abschnitt behandelte Regime. Die Regierung setzte brutale Taktiken der Aufstandsbekämpfung ein, übte in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten gruppenspezifische Massengewalt gegen Zivilisten aus und ließ andere Gruppen aus den Regionen vertreiben und in Nothilfelager verbringen. Die schlimmsten Gewaltausschreitungen ereigneten sich im Luwero-Dreieck, wo das NRM am stärksten war. Der gezielte Einsatz von Gewalt sollte den ethnischen Gruppen, die das NRM unterstützten, „eine Botschaft senden“; vor allem betroffen waren die Baganda und Banjaruanda, gegen die die Regierungstruppen mit massiver Gewalt vorgingen39 und von denen ein Großteil ebenfalls in „Hilfscamps“ zusammengetrieben wurde. 5. Sudan (1983 – 2005, 2003 – 2006) Wie Uganda ist auch der Sudan einer der nach dem Ende der Kolonialzeit am massivsten von Konflikten betroffenen Staaten Afrikas. Seit dem Vorabend der Unabhängigkeit bis ins erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat der Sudan zahlreiche Bürgerkriege mit andauernder Gewalt gegen die Zivilbevölkerung erlebt und lange Perioden von Militärdiktaturen, während derer offener Dissens gefährlich war. Die schlimmsten Gewaltepisoden ereigneten sich im Rahmen von drei unterschiedlichen, wenn auch miteinander zusammenhängenden, bewaffneten Konflikten: dem ersten Bürgerkrieg zwischen dem Norden und Süden des Landes von 1955 bis 1972, dem zweiten Bürgerkrieg zwischen 1983 und 2005 und dem Darfur-Konflikt von 2003 bis 2006. Während jeder dieser bewaffneten Auseinandersetzungen, vor allem aber in den letzten beiden, orchestrierte die Regierung massive Gewaltkampagnen gegen bestimmte Gruppen der Zivilbevölkerung, die mit den Aufständischen in Verbindung standen. Hinzu kommen die derzeit noch andauernden Ausbrüche von Massengewalt im jüngst unabhängig gewordenen Südsudan. Auf dem Höhepunkt der Kriegshandlungen kam es zu weit ausgedehnten und anhaltenden Gewaltaktionen gegen Zivilisten durch militärische und irreguläre Streitkräfte. Bodenangriffe gingen in der Regel mit Mord, Vergewaltigung, der Zerstörung von Dörfern und Brunnenvergiftung einher; in einigen Fällen kam es auch zur Gefangennahme von Zivilisten, um diese an Menschenhändlerringe weiter zu verkaufen. Bei Luftangriffen setzte die Regierung Kampfhubschrauber ein und bombardierte Dörfer sowie die fliehende Zivilbevölkerung. Das wesentliche Kriterium bei der Auswahl der Angriffsziele war die Gruppenzugehörigkeit. Im Bürgerkrieg zwischen dem Nord- und Südsudan wurden „Schwarze“, „Sklaven“ und „Ungläubige“ zur Zielscheibe der Gewalt – mit anderen Worten die nichtmuslimische, nichtarabi39
Ebd., S. 180.
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sche Zivilbevölkerung; im Darfur-Konflikt verlief die Festlegung der Angriffsziele hingegen nicht entlang einer religiösen Identitätsachse, sondern richtete sich gegen Nicht-Araber. Auch wenn die Mortalitätsschätzungen ungenau sind, vermitteln sie doch einen Eindruck vom Ausmaß der Gewalt. Für den 23-jährigen zweiten Bürgerkrieg wird standardmäßig von mindestens zwei Millionen zivilen Opfern ausgegangen, wobei die Schätzung direkte und indirekte Sterblichkeitsraten berücksichtigt (Tod durch Krankheit und Unterernährung als Folge des Krieges). Für Darfur schwanken die Schätzwerte zwischen 100.000 und 400.000 zivilen Opfern mit einer Gewaltkonzentration in den Jahren 2003 und 2004. Die hohen Todeszahlen lassen sich hauptsächlich auf zwei Formen von Gewalt zurückführen: Mord und Vertreibung. Erstere betraf vor allem Männer, die während der Bodenkämpfe oft gezielt herausgegriffen und getötet wurden. Die willkürliche Bombardierung von Dörfern forderte ebenfalls viele Todesopfer. Im zweiten Fall starben viele Zivilisten als Folge von Zwangsvertreibung und der vollständigen Zerstörung von Dörfern. Die Allianz aus Regierung und Miliz vertrieb Menschen aus ihren Häusern, brannte Dörfer nieder, unterbrach den Handel und Versorgungswege, zerstörte Überlebensgrundlagen – Nahrungsmittel, Unterkünfte, Wasser und Nutztiere – und blockierte zeitweise internationale Nothilfemaßnahmen. Dies alles führte zu extremer Not unter der Zivilbevölkerung und machte sie besonders anfällig für externe Erschütterungen, wie Dürre, Krankheiten oder Unterernährung. Von den drei Hauptgewaltepisoden ist Darfur am besten dokumentiert. Vor dem Ausbruch der anhaltenden Massengewalt kam es in Darfur zu wachsenden, teilweise „rassifizierten“ Spannungen über den Ressourcenzugang. Eine neue Phase der Gewalt begann, nachdem sich zwei aufständische Gruppen gebildet und im Verlauf mehrerer Kampfhandlungen größere Gebiete besetzt hatten. Um die Rebellion zu zerschlagen, bildete der Staat eine Koalition mit regionalen Milizen und ging mit überwältigender Härte gegen die Aufständischen vor. Die lokalen Akteure fürchteten ihrerseits nicht nur um ihr eigenes Leben, sondern sahen in der Situation auch eine Chance, sich dauerhaft territorial zu vergrößern. In der Folge kam es zur massenhaften Vertreibung der Zivilbevölkerung, der Haupttodesursache im Darfur-Konflikt. Ohne Zugang zu Lebensmitteln, sauberem Wasser, Obdach und medizinischer Versorgung starben viele vertriebene Darfuri an Krankheit und Unterernährung. Die Gewalt erreichte zwischen Mitte 2003 und Mitte 2004 ihren Höhepunkt und ging Anfang 2005 wieder zurück, nachdem der Staat die meisten seiner militärischen Ziele erreicht hatte.40 Die genaue Zahl der Todesopfer für das Jahr 2005 ist umstritten. Ein von Experten erstellter Bericht der US-Regierung stellte fest, dass es sich bei den vorsichtigeren Schätzungen von weniger als 150.000 Toten um die verlässlicheren handelt.41 John Hagan und Alberto Palloni gehen in ihrem Flint/de Waal, S. 116 – 166. States Government Accountability: Darfur Crisis: Death Estimates Demonstrate Severity of Crisis, but Their Accuracy and Credibility Could be Enhanced (GAO7 – 24), November 2006, online: http://www.gao.gov/assets/260/253101.pdf. 40
41 United
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109
in der Zeitschrift Science veröffentlichten Beitrag von 200.000 Todesopfern in den ersten 31 Monaten der Krise aus.42 6. Ruanda (1994) Der wohl bekannteste Fall von Massengewalt gegen Zivilisten ereignete sich im zentralafrikanischen Ruanda. Die ehemalige deutsche und anschließend belgische Kolonie erlangte ihre Unabhängigkeit auf blutige Art und Weise. Die europäischen Kolonialmächte übten ihre Macht vor allem durch die Instrumentalisierung der internen ethnischen Spaltung zwischen den Hutu und Tutsi aus, wobei sie die Tutsi-Minderheit begünstigten, die unter europäischer Herrschaft systematisch an Macht und Einfluss gewann. Die Tutsi dominierten den Staat, den Klerus, die Bildung und die Wirtschaft. Die Kolonialmächte und die lokalen Tutsi verbreiteten außerdem ein rassistisches Geschichtsnarrativ, dass die Tutsi als Angehörige einer von Natur aus überlegenen, hellhäutigeren Rasse präsentierte, die niedriger stehenden Hutu hingegen als typische Vertreter des „Negriden“ oder „Afrikaners“. Im Zuge der Unabhängigkeit bildete sich eine Hutu-Gegenelite, die mit belgischer Überstützung schließlich die ethnische Hierarchie umkehrte. Sie behauptete, dass Unabhängigkeit gleichbedeutend mit Demokratie, Demokratie wiederum gleichbedeutend mit dem Mehrheitsprinzip und darum gleichbedeutend mit der Herrschaft der Hutu-Mehrheit sei. Als Folge dieser als Hutu-Revolution in die Geschichte Ruandas eingegangenen Ereignisse wurden viele Tutsi getötet und gewaltsam vertrieben, und die Tutsi-Monarchie zugunsten einer Hutu-geführten Republik abgesetzt. Nach der Revolution regierten zwei Hutu-Präsidenten, Grégoire Kayibanda und Juvénal Habyarimana, das Land. Obgleich ihre Methoden und Schwerpunkte verschieden waren, beriefen sich beide auf die Prinzipien der Revolution. Die Tutsi sahen sich in den frühen 1960er und 1970er Jahren systematischer Gewalt ausgesetzt und waren in den ersten 30 Jahren nach Erlangung der Unabhängigkeit ganz allgemein Opfer öffentlicher Diskriminierung. Es waren jedoch zwei einschneidende Veränderungen zu Beginn der 1990er Jahre, die dem Völkermord von 1994 den Weg bereiteten: Zum einen der Übergang von einer Ein-Parteien-Diktatur zu einem Mehrparteiensystem, ein Transformationsprozess, den in den frühen 1990er Jahren zahlreiche afrikanische Länder zeitgleich durchliefen. Zum anderen brach 1990 ein Bürgerkrieg aus, als eine neu gegründete Rebellenarmee exilierter Tutsi – größtenteils Nachkommen jener Tutsi, die während der Revolution fliehen mussten – das Land von Uganda aus angriff. Zwischen 1990 und 1994 radikalisierten sich wichtige Mitglieder der Regierungspartei in Ruanda. Um die Aufstände niederzuschlagen und oppositionelle Kräfte innerhalb der Hutu zu bekämpfen, unterstrich die Parteiführung die Bedeutung der Hutu-Herrschaft. Sie förderte rassistische Propaganda gegen Tutsi, gründete eine Zivilschutztruppe (Coalition pour la défense de la République et de la démocratie) und billigte Gewaltaktionen gegen Tutsi. Nach der Ermordung von 42
Hagan/Palloni, S. 1579.
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Präsident Habyarimana am 6. April 1994 eskalierte die Gewalt weiter. Innerhalb kurzer Zeit bildete sich eine neue Regierung, die generalisierte Gewalt gegen Tutsi als Mittel zur Rebellionsbekämpfung unterstützte und beförderte. Die neue Regierung spannte Mitglieder der Streitkräfte, der Zivilregierung, der Milizen, des Zivilschutzes und der Medien ein, um große Teile der Hutu-Bevölkerung für Angriffe auf Tutsi zu mobilisieren. Innerhalb von drei Monaten wurden mindestens 500.000 Tutsi – etwa 75 % der in Ruanda lebenden Tutsi – getötet. In der Geschichte genozidaler Gewalt gibt es nur wenige Fälle, die mit einer derartigen Geschwindigkeit und einem vergleichbaren Maß an Partizipation verübt wurden, wie der Völkermord in Ruanda 43 7. Demokratische Republik Kongo (1996 – 1997, 1998 – 2004) Der Völkermord in Ruanda endete mit dem Sieg der Rebellenarmee der Tutsi, der Ruandischen Patriotischen Front (RPF), über die genozidale Hutu-Regierung. Nach der Niederlage flohen frühere Regierungsbeamte, Armeeangehörige, Milizen und mehr als zwei Millionen Zivilisten ins benachbarte Tansania und in die Demokratische Republik Kongo (damals Zaire). Letztere nahm den überwiegenden Teil der Militäreinheiten und Regierungsbeamten sowie zwischen 1,2 und 1,5 Millionen Geflüchtete auf. Konfrontiert mit dieser potentiell enormen humanitären Katastrophe, richteten internationale Hilfsorganisationen eine Reihe von Flüchtlingslagern in der Nähe der ruandischen Grenze ein. Während einige größtenteils normale Geflüchtete aufnahmen, militarisierten sich andere Lager und wurden zu Trainings- und Rekrutierungscamps des Ex-Regimes umfunktioniert, um die Rückeroberung Ruandas vorzubereiten. Die neue RPF-geführte Regierung Ruandas hatte gewarnt, dass sie selbst eingreifen würde, sollte die internationale Gemeinschaft nicht auf diese Gefährdung reagieren, und startete im Oktober 1996 eine wirkungsvolle Invasion unter der Führung der kongolesischen Aufstandsbewegung Alliance des forces démocratique pour la libération du Zaire-Congo (AFDL). Die Kräfte der RPF und AFDL lösten zuerst die Flüchtlingslager entlang der ruandischen Grenze auf und ermöglichten damit etwa 600.000 Geflüchteten, nach Ruanda zurückzukehren. Im Anschluss gelang es ihnen dank eines ebenso bemerkenswerten wie unwahrscheinlichen Schachzugs, das etwa 1400 Meilen von Ruanda entfernte Regime von Präsident Mobutu Sese Seko zu stürzen. Während dieser Kämpfe betrieben die Truppen der RPF und AFDL zahlreiche und systematische Tötungsaktionen gegen Hutu, meist ruandische Flüchtlinge, die nach der Zerstörung der ersten Lager Richtung Westen geflohen waren.44 Diese gezielten Tötungen folgten einer klaren Befehlskette und fanden in Gegenwart hochrangiger Offiziere statt.45 Obwohl die Zahl der Todesopfer umstritten ist, gehen mehrere
Vgl. ausführlich dazu Straus (2006). UNHCHR. 45 Stearns/Borello, S. 155. 43
44
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seriöse Schätzungen von 200.000 bis 233.000 getöteten Flüchtlingen aus.46 Der erste Kongokrieg endete im Mai 1997 mit einem Sieg der RPF und AFDL. Doch 1998 zerbrach die Koalition und die ruandischen Truppen starteten eine Offensive, diesmal gegen den kongolesischen Präsidenten Laurent Kabila, dem sie zuvor an die Macht verholfen hatten. Ruandische Kräfte verbündeten sich mit ugandischen und burundischen Truppen im Osten, während die kongolesische Regierung um Unterstützung aus Angola, Zimbabwe, Tschad und Namibia warb, die alle Truppen in den Kongo entsandten. Der aufgrund der direkten militärischen Beteiligung von sieben afrikanischen Ländern als „Afrikanischer Weltkrieg“ bekannte Konflikt führte zum vollständigen Kollaps des kongolesischen Staates und seiner formellen Wirtschaft. Am härtesten traf es die östlichen Gebiete. Die meisten Menschen starben an Unterernährung und Krankheit, aber direkte Gewalt gegen Zivilisten forderte ebenfalls zahlreiche Opfer. Im Osten kam es zu einer ungezügelten und massiven Ausbreitung sexueller Gewalt als Kriegswaffe, auch nach dem offiziellen Kriegsende 2004. Gängige, auf Mortalitätsstudien basierende Schätzungen gehen davon aus, dass im zweiten Kongokrieg bis zu fünf Millionen Zivilisten getötet wurden, was ihn zum tödlichsten bewaffneten Konflikt seit dem Zweiten Weltkrieg machen würde. Anderen Schätzungen zufolge liegt die Zahl der zivilen Todesopfer eher bei einer Million. Wie dem auch sei, für die Zivilbevölkerung hatte der Krieg in jedem Fall verheerende Folgen.
IV. Muster und Implikationen Wie im letzten Abschnitt ausgeführt, folgen die meisten Fälle massivster Gewalt gegen Zivilisten im postkolonialen Afrika dem grundsätzlichen Muster, dass sich innerlich gespaltene Regierungen mit einem oder mehreren Aufständen konfrontiert sehen – wie in Nigeria, Burundi, Äthiopien, Uganda (unter Obote), im Sudan und in Ruanda. Unterm Strich ist das am häufigsten auftretende Szenario, dass sich politische Akteure staatlicher Sicherheitskräfte und loyaler militanter Organisationen bedienen, um mit Gewalt gegen jene Gruppen vorzugehen, die für das jeweilige Regime die größte Bedrohung darstellen. In der Regel erfolgt der Einsatz von Massengewalt in Zeiten, in denen Regime selbst gefährdet und angreifbar sind. Wie sich gezeigt hat, setzen Regime Massengewalt meist unmittelbar nach Perioden starker politischer Unruhen ein, etwa nach vorangegangenen Putschversuchen wie in Nigeria, Burundi, Uganda, Äthiopien, Ruanda und der Demokratischen Republik Kongo. Ebenfalls typisch ist der Einsatz von Gewalt nach Einmärschen, militärischen Angriffen, versuchten Attentaten oder anderen unerwartet effektiven Aktionen von Gruppen, die eine bewaffnete Bedrohung darstellen. Der staatliche Einsatz von Massengewalt ist wiederum eine unverhältnismäßige Reaktion auf derartige Angriffe – unverhältnismäßig, weil sich die Gewalt nicht nur gegen 46
Reyntjens, S. 136; Emizet, S. 179.
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Scott Straus
die tatsächlichen Angreifer richtet, sondern auch gegen ihre vermeintlichen Unterstützer oder diejenigen, die möglicherweise in der Zukunft eine Gefahr darstellen könnten. Eine weitere klare Erkenntnis aus dem vorigen Abschnitt ist es, dass Krieg das Ausmaß der Tötung von Zivilisten systematisch erhöht; eine Erkenntnis, die das allgemeine Argument stärkt, dass eine Zunahme einer vermeintlichen Bedrohung zu einer Zunahme des Gewalteinsatzes führt. Alle hier behandelten Fälle – sprich, jene mit den meisten zivilen Todesopfern pro Jahr seit der Unabhängigkeit – ereigneten sich im Kontext von bewaffneten Konflikten oder als Reaktion auf bewaffnete Invasionen. Was die Täterschaft anbelangt, so ging die Gewalt in allen untersuchten Fällen maßgeblich von Seiten der Staaten aus, meistens gab es aber auch eine direkte Partizipation von irregulären bewaffneten Gruppen, vor allem Milizen. Einige Fälle fanden auch mit einer starken zivilen Beteiligung statt. Allgemein betrachtet, haben aber Staaten die Kapazität, die höchsten Opferzahlen zu verursachen. Sogar in Fällen wie dem der Demokratischen Republik Kongo waren Staaten die Hauptakteure der meisten direkten Tötungsaktionen – nur, dass es sich mitunter um Staaten wie Ruanda handelte, die von jenseits der Grenze einmarschiert waren. Die meisten afrikanischen Fälle bewegen sich in einer Größenordnung von Hunderttausenden, manchmal auch einigen Millionen zivilen Opfern. In jedem der beschriebenen Fälle richtete sich die Gewalt gegen spezifische Bevölkerungsgruppen, meist Mitglieder einer ethnischen Gruppe, die der kriegführende Staat als Feind einstufte. In diesem Sinne kann von „gruppenselektiver“ Gewalt gesprochen werden – denn sie richtete sich gezielt gegen einen bestimmten Bevölkerungsteil. Einige dieser Fälle können als Völkermorde eingestuft werden, in dem Sinne, dass das Ziel der Gewalt die Vernichtung der gesamten Bevölkerungsgruppe war. In anderen Fällen wurde Gewalt scheinbar hauptsächlich als Zwangsmittel eingesetzt, um die bewaffneten Gegner im Bürgerkrieg zum Nachgeben zu zwingen oder zu schwächen. Manchmal traten auch beide Logiken zusammen auf.47 Kurz gesagt, bekräftigen diese Fallstudien nachdrücklich den Zusammenhang zwischen gruppenselektiver Massengewalt gegen Zivilisten auf der einen Seite und bewaffneten Konflikten und Bedrohungsvorstellungen, gemessen als Gefahr, die von Rebellen ausgeht, und aus der inneren Verletzlichkeit gespaltener, schwacher Regime resultiert, auf der anderen Seite. Gruppenselektive Gewalt tritt dort besonders häufig auf, wo die Aufständischen vermeintlich einer anderen Bevölkerungsgruppe angehören als die Machthaber. Obwohl unklar ist, wo genau die Grenze zwischen groß angelegter, gruppenselektiver repressiver Gewalt und groß angelegter, gruppenselektiver zerstörerischer Gewalt verläuft, scheint die vergleichende Untersuchung der einzelnen Fälle Beispiele für unterschiedliche Strategien zu geben. Diese kurzen Fallstudien eignen sich jedoch nicht, um die Hintergründe solcher Differenzen zu klären. Klar ist jedoch, dass die meisten bewaffneten Konflikte nicht in Massengewalt gegen Zivilisten enden. Eine genaue Auflistung aller bewaffneten Kon47
Für eine längere Diskussion dieser Unterscheidungen, siehe: Straus (2015), Kap. 1.
Muster von Genozid und Massengewalt in Subsahara-Afrika
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flikte im postkolonialen Subsahara-Afrika nach den Kriterien der PRIO/UCDP48 verzeichnet insgesamt 72 verschiedene Fälle.49 Das heißt, dass es im Verlauf der meisten bewaffneten Konflikte nicht zu massiver Gewaltausübung gegen die Zivilbevölkerung kommt. Warum einige dieser Konflikte zu groß angelegter Gewalt gegen Zivilisten führen und andere nicht, bedarf einer gesonderten Diskussion. Die Muster von Massengewalt gegen Zivilisten mögen sich mit der Zeit verändern. Nach einem Höhepunkt in den 1990er Jahren nimmt die Zahl solcher Fälle auf dem Kontinent stetig ab. Ob diese Entwicklung anhalten wird, ist schwer zu sagen. Eine Veränderung könnte darin bestehen, dass Massengewalt in Subsahara-Afrika zunehmend von nicht-staatlichen Akteuren ausgeht. Laut der hier präsentierten Daten sind Staaten die primären Verursacher von Massengewalt. Nationalstaaten, das heißt Regierung und Militär, waren die Hauptakteure in 24 der insgesamt 34 Fälle. In weiteren sieben Fällen – darunter Liberia, Sierra Leone, Angola, Nigeria (1996) und die Demokratische Republik Kongo in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren – war der Staat einer von mehreren Akteuren, die Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung initiierten und verübten; Aufständische und Milizen waren ebenfalls in die Gewaltaktionen involviert. Die Demokratische Republik Kongo, Sierra Leone und Liberia sind typische Beispiele dieser Art von kollektiver Gewalt. Nur in einem einzigen Fall – Mosambik – ging Massengewalt gegen Zivilisten allein von den Rebellen aus. Doch diese historischen Muster können sich wandeln. Auf dem Kontinent zählt Gewalt gegen Zivilisten heute zu den primären Taktiken von nicht-staatlichen Akteuren, die Verbindungen zu internationalen terroristischen Organisationen haben. Gruppierungen wie Boko Haram in Nigeria, die ursprünglich in Uganda gegründete „Widerstandsarmee des Herrn“ (Lord’s Resistance Army) oder al-Shabaab in Somalia setzen gezielte Angriffe auf die Zivilbevölkerung als strategisches Kampfmittel ein. Bislang sind ihre Möglichkeiten, großangelegte Tötungsoperationen zu organisieren, begrenzt, was sich theoretisch jedoch ändern kann. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es in Subsahara-Afrika immer wieder zu Episoden von Massengewalt gegen Zivilisten gekommen ist. Dieser Aufsatz hat die wichtigsten Fälle vorgestellt – insbesondere jene mit den höchsten Gewaltraten pro Jahr. Diese Form des Dokumentierens soll die Leser jedoch nicht zu der Schlussfolgerung verleiten, Afrika sei in besonderem Maße anfällig für diese Art von Gewalt; vielmehr sollten die afrikanischen Fälle Teil einer noch zu erstellenden weltweiten Bilanz von Massengewalt und Völkermord werden. Aus dem Englischen von Ellen Rinner.
48 49
Peace Research Institute Oslo (PRIO); Uppsala Conflict Data Program (UCDP). Straus (2012), S. 183 ff.
Srebrenica, Juli 1995 Genozid, Verantwortung, Gedenken Von Martina Bitunjac Martina Bitunjac Srebrenica, Juli 1995. Genozid, Verantwortung, Gedenken
Während des Krieges in Bosnien-Herzegowina1 fiel am 11. Juli 1995 die bosnisch-serbische Armee unter General Ratko Mladić in Srebrenica ein und ermordete in den darauf folgenden Tagen mindestens 8.372 Jungen und Männer mit dem Ziel, einen ethnisch-homogenen serbischen Großstaat herzustellen. Die Stadt Srebrenica,2 die heute in der bosnisch-herzegowinischen Entität Republika Srpska (Republik Srpska)3 liegt, war im Sommer 1995 eine UN-Sicherheitszone4 („safe area“) des niederländischen Kontingents der Schutztruppe der Vereinten Nationen5 Dutchbat (Dutch Bataillon) III, dessen Kommandant Oberst Thomas Karremans war. Etwa 20.000 – 25.000 bosnisch-muslimische Flüchtlinge hatten in der UN-Sicherheitszone Zuflucht vor den bosnisch-serbischen Truppen gesucht. Bei der Bewältigung ihrer Aufgabe, den Zivilisten Schutz zu gewähren, versagten allerdings sowohl die UN-Blauhelme vor Ort wie auch die Völkergemeinschaft. Infolgedessen konnte von den bosnisch-serbischen Soldaten und Milizen ein systematischer Völkermord verübt werden, der als das schwerste Kriegsverbrechen in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs gilt. Die Getöteten wurden in der Gegend von Srebrenica in Massengräbern verscharrt. Auch heute noch dauert die Suche nach den Ermordeten an. Im Folgenden wird der Versuch unternommen, wesentliche Ursachen und Ziele dieses Völkermordes an muslimischen Zivilisten nachzuzeichnen. Außerdem wird danach gefragt, warum die internationale Gemeinschaft dabei scheiterte, diesen Massenmord zu verhindern, und wie in Bosnien-Herzegowina sowie in Serbien heute mit diesem sensiblen Thema politisch umgegangen wird.
1 Über den Krieg im ehemaligen Jugoslawien und in Bosnien-Herzegowina siehe u. a.: Burg/Shoup, Calic (2010), vor allem S. 308 – 332, und Calic (2012). 2 Vor dem Krieg lebten in Srebrenica 36.700 Menschen. Davon waren 75 % Bosniaken und 23 % Serben. Heute leben ungefähr 13.400 Einwohner in der ostbosnischen Stadt, darunter 54 % Muslime und 45 % Serben. 3 Über die Republika Srpska siehe Nešković, S. 147 ff.; S. 205 – 213; S. 395 – 408. 4 Die Abkürzung UN steht für United Nations. Für Näheres über Sicherheitszonen vgl. Weerth. 5 Bekannter ist die Schutztruppe unter ihrer englischsprachigen Bezeichnung UNPROFOR (United Nations Protection Force).
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I. Der Krieg in Ex-Jugoslawien und in Bosnien-Herzegowina (1991 – 1995) Der Zerfall der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien nahm bereits in den 1980er Jahren, vor allem nach dem Tod des auf Lebenszeit ernannten Staatsoberhauptes Josip Broz, genannt Tito, seinen Lauf. Die wirtschaftliche Dauerkrise, nationale Bestrebungen nach Selbstbestimmung und nationalistische, anti-jugoslawische Strömungen waren einige gewichtige Faktoren, die die Auflösung des Vielvölkerstaates vorantrieben. Obgleich in Jugoslawien ein latenter Nationalismus und ethnisch geprägte Vorurteile stets existiert hatten, lebten die Völker, vorrangig christlich orthodoxer, katholischer und muslimischer Religionszugehörigkeit, friedlich zusammen. Die Politik von Marschall Tito beruhte schließlich darauf, die Völker Jugoslawiens unter dem Motto der „Brüderlichkeit und Einigkeit“ (bratstvo i jedinstvo) zu vereinen. Bei diesem Versuch wurde es im sozialistischen Jugoslawien allerdings versäumt, einen offenen Diskurs über die gemeinsame Geschichte, insbesondere über die des Zweiten Weltkriegs, zu führen – jener Zeit, als die Völkergruppen zwar als Partisanen kollektiv gegen die gleichen politisch-ideologischen Feinde kämpften, als Nationalisten aber militärisch gegeneinander vorgingen. Der zunehmend politisierte Umgang mit der Vergangenheit nach Titos Tod und der wachsende Nationalismus in fast allen Teilrepubliken Jugoslawiens führten mitunter dazu, dass während der Zerfallskriege als Rechtfertigung für die Bekämpfungen des jeweiligen Gegners historische Argumente herangezogen wurden. Die Mobilisierung von Kämpfer/innen wurde unter anderem dadurch in Gang gesetzt, dass charismatische Politiker aller Konfliktparteien diffuse Ängste politisch ausnutzten und tief verankerte Feindbilder und Codes aus dem Unterbewusstsein vieler Menschen aktivierten.6 Nach dem Fall der Berliner Mauer und den darauf folgenden staatspolitischen und gesellschaftlichen Umwälzungen im ehemaligen Ostblock kam es auch auf dem Westbalkan zu Grenzverschiebungen – jedoch mit drastischen Konsequenzen. Sechs Teilrepubliken Jugoslawiens erklärten ab 1990 ihre Unabhängigkeit: Slowenien, Kroatien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. Montenegro und Serbien bildeten bis 2003 die Bundesrepublik Jugoslawien. Die Unabhängigkeitsbestrebungen Sloweniens und Kroatiens versuchte Serbien durch militärische Interventionen zu verhindern. Die von Belgrad instrumentalisierte Jugoslawische Volksarmee (Jugoslavenska Narodna Armija, JNA) schritt im Juni 1991 zunächst in Slowenien ein, wo ein zehntägiger Krieg ausbrach. Daraufhin verlagerte sich ein viel stärkerer Konflikt nach Kroatien, der letztlich über 10.000 Menschenleben forderte. Der Bürgerkrieg in Bosnien-Herzegowina entbrannte im April 1992, kurz nachdem die bosniakische und kroatische Bevölkerung in einem Referendum für die 6 Vgl. Calic (2012), S. 51 – 60. So behauptete etwa der mutmaßliche Kriegsverbrecher Ratko Mladić, sein Vater sei als Partisan im Zweiten Weltkrieg von den kroatisch-faschistischen Ustasche ermordet worden. Diese Familiengeschichte stellte sich allerdings als Mythos heraus. Vgl. dazu Mappes-Niediek.
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Abspaltung von Rest-Jugoslawien stimmten. Weil sich hier mehrere ethnische Konfliktparteien gegenüberstanden, entwickelte sich dieser Krieg zu einem viel komplexeren und brutaleren. Vor dem Krieg lebten etwa 43 % bosnische Muslime, genannt Bosniaken (bošnjaci), in Bosnien-Herzegowina. 31 % der Gesamtbevölkerung machten die bosnischen Serben aus und 17 % Kroaten. Während die bosnischen Muslime mehrheitlich nach einem unabhängigen bosnisch-herzegowinischen Staat strebten, kämpften bosnisch-serbische Truppen für eine Annexion des Landes durch Serbien; bosnische Kroaten wiederum befürworteten einen Anschluss der Herceg-Bosna an Kroatien. Im Gegensatz zu den Kroaten und Serben konnte sich die bosnisch-muslimische Bevölkerung im Krieg nicht auf die Unterstützung eines „Heimatlandes“ verlassen, sondern war auf die Hilfe einiger muslimisch geprägter Staaten angewiesen. Nach dem Zusammenschluss der JNA mit den bosnisch-serbischen Milizen in Bosnien-Herzegowina erzielte der serbische Vorstoß eine Landeinnahme von rund 70 %; darunter fiel auch das Territorium der heutigen Republika Srpska. Besonders tragisch entwickelte sich die Situation in der Hauptstadt Sarajevo, die während des Krieges von den bosnischen Serben 44 Monate lang belagert wurde. Unter den 11.000 Opfern befanden sich 1.600 Kinder. Der Preis des Bosnien-Krieges war sehr hoch, politisch wie humanitär: Das Untersuchungs- und Dokumentationszentrum in Sarajevo ermittelte im Jahr 2007, dass 97.207 Menschen in diesem Konflikt getötet wurden, davon waren 40 % zivile Opfer. Etwa 25.000 Frauen, mehrheitlich Musliminnen, wurden im Krieg systematisch vergewaltigt. 1,2 Millionen Menschen flüchteten unter anderem nach Deutschland, Serbien, Kroatien und Österreich. Am 21. November 1995 unterschrieben der serbische Präsident Slobodan Milošević, der Vorsitzende im bosnisch-herzegowinischen Präsidium Alija Izetbegović und der kroatische Präsident Franjo Tuđman das Abkommen von Dayton, durch welches der Frieden in Bosnien-Herzegowina besiegelt wurde. Dieser sah die Aufteilung des Landes in zwei Entitäten vor: die Föderation Bosnien und Herzegowina, in der mehrheitlich Bosniaken und Kroaten leben, und die Republika Srpska mit einem Großteil an serbischer Bevölkerung. Nationale Spannungen prägen dennoch auch heute das tagespolitische Geschehen: So wurde im Januar 2017 von Milorad Dodik, dem amtierenden Präsidenten der Republika Srpska, vehement der Wunsch geäußert, sich vom restlichen Bosnien-Herzegowina abzuspalten. Daher veranlasste er, dass der 9. Januar als Nationalfeiertag der gleichnamigen Entität eingeführt wird. Dieser ist jedoch nicht verfassungskonform und diskriminiert die nicht-serbischen Völker in Bosnien-Herzegowina. Gerade Hinterbliebene des Srebrenica-Genozids verbinden mit dem 9. Januar 1992 den Beginn ihres Leidensweges. Die Bestrebungen nach einer geopolitischen Neuausrichtung würden angesichts der Tatsache, dass heute noch zwischen allen drei konstituierenden Völkern Bosnien-Herzegowinas, den Bosniaken, Serben und Kroaten, ungelöste nationale Unstimmigkeiten bestehen, höchstwahrscheinlich nicht friedlich verlaufen. Der erzwungene Frieden in Bos-
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nien-Herzegowina kann auch aus diesen Gründen – selbst Jahrzehnte nach dem Krieg – nicht als stabil betrachtet werden.
II. Der Völkermord Die ostbosnische Stadt Srebrenica, die für das Ziel, einen großserbischen Staat zu gründen, von strategischer Bedeutung war, befand sich bereits vor dem 11. Juli 1995 in einem ständigen Belagerungszustand und war Schauplatz eines brutalen Kriegsgeschehens. Im Frühjahr 1992 gelang es der bosnisch-serbischen Armee erstmals die Gemeinde Srebrenica einzunehmen. Unter Naser Orić, dem Kommandeur der Armee der Republik Bosnien-Herzegowina, wurde die Stadt im Mai 1992 jedoch zurückerobert. Es folgten schwere Kämpfe zwischen den beiden Konfliktparteien. Die bosniakischen Einheiten verübten im Zuge der Rückgewinnung des Territoriums Kriegsverbrechen an der serbischen Bevölkerung. Als Reaktion auf die Drohung von den bosnischen Serben, sie würden die Stadt erneut angreifen, erklärte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen Srebrenica und Umgebung am 16. April 1993 als Schutzzone. Mit dem darauf folgenden Einzug von UN-Soldaten beruhigte sich die Lage zwar etwas, blieb aber weiterhin angespannt. In der Zwischenzeit bereiteten die bosnischen Serben ihren Angriff auf Srebrenica vor. Mit der Übernahme des Kommandos der bosnisch-serbischen Truppe in Srebrenica durch General Ratko Mladić verschärfte sich die Situation. Radovan Karadžić, damaliger Präsident der Republika Srpska und militärischer Oberkommandeur der gleichnamigen Armee, erließ am 8. Mai 1995 an die bosnisch-serbische Armee die Direktive 7, in der er sie unter anderem aufforderte, „totale Unsicherheit, Unerträglichkeit und Perspektivlosigkeit“ unter den Bewohnern von Srebrenica zu schüren. Die bosnischen Muslime sollten so stark demoralisiert werden, dass sie keine Hoffnung hegen sollten, zu (über-)leben. Die Direktive 7 zielte darauf, die humanitäre Hilfe massiv einzuschränken, die UN-Truppen personell zu schwächen, ihre Nachschubwege zu blockieren und die Bosniaken aus der Enklave zu vertreiben. Die Anordnung bildete nach Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs für das ehemalige Jugoslawien (International Criminal Tribunal for the former Yugoslavia, ICTY) die Basis für den später verübten Völkermord7 und ist ein Beweis dafür, dass Verbrechen systematisch geplant wurden. Die Folge des Ausbleibens eines Hilfskorridors war, dass ausgezehrte Einwohner von Srebrenica an Hunger und Entkräftung starben. Am 9. Juli 1995 verabschiedete Karadžić eine weitere Anordnung für die Einnahme der Stadt Srebrenica. Unter dem Decknamen Krivaja 95 zog das bosnisch-serbische Drina-Corps, dessen Kommandant der General Radislav Krstić war, am 11. Juli schließlich in Srebrenica ein – ohne auf Gegenwehr zu stoßen.
7 Nettlefield/Wagner, S. 225 ff. Dieses Buch erschien zunächst 1995 auf Englisch und trägt im Original den Titel „Srebrenica in the Aftermath of Genocide“.
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Nunmehr flüchteten mehr als 20.000 Schutzbedürftige in das Dorf Potočari auf das Gelände der niederländischen UN-Truppen. Wasser und Nahrung gab es dort kaum. Von Srebrenica rückte bald die Armee unter Führung des Generals Mladić nach Potočari vor. Auf Videoaufnahmen, aufgenommen von einem serbischen Kameramann, ist zu sehen, wie Mladić den Flüchtlingen immer wieder verkündete, dass sie ihm vertrauen könnten. „Wir werden euch nichts tun“, lauteten seine Worte und die erschöpfte Menge wollte ihm in diesem Moment Glauben schenken. Einige klatschten Beifall und andere riefen ihm besänftigend zu, er sei ein guter Mensch. Zum Täuschungsmanöver gehörte auch das Verteilen von Süßigkeiten durch Mladićs Soldaten an die muslimischen Kinder – dabei lachten und scherzten sie mit ihnen. Hasan Nuhanović, der damalige Dolmetscher der UN-Truppen, berichtete später, er habe die UN-Blauhelme davor gewarnt, dass die Annäherung der bosnischen Serben eine Falle sei. Tage zuvor hatte es bereits einzelne Morde an Bosniaken und Vergewaltigungen von Frauen durch die bosnisch-serbischen Truppen gegeben. Der stellvertretende Kommandant der UN-Blauhelme Major Rob Franken erwiderte ihm jedoch, er habe davon nichts gehört, daher solle er keine Panik unter der Menschenmasse verbreiten. Im UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag gab Franken jedoch zu, er habe trotz allem die Befürchtung gehabt, die Bosniaken könnten von den bosnisch-serbischen Truppen ermordet werden.8 Mladić setzte sich beim Angriff auf die geschützten Gebiete letztlich mühelos durch. Das ohnehin leicht bewaffnete und unterbesetzte niederländische Bataillon leistete keinen militärischen Widerstand gegen die bosnisch-serbischen Truppen. Dabei ist zu betonen, dass den Peacekeepern auch kein Schießbefehl erteilt wurde. Zwar hatte Thomas Karremans am 6. und 8. Juli gefordert, militärisch durch Kampfflugzeuge unterstützt zu werden, um die bosnisch-serbische Armee zum Rückzug zu zwingen, aber diese Hilfe blieb wohl aus strategischen Gründen aus: Frankreich, Großbritannien und die USA beschlossen im Mai 1995 in einer geheimen Absprache, keine Kampfflugzeuge mehr einzusetzen, da zuvor die bosnisch-serbische Armee um die 300 britische und französische Blauhelme als Geiseln genommen hatte. Das Leben dieser Soldaten sollte nicht weiter gefährdet werden, da die bosnischen Serben für den Fall weiterer Bombardierungen ihrer Stützpunkte mit Ermordung der Geiseln drohten. Zudem veröffentlichten sie Aufnahmen von an den Telegraphenmasten angeketteten UN-Soldaten, die um die Welt gingen und für große Empörung sorgten. Die Völkergemeinschaft riskierte nicht nur, ihren Ruf zu verlieren, sondern würde auch das Leben von entsandten Blauhelmsoldaten aufs Spiel setzen, und entschloss sich daher, die bosnischen Serben vorerst nicht weiterhin mit dem Einsatz von Kampfflugzeugen zu provozieren.9
8 Siehe dazu die Reportage des Bayrischen Rundfunks „Die Schatten von Srebrenica – 20 Jahre danach“. 9 Gugger.
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Das Zögern und Taktieren der internationalen Staatengemeinschaft kam den genozidalen Absichten der serbischen und bosnisch-serbischen Akteure sehr entgegen: Karremans handelte mit Mladić ausschließlich den Abzug seiner UN-Soldaten aus. Der charismatische Serbenführer schüchterte Karremans ein, indem er ihm vorwarf, er habe veranlassen wollen, die bosnisch-serbischen Truppen militärisch aus der Luft zum Rückzug zu zwingen. Der UN-Kommandant rechtfertigte sich, indem er ihm erwiderte, dies würde nicht in seiner Entscheidungsmacht liegen.10 Karremans war Mladić in den Verhandlungen augenscheinlich nicht gewachsen. Dem Image der Vereinten Nationen hat es in diesem Sinne massiv geschadet, dass Karremans mit dem mutmaßlichen Kriegsverbrecher mit einem Schnaps angestoßen hatte. All diese Geschehnisse wurden per Kamera festgehalten. Die Bilder sollten als Zeugnis des Siegeszugs der bosnischen Serben in die Geschichte eingehen.11 Dokumentiert wurde auch Mladićs Anordnung an die bosniakischen Zivilisten, die lautete, dass sich Frauen und Kinder, getrennt von ihren männlichen Familienangehörigen, sowie ältere Männer in die Busse begeben sollten. Die UN-Soldaten unterstützten die bosnischen Serben bei dieser Aktion. Frauen, Kinder und Greise wurden daraufhin in zwischen den Fronten gelegene Gebiete zwangsdeportiert. Männer und Jungen dagegen sollten, unter dem Vorwand, man wolle unter ihnen nach Kriegsverbrechern suchen, auf dem Gelände der ehemaligen Batteriefabrik in Potočari bleiben. Dabei wurden die UN-Soldaten Zeugen von Morden, die in und hinter dem Fabrikgebäude durchgeführt wurden. Beim Verlassen des Geländes mussten die Niederländer ihre Waffen abgeben. Die bosnischen Muslime waren nunmehr vollkommen ungeschützt ihrem Schicksal überlassen.12 Der DutchbatKommandant Karremans erklärte rückblickend bei seiner Vernehmung vor dem UN-Kriegsverbrechertribunal, er habe, nachdem er Potočari verließ, nicht daran gedacht, sich nach dem Befinden der muslimischen Bevölkerung zu erkundigen.13 Die todgeweihten Jungen und Männer wurden gefesselt und von den bosnisch-serbischen Soldaten geschlagen. Tausenden Bosniaken gelang es trotz allem kollektiv in die nahegelegenen Wälder zu flüchten; die meisten wurden bei dem Fluchtversuch gefangengenommen, gefoltert oder sofort auf brutale Weise umgebracht. Nur wenigen gelang tatsächlich die Flucht in die von bosnischen Muslimen kontrollierten Gebiete. Am 13. Juli 1995 begannen die bosnisch-serbischen Truppen die systematische Ermordung bosniakischer Jungen und Männer im Alter von 13 bis 78 Jahren – die Hinrichtungen endeten erst am 19. Juli. Mit Lastwagen wurden die Bosniaken in nahegelegene Ortschaften transportiert, in denen sie in der Nacht ermordet wurden. Die Getöteten wurden in Massengräbern verscharrt. Nur wenige angeschos10
Martens.
11 Ebd. 12 13
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sene Männer konnten sich tot stellen, sich von den Handfesseln befreien und dem Ort des Massenmords entfliehen.14 Bis heute wurden nicht alle Opfer des Srebrenica-Massakers gefunden und identifiziert. Die Suche nach den Ermordeten erweist sich für die Internationale Kommission für Vermisste Personen (ICMP) auch deswegen als schwierig, weil die bosnischen Serben – bei ihrem Versuch das Verbrechen zu vertuschen – die Massengräber öffneten, um die Toten in verschiedenen naheliegenden Orten zu verscharren. Aus diesem Grund wurden viele sterbliche Überreste stark beschädigt; zudem befinden sich einige Knochen sowohl in den primären als auch sekundären Gräbern. Das Umbetten von Skeletten fand teilweise auch nach dem Krieg statt. Dieser Zustand erschwert(e) maßgeblich die Suche nach den Opfern und führt mitunter dazu, dass Hinterbliebene immer noch in Ungewissheit leben müssen.
III. Verantwortung der Völkergemeinschaft und die Folgen Am 11. Juli 2015 jährte sich der Tag des Völkermordes in Srebrenica zum 20. Mal. Zu diesem Anlass schrieb der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck an Ćamil Duraković, den Bürgermeister der Stadt Srebrenica, einen Brief, in dem er den Völkermord an der muslimischen Bevölkerung als „ein Symbol für das Versagen der Völkergemeinschaft“15 bezeichnete. Bereits vor ihm hatten verschiedene Politiker das damalige politische Krisenmanagement in Bezug auf den Krieg in Bosnien-Herzegowina und auf die Geschehnisse in Srebrenica als katastrophal gescheitert erklärt. Die Gründe für das Versagen der Internationalen Gemeinschaft waren vielfältig, wie Anette Weerth festhält: Das Hauptproblem war, dass der abnehmenden Kooperationsbereitschaft der Konfliktparteien unzureichende Zwangsbefugnisse der Schutzzonenmacht UNPROFOR gegenüber standen. Diese wären nötig gewesen, um Angriffe abzuwehren, Blockaden der humanitären Konvois aufzuheben und dadurch die Versorgung mit Hilfsgütern und Munition sicherzustellen oder um Schutzkorridore für die Evakuierung der Bevölkerung abzusichern. Das Selbstverteidigungs- und Nothilferecht der UNPROFOR sowie ihre leichte Bewaffnung und geringe Truppenstärke reichten dafür nicht aus. Gleichzeitig nutzte die Staatengemeinschaft aber auch die genehmigten (Zwangs-)Mittel nur unzureichend. Die vom Sicherheitsrat eigens für den Schutz der Schutzzonen autorisierte Truppenverstärkung für die UNPROFOR von 7600 wurde kaum zur Hälfte erreicht. Auch der Einsatz der zur Verfügung stehenden Luftunterstützung durch die NATO wurde durch ein unklares Mandat, komplizierte Abstimmungsverfahren und eine restriktive Handhabung nicht hinreichend genutzt. […] Zudem wird teilweise hinterfragt, ob UNPROFOR ihr Selbstverteidigungsrecht immer voll ausgeschöpft hat.16 Middel. Der Brief ist unter http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Pressemitteilungen/ DE/2015/07/150710-Srebrenica.html einzusehen (letzter Zugriff: 16. 1. 2017). 16 Weerth, S. 111 f.; vgl. auch Jureković, insbesondere S. 161 f. 14
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In diesem Zusammenhang wird die Rolle des niederländischen Dutch-Bataillons in Srebrenica noch immer kontrovers betrachtet: Während einerseits Kritiker von Beihilfe zum Kriegsverbrechen sprechen, wird andererseits oft die Meinung vertreten, die Soldaten wären, gegenüber den militärisch überlegenen bosnischen Serben, in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt gewesen. Ehemalige UN-Soldaten wiederum weisen die Schuld von sich, indem sie beteuern, sie seien damals von der Völkergemeinschaft im Stich gelassen worden. Im April 2002 veröffentlichte das Nationale Institut für Kriegsdokumentation (NIOD) in Den Haag einen Untersuchungsbericht über die damaligen Geschehnisse, in dem es hieß, dass Dutchbat III für das Massaker nicht direkt verantwortlich zu machen sei. Es wäre, so im Bericht weiter, allerdings denkbar gewesen, einen Völkermord zu verhindern, wenn die bosnischen Serben auf Gegenwehr gestoßen wären.17 Angesichts der negativen Ergebnisse des NIOD-Untersuchungsberichts trat die damalige niederländische Regierung unter Ministerpräsident Wim Kok zurück. Trotz der schweren Vorwürfe wurde Karremans im Jahre 2006 in den Niederlanden mit einem Orden für den Einsatz in Srebrenica ausgezeichnet; 500 ehemalige Dutchbat-Soldaten erhielten ein Ehrenkreuz. Der damalige niederländische Verteidigungsminister Henk Kamp erklärte, mit dieser Ehrung erkenne man an, dass die Soldaten „in Srebrenica einen außergewöhnlich schwierigen Auftrag hatten“.18 Dadurch sollte der Ruf der ehemaligen UN-Soldaten wiederhergestellt werden. Weitere 350 eingeladene Blauhelmsoldaten erschienen bei der Zeremonie nicht. Ungefähr die Hälfte von ihnen leidet heute am posttraumatischen Stresssyndrom. Einige von ihnen begingen gar Suizid.19 Die Überlebenden des Völkermordes und ihre Hinterbliebenen empfanden die Auszeichnungen für die UN-Blauhelmsoldaten als verletzend und beschämend. Der Opferverband Mütter von Srebrenica20 forderte daher eine Entschuldigung. Seit Jahrzehnten versuchen die Hinterbliebenen Gerechtigkeit auf verschiedenen gerichtlichen Ebenen zu erlangen und sind bei diesem Vorhaben nur teilweise erfolgreich: In den Jahren 2007 und 2008 scheiterten sie mit einer Klage gegen die Vereinten Nationen und gegen den niederländischen Staat vor dem Landgericht in Den Haag. Während sich die Vereinten Nationen auf ihre Immunität beriefen,21 wurde die Klage gegen die Niederlande unter anderem mit der Begründung abgewiesen, die niederländischen Soldaten hätten unter UN-Befehl gestanden. Erst im Juli 2014 entschied indes das Landgericht in Den Haag, dass der niederländische Staat zivilrechtlich für die Ermordung von 300 Muslimen mitverantwortlich sei, da Weidemann, S. 2. Fetscher. 19 Ebd. 20 Über den Opferverband siehe: http://enklave-srebrenica-zepa.org/ (Letzter Zugriff: 16. 1. 2017). 21 Vgl. dazu bspw. Williams, insbesondere S. 110 f. 17
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sie an ihrer Deportation mitgewirkt hätten, statt ihnen weiterhin Schutz auf dem UN-Gelände zu gewähren. Das Gericht bekräftigte, den UN-Soldaten hätte in dieser Situation bewusst gewesen sein müssen, dass den Bosniaken der Tod drohe.22 Zeitgleich erfahren Angehörige der Opfer des Srebrenica-Massakers eine – wenn auch späte – Gerechtigkeit: Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Jugoslawien und der Internationale Strafgerichtshof haben das Verbrechen von Srebrenica anhand der Beweislage bereits als Völkermord eingestuft. Denn so wie es die UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes von 1948 als Genozid-Straftatbestand beschreibt, wurde das Ziel verfolgt, eine nationale, ethnische bzw. religiöse Gruppe ganz oder teilweise zu vernichten. Bisher wurden 38 Täter vom UN-Kriegsverbrechertribunal und vom Staatsgerichtshof in Sarajevo für die Verbrechen in Srebrenica angeklagt: Slobodan Milošević starb vor der Urteilsverkündung. Radislav Krstić wurde vom UN-Kriegsverbrechertribunal wegen Beihilfe zum Völkermord zu 35 Jahren Haft verurteilt, während gegen Radovan Karadžić im März 2016 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Völkermordes eine vierzigjährige Haftstrafe verhängt wurde. Einer der letzten Angeklagten in Den Haag ist Ratko Mladić. Der ehemalige Armeebefehlshaber hielt sich lange versteckt und wurde erst im Jahre 2011 vor das Jugoslawien-Tribunal gestellt. Das Urteil im Verfahren gegen den mutmaßlichen Kriegsverbrecher wird für Ende 2017 erwartet.23
IV. Erinnern und Gedenken heute Das wirtschaftlich schwach aufgestellte Bosnien-Herzegowina wird auch heute noch wegen der nationalen Spannungen zwischen den dort lebenden Bosniaken, Serben und Kroaten als ein Pulverfass auf dem Balkan empfunden. Statt Versöhnungspolitik in den Fokus zu stellen, nutzen viele Politiker aller drei konstituierenden Nationen den Nationalismus als politische Taktik. Nationalistische Parolen fallen zwar bei der breiten Bevölkerung nicht auf denselben fruchtbaren Boden wie in den 1990ern. Allerdings besteht die Gefahr, dass nationale Auseinandersetzungen erneut entfacht werden könnten: vor allem, weil es in Bosnien-Herzegowina – wie auch in der restlichen Region – bisher nur wenige Bemühungen gab, in einen versöhnungsfördernden Dialog einzutreten und gemeinsam die konfliktgeladene Vergangenheit aufzuarbeiten. Auf dem Westbalkan spitzt sich die Lage derzeit auch deswegen zu, weil verstärkt ein wechselseitiges Vorführen von militärischer Macht, oft begleitet durch nationalistisch konnotierte Rhetorik – unter anderem in der Republika Srpska – stattfindet. Es werden wieder Ängste geschürt, und der überforderte Westen scheint dies zu ignorieren. Themen wie Erinnerungspolitik werden unter diesen angespannten und komplizierten nationalen Verhältnissen in erster Linie dann aus 22 23
Ulrich. Siehe die UN-Dokumente zu Ratko Mladić, außerdem Steinke.
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der Schublade hervorgebracht, wenn sie politisch instrumentalisiert werden können. Ein Schritt zur Völkerverständigung auf dem Balkan wäre jedoch sicherlich getan, wenn der Genozid von Srebrenica nicht bagatellisiert und gar geleugnet werden würde. Eine historische Auseinandersetzung sollte auch mit jenen Kriegsverbrechen gesucht werden, die in den 1990er Jahren seitens kroatischer und bosniakischer Soldaten und Milizen begangen wurden. Allerdings trägt der Völkermord von Srebrenica ein schweres symbolisches Gewicht, und zwar sowohl für die Schrecken des Bosnien-Krieges im Allgemeinen als auch für das Versagen der Internationalen Gemeinschaft, die trotz der historischen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs einen Völkermord – der mitten in Europa verübt wurde – nicht zu verhindern wusste. Trotz dieses Dilemmas wurden verschiedene Wege beschritten, um die Erinnerung an den Genozid von Srebrenica aufrechtzuerhalten und so – womöglich – weitere Verbrechen in Zukunft zu verhindern: Im Jahre 2003 wurden in Potočari ein Gedenkfriedhof und ein Mahnmal für die Opfer und die Hinterbliebenen errichtet. Insbesondere die Vereinigung Mütter von Srebrenica hält die Erinnerung an ihre Söhne, Ehemänner, Väter und Brüder wach und kämpft schon seit über zwei Jahrzehnten für Gerechtigkeit und Anerkennung. Des Weiteren wurde am 15. Januar 2009 mit der Entschließung des Europäischen Parlaments der 11. Juli zum „Tag des Gedenkens an die Opfer des Massakers von Srebrenica“ ernannt. Es sei auch erwähnt, dass die Tragödie von Srebrenica künstlerisch anhand einer eindrucksvollen Skulptur dargestellt wurde, die einen bosniakischen Vater zeigt, der seinen in den Wald geflüchteten Sohn Nermin zu sich ruft und ihm dabei versichert, die bosnisch-serbischen Milizen würden ihnen nichts antun. Der Sohn kehrte tatsächlich zurück und wurde zusammen mit seinem Vater erschossen. Die Skulptur des Künstlers Mensud Kečo trägt den Namen „Nermin, komm zurück“ (Nermine, vrati se) und dient als ein Mahnmal gegen das Vergessen. Sie steht im Großen Park in Sarajevo. Srebrenica ist allerdings bis heute, über 20 Jahre nach dem Genozid, Gegenstand heftiger kontroverser Auseinandersetzungen geblieben, sowohl in Bosnien-Herzegowina und in der Entität Republika Srpska als auch in Serbien.24 Zwar entschuldigte sich im Jahre 2013 der serbische Präsident Tomislav Nikolić, der in der Milošević-Regierung Vizeministerpräsident war, für das Massaker an den Muslimen und auch Milorad Dodik erwies in Srebrenica den Opfern Ehre, indem er die Gedenkstätte besuchte – das Wort Genozid aber mieden bisher alle serbischen Politiker. Selbst das Belgrader Parlament verzichtete in einer im Jahre 2010 verabschiedeten Deklaration zu Srebrenica auf das Wort „Genozid“ und sprach stattdessen vom Verbrechen an der muslimischen Bevölkerung. Alle Parteien der Republika Srpska verurteilten indes dieses politische Zeichen der Versöhnung aus dem Grund, dass 24
Dazu mehr bei Govedarica, S. 216 ff.
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serbische Opfer in der Deklaration nicht erwähnt wurden. Sie vertrete daher nicht die Interessen des serbischen Volkes. Milorad Dodik bestreitet zwar das Massaker per se nicht, aber er erkennt es auch nicht als Genozid an. Im Jahre 2010 erklärte er in einem Interview, geführt von dem Journalisten Wieland Schneider, seine Auffassung: Ich wünschte, Srebrenica wäre nie passiert. Es war ein grausames Verbrechen. Alle, die daran beteiligt waren, müssen vor Gericht. Aber es war die Kulmination dessen, was in diesem Gebiet in den Jahren davor geschehen ist […].
Und weiter: Es war ein Verbrechen, aber kein Genozid, denn Frauen und Kinder wurden nicht umgebracht. Es ist eine große Last, aber es kann keine Kollektivschuld für die Serben geben.25
Sowohl Dodik als auch der damalige Ministerpräsident Serbiens, Aleksandar Vučić, befürchteten, dass der serbischen Nation durch die Verwendung des Begriffs „Genozid“ bzw. „Völkermord“ eine Kollektivschuld zugewiesen26 und dass dadurch die Generalisierung der Serben als „Kriegstreiber“ zementiert werde. Ferner akzeptiert Dodik nicht die Opferzahl von über 8.000 Menschen, sondern beziffert die Ermordeten auf etwa 3.500 Männer und Jungen, mit der Intention, die Schwere des Verbrechens herunterzuspielen und die Srebrenica-Opfer gegen die bosnisch-serbischen Opfer aufzuwiegen. In seiner Argumentation lässt er jedoch aus, dass dieser Völkermord von den Akteuren systematisch und von langer Hand geplant wurde. Radovan Karadžić äußerte in einem Interview mit der Zeit ebenfalls, dass die Zahl der ermordeten Bosniaken in Srebrenica zu hoch sei. Seiner Auffassung nach kam ein Teil der Zivilisten nicht im Zuge der Massenexekution ums Leben, sondern beim Gefecht gegen die bosnischen Serben vor oder während der Eroberung Srebrenicas.27 So argumentierend, versucht er den Opfern den Status der schutzlosen Zivilisten zu nehmen und verleiht ihnen stattdessen die Rolle der Kombattanten. Diese Anschuldigung ist jedoch nicht zutreffend. Mit der Bagatellisierung des Verbrechens stehen damalige und heutige Repräsentanten der Republika Srpska nicht allein. Auch Serbien scheute sich, wie bereits erwähnt, das Verbrechen beim Namen zu nennen. So bat Serbien seinen traditionellen Bündnispartner Russland um Hilfe, als im April 2015 eine durch Großbritannien entworfene Resolution des UN-Sicherheitsrates, die das Wort „Genozid“ enthielt, verabschiedet werden sollte. Russland legte als einziges Land ein Veto ein. Zehn Länder stimmten für die Resolution; vier enthielten sich. Durch das Veto konnte die Resolution letztendlich nicht verabschiedet werden. Drei Monate später erschien Aleksandar Vučić, nach langem Zögern, auf der Gedenkfeier in Potočari. Er trug sich ins Gedenkbuch ein und legte vor dem MahnSchneider. Roser. 27 Willeke. 25
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mal einen Kranz nieder. Die Mütter von Srebrenica steckten ihm eine weiß-grün gestickte Blume an, die das Symbol dieses Völkermordes ist. Viele Bosniaken empfanden die Anwesenheit des früheren radikalen Nationalisten allerdings als eine Provokation. Auf einem riesigen Plakat schrieben Demonstranten die Worte nieder, die Vučić am 20. Juli 1995 im Belgrader Parlament sagte, und zwar, dass für jeden toten Serben 100 Muslime getötet werden sollten. Nach dem offiziellen Rundgang wurde der Premierminister von aufgebrachten Demonstranten mit Steinen und Flaschen beworfen. Ein Gegenstand traf ihn letztlich am Kopf. Die gesamte serbische Delegation musste die Gedenkfeier aus Sicherheitsgründen verlassen.28 Trotz des Angriffes auf seine Person reagierte der serbische Premierminister, der sein Land bis 2020 zum EU-Mitglied machen möchte, versöhnlich und beteuerte auf der Sondersitzung seiner Regierung: „Meine Hand bleibt gegenüber den Bosniern weiter ausgestreckt.“29 Darüber hinaus überwies er, als Zeichen der Aussöhnung, eine hohe Spende an den Opferverband Mütter von Srebrenica. Doch die konstante Vermeidung des Begriffs „Genozid“ vonseiten einiger serbischer Politiker veranlasste die Mütter von Srebrenica ein Jahr später dazu, einen offenen Brief an Aleksandar Vučić zu schreiben, in dem sie ihm klar mitteilten: Wir, Mütter von Srebrenica, richten den serbischen Regierungen aus: Jeder, der den Genozid in Srebrenica leugnet, ist in Potočari am 11. Juli unerwünscht. Dies ist unsere Entscheidung und niemand hat das Recht sich hier einzumischen.30
2016 erschien der serbische Premierminister nicht auf der Gedenkfeier. Jahrelang schon kämpfen die Hinterbliebenen der Opfer für die Anerkennung des Völkermords. Die Leugnung des Genozids empfinden sie als besonders schmerzlich. So erklärte Magbula Divović vom Opferverband der Mütter von Srebrenica: Die Lüge ist schlimmer als der Genozid. Nach zwanzig Jahren habe ich mein Kind immer noch nicht gefunden. So geht es noch vielen Familien, die sich nur wünschen, ihre Toten zu begraben, ihnen einen Grabstein aufzustellen und um sie zu trauern. Wie lange soll das noch gehen?31
Solange verurteilten Kriegsverbrechern, wie etwa Radovan Karadžić in der Republika Srpska, als Nationalhelden gehuldigt wird, bleibt die Festigung des Versöhnungsprozesses zwischen Serben und bosnischen Muslimen unmöglich.32 Daran kann sich auch nichts ändern, solange das Verbrechen bagatellisiert wird Ernst. Wölfl. 30 Der Brief wurde am 30. Juni 2016 unter anderem hier veröffentlicht: N1 Sarajevo, Otvoreno pismo majki Srebrenice Aleksandru Vučiću [Offener Brief der Mütter von Srebrenica an Aleksandar Vučić] http://rs.n1info.com/a173059/Svet/Region/Majke-Srebrenice-pisaleAleksandru-Vucicu.html (letzter Zugriff: 16. 1. 2017). 31 Buzić. 32 Hassel. 28 29
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und Opfergruppen gegeneinander ausgespielt werden. Politiker sind es den Opfern und den Hinterbliebenen schuldig, den Völkermord auch als solchen zu benennen. Darüber hinaus kann der Friedensprozess auf dem Balkan gestärkt werden, wenn sich die jeweiligen ehemaligen Kriegsparteien die von ihnen begangenen Verbrechen eingestehen und sich bei den betroffenen Volksgruppen für das ihnen im bewaffneten Konflikt zugefügte Leid entschuldigen. Die Erinnerung an die Opfer aufrechtzuerhalten und die Geschichte des Bosnien- bzw. Jugoslawien-Krieges aufzuarbeiten, sollte gewiss nicht Nationalisten und polemisierenden Politikern überlassen werden. Dieser Herausforderung sollten sich auch weiterhin in erster Linie unabhängige Historiker, Intellektuelle und die Zivilgesellschaft aus dem Raum des ehemaligen Jugoslawiens stellen.
Perspektiven in der Täterforschung
Wie können Menschen so etwas tun? Kriminologische Aspekte der Täterforschung Von Frank Neubacher Frank Neubacher Wie können Menschen so etwas tun? Kriminologische Aspekte der Täterforschung
I. „Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner …“ Natürlich sind es Menschen und keine Bestien oder Monster, die schreckliche Verbrechen begehen. Das ist im Privaten nicht anders als beim Handeln im Kollektiv, in staatlichem Auftrag oder in Uniform. Diese Erfahrung haben Schriftsteller, Historiker, Philosophen im 20. Jahrhundert immer wieder thematisiert. Christopher Browning gab seiner Studie über die Beteiligung eines Hamburger Polizei-Reservebataillons an Massenexekutionen während des Zweiten Weltkriegs den programmatischen Titel Ordinary Men.1 Hannah Arendt wandte sich mit ihrem Diktum von der „Banalität des Bösen“2 gegen den Reflex, die Täter des Holocausts ins Dämonisch-Größenhafte zu überhöhen. Die „Banalität des Bösen“ war bei ihr als Gegenbegriff zum „radikal Bösen“ entstanden und sollte die Unwilligkeit beziehungsweise Unfähigkeit der Täter, sich die Konsequenzen des eigenen Tuns klar zu machen, in den Vordergrund rücken. Ihrer Entlastung hat Arendt nie das Wort geredet, aber sie wollte zeigen, dass „das Böse“ in der ungelenken Gestalt eines bürokratischen Referatsleiters aus dem Reichssicherheitshauptamt der SS aufgetreten war. Und Max Frisch fasste die Irritationen 1950 in die Worte: „Zu den entscheidenden Erfahrungen, die unsere Generation, geboren in diesem Jahrhundert, aber erzogen noch im Geiste des vorigen, besonders während des zweiten Weltkrieges hat machen können, gehört wohl die, daß Menschen, die voll sind von jener Kultur, Kenner, die sich mit Geist und Inbrunst unterhalten können über Bach, Händel, Mozart, Beethoven, Bruckner, ohne weiteres auch als Schlächter auftreten können; beides in gleicher Person.“3
Nehmen wir also, auch wenn es schwerfallen mag, die Dinge wie sie sind, und weisen sie durch die Rede von „Monstern“ und „Bestien“ nicht weit von uns. Der menschlichen Neigung, sich nichts Schlechtes zuzuschreiben, hat Stanley Milgram in den 1960er Jahren einen weiteren Schlag versetzt, indem er nachwies, Browning (1999). Arendt (1964). 3 Frisch, S. 287. 1 2
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dass ganz normale, durchschnittlich moralische Menschen, die mit Verstand und Gewissen ausgestattet sind, in großer Zahl, nämlich zu fast zwei Dritteln, durch die Befehle einer Autorität dazu gebracht werden können, andere Menschen, die sie nicht kennen und denen gegenüber sie keinen Groll hegen, zu quälen und sogar zu töten.4 Mit seinen Versuchen ging es Milgram, der Familienangehörige im Holocaust verloren hatte, unter anderem um die Frage, ob solche Verbrechen auch anderenorts verübt werden könnten. Viele Menschen scheinen also – unter gewissen Bedingungen – zum Schlimmsten fähig zu sein. Vor diesem Hintergrund muss die Frage, wer denn, gewissermaßen ausnahmsweise, als Täter in Betracht kommt und woran diese Täter erkennbar seien, zurücktreten und der eigentlichen Frage Platz machen, wie und unter welchen Umständen es möglich (gemacht) wird, dass gewöhnliche, psychisch gesunde Menschen in Massen zu Tätern werden. Auf diese scheinbar schlichte Frage gibt es keine einfache Antwort, und ich nehme für die Kriminologie nicht in Anspruch, das Unfassbare vollends erklären zu können. Eine Wissenschaft vom Verbrechen sollte sich aber auch nicht davor drücken, nach Teilstücken einer Erklärung für den größten Massenmord zu forschen. Keine Option kann es sein, vor dem Massenmord zu verstummen, weil das zur Mystifizierung des Geschehenen beitragen würde.
II. Das Problem – kriminologisch betrachtet Die Kriminologie ist eine interdisziplinäre Sozialwissenschaft, die sich, in Kontinentaleuropa vor allem an Rechtswissenschaftlichen Fakultäten beheimatet, mit abweichendem Verhalten und den gesellschaftlichen Reaktionen darauf befasst. Beim Thema Genozid ist sie noch nicht weit gekommen. Hierzu ist mit Recht kritisch angemerkt worden: „It took criminology a long time to address some of its most important topics, for example white-collar crime. It took criminology even longer to confront its more deadly neglected topics, namely genocide, war crimes, and crimes against humanity.“5 Inzwischen gibt es tastende Versuche, aber noch keine kriminologische Theorie des Genozids.6 Überhaupt hat sich die Kriminologie erst spät für die Sozialwissenschaften geöffnet. Theoretische Engführungen, nicht zuletzt ein kriminalbiologisches Erbe, haben sie lange überschattet. Und sie ist selbst beteiligt gewesen an der Konstruktion des Andersartigen, des „geborenen Verbrechers“ (Lombroso), des Kriminellen als „Volksfeindes“, des „rassisch Minderwertigen“ – also an jenen kriminalbiologischen Typisierungen, die ihren Anteil an dem Vernichtungswerk haben. In dem Widerwillen, mit „dem Bösen“ hinter der Fassade des Biedermannes zu rechnen, wirkt vielleicht dieser kriminalbiologische 4 Vgl. Milgram sowie die Replikationsstudie Burger; zum Ganzen Neubacher (2014), S. 113 ff.; Neubacher/Walter, S. 43 ff. 5 Hagan/Rymond-Richmond, Criminology, S. 503. 6 Zu den ersten Schritten s. Hagan/Rymond-Richmond, Darfur; Alvarez; Rafter.
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Glaube fort, den „geborenen Verbrecher“ an Äußerlichkeiten erkennen zu können.7 Wissenschaftlich ist das längst überholt. Kriminologiegeschichtlich folgte bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts ein typologisierendes Denken, mit dem die tonangebenden Juristen und Psychiater nach Abnormitäten und Tätertypen suchten, die das Verbrechen als Folge individueller Defizite zu erklären schienen. Die Öffnung zu den Sozialwissenschaften bewirkte erst in den 1970er Jahren einen tiefreichenden Bruch zwischen der „alten“ und einer „neuen“, sozialwissenschaftlich orientierten Kriminologie. Wer um diese Entwicklung weiß, wird die Skepsis gegenüber Täter-Typologien in der Kriminalwissenschaft nachvollziehen können. Für das Völkerstrafrecht ist vor einigen Jahren von Alette Smeulers eine Typologie vorgelegt worden, mit der die Disziplinen Völkerstrafrecht und Kriminologie einander nähergebracht werden sollen. Damit will sie nicht in Abrede stellen, dass die Täter solcher Verbrechen in der Regel normale, an sich gesetzestreue Menschen sind,8 und unterscheidet folgende Typen: „the criminal mastermind“, „the fanatic“, „the criminal/the sadist“, „the profiteer“, „the careerist“, „the devoted warrior“, „followers and conformists“, „the compromised perpetrator“ sowie „the professional“.9 Wie gesagt, soll damit nicht hinter sozialwissenschaftliche Erkenntnisse zurückgegangen werden. Aber was ist mit einer solchen Typologie gewonnen? Das Bewusstsein, dass es unterschiedliche Rollen und Motive geben kann? Hierfür ist eine Typologie, die stets den Eindruck vermittelt, ein Phänomen sei geordnet worden, nicht erforderlich. Der Eindruck eines Ordnungssystems ist außerdem trügerisch. Gibt es nicht noch weitere Typen? Und kann ein und dieselbe Person auch unter verschiedene Typen kategorisiert werden? Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, den heuristischen Wert von Typologien in der Sozialwissenschaft generell zu bestreiten. Typologien können das Verständnis von Phänomenen befördern, wenn sie von empirischen Daten ausgehen und nicht „freihändig“ entwickelt worden sind, aber sie suggerieren auch eine Scheinexaktheit. Insbesondere bei Tätern von Staatskriminalität lenken Typologien das Augenmerk auf die individuelle Ebene und führen vom System weg – ganz so, als seien letztlich doch individuelle Motive ausschlaggebend. In einer Situation werden konkrete Verhaltenserwartungen aber nicht zufällig an ein Individuum herangetragen; vielfach werden sie sich schon aus der sozialen Rolle ergeben (z. B. als Soldat). Rollen organisieren damit Verhaltenserwartungen, aber sie schließen individuelle Motive nicht aus. So sind vom Exzesstäter über begierige Mitläufer, Gedankenlose und Widerwillige bis hin zu jenen, die sich der Situation entziehen oder offen Widerstand leisten, viele Motive und Verhaltensweisen möglich. Weil die konkreten Verhaltenserwartungen in einer Situation oft als stark erlebt werden, bleibt sogar Raum für so banal erscheinende Überlegungen wie z. B. „die anderen nicht alleine zu lassen“ oder „wie hätte ich sonst dagestan7 Im Folgenden greife ich auf Gedanken zurück, die ich als Neubacher (2015) veröffentlicht habe. 8 So Smeulers in Smeulers/Haveman, S. 233 f. 9 Ebd., S. 244 – 260.
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den?“. Die individuelle (auch strafrechtliche) Verantwortlichkeit wird hierdurch nicht ausgeschlossen. Denn diese ist in vielen Abstufungen denkbar (und nicht nur ganz oder gar nicht). Außerdem kann das Maß der Schuld davon abhängig gemacht werden, dass man sich – trotz erkennbarer Verhaltenserwartungen, also sehenden Auges – bestimmten Gruppen oder Organisationen angeschlossen hat. Es ist allerdings daran zu erinnern, dass trotz des im Milgram-Experiment aufgebauten Handlungsdrucks rund ein Drittel der Versuchspersonen letztlich nicht gehorsam waren. Es geht in aller Regel also nicht um Situationen, in denen tatsächlich keine Handlungsalternative bestand. Aber subjektive Einschätzungen bzw. Erwartungen sind mächtige handlungsleitende Annahmen (Thomas-Theorem). Selbst wenn Akteure ihre Lage nur als alternativ- und ausweglos empfinden, handeln sie auf dieser Grundlage so, dass die Annahmen in ihren Konsequenzen real sind. Im Nachhinein werden die Handlungen dann mit objektiv zwingenden Umständen (z. B. Befehlsnotstand) erklärt. Im Falle der während des Zweiten Weltkriegs verübten Verbrechen hielten solche Behauptungen einer näheren Überprüfung nicht stand. Unter hunderten von Fällen, die die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg untersuchte, ließ sich nicht ein einziger Fall nachweisen, in dem ein Militärangehöriger, der die Ausführung eines verbrecherischen Befehls ablehnte, selbst exekutiert oder ernsthaft bestraft worden wäre, z. B. durch Todesurteil, Erschießung oder Einweisung in ein Konzentrationslager.10 Soweit Befehlsverweigerer Nachteile hinnehmen mussten, handelte es sich überwiegend um Versetzungen an die Front, Rügen und – im Falle von Offizieren – auch um Degradierungen. Allerdings zogen Verweigerungen oder Ausflüchte in beträchtlichem Maße keine nachteiligen Folgen nach sich;11 manchmal stellten sich Vorgesetzte, die Befehle von oben selbst als Zumutung empfanden, schützend vor ihre Untergebenen. Aus kriminologischer Perspektive besteht die besondere Problematik staatlicher Großverbrechen12 darin, dass die Verantwortlichen, in der Regel hohe Funktionäre bzw. die „Spitzen des Staats“, nicht den üblichen Vorstellungen von einem „Kriminellen“ entsprechen und sich offensiv verteidigen, indem sie (wahlweise oder auch in dieser Reihenfolge) das Geschehen leugnen, es formaljuristisch begründen oder politisch rechtfertigen. Entscheidend dürfte aber sein, dass die Verhaltensweisen nicht in Abweichung, sondern in systemkonformer Übereinstimmung mit den Verhaltenserwartungen des Kollektivs erfolgt sind. Wo Abweichung normal ist, wo sie gewissermaßen zur Norm wird, ist das Verbrechen schwer auszumachen. Das Problem besteht also in Form einer kollektiven „Sehbehinderung“, einer fehlenden Sensibilität für die Unrechtmäßigkeit des kollektiven Vorgehens, die nach 10 Schreiber, S. 48 m. w. N.; Jäger (1962), S. 79. Einzelfälle, zu denen keine Dokumente vorliegen, sind freilich nicht auszuschließen. Vor dem Jugoslawien-Gerichtshof der Vereinten Nationen wurde 1996 das Vorbringen des Angeklagten Erdemović, es habe ein Befehlsnotstand vorgelegen, nicht widerlegt. 11 Jäger (1967), S. 94 ff. und S. 120 – 122; Browning (1999), S. 87 f. 12 Vgl. Reese; Jäger (1989).
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einem Systemwechsel nicht einfach verschwindet, sondern bestenfalls allmählich verblasst.
III. Erklärungsansätze Nun wäre es unangemessen alle Massenverbrechen über einen Kamm zu scheren und vom Holocaust über die Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien bis hin zum Genozid in Ruanda mit denselben Erklärungsansätzen rückstandslos erklären zu wollen. Dafür sind die jeweiligen historischen Ereignisse zu unterschiedlich. Die Singularität der Vernichtung der europäischen Juden im Holocaust wird indes nicht dadurch geleugnet, dass man in diesem wie in anderen Verbrechen bestimmte soziale und sozialpsychologische Prozesse bzw. Mechanismen wirken sieht. Von diesen soll hier die Rede sein. Dabei schließe ich daran an, dass die kriminologische Suche nach individuellen Abnormitäten bzw. Pathologien, die das Gesamtgeschehen erklären könnten, erfolglos verlaufen ist. Primo Levi, Überlebender von Auschwitz, hat insofern den Nagel auf den Kopf getroffen: „Es gibt die Ungeheuer, aber sie sind zu wenig, als dass sie wirklich gefährlich werden könnten. Wer gefährlicher ist, das sind die normalen Menschen.“13 Gerade am Beispiel politisch motivierter Staatskriminalität bestätigt sich der Eindruck, nicht der Einzelne, sondern die Situation, in die er sich gestellt sieht, mache den Unterschied. Dabei treffen drei Ebenen aufeinander, die im Wege einer Mehrebenen-Betrachtung in den Blick zu nehmen sind: die gesellschaftliche Makroebene (System), die Meso- bzw. Zwischenebene (Gruppe) und die Mikroebene (Individuum).14 So kann ein Akteur in einer Entscheidungssituation beispielsweise durch politische Propaganda beeinflusst werden, die in seinem Umfeld (Gruppe) begierig aufgenommen wird, aber von der Makroebene herrührt. Ausgangspunkt ist mithin die Makroebene und nicht (wie es Typologien nahelegen) das Individuum. In der Kriminologie macht gegenwärtig die „Situational Action Theory“ von sich reden, in die sich diese Überlegungen mühelos einordnen lassen.15 Sie stellt im Hinblick auf einen komplex konzipierten Wahrnehmungs- und Entscheidungsprozess u. a. auf Einflüsse des moral environment auf die Entscheidungssituation ab, womit auch Beeinflussungen durch „peergroups“ gemeint sind.16 Erklärungsansätze haben also von der gesellschaftlichen Makroebene und dem jeweiligen politischen Kontext auszugehen. Dort werden Menschen oder Gruppen zu Staatsfeinden erklärt, dort werden Handlungsnotwendigkeiten suggeriert und Zit. nach Welzer, S. 12. Coleman, S. 6 ff.; Lüdemann/Ohlemacher, S. 18 ff.; Rafter, S. 20 ff. sowie S. 54 ff., S 80 ff. und S 106 ff. 15 Wikström, der Begründer der SAT, bezieht sich ausdrücklich auf Coleman. Vgl. Neubacher, S. 489; zur SAT am Beispiel von Staatskriminalität s. Drenkhahn. 16 Vgl. Wikström, S. 87: „SAT proposes that a setting’s criminogeneity depends on its moral context, which involves the moral norms of the environment and personal morals of significant others present (such as peers).“ 13
14 Vgl.
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Situationsdefinitionen „von oben“ vorgegeben. Auf die Handlungssituation bezogene Deutungsmuster einschließlich Neutralisationstechniken werden dem Einzelnen propagandistisch zur Übernahme angeboten und strukturieren gegenwärtige und künftige (Handlungs-)Situationen vor, in die der Einzelne gestellt ist. Es scheint, als ob Menschen zu fast allem gebracht werden können, wenn man ihnen dafür einen „guten Grund“ nennt und ihnen (scheinbar) die Verantwortung abnimmt. Handlungssituationen sind in diesem Sinne nicht seinsmäßig vorgegeben; ihre Bedeutung wird kommunikativ hergestellt.17 Man kann das als „Frame“ (Esser), als „Referenzrahmen“ (Welzer) oder „framing process“ bzw. als „cultural frame“ (Hagan) bezeichnen. Dabei definiert Framing die Situation „auf doppelte Weise: durch die zuspitzende Selektion eines dominierenden Rahmens und durch die Festlegung des Akteurs auf diesen Rahmen dadurch, daß der Rahmen dem Akteur subjektiv ganz selbstverständlich erscheint.“18 Diese Rahmung sowie die tatsächliche Praxis einer Gruppe, der der Täter angehört, sind es, und weniger Einstellungen oder Disposi tionen des Einzelnen, die selbst extreme Gewaltformen erklären.19 Kurzum: Vertikal richtet man sich an Autoritäten aus, horizontal an der Gruppe. Sozialwissenschaftlich erscheint Gewalt also als organisierbar.20 Es gehört zum „Handwerkszeug“ krimineller Machthaber, Prozesse der Autorisierung, Routinisierung21 und Dehumanisierung in Gang zu setzen und sich zu Nutze zu machen. Wenn eine Anordnung von mehreren Personen arbeitsteilig und wiederholt erfüllt wird, wird sich niemand alleine für das ganze Werk verantwortlich fühlen; vor allem aber hat die Wiederholung zur Folge, dass sich der Fokus der Aufmerksamkeit mit zunehmender Dauer von grundsätzlichen Fragen nach richtig oder falsch zu moralisch irrelevanten Details des Handlungsablaufs verschiebt, die die „Tötungsarbeit“ optimieren sollen.22 Das Töten vieler Menschen wird so als Aufgabe angegangen, die mehr oder weniger effektiv verrichtet werden kann. Zum Beispiel hat ein Täter des Genozids in Ruanda gesagt: „I would teach the people in the group how to kill, and how to kill people without too much noise. I taught them how to be clever in the killings“.23 Das Gewissen wird durch Routinisierung regelrecht betäubt – ein Vorgang, den sich militärische Systeme durch das beständige Ein üben von Abläufen (Drill) zunutze machen. Tatsächlich ist zu beobachten, dass für Soldaten in vielen Situationen vor allem relevant ist, was von ihnen erwartet wird und was die anderen machen, während rechtliche Normen weitgehend ausgeblendet werden.24 Routinisierung minimiert also die Gelegenheiten, Fragen der moraliNeubacher (2014), S. 172. Esser, S. 17. 19 Neitzel/Welzer, S. 16 ff. und S 394 bzw. Hagan/Rymond-Richmond, Darfur, S. 119. 20 Kühl (2014). 21 Dazu Kelman, S. 38 ff. 22 Welzer, S. 86 (129 f.) spricht von „instrumentelle[r] Rationalität“. 23 Smeulers/Hoex, S. 450. 24 Vgl. Neitzel/Welzer, S. 117 und S. 193. 17
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schen Verantwortung aufzuwerfen, und führt zu einem Einschleifen der vorgegebenen Situationsdefinition. Der Umstand, dass nationalsozialistischer Rassenwahn in Deutschland zur Einrichtung von Konzentrations- und Vernichtungslagern führte, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Vernichtungswerk geplant und in bürokratischer Manier ausgeführt wurde. Für Konzentrationslager galten schriftlich fixierte Lagerordnungen. In gewissem Sinne hatte also selbst der Irrsinn noch seine bürokratischen Regeln und war rational organisiert.25 Für Täter und Teilnehmer an den Verbrechen war das ein bedeutsamer Umstand. Denn daraus erwuchs der Anschein einer regelhaften, ordnungsgemäßen Normalität, die, weil sie geregelt war, nicht Unrecht sein konnte.
IV. Neutralisierungen: Himmlers Posener Rede vom 4. 10. 1943 Im wissenschaftlichen Schrifttum sind verschiedene Strategien benannt worden, die politische oder militärische Führungen zur Überwindung von Tötungshemmungen einsetzen, etwa das Schaffen räumlicher Distanz, Anordnungen einer Autorität, der Gruppendruck und die Degradierung der Opfer.26 Am Beispiel der von Browning beschriebenen Massenerschießungen ist auch die „organisierte Plötzlichkeit“27 als „Dominanztechnik“ beschrieben worden, die anfängliche Hemmungen und emotionale Widerstände zu überwinden half. Es liegt nicht fern anzunehmen, dass dort, wo es politisch um das große Ganze geht, auch rhetorisch „schweres Geschütz“ aufgefahren wird. Da muss „der Feind“ scheinbar mit allen Mitteln bekämpft werden („der Zweck heiligt die Mittel“). Es werden übergeordnete Gründe beschworen (z. B. „Verteidigung von Volk und Heimat“), die Opfer verleumdet oder die eigene Verantwortung minimiert, indem sie auf andere abgewälzt wird. Zum Schluss dieses Beitrags sollen diese Gedanken mit Hilfe der allgemeinen kriminologischen Theorie der Neutralisierungstechniken erläutert und zugleich systematisiert werden. Sykes und Matza gingen davon aus, dass zu einem kriminellen Verhalten, welches erlernt werde, nicht nur praktische Fertigkeiten gehören, sondern auch Motive und Rationalisierungen, die die Begehung des Verbrechens begünstigen. Sie hielten „den Kriminellen“ nicht etwa für einen besonderen Typus Mensch, der von den anderen, den „gesetzestreuen“ grundsätzlich unterscheidbar wäre. Sie nahmen an, dass der Delinquent die Normen im Allgemeinen anerkenne und nur gelernt habe, sie in bestimmten Fällen bzw. Situationen außer Kraft zu setzen, also ihre Wirkung gewissermaßen zu neutralisieren. Im Einzelnen unterschieden sie fünf Techniken der Neutralisierung: das Leugnen der Verantwortung („I didn’t mean it“), das Leugnen des Unrechts („I didn’t really hurt anybody“), das Leugnen des Opfers („they had it coming to Sofsky, S. 131 ff. Kühl, S. 204 ff. 27 Hoebel, S. 452. 25 Vgl.
26 Zusammenfassend
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them“), die Verdammung der Verdammenden („everybody’s picking on me“) und die Anrufung höherer Verbindlichkeiten („I did not do it for myself“).28 Nun ist diese Theorie nicht für politisch motivierte Kriminalität entwickelt worden, doch das Beispiel der berüchtigten Rede Heinrich Himmlers vom 4. 10. 1943, in der er die Ermordung der europäischen Juden vor SS-Gruppenführern in Posen rechtfertigte, illustriert, dass sie darauf ohne Weiteres angewendet werden kann.29 Denn es lassen sich dort alle fünf Neutralisierungstechniken nachweisen. Die Rechtfertigung des Vernichtungswerks, über das ganz offen gesprochen wird („Von euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen“), gipfelt in dem Satz: „Wir hatten das moralische Recht, wir hatten die Pflicht gegenüber unserem Volk, dieses Volk, das uns umbringen wollte, umzubringen.“ Hier wird, auf der Makroebene des Politischen, an den Frames und Neutralisierungstechniken gearbeitet, die dem Einzelnen angeboten werden, damit er sie in sein Rechtfertigungsrepertoire übernehmen kann. Vieles an Himmlers Rede ist verstörend, etwa die brutale Sprache oder dass er ein positives Selbstbild der SS aufrechterhält („anständig geblieben zu sein“). Am meisten fällt aber auf, dass die Neutralisierungen zu einer Verkehrung der Täter- und Opferrollen führen. Die ermordeten Juden – Männer, Frauen, Kinder – werden dehumanisiert („Geheimsaboteure“, „Agitatoren und Hetzer“, „Bazillus“), während die versammelten SS-Gruppenführer als eigentliche Opfer erscheinen, die die Lasten der „Ausrottung des jüdischen Volkes“ tragen („dies durchgehalten zu haben“), ohne dafür öffentliche Anerkennung zu erhalten.
28
Sykes/Matza.
29 Dazu Neubacher (2008); ferner Alvarez, S. 115 ff. sowie Rafter, S. 112, die die Theorie
der Neutralisierungstechniken ebenfalls auf Genozide anwenden.
Zur Rolle von Organisationen im Holocaust Warum sich Hunderttausende von Deutschen an der Deportation und Ermordung von Juden beteiligt haben1 Von Stefan Kühl Stefan Kühl Zur Rolle von Organisationen im Holocaust. Warum sich Hunderttausende von Deutschen an der Deportation und Ermordung von Juden beteiligt haben
Massentötungen scheinen zur „Normalität“ der modernen Gesellschaft zu gehören. Man denke nur an die Genozide im Rahmen der Kolonialisierung über die stalinistischen Säuberungen in der Sowjetunion bis hin zu den durch den Islamischen Staat (IS) verübten Massakern im Irak und in Syrien. Aber kein Genozid hat die Menschheit bisher so fassungslos zurückgelassen wie der Holocaust, die Ermordung von sechs Millionen jüdischer Frauen, Männer und Kinder während des Zweiten Weltkrieges. Angesichts des Grauens und der Dimension des Verbrechens ist das Bedürfnis nach einfachen Antworten sehr wohl nachvollziehbar. In der Tat hätte es etwas Erleichterndes, wenn man die Ghettoliquidierungen, die Massenerschießungen und die Vergasungen in den Vernichtungslagern auf besetztem polnischen Gebiet dadurch erklären könnte, dass die Täter von Adolf Hitler verführt wurden, einem besonders brutalen Menschenschlag angehörten oder dass sie sämtlich eliminatorische Antisemiten waren, die aufgrund eines in der deutschen Kultur tief verwurzelten Hasses gegen Juden quasi zwangsläufig zu „Hitlers willigen Vollstreckern“ werden mussten. Aus wissenschaftlicher Perspektive stößt eine solche Personalisierung der Verantwortung aber schnell an ihre Grenzen. Zweifellos wurde der Nationalsozialismus von einem Großteil der deutschen Bevölkerung begrüßt, zweifellos gab es in den Polizeitruppen und den Konzentrationslagern Personen, die ihren Job als Möglichkeit sahen, einen tief sitzenden Sadismus auszuleben, und zweifellos gab es unter den überzeugten Antisemiten in Deutschland manche, die auch eine „Ausrottung“ der jüdischen Bevölkerung aktiv propagierten. Das Überraschende bleibt hingegen, dass an den Massentötungen viele Personen beteiligt waren, an denen vor Beginn des Zweiten Weltkrieges ein solch mörderisches Verhalten oder eine entsprechende Gesinnung nicht beobachtet wurde und nach dem Zweiten Weltkrieg auch nie wieder beobachtet wurde. Weswegen also – so eine der ganz zentralen Fragen in der Holocaustforschung – waren „ganz normale Männer“, „ganz normale Deutsche“ bereit, Hunderte, ja 1 Dieser Artikel basiert auf dem ersten und sechsten Kapitel meines Buches „Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust“ (Frankfurt am Main 2014).
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manchmal Tausende von Männern, Frauen und Kindern zu demütigen, zu quälen und zu töten?
I. „Ganz normale Männer“ und „ganz normale Deutsche“ Eine der wichtigsten Fragen in der bisherigen Forschung ist, in welchem spezifischen Sinne diese Männer „normal“ waren. Waren es – so die Zusammenfassung der bisherigen Debatte in einer einzigen Frage ‒ „ganz normale Männer“ oder „ganz normale Deutsche“? Nicht wenige mag dieser Gegensatz überraschen, weil es naheliegt, dass es sich bei den meisten am Holocaust beteiligten Personen sowohl um „Männer“ als auch um „Deutsche“ gehandelt hat. Die Betonung des einen oder des anderen Wortes macht in der Debatte jedoch den grundlegenden Unterschied aus. Mit der Betonung des Wortes „Männer“ wird herausgestellt, dass im Prinzip jede männliche Person zur Tötung von Juden imstande gewesen wäre, wenn sie sich nur in der gleichen Situation wie beispielsweise die Angehörigen des Hamburger Reserve-Polizeibataillons 101 befunden hätte, quasi derjenigen „Tötungseinheit“ des NS-Staates, die wohl bisher in der Wissenschaft am ausführlichsten untersucht und am kontroversesten diskutiert wurde. Zu diesem Polizeibataillon scheint alles gesagt zu sein, oder doch nicht? Das Reserve-Polizeibataillon 101 hat in der Forschung deswegen so viel Aufmerksamkeit auf sich gezogen, weil seine Angehörigen in einem auffälligen Maße „normal“ waren. Es handelte sich bei den in Hamburg ausgehobenen Polizisten überwiegend um Familienväter, die ‒ bevor sie als Polizeireservisten nach Polen verlegt wurden ‒ ihren zivilen Berufen als Hafenarbeiter, Friseur, Handwerker oder Kaufmann nachgegangen waren. Nur die wenigsten der etwas über 500 Bataillonsangehörigen hatten sich vor ihrem Einsatz in Polen als engagierte Nationalsozialisten oder SS-Männer hervorgetan. Die immer noch kontrovers geführte Debatte über dieses Polizeibataillon dreht sich um die Frage, in welchem Sinne diese Männer „normal“ gewesen sind. Hier lässt sich die bereits erwähnte, grundsätzliche Frage direkt und an der einzelnen Person stellen: Handelte es sich um „ganz normale Männer“ oder um „ganz normale Deutsche“? Den unbedarften Leser mag dieser Gegensatz irritieren, weil es sich in der Zeit von 1933 bis 1945 bei Hamburger Polizisten in der weit überwiegenden Anzahl sowohl um „Männer“ als auch um „Deutsche“ gehandelt haben muss. Doch damit diese „ganz normalen Männer“ zu „Mördern“ werden konnten, bedurfte es – so vor allem der Historiker Christopher Browning – einer Reihe von spezifischen Bedingungen: Einer „Brutalisierung in Kriegszeiten“, eines ausgeprägten „Rassismus“, eines „arbeitsteiligen Vorgehens verbunden mit wachsender Routine“, eines gerade in der Führungsschicht dominierenden „Karrierismus“, „blindem Gehorsam und Autoritätsgläubigkeit“ sowie einer „ideologischen Indoktrinierung und Anpassung“. Hinzu kamen eine „ausgeprägte Korpsmentalität“, „ein erheblicher Gruppendruck“ sowie „Alkoholexzesse, verbunden mit einer immer
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weiter fortschreitenden Abstumpfung gegenüber Gewalttaten jeder Form“.2 Hinter einem solchen Bündel möglicher handlungsleitender Faktoren steckt letztlich ein moderater strukturalistischer Ansatz, der auf die eher begrenzten Handlungsmöglichkeiten einzelner Personen im Zwangsapparat des NS-Staates verweist. Mit der Betonung des Wortes „Deutscher“ wird nicht ausgeschlossen, dass Brutalisierung, Gruppendruck oder Autoritätsgläubigkeit eine Rolle gespielt haben. Gerade bei den nichtdeutschen Beteiligten am Holocaust – zum Beispiel den in den besetzten Gebieten rekrutierten Hilfstruppen aus Ukrainern, Polen, Letten, Litauern oder Esten ‒ sind solche Faktoren offenbar wichtig gewesen, und auch bei den deutschen Polizisten, SS-Angehörigen und Wehrmachtsoldaten können diese Faktoren wohl nicht komplett ignoriert werden. Nach Ansicht mancher Forscher sind sie für das Verhalten der Deutschen aber zweitrangig gewesen. Die „ganz normalen Deutschen“ seien – so besonders der Historiker Daniel Goldhagen – aufgrund eines lange schon vorherrschenden, auf Vernichtung zielenden Antisemitismus zu dem Schluss gekommen, „dass die Juden sterben sollten“. „Die Täter“ hätten sich an ihren eigenen, kulturell tief verankerten „Überzeugungen und moralischen Vorstellungen“ orientiert und die Massenvernichtung der Juden deshalb für gerechtfertigt gehalten. „Sie wollten nicht nein dazu sagen.“3 Ein solches Erklärungsmuster ist letztlich die radikale Variante eines voluntaristischen Ansatzes in der Holocaustforschung, der auf den eigenen Antrieb der Täter verweist. Die Deutschen, so die Kurzformel, „wollten nicht Nein“ zum Holocaust sagen, ja, sie wollten sogar zu großen Teilen „Ja“ zur Ermordung der europäischen Juden sagen. Aus einer soziologischen Perspektive erscheinen sowohl der strukturalistische wie auch der voluntaristische Erklärungsansatz als unbefriedigend. Der voluntaristische Ansatz, das Verhalten über einen tief sitzenden eliminatorischen Antisemitismus der Deutschen zu erklären, geht letztendlich von einer simplen Übereinstimmung zwischen den Zielen und Zwecken organisierter Tätergruppen – hier der Vernichtung der europäischen Juden – und den Motiven der Organisationsmitglieder – beschrieben als „eliminatorischer Antisemitismus“ ‒ aus. Diese Erklärung 2 Siehe: Browning (1999), S. 209, und die Referierung durch Herbert (1998), S. 30. Siehe auch Curilla, S. 882 ff. mit einer ähnlichen Aufzählung: Brutalisierung, Karrieredenken, Vorbereitung, Einübung und Gewöhnung, Tradition von Gehorsam, Gruppendruck und die Ausgrenzung von Minderheiten. 3 Goldhagen, Vollstrecker, S. 28. Hervorhebungen im Original. Die Relativierung anderer Faktoren durch Goldhagen liest sich wortwörtlich wie folgt: „Die Überzeugungen der Täter, ihr spezifischer Antisemitismus, waren zwar offensichtlich nicht die einzige, aber doch, so behaupte ich, eine entscheidende Ursache ihres Handelns.“ Goldhagen, Vollstrecker, S. 28. Die „Handlung der deutschen Täter“ könne, so Goldhagen, nicht „durch strukturelle Faktoren“, sondern nur durch „kulturell-kognitive“ erklärt werden. .Schon die verwendete Begrifflichkeit wirft hier grundlegende Fragen auf. Was genau soll „kulturell-kognitiv“ sein? Sind „Kulturen“ keine „Strukturen“, die das Handeln von Personen prägen? Welche „strukturellen Faktoren“ meint er denn, wenn er keine „Kulturen“ darunter fasst?
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versagt aber spätestens dann, wenn es um die Verbrechensbeteiligung durch nichtdeutsche Hilfskräfte – die „Fußvölker der Vernichtung“ – geht.4 Demgegenüber hat der auf die Vielzahl von Faktoren verweisende strukturalistische Ansatz zwar den Vorteil, dass man sich mit einem Strauß von Erklärungen letztlich nicht irren kann. Aber das ist gleichzeitig auch sein Nachteil. Unterschiedliche Motive werden in einer biederen Faktorenforschung aneinandergereiht. Die verschiedenen Aspekte werden weder begründet, gewichtet noch – und das wiegt schwerer – zueinander in Beziehung gesetzt. Man nimmt an, dass eine antisemitische Grundeinstellung, kriegsbedingte Brutalisierung, Karriereorientierung, Autoritätsgläubigkeit, Korpsmentalität und Gruppendruck eine Rolle gespielt haben, aber wie das alles miteinander zusammenhängt und ineinander spielt, bleibt letztendlich unklar.5 In der Forschung hat sich weitgehend die Auffassung durchgesetzt, dass die Kontroverse „ganz normale Männer“ versus „ganz normale Deutsche“ nicht das Material für eine große, hilfreiche Debatte geliefert hat. Goldhagens monokausale Erklärung eines „eliminatorischen Antisemitismus“ sei, so der Tenor, theoretisch und empirisch zu schwachbrüstig gewesen, um ausreichend Unterstützung von anderen Wissenschaftlern zu mobilisieren. Das „Goldhagen-Phänomen“ – oder sollte man sagen: die „Goldhagen-Tragik“? – bestand darin, dass nur wenige Historiker es als gerechtfertigt empfanden, über dessen These ausführlich zu diskutieren, ih4 Zu den „Fußvölkern der Vernichtung“ als Bezeichnung für die nichtdeutschen Hilfs truppen beim Holocaust siehe Kühl (2009). Es wird dabei der Begriff von Mallmann über die deutsche Ordnungspolizei als „Fußvolk der Vernichtung“ (Schneider, Auswärts) aufgegriffen und variiert. Seine Nichtbeschäftigung mit den nichtdeutschen Beteiligten am Holocaust erklärt Goldhagen, Vollstrecker, S. 557 forschungspragmatisch. Sein Buch behandle bereits ein sehr umfangreiches Thema. „Es musste begrenzt werden, damit es zu bewältigen blieb.“ Dabei hat er jedoch übersehen, dass gerade die Beteiligung der nichtdeutschen Hilfskräfte sein Argument grundlegend infrage stellt und er dort nur in ‒ häufig improvisiert wirkende ‒ multikausale Erklärungsmuster ausweichen musste. Zweifelsohne ging der „entscheidende Impetus zum Holocaust“ von Deutschland – und damit auch von „den Deutschen“ aus, aber damit bleibt trotzdem immer noch erklärungsbedürftig, wie es gelang, „ganz normale Deutsche“ und „ganz normale Nichtdeutsche“ zu einem aktiven Einsatz in Tötungskommandos zu bewegen. 5 So auch die Klage von Bartov (2000), S. 40, der aber in die Analyse von Browning nicht zu Unrecht eine starke Sympathie für die „Gruppendruck-These“ hineinliest. Bestenfalls ringt man sich zu Aussagen durch, dass in der Sachdimension beim Vorgehen gegen beispielweise jüdische Polen eine nationalsozialistische Indoktrination eine wichtigere Rolle gespielt haben mag als bei Vorgehen gegen nichtjüdische Polen, dass in der Sozialdimension unterschieden werden muss zwischen SS-Einheiten, in denen Antisemitismus eine tendenziell größere Rolle gespielt hat als bei den Polizeibataillonen, und dass in der Zeitdimension anfangs die Autoritätsorientierung zentral war, während später dann eine Abstumpfung wichtiger wurde (Browning (1992), S. 128). Aber am Ende bleibt unklar, wie das alles miteinander zusammenhängt. Obwohl er in Bezug auf die nichtdeutschen Tätergruppen selbst einen Multikausalitätsansatz einfordert, spricht Daniel Goldhagen deswegen von einem „Wäscheleinen-Prinzip“, bei dem alle möglichen Motive nebeneinander gehängt werden.
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nen aber eine solche Diskussion aufgrund des „fantastischen öffentlichen Erfolgs“ und der „zustimmenden Rezeption durch einige bekannte Intellektuelle“ aufgezwungen wurde.6 Letztlich scheinen jene Historiker richtig gelegen zu haben, die prophezeiten, dass man sich in der weiteren Holocaust-Forschung nicht an Goldhagens Buch orientieren werde. Mehr noch: Die wissenschaftliche Debatte war beendet, bevor sie überhaupt ernsthaft begonnen hatte. Ein weiteres Mal blieb damit die ganz grundlegende Frage ungeklärt, weshalb Hunderttausende von Männern und Frauen sich bereitwillig an der Durchführung des Holocaust beteiligt hatten.
II. Versuch einer soziologischen und systemtheoretischen Annäherung Dass inzwischen auch soziologische Zugänge Klarheit schaffen sollen, mag irritieren. Schließlich wurde gerade in der Debatte über das Reserve-Polizeibataillon 101 das Wort „Soziologe“ eher als Schimpfwort verwendet, mit dem sich Kontrahenten gegenseitig ihre Abneigung zu verstehen gaben. So beklagte sich beispielsweise Daniel Goldhagen, dass seine Kontrahenten mit „soziologistischen Zugängen“ lediglich die Verantwortung der Polizeibeamten an Massenerschießungen verschleierten.7 Umgekehrt warfen Goldhagens Kritiker dem Holocaustforscher vor, dass sein Blick durch Soziologismen vernebelt sei. So bedauerte beispielsweise Mariam Niroumand, dass Goldhagen eine Art „Pulp Fiction mit soziologischem Tarncode“ produzieren würde, und Paul Johnson beklagte Goldhagens „Sociobab ble“ – „Soziologenjargon“ – mit dem er sich letztlich der Mühe einer genauen Analyse entzöge.8 Die Ironie bei der Sache: Keiner der Kontrahenten war Soziologe, keiner arbeitete systematisch mit soziologischen Theorien, und keiner verwendete einen auch nur rudimentär abgesicherten soziologischen Begriffsrahmen. Als Schimpfwort schien „Soziologe“ in der Diskussion über den Holocaust aber trotz6 Gleichwohl wurde die Debatte der Thesen Daniel Goldhagens zum Polizeibataillon 101 anfangs mit großen zeithistorischen Debatten des zwanzigsten Jahrhunderts verglichen – so etwa mit der Auseinandersetzung über Fritz Fischers Buch zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges, der hitzigen Debatte zu Hannah Arendts Buch über „Eichmann in Jerusalem“ und der These der Historiker über die Singularität des Holocaust. Siehe dazu Rosenfeld, Controversy, S. 250 f., der jedoch auf zentrale Unterschiede der Debatten aufmerksam macht. 7 Goldhagen spricht hier von „sociologistic accounts“. Siehe Brennan, S. 93. 8 Siehe Niroumand und Johnson. Die Bezeichnung Soziologe erschien in mehreren Zeitungs- und Zeitschriftenberichten. Die Journalisten Matthias Arning und Rolf Paasch schreiben vom „US-Soziologen“ Goldhagen, der auf scharfe Kritik stoße (Arning/Paasch). Der Publizist Rudolf Augstein gab seiner Auseinandersetzung mit Goldhagen kurzerhand den Titel „Der Soziologe als Scharfrichter“ und beschwerte sich darüber, dass dieser alles ausblenden würde, „was ihm an bisheriger Forschung nicht passt“ ‒ suggerierend, dass dies ein für die Soziologie üblicher Arbeitsstil sei. Ganz sicher war man sich über die Zurechnung nicht (Augstein, in: Schoeps). Neben dem Vorwurf des „socio-babble“ fand sich aber auch der Vorwurf des „psycho-babble“ (Picks).
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dem gut geeignet zu sein.9 Dass sich der Ausdruck „Soziologe“ in der Debatte als Schimpfwort etablieren konnte, daran waren die Soziologen allerdings nicht ganz schuldlos, weil ‒ bis auf wenige Ausnahmen ‒ keine soziologische Literatur über den Holocaust existiert.10 Die häufig beklagte Distanz – oder sogar „Ignoranz“ der Soziologie zur Holocaustforschung11 bleibt insofern überraschend, als dass die frühen Studien von Hans Günther Adler und Eugen Kogon aufgrund deren Vorbildung „ansoziologisiert“ waren. Doch wenn sich die Soziologie später überhaupt in die Diskussion über den Holocaust einmischte, dann siedelte sie ihre Erklärungsansätze vorrangig – wie Theodor Adorno oder Norbert Elias ‒ auf der Ebene einer abstrakten Gesellschaftstheorie an.12 Oder es dominieren Arbeiten, die verschiedene Genozide miteinander vergleichen und beispielsweise nach unterschiedlichen Motivlagen wie der Eliminierung von Bedrohungen, der Verbreitung von Terror unter Fein9 Um sich mit Daniel Goldhagens Vorwurf der „soziologistischen Zugänge“ konfrontiert zu sehen, brauchte man kein Soziologe zu sein, sondern es reichte in der Debatte aus, als Historiker den Begriff des „Gruppendrucks“ zu verwenden – ein Konzept, das vorrangig von Sozialpsychologen verwendet wird und das aus einer soziologischen Perspektive unzureichend ist, um die informellen Prozesse innerhalb des Polizeibataillons zu erfassen. Aber auch Goldhagen – vermeintlich „Professor für Soziologie an der Universität Harvard“ (siehe Augstein, Scharfrichter – und im Anschluss an Augstein beispielsweise Blum/Storz) – hatte bestenfalls im Grundstudium einige Seminare in Soziologie belegt, und die Mitglieder des Departments für Soziologie der Harvard University waren wohl selbst überrascht, wer ihnen kurzerhand als Kollege zugerechnet wurde. Bei der Sichtung der Sammelbände zur sogenannten Goldhagen-Kontoverse wird deutlich, dass die Debatte, wie „ganz normale Männer“ dazu gebracht werden konnten, sich an der Massenerschießung zu beteiligen, von Historikern, Politikwissenschaftlern, Filmwissenschaftlern, Anthropologen, Theologen und Sozialpsychologen geführt wurde, nicht jedoch von Soziologen. Diese Zurückhaltung der Soziologen war charakteristisch für fast alle maßgeblichen Kontroversen über den Holocaust. Als Hannah Arendt mit ihrer Studie über Eichmann und „Die Banalität des Bösen“ eine erste heftige öffentliche Kontroverse über den Holocaust auslöste, hielten sich die Soziologen bei der Debatte zurück. Beim Historikerstreit spielte, so Brennan, mit Jürgen Habermas zwar ein Soziologe eine zentrale Rolle. Wenn man sich aber die Einwürfe Habermas’ in der Historikerdebatte anschaut, kann man erkennen, dass er sich wohl eher als ein an der Zukunft der Bundesrepublik interessierter Intellektueller denn als Soziologe an der Debatte beteiligt hatte. Siehe Brennan, S. 81. 10 So jedenfalls Katz, S. 21 – 42 und Shaw (2010), S. 144 f. in kurzen – auf die englischsprachige Literatur verengten ‒ Überblicksartikeln zur Rolle der Soziologie in der Holocaustforschung. Die Soziologie mache – so prägnant Zygmunt Bauman ‒ bei der Beschäftigung mit dem Holocaust den Eindruck einer, „kollektiven Übung im Verschließen der Augen“ (Bauman (1989), S. 9 f.). Siehe auch ähnlich zum Beispiel Sofsky (1994), S. 58, der schreibt, dass der gegenwärtige Stand der „Gesellschaftstheorie für die Analyse absoluter Gewalt und kollektiver Grausamkeit kaum eine Hilfe“ ist. 11 An dieser grundsätzlichen kritischen Bewertung zur bisherigen Beschäftigung der Soziologie mit dem Holocaust hat sich bisher offenbar noch wenig geändert (siehe hierzu nur Katz oder Christ). 12 Vgl. Adorno (1970) und Elias.
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den, der Aneignung von Reichtümern oder der Implementierung von Ideologien ordnen.13 Schließlich wurden auch einige Studien veröffentlicht, in denen anhand eines überstaatlichen Genozids wie des Holocausts unterschiedliche Reaktionsmuster in Nationalstaaten herausgearbeitet wurden.14 Analysen, die auf interne, kollektive Mechanismen und Dynamiken innerhalb der Tätergruppen abstellen, stehen dagegen noch aus.
III. Soziologische Zumutungen Dabei könnten soziologische Erklärungsansätze in Ergänzung oder auch im Kontrast zu bereits etablierten Erklärungsmustern der Holocaustforschung vermutlich wichtige Aufschlüsse liefern.15 Eine spezifisch soziologische Annäherung an den Holocaust stößt gewöhnlich allerdings schnell auf Hindernisse und erscheint vielen allein deshalb als problematisch, weil ihr eine Perspektive innewohnt, die Rationalitäten, Logiken und Kalküle, die Handlungen zugrunde liegen, zu rekonstruieren.16 So ist es immer noch ein in der Holocaustforschung verbreiteter Ansatz, dass die Massenerschießungen und die Tötungen in den Vernichtungslagern nicht zu erklären seien und dass jeder Versuch, Logiken, Rationalitäten und Kalküle hinter ihnen zu rekonstruieren, auf eine Relativierung dieser Massentötungen hinauslaufe.17 Aus einer soziologischen Perspektive gibt es jedoch keinen zwingenden Grund, weshalb der Holocaust nicht genauso rekonstruiert werden kann wie die Entwicklung und Produktion eines neuen Atomkraftwerkes, die Entstehung neuer Formen des Einsatzes von Armeen seit dem 19. Jahrhundert oder die Ausbildung neuartiger Regime der Fabrikarbeit. Verschärft wird die „Zumutung“ soziologischer Analysen noch dadurch, dass sich die Soziologie dem Holocaust nicht aus einer moralischen Perspektive nähert. Es mag uns aus heutiger Perspektive selbstverständlich erscheinen, dass die Exe kutionen tausender jüdischer Polen einen Massenmord darstellten dass die daran beteiligten Polizisten folglich Massenmörder waren und die „Töter“ deswegen selbstverständlich auch „Täter“ sowohl im moralischen, politischen als auch strafrechtlichen Sinne sind. Diese aus heutiger Perspektive selbstverständlichen ZuChalk/Jonassohn, S. 29. Fein. 15 Für eine soziologische Gesamtdarstellung, beispielsweise als soziologisches Pendant zur „Gesamtdarstellung der nationalsozialistischen Judenverfolgung“ (Longerich (1998)), ist das Terrain noch nicht vorbereitet. Es liegen bisher lediglich einige wenige organisationssoziologische Arbeiten vor, in denen beispielsweise versucht wurde, die „Ordnung des Terrors“ in den Konzentrationslagern zu untersuchen (Sofsky (1993)), die Entscheidungsfindung für den Holocaust mit dem „Garbage-Can-Modell der Entscheidungsfindung“ zu rekonstruieren (Dammann) oder am Beispiel der Inspektion der Konzentrationslager die „Verantwortungsentlastung durch Organisation“ nachzuweisen (Balcke). 16 Zu dem Problem siehe Reemtsma (2002), S. 89 ff. 17 Vgl. zu dieser Position nur Müller-Hohagen, S. 29 oder Welzer, S. 358. 13
14 Vgl.
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schreibungen erschweren es jedoch, die damals herrschende Legitimitätsordnung der beteiligten Organisationen und deren Veränderungen zu rekonstruieren. Soziologisch macht es deswegen Sinn, sich so weit es geht einer neutralisierenden Wortwahl zu befleißigen und beispielsweise von Massenerschießungen oder Massentötungen und nicht von Massenmorden zu sprechen, um so darstellen zu können, wie die Massentötungen je nach Perspektive und Zeitpunkt nahezu selbstverständlich als Massenmord oder eben nicht als Massenmord erschienen.18 Erst auf der Basis – so die Überlegungen – einer distanzierten Beschreibungsweise ist es möglich, den Holocaust präzise zu beschreiben.
IV. Die Rolle staatlicher Gewaltorganisationen Einen wichtigen Ansatzpunkt für soziologische Befunde kann die Tatsache liefern, dass mehr als 99 Prozent aller Tötungen von Juden durch Mitglieder staatlicher Gewaltorganisationen durchgeführt wurden.19 Als staatliche Gewaltorganisationen werden Organisationen wie Armeen, Milizen und Polizeien verstanden, die Gewalt androhen und einsetzen, um staatliche Entscheidungen durchzusetzen. Sie unterscheiden sich von nichtstaatlichen Gewaltorganisationen wie Schlägertrupps, Terrororganisationen oder marodierenden Söldnergruppen dadurch, dass sie ihre Handlungen mit der Durchsetzung von staatlich legitimierten Ansprüchen begründen können. Bekanntlich gab es während der NS-Zeit auch zahlreiche und vielfältige nichtstaatlich organisierte Formen von Gewalt gegen Juden. Man denke nur an die Gewaltakte während der Boykotte von jüdischen Geschäften kurz nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Jahre 1933, an die Zurschaustellung jüdischer und nichtjüdischer Bürger wegen vermeintlicher „Rassenschande“ und an die Zerstörung von Synagogen, Geschäften und Wohnungen während der Novemberpogrome im Jahr 1938. Die Massenexekutionen von Juden und die Deportationen in die Vernichtungslager aber wurden – und diese Differenz ist zentral ‒ nicht als private Initiative von antisemitischen Gruppierungen betrieben. Sie waHilberg (2002) für eine Begründung dieser Vorgehensweise. Interessanterweise gibt es ‒ bei allen Bemühungen zur statistischen Aufbereitung der Daten zum Holocaust – keine genauen Aufstellungen darüber, wie viele Juden durch Personen getötet wurden, die nicht Mitglied einer staatlichen Organisation waren. Weil aber die Tötung von Juden durch Nichtmitglieder von staatlichen Organisationen nach dem Zweiten Weltkrieg als Mord hätte verfolgt werden können und trotzdem kaum Ermittlungsverfahren gegen Nichtmitglieder staatlicher Organisation bekannt sind, gehe ich davon aus, dass es bei deutschen Staatsbürgern vermutlich weniger als 10.000 Fälle gewesen sind. Wegen der Pogrome, die in besetzten Gebieten meistens kurz nach dem Einmarsch deutscher Truppen stattfanden, kann dieser Fall bei Staatsbürgern anderer Länder eventuell sogar höher liegen. Nähere Forschungen dazu stehen noch aus. Interessant wäre es auch, Einzelfallstudien – wie zum Beispiel über die „Hexe von Buchwald“ Ilse Koch, die keine offizielle Funktion in der Organisation des KZ hatte ‒ unter diesem Gesichtspunkt zu reinterpretieren (siehe zur Literatur über Ilse Koch nur zum Beispiel Smith (1983) und Przyrembel). 18 Siehe 19
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ren vielmehr Teil eines staatlichen Programms zur Vernichtung der europäischen Juden. Die „ganz normalen Männer“ und die „ganz normalen Frauen“ fingen in genau dem Moment an, sich an Tötungen von Juden zu beteiligen, als sie als Mitglied einer staatlichen Organisation aufgefordert wurden, ihren Beitrag zum Vernichtungsprogramm zu liefern. Und fast alle von ihnen hörten damit genau in dem Moment wieder auf, als sie diese Tötungsorganisationen wieder verließen. Jedenfalls setzten – soweit wir wissen – die wenigsten ehemaligen Ordnungspolizisten, SD-Mitarbeiter oder Wehrmachtssoldaten nach ihrem Ausscheiden die Erschießung von religiösen oder ethnischen Minderheiten aus privatem Antrieb fort. Mit dem Verlassen der jeweiligen (NS-)Organisation endete in den allermeisten Fällen ihr kriminelles bis mörderisches Verhalten gegenüber anderen. Nun lässt sich der Holocaust sicherlich nicht allein über das Verhalten in Organisationen erklären, dazu spielen die rechtlichen, politischen, wissenschaftlichen oder wirtschaftlichen Bedingungen eine zu große Rolle. Doch ohne ein grundlegendes Verständnis von Organisationen kann man meiner Ansicht nach die aktive Beteiligung der „ganz normalen Männer“ und auch der „ganz normalen Frauen“ am Holocaust nicht wirklich verstehen.
V. Jenseits des Bildes von Organisationen als Maschinen Zugegebenermaßen ist die Erkenntnis, dass der Holocaust ein maßgeblich von staatlichen Organisationen getragenes Tötungsprogramm war, alles andere als originell. Fast auf den ersten Blick wird klar, dass der überwiegende Teil der Juden nicht im Rahmen von „unorganisierten“ wilden antisemitischen Pogromen getötet wurde, sondern von staatlichen Meldestellen im Deutschen Reich und in den besetzten Gebieten erfasst, von der Reichsbahn in den Osten transportiert, in den Ghettos von Polizeibataillonen drangsaliert und von SS- und Polizeieinheiten in Massenerschießungen oder in Vernichtungslagern getötet wurde.20 Mit anderen Worten: Die Vernichtung der europäischen Juden erfolgte geplant und systematisch, und sie hatte Methode. Mit Blick auf die ablaufenden Mechanismen dieses Genozids wurde bisher aber mit einem fast karikaturhaften, letztlich auf Max Weber zurückgehenden Verständnis von Organisationen gearbeitet. Beeindruckt von Webers Beschreibung des maschinenartigen „bürokratischen Mechanismus“ mit seiner „Präzision“, „Schnelligkeit“, „Eindeutigkeit“, „Aktenkundigkeit“, „Kontinuierlichkeit“, „Diskretion“, „Einheitlichkeit“, „straffen Unterordnung“, „Ersparnissen an Reibungen“ wird der Holocaust in letzter Konsequenz meist damit erklärt, dass sich die Nutzung der „bürokratischen Mechanismen“ für eine massenweise Tötung regelrecht angeboten hätte. 20 Konsequenterweise gingen deswegen auch die Ankläger bei den Nürnberger Prozessen davon aus, dass „verbrecherische Organisationen“ wie die SS und die Gestapo maßgeblich für die Durchführung des Holocaust verantwortlich waren.
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Tatsächlich ist bisher ganz überwiegend mit einem Organisationsverständnis gearbeitet worden, mit dem schon Hannah Arendt in ihrer Charakterstudie zu Adolf Eichmann grandios scheiterte. Mit einem an Max Weber angelehnten Organisationsverständnis kann der Holocaust nur als „bürokratisch geplanter“, „industriell durchgeführter“ „Verwaltungsmassenmord“ verstanden werden. Er kommt als eine in „Todesfabriken“ durchgeführte „spurenlose Vernichtung von Menschen in großer Zahl“ daher. Die „Todesfabrik“ erscheint als ein „nahezu reibungslos funktionierender Apparat“, in dem mit „hoher Kapazität und Geschwindigkeit“ Menschen ermordet wurden – und das, obwohl wir schon aus soziologischen Studien über Auto- und Flugzeugfabriken wissen, dass „reibungslos funktionierende Apparate“ eine reine Fiktion des Managements sind. Als Synonym für den Holocaust konnte in dieser Perspektive dann auch nur „Auschwitz“ stehen und eben nicht die häufig improvisierten Massenerschießungen, die teilweise chaotisch ablaufenden Ghettoliquidierungen oder die durch Planungsprobleme gekennzeichneten ersten Massentötungen in den Vernichtungslagern Belżec, Sobibór oder Treblinka. Mit einem derart simplifizierten Verständnis von Organisationen handelte sich die Forschung jedoch alle Probleme ein, die schon die an Max Weber orientierte Organisationsforschung gekennzeichnet hatte: Überbetonung der an Zwecken ausgerichteten Rationalität von Organisationen, die Missachtung der Tatsache, dass Organisationen häufig mit sich widersprechenden Zielen ausgestattet sind, die Unterschätzung der Widersprüche in der Orientierung des Handelns von Personen, Ignorieren der „von unten“ kommenden Initiativkraft oder die Vernachlässigung der Bedeutung der „Unterwachung der Vorgesetzten“, durch die die Untergebenen die Entscheidungen des Spitzenpersonals maßgeblich vorbereiten. Aus der Perspektive der systemtheoretischen Soziologie wird das Verhalten der Angehörigen der Ordnungs- und Sicherheitspolizei, der Wehrmacht oder der Waffen-SS dabei nicht – wie noch von Hannah Arendt – einfach nur als Verhalten im Rahmen einer sehr genau spezifizierten formalen Mitgliedschaftsrolle verstanden, sondern es kann vielmehr erklärt werden, weswegen sie die Tötung von Juden initiativ betrieben haben, weswegen sie aktiv an der Verfeinerung zur Deportation und Tötung mitgewirkt haben, weswegen sie Erschießungen häufig auch im Grenzbereich des von der Organisation Geduldeten vorgenommen und vielfach auch lustvoll Grausamkeiten begangen haben.21 21 Siehe Rommelspacher, S. 30 für einen solchen Anspruch. Eine ganze Reihe von Themen würde sich für organisationssoziologische Forschungen anbieten: Die Entscheidungsfindung zur „Endlösung der Judenfrage“ in den Jahren 1939 bis 1942 (vgl. aus „funktionalistischer“ Perspektive einschlägig Broszat, Mommsen und überblicksartig Browning (2003)), die Rolle der Reichsbahn beim Transport von Juden in die Vernichtungslager im Osten (vgl. hierzu früh schon Hilberg (1981)), das „Unterleben“ in einem Vernichtungslager wie Auschwitz (vgl. hierzu journalistisch orientiert, aber historisch interessant: Rees), die Rolle der Judenräte während des Holocaust (vgl. hierzu grundlegend Trunk), ein erster soziologischer Einordnungsversuch bei Bauman, Dialektik, S. 132 ff.), der Einsatz nichtdeutscher Tötungskommandos im Rahmen von Einsätzen der Ordnungs- oder Sicherheitspolizei (vgl. den Überblick bei Hilberg, Catastrophe, S. 87 ff.) oder die Verwendung „ganz normaler
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Nicht alle eingesetzten Polizisten mögen sich mit dem Zweck der Vernichtung der europäischen Juden identifiziert haben, aber auch diejenigen, die die antisemitischen Schulungen bloß über sich ergehen ließen, trugen dazu bei, dass die Tötung von Juden als eine polizeiliche Aufgabe betrachtet wurde, die eben zu bewältigen sei. Auch diejenigen Polizisten, die erklärten, sich nicht an der Tötung der Juden beteiligen zu können und sich somit den Anforderungen der Zwangsorganisation entzogen, taten dies – etwa durch Verweis auf die eigene Schwäche, auf Krankheit oder auf ihr Gewissen – in einer Weise, die das laufende Tötungsprogramm nicht ernsthaft störte oder beeinträchtigte. In vielen anderen Fällen aber musste die Erwartung, dass man sich an den Ghettoräumungen, Deportationen und Erschießungen zu beteiligen habe, häufig nicht über die Hierarchie durchgesetzt werden, sondern war Teil dessen, was die Kameraden einander gegenseitig abverlangten. Diese kameradschaftlichen Erwartungen wurden dadurch gestärkt, dass sich bei den Aktionen Möglichkeiten boten, sich gegen die Regeln der Organisationen an den Juden zu bereichern. Das hohe Maß an Brutalität, das häufig über das formale Erlaubte und für den Auftrag funktional Notwendige hinausging, erleichterte den Bataillonsangehörigen die Tötung der Opfer. Es waren also gerade die Abweichungen, die Uminterpretationen und die Initiativkraft der Organisationsmitglieder, die die Durchsetzung des Holocaust wesentlich ermöglichten.
VI. Die Bedeutung von Mitgliedschaftsmotivationen Organisationen, egal ob Polizeien oder Armeen, Unternehmen oder Verwaltungen, Krankenhäuser oder Schulen, setzen unterschiedliche Mittel zur Motivation ihrer Mitglieder ein. Mit Geld können Organisationen selbst für unattraktive Aufgaben Mitglieder rekrutieren, wenn sie nur bereit sind, dafür entsprechend zu bezahlen. Und da der Geldbedarf von Personen „chronisch“ ist, können Mitglieder auf diesem Weg nicht nur zeitlich befristet, sondern dauerhaft gebunden werden. Organisationen bieten ihren Mitgliedern zudem häufig attraktive Zwecke an, was für die Organisation nicht nur den Vorteil hat, dass sich Organisationsmitglieder günstig – oder sogar kostenlos – gewinnen lassen, sondern dass die Mitglieder andererseits auch aufgrund ihrer Identifikation mit den Zwecken ohne hohen Kontrollaufwand zu Leistungen motiviert werden können. Andere Organisationen binden ihre Mitglieder über Handlungsattraktivität. In diesen Fällen stellt die Ausübung der Tätigkeit geradezu das Motiv für die Mitgliedschaft dar, und die Mitglieder sind nicht selten bereit, für die Möglichkeit zur Ausübung dieser Tätigkeit zu bezahlen. Besonders staatliche Gewaltorganisationen stützen sich bei der Bindung ihrer Mitglieder auch auf Zwang und setzen eigene Erzwingungsmittel – etwa eine organisationsinterne Polizei oder organisationseigene Gefängnisse – ein, um das Verbleiben der Mitglieder in der Organisation sicherzustellen. Aber Zwang Männer“ beziehungsweise „ganz normaler Deutscher“ bei den Massentötungen (vgl. hierzu Browning (1999) und Goldhagen, Executioners).
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allein reicht in der Regel nicht aus, um auch die Leistungsmotivation von Mitgliedern sicherzustellen. Gerade deshalb spielt Kollegialiät als Motivationsmittel in Organisationen eine zentrale Rolle. Häufig werden Aufgaben deswegen bereitwillig erfüllt, weil es sonst die Kollegen machen müssen. Aus der Sicht der Leitung vieler Organisationen sollten sich deren Mitglieder möglichst aus Personen rekrutieren, die sich mit ihren Zwecken voll identifizieren. In diesem Punkt unterscheidet sich der Wunschtraum der Geschäftsführerin eines heutigen mittelständischen Unternehmens oder des Vorsitzenden einer demokratischen Partei nicht grundlegend von der Vorstellung der Führung der NS-Organisationen. Das Idealbild scheint jenes einer Organisation zu sein, in der die Motive der Organisationsmitglieder perfekt zu den Zwecken der Organisation passen. Ist eine solche Übereinstimmung zwischen Organisationszwecken und Mitgliedschaftsmotiven gegeben, kann, so die Annahme, die Kontrolle durch die Hierarchie stark reduziert werden, weil man sich auf die Initiativkraft der Mitglieder verlassen könne. Es bestünde zudem die Möglichkeit, bei den Gehältern zu sparen, weil ja die Zwecke der Organisation selbst motivierend wirkten. Im NS-Staat wurde eine solche vermeintliche Übereinstimmung zwischen Organisationszwecken und Mitgliedschaftsmotivationen geradezu zelebriert. Wenn Hitler die „Geschlossenheit des deutschen Volkskörpers“ propagierte und sich überzeugt zeigte, dass „das deutsche Volk“ in „höchster Entschlossenheit seiner Führung“ folgen werde, unterstellte er, dass die Mitglieder der existierenden Organisationen im NS-Staat sich mit den Zwecken des NS-Staates voll identifizieren würden. Aber nur die wenigsten Organisationen – und hier stellen die NS-Organisationen keine Ausnahme dar – verlassen sich darauf, dass allein schon der Zweck der Organisation ausreicht, um Mitglieder dazu zu motivieren, alle von der Organisation erwarteten Handlungen auszuführen. Organisationen versuchen deswegen zwar, Mitglieder zu rekrutieren, die sich mit dem Organisationszweck identifizieren, oder wenigstens angeworbene Mitglieder für den Zweck der Organisation zu begeistern. Aber in den meisten Fällen werden zusätzliche Mittel eingesetzt, um die Mitglieder zu motivieren: Zwang, Geld, kollegiale Erwartungen oder auch attraktive Tätigkeiten.
VII. Die Generalisierung von Mitgliedschaftsmotivationen Eine häufig praktizierte Strategie von Organisationen besteht darin, dass sie Motivationen ihrer Mitglieder generalisieren. Unabhängig davon, welche Motive der Mitglieder für den Eintritt und den Verbleib in der Organisation relevant waren bzw. sind: Letztlich stellt die Organisation über die Formalisierung ihrer Mitgliedschaftserwartungen – also das Abhängigmachen des Verbleibens in der Organisation von der Befolgung der formalen Erwartungen – sicher, dass sich Mitglieder mit ganz unterschiedlichen Motiven den Erwartungen der Organisation unterwerfen.
Zur Rolle von Organisationen im Holocaust
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Alle Organisationsmitglieder müssen sich an diesen formalen Erwartungen orientieren – auch diejenigen, die sich hochgradig mit dem übergeordneten Zweck der Organisation identifizieren und deswegen für die Organisation zum Problem werden können, weil sie zu allzu selbständigen „Übersetzungen“ des Oberzwecks in konkrete Handlungen neigen. So verbot Heinrich Himmler angesichts der Verselbständigung des Terrors gegen die Juden sämtliche Einzelaktionen von SS-Angehörigen gegen Juden „auf Schärfste“. Er kündigte an, selbst kleinste Zuwiderhandlungen mit dem Ausschluss aus der SS zu ahnden, und betonte, dass die Festlegung der Vorgehensweise zur „Lösung der Judenfrage“ nur der NS-Führung vorbehalten sei und nicht von einzelnen SS-Männern auf eigene Faust betrieben werden dürfe. Und ein begeisterter Soldat, der zu dem Ergebnis gekommen wäre, dass es im Sinne der Wehrmacht sinnvoller sei, statt an der Westfront an der Ostfront zu kämpfen und sich dort zum Einsatz gemeldet hätte, wäre vermutlich wegen Fahnenflucht verurteilt worden. Über die Generalisierung der Mitgliedschaftsmotive erlangte der NS-Staat eine gewisse Flexibilität in der Personalrekrutierung. Obwohl es im Zuge des Krieges aufgrund der hohen Verluste in den besetzten Gebieten zu einer „Heterogenisierung“ des Personals kam, konnte das Tötungsprogramm trotzdem uneingeschränkt fortgeführt werden. Es machte dabei faktisch keinen Unterschied, ob es durch Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes, der Gestapo oder der SS-Division Totenkopf oder durch Notdienstverpflichtete, Reservisten der Waffen-SS oder durch Angehörige der Reserve-Polizeibataillone durchgeführt wurde. Zudem konnte der NS-Staat die eingesetzten Motivationsmittel je nach Lage variieren. Als man sich beispielsweise gegen Ende des Krieges nicht mehr darauf verlassen konnte, dass die Soldaten und Polizisten aufgrund ihrer Identifikation mit dem NS-Staat oder aus Gründen der Loyalität mit den Kameraden schossen, ließ sich durch die Verhängung von drakonischen Strafen immer noch sicherstellen, dass die Personen in den Organisationen verblieben. Der NS-Staat geriet dadurch in gewisse Darstellungsschwierigkeiten, denn die durch die NS-Propaganda gepflegte vermeintliche Identifikation des Volkes mit dem Führer auch in Krisenzeiten ließ sich zunehmend schwieriger mit der steigenden Zahl von exekutierten Deserteuren in Einklang bringen. Letztendlich konnte sich der NS-Staat im Großen und Ganzen aber darauf verlassen, dass seine Programme ausgeführt wurden. Erst durch die Generalisierung der Mitgliedschaftsmotive gewannen die NS-Organisationen tatsächlich an Elastizität: Sie konnten in gewissen Grenzen ihre Zwecke ändern, ohne sich sofort fragen zu müssen, ob sie für ihre Mitglieder dann noch attraktiv waren. Überspitzt ausgedrückt: Aus der Perspektive der Wehrmacht war es funktional, dass Wehrmachtssoldaten, die vor 1941 mit sowjetischen Soldaten in verschiedenen Feldern bereitwillig kooperierten, nach 1941 umstandslos (?) in einem Krieg gegen den vermeintlichen „russischen Untermenschen“ eingesetzt werden konnten. Und es war aus der Perspektive des NS-Staates funktional, dass die Männer und Frauen, die zuerst im Rahmen der „Aktion T4“ für die Tötung von geistig Behinderten und psychisch Kranken zuständig waren, danach auch prob-
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lemlos für den Aufbau der Vernichtungslager in Bełżec, Sobibór und Treblinka abgestellt werden konnten.
VIII. Zweitrangigkeit der Motivlagen Es hätte fast schon etwas Beruhigendes, wenn man den Holocaust allein aus einem Motiv heraus erklären könnte ‒ etwa dadurch, dass sich ein Haufen überzeugter Nationalsozialisten zusammengetan hätte, um ihr Programm des „eliminatorischen Antisemitismus“ in die Tat umzusetzen, oder durch eine erfolgreiche „rassistische Indoktrination“ großer Teile der Bevölkerung. Zur Verhinderung weiterer Genozide würde es dann ausreichen, den „rassistischen Haufen“ zu identifizieren und ihn mit politischen Mitteln zu bekämpfen oder der rassistischen Indoktrination mit einer entsprechenden Aufklärungskampagne entgegenzuwirken. Aus soziologischer Perspektive liegt das Beunruhigende am Holocaust aber gerade darin, dass es bei organisierten Gewaltanwendungen zweitrangig ist, aus welchen Motiven sich Personen an Folterungen, Erschießungen oder Vergasungen beteiligen. Auf Gewaltanwendung spezialisierte Organisationen müssen sich natürlich darauf einstellen, ob ihre Mitglieder sich mit dem Zweck der Tötungen voll identifizieren, ob sie den Zwecken der Organisation eher neutral gegenüberstehen und sich die Beteiligung an von der Organisation als sinnvoll erachteten Handlungen „abkaufen“ oder „abnötigen“ lassen oder ob sie den konkreten Handlungen vielleicht sogar mit Skepsis begegnen. Doch was am Ende für die Organisation zählt, ist allein, dass die von ihr erwarteten Handlungen ausgeführt werden. Ohne ein grundlegendes Verständnis von Organisationen kann man die Beteiligung der „ganz normalen Männer“, der „ganz normalen Deutschen“ am Holocaust nicht verstehen. Organisationen, die sich auf Foltern und Töten spezialisieren, funktionieren nicht grundsätzlich anders als Organisationen, die Kranke pflegen, für Eiscreme werben, Schüler unterrichten oder Autos bauen. Die besorgniserregende Erkenntnis lautet, dass nicht nur die Mitglieder in auf Massentötungen spezialisierten Organisationen häufig ganz normale Menschen sind, sondern dass auch solche Organisationen, über die die Massentötungen geplant und durchgeführt werden, Merkmale ganz normaler Organisationen aufweisen. Hierin aber liegt die eigentliche Mahnung des Holocaust.
Ideologie und gestaltende Gewalt Aspekte der Formierung genozidaler Tätergesellschaften Von Mihran Dabag Mihran Dabag Ideologie und gestaltende Gewalt. Aspekte der Formierung genozidaler Tätergesellschaften
Wenn ich mich hier dem Themenkomplex „Ideologie und gestaltende Gewalt“ widme, dann geschieht dies mit dem Ziel, das „Denken“ der Täter in das Zentrum meiner Überlegungen zu stellen. Es wird im Folgenden also nicht um Situationen, nicht um Dynamiken, nicht um das Böse gehen. Vielmehr sollen die Schnittfelder zwischen Tathandeln und Täterintentionen in den Blick genommen werden, die Schnittfelder also zwischen Strukturen und Intentionen. In diesem Zusammenhang ist es angezeigt, kurz zwei aktuelle Tendenzen der Forschung anzusprechen: Nämlich auf die derzeit wieder neu gestellte Frage, ob die Gewalt der Täter durch die Eigenschaften der jeweiligen Person oder durch die Eigenschaften der Situation, in der Gewalt ausgeübt wird, bedingt ist. Es geht also auf der einen Seite um Überlegungen, ob es eine persönliche Neigung, einen persönlichen Willen zur Gewalt gibt, einen persönlich besonders ausgeprägten Hass oder Tötungswunsch. Dem stehen andererseits Überlegungen gegenüber, ob es nicht doch jeweils Eigenschaften der spezifischen historischen Situation sind, die es ermöglichen, dass aus scheinbar „normalen“ Menschen gewaltbereite Täter werden. In den aktuellen Diskussionen zeichnet sich eine problematische Vereinfachung ab, die die Grundidee der Willensbildung betrifft. Wir gehen nämlich davon aus, dass aus einer Motivationstendenz zunächst eine Zielbindung entsteht und daraus dann eine Intention, die zur Handlung führt. So ist es eine stillschweigende Annahme der historischen, aber auch sozialwissenschaftlichen Forschung, dass das, was schließlich in eine Handlung umgesetzt worden ist oder umgesetzt wird, auch irgendwie gewollt sein musste. Die Motivation erscheint also als die Triebkraft des Handelns. Dabei können solche Triebkräfte vielfältig sein: es gibt die Motivation, zu einer Gruppe gehören zu wollen, oder die Motivation, besonders sein zu wollen und aus einer Gruppe herauszustechen. In der historischen Arbeit gehen wir aber üblicherweise gerade andersherum vor: Denn wir sehen das Ergebnis der Handlung und argumentieren diese Kette rückwärts, wir schließen also von der beobachtbaren Handlung in einer historischen Situation auf eine Zielsetzung und eine dieser Zielsetzung zugrundeliegende Motivation. Dabei wird spätestens seit Erscheinen der Studie „Hitlers willige Vollstrecker“ von Daniel Goldhagen1 und der harschen Kritik, die umgehend an Goldhagens 1
Goldhagen.
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Erklärungsansatz geübt wurde, Skepsis geäußert gegenüber Erklärungen historischen Handelns in Gewaltprozessen, die mit Vorstellungen, Überzeugungen, Welt anschauungen und Ideologien argumentieren. Studien, die also davon ausgehen, dass es in der Politik eines Völkermords um die Verwirklichung von etwas Gedachtem geht, werden nur noch für wenig überzeugend gehalten. Tatsächlich soll im Folgenden aber genau damit gearbeitet werden: mit Gedanken einer Verwirklichung von Gedachtem oder vielmehr eines Wissens, das einer Politik des Genozids zugrunde liegt. Es geht dabei um die Ausbildung eines Wissens, das politisch eine solche Engführung mit sich bringt, dass eine bestimmte Entscheidung alternativlos erscheint. Dazu aber muss sicherlich eine solch simplifizierte Grundüberlegung hinsichtlich Handlungsorientierung und Intentionsbildung, wie sie eben kurz angedeutet wurde, weiter differenziert werden. Daher zunächst noch eine kurze Überlegung zum Begriff der Motivation: Mit „Motivationen“ werden Handlungstendenzen beschrieben, die durch Motive, man könnte auch sagen: durch „innere Bilder“ bestimmt sind. Gerade in jüngeren Forschungsansätzen zur NS-Gewaltpolitik spielt der Motivationsbegriff eine zentrale Rolle, wobei sich hier eine Akzentverschiebung hinsichtlich der Aufmerksamkeit abzeichnet, von Motivationen der Einzelnen zu sogenannten „Motivationsmitteln“, die das System des NS integriert hatte. So wird heute häufig deutliche Kritik an der Berücksichtigung von Einstellungen formuliert, so an der Bedeutung des Antisemitismus oder an Prozessen der Dehumanisierung. So sah Martin Weißmann in einem im Jahr 2015 erschienenen Fachbeitrag zu Schwerpunkten soziologischer Analysen des Holocaust in Bezug auf den Aspekt der Dehumanisierung eine klare Überschätzung in der Frage nach der Ermöglichung der Gewalt in Genoziden.2 Die „Motivation zum Töten“, so Weißmann, liege „in Genoziden in der Regel gerade nicht im Töten selbst“, sondern sie sei „durch Organisationen (oder Gruppen) generalisiert erzeugt“ und durch die formalen und informalen Strukturen gestützt. Will man die Gewalt verstehen, müsse man sich also mit ihren organisationalen und situationalen Rahmungen beschäftigen. Blickt man dabei auf die aktuellen Forschungen, die insbesondere situationale Rahmungen zur Erklärung von Gewalthandeln bzw. zur Erklärung der Partizipation an Gewaltmaßnahmen heranziehen, so lassen sich wiederum zumindest zwei Perspektiven unterscheiden, die sowohl im akademischen Umfeld wie auch in den Feuilletons bereitere Aufmerksamkeit erfahren haben: Einerseits ein raumtheoretisch argumentierender Ansatz, der im Wesentlichen mit den Publikationen Jörg Baberowskis3 verbunden ist und in dem eine, als weitgehend ihrer Eigengesetzlichkeit folgend begriffene Gewaltsituation in die Metapher des „Gewaltraums“ gefasst wird; zum anderen ein von Stefan Kühl in die Diskussion eingebrachter, systemtheoretisch argumentierender organisationssoziologischer Ansatz.4 Obwohl Weißmann. Barberowski; Barberowski/Metzler. 4 Kühl (2014). Vgl. auch: Gruber/Kühl sowie den Beitrag von Stefan Kühl in diesem Band. 2 3
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beide zum selben Phänomen ganz unterschiedliche Zugänge favorisieren und ihren Erklärungsmodellen zudem sehr unterschiedliche Reichweiten bescheinigen – so versteht Kühl seinen Beitrag eher als komplementär zu bestehenden Ansätzen, wohingegen Baberowski mit seiner Studie den Anspruch einer grundsätzlichen Revision bestehender Forschung verbindet –, weisen ihre Argumentationen doch in einem entscheidenden Punkt eine vielsagende Gemeinsamkeit auf: Sie relativieren Erklärungsmuster, die politisch-ideologische oder kulturelle Dispositionen der Täter in den Blick nehmen. Baberowski geht gar soweit, jegliche „Suche nach dem Ursprung der Gewalt“ für vergeblich zu erklären.5 Alle Versuche, das Handeln der Täter mit Blick auf (kollektiv-)biographisches Wissen, auf geteilte Normen und Werte, auf Überzeugungen und Weltanschauungen, auf Strukturen und Prozesse zu erklären, geraten so notwendigerweise zu „historische[r] Voraussetzungsprosa“: „Denn das Leben“, so Barberowski, „ist keine Aneinanderreihung von Ereignissen, die kausal miteinander verknüpft sind. Es setzt sich aus Augenblicken zusammen. Was immer vorher auch geschehen sein mag, es erklärt nicht, warum unter bestimmten Umständen Menschen andere Menschen umbringen.“6 So sehr man dieses Unbehagen an allzu kausalistischen, mithin auch psychologisierenden und pathologisierenden, Tendenzen in der Erforschung politischer Gewalt nachvollziehen kann, so sehr drängt sich doch der Eindruck auf, dass hier vor allem insofern weit über das Ziel hinausgeschossen wird, als eine nicht minder befremdliche, vollkommene Vorrausetzungslosigkeit des Handelns in konkreten historischen Situationen postuliert wird. Hinzu kommt, dass – Barberowskis Prämissen konsequent zu Ende gedacht – auch der Akteur als solcher vollkommen aus dem Blickfeld gerät. Ohne diese Ansätze hier tiefergehend betrachten zu können, lässt sich festhalten, dass zumindest ein Teil der neueren Forschung davon ausgeht, dass Täter ohne eigenes politisches Interesse handeln können. Sie seien durchschnittlich normal und psychologisch unbeschädigt. Dabei lasse sich die historische Situation durch entgrenzte Handlungsräume kennzeichnen, sie sei aber nicht durch die Entgrenzung der psychischen Struktur des Einzelnen charakterisiert. Umgekehrt komme Eigendynamiken und Eigeninitiativen einzelner Gruppen eine wesentliche Rolle in der Durchsetzung und Dynamisierung der Vernichtungspolitik zu. Gleichwohl lässt sich an diese Positionen und Interpretationen die Frage herantragen, was jeweils die Ermöglichungsräume kollektiven Gewalthandelns eröffnet und damit auch die je spezifischen Situationsdynamiken in Gang setzt. Es war Karl Mannheim, der bereits Ende der 1920er Jahre – sicherlich nicht zufällig in Zeiten sich radikalisierender und zunehmend gewaltförmig werdender Auseinandersetzungen zwischen nationalsozialistischen und kommunistischen Kampfbünden – die grundsätzliche Sinnverwiesenheit politischen Handelns herausgearbeitet hatte und zudem akzentuierte, dass eine spezifische Sinnverwiesenheit überhaupt erst eine „Situation“ konstituiere, in der ein spezifisches (Gewalt-) 5
Baberowski, S. 18.
6 Ebd.
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Handeln für ein Kollektiv wie auch für den Einzelnen Plausibilität gewinnt. „Wir sehen immer klarer“, so Mannheim in seiner zentralen, erstmals 1929 erschienenen Schrift Ideologie und Utopie, „daß die Sinnbedeutung, woher sie immer stammt und ob sie wahr oder falsch sein mag, eine bestimmte sozialpsychologische Funktion ausübt: sie hat die Aufmerksamkeit derjenigen zu fixieren, die auf Grund einer bestimmten ‚Definition der Situation‘ etwas gemeinsam unternehmen wollen. Eine Situation wird zur Situation, wenn sie für die Mitglieder der Gruppe in gleicher Weise definiert ist.“7 Eine Situation wird also, folgt man Mannheim, überhaupt erst dadurch zum Handlungsraum einer sozialen Situation, dass sie im Kontext eines bestimmten Sinnhorizonts und vor dem Hintergrund des diesem Sinnhorizont zugrundeliegenden Denkstils8 und Wissens interpretiert wird, eine Einordnung in diesen Sinnhorizont und damit eine Definition erfährt. Dieses Muster, das er aus dem Befund einer Seinsgebundenheit menschlichen Denkens9 und zugleich der unhintergehbaren Wissens- und Erfahrungsgebundenheit jeder Sozialität ableitete,10 sah Mannheim insbesondere im Kontext eines ideologisch begründeten, politischen (Gewalt-)Handelns manifestiert: „Es mag wahr oder falsch sein“, fährt Mannheim (1965), S. 20. Mannheim’schen Konzept „Denkstil“ und dessen Verhältnis zu Ideologie und Weltanschauung vgl. ausführlich: Jung (2007), S. 190 – 206. Als „Denkstil“ betrachtet Mannheim „die stilistische Einheit von charakteristischen Grundbegriffen, die durch bestimmte geistige Träger repräsentiert werden“ (ebd., S. 194), wobei ein Denkstil wiederum durch eine bestimmte Logik charakterisiert ist. Die spezifische Logik eines jeweiligen Denkstils ist nicht gefasst als eine „logische Konsistenz der Argumentation, also die analytisch formale Logik der Verknüpfung von Gedanken“ (ebd.). Vielmehr ist mit „Logik des Denkstils“ „die strukturelle und topologische Kohärenz im Bedeutungs- und Sinngehalt verschiedener Denkinhalte gemeint. Im Denkstil ist eben identisch, was auf der Ebene der Denkinhalte sich different bzw. widersprüchlich ausnimmt. Dies gilt auch für die epistemische Ebene von Erkenntnisprozessen und nicht nur für die Ebene der durch den Denkstil repräsentierten Grundbegriffe.“ (Ebd. S. 194 f.) Thomas Jung fasst schließlich das Mannheim’sche Konzept des Denkstils wie folgt zusammen: „Im Denkstil sind […] drei interdependente Teilmomente des Denkens vereinigt bzw. synthetisiert: seine immanente Formung, ersichtlich durch die Argumentationsstrukturen, seine epistemische Grundbestimmung, erkenntlich durch die vorhandenen Topoi der Wissens- und Erkenntniskonstitution und seine semantische Einheitlichkeit, angezeigt durch Bedeutungsäquivalenzen in den verwendeten Grundbegriffen.“ (Ebd., S. 195) 9 Vgl. hierzu ausführlich Jung (2007). 10 Vgl. auch: „Rein funktionalistisch gesehen, spielt ferner die Ableitung unserer, wahren oder falschen, Sinndeutungen eine unentbehrliche Rolle: sie vergesellschaftet nämlich die Ereignisse für eine Gruppe. Wir gehören zu einer Gruppe nicht bloß, weil wir in sie hineingeboren sind, nicht nur, weil wir behaupten zu ihr zu gehören, noch schließlich weil wir ihr unsere Loyalität und Anhänglichkeit schenken, sondern hauptsächlich weil wir die Welt und bestimmte Dinge in der Welt so sehen, d.h. durch die Sinndeutungen der fraglichen Gruppe hindurch. In jedem Begriff, in jeder konkreten Sinngebung haben sich die Erfahrungen einer bestimmten Gruppe kristallisiert.“ (Mannheim (1965), S. 20 f.) „Gerade weil das Wissen fundamental kollektives Wissen ist (der Gedanke des einsamen Individuums ist nur ein Sonderfall und eine späte Entwicklung), setzt es seine Gemeinschaft des 7
8 Zum
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Mannheim fort, „wenn eine Gruppe eine andere Ketzer nennt und als solche gegen sie kämpft, aber nur durch diese Definition wird der Kampf zu einer sozialen Situation. Es kann wahr oder falsch sein, daß eine Gruppe dafür kämpft, eine faschistische oder eine kommunistische Gesellschaftsordnung zu verwirklichen, aber nur mittels dieser sinngebenden, wertenden Definition schaffen Ereignisse eine Situation, in der Handeln und Gegenhandeln unterscheidbar, und die Ereignisse insgesamt zu einem Prozeß artikuliert werden.“11 Mit Blick auf die Beteiligung gewöhnlicher Menschen an genozidaler Gewalt können Mannheims Überlegungen zur notwendigen Sinnverwiesenheit menschlichen Handelns sowie zu den Voraussetzungen der Konstitution einer dem jeweiligen Handeln Plausibilität verleihenden „sozialen Situation“ die Chance eröffnen, virulente Erklärungsmodelle dahingehend zu ergänzen, dass sie es ermöglichen, gesellschaftliche Handlungs-, Struktur- und Kulturzusammenhänge miteinander zu vermitteln. So können, darauf hat Stefan Friedrich in seiner, allerdings an Modelle von Max Weber und Cornelius Castoriadis anschließenden Studie zur „Soziologie des Genozids“12 hingewiesen, im Rekurs auf die Sinnverwiesenheit menschlichen Handelns beispielsweise Institutionen und Organisationen als Rahmenbedingungen gesellschaftlicher Handlungszusammenhänge gefasst werden, ohne diese für statisch, starr und funktional notwendig zu halten. Vielmehr können auf diese Weise die an diesen Rahmenbedingungen orientierten individuellen sowie kollektiven Handlungen und deren Ergebnisse an den jeweiligen Sinnzusammenhang zurückgebunden werden, den die Akteure durch Interpretations- und Deutungsleistungen gesellschaftlicher Wirklichkeit gewinnen. Dieser Sinnzusammenhang wiederum verweist auf einen je spezifischen Denkstil und die ihm zugrundeliegenden Wissensformen, schließlich auch auf ideologische Überzeugungen und ihre institutionellen Ausgestaltungen.13 Dies weiterdenkend, lassen sich schließlich konstitutive Aspekte einer „Tätergesellschaft“14 konturieren, die als handlungsermöglichender oder auch handlungsbeschränkender Hintergrund für eine Politik der Vernichtung begriffen werden kann. Wenn wir davon ausgehen, dass die allgemein anschlussfähigen Werte und Normen und somit der Sinnhorizont einer spezifischen Gesellschaft ursächlich die Wahrnehmung und Interpretation von Wirklichkeit der Individuen anleiten sowie gesellschaftliche Ideale, politische Zielvorstellungen und Gestaltungsvisionen vorstrukturieren, so lässt sich folgern, dass dies den entscheidenden Rahmen dafür eröffnet, dass sich nicht nur überzeugte, einer Ideologie folgende Akteure, sondern Wissens voraus, die primär eine im Unterbewußten vorbereitete Gemeinschaft des Erlebens ist.“ (Ebd., S. 28 f.) 11 Ebd., S. 20. 12 Friedrich (2012), hier insbesondere S. 263 – 308. 13 Ebd., S. 273. 14 Vgl. zur im Bochumer Institut für Diaspora- und Genozidforschung entwickelten Arbeitskategorie der „Täterforschung“ und zum Konzept der Tätergesellschaft Dabag (1999); Platt (2005), insbes. S. 30 ff. Vgl. auch: Friedrich (2012), S. 263 – 308, sowie Friedrich (2011).
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ganz unterschiedliche politische, soziale und weltanschauliche Schichten, Berufsund Interessengruppen in die aus diesen Werten und Normen abgeleiteten politischen Programme und in die Prozesse ihrer gegebenenfalls gewaltsamen Verwirklichung einfinden können – und auch aktiv einfinden.15 Dabei lässt sich durchaus feststellen, dass eine Tätergesellschaft grundlegend konstituiert wird über eine Linie diskreter Unterscheidung „zwischen dem was leben, und dem was sterben muß“16 – wobei diese diskrete Linie als eine Leitdifferenz des Denkstils jener Gesellschaft begriffen werden muss, über der dann Institutionen und Organisationen errichtet und Situationen letztendlich geplant werden und (politisches) Handeln Sinn gewinnt. Besondere Bedeutung gewinnen in diesem Kontext nicht zuletzt (Re-)Konstruktionen von Feindschaft und Feindgestalten beziehungsweise die Aktualisierung von Feindbildern.17 Kristin Platt hat in ihren Erörterungen zur Bedeutung von Feindschaft für die Konstituierung genozidaler Tätergesellschaften18 darauf hingewiesen, dass der „Feind“ in sozialwissenschaftlichen Diskussionen als ein Ergebnis sozialer Differenzierungsprozesse begriffen würde und damit als negative Folie von „Inklusionen, die sowohl die funktionalen als auch identifikativen Charakteristika moderner Gesellschaft ausmachen.“19 Der Feind erscheint somit als das Resultat der für eine Gesellschaft konstitutiven Differenzierungsvorgänge, die mit Prozessen von Inklusion und Exklusion einhergehen, er fungiert als „ein Gegenbild, eine abbildliche, binäre Alternative in einer disjunktiven Gestaltung von Wirklichkeit.“20 Allerdings macht Platt zurecht darauf aufmerksam, dass den vorgängigen Prozessen der Feindgestaltung und dem „Feindregister“ bisher zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet worden ist, da es weniger die Gestalt und die Gestaltung des Feindes selbst sei, die sich als konstitutiv für eine Gesellschaft erweise als vielmehr die „mit den jeweiligen Gestaltungen codierten Bedeutungen“: Daß der Feind in einer Beziehung zu den Funktions- und Identitätsoperationen einer Gesellschaft steht, läßt sich also nicht nur als Aktualisierung von Exklusionen, sondern auch als Assoziation der historischen, statuskonstituierenden Prozesse der modernen Gesellschaften, ihrer Codierung und Rekonstruktion lesen. Die Feindwerdung beruht folglich auf regulativem Ordnungshandeln und identitätskonstitutierenden Setzungen (nicht Abgrenzung von etwas bereits Definiertem). Der Feind wäre dann nicht Verbildlichung von gesamtgesellschaftlichen, universalen Exklusion, sondern Aktualisierung von Motivationen, zum Beispiel Beweis von Zusammenhalt, Bewährung, Heldentum, Opfer, Vision und Versprechen.21 Vgl. hierzu ausführlich Dabag (2005). Foucault, S. 301. 17 Aus der umfangreichen Forschungsliteratur zu Feindschaft und Feindbildern sowie ihrer politischen Bedeutung vgl. exemplarisch Brehl/Platt. 18 Platt (2003). 19 Ebd., S. 21. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 29. 15 16
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Somit signiert der Feind Differenz, er verweist auf die Ordnungsarchitektur einer Gesellschaft, und ihrer konstitutiven Normen – und er signiert zugleich ihre Bedrohungen und Gefährdungen, einen zu überwindenden oder gar zu vernichtenden Widerstand, wenn die Ordnung vollkommen sein und ihre Zukunft gesichert werden soll.22 Im Folgenden sollen einige Überlegungen vorgestellt werden, um das Ineinandergreifen des ideologischen Rahmens politischer Visionen und des mit diesem Rahmen korrespondierenden Denkstils einerseits und des Selbstentwurfs des sich in eine solche Politik einschließenden Subjekts andererseits zu umreißen. Denn wir können die Gewalt im Genozid nicht abtrennen von Intentionen und Zielvorstellungen sowie dem Sinnhorizont des handelnden Subjekts. Dies vor allem deshalb nicht, weil ja nicht die Gewalt selbst das Ziel des Holocaust war und auch nicht das Ziel des Völkermords an den Armeniern. Dies anzunehmen, wäre ein grober Kurzschluss. So fungierte die öffentlich inszenierte Gewalt, die Folterungen und Zurschaustellung, die wir aus den Quellen über den Genozid an den Armeniern kennen, zur Formierung einer Öffentlichkeit für die Deportationspolitik: Sie diente der Mobilisierung und der Schaffung einer Öffentlichkeit. Sie ist jedoch nicht in eins zu setzen mit der Vernichtungsgewalt, die im Genozid entwickelt worden ist. Und die wir eben nicht ohne übergreifende Ziele verstehen können. Warum? – Weil Gewalt sich womöglich gleicht, wenn man auf den Akt des Tötens sieht. Sie gleicht sich aber nicht, und das ist mein drängendes Plädoyer für eine starke Differenzierung zwischen einerseits Genozid und andererseits solchen gegenwärtigen Kunstbegriffen wie „Massenraubmord“.23 Sie gleicht sich also nicht in Bezug auf die Ziele, die mit den massenhaften Tötungen verfolgt werden: In der Gewalt des Genozids geht es eben nicht um das Töten selbst, sondern um die Veränderung einer Gesellschaft – sie zielt auf diese Veränderung von Gesellschaft. Damit wird die Funktion des obenstehenden Exkurses vielleicht nochmals deutlich, nämlich darauf aufmerksam zu machen, dass nicht die Gewaltsituation selbst einen Genozid möglich macht. Gewalt ist möglich. Und ganz gleich, ob und wie wir entscheiden, welcher Faktor jeweils ausschlaggebend ist, Person oder Situation, persönlich-biographische Motive oder organisationale Strukturen, so sagt dies etwas darüber aus, wie Menschen fähig werden, Gewalt auszuüben. Es sagt jedoch kaum etwas darüber aus, wie es zu einem Genozid kommt. Denn die Fähigkeiten des Menschen zur Gewalt gibt uns nichts an die Hand zu erklären, warum die Strukturen des Gewalthandelns und Tötens wiederholbar sind, warum sie stabil sind. Es sagt uns also etwas drüber, warum und wie Menschen töten. Es sagt uns nichts darüber, warum sie bereit sind, über Monate zu töten. Um Genozide zu verstehen, muss der Blick auf die Entscheidung zum Genozid gerichtet werden – und um die Entscheidung zum Genozid zu verstehen, sind die Wissenshorizonte einer Gesellschaft, ihre 22
Vgl. hierzu ebd., S. 44 und 51. Diesen Begriff hat Christian Gerlach geprägt. Vgl. Gerlach (2002) und Gerlach, Teilnehmen. 23
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Sinnsysteme und der ihr eigene Denkstil zu berücksichtigen. Dabei bestimmen nicht die historischen Erfahrungen der aktuellen Generationen die entscheidenden Wahrnehmungs- und Erfahrungshorizonte, sondern die Folien und Bilder, die von den vorhergehenden Generationen ausgeprägt und tradiert worden sind. So wird stets gerne davon gesprochen, dass sich das Osmanische Reich um 1900 in der Situation einer Krise befand und aus der Krise heraus gehandelt habe. Tatsächlich aber ist für den Genozid nicht die Erfahrung einer Krise entscheidend gewesen. Entscheidend war die Diskussion der vorhergehenden politischen Generationen darüber, dass eine solche Krise kommen kann und wird – und dass diese Krise entscheidend sein wird sowohl für die Zukunft des Reichs als auch für eine übergreifende Zukunft in der Geschichte.24 Womöglich sind hier nun in der Engführung der Argumente manche Beobachtungen verschaltet worden, ohne sie eigentlich strukturbezogen verschalten zu wollen. Dies betrifft auch die Überlegung zu den politischen Generationen, die die Bewegung der Jungtürken und die Durchsetzungskraft der Partei stärkten, ebenso wie die Überlegung zu den Generationen, die das Bewusstsein herausbildeten, in welchem der Nationalsozialismus dann seine Anhänger gewinnen konnte. Worum es mir vor allem geht ist, zu betonen, dass der Entschluss zu einem Genozid nicht im Rahmen von Eskalationsstufen oder Dynamiken der Gewaltprozesse fällt. Er fällt vielmehr generationenübergreifend dort, wo das Bild einer notwendig werdenden, harten Entscheidung entsteht und tradiert wird – einer Entscheidung, die getroffen werden muss für die Gestalt und die Gestaltung der Zukunft.25 Die Erfahrungen der Völkermorde des 20. Jahrhunderts haben es unmöglich gemacht, über zentrale Aspekte von Gesellschaft und Identität in der Moderne zu sprechen, ohne dabei zu berücksichtigen, dass Gewalt und Genozid integrale Prozesse moderner Gesellschaften sind. Vor einigen Jahren bereits hatte Thomas Macho davon gesprochen, dass die „Futurisierung des Guten“26 als eine Signatur der Moderne betrachtet werden müsse – eine Signatur, aus welcher der Anspruch und der Auftrag zur Gestaltung der Zukunft abgeleitet sei. Dieser Gedanke der Verbesserungsbedürftigkeit und Verbesserungsmöglichkeit, der Gedanke also einer notwendigen Optimierung der Geschichte, der Gesellschaft, ja auch des Menschen selbst, hat nicht zuletzt auch Prozesse der Gewalt als Mittel der Gestaltung denkbar werden lassen.27 In den Forderungen von Gestaltung, die in den Nationalbewegungen des 19. Jahrhunderts entwickelt worden sind, geht es jedoch nie nur um eine Gestaltung um ihrer selbst willen, sondern es geht um Ideen der Erneuerung, der Rettung, der Erlösung.28 Denn mit der Institutionalisierung einer allgemein gültigen 24 Vgl. mit Blick auf den Aspekt einer solchen transgenerational vorbereiteten „Krisendiagnostik“ insbesondere auch die Überlegungen in Friedrich (2012), S. 288 f. 25 Vgl. hierzu die grundlegenden Überlegungen von Kristin Platt (2006). 26 Macho, S. 318. 27 Vgl. hierzu Dabag (2006), inbesondere S. 142 – 145. 28 Vgl. hierzu Löwith.
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Zeit und mit der Durchsetzung der Vorstellung eines linear-progressiven Weltlaufs, der vom Menschen selbst zu gestalten sei, wird auch „Erlösung“ als konkretes geschichtliches Ereignis machbar. Das heißt: nicht die Erfahrung offener Handlungsräume, wie es die moderne Soziologie ausdrücken würde, definiert ein „Zeitalter der Machbarkeit“;29 vielmehr wird das Handeln aufgrund dessen ermächtigt, dass die Schicksalsbestimmtheit als beendet erklärt wird. Der Beginn für das Denken einer Moderne, in der Geschichte und Erziehung, Entwicklung und Kultur gestaltbar werden, wird durch universale Linearisierungen markiert. Vor allem aber wurde eine Vorstellungsentwicklung für die Geschichte der Nationalbewegungen entscheidend: Geschichte und Zukunft waren nur noch homogen denkbar. Wenn hier mit Blick auf das 20. Jahrhundert über „Gestaltbarkeit“ gesprochen wird, dann sicherlich mit Blick auf die absoluten, jene totalen Gestaltungsvisionen und Ordnungsentwürfe: den exklusiven Nationalismus, Faschismus und Nationalsozialismus, Stalinismus und Maoismus. Es handelt sich bei diesen ideologischen Systemen um Entwürfe, die explizit die grundsätzliche Veränderung von Geschichte und Gesellschaft für sich in Anspruch nahmen. Eingreifen in die Geschichte, Überwinden und Neugestalten – dies sind einige der Motive, die Konsensfähigkeit von Regimen wie dem des Nationalsozialismus oder dem der Jungtürken zentral mitbestimmt haben. In seinem berühmten Gedicht „Turan“ aus dem Jahr 1911 hatte der zweifellos wichtigste Theoretiker und Ideologe der Jungtürkenbewegung, Ziya Gökalp, geschrieben: „Das Vaterland der Türken ist weder die Türkei, noch Türkistan; / das Vaterland ist ein großes, unendliches Land: Turan“.30 Als Gökalp diese Zeilen schrieb, hatten die Jungtürken bereits die Macht übernommen und das Parlament in ihren Händen.31 Die Jungtürken hatten sich als Reformbewegung innerhalb der modernisierenden Entwicklungen des Osmanischen Reichs entwickelt, unter dem Banner eines „neuen Fortschritts“ (terakkiyat-i cedide). Dieser modernisierende Reformprozess wurde dann Ende des 19. Jahrhunderts abgelöst von den Visionen eines „neuen Lebens“ (yeni hayat) wie einer „neuen Ordnung“, die der Verwirklichung von milli hayat unterstanden: des „nationalen Lebens“.32 Es ist interessant festzustellen, welcher Stellenwert der Vision, dem Ideal, der Utopie im jungtürkischen Diskurs, gefasst in das Konzept mefkûre33 (osmanisch, Marquard. Gedicht erschien in mehreren Zeitschriften, so in Genç Kalemler, Nr. 4 vom 23. 05. 1911; Wiederabdruck in der Sammlung Kızıl Elma, Istanbul 1914. 31 Zur „Revolution“ der Jungtürken und zu ihrer Politik bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs vgl.: Kansu (1997) und Kansu (2000). 32 Zur ideologischen Entwicklung der osmanisch-türkischen Reform- und Nationalbewegungen seit Mitte des 19. Jahrhunderts vgl.: Taglia; Dabag (1998), insbesondere S. 156 – 170; Arai. Zur organisatorischen Entwicklung der Jungtürken vor der Machtübernahme vgl. insbesondere auch die Arbeiten Hanioğlu (1995) und Hanioğlu (2001). 33 In seinem programmatischen Aufsatz „Mefkûre“ (erschienen in: Türk Yurdu 5 (1913), Nr 32); wieder veröffentlicht in: Gökalp (1918), definierte Ziya Gökalp das Konzept „mef29
30 Das
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dt.: Ideal) als handlungsleitender Denkfigur für die politische Praxis, zugeschrieben wurde. Immer wieder betonten jungtürkische Intellektuelle, dass Politik grundsätzlich an mefkûre orientiert sein und auf die Verwirklichung von mefkûre zielen müsse. Das leitende Ideal der Jungtürken war dabei die politische Verwirklichung der Einheit aller Türken (tevhid-ı etrâk) unter einer territorialen, dabei aber kulturell und insbesondere sprachlich legitimierten Raumvision: Turan – wobei nicht bei einer kulturellen Einheit stehen zu bleiben sei, sondern diese in eine staatliche Einheit überführt werden müsse. So beschrieb die territoriale Vision „Turan“ tatsächlich einen sämtliche turk-sprachigen Völker einschließenden national-imperialen Großraum. Diese Konzeption korrespondiert übrigens mit dem Gedanken einer territorialen „Wiedervereinigung der Volkheit“, den Karl Haushofer seit den 1920er Jahren als die geopolitischen Maxime der Pan-Bewegungen charakterisiert hatte.34 Während dabei die territorialen Grenzen von Turan zwischen Südosteuropa und Zentralasien zunächst eher unklar blieben, waren seine politischen und sozialen Grenzen jedoch umso eindeutiger. Und in diesen politischen und sozialen Grenzen hatte „der Andere“, der Nicht-Türke, keinen Platz. So hatte Ziya Gökalp in seiner wichtigen Schrift „Die Prinzipien des Türkismus“35 aus dem Jahr 1913 formuliert: „Das weiterreichende Ideal des Türkismus ist Turan. […] Turan ist ein sozialer Terminus, der allein Türken einschließt. Turan ist das große Vaterland aller Türken, das in der Vergangenheit Realität war und dies auch in der Zukunft wieder sein wird. Turaner (turanlılar) sind nur türkisch sprechende Menschen.“36 Der Türkismus, der spätestens nach 1908 zunehmend die Qualität einer politischen Bewegung gewonnen hatte, strebte nach einer Verwirklichung der türkischen Einheit, nach einer Rückbesinnung auf das vergessene oder vernachlässigte türkische Selbst und die Wiedererweckung einer zu Unrecht unterdrückten Überlegenheit des Türken. Dieses Ideal war leitend für den gesamten Denkstil, für die Wissenschaft, die Kultur, die Literatur, die Politik, die Wirtschaft und das soziale Leben. Mit der territorialen Vision Turan erfuhr diese Utopie einer Neuschaffung türkischer Identität eine räumliche Konkretisierung und zugleich Fokussierung der Gestaltungsoptionen. Auf die Evidenz solcher territorialen Visionen für die Mobilisierung im Kontext von Gewaltpolitiken hat jüngst Ulrike Jureit nachdrücklich hingewiesen und in diesem Zusammenhang den Begriff eines „territorial konkretisierten Sehnsuchtsraums“ verwendet.37 Der „territorial konkretisierte Sehnsuchtsraum“ der Jungtürken – Turan – war explizit verbunden mit dem Entwurf einer Ordnung und eines Volkskörpers, die durch gestalterisches Eingreifen geschaffen werden könnten. Wohl selten wird kûre“ als ein Ideal, das aus der Vergangenheit einer Nation komme und diese Nation in die Zukunft führe. 34 Vgl. beispielsweise Haushofer. Zum Pan-Türkismus vgl. immer noch: Landau. Zum Pan-Türkismus und Pan-Turanismus im Osmanischen Reich, dort insbes. S. 29 – 73. 35 Gökalp (1968). 36 Ebd., S. 19. 37 Jureit (2016), S. 22. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: Jureit (2012).
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man den Gedanken eines gewaltsam zu gestaltenden Volkskörpers, gefasst in die Metapher des Gärtnerstaates im Sinne Zygmunt Baumans,38 klarer formuliert finden als in einer Passage des 1913 entstandenen Lehrgedichts „Kızılelma“ („Roter Apfel“ – ein Symbol für das Reich Turan) von Ziya Gökalp: „Das Volk ist wie ein Garten, / wir sollen seine Gärtner sein! / Man schneide erst die schlechten Triebe / und pfropfe dann das Edelreis!“39 Diese Verse lässt Gökalp die zentrale Frauengestalt des Epos, das „edle“ türkische Mädchen Ay Hanum sprechen, aus deren Schoß neue Generationen hervorgehen sollten. Das Schaffen, die Gestaltung neuer Generationen – dieses nationale Ziel wird vor allem in den nationalpolitischen Identitätsentwürfen der Jungtürken deutlich. In den jungtürkischen Publikationsorganen – aber nicht nur in diesen – führten wissenschaftliche Abhandlungen, Kommentare, Theaterstücke, (Lehr-)Gedichte und Erzählungen diese Identitätsarbeit vor. Nach ihrer Machtübernahme etablierten die Jungtürken ein Netz von Clubs und Vereinen, die häufig programmatische Namen wie Türk Yurdu (dt.: Türkische Heimat), Türk Ocağ (dt.: Türkischer Herd) oder Genç Kalemler (dt.: Junge Federn) trugen. Die Funktion dieser Clubs und Vereine bestand vor allem darin, die mefkûre durch Literaturlesungen und Vorträge in den Provinzen des Osmanischen Reichs zu verbreiten und so zu einer Atmosphäre der nationalen Mobilisierung und des Aufbruchs beizutragen.40 Bedeutsam und besonders weit verbreitet waren unter anderem die Erzählungen und Romane von Ömer Seyfettin (1884 – 1920). In seiner 1914 zunächst als Fortsetzungsroman in der Zeitschrift Türk Sözu (dt.: Wort des Türken) erschienenen Erzählung Primo, der türkische Junge,41 legte Seyfettin ein in diesem Sinne nachgerade paradigmatisches Narrativ vor. Ein Junge, der Vater Türke, die Mutter Italienierin, entdeckt durch unterschiedliche Krisen- und Erweckungserlebnisse seine türkische Identität und wächst zugleich in die Aufgabe eines moralischen Streiters hinein. Der Vater reflektiert diese Entwicklung: „In den Tiefen der kastanienbraunen Augen des Jungen sah er, dass etwas, das er bis jetzt für reine Phantasie gehalten hatte, eine große, erhabene Wahrheit war, und begriff, dass die große türkische Seele in der neuen Generation, in neuem Leben wiedergeboren wurde.“42 Die europäische Mutter dagegen entfremdet sich dem Sohn – sie erkennt zwar dessen Identität an, fürchtet jedoch seine Überlegenheit: Sie „schluchzte wie ein Symbol des feigen Weibes, einer
Bauman, Ambivalenz. Vgl. für eine Übersetzung die deutsche Nachdichtung von Tekin Alp in Dschelal-Sahir/Alp, S. 46 – 58, hier S 47. 40 Zu Struktur und Funktion der jungtürkischen Clubs vgl.: Dabag (1998), insbes. S. 196 ff. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Masami Arais immer noch exemplarische Studie zu Genç Kalemler. 41 Seyfettin (1914). Zuvor war am 18. 12. 1911 ein Auszug aus der Erzählung in der Zeitschrift Genç Kalemler publiziert worden. Eine deutschsprachige Ausgabe, nach der im Folgenden auch zitiert wird, erschien vor wenigen Jahren: Seyfettin (2008). 42 Ebd., S. 34. 38
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schwachen, kranken, trägen Europäerin, die unter der Überlegenheit des jungen, hellwachen, triumphierenden Türkentums zusammenbrechen würde.“43 Neue Generationen zu schaffen, als bewusste, als gestalterische Arbeit, das Aufwachsen einer neuen, anderen Generation zu ermöglichen – dies ist das zentrale gesellschaftliche Ziel, mit dem Genozidpolitik möglich wird. Der Aspekt des Generationalen spielt mit Blick auf die Trägergruppen genozidaler Politik übrigens auch eine wichtige Rolle im Kontext der Selbstermächtigung zur radikalen Tat.44 Das Muster, eine Generation zu sein – und eben nicht nur eine politische Gruppierung, nicht nur eine spezifische Bewegung –, ist tatsächlich als ein wichtiges Formierungselement einzuschätzen. Die Definition als Generation erlaubt die Erklärung von Gemeinsamkeit durch gemeinsame Erfahrung, und zwar unabhängig von den tatsächlichen Geburtsjahrgängen.45 Sie stellt jedoch ferner, neben den Kontinuierungen, einen Rahmen bereit für die Forderung von Brüchen – Brüchen, die eine grundlegende Änderung politischer und sozialer Verhältnisse signieren sollen, um eine als ideal gesetzte Zukunft zu verwirklichen, die in der Vergangenheit so versprochen war. Dabei geht es um einen Bruch in der Geschichte, einen Bruch, der Erwartung und Versprechen zusammenführen soll. Die Selbst-Konzeptualisierung als „historisch handelnde Generation“, die sich ermächtigt, eine in der Vergangenheit versprochene Zukunft durch einen radikalen Bruch zu verwirklichen und somit einen historischen Auftrag zu erfüllen, definiert zugleich eine Stunde der Wahrheit, einen Moment der Bewährung. Jene Generation, die sich ermächtigt, durch eine solche gewaltsame Zusammenführung von Versprechen und Erfüllung, eine „Gegenwart“ zu vernichten, um „Zukunft“ zu gestalten, diese bezeichne ich als „entscheidende Generation“.46 Die Definition der Zielgruppe eines Genozids wird sicherlich gefördert von allgemein verbreiteten Stereotypen und Vorurteilen oder auch einer Vorgeschichte der Verfolgung. Doch ist die Atmosphäre der Vernichtung geprägt insbesondere von dem Gefühl der Erfüllung einer nationalen, einer möglicherweise auch als schwer empfundenen Pflicht: Nämlich von der Befolgung einer wichtigen, ehrvollen Aufgabe, dem Handeln für einen Neubeginn, einen Aufbruch in die Moderne – beziehungsweise eine Radikalisierung dieser Moderne – und dies unter dem Eindruck einer Gefahr, einer Bedrohung des eigenen „Volkskörpers“. Um einen Völkermord denken zu können, um Geheimorganisationen und Funktionseinheiten mit der Durchführung zu beauftragen, um eines breiten Konsens in der Bevölkerung sicher zu sein, reichte eine auf traditionelle Vorurteile und Rassismus gestützte Erklärung nicht aus. Die Täter eines Völkermords, die über einen langen 43 Ebd.
Vgl. hierzu ausführlich Dabag (2006). Mannheim (1968). Der erste Teil des Aufsatzes erschien zuerst in: Kölner Vierteljahreshefte für Soziologie 7 (1928/1929), S. 157 – 185 und S. 329 – 330 (Anmerkungen). Zu Mannheims Konzept vgl. die detaillierte Auseinandersetzung von Zinnecker und auch Dabag (2006), S. 145 – 153. 46 Ebd., S. 151 – 153. 44 45
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Zeitraum hindurch, täglich, über Monate hinweg, systematisch und mitleidlos töten, sie haben ein klares Ziel, eine eindeutige Aufgabe und – sie beweisen sich positive Selbstbilder. Zu diesem Selbstbild gehört zentral das Muster der Erwählung: eine Aufgabe zu leisten, die andere nicht bewältigen können; eine Aufgabe, die sie für andere leisten; eine Aufgabe, die einem höheren Zweck folgt. Der einzelne Täter fühlt sich als Teil einer breiten, im Willen und in der Bereitschaft zur Tat solidarischen Gemeinschaft.47 Das Muster der Erwählung einer Generation, die aufgrund ihrer Entschiedenheit und Entschlossenheit allein dazu in der Lage sei, jene Aufgabe zu verwirklichen, bringt zudem den Faktor Zeit ins Spiel, ja sie führt zu einer radikalen Verknappung des temporären Spielraums auf die Spanne der eigenen Lebenszeit. So erklärte Hitler zum Beispiel im Oktober 1937 in einer Ansprache vor Propagandaleitern, dass er selbst nicht mehr lange zu leben habe und es daher notwendig sei „die Probleme, die gelöst werden müßten (Lebensraum!) möglichst bald zu lösen, damit dies noch zu seinen Lebzeiten geschehe. Spätere Generationen würden dies nicht mehr können.“48 Die hier deutlich werdende Überzeugung von der Notwendigkeit einer Lösung der Aufgaben noch innerhalb der eigenen Lebenszeit – und damit auch der Lebenszeit der eigenen, entscheidenden Generation – findet sich im Diskurs der Nationalsozialisten durchaus häufig. So konstatierte auch Otto Hofmann, Gruppenführer und Generalleutnant der Waffen-SS und Chef des Rasse- und Siedlungshauptamtes, in seinem Schlusswort zur Tagung der SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen im September 1942: „Ich glaube, dass uns noch große Aufgaben in den weiter nach Osten gelegenen Räumen erwarten. Das müssen wir in den 20 Jahren schaffen, in denen wir noch leben. Denn ob die Generation, die nach uns kommt, mit derselben Entschlossenheit und Unerbittlichkeit an diese Aufgaben herangeht, das bezweifle ich sehr stark.“49 Ganz eindeutig hat die Durchsetzung des täterpsychologischen Normalitätsparadigmas zu einer Art Befreiung geführt. Wir gehen von unbeschädigten, in einem von Situationszwängen bestimmten Raum handelnden Akteuren aus, die in allem irgendwie durchschnittlich sind – in ihren Biographien, ihren Karrieren, ihrem Sadismus. Sie folgen in ihrem Handeln nicht eigenen Interessen. Vielmehr verdichtet sich in ihrem Handeln eine situativ eskalierende Gewaltdynamik. Aber diese Akteure handeln nicht unter Laborbedingungen. Daher meine ich, dass der zentrale Ausgangspunkt, von dem aus wir beginnen müssen, noch einmal neu nach den Ursachen eines Genozids zu fragen, folgender ist: Der Aspekt der sozialen und gesellschaftlichen Rahmungen und die Schnittflächen, die schließlich zur „Verschiebung“ des Handelns von Akteuren führen können. Die Möglichkeit, einen 47 Vgl. in diesem Zusammenhang die exemplarische Studie von Lasse Wichert zu Persönlichkeitsentwürfen und Strategien der Selbstkonstitution in der völkisch-nationalen und nationalsozialistischen Literatur der 1920er und 1930er Jahre: Wichert. 48 Domarus, S. 745. 49 Otto Hofmann: Schlußwort zur Tagung der SS-Führer im Rasse- und Siedlungswesen im September 1942. (BArch Berlin-Lichterfelde R 58/2, Bl. 55 – 62, hier Bl. 57 f.).
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„Wendepunkt“ zu erfahren, ihn zu er-handeln, ist zunächst ein Aus-Handeln mit sich selbst. Es ist die Frage, ob ein „Nein“ zu einem Handeln integrierbar ist in ein anderes Persönlichkeitskonzept, einen anderen Persönlichkeitsentwurf. Handeln und Persönlichkeitsentwurf sind nicht zu trennen. Wir verstehen uns als Personen mit moralischen Überzeugungen, wobei wir davon überzeugt sind, dass diese moralischen Überzeugungen auch in unserem Handeln und unserer Persönlichkeit sichtbar sind. Dabei wissen wir, dass wir in unterschiedlichen Situationen unterschiedlich handeln. Aber wir gewichten dieses Handeln selbst danach, ob und wie wir es typisch oder richtig für uns finden. Wir dürfen dabei allerdings eines nicht übersehen: Persönliche Ziele, Persönlichkeitsbilder und Handlungsimpulse entstehen, wie ich oben anhand der Argumentation Karl Mannheims gezeigt habe, grundsätzlich in einem sozialen Umfeld. Wenn wir beispielsweise nach den entscheidenden Faktoren und Bedingungen des Nationalsozialismus suchen, dann ist die Entstehung solcher Handlungsimpulse in Deutschland wohl spätestens ab Mitte der 1920er Jahre anzusetzen. Die wichtigsten Bilder werden allgemein geteilt – und sie sind sicherlich nicht auf den ersten Blick als „ideologische Überzeugungen“ zu erkennen. Denn sie sind eher das unverrückbare Fundament für diese Ideologie, die sich in den 1920er Jahren herausbildet. Es handelt sich bei diesen Überzeugungen um jene Elemente der NS-Weltanschauung, die auch später als kaum diskutierbar, die als unverrückbar gelten. Dazu gehört die Vorstellung, in einer Enge zu leben, einer räumlichen Enge, die Deutschland betrifft, einer Enge für persönliche Lebensentwürfe. Dazu gehört auch die Überzeugung, dass eine Zukunft Deutschlands nur mit einer Vergrößerung des Lebensraums möglich ist und mit einer Eliminierung aller „volksfremden Elemente“. Wir können die Situationen, in denen sich dann die berüchtigten Einsatzkommandos an der Ostfront befinden, nicht auf die situationalen Bedingungen reduzieren: Hingegen bedingen sich psychodynamische und soziale Prozesse gegenseitig. Die Täter assoziieren sich nicht über eine Ausschaltung moralischer Überzeugungen in eine pathogene Situation, mit dem Ziel kognitive Dissonanz zu reduzieren oder persönliche Kohärenz zu bewahren. Hingegen erschaffen sie eine Situation, die dem Weltbild, der weltanschaulichen Überzeugung und dem Denkstil ihrer (NS-)Umgebung entspricht und damit Kohärenz verspricht. Das Handeln in der Situation folgt somit dem Versprechen von Kohärenz hinsichtlich einer weltanschaulich erklärten und als historisch definierten Verwirklichungsaufgabe.
Aufarbeitung, Erinnerungspolitik und Prävention
Holocaustverbrechen vor alliierten und deutschen Gerichten Zu den Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die spätere Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte in Verfahren gegen Holocausttäter Von Hans-Christian Jasch Hans-Christian Jasch Holocaustverbrechen vor alliierten und deutschen Gerichten. Zu den Auswirkungen der Nürnberger Prozesse auf die spätere Rechtsprechung bundesdeutscher Gerichte in Verfahren gegen Holocausttäter
„Wenn die Kommandanten der Todeslager die ihnen erteilten Befehle zur Ermordung der unglücklichen Häftlinge ausgeführt haben, wenn die Leute, die die Befehle für die Abschiebung der Juden nach dem Osten ausgeführt und vollzogen haben, vor Gericht gestellt, für schuldig befunden und bestraft werden – und daran haben wir keinen Zweifel –, dann sind die Männer ebenso strafbar, die in der friedlichen Stille ihrer Büros in den Ministerien an diesem Feldzug durch Entwurf der für seine Durchführung notwendigen Verordnungen, Erlasse und Anweisungen teilgenommen haben.“1
I. Holocaustverbrechen vor dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess Die offizielle Dokumentation der Kriegsverbrechen der Achsenmächte und darunter fielen auch die Verbrechen an Juden, die nicht die Staatsangehörigkeit einer Achsenmacht hatten, hat früh begonnen.2 Bereits nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in der Tschechoslowakei und Polen im Jahre 1939 waren auf alliierter Seite Kriegsverbrecherkommissionen gebildet worden, die Beweise für deutsche Verbrechen sammelten und die damit im Zusammenhang stehenden Rechtsfragen bearbeiteten.3 Der britische Premier Churchill geißelte nach einem Treffen mit dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt zur Unterzeichnung der Atlantik-Charta am 24. August 1941 in der BBC die verbrecherische Kriegsführung und sprach von der „barbaric fury“ und „the most brutal exhibitions of ruth lessness“. Und Churchill weiter: „Since the Mongol invasions of Europe in the six1 Auszug aus dem Nürnberger Urteil gegen den Wannsee-Konferenzteilnehmer Wilhelm Stuckart, in: Kempner/Haensel, S. 169. 2 Der Begriff „Holocaustverbrechen“ für den Judenmord hat sich in Deutschland erst spät herausgebildet, und der Begriff „Holocaust“ begegnet immer noch Vorbehalten, die sich u. a. sprachgeschichtlich rechtfertigen lassen. Der Begriff soll hier für die Deportation der Juden aus unterschiedlichen Gegenden Europas und ihre Ermordung in Ghettos, Konzentrationslagern, Vernichtungslagern, durch Erschießungskommandos und Todesmärsche umfassen. Holocausttäter sind alle Personengruppen, die an dem arbeitsteiligen Deportations- und Mordprozess beteiligt waren. 3 Jescheck, S. 126.
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teenth century there has never been methodical, merciless butchery on such a scale or approaching such a scale. And this is but the beginning. Famine and pestilence have yet to follow in the bloody ruts of Hitler’s tanks. We are in the presence of a crime without a name.“4 Sieben Tage vor der Wannsee-Konferenz, auf der in Berlin hochrangige Vertreter von Polizei, Partei und Verwaltung über die „Endlösung der Judenfrage“ berieten, legten sich in einer Erklärung im Londoner St. James’s Palace vom 13. Januar 1942 neun europäische Staaten fest, dass eine gerichtliche Bestrafung der Verantwortlichen stattfinden sollte.5 Am 7. Oktober 1942 verkündeten US-Präsident Roosevelt und der britische Lordkanzler die Einrichtung eines UN Committee for the Investigation of War Crimes, dem 17 Nationen angehörten. Ein Jahr später, am 20. Oktober 1943, wurde zur Klärung der praktischen Umsetzung und der Sammlung von gerichtsverwertbaren Beweisen die United Nations War Crimes Commission (UNWCC) gegründet.6 Zwar wurde der Judenmord zunächst noch nicht explizit erwähnt; aber der polnische Vertreter thematisierte das „Auslöschen“ der Bevölkerung „in den polnischen Territorien“, seinerzeit eine der ethnisch heterogensten in Europa, die neben anderen Minderheiten einen Anteil von etwa 10 % Juden umfasste. Er sprach von „elements of systematic terrorism that is being used by the Germans to achieve the extermination of the subjugated population in the occupied [Polish] territories.“7 Auch andere Vertreter der UNWCC bewerteten die deutsche Kriegspolitik als geplante Auslöschung ganzer Nationen oder Rassen. Die UdSSR – obschon selbst kein Mitglied der UNWCC – sprach bereits 1942 von „direct physical annihilation of a considerable section of the population of the territories captured“.8 In der gemeinsamen Erklärung von Moskau vom 1. November 1943 verpflichteten sich dann das Vereinigte Königreich, die USA und die Sowjetunion, sämtliche an Kriegsverbrechen Beteiligten zu verfolgen und an jene Staaten auszuliefern, in denen die Verbrechen begangen wurden, damit sie dort vor Gericht gestellt würden. Dort heißt es u. a. in Bezug auf die „Hitlerite Huns“: … those German officers and men and members of the Nazi party who have been responsible for, or have taken a consenting part in the above atrocities, massacres and executions, will be sent back to the countries in which their abominable deeds were done in order that they may be judged and punished according to the laws of these liberated countries and of the free governments which will be created therein. Lists will be compil ed in all possible detail from all these countries … 4 Rede Churchills nach seinem Treffen mit Roosevelt am 24. 8. 1941. (Online: http:// www.ibiblio.org/pha/policy/1941/410824a.html, letzter Zugriff am 1. 11. 2016). Hierzu: Bazyler (2010), S. 47. Huhle, S. 30 f. 5 The Inter-allied declaration signed at St. James’s palace, London, on 13th January, 1942, and relative documents, Band 1: Punishment for War Crimes, United Nations Information Organisation, London 1942. 6 Form. 7 Zit. nach Form/Fischer. 8 Ebenda.
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Dies verstand sich auch als deutliche, abschreckende Botschaft an diejenigen Deutschen, die keine Verbrechen begangen hatten: „Let those who have hitherto not imbrued their hands with innocent blood beware lest they join the ranks of the guilty, for most assuredly the three Allied Powers will pursue them to the uttermost ends of the earth and will deliver them to their accusers in order that justice may be done.“ In der Erklärung wurde jedoch auch der Gedanke eines gemeinsamen Vorgehens gegen die Hauptkriegsverbrecher verankert: „The above declaration is without prejudice to the case of the major criminals, whose offences have no particular geographical localisation and who will be punished by the joint decision of the Governments of the Allies.“9 Nach der Besetzung Deutschlands im Frühjahr 1945, bei der den Alliierten auch ein Großteil der Aktenbestände der Reichsregierung, des Oberkommandos der Wehrmacht (OKW) und der NSDAP in die Hände fiel, die eine genauere Beurteilung der unter der NS-Herrschaft begangenen Verbrechen ermöglichten, verständigten sich die Siegermächte auf der Londoner Konferenz Anfang August 1945 auf die Durchführung von Hauptkriegsverbrecherprozessen vor einem Internationalen Militärtribunal (IMT).10 Vor dem IMT wurden schließlich 24 Personen und sechs Gruppen bzw. Organisationen angeklagt. Die Ziele, die mit den Kriegsverbrecherprozessen verfolgt wurden, waren hierbei so vielgestaltig wie die Interessen der vier Siegermächte. Da es von vornherein unmöglich erschien, aller noch lebenden Verantwortlichen habhaft zu werden und diese zu bestrafen, und die Anklagebank in Nürnberg auch nur über 24 Plätze verfügte, sollte zumindest das Führungspersonal des NS-Staates zur Verantwortung gezogen werden, um durch Bestrafung der Führungsriege symbolische Gerechtigkeit herzustellen.11 Wichtiger als die Feststellung individueller Verantwortlichkeit für Straftaten war für die Alliierten jedoch die Delegitimierung der NS-Herrschaft, ihrer Führungsfiguren und ihrer Institutionen. Dies fand seinen Ausdruck zum einen in der Auswahl der Angeklagten, die aus der Regierung, der Verwaltung, dem Generalstab, den Teilstreitkräften der Wehrmacht, der Besatzungsverwaltung, der NSDAP, dem Propagandaapparat und der Kriegswirtschaft kamen, und zum anderen in der Entscheidung, sechs Organisationen des NS-Staates (Führungsebene der NSDAP, SS und SD, Gestapo, SA, das Reichskabinett, den Generalstab und das OKW) als verbrecherische Organisationen zu verfolgen, von denen die ersten drei schließlich verurteilt wurden.12 Die deutsche Bevölkerung sollte über die Verbrechen aufgeklärt werden, die in ihrem Namen und durch von 9 Die
Moskauer „Declaration on German Atrocities“ ist abgedruckt in: TWC, Band I, S. XI. 10 Das „Agreement for the Prosecution and Punishment of the Major War Criminals of the European Axis“ vom 8. 8. 1945 wurde außer von den vier Siegermächten von 19 weiteren Staaten unterzeichnet. In der deutschen Rechtswissenschaft wurde über die Frage der Legitimität des IMT gestritten, vgl. m. w. N. Jung (1992), S. 109. 11 Vgl. Smith (1977); Macguire; Cohen, Transitional, S. 2. 12 Vgl. hierzu: Boberach, S. 40 – 50.
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ihr getragene Institutionen begangen worden waren. Der Weltöffentlichkeit sollte anhand tausender Dokumente ein klares Bild von der „historischen Wahrheit“ des NS-Staates vermittelt werden. Außer dem Hauptkriegsverbrecherprozess führten die Besatzungsmächte auf der Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (KRG 10)13 und in Verbindung mit eigenen nationalen Rechtsgrundlagen eine Reihe weiterer Verfahren durch. Darunter waren die 12 sogenannten Nachfolgeverfahren, die die US-Behörden vor dem National Military Tribunal (NMT) in Nürnberg gegen unterschiedliche hochrangige Personen aus Militär, Verwaltung und Industrie aber auch gegen die Führer der Einsatzgruppen und die Euthanasieärzte durchführten.14 Die übrigen Verfahren vor alliierten Militärgerichten wie etwa die Dachauer Prozesse in der US-Besatzungszone, die französischen Verfahren in Rastatt oder die britischen Verfahren in Hamburg und Lüneburg konzentrierten sich überwiegend auf Kriegsverbrechen auf der Grundlage des Kriegsrechts.15
II. Die Ermittlungen der Anklagebehörden in den Nürnberger Prozessen zum Holocaust Die Frage, wie die Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden in Nürnberg verhandelt wurde, wird in der Forschung heute unterschiedlich bewertet.16 Der kanadische Historiker Michael Marrus betont, dass durch das IMT die Dimension der Opferzahl, die unterschiedlichen Mordmethoden und die Entwicklung von der Verfolgung zur Vernichtung erstmalig ausführlich dokumentiert wurden und damit der Holocaust einer breiten Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht wurde. Der britische Historiker Donald Bloxham hat hingegen kritisch angemerkt, dass die Zentralität des Massenmordes in Nürnberg nicht erkannt worden sei.17 In der Tat ist es aus heutiger Perspektive kaum nachvollziehbar, weshalb der Massenmord an den europäischen Juden nicht einen eigenen zentralen Anklagepunkt vor dem IMT bildete, zumal er in der Anklage einen hohen Stellenwert einnahm.18 Schon während des Krieges hatte es innerhalb des britischen Foreign 13 Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20. 12. 1945, in: Amtsblatt des Kontrollrats in Deutschland, S. 50, ber. S. 241. Ziel des KRG 10 war die „Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen Frieden oder gegen Menschlichkeit schuldig gemacht haben“. Der Alliierte Kontrollrat bildete das Besatzungsorgan in Deutschland, durch das die USA, die UdSSR, Großbritannien, und Frankreich nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches im Mai 1945 die „oberste Regierungsgewalt in Deutschland“ ausübten, vgl. das Londoner Abkommen über Kontrolleinrichtungen in Deutschland vom 14. 11. 1944 und die sog. Berliner Viermächteerklärung vom 5. 6. 1945. 14 Vgl hierzu: Priemel/Stiller (2012) sowie Priemel/Stiller (2013). 15 MwN. Frei (2006). 16 Vgl. Weinberg; Segesser (2010); Stiller (2015). 17 Bloxham (2001) und Bloxham (2010). 18 Vgl. hierzu: Form/Fischer und weitere Darstellung.
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Office und des US State Department allerdings Vorbehalte gegeben, gegenüber den Massenverbrechen an Juden deutlich Stellung zu beziehen, zumal Verbrechen von Staaten an eigenen Staatsangehörigen – d. h. etwa an Juden, die die Staatsangehörigkeit einer Achsenmacht hatten – prinzipiell nicht als Kriegsverbrechen angesehen wurden.19 Diese Haltung auf beiden Seiten des Atlantiks war von unterschiedlichen Befürchtungen getragen: Der Gedanke, dass Kriegsverbrechen an der „eigenen“ Bevölkerung begangen werden und Gegenstand internationaler Ahndung sein konnten, war relativ neu. Zudem befürchtete man wohl bei einem Eintreten für die verfolgten europäischen Juden, für diese verantwortlich zu werden, diese aufnehmen oder ihnen Zugang zum britischen Mandatsgebiet in Palästina gewähren zu müssen.20 Am 24. März 1944, fünf Tage nachdem das Deutsche Reich Ungarn besetzt hatte, verurteilte Roosevelt den Judenmord in Europa („the whole sale systematic murder of the Jews of Europe“) auch öffentlich als „blackest crime of all history“ und unterstrich seine Entschiedenheit, diejenigen, die für die Morde verantwortlich waren, zur Rechenschaft zu ziehen, wobei er neben den NS-Führern auch deren Helfer und Untergebene im Reich und in dessen Satellitenstaaten nannte („That warning applies not only to the leaders but also to their functionaries and subordinates in Germany and in the satellite countries“).21 Bei dieser Drohung blieb es zunächst. Konkrete Maßnahmen der Alliierten, die ungarischen Juden vor der Deportation zu bewahren oder den Vernichtungsprozess zu stoppen bzw. zumindest zu verlangsamen, wurden nicht getroffen. Einer Initiative des World Jewish Congress, (WJC) der am 9. August 1944 Unterstaatssekretär John McCloy im War Department aufgefordert hatte, die Eisenbahnverbindungen nach Auschwitz und die Gaskammern und Krematorien zu bombardieren, um die Ermordung der Juden aus Ungarn zu bremsen, blieb der Erfolg versagt. McCloy antwortete dem WJC am 14. August 1944, dass eine derartige Operation Luftstreitkräfte binden würde, die anderswo gebraucht würden, konkret: such an operation could be executed only by the diversion of considerable air support […] now engaged in decisive operations elsewhere and would in any case be of such doubtful efficacy that it would not warrant the use of our resources.
Außerdem befürchtete McCloy, dass eine Bombardierung des Lagers „even more vindictive action by the Germans“ provozieren könnte.22 Allerdings wurden wenig später Industrieanlagen, die Buna-Werke der IG Farben in Auschwitz-Monowitz, nicht jedoch die Gleisanlagen und die Krematorien gezielt bombardiert, soweit dies damals überhaupt möglich war.
Kochavi (2010). Wyman (1984), S. 73 – 99 und S. 112 – 180; Wasserstein; Kochavi (2010), S. 62 f. 21 Die Erklärung Roosevelts ist nachlesbar unter: http://www.jewishvirtuallibrary.org/ jsource/US-Israel/fdr032444.html. (Letzter Zugriff am 1. 11. 2016). 22 Die Schreiben werden im US Holocaust Museum in Washington ausgestellt. (Online: https://www.ushmm.org/wlc/en/article.php?ModuleId=10008041, letzter Zugriff am 1. 11. 2016). 19
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Dennoch war die US-Regierung offenbar zum Handeln entschlossen: Am 1. Februar 1945 bestätigte Undersecretary of State Joseph Grew bei einer Pressekonferenz, dass die USA planten, diejenigen deutschen Führer und ihre Helfer zu bestrafen, die sich an Grausamkeiten („atrocities“) und dem Mord an den Juden und anderen Minderheiten beteiligt hätten.23 Nach britischer Auffassung sollte dies jedoch nur für Kriegsverbrechen gelten, d. h. beispielsweise nicht für die Verbrechen zum Nachteil von Juden mit deutscher Staatsangehörigkeit.24 Holocaustverbrechen wurden im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess im November 1945 schließlich vor allem als Kriegs- bzw. damit verbundene Menschlichkeitsverbrechen angeklagt.25 Durch die Verknüpfung der Tatbestände „Verschwörung“ und „Angriffskrieg“26, sollte die völkerrechtsdogmatische Kontextualisierung von Souveränität und Unmittelbarkeit von Individuen als aktiver Teil einer Verschwörung vereinfacht werden.27 Zudem erlaubte diese prozessuale Rechtsfigur über eine intentionalistische Verknüpfung – den lange vorbereiteten Plan – auch zumindest theoretisch die Erfassung von Handlungen, die vor Kriegsbeginn lagen. So ließen sich ganze Politikbereiche des „Dritten Reiches“ unter dem Gesichtspunkt einer Art Gruppentäterschaft, d. h. eines kriminellen Kartells, thematisieren; die bloße Beteiligung an einem solchen verbrecherischen Plan bzw. Programm reichte aus, um eine Täterschaft zu begründen. Die Entscheidung des US-Anklagevertreters, die Verschwörungstheorie „zum analytischen und narrativen Rückgrat des IMT-Verfahrens zu machen“28, wurde der Komplexität des NS-Staats und seiner Verbrechen jedoch nicht gerecht. Der britische Historiker Donald Bloxham spricht von der „tyranny of a construct“29, durch das vor allem die Fokussierung auf deutsche Verbrechen gewährleistet werden sollte, so dass die Problematisierung etwa der britischen Invasionspläne in Norwegen oder des sowjetischen Massakers an polnischen Offizieren in Katyn oder des amerikanischen Atomwaffeneinsatzes in Japan nicht zu befürchten war. Dies wirkte sich dann auch auf die frühe Wahrnehmung des Holocaust als eines (unter zahlreichen) Kriegsverbrechen aus und verstellte mitunter den Blick darauf, dass es sich Kochavi (2010), S. 76 f. wird auch in dem Royal Warrant vom 14. 6. 1945 deutlich, der die Jurisdiktion britischer Militärgerichte auf Verbrechen nach Kriegsbeginn begrenzte. 25 Vgl. hierzu vor allem Bloxham (2001). Auf diesen Nexus weist auch Huhle, S. 32, hin. 26 „Der gemeinsame Plan oder die Verschwörung zu einem Verbrechen gegen den Frieden“ findet sich im Statut des Internationalen Militärtribunals (IMT) Art. 6 Abs. a) 3. Klausel. 27 Der US-Ankläger Jackson gab bereits am zweiten Verhandlungstag, dem 21. 11. 1945, unter dem Anklagepunkt der „Verschwörung“ folgende Darstellung des Judenmordes: Die Beweisführung werde zeigen, „dass das Ziel, dem sich alle Nazis fanatisch ergaben, nämlich alle Juden zu vernichten, Plan und festes Vorhaben war“. Der Antisemitismus sei „gefördert (worden), um die demokratischen Völker zu spalten und zu verbittern und ihren Widerstandsgeist gegen den Angriff der Nazis zu schwächen“. IMT, Band II, S. 139. 28 Priemel, S. 18. 29 Bloxham (2001) S. 69. 23
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hierbei vor allem um ein Verbrechen an Nicht-Kombattanten, die das „Dritte Reich“ jedoch als imaginären Feind behandelte, angelegentlich des Krieges handelte. Vernachlässigt oder vergessen wurde der Judenmord vor dem IMT jedoch keinesfalls: Unter dem Anklagepunkt „Kriegsverbrechen“ betonte der US-Chefankläger Robert Jackson in seiner Anklage, dass die Angeklagten einen „genocide“ (in der offiziellen deutschen Übersetzung „Massenmord“)30 „insbesondere [an] Juden, Polen, Zigeuner[n] usw.“ begangen hätten.31 Bereits unter Punkt 1 („Verschwörung oder gemeinsamer Plan“) – mit dem die Anklage letztlich bei Gericht jedoch nicht erfolgreich war32 – wurde der Judenmord zudem als „crime against humanity“, Verbrechen gegen die Menschheit oder Menschlichkeit,33 thematisiert:34 In Umsetzung ihrer Herrschafts- und Rassenideologie hätten die Nazi-Verschwörer ein Vernichtungsprogramm für die Juden umgesetzt („program of relentless persecution of the Jews, designed to exterminate them“).35 Die Judenvernichtung sei Staatsziel 30
Zur Begriffsgeschichte, ebd., S. 31. IMT, Band I, S. 42 f.; „Anklageschrift“, IMT, Band I, S. 47. 32 Vgl. hierzu m. w. N. Form/Fischer, S. 28. 33 Der Begriff „Menschlichkeitsverbrechen“ tauchte zum ersten Mal in einem gemeinsamen Communiqué der Regierungen Frankreichs, Großbritanniens und Russlands vom 28. 5. 1915 mit Bezug auf die Massaker an Armeniern durch das Osmanische Reich auf. Vgl. hierzu: Willis; Tusan. Zur Begriffsgeschichte, s. auch: Segesser (2007). Nach dem Krieg wurden in den Londoner Statuten als Menschlichkeitsverbrechen in Art. 6 c politische und rassische Verfolgung nur dann der Jurisdiktion des IMT unterstellt, wenn sie Teil von Kriegsverbrechen oder Teil des Führens eines Angriffskrieges waren, oder hierzu in Bezug standen. Vgl. hierzu Kochavi (2010), S. 78. Später, im KRG Nr. 10, wurde in Art. 2 Abs. 1 c dieser Nexus aufgegeben und folgende Handlungen als tatbestandsmäßig definiert: „Atrocities and offenses, including but not limited to murder, extermination, enslavement, deportation, imprisonment, torture, rape, or other inhumane acts committed against any civilian population, or persecution on political, racial or religious grounds whether or not in violation of the domestic laws of the country perpetrated.“ Vgl. Taylor (1992), S. 35 – 45; Huhle, S. 32. 34 Form/Fischer, S. 26, zitieren hierzu aus den Strategiepapieren der US-Anklagebehörde, „Plan for Public Relation Organization for the Trial of the Major War Criminals“, undatiert, Donovan Nuremberg Trial Collection, Cornell Law School, Vol. 9, Section 17.04: „The fundamental purpose served by the anti-Jewish conspiracy, first in Germany and then in nazi-occupied Europe, was to provide a binding force cementing together the various elements of society into the so-called ‚people’s community‘“. Die Juden hätten hierbei als Sündenbock fungiert: „The Jews were originally singled out […] because of their ready availability as a scapegoat for all the ills of Germany – and of the world.“ (Ebd., S. 2). An anderer Stelle heißt es: „It served to remind the non-Jewish population of occupied Europe that there was one group which had even less rights than they. […] The physical extermination of European Jewry was also used by the Nazis to involve the German people, as well as their collaborationist followers, in collective guilt. In the slaughter of millions of Jews the Nazis implicated the German Army, the civil service, the occupational authorities and quislings, and all their henchman and accessories.“ (Ebd. S. 4). 35 IMT, Band I, S. 31, deutsche Fassung S. 33. Form/Fischer, S. 24 f., weisen zurecht darauf hin, dass die deutsche Übersetzung „exterminate other races and peoples“ nur als „Unterjochung anderer Rassen und Völker“ übersetzt und damit abschwächt. 31 „Indictment“,
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geworden („Annihilation of the Jews became an official State policy“), das durch offizielle Maßnahmen und den Mob der Straße umgesetzt wurde („carried out both by official action and by incitements to mob and individual violence“).36 Das Programm gegen die Juden habe „disfranchisement, stigmatization, denial of civil rights, subjecting their persons and property to violence, deportation, enslavement, enforced labor, starvation, murder, and mass extermination“ umfasst. Weiter hieß es in der Anklage: „The extent to which the conspirators succeeded in their purpose can only be estimat ed, but the annihilation was substantially complete in many localities of Europe. Of the 9.600.000 Jews who lived in the parts of Europe under Nazi domination, it is conservatively estimated that 5.700.000 have disappeared, most of them deliberately put to death by the Nazi conspirators.“37
Damit hatte die amerikanische Anklagebehörde bereits recht präzises Zahlenmaterial, das sie nicht zuletzt Jacob Robinson und dem Institute of Jewish Affairs verdankte.38 William Walsh, Hilfsankläger für die Vereinigten Staaten, stellte am 13. Dezember 194539 dann auch einen Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ermordung der Juden während des Krieges und der Planung eines Angriffskrieges her: „Ob Sieg oder Niederlage für Deutschland, der Jude war dem Untergang geweiht. Es war die offen ausgesprochene Absicht des Nazi-Staates, dass, was immer das deutsche Schicksal sein möge, der Jude nicht unter den Überlebenden bleiben sollte.“40 Im Verlauf der Beweisführung legte Walsh Dokumente über die Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung Osteuropas vor, über den beabsichtigten Hungertod der Menschen in diesen Ghettos, über die Zerstörung des Warschauer Ghettos, über Massenerschießungen im Baltikum, in Weißrussland und der Ukraine, über die Benutzung von Gaswagen, die Deportation von holländischen Juden sowie die Massenermordung von Juden in den Vernichtungslagern Auschwitz und Treblinka.41 In seiner Schätzung der Gesamtzahl der jüdischen Opfer folgte er schließlich der Aussage Wilhelm Hoettls, eines ehemaligen Mitarbeiters des Reichssicherheitshauptamtes (RSHA). Hoettl hatte in einer eidesstattlichen Erklärung angegeben, Adolf Eichmann habe ihm gesagt, dass vier Millionen Juden in Lagern und zwei Millionen Juden durch Erschießungen ermordet worden seien.42 Der französische Hilfsankläger, Edgar Faure, benannte unter dem Punkt „Planung der verbrecherischen Handlungen“ den Antisemitismus als Teil der NS-Rassentheorien.43 Die Verantwortung der Angeklagten an der Verfolgung und VerIMT, Band I, engl. S. 33 f., deutsche Fassung S. 36 f. Dort auch die folgenden Zitate. Ebd., engl. S. 34, deutsche Fassung S. 36 f. 38 Cohen (2010), S. 94. 39 Walsh am 13. 12. 1945, IMT, Band III, S. 578. Siehe dazu auch Taylor (1994), S. 243. 40 Walsh am 14. 12. 1945, IMT, Band III, S. 630 f. 41 Ebd., S. 589 – 597, 614 – 634. 42 Ebd., S. 634 f. 36 37
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nichtung der Juden sah Faure einerseits in der Ausarbeitung und Abfassung von Gesetzen und Verordnungen und andererseits in der Praxis der Verwaltung. Anhand der Deportation der französischen Juden nach Auschwitz führte er aus: 43
„Ein so großes Unternehmen wie die Verschickung so vieler Juden erforderte den Eingriff zahlreicher verschiedener Behörden, und wir sehen hier, dass das Gelingen dieses Unternehmens von der Umorganisation des Transportwesens unter Verantwortung des Reichsverkehrsministeriums abhing. Es besteht also kein Zweifel darüber, dass ein solches Ministerium, das doch im Wesentlichen eine Fachbehörde ist, diese allgemeine Verschickungsaktion gefördert hat.“44
Die Beweisführung vor dem IMT sollte nach Jacksons Vorstellungen überwiegend auf Dokumente gestützt werden. Zusammen legten die vier Anklagebehörden dem Gericht circa 2.900 Beweisdokumente vor. Nur 34 Zeuginnen und Zeugen wurden aufgerufen, davon 11 von der französischen und 14 von der sowjetischen Anklagebehörde. Unter diesen befanden sich aber immerhin 12 Überlebende der KZs, Vernichtungslager und Ghettos wie etwa Samuel Rajzman, der ausführlich den Massenmord im Vernichtungslager Treblinka schilderte, und Abraham Sutzkever, der detailliert über die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung Wilnas Zeugnis ablegte. Wichtige Aussagen über den Massenmord der europäischen Juden in Auschwitz-Birkenau machten die beiden Zeuginnen Marie Vaillant-Couturier und Severina Schmaglewskaja, die beide in diesem Lager interniert gewesen waren. Neben Hoettl wurden auch weitere zentrale Täter des Holocaust wie etwa der Einsatzgruppenführer und spätere stellvertretende Staatssekretär im Reichswirtschaftsministerium Dr. Dr. Otto Ohlendorf,45 Eichmanns Mitarbeiter Dieter Wisliceny,46 der SS-Richter Konrad Morgen und der Lagerkommandant von Auschwitz Rudolf Höss als Zeugen gehört, die das unglaubliche Verbrechen durch detaillierte Aussagen immer deutlicher machten, wobei allerdings auch falsche Fährten gelegt wurden, die vor allem Abwesende, d. h. ausnahmslos tote Personen (Hitler, Himmler, Reinhard Heydrich) bzw. solche, von denen angenommen wurde, dass sie bereits gestorben waren, wie Bruno Streckenbach und Heinrich Müller sowie Adolf Eichmann und Christian Wirth und als einzigen „Anwesenden“ den letzten Chef des RSHA, Ernst Kaltenbrunner, belasteten und damit beiläufig andere von der Edgar Faure am 5. 2. 1946, IMT, Band VII, S. 32 – 34. Faure am 5. 2. 1946, IMT, Band VII, S. 48 f. 45 Insbesondere Ohlendorf passte nicht in das Bild, das man sich von der SS und den Tätern des Massenmordes gemacht hatte. Taylor (1994), S. 295 schrieb über ihn: „Ohlendorf war zierlich und sah jung und ziemlich gut aus – niemand hätte weniger wie ein brutaler SS-Schlägertyp à la Kaltenbrunner wirken können. Er sprach leise, mit großer Genauigkeit, Objektivität und offenkundiger Intelligenz. Wie konnte er getan haben, was er nun so ruhig beschrieb?“ Vgl. hierzu: Stiller (2015), S. 22 f. 46 Wisliceny hatte 1937 für einige Monate das „Judenreferat“ des SD geleitet; zwischen September 1940 und Oktober 1944 war er nacheinander „Beauftragter für jüdische Angelegenheiten“ in der Slowakei, Griechenland und Ungarn. 43
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Tatbeteiligung am Massenmord an den Juden freisprachen.47 So sagte am 3. Januar 1946 der RSHA-Mitarbeiter Wisliceny aus, dass Himmler Eichmann im April 1942 sogar einen schriftlichen Befehl zum Judenmord übermittelt habe.48 Zuvor, schon im Juni 1941, habe der KZ-Kommandant Rudolf Höss von Himmler persönlich den Befehl erhalten, im damaligen Kriegsgefangenen- und Konzentrationslager Auschwitz Vernichtungsanlagen zu errichten. Nach Besichtigung des Lagers Treblinka, wo ein Einsatzkommando innerhalb eines halben Jahres mit Monoxydgas 80.000 Juden getötet habe, habe Höss alsbald mit dem Bau riesiger Gaskammern und Verbrennungsöfen in Auschwitz-Birkenau begonnen.49 Bereits im Herbst 1941 hätten in Auschwitz die Tötungen durch Vergasung begonnen, die mit der Erweiterung der Vernichtungsanlagen ab Frühsommer oder Frühherbst 1942 verstärkt worden seien und bis zum Herbst 1944 angedauert hätten.50 Die Ermordung der Juden in den Lagern der „Aktion Reinhardt“ (Belzec, Sobibor und Treblinka) sei ebenfalls, so Konrad Morgen am 7. und 8. August 1946, von Hitler befohlen worden; der an den Behindertenmorden beteiligte Christian Wirth, der Inspekteur dieser Lager, sei lediglich für die Umsetzung verantwortlich gewesen.51 Diese Aussagen und nicht zuletzt auch die in Nürnberg von der amerikanischen und der sowjetischen Anklagebehörde gezeigten Filme52 sollten in Zukunft prägend für die Erinnerung an den Holocaust werden. In seinem Schlussplädoyer Ende Juli 1946 versuchte der britische Hauptankläger Hartley Shawcross den Holocaust schließlich in die Gesamtverbrechen des NS-Regimes einzuordnen, denen zwölf Millionen Zivilisten, darunter sechs Millionen Juden zum Opfer fielen.53 Beherrschendes Ziel der Nationalsozialisten sei es gewesen, die eroberten Gebiete als neuen „Lebensraum“ mit Deutschen zu besiedeln und dafür die einheimische Bevölkerung zu vertreiben und zu vernichten: Genocide was not restricted to extermination of the Jewish people or of the gypsies. It was applied in different forms to Yugoslavia, to the non-German inhabitants of AlsaceStiller, (2015), S. 22 f. IMT, Band IV, S. 397. 49 Aussage von Höss vom 15. 4. 1946, in: IMT, Band XI, S. 457 – 461. 50 Ebd. S. 458. Die neuere Forschung geht davon aus, dass Höss die Jahreszahlen verwechselte und sich seine Aussage auf das Jahr 1942 und nicht 1941 bezog, obschon im September 1941 die ersten experimentellen Gasmorde an sowjetischen Kriegsgefangenen in einer provisorischen Gaskammer im Stammlager Auschwitz stattfanden. Ferner wird angenommen, dass die endgültige Entscheidung für die Ermordung von Juden aus ganz Europa durch Hitler erst im Sommer/Herbst 1941 nach dem Überfall auf die Sowjetunion oder sogar erst im Frühjahr 1942 getroffen worden ist bzw. dass es sich hierbei um eine Kette von Entscheidungen handelte. Für die Einbeziehung der deutschen und westeuropäischen Juden mag hierbei die Kriegserklärung gegenüber den Vereinigten Staaten am 11. 12. 1941 eine zentrale Rolle gespielt haben. Vgl. zur Datierung m. w. N. insbes. Longerich (2008), S. 457 ff., und Gerlach (1997). 51 IMT, Band 20, S. 540 und S. 554. 52 Vgl. hierzu: Delage. 53 Shawcross am 26. 7. 1946, IMT, Bd. 19, S. 483. 47
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Lorraine, to the people of the Low Countries and of Norway. The technique varied from nation to nation, from people to people. The long-term aim was the same in all cases. The methods followed a similar pattern: First a deliberate program of murder, of outright annihilation. This was the method applied to the Polish intelligentsia, to gypsies, and to Jews. The killing of millions, even by the gas chambers and the mass shootings employed, was no easy matter. The defendants and their confederates also used methods of protracted annihilation, the favorite being to work their victims to death, […].54
Obgleich der Begriff „genocide“55 in dem am 30. September und 1. Oktober 1946 verkündeten Urteil nicht verwendet wurde, folgte der IMT diesem eher holistischen Ansatz, der die Spezifität des Holocaust an den europäischen Juden, der in den Überlegungen der US-Ankläger, die den Vorkriegsantisemitismus thematisierten, noch angelegt war, weitestgehend negierte. Andererseits war der Holocaust nunmehr umfassend und detailliert dokumentiert: Richter Nikitschenko verkündete am 30. September 1946: „The persecution of the Jews at the hands of the Nazi Government has been proved in the greatest detail before the tribunal“.56 Die oben dargestellten Versuche der Anklage, auch Verbrechen vor Kriegsbeginn unter dem Anklagepunkt der „crimes against humanity“ sowie als Verschwörung zu Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu behandeln, waren jedoch gescheitert.57 Aus Sicht des IMT wurde die Judenverfolgung erst in der Verbindung mit dem Krieg, d. h. gewissermaßen als Kriegsverbrechen, justiziabel: „The policy of persecution, repression and murder of civilians in Germany before the war of 1939, who were likely to be hostile to the Government, was most ruthlessly carried out. The persecution of Jews during the same period is established beyond all doubt. To constitute crimes against humanity, the acts relied on before the outbreak of war must have been in execution of, or in connection with, any crime within the jurisdiction of the Tribunal. The Tribunal is of the opinion that revolting and horrible as many of these crimes were, it has not been satisfactorily proved that they were done in execution of, or in connection with, any such crime. The Tribunal therefore cannot make a general declaration that the acts before 1939 were Crimes against Humanity within the meaning of the Charter, but from the beginning of the war in 1939 war crimes were committed on a vast scale, which were also crimes against humanity; and insofar as the inhumane acts charged in the Indictment, and committed after the beginning of the war, did not constitute war crimes, they were all committed in execution of, or in connection with, the aggressive war, and therefore constituted crimes against humanity.“58 IMT Band 19, engl. S. 497, dt. S. 556. Vgl. hierzu: Stiller (2012). 56 IMT, Band 1, engl. S. 247 ff., dt. S. 277 ff. Die weitere Darstellung folgt Form/Fischer, S. 27 ff. 57 „The Tribunal will therefore disregard the charges in Count One that the defendants conspired to commit War Crimes and Crimes against Humanity, and will consider only the common plan to prepare, initiate, and wage aggressive war.“ IMT, Band 1, engl. S. 226, dt. S. 253. 58 IMT, Band 1, engl. S. 254, dt. S. 285. 54 55
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Ansonsten waren die Richter geneigt, Jacksons Interpretation zu folgen, der die Verantwortung für den Massenmord an den Juden bereits in seiner Anklage auf eine Handvoll Personen reduziert hatte: Neben Hitler und den Einsatzgruppen nannte er explizit: „Adolf Eichmann, diese finstere Gestalt, die mit dem Ausrottungsprogramm beauftragt war“.59 Damit folgte das Gericht auch den oben angeführten Aussagen von beteiligten SS-Leuten. Der Blick auf andere Tätergruppen blieb verstellt. Unter dem Unterpunkt der „Judenverfolgung“ hieß es folglich: Hitler habe die „Ausrottung der Juden“ Anfang 1939 „angedroht“ und die „Endlösung“ sei dann ab „Sommer 1941“, „kurz nach dem Angriff auf die Sowjetunion“, geplant worden, und zu diesem Zweck sei Eichmanns Referat gegründet worden.60 Insgesamt dreimal nannten die Richter den Namen „Eichmann“ in ihrem Urteil. Eichmann war ihrer Deutung zufolge „von Hitler“ über Himmler mit der „Endlösung“ beauftragt worden.61 Eichmann wurde damit im Verlauf des IMT-Prozesses zu einem Haupttäter des Holocaust. So legte das Urteil auch einen starken Fokus auf die Rolle, die die SS beim Judenmord spielte: „The SS played a particularly significant role in the persecution of the Jews“62 und erklärte sie zu den Haupttätergruppen neben den ebenfalls als verbrecherisch eingestuften Organisationen Gestapo und SD.63 Dieser Umstand erleichterte es später Akteuren aus anderen Bereichen, etwa der staatlichen Verwaltung oder der Wehrmacht, die Schuld und Verantwortlichkeit für die Judenverfolgung allein auf die SS, und die Gestapo zu schieben und Legenden von der „sauberen Wehrmacht“ oder der „sauberen Verwaltung“ zu stricken, die die Beteiligung dieser Organisationen an der Judenverfolgung und am Judenmord ausblendeten.64 Wolfgang Form und Axel Fischer haben in einer aktuellen Untersuchung herausgearbeitet, dass trotz alledem 16 der 21 anwesenden und des einen abwesenden Angeklagten (Martin Bormann) vor dem IMT Verbrechen zur Last gelegt wurden, die sich gegen Juden richteten, was sich in allen Fällen auch bei der Strafzumessung niederschlug und in 10 Fällen letztlich zu einem Todesurteil führte.65 Der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess spielte eine ganz zentrale Rolle für die Dokumentation, d. h. das Aktenkundigmachen des Holocaust. Zugleich waren in dem Nürnberger Urteil jedoch auch Interpretationen des Holocaust niedergelegt, die sich auf die weitere Aufarbeitung und die Verfolgung bestimmter Tätergruppen nachteilig auswirken sollten. In den Nürnberger Nachfolgeprozessen,66 in denen sich die amerikanische Militärstaatsanwaltschaft bereits auf die umfassenden Ermittlungen und ErkenntnisJackson am 26. 7. 1946, IMT, Band 19, S. 448. IMT, Band 19, S. 280. 61 IMT, Band 19, S. 283. Weitere Nennungen auf S. 280 und 298. 62 IMT, Band 1, engl. S. 271, dt. S. 305. 63 IMT, Band 1, S. 298, 300, 305 – 307, 330. 64 Vgl. hierzu: Stiller (2015); Schulte. 65 Form/Fischer, S. 29. 59
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se aus dem IMT stützen konnte und in denen zum Teil Täter vor den Schranken des Gerichts standen, die unmittelbar mit der Umsetzung der NS-Verbrechen befasst waren, wie etwa im Prozess gegen Angehörige des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes (WVHA) (Trial No. 4 US vs. Oswald Pohl)67 oder im Einsatzgruppenprozess (Trial No. 9 US vs. Otto Ohlendorf),68 hatten die Anklagebehörden bereits ein relativ klares Bild vom Holocaust: So betonte der Chief Prosecutor James McHaney am 14. Mai 1947 in seinem Eröffnungsvortrag im WVHA-Verfahren: 66
The systematic and relentless annihilation of the Jewish people by the Nazis constitutes one of the blackest pages in the history of the civilized world. This mad program of wholesale slaughter also included other groups such as the Poles but the Jew was especially marked for destruction. This crime of genocide was part of the Nazi doctrine of total warfare, war waged against populations rather than against states and armed forces. One must search as far back as the massacres of Genghis Khan and by Tamerlane to find anything remotely comparable to the extermination of the Jews by the Nazis.69
Benjamin Ferencz führte in seinem Opening statement im Einsatzgruppenprozess aus: „May it please your Honors: It is with sorrow and with hope that we here disclose the deliberate slaughter of more than a million innocent and defenseless men, women and children […] We shall show that these deeds of men in uniform were the methodical execution of long-range plans to destroy ethnic, national, political and religious groups which stood condemned in the Nazi mind. Genocide, the extermination of whole categories of human beings, was a foremost instrument of the Nazi doctrine.“70
Der Prozess gegen das WVHA, in dem es um die Konzentrations- und Vernichtungslager ging, und der Einsatzgruppen-Prozess fokussierten die Hauptverantwortung für die Verfolgung und Vernichtung der Juden weiter auf die SS und entlasteten damit andere Tätergruppen. So weist Alexa Stiller darauf hin, dass das Urteil im OKW-Prozess, das im Oktober 1948 verkündet wurde, einer Reinwaschung der Wehrmacht gleichkam,71 da die amerikanischen Richter erklärten, dass der Beweis für eine generelle Zusammenarbeit zwischen der Wehrmacht und den Einsatzgruppen nicht erbracht worden sei,72 obgleich es ohnehin weniger um Beteiligung am Holocaust als vielmehr um Mitwisserschaft ging. Auf diese Weise wurde die SS in der Tat zu einer Art „Alibi“ der Westdeutschen, von
66 Einen kurzen Überblick über die einzelnen Verfahren gibt der Sammelband von Ueberschär. 67 Auszüge aus dem Verfahren sind abrufbar unter: http://www.loc.gov/rr/frd/Military_ Law/pdf/NT_Indictments.pdf#page=36 (letzter Zugriff am 1. 11. 2016). 68 Auszüge aus dem Verfahren, unter: http://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/ NT_Indictments.pdf#page=176 (letzter Zugriff am 1. 11. 2016). 69 Zitiert nach: Bazyler (2010), S. 49. 70 Ebd. 71 Stiller (2015), S. 23. 72 TWC, Band 11, S. 547 – 549.
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der man sich als Wehrmachtssoldat oder als „Mann der Verwaltung“ abgrenzen konnte.73 Der Holocaust spielte aber in dem letzten Nürnberger Prozess, den die US-Militärstaatsanwaltschaft gegen Angehörige der NS-Elite führte, dem Prozess gegen Ernst von Weizsäcker et al. eine zentrale Rolle.74 Dieser Prozess betraf fast ausschließlich höchste Regierungsbeamte und wurde daher als der „Ministries case“ oder, nach jener Berliner Straße, in der das Auswärtige Amt und andere wichtige Ministerien ihren Sitz hatten, der „Prozess gegen die Wilhelmstraße“ oder „Wilhelmstraßenprozess“ bekannt.75 In der Presse wurde der Prozess aufgrund der sehr unterschiedlichen Angeklagten aus dem Auswärtigen Amt, der Reichskanzlei und anderen Ministerien, der Wirtschaftsverwaltung und der Dresdner Bank sowie der SS-Verwaltung auch alsbald „Omnibusprozess“ genannt.76 Die herausgehobene Bedeutung des Holocaust in diesem Prozess lag nicht nur daran, wie Alexa Stiller annimmt, dass in diesem Verfahren auch zwei hochrangige hauptamtliche SS-Leute, der Leiter des Amtes SD-Ausland, Walter Schellenberg, und der RSHA-Hauptamtschef, Gottlob Berger, verurteilt wurden und dass viele andere Angeklagte, darunter der frühere Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Ernst von Weizsäcker, oder der ehemalige Chef der Reichskanzlei, Reichsminister, Dr. Hans-Heinrich Lammers, und der ehemalige Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, Dr. Wilhelm Stuckart, hohe SS-Ehrenränge bekleideten. Es ist wohl vielmehr auch darauf zurück zu führen, dass im Frühjahr 1947 die einzige bis heute bekannte erhaltene Kopie des streng geheimen Protokolls der interministeriellen Wannsee-Konferenz zur „Endlösung der Judenfrage“ vom 20. Januar 1942 gefunden worden war:77 So stellte die Anklage im Falle des Wannsee-Konferenzteilnehmers Stuckart78 fest: Schulte. Auszüge aus dem Verfahren unter: http://www.loc.gov/rr/frd/Military_Law/pdf/NT_ Indictments.pdf#page=218. (Letzter Zugriff am 1. 11. 2016). 75 Vgl. TWC, Band XII, S. 1. Vgl. hierzu Blasius. 76 Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung der Gesamtumstände bei Pöppmann, S. 163 ff. Robert Kempner, der stellvertretender Hauptankläger in Nürnberg und Direktor des Anklagestabes für die politischen Behörden, führte 1983 in seinen Lebenserinnerungen aus, wie es dazu kam, dass im letzten der Nürnberger Prozesse so viele verschiedene Angeklagte zusammengefasst wurden: „Im Frühjahr 1947, noch während ich mit der Anklage des Wilhelmstraßen-Prozesses beschäftigt war, kam ein Ukas aus Washington, wir sollten finanziell kürzer treten. Zwölf Prozesse seien o.k., weitere Anklagen müßten jedoch zusammengelegt werden. Man fing an zu sparen, der Krieg war zu Ende, und es gab Abgeordnete, die für solche Unternehmen aus politischen und sonst welchen Gründen kein großes Interesse hatten. Telford Taylor rief mich und sagte: ‚Wir müssen in den Wilhelmstraßen-Prozeß noch verschiedene aufnehmen, die nicht aus dem Auswärtigen Amt sind.‘ Ich hatte parallel eine Anklage gegen die Reichskanzlei vorbereitet, die fix und fertig war. Sie betraf sechs Herren, an der Spitze der Chef Hans Heinrich Lammers. Sie ist nie zum Leben gekommen und liegt noch heute in meinem Safe.“ 77 Zu Stuckart und den anderen Wannsee-Konferenzteilnehmern, siehe: Jasch/Kreutzmüller; Jasch (2013); Jasch (2012), S. 316 – 372. Zur Wannsee-Konferenz: Longerich (2016); Pätzold; Kampe/Klein. 73 Vgl. 74
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„The Third Reich embarked upon a systematic program of genocide, aimed at the de struction of nations and ethnic groups within the German sphere of influence, in part by murderous extermination, and in part by elimination and suppression of national characteristics. The object of this program was to strengthen the German Nation and the alleged ,Aryan‘ race at the expense of such other nations and groups, by imposing Nazi and German characteristics upon individuals selected there from (such imposition being here inafter called ,Germanization‘) and by extermination of ,undesirable racial elements‘.“79 78
Zur Wannsee-Konferenz hieß es unter Abs. 46 f. der Anklage:80 „A program for the extermination of all surviving European Jews was set up by the defendants in the winter of 1941 – 42 and organized and systematically carried out during the following period. […] During interdepartmental conferences on the ,Final Solution of the Jewish Question‘ which took place in Berlin on 20 January 1942, 6 March 1942, and 27 October 1942, the policy and techniques for the ,Final Solution of the Jewish Question‘ were established. The policy-making session of 20 January included the state secretaries or representatives of the ministries and agencies concerned; the defendant Stuckart participated in the conference […]. In the two other conferences the details were arranged. They were attended by the representatives of the departments of which the defendants were policy makers or leading officials. / 47. The previous program for driving out the Jews as pauper émigrés was now supplanted by a program for the evacuation of eleven million European Jews to camps in Eastern Europe for ultimate extermination. They were to be transported to those areas in huge labour gangs, and there the weak were to be killed immediately, and the able-bodied worked to death. Closest cooperation between the departments of which the defendants were leading officials was provided, with the RSHA in charge of the actual operations.“
78 Von
der Wannsee-Konferenz erfuhr die Weltöffentlichkeit wohl zum ersten Mal durch die New York Times, die am 21. 8. 1945 über einen Dokumentenfund berichtete: die Einladungen an den Amtschef des SS-Rasse- und Siedlungshauptamtes Otto Hofmann, dessen Namen die Zeitung jedoch falsch wiedergab, und die Fotokopie des Göring-Befehls vom 31. 7. 1941, der Heydrich als Legitimation diente. Vgl. hierzu: Jasch (2017), S. 6 f. 79 TWC, Band XII, S. 44. 80 Ebd., S. 47 f. Bereits vor dem IMT wurde der ehemalige Staatssekretär des Generalgouverneurs Hans Frank, Joseph Bühler, als dessen Zeuge am 23. 4. 1946 befragt und äußerte sich zu einer Besprechung im Februar 1942, zu der er entsandt worden sei, vgl. IMT, Band XII, S. 77 ff. In einem „Statement on the Extension of the ‚Ministries‘ Case to Include some Additional High Nazis responsible for the Extirpation of Jews“, vom 20. 11. 1947, stellte der WJC fest, dass Stuckart als einziger Konferenzteilnehmer in Nürnberg angeklagt werde, obgleich sich auch andere Teilnehmer in US-amerikanischem Gewahrsam befanden. Bemühungen des WJC, den Kreis der Angeklagten um weitere Teilnehmer der Wannsee-Konferenz (Neumann, Leibbrandt, Hoffmann und Kritzinger) und soweit möglich um zwei Mitarbeiter Eichmanns (Krumey und Girzik) auszudehnen, hatten jedoch keinen Erfolg, obgleich der WJC darauf hinwies, dass der Fall Nr. 11 die letzte Gelegenheit biete, einen „major case of action by the U.S. authorities against the German initiators (and main culprits) of anti-Jewish action in all of Europe“ zu schaffen, in: Records of the WJC, J.R. Marcus Center of the American Jewish Archives, online: www.trumanlibrary.org/whistlestop/study_collections/ nuremberg/index.php?action=docs. (Letzer Zugriff am 28. 10. 2016).
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Diese Auszüge zeigen, dass die US-Anklagebehörde 1947 nach Entdeckung des Protokolls der Wannsee-Konferenz bereits ein differenzierteres Bild des Judenmordes gewonnen hatte, das nunmehr neben der SS auch Vertreter der Ministerial verwaltung einschloss.
III. Die Interpretation des Holocaust in den Urteilen und die Folgen für die spätere strafrechtliche Ahndung von Holocaustverbrechen Bereits im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, der in vieler Hinsicht Präzedenzfallcharakter nicht nur für die folgenden alliierten Strafverfahren auf der Grundlage des KRG 10 haben sollte, sondern dessen Feststellungen auch von den deutschen Gerichten vielfach als Prämisse für die Urteilsfindung anerkannt wurden, hat sich eine Interpretation der Verfolgung und Vernichtung der Juden herausgebildet, die sich auch auf die folgenden Verfahren vor deutschen Gerichten auswirken sollte:81 1. Durch seine „Einbettung“ in die Kriegsverbrechen und andere genozidale Handlungen des NS-Staates wurde letztlich eine Wahrnehmung des Holocaust als eines von zahlreichen Kriegsverbrechen, darunter auch anderen Genozidverbrechen wie die Germanisierungsmaßnahmen in den besetzten Gebieten, begünstigt. Die Monstrosität und Spezifität dieses Verbrechens wurde daher nicht vollständig sichtbar. Der Holocaust ist zwar bereits zentrales Thema der Anklage und wird vom Chefankläger Jackson der Zahl seiner Opfer und der Grausamkeit seiner Ausführung wegen als beispiellos bezeichnet,82 wichtige Dokumente werden ermittelt und dem Geschehen zugeordnet, er wird aber noch nicht als besonderes, singuläres Verbrechen erkannt; vielmehr bemüht sich die Anklage auch unter Bezugnahme auf Lemkins Genozidbegriff 83 um eine Einordnung in die Gesamtverbrechen der deutschen Besatzungsherrschaft. Dies machte diese Verbrechen „angelegentlich“ eines grausamen Krieges, der eben mit Gewalt und Verrohung einherging, in den Augen eines Großteils der deutschen Öffentlichkeit „weniger schlimm“ und blendete die Tatsache aus, dass die große Mehrheit der Holocaustopfer eben keine Kombattanten waren, aber auch, dass der Kreis der Holocausttäter weit mehr Beteiligte umfasste als die am Krieg und am Holocaust beteiligten SS-Einheiten. 2. Die Interpretation des Holocaust in den Nürnberger Prozessen unter den beiden Anklagepunkten „Angriffskrieg“ und „Verschwörung“ begünstigte zudem eine intentionalistische, monokausale Geschichtsinterpretation, die in Hitler, 81 Vgl. hierzu vor allem Bloxham (2010), S. 129 f., S. 142 f.; Stiller (2015), S. 16 – 23; Priemel, S. 17 – 20. 82 „Die Geschichte berichtet von keinem Verbrechen, das sich jemals gegen so viele Opfer gerichtet hat oder mit solch einer berechnenden Grausamkeit begangen worden ist.“ Zitiert nach ebd. 83 Zu Lemkin: Moses (2010); Stone (2005).
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Himmler, Göring und Heydrich die Haupttäter und in der SS-Führung die scheinbar alleine agierende Zentrale des Massenmordes sah.84 Dies wirkte sich entlastend auf andere Mittäter des Mordens aus. Denn es wurde von vielen nicht erkannt oder bewusst ignoriert, dass große Teile der zentralen und der örtlichen Verwaltung, der Wehrmacht, der Besatzungsverwaltungen, der Wirtschaft, aber auch zahlreiche wissenschaftliche Experten ebenfalls zum Kreis der Holocausttäter gehörten. Hierdurch entstand ein nicht ausreichend differenziertes Bild, welches bereits kurze Zeit später auch die deutsche Rechtsprechung prägte und eine Reihe von Konsequenzen hatte: • Selbst hochrangige Täter, auch Angehörige der SS- und Polizeiverwaltung, die insbesondere im „Osten“ über umfassende Machtbefugnisse verfügten, wurden von deutschen Gerichten meist nur als „Gehilfen“ eingestuft.85 • Der Fokus der strafrechtlichen Verfolgung in der Bundesrepublik wurde zudem auf den sadistischen Intensivtäter innerhalb der Lagermannschaften und Kapos gelegt, während überwiegend bürgerlich geprägte, akademisch ausgebildete und oftmals bereits wieder gut in die Nachkriegsgesellschaft integrierte Schreibtischtäter selbst diejenigen, die in der Mordzentrale des RSHA tätig gewesen waren, überwiegend ungeschoren davon kamen. Dies galt erst recht für Angehörige anderer beteiligter Eliten in der Justiz, der Verwaltung und in den Wissenschaften. • Mit seiner intentionalistischen, monokausalen Geschichtsinterpretation eröffnete der Hauptkriegsverbrecherprozess der deutschen Mehrheitsgesellschaft und den in ihr vertretenen Tätergruppen ein Einfallstor für eine exkulpierende Geschichtsdeutung. Die im Nürnberger Verfahren „virulente Banden- und Gangstermetaphorik“86 fokussierte zum einen die Verantwortlichkeit für den Holocaust ganz im Gegensatz zu der den Alliierten zugeschriebenen Kollektivschuldthese fast ausschließlich auf den engeren Kreis um Hitler und erschwerte dadurch strukturelle Deutungen der nationalsozialistischen Herrschaft; zum anderen bereitete sie einem intentionalistischen Verständnis des Holocaust den Boden, dem zufolge die Ermordung der europäischen Juden von Hitler quasi alleine geplant und dann nur mit Hilfe eines kleinen Kreises von Mitverschwörern, insbesondere aus dem SS-Apparat, umgesetzt worden war. Andere Tätergruppen wurden ausgeblendet, und Legenden von der „sauberen Verwaltung“ 84 Die heute vorherrschende Auffassung in den Geschichts- und Sozialwissenschaften geht davon aus, dass neben der antijüdischen, rassistischen und nationalistischen Weltanschauung auch ein Motivbündel von ökonomischen und bevölkerungspolitischen Interessen, die „Lebensraumeroberung“ und damit verbundene Siedlungsplanungen, Wohnraumbedarf, Ernährungsplanung, Aufstandsbekämpfung, die Ideen einer sozioökonomischen „neuen Ordnung“ und einer deutschen „Volksgemeinschaft“ nach „rassischen“ und „völkischen“ Grundsätzen wie auch letztlich eine gewisse „Eigendynamik“ der Gewalt vor Ort von Bedeutung waren. Vgl. bspw. Gerlach (1999). 85 Vgl. Nehmer; Freudiger, S. 35 – 270. 86 Priemel, S. 18.
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oder der „sauberen Wehrmacht“ konnten sich entwickeln und bauten verstrickten Akteuren eine Brücke für ihre Etablierung in der Nachkriegsdemokratie.87
IV. „Streichelstrafen für Mördernazis“ Mit diesem Ausspruch bezeichnete der Philosoph Ernst Bloch im Jahre 1963 den juristischen Umgang mit NS-Verbrechern in Deutschland. Die auf Amnestie und Amnesie zielende Vergangenheitspolitik der Nachkriegszeit ist umfassend erforscht und dokumentiert.88 Die strafrechtliche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, insbesondere der Holocaustverbrechen89, durch bundesdeutsche Gerichte erfolgte zunächst nicht systematisch90 und setzte, abgesehen von einigen Ausnahmen Anfang der 50er Jahre,91 erst angesichts der nach damaligem Recht unmittelbar drohenden Verjährung von Tötungsdelikten Ende der 50er/Anfang der 60er Jahre ein, nachdem im Dezember 1958 die Ludwigsburger Zentralstelle ihre Arbeit aufnahm.92 Zu diesem Zeitpunkt waren viele Funktionsträger des NS-Staates – darunter auch unmittelbar am Holocaust beteiligte Täter – bereits wieder in der Nachkriegsgesellschaft integriert. Dem Abschluss ihrer Entnazifizierung folgte
87 Dies hat der Autor für die Verwaltung in seiner o. a. Studie zu Wilhelm Stuckart (2012) für die Verwaltung umfassend dargelegt. 88 Vgl. hierzu Frei (1996); Reichel; Freudiger; Eichmüller (2002); Eichmüller (2008); Friedlander; Perels (2008); Raim; Herbert (2013). 89 Hierzu im Überblick: Werle (1992); Werle (1993). 90 Generalstaatsanwalt Erich Nellmann wurde 1959 („NS-Verbrechen. Ohne Schelle im Wald“, in: Der Spiegel 12. 8. 1959, S. 27 f., online: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-42622250.html) mit folgender Bemerkung zitiert, die diesen Zustand treffend charakterisiert: „Bisher wird rein zufällig verfolgt. Der eine hat das Pech, angezeigt zu werden, der andere nicht. Gewiß gibt es Tausende von unaufgeklärten Straftaten. Damit kann und muß man sich abfinden, wenn alles geschehen ist, um den Täter zu finden. Gerade bei diesen schlimmsten und folgenreichsten Verbrechen geschieht aber nicht alles.“ 91 So fand bereits am 3. 2. 1950 ein erster Einsatzgruppenprozess gegen die Angehörigen des Einsatzkommandos Nr. 3, Martin Weiß und August Hering, vor dem LG Würzburg statt, vgl. Rüter, Band VI, S. 71, Fall 192. Die Verurteilung von Wolfgang Ilges vor dem LG Köln am 4. 5. 1957 (später beim BGH am 12. 2. 1958, Rüter, Band 14, S. 105 – 134, Fall 444) kam bereits aufgrund der Ermittlungen zustande, die zum Ulmer Einsatzgruppenprozess führten. Vor dem LG Berlin wurde Erich Bauer, der „Gasmeister“ von Sobibor, am 8. 5. 1950 wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf Basis des KRG 10 zum Tode verurteilt; die Todesstrafe wurde jedoch in eine lebenslange Zuchthausstrafe umgewandelt, da das Grundgesetz die Todesstrafe nicht vorsieht. Aber auch vor dem LG Frankfurt am Main fand am 25. 8. 1950 ein erster Sobibor-Prozess gegen Hubert Gomerski (Rüter, Band VII, S. 277) und am Anfang 1951 ein erster Treblinka-Prozess gegen Josef Hirtreiter (LG Frankfurt, 3. 3. 1951, Rüter, Band VIII, S. 261) statt. Zur frühen Diskussion in der Rechtswissenschaft: Welzel; Redeker; Freudiger, S. 35 – 107. 92 Zur Zentralstelle, s. Rückerl, vor Gericht; Rückerl (1968); Rückerl, Ermittlung; Rückerl (1981); Rondholz; Weinke (2008).
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für einige Täter aufgrund des Gesetzes zu Art. 131 Grundgesetz93 sogar ihre Wiederaufnahme in den öffentlichen Dienst von Bund und Ländern.94 Die Tatsache, dass der Gesetzgeber, der Deutsche Bundestag, in seiner ersten und zweiten Legislaturperiode die Straffreiheitsgesetze vom 31. Dezember 1949,95 das Strafen bis zu sechs Monaten amnestierte, und vom 17. Juli 1954,96 durch das u. a. auch so genannte Endzeitverbrechen amnestiert wurden, erließ, trug dazu bei, das Rechtsund Unrechtsbewusstsein im Rückblick auf die NS-Zeit zu vernebeln.97 Noch bis zu dem Verfahren gegen einen ebenfalls am Holocaust beteiligten ukrainischen Wachmann, John Demjanjuk,98 im Jahre 2011 ließ die bundesdeutsche Justiz Holocaust-Täter, auch wenn sie nachweislich in Vernichtungslagern tätig gewesen waren, ihnen aber keine Beteiligung an konkreten Einzelfällen nachgewiesen werden konnte, überwiegend unbehelligt.99 Eine bloße Funktion innerhalb des arbeitsteilig organisierten Vernichtungsgeschehens und eine Anwesenheit am Tatort reichte der 95
93
BGBl. 1951 I, S. 307 – 320. Vgl. hierzu: Perels (1998); Görtemaker/Safferling, S. 154 ff. 95 BGBl. 1949 I, S. 37. 96 BGBl. 1954 I, S. 203. 97 Frei (1996), S. 129; zur Rolle der Justiz, s. Rottleuthner. 98 Das Landgericht München II verurteilte im Mai 2011 den 91-jährigen John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord an 28.060 Juden im Vernichtungslager Sobibor zu einer fünfjährigen Haftstrafe. Ankläger und Verteidiger legten gegen das Urteil Revision ein. Vor einer neuen Entscheidung starb Demjanjuk in einem Altenheim. Demjanjuk konnte keine konkrete einzelne Mitwirkungshandlung an der Vernichtung der Opfer nachgewiesen werden, sondern nur, dass er in einem Zeitraum von drei Monaten während der „Abfertigung“ von 16 Transporten Dienst als Wachmann in Sobibor geleistet hatte. Diesen Tatbeitrag stufte das LG München II jedoch als relevante Beihilfehandlung ein: „Die drei Vernichtungslager Treblinka, Belzec und Sobibor dienten nur dem einzigen Zweck der massenhaften Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas. Damit war jede Tätigkeit aller übrigen Wachleute im Lager eine Förderung des Hauptzwecks des Vernichtungslagers, gleich ob an der Rampe bei der Ankunft eines Zuges, beim Treiben der Gefangenen durch den ‚Schlauch‘ zur Gaskammer, beim gewaltsamen Hineinpferchen in die Gaskammer, bei der Bewachung der Juden, welche die getöteten Menschen zu verbrennen hatten, bei der Bewachung der Arbeitshäftlinge, die den Lagerbetrieb aufrecht zu erhalten und den Lagerbetrieb aufrecht zu erhalten und die Verwertung der Habseligkeiten der Getöteten vorzunehmen hatten, oder auch nur bei der Wachtätigkeit auf dem Wachturm […], ferner auch der Bereitschaftsdienst […].“ Vgl. LG München II, Urteil vom 12. 5. 2011 – 1 Ks 12496/08. 99 Eine Wende in der Beihilferechtsprechung brachte der Prozess gegen den Terrorhelfer Mounir al-Motassadeq, den das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg im Januar 2007 zu 15 Jahren Haft wegen Beihilfe zum Mord in 246 Fällen im Zusammenhang mit den Anschlägen des 11. 9. 2001 in New York verurteilte. Zu seiner Beihilfehandlung führte das Gericht aus, er sei „an unterer Stelle der Hierarchie an den Anschlagsvorbereitungen beteiligt“ gewesen und „nicht an der Ausführung der Taten selbst.“ „Auf besondere Fertigkeiten des Angeklagten“ sei es nicht angekommen. „Seine Beiträge waren für die erfolgreiche Ausführung der Taten nicht unverzichtbar. In ihrer Gesamtheit waren sie gleichwohl erheblich. […] Insgesamt hat der Angeklagte die Beihilfe in mehreren Teilakten von unterschiedlichem Gewicht und über einen längeren Zeitraum begangen. In die Bewertung der Gehilfenbeiträge des Ange94
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Justiz bei der Beurteilung von Gehilfenvorsatz und Beihilfehandlung in Holocaust verbrechen meist nicht aus.100 Die beinahe durchgehende Beurteilung der Täter als Gehilfen, die sich auch auf die durch den Nürnberger Prozess tradierte intentionalistische Geschichtsinterpretation stützte, hatte erhebliche Auswirkungen auf das Strafmaß und die Verjährung der Taten und erforderte u. a., dass die Gehilfeneigenschaft bei einer nicht tateinheitlichen Begehungsweise, d. h. wenn mehrere Handlungen als eine Tatmehrheit betrachtet werden, immer wieder neu bewiesen werden musste. Dies erschwerte die Anforderung an die zu einer Verurteilung zu erbringenden Beweise insbesondere dann, wenn ein Gericht wie im Frankfurter Auschwitzprozess101 das Tat- und Mordgeschehen in einem Lagerkomplex wie Auschwitz nicht mehr als einheitliche Tat verstand. Fritz Bauer, der wichtigste Impulsgeber für den Frankfurter Auschwitzprozess 1963,102 war dann auch der Auffassung, dass man dem arbeitsteilig organisierten Mordgeschehen in dem Lagerkomplex Auschwitz (mit seinen Arbeitsund Vernichtungslagern) nur dann gerecht werde, wenn man das Mordgeschehen in diesem Komplex ebenfalls als eine natürliche Handlungseinheit auffasste, mit der Folge, dass eben auch die bloße Zugehörigkeit zu den am Tatort bestehenden Organisationsstrukturen ausreichte, um den objektiven Tatbestand einer Beihilfe zum Mord zu erfüllen. Deutlich wird an seiner Erläuterung, dass auch er das pyramidale, intentionalistische Bild des Massenmordes vor Augen hatte, das sich durch den Nürnberger Prozess tradiert hatte: Die organisatorischen Verzweigungen der zwangsläufig arbeitsteilig durchgeführten Aktionen, auch die Beteiligten, vor allem in den oberen und mittleren Rängen, sind weitgehend feststellbar. Ihre jeweiligen bürokratischen Apparaturen können erfasst werden. Die Gesamtkomplexe können in Pyramidenform vorgestellt werden. An der Spitze stand Hitler, dem etwa bei der ‚Endlösung der Judenfrage‘ Männer wie Himmler und Göring klagten ist zudem entscheidend einzubeziehen, dass der Angeklagte seine Beiträge in einem arbeitsteilig organisierten System erbrachte.“ OLG Hamburg, Urteil vom 8. 1. 2007 7 – 1/06. 100 Dies war allerdings nicht immer so gewesen: In einem frühen Verfahren gegen Angehörige der Lagermannschaft des Vernichtungslagers Chelmno in den Jahren 1962 – 64 wurde das Mordgeschehen noch als einheitliche Tat gesehen, die die Angehörigen der Lagerstrukturen/-organisation objektiv fördern konnten. Der Bundesgerichtshof urteilte seinerzeit: „Nach den Feststellungen, wie sie das Schwurgericht getroffen hat, haben die Angeklagten allein durch ihre Zugehörigkeit zu dem Sonderkommando, das eigens für die Ausrottung der jüdischen Bevölkerung Polens und gewisser anderer nach der Behauptung der Taturheber lebensunwerter Bevölkerungsgruppen gebildet worden war, bei der Tötung der Opfer Hilfe geleistet. Die Art der Aufgaben, die ihnen bei Durchführung der einzelnen Aktionen oblagen, ist daher – jedenfalls in diesem Zusammenhang – ohne Bedeutung“. Hieraus folgte, dass auch Bedienstete der Lagermannschaften, die nicht unmittelbar „mitmordeten“, d. h. in direktem Kontakt mit den Opfern auf ihrem Weg in die Gaskammer standen, wegen Beihilfe zum Mord belangt werden konnten. BGH, Urteil vom 25. 11. 1964 Az. 2 StR 71/64, zit. nach Kurz, S. 122. 101 Zum Auschwitzprozess: Werle/Wandres; Naumann. 102 Zu Bauer, s. Wojak.
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folgten. Eine Aufteilung z. B. der ‚Endlösung der Judenfrage‘ oder eine Aufteilung z. B. der Beiträge der ganz überwiegenden Mehrzahl der Beteiligten – seien es Mittäter oder Gehilfen – in Episoden, die Auflösung des Geschehens und der Tätigkeiten der Mitwirkenden in – im Zeitlupenstil aufzuklärende – Details ist ein historisch und rechtlich untauglicher Versuch, ja ein unmögliches Unterfangen.103
Bauers Plädoyer, dem arbeitsteiligen Organisationsgrad des Mordens in Ausch witz besser Rechnung zu tragen, indem an der Funktion des Einzelnen als Teil einer Organisationsstruktur und nicht seiner konkreten Beihilfehandlungen angeknüpft wird, hätte vor allem die Folge gehabt, die Beweisführung zu erleichtern. Der Nachweis des Einsatzes im Vernichtungslager wäre für den Nachweis des objektiven Tatbestandes einer Beihilfe zum grausamen und heimtückischen Mord ausreichend gewesen. Besser als die meisten seiner Zeitgenossen erfasste Bauer den spezifischen Charakter, der auf gestufter Arbeitsteiligkeit beruhenden „Endlösung der Judenfrage“. Es waren schließlich diese modernen, arbeitsteiligen, industriell und bürokratisch organisierten Strukturen, die den einzelnen Tatbeitrag geringfügig erscheinen lassen konnten; das Mitwirken wurde so wesentlich erleichtert und das Gewissen weniger beschwert. Dieser soziologische Aspekt moderner industrialisierter Massenphänomene und seine Wirkung innerhalb des NS-Systems und seiner Mordapparate beschrieb Bauer, der als Emigrant nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehrte, bereits sehr deutlich: Auch die Tätigkeit eines jeden Mitglieds eines Vernichtungslagers stellt vom Eintritt in das Lager, womit in aller Regel sofort die Kenntnis von dessen Aufgabe, Tötungsmaschinerie zu sein, verbunden war, bis zu seinem Ausscheiden eine natürliche Handlung dar, was immer er physisch zur Verwaltung des Lagers und damit zur ‚Endlösung‘ beigetragen hat. Er hat fortlaufend, ununterbrochen mitgewirkt. Die gesamte Tätigkeit stellt bei natürlicher Betrachtungsweise ein einheitliches von Stunde zu Stunde verbundenes Tun dar. Alle Willensäußerungen sind unselbstständige Elemente einer Gesamtaktion; schon die Anwesenheit ist psychische Beihilfe, die – soziologisch betrachtet – gerade bei Massenphänomenen nicht vernachlässigt werden darf. Jeder stützt den Nächsten, er macht ihm das kriminelle Tun leichter. Die Opfer während seines Lageraufenthaltes sind ihm zuzurechnen.104
Nach Bauers Ansicht war damit jeder SS-Angehörige – vom Wachmann über den Lagerarzt bis hin zu einem Buchhalter –, „der Mitwirkung am Morde schuldig.“ Doch dieser Sichtweise, die die Aburteilung von tausenden von Holocausttätern in Deutschland in unterschiedlichsten Bereichen vereinfacht hätte, folgten weder die Frankfurter Schwurgerichtskammer noch der Bundesgerichtshof im Revisionsverfahren. Es wurden nur diejenigen Angeklagten schuldig gesprochen, denen man konkrete (Einzel-)Taten nachweisen konnte. Beide Gerichte waren hierbei der Ansicht, dass es sich beim Holocaust im Lagerkomplex Auschwitz nicht um ein einziges Vernichtungsgeschehen gehandelt habe, sondern um Millionen einzelner, 103
Bauer (1967), S. 628.
104 Ebd.
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voneinander unabhängiger Verbrechen, bei denen, wie es das Landgericht Frankfurt 1966 formulierte, eine Vielzahl von Tätern und Gehilfen auf Grund eigener Willensentschlüsse mitwirkten. Im Übrigen folgte auch das Schwurgericht des LG Frankfurt der intentionalistischen Geschichtsinterpretation, die durch Nürnberg vorgegeben war: Das Vernichtungsprogramm, bei dem den Lagern von Auschwitz eine wichtige Rolle zugewiesen und an dem der Angeklagte beteiligt war, ist von einer Vielzahl von Tätern durchgeführt worden, deren Feststellung es im Einzelnen in diesem Verfahren nicht bedarf. An erster Stelle sind Hitler und Himmler zu nennen, die das Tötungsvorhaben in Gang setzten, indem sie es planten, die die organisatorischen Voraussetzungen zu seiner Durchführung schufen und die es in Gang hielten. Die von ihnen begangene Haupttat, als deren Teil sich die in Auschwitz durchgeführte Vergasung arbeitsunfähiger Häftlinge darstellt, erfüllt den Tatbestand des § 211 StGB alter und neuer Fassung. […]. Die dem Vernichtungsprogramm ausgesetzten Häftlinge sind durch eine Vielzahl einzelner Handlungen im natürlichen Sinne getötet worden. Gleichwohl ist nicht jede einzelne Tötung als eine Handlung im Rechtssinne anzusehen. Mehrere natürliche Handlungen, von denen an sich jede den Tatbestand eines Strafgesetzes erfüllt, sind als eine Einheit zu werten, wenn sie auf einem Willensentschluss des Täters beruhen und bei natürlicher Betrachtungsweise – etwa wegen ihres zeitlichen und räumlichen Zusammenhangs – als Teilstück eines einheitlichen Ganzen erscheinen. Hiernach kann die Vernichtungsaktion auch nicht als einheitliches Ganzes, als eine Tat Hitlers und Himmlers im Rechtssinne gewertet werden. Mag sie auf einem Willensentschluss Hitlers beruhen, so fehlt doch bei den einzelnen Tötungen der zeitliche und örtliche Zusammenhang. Die Tötungsvorhaben wurden in allen damals von Deutschland besetzten Teilen Europas verwirklicht, in der Endphase zumeist in den Ostgebieten. Es wirkten daran eine Vielzahl von Tätern und Gehilfen auf Grund eigener Willensentschlüsse mit. Die Tötung der Häftlinge wurde in verschiedener Weise durchgeführt, durch Erschießen oder Erhängen, durch Vergasung oder Injektionen. Daher nötigt eine natürliche Betrachtungsweise dazu, jede einzelne Vernichtungsaktion, die in der Regel mit der Gefangennahme und dem Abtransport der Opfer zur Vernichtungsstätte begann, gegebenenfalls mit einer Selektion fortgesetzt wurde und mit der Tötung einer bestimmten Gruppe von Häftlingen endete, als eine Handlung im Rechtssinne anzusehen.105
Diese Sichtweise betonte zwar die individuelle Verantwortlichkeit und Schuld der Täter und entsprach damit den Vorstellungen von einem liberalen bürgerlichen Schuldstrafrecht; die damit einhergehende Verengung der als beihilfefähige Tat in Frage kommenden Haupttat führte im Frankfurter Auschwitzprozess jedoch dazu, dass einige Angeklagte, obgleich sie nachweislich Teil des Vernichtungskomplexes Auschwitz waren, mangels Beweisen freigesprochen wurden. In künftigen Verfahren erschwerte diese Sichtweise auf den Holocaust als eine Vielzahl von Einzeltaten die Beweisführung grundlegend. Nunmehr wurde zunehmend nur noch die Ahndung von in der Regel schwerer beweisbaren Exzessoder Einzeltaten möglich, die Teil des sehr viel größeren Vernichtungsgeschehens waren. Aber nicht nur in Verfahren gegen Täter in den Vernichtungslagern, sondern auch bei den Prozessen gegen Einsatzgruppentäter spielte die durch Nürnberg 105
LG Frankfurt am Main, Urteil v. 16. 9. 1966 – 4 Ks 3/63.
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geprägte intentionalistische Geschichtsinterpretation eine entscheidende Rolle für die Einordnung der Täter. Auch hier galten sie – selbst wenn sie das Tatgeschehen in den Händen hielten und alleine über die Erschießung gefangengenommener Juden zu entscheiden hatten – meist nur als Gehilfen. Dies galt auch dann, wenn die Einsatzgruppentäter in einer verantwortlichen Stellung mit weitreichender Kommandogewalt agierten. Bettina Nehmer hat in ihrer wichtigen Untersuchung herausgearbeitet, dass von 1958 bis 1983 in rund 50 Prozessen mit insgesamt 153 Angeklagten bei 33 Freisprüchen (23,4 %) die ganz überwiegende Zahl als Gehilfen (70,2 %) und nur 6,3 % als Täter verurteilt wurden.106 Dies hatte bei den Einsatzgruppentätern erhebliche Auswirkungen auf das Strafmaß und führte regelmäßig zu Freiheitsstrafen unter 5 Jahren (in 71,7 % aller erfassten Fälle); nur in 6 % der erfassten Fälle gingen die Gerichte bei der Verurteilung an die Höchstgrenze von 12 – 15 Jahren.107 Dass eine Einstufung der Täter als Gehilfen nicht zwingend war, zeigte sich schon in dem oben erwähnten, frühen Urteil des Landgerichts Würzburg vom 3. Februar 1950:108 In diesem Verfahren wurden die beiden angeklagten Einsatzgruppentäter, die Angehörigen des Einsatzkommandos Nr. 3, Martin Weiß und August Hering, als Täter und nicht als Gehilfen verurteilt. Auch war das Gericht hier nicht bereit, den Tätern Milderungsgründe aufgrund der Indoktrination durch den NS-Staat zuzubilligen, wie dies in den folgenden von Nehmer präsentierten Beispielen regelmäßig der Fall war. In diesen Fällen waren die Täter überwiegend ausgebildete Juristen aus dem höheren Polizeidienst, die bereits vor ihrer Tätigkeit in einem Einsatzkommando im RSHA bzw. bei der Gestapo Verwendung gefunden hatten: Diesem Umstand trug das Schwurgericht beim LG Essen in seinem Urteil vom 29. 3. 1965 gegen den 1908 geborenen Albert Rapp noch durch eine Verurteilung als Täter wegen gemeinschaftlichen Mordes an 1.180 Menschen zu lebenslangem Zuchthaus Rechnung.109 Im Rang eines SS-Obersturmbannführers hatte Rapp, der seit 1936 hauptamtlich dem SD angehörte, im Februar 1942 das Sonderkommando 7a beim Judenmord in der Sowjetunion geführt. Das Gericht urteilte: „Auch die Widrigkeiten des russischen Winters konnten den Angeklagten von Unternehmungen, in deren Verlauf Juden getötet wurden, nicht abhalten“.110 Rapp habe als Mörder aus niedrigen Beweggründen gehandelt und sich die Einstellung der NS-Führung zu Eigen gemacht. Die Einstellung des Angeklagten sei aus dessen Äußerungen deutlich geworden, wonach „Juden Staatsfeinde Nr. 1, Parasiten, ein niedriges, heruntergekommenes, asoziales, verseuchtes und verdrecktes Volk seiNehmer, S. 644 f. Ebd., S. 647. 108 LG Würzburg – KS 15/49, abgedr. bei Rüter, Band VI, Nr. 192, S. 71 ff. 109 LG Essen – 29 Ks 1/64, abgedr. bei Rüter, Band XX, Nr. 588, S. 715 ff. Vgl. auch Freudiger, S. 74 – 83. 110 Ebd., S. 732. 106 107
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en, das ausgerottet werden müsse.“ Solche Anschauungen widersprachen aus Sicht des Gerichts „so sehr den jahrhundertealten Vorstellungen […] über Recht und Sittlichkeit, Wert und Würde der menschlichen Person und des menschlichen Lebens, daß diejenigen, die sich dadurch zur Tötung auch nur eines Menschen bestimmen lassen, gemein und verächtlich handeln.“111 Der Angeklagte sei daher „nicht bloßer Gehilfe der obersten nationalsozialistischen Gewalthaber, insbesondere Hitlers, Himmlers und Heydrichs“, gewesen, sondern habe sich „als deren Mittäter des gemeinschaftlichen Mordes schuldig gemacht.“112 Er sei kein „Werkzeug anderer“ gewesen und habe nicht nur fremdes Tun fördern wollen, sondern habe „den von ihm mitverübten […] Taten […] positiv gegenüber“ gestanden und habe diese „als eigene gewollt.“ Er habe Tatherrschaft gehabt und die „nationalsozialistischen Vernichtungsbefehle“ seien nur „Richtlinie und Rahmen“ für die von ihm auf eigenen Entschluss durchzuführenden einzelnen Vernichtungsmaßnahmen gewesen. Demgegenüber wurde der ehemalige SS-und Polizeiführer (SSPF) in Minsk (12. 8. 1941 – 21. 7. 1942), Carl Zenner, der ein Studium der Volks- und Betriebswirtschaft absolviert, seit Juli 1932 NSDAP-Reichstagsabgeordneter und seit Januar 1937 im SD-Hauptamt tätig gewesen war, am 12. 6. 1961 vom Schwurgericht des LG Koblenz wegen seiner Beteiligung am Judenmord nur als Gehilfe, allerdings zur Höchststrafe von 15 Jahren verurteilt.113 Als SSPF unterstand Zenner nur dem direkt Himmler unterstehenden HSSPF für Weißruthenien. So stellte das Gericht auch fest, dass Zenner wesentlichen Einfluss auf die Erschießung der Juden in Minsk hatte. Trotzdem wurde Zenners Tatbeitrag nicht als Täterschaft gewertet. In Anlehnung an die durch Nürnberg vermittelte intentionalistische Geschichtsinterpretation stufte das Gericht Hitler und die ihn in der Ausarbeitung des „Führerbefehls“ unterstützenden Himmler und Heydrich als Taturheber und Haupttäter ein, die als mittelbare Täter gehandelt hätten: Zenners Tötungshandlungen hätten „auf dem von Hitler erlassenen Grundsatzbefehl, auf der mit seinen Komplizen beschlossenen Endlösung“ beruht: „Mit der Erteilung dieses Befehls begannen alle jene unzähligen Morde. Dies war der entscheidende, das Blutbad auslösende, einheitliche Beitrag zu allem, was im Zuge der Endlösung kommen sollte.“114 Das Gericht sprach Zenner trotz seines Werdeganges und seiner frühen Betätigung in der NSDAP den Täterwillen ab und glaubte ihm seine Einlassung, wonach er den Judentötungen innerlich ablehnend gegenübergestanden habe. Zenner sei nicht aus eigenem Antrieb, sondern auf Befehl tätig geworden. Das Gericht war überzeugt, dass er ohne den „Führerbefehl“ nicht tätig geworden wäre und zudem aus einer „Art psychotischen Verherrlichung des Nationalsozialismus“115 gehandelt habe. Letztlich stellte das Gericht jedoch fest und berücksichtigte dies auch strafschär111
Ebd., S. 801. Ebd., S. 803. Dort auch die folgenden Zitate. 113 LG Koblenz – 9 Ks 1/61, abgedruckt bei Rüter, Band XVII, Nr. 512, S. 497 ff. 114 Ebd., S. 540. 115 Nehmer, S. 655. 112
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fend, dass die „Exekution, so wie sie sich abspielte“ „im Wesentlichen das Werk Zenners“116 gewesen sei, weshalb er die Höchststrafe verdient habe. Der 1909 geborene Jurist Robert Mohr, der seit 1938 im Reichsinnenministerium mit Aufgaben der Sicherheitspolizei befasst und 1939 ins RSHA eingetreten war, wurde am 30. 12. 1965 durch das Schwurgericht des LG Wuppertal aufgrund seiner Teilnahme am Judenmord ebenfalls nur wegen Beihilfe zum Mord zu 8 Jahren Zuchthaus verurteilt.117 Obgleich auch Mohr von November 1941 bis September 1942 das Einsatzkommando 6 (EK 6) der Einsatzgruppe C führte und das Gericht es für erwiesen ansah, dass Mohr den Dienstbetrieb des EK 6 so eingerichtet habe, „daß die Tötungsbefehle in vollem Umfang vollzogen wurden“,118 wollte das Gericht nicht ausschließen, dass Mohr die Tötungen „innerlich“ abgelehnt habe, zumal er versucht habe, eine Ablösung zu erreichen. Wie üblich, sah das Gericht Hitler, Himmler, Heydrich und andere hohe NS-Führer als Haupttäter an. Diese hätten „in gemeinschaftlich abgestimmtem Zusammenwirken Juden, politische Funktionäre und Geisteskranke in Russland getötet, indem sie den vornehmlich zu diesem Zwecke aufgestellten Einsatzgruppen die Tötungen aufbefahlen und diese die Befehle vollzogen.“119 Mohr sei jedoch lediglich Gehilfe gewesen. Ihm habe der Täterwille gefehlt, und er habe nur in billigender Ausführung des Mordbefehls, nicht jedoch in innerer Übereinstimmung mit diesem gehandelt. Mohr habe lediglich Befehle befolgt, wobei strafschärfend Mohrs Betätigung bei SS und Gestapo gewertet wurden, bei denen er schon vor Kriegsbeginn habe erkennen müssen, „daß sie die Hauptstützen der Gewaltherrschaft des Nationalsozialismus waren.“120 Strafmildernd wurde angeführt, dass infolge „jahrelange(r) Hetzpropaganda und staatlich geförderte(r) Gewalttaten“ Mohrs „natürliche(s) Empfinden für Gerechtigkeit und menschliche Würde“ möglicherweise beeinträchtigt worden sei.121 Mit einer Haftstrafe von nur 4 Jahren wurde der 1917 geborene Wilhelm Döring vom Schwurgericht des LG Bonn am 19. Februar 1964 wegen Beihilfe zum Mord als Einsatztruppführer verurteilt.122 Döring hatte nicht studiert, sondern die Kommissar-Laufbahn bei der Kriminalpolizei absolviert. Er trat 1939 der NSDAP bei. Das Gericht attestierte ihm, dass er aus dem „ihm anerzogenen Gehorsam und der Ergebenheit gegenüber der damaligen Staatsführung“ sich für verpflichtet gehalten habe, „die befohlenen Erschießungen der Juden durchzuführen …“123 Döring konnte nachgewiesen werden, selbst geschossen und noch lebende Opfer Rüter, Band XVII, Nr. 512, S. 549. LG Wuppertal – 12 Ks 1/62, abgedruckt bei Rüter, Band XXII, Nr. 606, S. 501 ff. 118 Ebd., S. 514. 119 Ebd., S. 521. 120 Ebd., S. 523. 121 Ebd. 122 LG Bonn – 8 Ks 2/62, abgedruckt bei Rüter, Band XIX, Nr. 564, S. 703 ff. 123 Ebd., S. 715. 116 117
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durch „Nachschüsse“ getötet zu haben. Über seinen Einsatztrupp übte Döring die absolute Befehlsgewalt aus. In der rechtlichen Würdigung kam das LG Bonn dann jedoch zu der üblichen Einschätzung, dass Hitler, Himmler, Heydrich und deren gleichgesinnte Mitarbeiter die Haupttäter der Judenmorde gewesen seien: „Sie beschlossen als Taturheber die ‚Sonderbehandlung‘ der ‚potentiellen Gegner‘ und ordneten sie bis in die Einzelheiten der Durchführung planend an. Sie bestimmten die Art und Weise der Tatausführung, indem sie einen Vernichtungsplan für die ‚Endlösung der Judenfrage‘ aufstellten, durch den sie aus politischem Rassenwahn Millionen unschuldiger Menschen unter Einschaltung des Reichssicherheitshauptamtes durch die Einsatzgruppen, die Einsatzkommandos und die Angehörigen der Vernichtungslager umbringen ließen.“124
Döring habe zwar Tatherrschaft, aber keinen Täterwillen gehabt. Daher sei er lediglich als Gehilfe einzustufen, der die o. a. Haupttat lediglich gefördert habe: „Er befahl die Erschießung der Juden nicht deshalb, weil er sich das Vorhaben der Taturheber zu eigen machte, sondern allein deshalb, weil er aus seiner Einstellung zu Befehl und Gehorsam die fremde Tat befehlsgemäß unterstützen wollte.“125 In seinem Urteil berücksichtigte das Gericht dann das Alter des Angeklagten, der zur Tatzeit erst 24 Jahre alt war, „und [dass] seine Persönlichkeit unter dem unheilvollen Einfluß des nationalsozialistischen Ideengutes nicht so weit gefestigt war, um in der verantwortungsschweren Situation […] bestehen zu können.“126 Im Oktober 1968 trat das sogenannte Einführungsgesetz zum Gesetz über Ordnungswidrigkeiten (EGOWiG) mit der Folge in Kraft, dass die zu Gehilfen erklärten Täter nunmehr von einer rückwirkenden „kalten Amnestie“ profitierten:127 Art. 1 Ziffer 6 (§ 50 Abs. 2 StGB a. F. dieses Gesetz legte fest: „Fehlen besondere persönliche Eigenschaften, Verhältnisse oder Umstände (besondere persönliche Merkmale), welche die Strafbarkeit des Täters begründen, beim Teilnehmer [an der Mordtat], so ist dessen Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs zu mildern.“ Dementsprechend reduzierte sich auch das für dieses Delikt vorgesehene Strafmaß und – anders als heute § 78 StGB – auch die damit verknüpfte Verjährungsfrist von 20 Jahren auf 15 Jahre. Da man aber Taten mit einer Höchststrafe von 15 Jahren am 8. Mai 1960 hatte verjähren lassen, waren die Verbrechen sämtlicher Nazi-Mordgehilfen ohne schwer nachweisbare besondere persönliche (Mord-)Merkmale auf einen Schlag rückwirkend seit 1960 verjährt.128 Hiervon profitierten nicht zuletzt zahlreiche Schreibtischtäter in der ehemaligen Mordzentrale, dem RSHA, nachdem ein Verfahren der Berliner Staatsanwaltschaft gegen das
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Ebd., S. 722. Ebd., S. 723. 126 Ebd., S. 726. 127 Vgl. hierzu: Görtemaker/Safferling, S. 399 ff. 128 Der Beginn der Verjährung eines Mords wurde in der Verjährungsdebatte 1965 auf das Jahr 1949 verlegt. 125
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RSHA nach jahrelangen Ermittlungen129 aufgrund der geänderten Rechtslage nach nur einem Verhandlungstag eingestellt werden musste. Der zuständige Staatsanwalt Nagel kommentierte diese Entwicklung im Moabiter Schwurgerichtssaal am 28. Mai 1969, dem ersten und letzten Tag des RSHA-Prozesses, mit folgendem bitteren Resümee: „Der deutsche Rechtsstaat hat den Angeklagten den Kopf geschenkt. Denn wären sie unmittelbar nach dem Untergang des Regimes vor Gericht gestellt worden, hätte ihnen die Todesstrafe gedroht. Jetzt schenkt der Staat ihnen durch die nicht ausreichend durchdachte Gesetzesänderung auch noch die Freiheit. Hier ist in der Konsequenz eine Amnestie durch die Hintertür erlassen worden.“130
Natürlich können für diese Entwicklung nicht die Nürnberger Prozesse und die dort beteiligten Akteure verantwortlich gemacht werden. Sie begünstigten aber die Entstehung eines intentionalistischen Geschichtsbildes, das aus vielen Tätern bloße Gehilfen machte, die letztlich von einer damit einhergehenden milderen Beurteilung profitierten, wie der gescheiterte RSHA-Prozess gegen einen Teil des Kernpersonals des Holocaust deutlich macht.
129 Vgl. hierzu „PROZESSE/REICHSSICHERHEITSHAUPTAMT. Mord und Met“, in: Der Spiegel 37/1968, online: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-46477755.html. (letzter Zugriff am 7. 12. 2016). 130 Zitiert nach: Giordano.
Ruanda. Das zweifelhafte Verhältnis von Genozid, Erinnerung und Politik Von Gerd Hankel Gerd Hankel Ruanda. Das zweifelhafte Verhältnis von Genozid, Erinnerung und Politik
Von April bis Juli 1994 fand in Ruanda ein Völkermord statt. Mindestens 500.000 Menschen verloren ihr Leben. Die Täter stammten aus der Bevölkerungsgruppe der Hutu, der die große Mehrheit der Ruander angehörte. Die Opfer waren zumeist Tutsi, die die Minderheit innerhalb der ruandischen Bevölkerung bildeten, oder Hutu, die der Opposition zugerechnet wurden.1 Der Völkermord war grausamer Höhepunkt eines Krieges, der am 1. Oktober 1990 begonnen hatte und der mit dem Völkermord noch nicht zu Ende war. Mal mehr, mal weniger intensiv begleitete der Krieg die erste Phase der politischen Konsolidierung in Ruanda und griff dann über auf das benachbarte Zaire. Offiziell zu Ende war er erst 2003, doch noch immer gibt es vor allem in den beiden Kivu-Provinzen im Osten der Demokratischen Republik Kongo, in die Zaire 1997 umbenannt worden war, bewaffnete Auseinandersetzungen, die nicht selten – zuletzt im Herbst 2013 und Frühjahr 2015 – kriegerische Formen annehmen. In Ruanda selbst herrscht heute Frieden.2 Eine neue Verfassung wurde per Referendum angenommen, die politische Pluralität, unbedingte Achtung vor den Menschenrechten und Bewahrung demokratischer Strukturen verspricht. Zwei Parlamentswahlen und zwei Präsidentschaftswahlen haben stattgefunden, ohne dass es zu ernsthaften Spannungen gekommen wäre. Die Wirtschaft wächst, das Land modernisiert sich und erhöht ständig seine Attraktivität für ausländische Investoren. Kigali, die Hauptstadt, hat heute nichts mehr mit der verschlafenen Stadt zu tun, die es mal gewesen ist. Seit 1994 hat sich ihre Bevölkerung mehr als vervierfacht. Hotels, Bürotürme und Banken bestimmen das Stadtbild, Straßen wurden neu angelegt oder verbreitert und Glasfaserkabel verlegt, nicht nur in Kigali, sondern entlang aller größeren Verkehrsachsen des Landes. Es ist unübersehbar: Aus einem kleinen Land, so unbedeutend und entlegen, dass in ihm nahezu unbemerkt Krieg und Völkermord stattfinden konnten, ist ein Land geworden, das in der Welt zur Kenntnis genommen wird. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist, dass der weltweiten Anerkennung und solidarischen Unterstützung heftige, erbitterte Kritik gegenübersteht.
1 2
Vgl. zum ruandischen Völkermord die umfassende Darstellung in Des Forges (2002). Zu dieser Feststellung und den nachfolgenden Überlegungen vgl. Hankel, S. 17 – 28.
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Folgt man ihr, dann ist es so, als ob es kein Übel der Welt gäbe, das nicht in Ruanda zu Hause ist. Massenmord, Beseitigung politischer Gegner mitsamt ihren Familien, Folter, Erpressung, Betrug und zynische Machtpolitik seien die wahren Merkmale des neuen Ruanda, behauptet sie. Ein Menschenleben sei dort nichts wert, mit großer Unerbittlichkeit werde das Land transformiert. Wie passt das zusammen? Wie ist es möglich, in Bezug auf ein Land zu zwei so diametral entgegengesetzten Aussagen zu gelangen? Aussagen, die am Ende auch dann noch zur Sprache kommen und stehen bleiben, wenn in die eine wie die andere Richtung nuancierter argumentiert wird, da es für Zwischentöne offensichtlich keinen Raum gibt. Meine These ist, dass das, was diese letztlich radikale Gegensätzlichkeit in der Wahrnehmung Ruandas erklärt, eng damit zusammenhängt, welcher Gebrauch von der jüngsten Vergangenheit des Landes gemacht wird. Denn dabei geht es um einiges. Es geht um die Deutungshoheit und Bestimmung eines Narrativs nach massiver Gewalterfahrung, um den Stellenwert von Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung beim Aufbau eines Staates und bei der Befriedung einer Gesellschaft, letztlich also – und vor dem konkreten Hintergrund nicht verwunderlich um fundamentale Fragen der Moral und, je nach Perspektive, ihrer zynischen Umkehrung, die sich gleichwohl den Anschein höchster Moralität gibt. Auf diese Weise sind Projektionsflächen entstanden und verfestigen sich weiter, auf denen die Meinungen und Handlungen der jeweils anderen Seite zwischen falsch, verhängnisvoll und verbrecherisch angesiedelt werden. Was für die einen Ausweis gelungener Versöhnung, ist für die anderen nur ein billiges Politspektakel. Wo die einen wirtschaftlichen Fortschritt erkennen, sehen andere gefährliche Trugbilder.
I. Der Völkermord und der Versuch, eine Deutungsautorität herzustellen Auf den letzten Seiten des in einem Buch dokumentierten Gesprächs zwischen Esther Mujawayo, einer Überlebenden des ruandischen Völkermords, und der Journalistin Souâd Belhaddad, wird auch der Französin Simone Veil das Wort gegeben, die Auschwitz und Bergen-Belsen überlebt hat. Beide verbinde, so Souâd Belhaddad einleitend, das Schicksal, „die monströse Universalität der größten Tragödien unserer jüngsten Geschichte“ erlebt haben zu müssen.3 Was dies konkret bedeutet, im täglichen Leben, in der Familie, in der Sicht auf die Umwelt und sich selbst, entwickeln Esther Mujawayo und Simone Veil im anschließenden Gespräch. Es ist eine ständig wiederkehrendes Erleben von Desinteresse, Ablehnung, Hilflosigkeit, Schweigen, Selbstzweifel und schwierigen, schmerzhaften Redeversuchen.4 Beide sind Opfer eines Verbrechens geworden, das ihnen und Millionen anderen wegen ihres Tutsi- beziehungsweise Jüdin-Seins das Lebensrecht abgesprochen hat, und Mujawayo/Belhaddad/Vivantes, S. 280. Ebd., S. 281 – 295.
3 Vgl. 4
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beide sind Opfer geblieben. Einem kollektiven Vernichtungswillen ausgesetzt gewesen zu sein, ist eine Erfahrung, die sie nicht mehr loslässt. Und es ist etwas, was die schreckliche Besonderheit des erfahrenen Unrechts ausmacht. Ein Völkermord, sagen sie übereinstimmend, sei nicht mit anderen Verbrechen gleichzusetzen, darin bestärkt von der Gesprächsmoderatorin Souâd Belhaddad, für die die vorschnelle Charakterisierung eines Konflikts als Völkermord, so barbarisch der Konflikt auch sein mag, eine Form von Relativierung des Völkermordverbrechens darstellt. „Keine Relativierung“, das sei ein grundlegendes Prinzip des langen Gesprächs zwischen ihr und Esther Mujawayo gewesen, zusammen mit einem zweiten, nicht minder grundlegendem: nicht nach dem Grund für den Genozid zu fragen. „Wir wollten nicht versuchen zu verstehen“, sagt Souâd Belhaddad.5 Aus der Perspektive des Opfers ist diese Haltung verständlich, und man neigt dazu, sie bereitwillig hinzunehmen. Wer wollte auch dem Opfer schlimmster Gewalt das Recht absprechen, das erfahrene Unrecht als unvergleichlich zu empfinden und jedem – vielleicht noch von dritter Seite herangetragenen – Versuch des Verstehens, also der nachträglichen Sinngebung, mit resoluter Zurückweisung zu begegnen. Auf den zweiten Blick jedoch erweist sich diese Haltung als problematisch. Indem sie nämlich das eigene Leid absolut setzt, überträgt sie die Absolutheit der Leiderfahrung auf die Erzählung der Leidensgeschichte, das heißt auf ihr Leben als Tutsi in einem Hutu-dominierten Ruanda sowie auf ihre Wahrnehmung und Schilderung der politischen und sozialen Verhältnisse. Über fast das gesamte Buch hinweg beschreibt Esther Mujawayo ihr Leid, das sie schließlich, im Gespräch mit Simone Veil, in Verbindung setzt zu einem individuellen, im Holocaust erfahrenen Leid. Die Parallelen, die dabei erkennbar werden, vermitteln unweigerlich den Eindruck, dass die Leidensgeschichte Esther Mujawayos, denn nur diese haben wir in einzelnen, ihr bedeutsam erscheinenden Stationen kennen gelernt, ebensolche Parallelen mit der Leidensgeschichte Simone Veils aufweist. Der Völkermord in Ruanda war also wie der Holocaust, das ist, in den Worten des ersten Eindrucks formuliert, die sich zwangsläufig einstellende Folgerung aus dieser Parallelität. Esther Mujawayos Erzählung wird auf diese Weise im Ergebnis in dreifacher Weise beglaubigt, zum einen durch ihr eigenes Leid und zum zweiten durch das Leid Simone Veils sowie – implizit – durch den Holocaust. Nachfragen sind nicht erlaubt, ein „warum“ ist nicht zulässig. Das Problematische an diesem Vorgehen ist offensichtlich. Aus dem unbestrittenen Status als Opfer wird die Autorität zur Geschichtsdarstellung und, da Darstellungen gewöhnlich Worte brauchen, Worte aber nach einem Vorverständnis gefunden werden, auch die Autorität zur Geschichtsinterpretation gefolgert. Das eigene Schicksal wird Beweismittel und schützt zugleich vor kritischen Nachfragen, denn diese werden leicht als Angriff auf den Wahrheitsgehalt des eigenen Erlebens verstanden.
5
Ebd., S. 297.
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Der Grund für dieses Ineinandergreifen von individueller und objektiver Ebene ist ein kulturgeschichtliches Novum. Beginnend mit der Reaktionsbildung auf die Zivilisationskatastrophe des Holocaust – erinnert sei hier insbesondere an die „Opfermemoiren“ (Jan Philipp Reemtsma) und ihre Rezeption – werden Opfererzählungen heute moralisch positiv konnotiert, und in der Folge davon hat die soziale Rolle des Opfers eine Umwertung erfahren. Was das Opfer mitzuteilen hat, gilt als besonders wichtig und lässt ihm eine moralische und Deutungsautorität zuwachsen. Und diese ist eben, wegen der ihm zugeschriebenen Singularität, im Kontext des Holocaust besonders hoch.6 Darum auch, wie am Schluss der Erzählung Esther Mujawayos, die Einbeziehung des Holocaust in das Gespräch über die Person Simone Veils. Wenn beide Völkermorde deutliche Parallelen aufweisen, ist die Zeugenschaft einer Überlebenden des ruandischen Völkermords letztlich unhinterfragbar. – So weit die den Inhalt des Gesprächs zwischen Souâd Belhaddad und Esther Mujawayo validierende Schlussbotschaft des Buchs. Verständlich, aber doch falsch. Sie ist vor allem falsch, weil schon die Voraussetzung nicht stimmt. Der Völkermord von Ruanda kann zwar mit dem Holocaust verglichen, keinesfalls jedoch mit ihm im Hinblick auf Entstehung, Form und Verlauf der Gewalt gleichgesetzt werden. Er war kein afrikanischer Holocaust, und die ruandischen Tutsi waren und sind keine afrikanischen Juden.7 Es gibt Unterschiede zwischen beiden Völkermorden, deutliche und weniger deutliche. Zu den Ersteren gehört, dass das Morden in Ruanda ausschließlich im Land selbst geschah, während es im Holocaust vom Deutschen Reich ausging und in ganz Europa stattfand, vornehmlich jedoch in den besetzten Gebieten Osteuropas. Das bedeutet auch, dass in Ruanda das Wissen um die Verbrechen von Anfang an, vom ersten Stoß, Hieb oder Schuss an, vorhanden war. Jeder und jede konnte sehen und hören, was vor sich ging, denn es passierte in aller Öffentlichkeit ohne einen Versuch der Verschleierung. Im Deutschen Reich hingegen wurde nach Kräften versucht, die Massentötungen im Osten zu verheimlichen. Nachrichten über die Ermordung der Juden und über Vernichtungslager sickerten erst im Verlauf des Jahres 1942 durch, doch konnte ihnen, da das Tatgeschehen nicht vor der eigenen Haustür lag, „ostentative Ahnungslosigkeit“8 entgegengesetzt werden, die die Grenze zwischen tatsächlichem und geheucheltem Nichtwissen verwischte. Möglich war dies auch, weil die Beteiligung der Deutschen am Völkermord, im Verhältnis zu Gesamtbevölkerung gesehen, längst nicht so hoch war wie in Ruanda, und zwar trotz der als sicher anzunehmenden Diskrepanz zwischen offiziellen und realistischen Zahlenangaben hinsichtlich der ruandischen Täter.9 Zum Hintergrund dieser Entwicklung vgl. Hassemer/Reemtsma, S. 30 – 46. nur http://www.foreignaffairs.com/articles/57042/jeffrey-herbst/the-unansweredquestion-attempting-to-explain-the-rwandan-genocid (Letzter Zugriff am 8. März 2017). 8 Vgl. Longerich, S. 324 – 328. 9 Vgl. Hankel, S. 214 – 240. 6
7 Vgl.
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Nach den deutlichen, sich an Tatort, Tatwissen und Tatteilnahme festmachenden Unterschieden zwischen dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda nun zu den Punkten, die einen weniger augenfälligen Unterschied markieren. Ich werde mich auf die meiner Meinung nach wichtigsten beschränken. Beginnen möchte ich mit dem Aspekt der jeweiligen, auf Ausgrenzung und Vernichtung zielenden Ideologien. Über die NS-Ideologie und ihren zentralen Bestandteil, den Antisemitismus, ist dabei wenig zu sagen, da beides als bekannt vorausgesetzt werden kann. Die Geschichte der Diskriminierung und Verfolgung von jüdischen Minderheiten, mit zigfach verschiedenen Argumenten begründet und geglaubt, läuft auf eine schlichte Erkenntnis hinaus: ob, inwieweit und welcher Art ein Jude anders war als derjenige, der dieses Urteil fällte, hing ab von den Erfordernissen der Stigmatisierung. Etliche negative Attribute wurden ihnen zugedacht, und immer war klar, sie sind anders und eine Bedrohung, der sich die Mehrheitsbevölkerung erwehren muss, gezielt demütigend durch Badeverbote oder untersagte Parkbanknutzung oder brutal eliminatorisch durch Vertreibung und Massenmord. Ein, wie man ihn nennt, „autokatalytischer Prozess“ („wenn sie schon überall verfolgt werden, gilt es wirklich vor den Juden auf der Hut zu sein“) festigte das Gefühl der Bedrohung und legitimierte die Gegenwehr.10 Dabei stand zu allen Zeiten und Orten objektiv fest: Die Unterstellungen, Beschuldigungen und Anklagen waren das Produkt einer prädisponierten Phantasie, pure Erfindung eines übel wollenden Geistes, bereitwillig übernommen von schlichten Gemütern. Wie schrieb doch Jean-Paul Sartre: „Der Jude ist ein Mensch, den die anderen Menschen für einen Juden halten: das ist die einfache Wahrheit, von der man ausgehen muß. […] Der Antisemit macht den Juden.“11 Damit war im Rückblick alles gesagt zum „Finanzjudentum“, zur „jüdischen Verschlagenheit“ und zur „jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“ oder wie die Erfindungen der NS-Propaganda sonst noch alle lauteten. Auch in Ruanda wurden Tutsi mit Bezeichnungen bedacht, die sie zu hinterhältigen Feinden abstempelten. Inyenzi, Kakerlake, war die wohl bekannteste. Heimtückisch seien die Tutsi, sie griffen aus dem Hinterhalt an und verschwänden schnell wieder, war die erste Bedeutung des Wortes, aus der sich die zweite entwickelte, die zur Vernichtung der Kakerlaken, des Ungeziefers, aufrief. In dieser Entwicklung hin zum für erstrebenswert erachteten Massenmord liegt allerdings ein Punkt, der bereits auf den Unterschied zwischen dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda hinweist. Er lässt sich festmachen an dem Begriff Inyenzi. Dieser war über viele Jahre hinweg nicht nur negativ konnotiert, sondern wurde auch zur stolzen Selbstbeschreibung einer Tutsi-Guerilla verwendet, die sich zur Bekämpfung des Hutu-Staates Ruanda gebildet hatte.12 Ihre Kämpfer waren inyenzi, die nach der Flucht beziehungsweise Vertreibung vieler Tutsi aus Ruanda in den Dazu näher Hassemer/Reemtsma, S. 42. Zitiert nach Sartre, S. 44. 12 Vgl. http://www.theglobeandmail.com/news/world/in-rwanda-ex-quebeckers-genoci de-trial-stokes-ethnic-tensions/article15477125/ (Letzter Zugriff am 8. März 2017). 10 11
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Jahren 1959 bis 1963 versuchten, die neue Hutu-Ordnung zu destabilisieren. Von Uganda aus kommend, griffen sie im Schutz der Dunkelheit an und zogen sich bei Tagesanbruch wieder über die Grenze zurück.13 Anders als beim Holocaust gab es also in Ruanda eine tatsächliche Bedrohung durch Angehörige der Bevölkerungsgruppe, die später Opfer eines Völkermords werden sollte. Die Guerilla-Aktionen der inyenzi verstärkten noch die Überzeugung der Hutu in Ruanda (und verliehen auch einer entsprechenden Propaganda der Kayibanda-Regierung14 die notwendige Glaubwürdigkeit), dass die vormals mächtigen Tutsi nichts unversucht lassen würden, um den Machtverlust rückgängig zu machen und den Verlauf der Geschichte zu korrigieren (das Schicksal der Tutsi, die in Ruanda nach den Angriffen Repressalien ausgesetzt waren, schien jedenfalls ein hinzunehmender Preis zu sein).15 Die Angst vor einer erneuten Tutsi-Herrschaft blieb eine Konstante in der ruandischen Politik, mit allen autosuggestiven Übertreibungen und beinahe psychotischen Anwandlungen, die einer solchen Politik, wenn sie langfristig geglaubt werden soll, eigen sind. Unglücklicherweise ist sie zweimal, als sie gerade deutlich an Stärke verlor und sich gegen ihre Urheber wandte, wieder beglaubigt worden. Das erste Mal 1972 infolge des von Tutsi begangenen Massenmords an 100.000 bis 300.000 Hutu im Nachbarland Burundi, das zweite Mal 1993 nach der Ermordung des burundischen Staatspräsidenten Melchior Ndadaye, eines Hutu, wiederum durch Tutsi im benachbarten Burundi begangen. Für die Radikalen unter den Hutu, für die Vertreter einer später so genannten Hutu-Power brauchte es da nicht viel, um das Menetekel einer drohenden Tutsi-Diktatur zu zeichnen. 1972 war 1993 wieder präsent und beide Daten erfuhren ihre tägliche Veranschaulichung durch den seit Oktober 1990 im Norden des kleinen Landes von der Tutsi-Rebellenarmee FPR (Front Patriotique Rwandais/Ruandische Patriotische Front) geführten Krieg und das dadurch bewirkte Flüchtlingselend.16 Natürlich fehlte die ideologische Begleitung nicht. Was noch 1957, als das „Manifest der Hutu“ veröffentlicht wurde, als dringender Appell für eine Gleichberechtigung der Hutu verstanden werden konnte,17 war schon im Dezember 1990, drei Monate nach Kriegsbeginn, in der Formulierung der „Zehn Gebote des Hutu“ ein Prunier, S. 51 – 54 und S. 402. Grégoire Kayibanda war der erste Präsident des 1962 unabhängig gewordenen Ruanda. Sein Regime prägte ein ausgeprägter Hutu-Nationalismus und -Rassismus. 1973 wurde er von Juvénal Habyarimana, ebenfalls ein Hutu, gestürzt. Habyarimana distanzierte sich von der Ideologie seines Vorgängers. 15 So auch ausdrücklich Prunier, S. 54. 16 Vgl. ebd., S. 198 – 206; Des Forges (2002), S. 173 – 180. Die Armee unter Führung des heutigen ruandischen Präsidenten Paul Kagame nannte sich eigentlich Armée Patriotique Rwandaise (Ruandische Patriotische Armee), doch wird sie heute allgemein nach ihrem politischen Arm FPR oder RPF (Rwandan Patriotic Front) genannt. 17 Zum Inhalt des Manifests vgl.: http://www.google.de/url?sa=t&rct=j&q=&esrc=s&source=web&cd=4&ved=0ahUKEwj-vpqHgMnSAhVqLMAKHeKSBBUQFggz 13 Vgl. 14
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Dokument des Hasses und der Ausgrenzung der Tutsi. Die Rede des MRND-Politikers Léon Muguesera, die dieser im November 1992 im Norden Ruandas nicht weit von der Frontlinie entfernt vor einer großen Zuhörerschaft hielt, forderte dann, zum Nutzen des künftigen Ruanda, unmittelbar zur Vernichtung auf, und zwar nicht nur der FPR-Invasoren, sondern auch der inländischen inyenzi – erstmals wurde der Begriff in einer großen Öffentlichkeit auf die ruandischen Tutsi gemünzt – und ihrer Hutu-Sympathisanten aus den anderen Parteien, die er ebenfalls als inyenzi bezeichnete. Seine Rede kulminierte in der Handlungsanweisung, die ganz unzweideutig auch schon mit einem Hinweis auf das zu verwendende Werkzeug versehen war: „Ihr müsst wissen, dass derjenige, dessen Kopf ihr nicht abschlagt, es sein wird, der euren Kopf abschlägt.“18 Und das Radio RTLM schließlich war es, das diesen Mordaufruf ein Jahr später zum Programm erhob. Ideologiegefärbte Kaskaden für den „Kampf zur Verteidigung der Republik“ dienten der Einstimmung, und Denunziationen, deren Metaphern durchweg dem Tierreich entnommen wurden, rundeten es ab. 19 Eine historische Unterdrückungserfahrung und eine Reihe von Gewalttaten hatten sich in eine Vernichtungsrhetorik übersetzt, die Schuld generalisierte. Insofern gab es auch in Ruanda einen „autokatalytischen Prozess“, im Unterschied zum NS-Deutschland war er aber durch konkrete, objektiv beglaubigte Beispiele zumindest partiell belegbar. Wenn er auch in der Anti-Tutsi-Ideologie entfesselte Formen annahm und darin mit dem Antisemitismus des Holocaust gleichzusetzen ist, eine reine Ausgeburt böswilliger Phantasie war er nicht. Daraus ergibt sich noch ein weiterer Unterschied. Der Massenmord an den Juden begann mit dem Beginn des Krieges gegen Polen im September 1939 und in noch stärkerem Maß im Juni 1941, nachdem die Wehrmacht in die Sowjetunion eingefallen war.20 Beide Kriege waren Angriffskriege, nicht im Entferntesten ist für sie ein objektiv vorwerfbares jüdisches Verhalten ursächlich gewesen. In Ruanda hingegen herrschte seit Oktober 1990 Krieg, der von einer zum allergrößten Teil aus Tutsi bestehenden Rebellenarmee begonnen worden war. In den Jahren bis zum Völkermord wurde die Rebellenarmee stärker und erfolgreicher,21 so dass am Abend des 6. April 1994, nach dem Abschuss des Präsidentenflugzeugs, so gut wie niemand daran zweifelte, dass es der FPR durch ihre Infiltrationstaktik gelungen war, das Flugzeug mit Raketen abzuschießen. Zum Krieg kam jetzt noch die Ermordung des Staatspräsidenten hinzu, der Personifizierung der Hutu-Identität des MAM&url=http%3A%2F%2Fjkanya.free.fr%2Fmanifestebahutu240357.pdf&usg=AFQ jCNHrRinmoa7f9t2W3U5gZQtzvyv0Ng 18 Zur Rede Mugueseras vgl.: http://rwanda94.pagesperso-orange.fr/sitepers/dosrwand/ kabaya.html (Letzter Zugriff am 8. März 2017). 19 Vgl. Des Forges (2002), S. 98 – 100, und S. 174 f.; Mann (2007), S. 657. 20 Unter der Fülle der Literatur vgl. die Überblicksdarstellung in Bloxham (2009), S. 170 – 211. 21 Das ist so eindeutig und unbestritten, dass unerklärlich ist, wie Mark Levene hier zu einem anderen Urteil kommen konnte. Vgl. Levene, S. 74.
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Landes und Begründer der Einheitspartei MRND, der bis 1991, bis zur Zulassung eines Mehrparteiensystems, jeder Ruander, jede Ruanderin von Geburt an angehören musste. Wenn ein diabolischer Geist das Land in den Abgrund hätte stoßen wollen, hätte er genauso vorgehen müssen, könnte man meinen. Prompt gingen die solcherart Angegriffenen oder sich angegriffen Fühlenden ihrerseits zum Angriff über, beseitigten zunächst die moderaten Kräfte und führten einen Krieg in der Weise, die sie kannten, wegen der Bedrohlichkeit des Angriffs jedoch mit noch rücksichtloserer Entschlossenheit und totalen Vernichtungszielen Zugegeben, man kann Letzteres, und mit bedenkenswerten Gründen, auch anders sehen. So kann man, ungeachtet der entsprechenden Judikatur des Internationalen Strafgerichtshofs in Arusha,22 der Meinung sein, dass das Ziel einer vollständigen Vernichtung der Tutsi schon vor dem Abschuss des Präsidentenflugzeugs bestanden habe, allerdings nicht, wie aus dem Umfeld der offiziellen Politik in Ruanda viele behaupten, schon seit Ende der 1950er Jahre, als sich in Vertreibung und Rachemorden an Tutsi genozidales Denken geäußert haben soll,23 sondern erst nach Beginn des Krieges im Oktober 1990. Aus dieser Zeit existieren eine Reihe von Aussagen und Initiativen, die sich als Vorbereitung des Völkermords verstehen lassen, wie zum Beispiel die Organisation einer Selbstverteidigung und die schriller werdenden Beschwörungen des in- und ausländischen Tutsi-Feindes bis hin zur Ankündigung einer drohenden Apokalypse.24 Ich habe Zweifel, ob sie wirklich als Beleg für eine Planung des Völkermords herangezogen werden können oder ob sie nicht vielmehr im Licht des späteren Geschehens ein planmäßiges Vorgehen suggerieren, das es nicht gegeben hat. Vernichtungsdrohungen gegen Angreifer und ihre Komplizen sind in der Kriegs- und Massengewaltgeschichte keine Seltenheit. Doch kann dies hier letztlich dahinstehen, denn auch, wenn man der Annahme einer bereits 1990 einsetzenden Völkermordvorbereitung zuneigt – die These einer noch wesentlich früher beginnenden Völkermordplanung lasse ich unberücksichtigt, weil sie erkennbar der Zementierung eines Opferstatus verpflichtet ist und spätere gegenläufige Entwicklungen ignoriert –, wird man den aktiven Part der FPR bei der Zuspitzung des Konflikts und dem Scheitern der Friedensverhandlungen von Arusha sehen müssen,25 und eben darin liegt ja der erwähnte weitere Unterschied zwischen dem Holocaust und dem ruandischen Völkermord.
22 Nach Auffassung des Gerichtshofs hat es keine nachweisbare Planung des Völkermords vor dem 6. April 1994 gegeben; in den Worten des Gerichts: „Accordingly, the Chamber is not satisfied that the Prosecution has proven beyond reasonable doubt that the four Accused conspired among themselves or with others to commit genocide before it unfold ed on 7 April 1994.“ Zitiert nach Ankläger gegen Théoneste Bagosora u. a., Urteil vom 18. 12. 2008, Abs. 2113. 23 Dazu näher : Idéologie, S. 12 – 54; Sébasoni, S. 135 – 137; Byuma. 24 Vgl. die Untersuchung von Human Rights Watch und Des Forges (2002), S. 210. 25 Zu den eigentlich unerfüllbaren Forderungen der FPR bei den Friedensverhandlungen von Arusha, vgl. Mann (2007), S. 653.
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Wollte man versuchen, in wenigen Sätzen abschließend das zu skizzieren, was einer Gleichsetzung beider Massenverbrechen widerspricht, böte sich das Fazit eines langjährigen Beobachters und Analysten der Geschichte Zentralafrikas an. Er schrieb in großer Direktheit: Jews did not invade Germany with the massive military and logistical support of a neighboring state; nor did they once rule Germany as the political instrument of an absolute monarchy; nor where they identified with the ruling ethnocracy; nor did Jewish elements commit a partial genocide of non-Jews in a neighboring state twenty-two years before the Holocaust. Again, Jews did not stand accused of murdering the head of state of a neighboring state (as happened in Burundi with the assassination of Melchior Ndadaye in October 1993). And although Jews were insistently accused by the Nazi propaganda mill of working hand in hand with Bolshevism to subvert the state, at no time did their actions, within or outside Germany, lend the slightest credibility to these accusations. Immensely more threatening was the military posture of the RPF on the eve of the Rwanda genocide.26
Die Weigerung, nach dem „warum“ zu fragen, verschließt sich dieser Wahrheit. Dass diese Weigerung stark und in der jeweiligen Leidensgeschichte gut begründet sein kann, haben wir am Beispiel des Gesprächs zwischen Esther Mujawayo, Simone Veil und Souâd Belhaddad gesehen. Sie generiert eine eigene Wahrheit, die sich schnell als apodiktisch ausnimmt. Wenn extreme Leiderfahrung mit der sie verursachenden Zeitgeschichte verknüpft wird, entsteht ein analytisches Amalgam, das Widerspruch nur schwer zulässt. Erst recht, wenn diese Leidgeschichte mit dem Holocaust als der ultimativen Form einer Leidgeschichte in Verbindung gebracht wird. Zweifel am heuristischen Wert der Darstellung werden als Zweifel an der eigenen Leiderfahrung gedeutet, die Darstellung wird unantastbar. Und vor allem: Die „gute Rolle“, die das Opfer sich über seine Erinnerung zuschreibt,27 lässt sich erfolgreich für andere Zwecke nutzen. Für den auf Opferaussagen basierenden Bericht eines Dritten zum Beispiel, in dem gewöhnlich der zum Begriffshof des Völkermords gehörende Holocaust seinen Platz hat,28 oder für die rigorose Abwehr von ausländischer Kritik mittels der sich auf eine kollektive Opferidentität berufenden genozidalen Gewalterfahrung.
II. Der Völkermord und der Versuch, Einfluss auf die Erinnerung zu nehmen Es gibt viele Menschen wie Esther Mujawayo heute in Ruanda. Und es gibt dort ein Regime, das im Gefolge des Völkermords an die Macht gekommen ist, weil es a) den Völkermord beendet hat und b) danach die einzige relevante Kraft Zitiert nach Lemarchand (2009), S. 111. Nutzen der Erinnerung an die Vergangenheit aus Sicht der Opfer vgl. Todorov, S. 8 ff. 28 Ein gutes Beispiel hierfür ist das Buch von Philip Gourevitch, das bis heute das Bild vom Völkermord in Ruanda prägt. 26
27 Zum
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war. Und das es geschafft hat, aus eigener Leiderfahrung und aus Machtkalkül sich die Geschichte des Landes anzueignen. Deutlichstes Merkmal dafür ist, dass die justizielle Aufarbeitung mittels der traditionellen Gacaca-Justiz29 nur Völkermordverbrechen ahndete. – Es besteht kein Zweifel daran, dass die Opfer des Völkermords Tutsi und dessen Täter Hutu waren. Ebenso wenig aber besteht ein Zweifel daran, dass während des Krieges und auch während des Völkermords viele Hutu, und mitnichten nur die Täter, von den Soldaten der Befreiungsarmee getötet worden sind (Schätzungen belaufen sich auf etwa 100.000). Verglichen mit den hunderttausenden von Völkermordopfern mag das eine kleine Zahl sein, doch ist sie groß genug, um den Wunsch nach Anerkennung der eigenen Opfer entstehen zu lassen. In der Gacaca-Justiz ist aber nichts geschehen, was diesem Wunsch entgegengekommen wäre. Obwohl der Wortlaut der Gacaca-Gesetze es zugelassen hätte, hat es nicht ein einziges Verfahren, das diesen Namen verdient, wegen der Ermordung von Hutu gegeben – ein Versäumnis, das gerade vor dem Hintergrund der spannungsreichen Hutu-Tutsi-Geschichte und den heutigen Erfordernissen des Zusammenlebens in einem Land umso schwerer wiegt. Dies gilt umso mehr, als es vor allem durch zwei Kriege gefestigt wird, die Ruanda 1996 und zwischen 1998 und 2002/2003 auf dem Boden der demokratischen Republik Kongo führte und in deren Verlauf mehrere hunderttausend ruandische Hutu-Flüchtlinge und kongolesische Hutu getötet wurden. Dass für diese Morde und vielleicht sogar Völkermord niemand aus der ruandischen Armee oder Politik die Verantwortung übernehmen musste, ja, dass schon allein die Erwähnung von Mord und Völkermord zu einem strafbewehrten Tabu wurde, machte für die übergroße Mehrheit der Ruander die Gacaca-Justiz, auch wenn sie in zeitlicher Hinsicht für diese Verbrechen gar nicht zuständig war, pauschal und endgültig zu einer Siegerjustiz. Zu dieser Haltung – vergessen wir nicht, 80 Prozent der Ruander sind Hutu – gehört, dass es eine verbreitete Ablehnung des offiziellen Völkermord-Gedenkens gibt. Die Erinnerung an vergangenes Unheil hat bekanntlich zwei Seiten, die der Erinnerung und die der Prävention. Auf Ruanda übertragen bedeutet das, dass genährt und gefördert durch die Kraft der Erinnerung, auch künftig zwischen den Bevölkerungsgruppen kein Hass mehr entsteht, der das Töten des Anderen zu einem probaten und akzeptierten Mittel macht. Das „nie wieder“ soll in Ruanda Wirklichkeit werden. Das ist für Ruanda eine sehr problematische Erwartung. Das Lernen aus der Geschichte ist kein additiver Prozess, der irgendwann in eine andere, friedliche Qua29 Bei der Gacaca-Justiz (das „c“ ist „tsch“ auszusprechen) handelt es sich um eine vorkoloniale Form der Justiz, in der es an erster Stelle um die Wiederherstellung des sozialen Friedens ging, dann erst um die Bestrafung des Täters. Einen Ankläger oder Verteidiger gab es nicht, beide Funktionen übernahm die Dorfbevölkerung. Richter (inyangamugayo) waren weise, als integer geltende Männer. Zur Bewältigung der hohen Häftlingszahlen in den ruandischen Gefängnissen wurde Gacaca 2001 wieder reaktiviert und auf eine neue materiell-rechtliche und prozedurale Basis gestellt. Richter konnten jetzt Männer und Frauen sein, Hutu wie Tutsi. Vgl. Hankel, S. 69 – 76 und S. 197 – 213.
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lität umschlägt. Ein Zuwachs an Wissen macht nicht automatisch einen besseren Menschen. Dass das Töten von Menschen mit Macheten, nägelgespickten Keulen oder Schusswaffen etwas ist, was man nicht tut, weiß jeder Ruander. Er weiß auch, dass Menschen nicht zu Tode gequält und Frauen nicht vergewaltigt werden dürfen. Das wird er nicht erst durch einen Gedenkstättenbesuch erfahren. Aber er weiß aus Erfahrung, dass es Situationen geben kann, in denen genau dies geschieht. Und dass sich das Geschehene so oder so ähnlich wiederholen kann. Wie also kann überhaupt die pädagogisch erwünschte, präventive Wirkung erreicht werden? Indem beim Besucher etwas hervorgerufen wird, für das der Begriff „Betroffenheit“ geeignet erscheint.30 Betroffenheit über die Abgründe menschlichen Handelns, über die Zerstörung von Menschenleben und die Vernichtung individueller Zukunft, über das Leid, das anderen zugefügt wurde und vielleicht über das Leid, das andere – die Täter – sich selbst zugefügt haben, als sie ihren Führern gefolgt waren. Statt Betroffenheit kann auch Mitgefühl oder Scham gesagt werden. Mitgefühl für die Opfer und Scham über das eigene moralische Versagen. Allerdings: Ob nun Mitgefühl, Scham oder die allgemeinere Betroffenheit, als in der Entstehung zunächst affektive Zustände sind sie anfällig für Korrekturen oder Neutralisierung. Gibt es Kriterien, die das eigene Verhalten zu erklären vermögen, die vielleicht sogar auf eigene Leiderfahrungen verweisen, wirken sie wie eine Gegenkraft zur Anerkennung eigenen verbrecherischen Verhaltens oder fremden Leids. Beides wird verdrängt und verleugnet. Aus dem affektiven Zustand wird ein dauerhafter, und das mit umso größerer Wahrscheinlichkeit, je politisch tabubehafteter Aspekte von Täterschicksalen sind und bleiben. Auf Ruanda übertragen heißt das: Die Nicht-Thematisierung von Krieg, Vertreibung und Flüchtlingslagern als Vor- und Nebengeschichte des Völkermords und die – wenn überhaupt – nur beiläufige Erwähnung anderer Opfer während des Völkermords, führen auf Seiten der Hutu zu einem ausgeprägten, oft demonstrativen Desinteresse an Gedenkstätten. Wie Überlebende, die Gedenkstätten meiden, weil sie aus eigener Erfahrung „Bescheid wissen“, meiden auch sie die Gedenkstätten aus denselben Gründen, jedoch mit dem Unterschied, dass das, was sie zu wissen glauben, sich gerade nicht in den Gedenkstätten findet. Die Schwelle zur kognitiven Einsicht in das von ihnen geduldete, geförderte oder begangene Unrecht, werden sie auf diese Weise nur sehr schwer überschreiten. Das „nie wieder“ bleibt vorerst nur eine Parole. Der Preis, der für diese Politik zu entrichten ist, ist die Existenz eines massiven staatlichen Repressionssystems. Die Menschen werden durch einen immensen Druck auf die offizielle Wahrheit verpflichtet. Und das derart auf die Wahrheit verpflichtete Kollektiv ist alles, das Individuum ist nichts. Abweichungen werden mit drakonischen Strafen belegt, die bis zum Verschwindenlassen von Personen reichen. Vor dem Hintergrund, dass der Aspekt des Gehorsams eine entscheidende Rolle im Völkermord spielte, ist das ein fataler Zustand. Die unselige ruandische „Kultur des Gehorsams“, ohne die der Völkermord nicht so und in dieser 30
Vgl. hierzu auch Reemtsma (2004).
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Geschwindigkeit hätte durchgeführt werden können, hätte durch Gacaca aufgebrochen und in ihrer Fragwürdigkeit allen Ruandern demonstriert werden können. Doch stattdessen immer wieder: Gerichtsverfahren, in denen die übergeordnete Wahrheit von vornherein feststand; eine anwesenheitsverpflichtete Öffentlichkeit, die zunehmend desinteressiert war; Zeugen, die sich einschüchtern ließen; eine praktisch oftmals abwesende Verteidigung; Urteile, die im Ruch der Willkür standen und darum dem Verurteilten nicht zugänglich gemacht werden, kurzum, kein tatsächliches Streben nach Gerechtigkeit, sondern nur eine Inszenierung derselben. Wahrheit ist nicht das, was individuell und kollektiv erlebt wurde, Wahrheit ist vielmehr das, was von oben, vom Staat, vorgegeben wird. Wer diese Wahrheit nicht akzeptiert, wird aus der ruandischen Gesellschaft ausgeschlossen. Er ist ein Feind des Landes. Was kann aus alldem gefolgert werden? Wenn Versöhnung heißt, das Leid des anderen anzuerkennen, dann ist Ruanda weit davon entfernt, versöhnt zu sein. Und es ist überaus fraglich, ob es auch nach einer Generation (das angebliche Mindestmaß für Versöhnung) versöhnt sein wird oder die Voraussetzung dafür geschaffen hat. Solange nur ein Leid und eine Wahrheit zugelassen werden, sind Skepsis und Beunruhigung beim Gedanken an die Perspektive des Landes angebracht.
Holocaust und Völkermord in Bildung und Lehre heute Eine kritische Bestandsaufnahme in Israel und anderswo Von Yair Auron Yair Auron Holocaust und Völkermord in Bildung und Lehre heute. Eine kritische Bestandsaufnahme in Israel und anderswo
I. Einleitung Wo steht akademische und allgemeine Wissensvermittlung zu Holocaust und anderen Völkermorden heute? Der Vergleich mag überraschen, womöglich auch empören, doch er dürfte auch für aufgeklärte Länder – gerade in unseren Tagen – eine enorme Relevanz besitzen. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit dem zeithistorischen Umgang mit Genoziden, mit internationalen Versuchen, das Phänomen einzuordnen und zu bekämpfen, mit Versuchen der akademischen Bewältigung, vor allem aber mit Defiziten in der Lehre und Bildung. Unter anderem an israelischen Beispielen wird verdeutlicht, dass die akademische Welt eine stärkere Verschränkung von Holocaust- und Genozidforschung benötigt; nicht nur für weiteren wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn, sondern auch zur Stärkung der zivilgesellschaftlichen Prävention und zum Kampf gegen Rassismus. Zum Holocaust wird heute an vielen Orten der Welt unterrichtet, am intensivsten allerdings in Israel. Das bedeutet freilich nicht, dass die Menschen – einschließlich der Studierenden führender Universitäten automatisch ein breites Wissen über den Holocaust besäßen und über detaillierte Kenntnisse einzelner Aspekte und Wirkungen verfügten. Was andere Fälle von Genozid angeht, selbst aus dem zwanzigsten Jahrhundert, so sind diese so gut wie unbekannt. In Europa wissen viele noch nicht einmal, was das Wort „Genozid“ bedeutet; noch weniger sind ihnen die unter diesen Begriff fallenden Massenmorde in Ruanda und Jugoslawien bewusst, die sich vor nur zwei Jahrzehnten ereigneten. Selbst die klügsten Studenten der prestigeträchtigsten Universitäten der Welt dürften Schwierigkeiten bei der Einordnung dessen besitzen, was Anfang 2017 in Syrien und Südsudan geschehen ist oder was die systematische Kampagne zur Vernichtung der Jesiden und Assyrer im Nahen Osten betrifft. Es wäre fatal, all diese Entwicklungen isoliert voneinander zu betrachten. Sie sind auch nicht getrennt zu sehen vom sich akut steigernden Rassismus in einigen Ländern Europas, der sich als Reaktion auf die Flüchtlingswelle vor den Toren des „Alten Kontinents“ seit 2015 darstellt – gerade so, als hätte es im vergangenen Jahrhundert in Europa niemals fanatischen Rassismus und Völkermord gegeben. Es stimmt, dass Rassismus nicht dasselbe ist wie Völkermord und ganz gewiss
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nicht identisch mit dem Holocaust, doch bildet er schon für sich genommen ein verheerendes und gefährliches Phänomen. Genozidforschung lehrt, dass alle Völkermorde Erscheinungsformen von Rassismus umfassen (und manchmal Rassentheorie). Rassismus ist eine notwendige – wenn auch keine hinreichende – Bedingung für das Auftreten von Genoziden. Er ist eines der grundlegenden Elemente des Prozesses, der zum Völkermord führt. Sobald andere Faktoren an die Seite des Rassismus treten, wird der Genozid möglich und manchmal real. Der Weg zur Begehung eines Völkermords wird durch Rassismus und den Ausschluss der Opfer aus den moralischen Bezugssystemen der zukünftigen Täter geebnet. Attacken auf die Menschenrechte und Apathie für das Leiden anderer gefährden die menschliche Gesellschaft in ihrem Bestand. Der Holocaust war mit Sicherheit der Höhepunkt derartiger Attacken, wenn nicht gar das größte moralische Versagen in der Menschheitsgeschichte. Eine Sensibilität für dieses Thema, in seinem allgemeinen wie im speziell jüdischen Kontext, kann das Verständnis für die Bedeutung humanistischer und demokratischer Werte befördern und womöglich sogar die Entwicklung von Werkzeugen moralischer Urteilskraft und staatsbürgerlicher Verantwortung vereinfachen. Völker, ideologische Bewegungen und soziale Organisationen sind bestrebt, historische Ereignisse in ihrem kollektiven Gedächtnis zu bewahren – insbesondere die bedeutendsten – und aus ihnen zu lernen. Vor dem Hintergrund unserer humanistischen Bildungsperspektive interessieren wir uns für Wege, auf denen wir kommenden Generationen Wissen über den Holocaust vermitteln können. Die Bildung spielt eine extrem wichtige Rolle dabei, historische Ereignisse in der kollektiven Erinnerung spezifischer Gruppen wie der ganzen Welt zu bewahren. Eines ihrer Hauptziele ist es, der nächsten Generation das kollektive Gedächtnis der Nation zu überliefern; dies ist entscheidend dafür, ob und in welchem Umfang sich in Zukunft an historische Ereignisse erinnert werden wird. Wir tragen die kollektive Verantwortung für den Ort, den der Holocaust und andere Völkermorde in der Erinnerung und im historischen Bewusstsein einnehmen werden, in einem gewissen Umfang auch für ihren Platz im globalen historischen Bewusstsein. Der Kampf um die Anerkennung und das Erinnern an Genozide, die gegen andere Völker begangen wurden, hat eine besondere Bedeutung für den Staat Israel – das Land der Opfer des Holocaust. Da der Holocaust eine derartig bedeutende Rolle in der jüdischen Identität beziehungsweise für Bildung und Erinnerung in Israel spielt, wird die dort kultivierte Einstellung nachvollziehbar, dass der Holocaust in der gesamten Menschheitsgeschichte einzigartig war.1 Wir haben über viele Jahre hinweg immer wieder die Natur des Holocaust als eines Phänomens sui generis betont – gewiss eine legitime Prämisse, ohne hier in die Tiefe gehen zu können, was daraus folgt. Im Ergebnis lehrt das israelische Bildungssystem zwar den Holocaust, ignoriert aber beinahe völlig die Vernichtungskampagnen, die gegen andere Völker geführt wurden. So erkennt Israel beispielsweise den Völkermord an den Arme1 Mein Buch – Auron (2005) – behandelt diese Themen in großer Breite. Das hebräische Original wurde 2003 veröffentlicht; deutsche und russische Ausgaben sind in Planung.
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niern nicht an, und es ist wenig wahrscheinlich, dass es ihn irgendwann in der näheren Zukunft anerkennen wird. Auch Deutschland steht durch das Schweigen der politischen Führung des Deutschen Reiches während des Völkermords an den Armeniern und durch Beteiligung einiger Offiziere an Deportationen in einer qualifizierten Mitverantwortung.2 Erst 2016, und um einiges zu spät, erkannte Deutschland den armenischen Genozid an.3 Doch diese Anerkennung sprach der Bundestag aus, nicht die Bundesregierung und nicht Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dies ist ein wichtiger Schritt nach vorn, aber ganz sicher nicht genug. Eine vollumfängliche, förmliche Anerkennung müsste von der Kanzlerin oder der Bundesregierung kommen. Deutschland befindet sich aktuell in Verhandlungen mit Namibia über sein einstiges dortiges Verbrechen, den Völkermord an den Herero und Nama in der Kolonie Deutsch-Südwestafrika zwischen 1904 und 1908. Auch dies ist ein positiver Schritt voran. Alles andere wäre auch eine Katastrophe, denn durch das Leugnen von Völkermorden würden wir möglicherweise den Boden für neue bereiten. Ich möchte mich hier auf die ethischen Probleme konzentrieren, mit denen uns das Thema konfrontiert, auf die Lektionen, die wir daraus lernen können, und auf unsere eigene Einstellung zu den Genoziden, die über andere Völker kamen – jene der israelischen Gesellschaft im Allgemeinen und des israelischen Bildungssystems im Besonderen. Was die Frage anbelangt, ob man wirklich von einer „Lehre“ aus dem Holocaust reden kann, so ist die Antwort klar: Es gibt keine einzelne Lektion, die die Lehre aus dem Holocaust wäre. Stattdessen können wir ihm vielleicht Lehren, Implikationen, Botschaften und Interpretationen abgewinnen – alles, wohlgemerkt, im Plural. Unterschiedliche Individuen und Gruppen in der israelischen Gesellschaft, der jüdischen Welt und der internationalen Gemeinschaft vertreten verschiedene Sichtweisen auf diese Frage. In dem Zusammenhang ist auch anzumerken, dass die Debatte über die Verknüpfung von Holocaust und nationaler Identität selbst den „einfachen jüdischen Menschen“ auf der Straße tangiert und dass es nicht einmal dort einen Konsens gibt. Es scheint jedenfalls möglich zu sein, im Wege der Verallgemeinerung auf drei Kategorien von Lehren und Implikationen zu verweisen. Die ersten beiden sind „partikulär“, die dritte ist „universell“. • Zionistische Lehren, im israelischen und zionistischen Kontext; • Jüdische Lehren, im Kontext jüdischen Lebens im Allgemeinen, nicht nur in Israel; • Universelle Lehren, im Kontext der globalen Umstände menschlicher Gesellschaft. Vgl. den ausführlichen Sammelband Hosfeld/Pschichholz. Es gab zwar 2005 schon eine Resolution des Deutschen Bundestages, aber wurde hier der Begriff Völkermord nur indirekt verwendet. Die Resolution von 2015 ist hier deutlicher in der Benennung. 2
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II. Definitorische Probleme bezüglich Holocaust, Völkermord, Genozid Seit längerem liefert sich die akademische Welt eine teils recht heftige, endlos erscheinende terminologische Debatte über den Unterschied zwischen „dem Holocaust“ und „Völkermord“ mit vielen bedeutenden Implikationen. Einige Forscher errichten eine sprichwörtliche Mauer zwischen diesen beiden Begriffen und bestehen auf einer strikten Unterscheidung zwischen jedem einzelnen Fall von Genozid und dem Holocaust als einem außergewöhnlichen Ereignis ohne Parallele in der Menschheitsgeschichte. Für sie war der Völkermord nur ein Element des Holocaust, der als Verbrechen in seinem Ausmaß jeden Genozid bei Weitem übertrifft. Jenen, die die einzigartige und exklusive Natur des Holocaust betonen, stehen durchaus einige Forscher gegenüber – unter ihnen auch Juden, die meisten davon außerhalb Israels –, die den Holocaust als einen Fall von Völkermord klassifizieren, mögen sie seine einzigartigen Eigenschaften hervorheben oder nicht. Einige dieser Wissenschaftler vertreten die Auffassung, jedes Vorkommen von Genozid habe seine spezifisch einzigartigen Wesenszüge. Ich führe in diesem Beitrag eine methodische Unterscheidung zwischen „Holocaust“ und „Genozid“ ein und verwende diese Begriffe, wiewohl sie eng miteinander verknüpft sind und sich in mancherlei Hinsicht mindestens überlappen oder vielleicht komplett identisch sind, als voneinander unterschieden und nicht-synonym. „Genozid“ leitet sich ab vom griechischen genos („Rasse“) und dem lateinischen caedere („ermorden“): es bezeichnet also den Mord an einer Rasse, bzw. im heutigen Sprachgebrauch eines Volkes. Der Begriff wurde vom jüdischen Juristen Raphael Lemkin geprägt, der heute als der Vater der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes gilt. Aber wer erinnert sich seiner heute noch? Lemkin, der seine gesamte Familie im Holocaust verlor, gelang es, aus Polen zu fliehen und in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. Dort widmete er sich für den Rest seines Lebens der Erforschung des Phänomens Genozid und einer Kampagne für seine Berücksichtigung im Völkerstrafrecht. Er wandte den Begriff zunächst auf die nationalsozialistische Vernichtung der Juden Europas an, eine gezielten Tötungspolitik aus rassischen Gründen. Seine Definition ist allerdings weit genug, auch Auslöschungen auf nationaler, ethnischer oder religiöser Grundlage zu umfassen. In seiner Forschung während und nach dem Zweiten Weltkrieg spezialisierte Lemkin sich auf diesen Begriff, erweiterte seine Definition und unterzog ihn einer eingehenden Analyse. Er hob hervor, dass das Verbrechen des Völkermordes nicht immer die unmittelbare und umfassende Liquidierung einer Ziel- bzw. Opfergruppe bedeuten müsse; stattdessen könne sich auch eine Abfolge bewusster Maßnahmen und Handlungen ergeben, die auf die fortschreitende Zerstörung der Lebensgrundlage einer Bevölkerungsgruppe hinauslaufe, etwa die zwangsweise Auslöschung des nationalen Bewusstseins, der Sprache, individueller Freiheitsrechte oder der wirtschaftlichen Infrastruktur.
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Das Völkerrecht hat den Begriff Genozid als allgemeine Definition für die Auslöschung eines Volkes aufgenommen, also ganz im Sinne von Lemkins Formulierung. Er ist heute weit verbreitet, taucht in der Gesetzgebung auf, in internationalen Verträgen, in der Rechtsprechung, in der wissenschaftlichen Publizistik und im Journalismus als Tötungsverbrechen gegen Menschen wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe. Für viele Experten und Beobachter schließt Genozid auch den Mord an Angehörigen einer speziellen politischen Gruppe ein, mit dem Ziel, diese Gruppe als solche und insgesamt anzugreifen und auszulöschen. Unter den Historikern, Politikern und Juristen besteht dagegen kein Konsens über die tatsächliche Anwendung des Begriffs „Genozid“ auf verschiedene Fälle von Massenmorden, die sich im zwanzigsten Jahrhundert ereigneten bzw. die gegenwärtig begangen werden, inklusive politisch motivierter Massaker innerhalb eines Landes, wie sie etwa Stalin in der Sowjetunion orchestrierte. Heute wird beispielsweise debattiert, ob man das Blutvergießen im früheren Jugoslawien als „Völkermord“ auffassen soll, oder „nur“ als „genozidale Akte“. Ein kurzes Beispiel, das die Kompliziertheit des Problems veranschaulicht: Im Sommer 1994 weigerte sich der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen unter dem Druck der Vereinigten Staaten über mehrere Monate, das, was sich damals in Ruanda ereignete, als Völkermord zu bezeichnen, obwohl gleichzeitig Hunderttausende dahingeschlachtet wurden, während Millionen Menschen auf der Welt per Wohnzimmer-TV in Echtzeit zu Augenzeugen dieser Gräueltaten wurden. In den nachfolgenden internationalen Debatten und Kontroversen kam der Vorschlag auf, bei Massenmord in politischem Kontext von „Politizid“ zu sprechen. Ein „Politizid“ wäre demnach die Liquidierung von Personen, die von der Regierung des Landes, in dem sie leben, aus politischen und ideologischen Gründen als Gegner oder Feinde betrachtet werden. In diesem Kontext bleibt es aber sehr wichtig, sich klar zu machen, dass Völkermord und „Politizid“ sich nicht gegenseitig ausschließen. Manche Gräueltaten sind beides gleichermaßen. Die Regime Stalins in der Sowjetunion, Maos in China und Pol Pots in Kambodscha haben Millionen von Menschen aus politischen Gründen ausgelöscht und gleichzeitig bestimmte ethnische Gruppen in eindeutiger Vernichtungsabsicht hingeschlachtet. Andere Forscher schlagen für Massenvernichtung vor kulturellem Hintergrund den Ausdruck „Ethnozid“ vor: die bewusste Zerstörung der Kultur einer ethnischen, nationalen, religiösen oder anderen Gruppe, aber nicht notwendigerweise ihre physische Auslöschung. Im Sog eines ausufernden Wildwuchses neuer Kategorisierungen und Begriffsbestimmungen für Massenverbrechen wurde schließlich auch der Vorschlag gemacht, diese alle unter dem Sammelbegriff „Demozid“ (von griechisch demos: „Volk“) zusammenzufassen – ein Terminus also, der Genozide, „Politizide“ und „Ethnozide“ einschließen soll. Schätzungen zur Gesamtzahl derer, die in den verschiedenen Demoziden der letzten 120 Jahre dahingemetzelt wurden (wenn wir diesen Sammelbegriff übernehmen), übersteigen alles Vorstellbare. Der amerikanische Wissenschaftler R. J.
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Rummel schätzt, dass zwischen 1900 und 1987 bei Ereignissen, die er als Demozide klassifiziert, 169.168.000 Menschen umkamen. Es ist dabei hervorzuheben, dass diese Zahl sich nur auf explizite Morde bezieht und keine Soldaten und Zivilisten einschließt, die in Kriegen umkamen.4 Für das gesamte Jahrhundert taxiert Rummel die Anzahl der Opfer von Demoziden auf 174 Millionen. Aber ganz unabhängig von all diesen Definitionsfragen und semantischen Debatten ist es klar, dass jedes massenhafte Abschlachten eines Volkes ein außergewöhnliches Verbrechen ist, bei dem es Menschen fertigbringen, andere einzig und allein wegen deren Zugehörigkeit zu einer anderen nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Gruppe zu ermorden. Berücksichtigt man beispielsweise, dass ungefähr eine Million Menschen 1994 in Ruanda getötet wurden, dann dürfen wir nicht vergessen, dass jeder einzelne von ihnen zu Lebzeiten einen Namen hatte, dass aber die meisten Toten danach namenlos geblieben sind und ihnen kein Denkmal errichtet wurde.
III. Völkermord gemäß der UN-Konvention von 1948 Noch unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Verbrechen, dabei insbesondere der Vernichtung der europäischen Juden, verabschiedete die Vollversammlung der Vereinten Nationen am 9. Dezember 1948 die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes. In Artikel II wird Völkermord definiert als: „eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“5
Die Bedeutung der Konvention wird, langfristig gesehen, natürlich auch daran gemessen, was auf ihrer Basis von den Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft unternommen wird, um weitere Genozide zu verhindern. Doch wir wissen alle, dass seit ihrer Verabschiedung viele Völkermorde in der ganzen Welt passiert sind. Der Löwenanteil der auf der Konvention basierenden Aktivitäten umfasste statt der Verhinderung des Mordens vor allem Hilfsleistungen für die Opfer im Nachhinein. Nicht wenige Menschenrechtsaktivisten, Politiker und 4
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5 Konvention über
die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom 9. Dezember 1948, in: BGBl 1954 II, S. 729.
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Juristen würden es gerne sehen, wenn die Konvention um spezifische Werkzeuge zur Verhinderung von Völkermorden ergänzt würde und man folglich mehr zur Hand hätte, als nur im Nachhinein die Opfer unterstützen zu können. Man darf hoffen, dass die Entscheidung von 1998, einen Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag einzurichten, in der Tat ein bedeutender Schritt in diese Richtung war. Das Gericht konnte 2002 seine Arbeit aufnehmen, nachdem die Entschließung von über 60 Ländern ratifiziert worden war (von Israel allerdings nicht). Genozid ist nur dann möglich, wenn das Machtverhältnis zwischen Tätern und Opfern sich so gestaltet, dass Letztere absolut unterlegen sind. Ob sich tatsächlich eine solche verhängnisvolle Konstellation ergibt, hängt in nicht geringem Maße vom Verhalten „Dritter“ ab, der Erfahrung nach der breiten Mehrheit der menschlichen Gesellschaft. Man kann diese „Dritten“ schematisch in drei Gruppen einordnen: • Diejenigen, die den Mördern aus verschiedenen Erwägungen helfen, etwa weil die Mörder stark sind und es als eine gute Idee erscheint, sich mit ihnen gutzustellen. • Diejenigen, die den Opfern aus moralischen Gründen beistehen. Meist sind sie in der Minderzahl. In Israel bezeichnet man sie als die „Gerechten unter den Völkern“. • Schließlich diejenigen, die das Verbrechen erleben, dabeistehen und zusehen. Die Geschichte lehrt, dass sie häufig die große Mehrheit bilden. Gerade deshalb stellt sich zwangsläufig die Frage nach dem praktischen Anteil an Verantwortung oder sogar Mitschuld der passiven Zuschauer, die alles vor ihren Augen miterleben.
IV. Aufklärung über Völkermord Aufklärung und theoretische Auseinandersetzung mit Völkermord ist nicht nur Gegenstand für die Schul- und Erwachsenenbildung, sondern gewinnt ihre Bedeutung allein schon aus dem Bemühen, künftige Massenverbrechen zu verhindern oder zu erschweren. Gleichwohl stellt sich die Frage nach den geeigneten inhaltlichen und didaktischen Formen, und bisherige Erfahrungen verdienen einen systematischen internationalen Vergleich. Ein wichtiges Untersuchungsfeld für die komparative Analyse sind Inhalte und didaktisches Profil von Lehrveranstaltungen und Seminaren, wie sie in verschiedenen Ländern zu den Themen Holocaust und Völkermord angeboten werden. Auch semantische Debatten über eine erweiterte oder eher eng gehaltene Definition von „Genozid“ – inklusive und vielleicht insbesondere zum Unterschied zwischen dem Holocaust und anderen Völkermorden – wären ein wichtiges Element solcher Kurse, insbesondere im universitären Bereich. Während das Lernen über den Holocaust sich in den Bildungsinstitutionen der ganzen Welt mittlerweile fest etabliert hat, scheint sich die allgemeine Genozidfor-
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schung als eigenständige akademische Disziplin noch immer in den Kinderschuhen zu befinden. An weiterführenden Schulen wird Genozidforschung vereinzelt in den USA und Kanada behandelt, in geringerem Umfang auch in Australien, aber nirgendwo sonst. In anderen Ländern wird das Thema Völkermord, soweit mir bekannt ist, nur kurz oder aber gar nicht angesprochen. Diverse Kurse – insbesondere jene auf Universitätsniveau – spiegeln die unterschiedlichen Ansätze zum Thema wider. Sie werden nach verschiedenen Methodologien und als Teil verschiedener Disziplinen in unterschiedlichen Instituten unterrichtet, so in der Geschichte, Politikwissenschaft, Verwaltung, Sprach- und Literaturwissenschaft, in multidisziplinären Studien, Philosophie, Psychologie, Religionswissenschaft, Sozialarbeit, Soziologie u. a. Selbst in den Kursen, die sich offiziell mit vielen Fällen von Völkermord auseinandersetzen, neigen die Lehrpläne dazu, sich vor allem auf den Holocaust zu konzentrieren. Zum einen zeigt sich hier, dass die Genozidforschung sich erst aus der Holocaustforschung entwickelt hat und nicht anders herum. Wie dem auch sei, Genozid als allgemeines Phänomen wird immer noch weniger – und offenkundig viel weniger – studiert als der Holocaust. Das Missverhältnis zwischen dem Gewicht der Holocaustforschung und jenem der Genozidstudien ist in den weiterführenden Schulen besonders deutlich. In amerikanischen High Schools wird beispielsweise fast nichts über andere Genozide unterrichtet, mit Ausnahme des Völkermords an den Armeniern, der vom Sowjetregime in den frühen 1930ern künstlich herbeigeführten Hungersnot in der Ukraine und des inneren Genozids in der zweiten Hälfte der 1970er in Kambodscha. Lehrbücher, die das Thema in einem gewissen Umfang ansprechen, sind in der Tendenz oberflächlich, übereilt, grob vereinfachend und manchmal ungenau oder einfach faktisch inkorrekt. Die Fälle werden oftmals nur erwähnt, um einer formellen Verpflichtung Genüge zu tun. Wie effektiv die bisherigen Lehrpläne über Holocaust bzw. auch andere Genozide sind, darüber liegt nicht viel an Information vor, weil nur wenige Evaluationsstudien durchgeführt wurden. Eine Einschätzung darüber, was Lehrer und Schüler aktuell über Genozide wissen, verkompliziert sich zudem durch eher unscharfe Definitionen, was es bedeutet, „etwas über den Holocaust zu wissen“ oder „über Genozide Bescheid zu wissen.“ Grundsätzlich kann aber davon ausgegangen werden, dass es in den meisten Ländern ein größeres Wissen über den Holocaust gibt als über andere Völkermorde, die im zwanzigsten Jahrhundert begangen wurden. Manche Fachleute gehen so weit zu behaupten, dass man diese Völkermorde (mit Ausnahme des Holocaust), und umso mehr jene der fernen Vergangenheit, als „vergessene“ oder gar „verdrängte“ Völkermorde betrachten kann. Und so ist es trotz vieler Bemühungen und Veränderungen von bildungspolitischer Seite wohl keine unzutreffende Bestandsaufnahme an Schulen und Universitäten, was das Thema Genozid betrifft, wenn vermerkt ist: „nicht im Lehrplan“.6
6
Totten.
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V. Inhalte und Absichten Gleichwohl ist vielen Protagonisten in der Genozidforschung und -lehre klar, dass sich bei diesem Thema besondere philosophische, moralische und didaktische Fragen stellen, mit denen sich auseinandergesetzt werden muss, bevor Fakten und Kontexte sinnvoll vermittelt und diskutiert werden können.7 Lehrer und Lernende sollten sich, bevor sie beginnen, das Phänomen Völkermord zu behandeln, wenigstens zwei Hauptfragen stellen, die in anderen Kontexten eher pragmatisch und simpel erscheinen mögen: • Warum lehren bzw. lernen wir etwas über dieses Thema? • Worin sollten unsere Bildungsziele vor allem bestehen? Viele Praktiker, die mit Holocaust-Bildung zu tun haben, betonen seine einzigartigen Aspekte, die das Unterrichten zum Thema so schwierig gestalten, inklusive der Tatsache, dass damit womöglich viel mehr ethische Fragen verknüpft sind als mit irgendeinem anderen Gegenstand. Aus diesem Grunde ist die aktive Einbeziehung des Lernenden in den Bildungsprozess so wichtig, wobei die Unterschiede zwischen Lernen, Lehren und Bilden besonders zu akzentuieren sind. Es gibt zweifellos einen Zusammenhang zwischen unserer Fähigkeit (oder eben Unfähigkeit), als Einzelne in einer Gesellschaft mit den drängenden Fragen umzugehen, die das Thema aufwirft, einerseits, und dem erbärmlichen Zustand der Lehre dazu andererseits. Unter den vielen Gründen für diese Situation stechen einige besonders hervor: • Der Gegenstand ist ungewöhnlich komplex und schwierig, insbesondere wenn man bedenkt, dass sowohl Lehrer als auch Lernende eine Abneigung gegen die Behandlung solch widerwärtiger Dinge haben. Als weiterer Faktor kann hinzukommen, dass Lehrer dazu neigen, ihre jungen Schützlinge vor der Konfrontation mit einer unerträglichen Realität bewahren zu wollen. • Schwierigkeiten in der Minderheitenpolitik eines jeden Landes (vormals oder aktuell), die vormalige Verwicklung eines Staates oder seiner Bürger in Völkermorde oder genozidale Akte wie auch realpolitisches Kalkül und Apathie gegenüber den hilfsbedürftigen Opfern können früher oder später Einflussfaktoren sein für eine starke Ambivalenz, manchmal auch bleibende Ambivalenz zum heiklen Thema. • Allgemeine Vorurteile, Rassismus und Antisemitismus beeinflussen manchmal – direkt oder indirekt – die Entscheidung, ob das Thema unterrichtet wird oder nicht. Neben den erwähnten Problemen gibt es aber auch ein paar „technische“ Faktoren, die als Gründe oder Entschuldigungen ins Feld geführt werden können, weshalb das Thema nicht unterrichtet wird – man hat es hier üblicherweise mit dem Muster „Henne oder Ei“ zu tun. 7
Parsons/Totten.
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Die meisten Lehrbücher behandeln das Thema Genozid weder angemessen noch adäquat; die Lehrpläne platzen häufig schon jetzt aus allen Nähten, und es scheint vermeintlich keine Zeit, noch ein weiteres Thema einzuführen. Das Bildungssystem bietet denen, die sich mit dem Thema befassen wollen, keine Unterstützung an; die Lehrer sind oft nicht adäquat vorbereitet und haben nicht den passenden Hintergrund, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Substantielle Fortschritte in der Genozidforschung und ein stärker vermitteltes Bewusstsein für ihre Bedeutung könnten, so darf man wenigstens hoffen, viele Schwierigkeiten beim Unterrichten des Themas lösen. Es besteht wohl Konsens darüber, dass das Wissen über Genozide auf verschiedene Weise vermittelt werden muss, je nach Land, Bildungsniveau und Bildungstradition. Klar ist auch, dass die Zugänge zum Thema sich nicht für alle Rezipienten in gleicher Weise ergeben, sondern auch familiäre Narrative einen Einfluss besitzen. So unterscheidet sich der Zugang zum Thema für einstige Opfer und ihre Nachkommen von jenem für Täter und ihre Nachkommen, und wiederum von jenem, den einstige „Zuschauer“ und ihre Nachkommen haben.
VI. Der Völkermord in der israelischen Bildung – eine aktuelle Bestandsaufnahme Auch in Israel besteht – wie bereits angedeutet – noch ein erhebliches Defizit bei der Behandlung von Völkermorden, sowohl im allgemeinen Bildungswesen wie auch in der akademischen Landschaft. Das Thema Völkermorde hat hier eher Seltenheitswert. „Sensibilität für das Leiden in der Welt: Völkermord im zwanzigsten Jahrhundert“, ein Curriculum, das 1994 für das Bildungsministerium entworfen wurde, erhielt nie eine offizielle Bewilligung. In den vergangenen Jahren wurde es allerdings in Gänze oder teilweise an etlichen Oberschulen verwendet, und zwar auf Initiative von Lehrern und Schulleitern, die das für angemessen hielten. Die beängstigende Unwissenheit der Israelis über andere Genozide als den Holocaust ist also nicht überraschend. Eine Umfrage von 1996, in der über 800 Studierende an verschiedenen Universitäten und Hochschulen mit dem Ziel befragt wurden, das Ausmaß ihres Wissens über die Völkermorde an den Armeniern und Sinti und Roma einzuschätzen, ergab, dass sie so gut wie gar nichts über diese Geschehnisse wussten. Hinsichtlich des Völkermords an den Armeniern gaben 86 % der Befragten an, dass sie nicht Bescheid wüssten (42 % hatten überhaupt keine Kenntnis, 44 % wussten sehr wenig). Nur 13 % attestierten sich selbst einen mittleren Wissensstand, und nur 1 % gab an, über das Thema gut informiert zu sein. Hinsichtlich des Genozids an den Sinti und Roma, der gleichzeitig mit dem Holocaust an denselben Orten in Europa stattfand, wo die Juden ermordet wurden, von denselben Tätern begangen wurde und durch dieselbe rassistische Ideologie motiviert war (wiewohl die jeweiligen Einstellungen zu beiden Gruppen nicht identisch waren), sagten 85 % der Befragten, dass sie unwissend seien (36 %
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wussten nichts, 49 % sehr wenig). Andere Umfragen haben ähnliche Ergebnisse zutage gefördert. Wir können an den Antworten der Studenten ablesen, dass selbst jene, die andeuteten, dass sie eine allgemeine Vorstellung vom Thema hätten, in der Tat nur mangelhaftes Wissen zu diesen Ereignissen vorweisen konnten. Sie gaben an, dass sie zu der Thematik weder in der Schule noch auf der Universität etwas gelernt hätten. Zwischen 1996 und 2006 habe ich immer in der ersten Sitzung eines universitären Wahlseminars, das ich über Genozid unterrichtete, diesen Fragebogen ausgeteilt, sodass ich über die Jahre etwa 600 studentische Rückmeldungen aufnehmen und auswerten konnte. Über den genannten Zeitraum hinweg blieb die Selbsteinschätzung der Studenten im Wesentlichen gleich: zwischen 85 % und 90 % von ihnen gaben an, dass sie nichts oder sehr wenig über den Völkermord an den Armeniern wüssten. Der gleiche prozentuale Anteil gab auch an, nichts oder sehr wenig über den Genozid an den Sinti und Roma zu wissen.8 Als den Studenten bewusst wurde, dass sie wirklich nichts über den Völkermord an den Armeniern wussten, waren sie entsetzt. Dies war einer der Erfolge des Kurses. Im Allgemeinen war ihr Schock noch größer, sobald sie einzusehen begannen, und sei es auch nur teilweise , warum sie nichts darüber wussten. Noch bestürzter waren sie allerdings, als sie erfuhren, wie die offizielle Linie des Staates Israel in dieser Angelegenheit aussieht. Israelische Lehrbücher zur Weltgeschichte im Zeitalter der Moderne oder zur Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts sowie fast alle israelischen Bücher, die sich umfassend mit dem Holocaust auseinandersetzen, enthalten, wenn überhaupt, nur kurze Verweise auf den Völkermord an den Sinti und Roma. Alle nicht-jüdischen Opfer des NS-Regimes – Sinti, Homosexuelle, politische Gefangene, Psychiatriepatienten, körperlich Behinderte, Zeugen Jehovas, Polen und russische Kriegsgefangene – werden im Allgemeinen in die eine Rubrik der „anderen Opfer“ eingeordnet. Sie werden nur kurz und knapp erwähnt, manchmal gar überhaupt nicht. Meine Erfahrung der letzten Jahre belegt, dass dieser bedauerliche Sachverhalt auch weiterbesteht. Eine breite Mehrheit der Studenten hat nie etwas von „Völkermord“ gehört und kann nicht einmal die einfachsten Aussagen zu den Genoziden gegen andere Völker machen, inklusive jener, die sich im letzten Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ereigneten. Wir müssen uns über diesen Befund nicht verwundern, aber es ist unsere Pflicht und Schuldigkeit, darüber nachzudenken. Die Folgen sind klar: Wenn israelische Studenten am Beginn ihrer Universitätszeit nichts über den Völkermord an den Armeniern lernen, haben sie auch keine Chance, später damit vertraut zu werden, wenn sie an ihren Abschlüssen arbeiten, in welcher Disziplin auch immer. Manch einer könnte ihn en passant erwähnen, aber sonst nichts. Der aktuelle Stand ist, dass das Thema in Israel in keiner Lehr8 Auron (1994). Vgl. zu diesem Thema auch Kiesel, wozu ich das Kapitel über den Völkermord an den Armeniern beigetragen habe.
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veranstaltung an Hochschulen und Universitäten in systematischer Weise abgehandelt wird, mit Ausnahme zweier Kurse der Open University: „Genozid“, der etliche Bachelor-Studenten anzieht, und „Der Schmerz des Wissens: Themen zur Lehre über Holocaust und Völkermord“ auf Master-Niveau. Doch all diese Studenten, die nichts oder so gut wie nichts über das Thema wissen, bilden die zukünftige Elite der israelischen Gesellschaft – ihre Richter, Künstler, Autoren, Politiker, Intellektuellen und Lehrer.
VII. Schlussbemerkungen Das Studium der Geschichte befördert – sofern sie nicht nur als die Geschichte von Siegern unterrichtet wird – bei den Studenten die Fähigkeit zur kritischen Analyse von Ereignissen der Vergangenheit, zur Beurteilung der Dinge aus zeitlicher Perspektive und zum Verständnis dessen, was es bedeutet, moralische Entscheidungen zu treffen. Jeder Student und jede Studentin sollten ein Bewusstsein dafür entwickeln, dass die Welt, in der sie leben, Resultat einer Menge von Entscheidungen ist, die Einzelne und Gruppen getroffen haben: Jede Entscheidung, egal wie unbedeutend sie erscheinen mag, könnte ausschlaggebend sein, zum Guten oder zum Bösen. Nach dem Lehrplan „Der Geschichte und uns selbst begegnen“ werden Schüler mit den Hunderten von kleinen und großen Entscheidungen konfrontiert, die die Geschichte hervorbringen. Auf diese Weise wird ihnen ein Verständnis dafür vermittelt, dass Geschichte sich nicht zwangsläufig entwickelt. Sie lernen, dass es keine einfachen Antworten auf komplexe Probleme wie etwa Rassismus, Antisemitismus, Hass und Gewalt gibt, und genauso wenig eine schnelle und simple Lösung gegen soziale Ungerechtigkeiten oder moralische Grenzüberschreitungen. Unter Anleitung ihrer Lehrer lernen die Schüler, Ursachen und blutige Konsequenzen rassischen, religiösen und ethnischen Hasses zu ergründen. Nach und nach sehen sie ein, dass die Figuren, die sie mit blutbefleckten Händen im Spiegel der Geschichte erblicken, auch sie selbst sein könnten. Israelis und Deutsche haben klarerweise gar keine andere Wahl, als den Holocaust umfassend zu unterrichten. Ich kämpfe allerdings dagegen an, dass wir keinen Unterricht zum Thema Genozid in Israel haben. Und es scheint mir, dass das Niveau der Lehre über Völkermorde in Deutschland zu gering ist, insbesondere natürlich, wenn wir es mit der Lehre zum Holocaust vergleichen. Wir müssen über den Holocaust lehren. Ebenso müssen wir über Völkermorde lehren. Und wir müssen überdies eine gehaltvolle und grundlegende Bildung zum Thema Rassismus ermöglichen, hinsichtlich seiner allgemeinen und universellen Manifestationen ebenso wie im Blick auf spezifische und besondere Fälle. Es gibt keinen Widerspruch zwischen Holocaust-Unterricht einerseits und Lehre zu Genoziden bzw. Bildung gegen Rassismus andererseits. Jegliche Spannung, die sich zwischen dem Besonderen und dem Allgemeinen ergeben mag, befördert vielmehr das kritische Denken und die Selbstreflexion. Hervorstechendes Beispiel dafür ist Israel, mitsamt unserem sturen Insistieren auf der Einzigartigkeit des Holocaust
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und seiner strikten Verschiedenheit von anderen Völkermorden. Ich denke, dass die Bildungsherausforderung in dieser komplexen Situation genau darin liegt, zu versuchen, ein besseres Gleichgewicht zu finden zwischen den zionistischen und jüdischen Lehren aus dem Holocaust und den allgemein menschlichen und universellen Lektionen, die wir aus ihm ableiten. Selbst wenn wir den Holocaust unterrichten und den künftigen Generationen die Erinnerung daran vermitteln, muss die zu Grunde liegende Botschaft sein, dass das menschliche Leben einen intrinsischen Wert hat, der für alle gleich ist – Juden, Sinti, Armenier und Palästinenser. Um dieses Ziel zu erreichen, muss man grundlegende Prinzipien zusammenführen, die sich gegenseitig auszuschließen scheinen: einerseits die Betonung der einzigartigen historischen Parameter des Holocaust und seine Bedeutung für uns als Juden; andererseits die Identifikation mit den Katastrophen, die über andere Völker gekommen sind, und mit den anderen Völkermorden der Vergangenheit. Es gibt zwischen diesen beiden Ansätzen keinen Widerspruch; ganz im Gegenteil, sie sind kompatibel und komplementär. Aus dem Englischen von Ralf Kozian.
Das Zeitalter des Genozids und die Schwierigkeiten einer globalen Antwort Von Shashi Tharoor Shashi Tharoor Das einer globalen Antwort
Zeitalter
des
Genozids
und
die
Schwierigkeiten
Weltweit wird jährlich am 27. Januar – es ist das Datum der Befreiung von Auschwitz Anfang 1945 – der internationale Holocaust-Gedenktag begangen. Viele der Opfer des Holocaust wurden in den nationalsozialistischen Vernichtungslagern ermordet. Doch die für die Schrecken des Krieges schon abgestumpfte Weltöffentlichkeit begann erst nach und nach, sich ein Wissen um und Verständnis für das einzigartige Grauen zu entwickeln, das in diesen Lagern herrschte – sofern Verstehen hier überhaupt möglich ist. Die Lager waren aber nicht bloße „Konzentrationslager“, und man sollte nicht den Euphemismus jener verwenden, die sie erbauten. Ihr Sinn und Zweck bestand nicht darin, eine unangenehme oder unzuverlässige Gruppe an einem Ort zu „konzentrieren“, um sie im Auge zu behalten. Es ging um die Vernichtung eines ganzen Volkes. Natürlich gab es auch andere Opfer. Dass das jüdische Volk die größte Zielgruppe von Hitlers genozidaler Politik ausmachte, ist weithin bekannt. Weit weniger weiß die Welt aber um die Tatsache, dass die Nazis ebenso versuchten, das Volk der Sinti und Roma systematisch auszurotten – die sogenannten „Zigeuner“ –, eine Gruppe von Menschen indischer Herkunft, die seit mindestens tausend Jahren in Europa lebten, und dass sie zwischen einem Viertel und der Hälfte der einen Million europäischer Sinti und Roma ermordeten.1 In der Tat bedeutet der Roma-Begriff für den Holocaust – Porajmos – wörtlich „das Verschlingen“. Man kann sich wohl kaum eine treffendere Bezeichnung für das Grauen ausdenken, das die Roma und Sinti zu erdulden hatten. Es besteht wohl Konsens, dass wir allen Opfergruppen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik Gedenken schulden. Doch das tragische Schicksal des jüdischen Volkes war einzigartig. Zwei Drittel aller Juden Europas wurden binnen kürzester Zeit getötet. Eine ganze Zivilisation, die in weit größerem Umfang als es ihrem zahlenmäßigen Anteil entsprochen hätte, zum kulturellen und intellektuellen Reichtum Europas und der Welt beigetragen hat, wurde entwurzelt, zerstört, ausgelöscht. Und es war der Holocaust, dessentwegen das Wort „Genozid“ Eingang in unsere Wörterbücher gefunden hat. Im Folgenden werde ich die Entwicklung von der Einführung dieses Begriffes bis zur Etablierung internationaler Strafgerichtshöfe darstellen, um schließlich einige Schwierigkeiten der Prävention von Genozid in globaler Perspektive zu skizzieren.
1
Zur unheilvollen Vorgeschichte vgl. Bogdal.
Shashi Tharoor
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I. Vom Begriff zum Internationalen Strafgerichtshof Der Begriff „Genozid“ wurde erst 1944 geprägt. Doch wenn wir von einem Jahrhundert der Genozide sprechen, ist dies auch ein klarer Verweis auf die Vernichtung der Armenier während des Ersten Weltkriegs und danach. Es war dies der erste klar identifizierte und anerkannte Fall von Massenmord gegen eine ethnische Gruppe. Schätzungen besagen, dass bei den von der jungtürkischen Regierung initiierten Vertreibungen über anderthalb Millionen Armenier getötet wurden. Allerdings kannte das Völkerrecht in dieser Zeit die Definition von Genozid als einem organisierten Massenverbrechen nicht, und die Ereignisse im Osmanischen Reich wurden zunächst weithin als „Armenier-Greuel“ bezeichnet.2 Bis heute gibt es Versuche, die Anerkennung dieser Massenmorde als Genozid zu bestreiten, zuallererst von Seiten der türkischen Regierung. Der Fall zeigt aber auch, wie hart und kontrovers in der Geschichtsschreibung und in der Politik um Definitionen und Begrifflichkeiten gerungen wird. Erst durch die Ermordung der europäischen Juden kamen erfolgreiche Bemühungen in Gang, eine klare Begrifflichkeit von Genozid zu schaffen. Es war in der zweiten Hälfte des Jahres 1941, nachdem Nazi-Deutschland die Sowjetunion überfallen hatte, dass Winston Churchill die einzigartige Natur dieser Massenmorde erkannte. Er war überzeugt, dass die von den nationalsozialistischen Truppen in der Region begangenen Gräueltaten ein ernstes und unerhörtes Verbrechen darstellten. Churchill bemerkte: „We are in the presence of a crime without a name.“3 Schließlich war es der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, der in seinem Werk Axis Rule in Occupied Europe 1944 den Begriff „Genozid“ aus der Kombination des griechischen genos, in der Bedeutung von „Rasse“ oder „Stamm“, und dem Lateinischen caedere für „töten“, einführte. Lemkin beschrieb letztlich acht Dimensionen des Genozids – politische, soziale, kulturelle, ökonomische, biologische, physische, religiöse und moralische. In jeder dieser Dimensionen wird auf einen anderen Aspekt der Existenz einer verwundbaren Gruppe abgezielt.4 Seine Arbeiten und sein Engagement hatten unmittelbare Folgen in der Rechtsprechung. Die Nürnberger Charta von 1945 brachte, indem sie dessen Zusammensetzung, Jurisdiktion und Funktionen festlegte, nicht nur die Einrichtung eines Kriegsverbrechertribunals mit sich, sondern sie definierte auch, was Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind. Unter Verbrechen gegen die Menschlichkeit fallen Mord, Vernichtung, Versklavung, Vertreibung und andere inhumane Taten, die vor oder während des Krieges gegen jedwede Zivilbevölkerung begangen wurden, sowie Verfolgungen auf politischer, 2 Vgl.
Gruner.
3 Rundfunkansprache
Premierminister Winston Churchills an die Welt über sein Treffen mit Präsident Roosevelt, 24. August 1941. (Online: https://www.ibiblio.org/pha/time line/410824awp.html). 4 Lemkin, S. 79.
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rassischer oder religiöser Grundlage. Man könnte sagen, dass dies einer der ersten Anläufe war, die Elemente des Verbrechens Genozid umfassend aufzulisten. Nach Schaffung der Nürnberger Charta und den Nürnberger Prozessen war es für die Vereinten Nationen (UN) unvermeidlich, das Verbrechen bei ihrer ersten Vollversammlung zur Kenntnis zu nehmen. Die Vollversammlung verabschiedete am 11. Dezember 1946 eine Resolution5 (G.A. Res. 96 (I)), in der Genozid als ein Verbrechen im Sinne des Völkerstrafrechts anerkannt wird, das die zivilisierte Welt verurteilt. Die Mitgliedsstaaten wurden dazu aufgerufen, Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung dieses Verbrechens zu erlassen. Diese erste Resolution wurde zur Grundlage der UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Genozids, die am 9. Dezember 1948 von 20 Staaten beschlossen wurde und am 12. Januar 1951 in Kraft trat. Die Konvention hat heute 146 Signatarstaaten.6 So definiert die Genozidkonvention den Begriff „Genozid“ in Artikel 2 als „jede der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören: 1) Tötung von Mitgliedern der Gruppe; 2) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe; 3) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen; 4) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind; 5) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.“7 Die Genozidkonvention sieht nicht nur Bestrafungen für den Genozid als solchen vor, sondern auch für Verschwörung, öffentliche Anstiftung und Beihilfe zum Genozid, ebenso für den Versuch (Artikel 3 der Genozidkonvention). Doch die Konvention hatte von Anfang auch ihre problematischen Seiten. So beschränkt sie sich auf vier Typen von Gruppen, unter Ausschluss sozialer und politischer Gruppen. Es gab Fälle massenhafter Tötung und Diskriminierung gegen bestimmte Gruppen wegen deren sozialer, politischer und biologischer Identitäten. So hat die Definition eindeutig die nationalsozialistische Vernichtung der Homosexuellen und von Menschen mit Behinderungen während der Jahre von 1933 bis 1945 übersehen. Und die Definition in ihrer geltenden Fassung hat in der Tat auch andere Anomalien hervorgebracht. 1971 wurde eine Million Bengalen von pakistanischen Truppen kaltblütig ermordet, und weitere zehn Millionen waren in der größten Flüchtlingskrise, die die Menschheit je gesehen hat, gezwungen, ins benachbarte Indien zu fliehen. Allerdings würden viele argumentieren, dass man den Genozidbegriff auf den Schrecken von 1971 in Ostpakistan (woraus später Bangladesch wurde) nicht anwenden kann, da diese Verbrechen spezifisch durch ein politisches Ziel motiviert waren, und zwar die Tötung und Auslöschung von Mitgliedern und Sympathisanten einer separatistischen politischen Bewegung in der Awami-Liga 5 Genozidkonvention. 6 Vertragssammlung der Vereinten Nationen (Online: https://treaties.un.org/Pages/View Details.aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-1&chapter=4&lang=e). 7 Genozidkonvention.
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in Ostpakistan. Obwohl sich alle Bengalen als ins Fadenkreuz geraten wahrnehmen mussten, bestand die Intention des pakistanischen Militärs letztlich allein darin, so das Argument, den Separatismus auszumerzen. Erst 42 Jahre später, im Jahre 2013, erkannte ein Organ der Rechtsprechung diese Massenmorde als Genozidverbrechen an. Das Internationale Kriegsverbrechertribunal in Bangladesch verurteilte Abul Kalam Azad und Abdul Quader Mollah. Während Abul Kalam Azad noch immer flüchtig ist und in Pakistan vermutet wird, wurde Abdul Quader Mollah im Dezember 2013 hingerichtet. Das Internationale Kriegsverbrechertribunal operiert in Bangladesch im Rahmen eines nationalen Gesetzes und ist den Prinzipien des Völkerstrafrechts und internationalen Abkommen verpflichtet, etwa der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 (UDHR) und dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 (ICCPR). Aktuell fehlt dem Internationalen Kriegsverbrechertribunal die internationale Anerkennung, um weiteren Kriegsverbrechern den Prozess machen zu können, die weiterhin von Pakistan geschützt werden. Gleichzeitig mit der Verabschiedung der Genozidkonvention vom 9. Dezember 1948 forderte die UN auch die Völkerrechtskommission auf, „die Notwendigkeit und Möglichkeit der Einrichtung eines internationalen Rechtssprechungsorgans für Prozesse gegen des Genozids beschuldigter Personen zu prüfen“, und bildete einen Ausschuss zur Vorbereitung eines Vorschlags für die Einrichtung eines Strafgerichtshofs.8 Erst nach der ad-hoc-Bildung des Internationalen Strafgerichtshofes für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) 1993 vollendete die Völkerrechtskommission ihren Entwurf eines Statuts zur Konstituierung eines solchen Strafgerichtshofs und unterbreitete ihn 1994 der Vollversammlung. Die massenhaften Gräueltaten, die in Kroatien, Bosnien und Herzegowina begangen wurden, bewegten eine UN-Expertenkommission dazu, dem Sicherheitsrat (UNSC) Beweise für eklatante Verletzungen der Genfer Konventionen und des humanitären Völkerrechts in der Region vorzulegen. Auf dieser Grundlage erschuf der Sicherheitsrat den ICTY, den ersten Gerichtshof für Kriegsverbrechen und das erste internationale Kriegsverbrechertribunal seit den Nürnberger und Tokioter Prozessen.9 Ein weiteres bedeutendes Tribunal, das zur Etablierung des Systems der internationalen Strafjustiz gegen Genozide beitrug, war der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR). Der ICTR wurde 1995 eröffnet, um die Genozidverbrechen der Hutu gegen die Tutsi in Ruanda zu verhandeln. Er war am 2. September 1998 das erste Gericht bzw. Tribunal, das eine Person der Begehung eines Genozids für schuldig befand (Jean-Paul Akayesu – Bürgermeister der ruandischen Stadt Taba). Der ICTR hat 61 Menschen verurteilt, 14 freigesprochen und 10 für Prozesse an
8 Vollversammlung der Vereinten Nationen. (Online: http://daccess-dds-ny.un.org/doc/ RESOLUTION/GEN/NR0/044/31/IMG/NR004431.pdf?OpenElement). 9 Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien (ICTY). (Online: http://www.icty.org/en/about/tribunal/establishment).
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nationale Justizorgane übergeben.10 Der ICTR war überdies die erste Institution, die Vergewaltigungen als Mittel zur Begehung eines Genozids anerkannte. Der ICTR wurde auch zum ersten internationalen Tribunal, das Medienvertreter für Veröffentlichungen zur Verantwortung zog, die ihr Publikum zur Begehung genozidaler Akte anstachelten. Angesichts der Entwicklungen von ICTY und ICTR berief die Vollversammlung bei ihrer 52. Tagung 1998 die UN-Bevollmächtigtenkonferenz zur Einrichtung eines internationalen Strafgerichtshofes ein. Die Konferenz wurde in Rom abgehalten, um eine Konvention zur Etablierung eines solchen Gerichtshofes fertigzustellen und zu beschließen. Kofi Annan, der damalige Generalsekretär der Vereinten Nationen, erklärte: „In der Aussicht auf einen internationalen Strafgerichtshof liegt das Versprechen einer universellen Justiz. Dies ist die einfache und alles überscheinende Hoffnung dieser Vision.“11 Das Römische Statut wurde von 120 Mitgliedsstaaten unterzeichnet und trat nach Ratifikation durch 60 Staaten am 1. Juli 2002 mit der Bildung des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) in Kraft. In Artikel 6 definiert das Statut noch einmal, was ein Genozid ist. Die Definition ist identisch mit der in Artikel 2 der Genozidkonvention. Die unter dem Römischen Statut definierten Verbrechen, inklusive des Genozids, unterliegen keiner Verjährungsfrist, der IStGH kann derlei Angelegenheiten also auch zu einem beliebig späteren Zeitpunkt untersuchen.12 Die Anklagebehörde beim IStGH führt gegenwärtig Ermittlungen zu Verbrechen durch, die in neun verschiedenen Zusammenhängen in folgenden Ländern begangen worden sein sollen: Sudan (für die Lage in Darfur), Demokratische Republik Kongo, Uganda, Republik Zentralafrika, Kenia, Libyen, Elfenbeinküste und Mali. Außerdem führen die Ankläger Vorermittlungen in acht weiteren Staaten durch: Afghanistan, Kolumbien, Georgien, Guinea, Honduras, Irak, Nigeria, Palästina und Ukraine.13 Die Zuständigkeit des IStGH erstreckt sich zunächst einmal nur auf Verbrechen, die auf dem Territorium eines Mitgliedsstaats begangen wurden. Der UN-Sicherheitsrat kann allerdings (unter Artikel 39 des Römischen Statuts) Verbrechen, die auf dem Territorium von Nicht-Mitgliedsstaaten begangen wurden, zur Ermittlung und Strafverfolgung an den IStGH überweisen. Diese Regelung billigt dem Sicherheitsrat eine sehr machtvolle Rolle in der Reaktion auf aggressive Akte zu, wiewohl seine Entschließung (um die Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu wahren) für den IStGH nicht bindend ist. Artikel 16 des Statuts erlaubt dem Sicherheitsrat
10 Internationaler
Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR). (Online: http://www.unictr.org/ en/tribunal). 11 Rede zur Eröffnung der Vollversammlung. (Online: http://legal.un.org/icc/general/ overview.htm). 12 Internationaler Strafgerichtshof. (Online: http://www.icc-cpi.int/en_menus/icc/ about%20the%20court/frequently%20asked%20questions/Pages/3.aspx). 13 Hochkommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte. (Online: http://www. ohchr.org/EN/ProfessionalInterest/Pages/CrimeOfGenocide.aspx).
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außerdem, eine laufende oder avisierte Ermittlung oder Anklage auszusetzen.14 Hier einige Beispiele für derartige Interventionen des Sicherheitsrates: a) Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschloss 2005 in Resolution 1593, die Genozidverbrechen, die in Darfur begangen wurden, zur Ermittlung und Strafverfolgung an die Ankläger beim IStGH zu überweisen.15 b) Zur Verdammung der Gewalt und Zwangsmaßnahmen gegen Zivilisten in der Libysch-Arabischen Dschamahirija verabschiedete der Sicherheitsrat 2011 einstimmig Resolution 1970. Sie übertrug den Anklägern beim IStGH die Ermittlungen zu Verletzungen der Menschenrechte und des humanitären Völkerrechts in Libyen.16 c) Der Sicherheitsrat hat keine Resolution gefasst, den IStGH mit Ermittlungen zur Lage in Syrien zu betrauen. Es wird aber weltweit Druck auf den Sicherheitsrat ausgeübt, dies zu tun. Weder in Sachen Libyens noch Syriens werden allerdings die Vorschriften zum Themenkomplex Genozid für einschlägig gehalten. Auch den nationalen Gerichten kommt offenkundig eine wichtige Rolle zu. Artikel 6 der Genozidkonvention sieht vor, dass Genozidfälle vor einem kompetenten Gericht desjenigen Staates zu verhandeln sind, auf dessen Territorium die Tat begangen wurde.17 Aus diesem Grund haben die internationalen Tribunale immer wieder Fälle während laufender Verhandlungen an nationale Gerichte überwiesen. So wurden etwa, um der großen Anzahl von Straftaten Herr zu werden, die während des Genozids in Ruanda begangen wurden, Gerichtsprozesse auf drei Ebenen geführt – vor dem ICTR, den nationalen Gerichten und vor Gacaca-Gerichten (kommunalen Gerichten). Die nationalen Gerichte befassten sich mit den Personen, die der Planung des Genozids und der Begehung schwerer Gräueltaten bezichtigt wurden. Auch die Entscheidung der ruandischen Regierung im Jahr 2007, die Todesstrafe abzuschaffen, erleichterte die Übertragung von Fällen zur Ermittlung und Strafverfolgung an die nationalen Gerichte. Teilweise übernahmen die kommunalen Gerichte die Strafverfolgung in Fällen, die den nationalen Gerichten übertragen worden waren.18 Unter den derzeitigen Rahmenbedingungen können Genozidverbrechen also vor nationalen Gerichten, letztinstanzlich vor dem Internationalen Strafgerichtshof und vor ad hoc einberufenen internationalen Tribunalen wie dem ICTR und dem ICTY untersucht und zur Anklage gebracht werden.19 14
UN Legal. (Online: http://legal.un.org/icc/statute/99_corr/cstatute.htm). des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen.(Online: http://www.icc-cpi. int/NR/rdonlyres/85FEBD1A-29F8 – 4EC4 – 9566 – 48EDF55CC587/283244/N0529273. pdf). 16 Resolution des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen. (Online: http://www.icc-cpi. int/NR/rdonlyres/081A9013-B03D-4859 – 9D61 – 5D0B0F2F5EFA/0/1970Eng.pdf). 17 Artikel VI Genozidkonvention. 18 Hilfsprogramm der Vereinten Nationen nach dem Genozid in Ruanda. (Online: http:// www.un.org/en/preventgenocide/rwanda/about/bgjustice.shtml). 15 Resolution
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II. Analyse- und Präventionsmöglichkeiten
Allein die Definition und die juristischen Feinheiten liefern freilich noch keine Handhabe zur Früherkennung und Verhütung des Verbrechens Genozid. Die internationalen Institutionen, wie der Internationale Strafgerichtshof, sind nur für die Strafverfolgung der Täter von Genoziden da, nachdem diese geschehen sind und als solche anerkannt wurden, aber es gibt keinen Mechanismus der Intervention im Angesicht eines sich gerade abspielenden Genozids mit dem Ziel der Unterbindung von Gräueltaten. Solches hängt, wie immer, vom Willen und der Fähigkeit der Mitgliedsstaaten ab, einzugreifen. Die Durchsetzung der Genozidkonvention ist daher eine permanente Herausforderung. So spielte die Konvention beispielsweise während des Regimes der Roten Khmer keinerlei Rolle, als zwischen 1975 und 1979 1,7 Millionen Menschen umgebracht wurden, obwohl Kambodscha sie schon 1950 ratifiziert hatte. Die Definition gibt auch keine numerische Schwelle vor, jenseits derer man einen Akt als Genozid anerkennen müsste. In dieser Hinsicht haben sich allerdings die Gerichte eingeschaltet und festgelegt, dass es dafür der Tötung oder Schädigung eines „substantiellen Teils“ einer geschützten Gruppe bedarf. In der Sache Anklage gegen Radislav Krstic fügte der ICTY darüber hinaus hinzu, dass die Vernichtung des „Teils“ eine Auswirkung auf die Gruppe als ganze haben sollte und dass auch die Signifikanz dieses substantiellen Teils für das Überleben der restlichen Gruppe zu berücksichtigen ist. Dieses Urteil hat in gewisser Weise einen Teil des Definitionsproblems gelöst, aber wir können uns für die Stärkung der Definition nicht auf Präzedenzfälle verlassen. Internationale Nicht-Regierungsorganisationen haben zur Fortentwicklung unseres Bewusstseins für das Verbrechen Genozid und die dringende Notwendigkeit der Prävention bemerkenswerterweise mehr beigetragen als Regierungen und Organe der Rechtsprechung. So hat beispielweise Genocide Watch, koordinierende Or-
19 Die Genfer Konventionen und ihre Zusatzprotokolle definieren Genozid nicht ausdrücklich. Artikel 50 und 51 des ersten Genfer Abkommens von 1949 zu Kriegsverbrechen, die im Verlaufe eines internationalen bewaffneten Konflikts begangen werden, führen Strafmaßnahmen für schwerwiegende Rechtsverletzungen auf, darunter absichtliche Tötung, Folter oder unmenschliche Behandlung, inklusive biologischer Experimente, absichtliche Zufügung großen Leids oder schwerer Verletzungen an Körper oder Gesundheit und übermäßige Zerstörung oder Entziehung von Eigentum, die nicht durch militärische Notwendigkeit gerechtfertigt sind und ungesetzlich durchgeführt werden. Zu erwähnen sind außerdem Artikel 130 zur Behandlung von Kriegsgefangenen, Artikel 147 zum Schutz der Zivilisten in Zeiten des Krieges und Artikel 81 Zusatzprotokoll I über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte. Bei nicht internationalen Konflikten gelten auch Artikel 3 des ersten Genfer Abkommens über die Verbesserung der Bedingungen der Verwundeten und Kranken in Streitkräften im Felde und Zusatzprotokoll II über den Schutz der Opfer nicht internationaler bewaffneter Konflikte als einschlägige Vorschriften. (Internationales Komitee vom Roten Kreuz, online: https://www.icrc.org/en/war-and-law/ treaties-customary-law/geneva-conventions).
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ganisation der International Alliance to end Genocide20, zehn mögliche Stadien eines Genozids definiert.21 Klassifizierung → Symbolisierung → Diskriminierung → Entmenschlichung → Organisation → Polarisierung → Vorbereitung → Verfolgung → Vernichtung → Leugnung. Man kann diese Stadien schon mit Blick auf den Holocaust rekonstruieren, in dem die Juden und Sinti und Roma systematisch verfolgt wurden und auch Homosexuelle, Menschen mit Behinderungen und Zeugen Jehovas ins Fadenkreuz gerieten. Schätzungsweise 11 Millionen Menschen wurden damals ermordet, unter ihnen 6 Millionen Juden und 1,1 Millionen Kinder. Genocide Watch beschreibt die besagten zehn Stadien eines Genozids wie folgt: Klassifizierung. Menschen werden in „wir“ und „die“ unterteilt. In Nazideutschland erfolgte die Unterteilung von Menschen als Deutsche oder Juden, wobei die Juden als minderwertige Gruppe dargestellt wurden. Symbolisierung. Die Klassifizierung erfolgt durch die Zuweisung von Symbolen. In Nazideutschland mussten die Juden fortan einen gelben Davidstern auf ihrer Kleidung tragen, um ihre Identität zu markieren, und sie wurden damit aus der Gemeinschaft ausgeschlossen (gebrandmarkt als minderwertig gegenüber den „reinen“ Ariern.) Diskriminierung. Juristische und politische Macht wird gezielt und restriktiv eingesetzt, um anderen Gruppen ihre Rechte vorzuenthalten: Die Einführung der Nürnberger Gesetze 1935 schloss die Juden vom öffentlichen Leben aus. Die damals erlassenen Vorschriften verboten den deutschen Juden den Zugang zu öffentlichen Räumen wie Parks, öffentliche Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen oder ihren Grundbesitz zu registrieren. Im Verlauf der 30er Jahre wurden die juristischen, wirtschaftlichen und sozialen Rechte der Juden fortlaufend weiter eingeschränkt. Entmenschlichung. Die Menschlichkeit der anderen Gruppe wird bewusst geleugnet und damit auch Gewalt gegen sie legitimiert. 1938 wurde ein Pogrom gegen die Juden initiiert, das die Zerstörung von Synagogen, Plünderungen und körperliche Angriffe zur Folge hatte. Im Januar 1939 rief Hitler in einer öffentlichen Rede zur „Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa“ auf. Organisation. Die „andere“ Gruppe wird ausgegrenzt, muss sich aber selbst organisieren bzw. verwalten. Den Juden wurde befohlen, in Ghettos und anderen abgegrenzten Gebieten mit strikter Ausgangssperre zu leben. Judenräte wurden eingerichtet, um das Privatleben der Juden in diesen Ghettos zu regulieren.
20 Genocide Watch. (Online: http://www.genocidewatch.org/alliancetoendgenocide/ members.html). 21 Stages of Genocide. (Online: http://genocidewatch.org/genocide/tenstagesofgenocide. html).
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Polarisierung. Hier wird der endgültige strukturelle Bruch zwischen „uns“ und „denen“ vollzogen, die Gruppen werden quasi auseinandergetrieben: Die Nürnberger Gesetze verboten Ehen zwischen „Ariern“ und Juden. Jüdische Rechtsanwälte durften nicht mehr praktizieren, und jüdische Richter wurden entlassen. Vorbereitung. Die Vernichtung wird vorbereitet: Für die Inhaftierung der europäischen Juden wurden im Herrschaftsgebiet der Nazis Konzentrations- und Vernichtungslager errichtet. Verfolgung. Hier geht es um die lückenlose Identifizierung der Zielgruppe, ihre Trennung vom Rest der Gesellschaft und ihre Zuführung zu den Plätzen der Vernichtung. Die Juden wurden systematisch verfolgt, in Ghettos verbannt, wo sie strengen Einschränkungen unterlagen, dann aus den Ghettos in die Vernichtungslager deportiert, wo ihre Verfolgung mittels Versklavung, Zwangsarbeit, physischer Ausbeutung und Schlimmerem fortgesetzt wurde, bis die meisten eliminiert waren. Vernichtung. Schließlich erfolgt die massenhafte Tötung der Zielgruppe. Die Vernichtung der Juden begann zunächst mit spontanen, exzessiven Hinrichtungsaktionen. Das Massaker von Babyn Jar bei Kiew 1941, bei dem mehr als 33.000 Juden umgebracht wurden, ist ein Beispiel für den Massenmord an den Juden, der dann im Schrecken der Gaskammern kulminierte. Leugnung. Es gab umgehende Versuche der Nazis, den Holocaust durch Manipulation und Leugnung von Tatsachen zu vertuschen, etwa mittels verzerrter Darstellung der Zahlen der Getöteten bzw. der Gründe für die Einrichtung der Vernichtungslager. Diese Herausforderung zeigt sich in allen Fällen von Genozid. (Die türkische Regierung erkennt bis heute die Armeniermassaker nicht als Genozid an, genauso wenig wie die pakistanische den Genozid an den Bengalen.) Das Fehlen von Zeugen und Beweisen kann sich als schwieriges Hindernis für die Bekräftigung der Genozid-Vorwürfe erweisen. Gibt es Möglichkeiten, Genozide noch im letzten Moment – oder möglicherweise schon im Vorfeld zu verhindern? Eine weitere bekannte NGO, das Early Warning Project22, hat sich tatsächlich auf die Vorhersage staatlich betriebener Massenmorde spezialisiert, bewegt sich dabei aber auf recht dünnem Eis. Das Early Warning Project ist eine unabhängige Forschungseinrichtung, die Länder beobachtet, in denen ihrer Meinung nach das objektive Risiko eines Genozids besteht. Der Organisation zufolge sollte man frühe Warnzeichen analysieren, um das Ausmaß des in einem Land bestehenden Genozidrisikos zu quantifizieren. Dies, so behauptet sie, ließe sich bewerkstelligen, indem man frühe Hinweise auf Pogrome oder Angriffe auf Minderheiten im Lande identifiziert und eine Zusammenstellung statistischer Modelle wie der folgenden anwendet: Modell 1: Schlechtes Regime. Die Charakteristika der nationalen Politik eines Landes werden identifiziert und abgebildet und das Potential eines Regimes, Mas22
Early Warning Project. (Online: http://www.earlywarningproject.com).
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senmorde auszuführen, eingeschätzt (mittels Analyse der politischen Instabilität einer Nation). Modell 2: Bedrohte Eliten. Dieses Modell bestimmt, ob ein mächtiges Regime sich einem drohenden Umsturz gegenübersieht, wodurch Furcht hervorgerufen und Massenmorde an der oppositionellen Gruppe verursacht werden könnten. Modell 3: Random Forests. Hier handelt es sich um einen Algorithmus, der für die Behandlung der in den ersten beiden Modellen ermittelten Determinanten entwickelt wurde. Er analysiert Muster in den verfügbaren Daten, um sicherzustellen, dass die frühen Hinweise korrekt identifiziert werden. Das Ganze ist allerdings keine exakte Wissenschaft, und die praktischen und politischen Hindernisse beim Orchestrieren einer internationalen Intervention dort, wo ein Genozid noch nicht stattgefunden bzw. noch nicht begonnen hat, scheinen mir unüberwindlich.
III. Bewegung in der Rechtsprechung Die Rechtsprechung zu Genoziden hat sich verständlicherweise erst in der jüngsten Vergangenheit entwickeln können, doch finden sich dort mittlerweile sehr interessante und instruktive Hinweise dazu, in welche Richtung sich die globale Antwort auf Genozide bewegt. Die Verhandlung in der Sache Anklage gegen Vujadin Popović et al. (Verurteilung wegen Genozides durch den ICTY 2010) endete mit Verurteilungen des ICTY von sieben Amtsträgern der bosnischen Serben für Verbrechen in Srebrenica. In diesem Fall wurden Vujadin Popović, Sicherheitschef des Drina-Korps der bosnischen Serbenarmee (VRS), und Ljubiša Beara, der Sicherheitschef im Generalstab der VRS, des Genozides, der Massenvernichtung, des Mordes und der Verfolgung für schuldig befunden und zu lebenslanger Haft verurteilt. Die Kammer vernahm 315 Zeugen. Den Verurteilten wurde vorgeworfen, mittels gemeinschaftlich begangenen Mordes und gewaltsamer Vertreibung schutzloser Gruppen versucht zu haben, die bosnisch-muslimische Bevölkerung aus Srebrenica und Zepa zu entfernen. Das Tribunal stellte fest, dass die an dem gemeinschaftlich begangenen Verbrechen Beteiligten sich des Genozides schuldig gemacht haben.23 Vujadin Popović wurde wegen Genozides verurteilt, weil er die Absonderung, Überführung und Ermordung schutzloser Gruppen geplant hatte. Der ICTY kam zu dem Schluss, dass der Angeklagte den Massenmord an den bosnischen Muslimen beabsichtigt und (mittels Befehlen) durchgeführt hat. Es war ihm bekannt, dass eine große Menge bosnischer Muslime mit dem Ziel der Exekution gefangen genommen wurde. Er leistete überdies der Ermordung zehn verwundeter bosnisch-muslimischer Männer Vorschub. Ljubiša Beara wurde wegen Genozides verurteilt, weil er sich an der Koordinierung des massenmörderischen Unternehmens 23 Internationaler Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien. (Online: http://www. icty.org/en/press/seven-senior-bosnian-serb-officials-convicted-srebrenica-crimes).
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in Gestalt der Rekrutierung und Stationierung von Truppen beteiligte. Zeugenaussagen bestätigten, dass der Angeklagte sich völlig im Klaren darüber war, dass Massenmorde geplant und durchgeführt wurden. 2015 legten Vujadin Popović und Ljubiša Beara Berufung ein, weil sie wegen einer Unterlassung (keine Hilfeleistung für die verwundeten Gefangenen) verurteilt worden seien, nicht für die aktive Begehung eines Genozids. Die Berufung wurde auf der Grundlage zurückgewiesen, dass man die Vorschriften des Römischen Statuts nicht in Isolation interpretieren könne und dass die Angeklagten der Beihilfe zur Begehung der Morde schuldig seien. Das vom Gerichtshof gefällte Urteil wurde bestätigt und die Berufungen abgelehnt. Im Fall Anklagebehörde gegen Nahimana et al. hat der ICTR Medienangehörige wegen Anstiftung zum Genozid zur Verantwortung gezogen. Der ICTR war das erste internationale Tribunal, das Medien für Veröffentlichungen zur Verantwortung gezogen hat, die ihr Publikum zur Begehung von genozidalen Akten aufwiegelten. Der Prozess führte zur Verurteilung von Ferdinand Nahimana, Jean Bosco Barayagwiza und Hassan Ngeze.24 Sowohl Nahimana als auch Barayagwiza gehörten einem Steuerungskomitee an, das die Gründung eines Radiosenders – RTLM – betrieb. Der Sender wurde für die Verbreitung von Propaganda gegen die Tutsi und andere verwundbare Gruppen (gemäßigte Hutu) verwendet. Hassan Ngeze war der Eigentümer der Zeitung Kangura, die ebenfalls Hassbotschaften verbreitete und die Tutsi und gemäßigten Hutu explizit als Feinde brandmarkte. Der ICTR kam zu dem Schluss, dass die besagten Medien eine wichtige Rolle bei der Begehung des Genozides spielten und dass jemand verurteilt werden kann, auch wenn er die Morde nicht selbst begangen hat. Die Anklageschrift wurde um die Punkte Verschwörung zur Begehung eines Genozids, direkte und indirekte öffentliche Aufwiegelung zur Begehung eines Genozids und Beihilfe zum Genozid sowie zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit erweitert. In ihrer Berufung stellten die verurteilten Parteien darauf ab, dass die Unabhängigkeit des ICTR nicht absolut gewährleistet gewesen sei, da er unter dem Einfluss der Regierung Ruandas gestanden habe. Die Berufungskammer befand, dass es keinen Druck seitens der ruandischen Regierung gegeben habe und dass die Entscheidung des Gerichtshofs nicht beeinflusst worden sei. Die verurteilten Parteien behaupteten überdies, dass die Vorschriften über direkte und indirekte öffentliche Aufwiegelung zur Begehung eines Genozides unter Artikel 2 (3) (c) der Anklageschrift das Phänomen der Hassrede nicht umfassten. Die Berufungskammer befand, dass der „kulturelle Kontext“ der inkriminierten Äußerungen, indem es um die Klassifizierung und Unterscheidung zwischen Tutsi und Hutu ging, eine Anstachelung zur Straftat darstellten. Die Äußerungen wurden vom angesprochenen Publikum deutlich verstanden. Daher trug die Propaganda der Verurteilten zum Verbrechen des Genozids bei. Die ICTR-Berufungskammer bestätigte, dass die 24 Internationaler Strafgerichtshof für Ruanda (ICTR). (Online: http://www.unictr.org/ en/cases/ictr-99 – 52).
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direkte und indirekte öffentliche Aufwiegelung zur Begehung eines Genozids ein Verbrechen ist. Sie unterschied allerdings auch zwischen Hassrede und der direkten und indirekten öffentlichen Aufwiegelung zur Begehung eines Genozids. Dies sind Beispiele aus der jüngsten Vergangenheit, aber sie führen uns zurück zum ganzen Ökosystem der Vernichtung, das den Holocaust ermöglicht hatte. Es ist freilich unmöglich zu wissen, welche Symphonien nicht geschrieben, welche Krankheiten nicht geheilt oder welche Kinder nicht geboren wurden, weil sechs Millionen Leben zu früh endeten, noch bevor sie das Versprechen ihres Seins einlösen konnten. Es kann aber niemand bezweifeln, dass das Erbe der Menschheit durch den Verlust so vieler Begabungen und Talente, kleiner wie großer, sehr gelitten hat. Die ganze Welt wurde durch diese Abscheulichkeit beschädigt, und die ganze Welt hat Grund zu trauern und zu gedenken. Mit der Absicht, ein ganzes Volk zu vernichten, schädigen Genozide nebenbei die gesamte Menschheit. Das Grauen des Holocaust kam als der Höhepunkt einer langen und schändlichen Geschichte antisemitischer Verfolgung, Pogrome, institutionalisierter Diskriminierung und anderer Erniedrigungen in Europa. Wenn wir also gewiss sein wollen, dass es nie wieder so weit kommt, dann müssen wir kontinuierlich wachsam sein gegenüber neuen Erscheinungsformen von Antisemitismus, Rassismus und ethnischem oder religiösem Hass, wann und wo sie auch immer auftreten mögen.
IV. Der Imperativ der Erinnerung, globale Verantwortung, Hindernisse Die Generation, die den Zweiten Weltkrieg gewann, verkündete das „Nie wieder!“, und die Vereinten Nationen erschufen den Staat Israel, um sicherzustellen, dass dieser Satz eine fundamentale Bedeutung bekam. Wir alle wissen natürlich, dass nichts die einzigartige Tragödie des Holocaust ungeschehen machen kann. Wir müssen ihrer mit Scham und Schrecken gedenken, solange die menschliche Erinnerung fortdauert. Wenn wir von einer globalen Antwort reden, müssen wir uns zuerst des Abgrunds gewahr werden, in dem die Menschheit versinken kann, wenn man zulässt, dass Rassismus und Intoleranz kein Einhalt geboten wird. Einerseits gedenken wir, um jene zu ehren, die so sinnlos umkamen. Andererseits gedenken wir, um unseren gemeinsamen Verlust zu betrauern – um uns zu erinnern, was diese Menschen hätten gewesen sein und getan haben können – der Wirkung, die sie in unserer unvollkommenen Welt gehabt hätten. Und schließlich gedenken wir, um unsere Verpflichtung den Toten gegenüber zur Kenntnis zu nehmen – nämlich allen Lebewesen Achtung entgegenzubringen. Nur im Gedenken können wir den Opfern den angemessenen Tribut zollen. Millionen unschuldiger Juden und Angehöriger anderer Minderheiten wurden auf die barbarischste Weise ermordet, die man sich vorstellen kann. Wir dürfen diese Männer, Frauen und Kinder sowie die von ihnen erduldeten Qualen nie vergessen. Das Gedenken ist die notwendige Absage an jene, die behaupten, der Holocaust sei nie geschehen oder übertrieben worden.
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Holocaust-Leugnung ist das Werk von Fanatikern. Wir müssen ihre falschen Behauptungen zurückweisen, wann, wo und von wem sie auch aufgestellt werden. Doch das Gedenken ist nicht genug. Obwohl die Vereinten Nationen einen Internationalen Gedenktag ausgerufen haben, muss unsere Observanz über das Erinnern hinausgehen. Der 27. Januar gemahnt uns an unsere Verpflichtung, nicht nur dem jüdischen Volk, sondern auch allen anderen gegenüber, die ein ähnliches Schicksal erduldeten oder davon bedroht sind. Die heutige Welt konfrontiert uns mit vielen Fällen von Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit. Wir sehen auch etliche Beispiele für die Herausforderungen und Einschränkungen, denen eine effektive globale Antwort beim Verhüten von Genoziden unterliegt. Prävention und Intervention bei stattfindendem Genozid stellen eine extreme wie leider auch kontinuierliche Herausforderung dar. Die Möglichkeiten der UNO sind wegen begrenzter Ressourcen und mangelnden politischen Willens wichtiger Mitgliedsstaaten eingeschränkt. So bestätigte etwa der Bericht der unabhängigen Untersuchung zum Handeln der Vereinten Nationen während des Genozids in Ruanda 1994 das Scheitern der UNO beim Schutz der Zivilbevölkerung vor dem Verbrechen. Obwohl schon 1993 eine Friedenstruppe der Vereinten Nationen entsandt worden war, wurde der Großteil dieser Kräfte bald nach dem Aufflammen der Gewalt wieder abgezogen. Aber auch die Arbeit des IStGH unterliegt immer noch Einschränkungen, und ohne die kollektive Unterstützung der internationalen Gemeinschaft kann er sein Mandat nicht wahrnehmen. Das Römische Statut ist von vielen Ländern, darunter die USA und Indien, nicht unterzeichnet und ratifiziert worden. Die Nicht-Unterzeichnerstaaten müssen sich daher nicht nach den Weisungen des IStGH richten. Der IStGH hat beispielsweise wegen mutmaßlichen Genozids und Kriegsverbrechen während des Darfur-Konflikts 2003 zwei Haftbefehle gegen Omar al-Baschir25, den sudanesischen Präsidenten, erlassen. Meine eigene Heimat Indien hat sich geweigert, Baschir zu verhaften, als er dort im Rahmen eines Indien-Afrika-Gipfels zu Gast war, da Indien das Römische Statut nicht ratifiziert hat und dem IStGH nicht verpflichtet ist. Selbst Südafrika, eine Vertragspartei des Statuts, setzte Baschir nicht fest, als er im Juni 2015 im Lande weilte. Die Resolution der Afrikanischen Union (AU) von 2013, keinen Prozess gegen ein afrikanisches Staatsoberhaupt vor dem IStGH zuzulassen, ist ein Beispiel für das Scheitern des IStGH, die Mitgliedsstaaten zur Befolgung seiner Gesetze zu verpflichten. So ist die internationale Gemeinschaft schon öfters damit gescheitert, kollektiv Stellung gegen das Verbrechen Genozid zu beziehen – denn nicht alle Staaten haben gesetzgeberische Maßnahmen ergriffen, das Verbrechen anzuerkennen. Und schließlich lässt sich konstatieren, dass der internationale Konsens des „Nie wieder!“ und der Verurteilung des Holocaust (noch) nicht in eine allgemeine öffentliche Empörung über das Verbrechen des Genozids übergegangen ist. Aktuell sind „Säuberungsaktivitäten“ gegen Gruppen auf ethnischer und kultureller Grundlage 25
Bashir Watch. (Online: http://bashirwatch.org).
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wieder im großen Maßstab im Gange. Der jährliche Bericht des UN-Hochkommissars für Menschenrechte von 2015 erörtert beispielsweise die Menschenrechtsverletzungen im Irak durch den sogenannten Islamischen Staat im Irak und der Levante. Die unmenschlichen Angriffe auf die jesidische Bevölkerung werden dort als „Genozid“ eingeordnet. Der Bericht analysiert die Muster hinter den Gewalttaten des IS gegen religiöse und ethnische Gruppen. Bei den Angriffen auf Jesiden, Christen und Schiiten kam es zu Massenmorden, Verletzungen der körperlichen und geistigen Unversehrtheit und Kindesentführungen. Solche Akte sind als Elemente des Verbrechens Genozid anerkannt. Der Bericht betont die Notwendigkeit eines Eingreifens des Sicherheitsrates, um den Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch den IS ein Ende zu machen. Doch wie wir wissen, hat der Sicherheitsrat bis heute keine wirksamen Maßnahmen getroffen, um den IS zu stoppen. Mit der wachsenden zeitlichen Entfernung zum Holocaust und mit dem Dahinschwinden der Überlebenden fällt uns – der heutigen Generation – die Aufgabe zu, die Flamme der Erinnerung weiterzutragen und die Sache der Menschenwürde voranzutreiben. Meines Erachtens gibt es Lektionen, die Menschen aller Länder, Religionen und Kulturen aus dem Holocaust lernen müssen – Lehren über den Widerstand gegen Tyrannei, Unterdrückung und Terror und Lehren zur Förderung von Toleranz und Achtung für die Menschenrechte. Die Menschheit hat manche dieser Lektionen gelernt, aber es ist noch längst nicht alles so geworden, wie es sein sollte. Für uns ist die Zeit des Ruhens noch nicht gekommen, der Gewissheit in der Annahme, dass die Menschenrechte immer geschützt, menschliche Leben immer hochgeschätzt und die Würde des Menschen immer gewahrt bleiben werden. Es ist also an uns, den Nachfolgegenerationen jener Opfer und jener Helden die Flamme der Erinnerung hochzuhalten und unsere eigenen Leben in ihrem Lichte zu leben. Aus dem Englischen von Ralf Kozian.
Kulturelle und philosophische Repräsentationen genozidaler Gewalt
Narrative der Vernichtung in der deutschen Literatur um 1900 Von Medardus Brehl Medardus Brehl Narrative der Vernichtung in der deutschen Literatur um 1900
Im Jahre 1909 veröffentlichte die Josef Köselsche Verlagsbuchhandlung als 237. Heft ihrer Reihe „Katholische Dilettanten-Bühne“ das Skript einer „Burleske in zwei Auftritten“ mit dem Titel: Kasperl als Herero.1 Johann Lang, der Autor des Stücks, bemerkt in seiner Beschreibung des Plots: „Wenn flott und drastisch gespielt wird, muß der witzige Einfall urdrollig wirken“.2 Allerdings muss der Leser des Skripts bald feststellen, dass es in der Burleske mitnichten um die Herero, eine autochthone Bevölkerungsgruppe in der damaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika geht, auch nicht um den Krieg, den das Deutsche Reich in den Jahren 1904 bis 1907 in eben dieser Kolonie führte, und keineswegs um die von den deutschen Truppen gegenüber den Herero verfolgte Vernichtungsstrategie. Zur Kenntnis nehmen muss der Leser gleichfalls, dass der Begriff „Herero“ – abgesehen von seiner Herbeizitierung im Titel des Stücks – überhaupt keine Erwähnung findet und die Szenerie des Stücks nichts mit der Kolonie Südwestafrika gemein hat. Stattdessen spielt das Stück in einer deutschen Wirtsstube. Die Story wird entwickelt um einen überaus durstigen Kasperl, dessen Geldmittel nicht zur Befriedigung seines Bierbedarfs ausreichen, woraufhin er einen Plan entwickelt, um die Kosten für seinen Bierkonsum decken zu können: Unter Einsatz von Schuhcreme verwandelt sich Kasperl in einen dunkelhäutigen „Menschenfresser“, zwängt sich in eine Voliere und lässt sich im Wirtshaus gegen Bezahlung von staunenden Passanten betrachten. Kein Kolonialkrieg also, keine Herero – sondern eine Persiflage auf die um 1900 überaus populären Völkerschauen.3 Dabei stellt sich allerdings die Frage, warum der Autor sein Stück, das – wie er selbst auf dem Buchdeckel angibt – „nach einer älteren Idee bearbeitet“ sei, mit einem Titel versehen hat, der im Erscheinungsjahr 1909 zweifellos unmittelbar die zeitgenössisch in der Öffentlichkeit des Kaiserreichs viel diskutierten Ereignisse in der Kolonie Südwestafrika assoziieren lassen musste.4 Hier lassen sich zumindest zwei Antworten geben: Zum einen schreibt Lang seine Burleske auf diese Weise allein über die Verwendung des Begriffs „Herero“ in Lang. Ebd., S. 1. 3 Vgl. zu kolonialen Völkerschauen Honold, S. 357 – 375, und Mergenthaler. 4 Zum öffentlichen Diskurs über den Kolonialkrieg der Jahre 1904 bis 1907 und die Vernichtung der Herero vgl. Brehl (2009). 1 2
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einen seinerzeit höchst virulenten Diskurs ein. Zum anderen lässt diese Strategie darauf schließen, dass jener Begriff nach 1904 zu einer Art Kollektivsymbol für das „ganz Andere“, das „Fremde“, „Unzivilisierte“ und „Wilde“ avanciert war. Dies führt nun zu einer Anschlussfrage: Welche diskursiven Mechanismen konstituierten jenes Bedeutungsensemble, auf das Lang über die schlichte und hinsichtlich der Story seines Stücks zunächst keineswegs zwingend evidente Zitation des Begriffs „Herero“ rekurrieren konnte? Eben das Wissen über jenen „ganz Anderen“, „Unzivilisierten“ – gegen den nun „das Eigene“, die „Zivilisation“ zu verteidigen war und dies schließlich auch mit letzter, radikaler Konsequenz, nämlich durch eine Politik der Vernichtung? Im Folgenden soll das Dispositiv solcher Narrative der Vernichtung in den Blick genommen werden. In der Perspektive einer Kultur- oder Diskursgeschichte politischer Ideen wird dabei nach den Voraussetzungen und Bedingungen der Genese solcher Narrative gefragt werden, mit denen eine Politik der Vernichtung nicht allein legitimiert werden konnte, sondern in denen eine solche Politik nachgerade legitim und gegebenenfalls sogar vorbildlich erschien. Es wird also zum Beispiel der Frage nachgegangen werden, inwiefern Entwicklungstheorien, die seit dem späten 18. Jahrhundert in verschiedenen Disziplinen virulent waren – von der Geschichtsphilosophie über die Lehre von der Entstehung der Arten bis hin zu ersten protosoziologischen Überlegungen –, zur Etablierung eines allgemein akzeptierten, kollektiven Wissens5 beigetragen haben, vor dessen Folie das Töten von Einzelnen, aber schließlich auch die Vernichtung von Bevölkerungsgruppen oder ganzer Völker als gerechtfertigt, ja, als notwendig erscheinen konnte. Meine Überlegungen folgen dabei der These, dass ein Genozid nicht durch den Willen und die Macht kleiner fanatischer Gruppen ermöglicht wird, sondern nur dann durchführbar ist, wenn die Vernichtungspolitik gesellschaftlich anschlussfähig legitimiert werden kann; das heißt, dass sie auch in breiten Bevölkerungsschichten zustimmungsfähig und die Exklusion der Opfergruppe aus den allgemein verbindlichen Normen und Werten in einer Gesellschaft konsensuell geteilt wird. Exemplifiziert wird dies anhand eines kolonialen Beispiels, nämlich der Darstellung, Deutung und Legitimierung der Vernichtung der Herero und Nama in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwestafrika in den Jahren 1904 – 1908:6 anhand einzelner Quellentexte sollen Argumentationsstrukturen dekonstruiert und zudem versucht werden, ihre expliziten und impliziten intertextuellen und interdiskursiven Rekurse nachzuzeichnen. Wie also wurde in der Öffentlichkeit des deutschen Kaiserreichs ein Konsens darüber hergestellt, dass die Vernichtung „eingeborener Völker“ grundsätzlich gerechtfertigt sei? Wie wurden Evidenzen gestiftet und welche Rolle spielte für diese 5 Zum Konzept des Wissens und seiner Verwendung im Kontext der vorliegenden Analyse vgl. den Abschnitt „Literatur und sozio-kulturelles Wissen“ in Brehl (2007), S. 52 – 72. 6 Zur Geschichte des deutschen Kolonialkriegs in Südwestafrika sowie zur Vernichtung der Herero und Nama vgl. als Überblick: Zimmerer/Zeller.
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Konsensbildung der Rekurs auf Paradigmen eines etablierten und akzeptierten, weil letztlich wissenschaftlich sanktionierten Wissens? In einem zuerst 1895, also ein knappes Jahrzehnt vor dem sogenannten Hererokrieg unter dem Titel Durch Afrika von Ost nach West7 erschienenen Reisebericht des späteren Gouverneurs von Deutsch-Ostafrika Gustav Adolf von Götzen findet sich eine Passage, die als Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen dienen soll, weil sie hinsichtlich der Strukturen ihrer Argumentation sowie der Mechanismen und Strategien der Evidenzstiftung im Kontext kolonialer Diskurse um 1900 prototypisch ist: „Oft hört man […] den Einwurf: mit welchem Recht aber drängt man sich jenen Wilden auf und erzieht ihnen künstlich neue, unbekannte Lebensbedürfnisse an? Mit welchem Recht erklärt man seine Besitzrechte über ihre Gemeinwesen, und warum hat man den ‚glücklichen Frieden‘, der dort herrschte, bevor die Kultur dort hinkam, gestört? Nun, ich meine, man braucht als Antwort auf solche Fragen nicht erst anzuführen, dass die christliche Religion mit dem Gebot ‚Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker‘ das Hineintragen des Christenthums und der ihm stets folgenden Civilisation in jene Länder vorschreibt, man braucht auch nicht an das Naturgesetz des ‚survival of the fittest‘ zu erinnern, um ein Verschwinden oder ein Anpassen solcher Völker an höhere Gesittung zu verstehen. Man braucht nur einfach die Gegenfrage zu stellen: ob es wohl gerecht ist, dass jene Menschen, die nichts zur Fortentwicklung der Menschheit thun, die unproduktiv und träge ihr Leben führen, alleinige Besitzer und Bewohner von ungeheueren, fruchtbaren Ländern bleiben sollen, in denen neben ihnen noch Millionen anderer Menschenkinder ihren Lebensunterhalt finden könnten, während in der civilisierten Welt der Raum von Jahr zu Jahr enger wird für Alle, die da producieren, arbeiten und dafür leben wollen?“8
Auffallend an dieser Passage ist zunächst einmal, dass ein möglicher Einwand gegen die Legitimität der kolonialen Expansion zum Anlass genommen wird, diese zu begründen und für gerechtfertigt zu erklären, womit die Diskussion um die Legitimität des kolonialen Projektes scheinbar in den kolonialen Diskurs selbst verlagert wird. Die Gegenposition fungiert dabei allerdings ausschließlich als auslösendes Moment: Eigengewicht wird ihr nicht zugestanden, sie wird nicht diskutiert, sondern depotenziert. Bereits die Wendung „Nun, ich meine, man braucht als Antwort auf solche Fragen nicht erst anzuführen, dass“ oder die Phrase „Man braucht nur einfach die Gegenfrage zu stellen“, mit denen die eigene Argumentation eingeleitet wird, suggerieren, dass eine Gegenargumentation im Grunde gar nicht notwendig sei, da die kolonialkritische Position offensichtlich außerhalb eines allgemein gültigen Wissens argumentiere, an das umgekehrt der pro-koloniale Diskurs anschließe. Der über diese Wendungen konnotierte Verweis auf gültiges Wissen, wird dann in der Argumentation selbst expliziert: Als Antwort auf einen möglichen Einwand werden in der zitierten Passage drei für die kollektive Rede über koloniale Ex7 8
v. Götzen, S. 35. Ebd., S. 35.
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pansion typische Argumente angeführt, die auf jeweils unterschiedliche, um 1900 virulente Diskurse verweisen. Zunächst rekurriert Götzen zur Begründung kolonisatorischer Expansion mittels eines Zitats von Matthäus 28,19 („Gehet hin in alle Welt …“) auf den christlichen Missionsauftrag. Dieses theologisch-missionarische Muster wird dabei unmittelbar mit einem kultur-evolutionistischen Argument verwoben, da, so die Argumentation des Textes, Mission und Zivilisation stets untrennbar miteinander verbunden seien. Die Zivilisierung der „Wildnis“, die Forcierung eines Gesetzes kultureller Höherentwicklung, werden auf diese Weise theologisch fundiert. Auffällig ist dabei, dass das kultur-evolutionistische Argument eines zivilisatorischen Fortschritts zudem über das zitierte Schlagwort vom „survival of the fittest“ mit einem dem darwinistischen Diskurs entlehnten biologistischen Muster verschränkt wird: die „Anpassung an höhere Gesittung“, also ein Sozial- oder Kulturevolutionismus, wird als „Naturgesetz“ entworfen. Als drittes, und in Götzens Argumentationsstrategie zentrales Legitimationsmuster, wird ein im weitesten Sinne geschichtsphilosophisches bzw. geschichtstheoretisches Argument angeführt: Die „Eingeborenen“ der kolonisierten und noch zu kolonisierenden Regionen tragen nichts zur Fortentwicklung der Menschheit und damit zum Fortschritt der Geschichte bei. Diesem geschichtsphilosophischen Muster weist Götzen besondere Evidenz zu, da es allein als Begründung für die Notwendigkeit des „Verschwinden[s] solcher Völker“ bereits ausreiche. Mit diesem letzten Argument schließt Götzen an die in universalhistorischen Entwürfen seit der Aufklärung virulente Idee von einer einzigen, universal gültigen Geschichte an, in deren Zentrum der handelnd gestaltende Mensch stehe – wobei sich mit dem Begriff „Mensch“ durchaus exklusive Vorstellungen verbanden, etwa eine weiße Hautfarbe, Kultur, Bildung usw. –, und die zudem auf ein bestimmtes, festumrissenes Ziel zulaufe: Die „allgemeine Humanität“ bei Herder, die Weltgesellschaft der vernunftgeleiteten Weltbürger bei Kant, die der „geistreichen Denker“ und „gebildeten Weltmänner“ bei Schiller oder später, bereits unter dem Einfluss biologistischer Diskurse, die möglichst hohe „intellectuelle Entwickelung“ der Menschheit bei Eduard von Hartmann. Gemeinsam ist diesen unterschiedlichen Ansätzen, dass die Geschichte von Völkern, die nichts zum Vollzuge des Naturplans der Geschichte beitrügen, grundsätzlich als episodisch – oder wie Herder formuliert hatte: als „vorübergehend“ betrachtet wird. Bedeutsamkeit und Wertigkeit jeder einzelnen Geschichte werden allein an ihrem Beitrag zum Vollzuge jenes angenommenen Geschichtsprozesses gemessen. Die Virulenz dieser Vorstellung um 1900 und ihre Wirkmächtigkeit sind, wie sich anhand zahlreicher geschichtsphilosophischer Texte zeigen ließe, nicht zu unterschätzen. So notierte der Historiker Kurt Breysig im März 1896 während einer Reise nach Erfurt hinsichtlich einer zu konzipierenden Universalgeschichte – durchaus in enger und absichtsvoller Anlehnung an Herders Entwurf einer „Universalgeschichte der Bildung der Welt“, formuliert in dessen Journal meiner Reise im Jahr 1769:
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„Für die universale Geschichte aber denke ich mir als die wichtigste Aufgabe: Die großen Entwicklungsphasen in ihrem Charakter zu erkennen – […] die innersten Errungenschaften der Literatur, des Rechts, der Religion, der Kunst aufzuspüren – im tollen Wirrwarr der politischen Geschichte das Allgemeine abzuschöpfen (niemals einzelne Kriege, einzelne Könige schildern wie die bisherige Historie, sondern das typische finden) […] Aber die geistige Kultur würde mich am meisten anziehen … Alle bisher links liegen gelassenen Kulturvölker – Chinesen, Inder, Altmexikaner – heranzuziehen. […] Schwarze – nicht.“9
Bemerkenswert an dieser kurzen Passage ist, jenseits der homogenisierenden universalhistorischen Vision, dass die „Schwarzen“ und damit die afrikanische Geschichte mit der schlichten Ellipse „Schwarze – nicht“ aus dem Ensemble historisch bedeutsamer Entwicklungen und Geschehnisse exkludiert werden. Eine prototypische Festschreibung hatte dieses Argumentationsmuster in Georg Wilhelm Friedrich Hegels zwischen 1822 und 1831 entstandenen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte erfahren, in denen eine vollständige Vor-Geschichtlichkeit, wenn nicht gar Geschichtslosigkeit Afrikas konstatiert wird: „Denn es [Afrika] ist kein geschichtlicher Weltteil, es hat keine Bewegung und keine Entwicklung aufzuweisen, und was etwa in ihm, das heißt, in seinem Norden geschehen ist, gehört der asiatischen und europäischen Welt zu. […] Was wir eigentlich unter Afrika verstehen, das ist das Geschichtslose und Unaufgeschlossene, das noch ganz im natürlichen Geiste befangen ist“.10
Parallel zu dieser Festschreibung ihrer Geschichtslosigkeit und eng mit ihr verbunden, wurde auch eine spezifische Kulturlosigkeit afrikanischer Völker konstatiert. Bereits mehr als ein halbes Jahrhundert vor Hegels Ausführungen über die Geschichtslosigkeit der schwarzafrikanischen Völker hatte mit Immanuel Kant ein anderer kanonisierter deutscher Philosoph die Kulturfähigkeit afrikanischer Völker als überaus fragwürdig beschrieben, somit ihren möglichen Beitrag zur Entwicklung der Geschichte zurückgewiesen, um über diesen Aspekt schließlich zugleich ein Differenzkriterium zwischen Völkern zu konstatieren. So führte er in den zuerst 1764 in Königsberg erschienenen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen aus: „Die Negers von Afrika haben von der Natur kein Gefühl, welches über das Läppische stiege“ und konstatierte im Anschluss an David Hume, „daß unter den Hunderttausenden von Schwarzen […], obgleich deren sehr viele auch in Freiheit gesetzet werden, dennoch nicht ein einziger jemals gefunden worden, der entweder in Kunst oder Wissenschaft, oder in irgend einer anderen rühmlichen Eigenschaft etwas großes vorgestellt habe, obgleich unter den Weißen sich beständig welche aus dem niedrigsten Pöbel empor schwingen, und durch vorzügliche Gaben in der Welt ein Ansehen erwerben.“11 Den Unterschied zwischen Weißen und Schwarzen entwirft Kant nicht als einen graduellen, etwa als Unterschied zwischen Kulturtechniken, sondern als einen prinzipiellen, als einen Breysig, S. 92 f. Hegel, S. 163. 11 Kant, S. 880. 9
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Unterschied hinsichtlich der Kulturfähigkeit, der ebenso groß sei „als der Farbe nach“.12 „Kultur“, und zwar die Kultur des aufgeklärten Europa, wird zum Maßstab eines Weltbürgertums,13 an dem Völker und Gemeinschaften gemessen und gewertet werden. Dieses hier nachgezeichnete geschichtsphilosophische Argumentationsmuster wird in dem zuvor zitierten Text von Götzen durch den Aspekt des Lebensraums ergänzt, ein Zentralmotiv des Kolonialdiskurses seit Mitte des 19. Jahrhunderts, das ja bekanntlich durch den zum Schlagwort gewordenen Titel von Hans Grimms 1926 erschienenem Roman Volk ohne Raum seine größte Popularisierung erfahren sollte. Festzuhalten ist an dieser Stelle zunächst, dass in der zitierten Passage Kolonialismus und schließlich auch koloniale Gewalt in eine als allgemeingültig gesetzte und wissenschaftlich bewiesene Entwicklung eines universalen, auf den kulturellen Fortschritt der Menschheit angelegten Geschichtsprozesses eingeordnet werden. Das „Verschwinden“ der „Schwarzen“ wird als ein mögliches und gerechtfertigtes Element im Vollzuge jenes Naturplans des Geschichtsprozesses beschrieben, als Beschleunigung eines ohnehin unabwendbaren Sterbens der Völker am Rande der Geschichte. Bedeutsam ist zudem, dass Götzen seine Argumentation an verschiedene sozial relevante wissenschaftliche Diskurse – die Geschichtstheorie und die Darwinsche Evolutionstheorie – anbindet, um die eigenen Ausführungen mittels einer Verweistechnik zu validieren, ja die Legitimität des kolonialen Programms geradezu aus diesen Diskursen abzuleiten: Indem Götzen das koloniale Programm an gesellschaftlich als allgemeingültig akzeptierte, d. h. konsensfähige Diskurse anschließt, wird seine eigene Rede gesellschaftlich anschlussfähig und somit gleichfalls konsensfähig. Die Struktur dieser Argumentation steht nicht wie ein Monolith in der Diskurslandschaft um 1900. Vielmehr ähneln zahlreiche zeitgenössische Texte zum Kolonialismus dieser Argumentation bis zur Austauschbarkeit. Die Gültigkeit dieser Wissensmuster war dabei nicht ausschließlich auf kolonialistische, ja nicht einmal auf rechtskonservative und ausdrücklich nationalistisch gesinnte Kreise beschränkt. Auch in Verlautbarungen der eher kolonialkritisch gesinnten Linken des Reiches finden sich analoge Argumentationsstrukturen, und zwar selbst dort, wo eine koloniale Eroberungspolitik ausdrücklich verurteilt wird. In einem kurzen Text zum Thema Der Socialismus und die Colonialfrage,14 den Eduard Bernstein im Jahr 1900 in den eher dem rechten Flügel der SPD nahestehenden, aber keineswegs genuin kolonialpropagandistischen „Sozialistischen Blättern“ publizierte, wird dem „Kolonialchauvinismus“ eine deutliche Absage erteilt und die Sozialdemokratie zum „natürliche[n] Anwalt der Eingeborenen“15 erklärt. Dies 12 Ebd. 13 Vgl. zu diesem Aspekt der aufklärerischen Konzeption des Weltbürgertums Dabag (2000), insbesondere S. 64 ff. 14 Bernstein (1900).
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hinderte Bernstein allerdings nicht daran, zuvor festzustellen, dass „die höhere Kultur gegenüber der niedern stets das größere Recht auf ihrer Seite [hat], gegebenenfalls das geschichtliche Recht, ja, die Pflicht, sich jene zu unterwerfen.“16 Dies wird aus einem historischen Prozess abgeleitet, als dessen Triebkraft Bernstein den Raumbedarf starker „Rassen“, ihrer Ökonomien und Kulturen zu erkennen glaubt.17 Evidenz verleiht Bernstein dieser Argumentation, indem er sie scheinbar in die Perspektive wissenschaftlicher Disziplinendiskurse rückt: „So interessant die Vertreter niederer, ursprünglicher Kulturen für den Ethnologen sein mögen, so wird der Soziologe sich keinen Augenblick besinnen, ihr Zurückweichen vor den Vertretern höherer Kultur für notwendig und weltgeschichtlich gerecht zu erklären.“18 15
Auch Bernstein weist dem Kolonialismus also eine Legitimität zu, die er aus dem notwendigen Fortschritt einer einheitlichen Weltgeschichte schließt. Er spricht sogar davon, dass es ein „ethisches Recht des Stärkeren“ gäbe, das keinesfalls „irgend welchen Schwärmereien für das Schwache, Untüchtige, Unentwickelte, Stehengebliebene“19 geopfert werden dürfe. Aus einer Akzeptanz des Rechtes der höheren Kultur, die zugleich das ethische Recht des Stärkeren konstatiere, könne man zu einer, so Bernstein, „humanitären und vernünftigen Auffassung vom Kampf ums Dasein zwischen den Völkern und Rassen“20 gelangen. Auffällig ist zudem, dass den niederen und darum zu kolonisierenden Völkern kein Existenzrecht um ihrer selbst willen zugesprochen wird: Ihre Anwesenheit in den Kolonien, ihre Existenz erscheint allein aufgrund eines – bei Bernstein zudem in der Möglichkeitsform formulierten – Interesses der Ethnologen gerechtfertigt. Dabei wird in der kurzen Passage eine Art interdisziplinärer Diskussion simuliert – zwischen Ethnologen und Soziologen –, wobei das Forschungsinteresse der Ethnologie den Notwendigkeiten des Geschichtsprozesses, die dem Soziologen sofort einleuchten würden, untergeordnet wird. Für „keineswegs notwendig“ hält Bernstein dagegen, dass der Prozess der Geschichte, „das Zurückweichen von Kultur vor Kultur […] mit dem Verschwinden der minder entwickelten Rassen und Nationalitäten verbunden“ sein müsse.21 Ausgeschlossen oder kritisiert wird die Möglichkeit des „Verschwindens“ der „Eingeborenen“ jedoch nicht – und bleibt somit auch hier als letztlich „weltgeschichtlich gerechtfertigte“ Konsequenz des kolonialen Programms legitim. Solche Argumentationsmuster finden sich auch im Kontext der Mission, insbesondere der Missionswissenschaft.22 So hatte bereits im Jahr 1888 der Missionar 15
Ebd., S. 561. Ebd., S. 551. 17 „Jede kräftige Rasse, kräftige Wirtschaft mit der auf ihr beruhenden Cultur strebt nach Ausbreitung, nach Expansion“ (ebd.). 18 Ebd., S. 552. 19 Ebd., S. 551. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 552. 22 Zum Zusammenhang von Mission und kolonialer Gewalt vgl. die Aufsätze in van der Heyden/Becher. 16
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und Missionstheoretiker Alexander Merensky in seiner vielbeachteten Schrift mit dem Titel Europäische Mission und Christentum gegenüber dem südafrikanischen Heidentum23 die Missionstätigkeit unmissverständlich als einen notwendigen Vernichtungskampf entworfen. In Merenskys Schrift lesen wir, dass zunächst das „ganze Volksleben eines Heidenvolkes […] erst umgewandelt, seine Eigentümlichkeit vernichtet werden“ müsse, „ehe die Kultur das innerste Herz und Mark eines Volkes erreicht, wo doch der Sitz des Aberglaubens zu suchen ist. Das Christentum greift bei seiner Missionsarbeit gleich diese innerste feste Burg des Heidentums an.“24 Die Voraussetzung für eine kulturelle Hebung und Missionierung des Afrikaners bestehe also in der Vernichtung „seiner Eigentümlichkeiten“. Ziel der Missionsarbeit, so Merensky mit bedeutungsschwerer Anspielung auf Luthers Kirchenlied Ein feste Burg ist unser Gott, sei daher die Schleifung der „innerste[n] feste[n] Burg“ des afrikanischen Heidentums. Missionsarbeit ist Kriegshandwerk, so lässt sich Merenskys bellizistischer Diskurs sicherlich lesen, ohne der Textvorlage dabei Gewalt anzutun. Der Fluchtpunkt dieser missionarischen Kriegführung, die von Merensky über den Rekurs auf den bellizistischen Diskurs entworfen wird, sei allerdings nicht die physische Vernichtung des Afrikaners, sondern die Vernichtung seiner kulturellen Eigenständigkeit. Ganz analog zu den bei Bernstein und Merensky zu beobachtenden Argumentationsmustern sollte im Jahr 1910 der Anthropologe Leonhard Schultze (1872 – 1955) über die Vernichtung der Herero und Nama sowie über eine „Inwertsetzung“ der Überlebenden reflektieren: „Der Ethnolog mag es beklagen, daß ein so charakteristisch ausgeprägtes Stück Menschentum, wie es die einzelnen Stämme Deutsch-Südwestafrikas, besonders die Herero und Hottentotten in ihrer körperlichen, geistigen und politischen Eigenart darstellten, einst erinnerungslos eingeschmolzen sein wird, um, mit dem Zeichen des Reichsadlers und des christlichen Kreuzes versehen, mit der Aufschrift ,farbige Arbeiter‘ wieder neu in Kurs gesetzt zu werden. Der Kampf um unsere eigene Existenz läßt aber keine andere Lösung zu. Arbeit ist zugleich für jene die einzige Rettung; wer nicht arbeiten will, kommt auch bei uns unter die Räder; wir haben keinen Grund, in Afrika sentimentaler zu sein, als wir in Europa sind. Die wir auf dem Grabe jener Rassen unsere Häuser bauen, sollen es nur doppelt so streng mit der Pflicht nehmen, für den Fortschritt der Kultur, das ist für die größte Auswertung aller Daseinsmöglichkeiten, in diesem Neuland kein Opfer zu scheuen.“25
Das Programm einer „Vernichtung“ bleibt somit auch in den der Vernichtungspolitik der Schutztruppe vordergründig kritisch entgegenstehenden Diskursen gültig.26
Merensky. Ebd., S. 16. 25 Schultze, S. 295. 26 Vgl. hierzu auch Böttger, S. 23 – 53. 23
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In der nach 1904 publizierten Literatur über den „Herero-Krieg“27 ist diese Argumentationsstruktur, bei je unterschiedlichen Akzentsetzungen auf einzelne ihrer Elemente, charakteristisch für eine Legitimation der Vernichtungsstrategie. So wird in Adolf Fischers 1915 erschienenem, von einem deterministischen Geschichtsbild und kulturmorphologischen Theorien bestimmten Essay Menschen und Tiere in Deutsch-Südwest, der die Geschichte des südwestlichen Afrika seit der Vorzeit als Geschichte eines langsamen Sterbens von Land, Tieren und Menschen erzählt, die mit den Jahren 1904 – 1907 schließlich ihren Abschluss gefunden habe, insbesondere das geschichtsphilosophische Legitimationsmuster explizit auf die Vernichtung der Herero und Nama übertragen: „Es war der Kampf zwischen alter und neuer Zeit. […] Von Süden und Norden erfolgte der Druck auf Farbige und Wild. Sie wurden vernichtet oder in Grenzland gedrängt. Den Deutschen trifft keine Schuld. Er war der zufällige Erbe des Feldes, das längst vor ihm im Todeskampf lag. Dieselbe Kraft, die ihn [den Deutschen] zur Herrschaft brachte, fegte das Alte, Schwache, Seltsame in Afrika vom Platz.“28 Die Vernichtung der „Eingeborenen“ wird hier als zwangsläufiges Ergebnis der historischen Entwicklung gedeutet, in der den deutschen Kolonialherren die Rolle des Vollstreckers eines Planes der Geschichte zugeschrieben wird. Im Gegenzug charakterisiert Fischer die Völker Südwestafrikas über ihre Bereitschaft, in ihr als historisch notwendig festgeschriebenes Schicksal einzuwilligen: so wertet er das „Geschick“ der Herero als „erschütternd“, da sie, „todesgemut vor den Feuerschlünden der modernen Zeit oder in der grausigen Dürre des Sandfeldes“ starben. Die Nama dagegen hätten die Entscheidung – so Fischer – zweihundert Jahre zuvor suchen müssen, „um in Ehren unterzugehen“. Ihr „Schicksal“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts wertet er daher als einen „verspäteten Tod“, der jeder Tragik entbehre.29 In diesem Kontext ist dann auch eine Passage aus dem wohl erfolgreichsten und für die Produktion eines in weiten Kreisen des gebildeten Bürgertums der Wilhelminischen Zeit wenn nicht allgemein geteilten, so doch zumindest weithin anschlussfähigen Bildes von der Vernichtung der Herero bedeutsamsten Roman über den Kolonialkrieg der Jahre 1904 – 07 anzuführen. Es handelt sich hierbei um Gustav Frenssens Buch Peter Moors Fahrt nach Südwest. Ein Feldzugsbericht aus dem Jahr 1906. In einer Passage dieses Romans wird geschildert, wie während der Verfolgung der Herero durch die sogenannte deutsche Schutztruppe im Sandfeld eine Gruppe von „hilflos verschmachtenden“, noch lebenden, aber bereits von Fliegen bedeckten Greisen, Verwundeten, Frauen und Kindern aufgebracht wird, die als pars pro toto für ein zum Tode bestimmtes, aber nicht sterben könnendes Volk 27 Zur deutschen Kolonialliteratur über den Hererokrieg und den Genozid an den Herero vgl. Brehl (2007). Zur literarischen Rezeption des Hererokriegs, inbesondere seit Ende des Ersten Weltkriegs bis ins Jahr 2004 vgl. Hermes. Zur Kolonialliteratur im Kontext des Nationalsozialismus und ihrer Verschränkung mit Mustern des antisemitischen Diskurses vgl. Ebner. 28 Fischer, S. 92 f. 29 Ebd., S. 92.
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stehen. Ihnen werde nun – so Frenssen – von den deutschen „Schutztrupplern“ und ihren Treibern „zum Tode verholfen“.30 Was zunächst wie eine euphemistische Wendung erscheinen mag, kann als Metapher für einen den evolutionistischen Deutungen universalhistorischer Entwürfe inhärenten Humanitätsgedanken gelesen werden, in dem das Töten der „Eingeborenen“ zum philanthropischen Gnadenakt umgedeutet wird. Dicht unter der Oberfläche der Argumentationslinie, die sich in diesen Passagen abzeichnet, liegen Vorstellungen, in denen zivilisatorische Muster mit biologistischen Parametern verschränkt, ja zu einer gewissen Deckungsgleichheit gebracht und zu einer Theorie der Geschichte verschmolzen werden. In seiner zuerst 1869 erschienenen, später immer wieder erweiterten und schließlich auf drei Bände angewachsenen Philosophie des Unbewußten31 hatte der bereits erwähnte Eduard von Hartmann (1842 – 1906) diesen Gedanken programmatisch formuliert. Hartmann folgert aus dem von ihm entworfenen allgemeinen Evolutionismus das notwendige Aussterben der „inferioren Menschenracen, welche als stehen gebliebene Reste früherer […] Entwicklungsstufen bis heute fortvegetirt haben.“32 Da ihr Verschwinden als ein notwendiges Gesetz der Geschichte beschrieben wird, sei „keine Macht der Erde“ dazu im Stande, ihre „Ausrottung […] aufzuhalten.“33 Folglich liege in dem Versuch, „den Todeskampf der aussterbenden Wilden künstlich zu verlängern“ genauso wenig Menschlichkeit, wie „dem Hunde, dem der Schwanz abgeschnitten werden soll, ein Gefallen damit geschieht, wenn man ihn allmählich Zoll für Zoll abschneidet.“34 Wahrhaft philanthropisches Verhalten bestehe im Gegenteil darin, die Ausrottung der von Geschichtsprozess und Evolution zum Untergang verurteilten Völker aktiv zu beschleunigen.35 Als probate Mittel empfiehlt Hartmann die Unterstützung der Mission, die unwillentlich bereits viel zu diesem „Naturzweck“ beigetragen habe, sowie „directe Vernichtungsarbeiten der weissen Race gegen die Wilden“.36 So schauderhaft diese Perspektive auch sei, fährt Hartmann fort, so großartig erscheine sie jedoch vom teleologischen Standpunkt
30 Frenssen, S. 162. Zur Bedeutung von Frenssens Roman im Kontext der Etablierung eines in weiten Kreisen der Wilhelminischen Gesellschaft anschlussfähigen Bildes der Kolonialkriege in Südwestafrika und der Vernichtung der Herero vgl.: Brehl (2009), hier insbesondere S. 186 – 195. 31 v. Hartmann. Der „Philosophie des Unbewußten“ war ein überaus großer Erfolg beschieden: Bis zum Tode Hartmanns im Jahr 1906 erreichte das Buch elf Auflagen, und im Jahr 1914 wurde im Alfred Kröner Verlag Leipzig eine von Wilhelm von Schnehen bearbeitete und gekürzte Volksausgabe mit vereinfachtem Text publiziert. 32 v. Hartmann, Erster Teil: Phänomenologie des Unbewußten, S. 331. 33 Ebd. 34 Ebd. 35 Ebd. 36 Ebd.
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„im Hinblick auf das Endziel einer möglichst hohen intellektuellen Entwickelung. Man muß sich nur an den Gedanken gewöhnen, daß das Unbewußte durch den Jammer von Milliarden menschlicher Individuen nicht mehr und nicht weniger als von dem ebensovieler tierischer Individuen sich beirren läßt, sobald diese Qualen nur der Entwickelung und damit seinem Endzweck zugute kommen. […] Was ist dies Schicksal oder diese Vorsehung denn weiter als das Walten des Unbewußten: des historischen Instinktes bei den Handlungen des Menschen, der solange aushilft, als ihr bewußter Verstand noch nicht reif genug ist, die Ziele der Geschichte zu den seinen zu machen.“37
Mit der Vernichtung der „inferioren Menschenracen“ werde also kein Verbrechen begangen, sondern ein Beitrag zum Vollzug der Gesetzmäßigkeiten der Geschichte geleistet – Hartmann nennt dies: „sich die Ziele der Geschichte zu eigenen machen“ – und den zum Untergang bestimmten Völkern wird nebenher gewissermaßen ein Dienst erwiesen, indem man ihr Leiden verkürzt. Gut 70 Jahre vor Hartmanns Philosophie des Unbewußten war ein Gedicht mit dem Titel Die Frucht am Baume veröffentlicht worden, in welchem sich die bei Adolf Fischer, Gustav Frenssen und Eduard von Hartmann nachgewiesene Kon struktion metaphorisch formuliert findet: Ich ging im schönsten Zedernhain Und hörete der Vögel Lied, Bewundernd ihrer Farben Glanz, Bewundernd ihrer Bäume Pracht – Als plötzlich aus der Höhe mich Ein Ächzen weckte. Welch Gesicht! – Ein Käfig hing am hohen Baum, Umlagert von Raubvögeln, schwarz Umwölket von Insekten.– Als Die Kugel meines Rohres sie Verscheucht, sprach eine Stimme: „Gib Mir Wasser, Mensch! Es dürstet mich.“ – Ich sah den menschenwidrigsten Anblick. Ein Neger, halb zerfleischt, Zerbissen; schon ein Auge war Ihm ausgehackt. Ein Wespenschwarm An offnen Wunden sog aus ihm Den letzten Saft. Ich schauderte. Und sah umher. Da stand ein Rohr Mit einem Kürbis, womit ihn Barmherzig schon sein Freund gelabt. Ich füllete den Kürbis. – “Ach! Rief jenes Ächzen wieder, Gift Darein tun, Gift! du weißer Mann! Ich kann nicht sterben.“38 37 Ebd. 38
Herder, S. 674 f.
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Verfasser dieser Zeilen war der Weimarer Pfarrer Johann Gottfried Herder. Auch in diesem Text, der zu den ironisch Neger-Idyllen benannten Gedichten in der 1797 erschienenen zehnten Sammlung der Briefe zur Beförderung der Humanität zählt, steht ein einzelner „Schwarzer“ für ein zum Sterben bestimmtes, aber nicht sterben könnendes Volk. Allerdings geht der Autor dieser Verse nicht so weit, wie es Hartmann oder Frenssen in ihren Texten vorschlagen: Der angesprochene „weiße Mann“ beschleunigt das Sterben des zum Tode verurteilten „Schwarzen“ nicht aktiv, sondern verlässt ihn, um Hilfe zu holen – eine Bemühung, die jedoch nicht von Erfolg gekrönt ist. Der Versuch, das Leben des „Negers“ „künstlich zu verlängern“ – wie Hartmann formuliert hatte –, erscheint auch in diesem Gedicht als aussichtslos: Als der „Weiße“ schließlich zu dem „sterbenden Schwarzen“ zurückkehrt, ist dieser bereits tot. Bedeutsam sind nun die abschließenden Zeilen des Gedichtes, in denen nicht etwa die Unmöglichkeit einer Rettung beklagt wird, sondern die mögliche Beschleunigung des Sterbens ebenfalls als humanitärer Akt entworfen wird: Er war gestorben. – Hatte dich, Unglücklicher, mein Trank zum Tode Gestärket, o so gab ich dir Das reichste süßeste Geschenk.39
Ordnet man nun die hier angeführten Textpassagen in umgekehrter Reihenfolge, so können sie als Genealogie einer diskursiven Exklusion der „Schwarzafrikaner“ und damit nicht zuletzt als Genealogie eines legitimatorischen Diskurses oder sogar als diskursive Legitimation ihrer Vernichtung gelesen werden, ohne damit Herder bereits eine solche Intention unterstellen zu wollen. In diesem Zusammenhang wird noch ein weiteres Beispiel angeführt, um nochmals einen Aspekt herauszustellen, der in den bisherigen Überlegungen eine wichtige Rolle gespielt hat, aber vielleicht doch noch stärker akzentuiert werden sollte: Der Aspekt der Einschreibung eines aktuellen Gewalthandelns und der Partizipation an ihm in einen übergeordneten, allgemeinen Sinnhorizont – und zwar mittels eines Rekurses auf klassische, kanonisierte Texte. Dabei beziehe ich mich auf das Tagebuch des am Krieg in Deutsch-Südwestafrika beteiligten Schutztruppenoffiziers Stuhlmann. Stuhlmann, der in seinem Tagebuch wiederholt auf seine Kultiviertheit und auf seine Bildung verweist, war selbst kurz vor der Schlacht am Waterberg (11. August 1904) im Schutzgebiet eingetroffen, und ihm waren natürlich die Verfolgungsmaßnahmen gegen die Herero in ihrer gesamten Konsequenz durchaus präsent. In diesem Tagebuch findet sich eine kurze Passage, die – trotz aller in ihr reproduzierten rassistischen Stereotype – auf den ersten Blick sehr wenig mit einer Politik der Vernichtung zu tun zu haben scheint: „Als besonders echte Hottentotten-Schönheit wird die Dame betrachtet, welche durch lange Rassenzüchtung eine besonders mächtige Rundung des – Verzeihung! – Gesäßes aufweist. Die glücklichen Mütter 39
Ebd., S. 675.
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tragen dann auch ihre Kinder reitend auf Hüfte oder besagtem Körperteil und reichen ihnen auch so die Brust. – ‚da wendet sich der Gast mit Grausen…!‘“40 Interessant ist, und dies ist der Punkt, an dem ich in den Text einbreche, dass der „Autor“ des Tagebuchs seine Beschreibung mit einem verkürzten Zitat enden lässt. Dieses Zitat ist im Tagebucheintrag als ein solches gekennzeichnet. Zudem wird die Fortführung des zitierten Gedankens durch drei Punkte offensichtlich andeutet – womit dem impliziten Leser des Tagebuchs (selbst wenn es sich allein um den Tagebuchschreiber selbst handeln sollte) eine Fortführung des Gedankens angeraten wird. Bei dem Text, den der seine Bildung stets betonende Stuhlmann zitiert, handelt es sich um den Schluss von Schillers Ballade Der Ring des Polykrates, die sicherlich zum Pool des bildungsbürgerlichen Kanons um 1900 gerechnet werden darf. Das vollständige, vom Bildungsmenschen Stuhlmann nur angedeutete Zitat lautet: Hier wendet sich der Gast mit Grausen: ‚So kann ich hier nicht ferner hausen, Mein Freund kannst du nicht weiter sein. Die Götter wollen dein Verderben; Fort eil’ ich, nicht mit dir zu sterben.‘ Und sprach’s und schiffte schnell sich ein.41
Sicherlich erhält die Passage des Tagebuchs durch das angedeutete Zitat einerseits einen ironisierenden Charakter. Andererseits gewinnt der Text, der offen mit um 1900 gültigem ethnologischen Wissen42 und rassischen Stereotypen operiert, durch die im angedeuteten Zitat ausgesprochene Vision eines gottgewollten Untergangs, der nun auf die als pars pro toto für die autochthone Bevölkerung, zumindest aber für die Nama stehende „Hottentottenfrau“ übertragen wird, im Kontext des Kriegsgeschehens und der auf Vernichtung abzielenden Strategien der deutschen Schutztruppe eine fatale Bedeutungsdimension. Interessant ist eben, dass der „Untergang“ durch den Rekurs auf einen „klassischen Text“ als gottgewollt und damit zwangsläufig, unabwendbar und gerechtfertigt entworfen wird. Im Anschluss an den geschichtsphilosophischen Diskurs der Moderne wird in kolonialer Rede eine Linie diskreter Unterscheidung konstruiert „zwischen dem Zitiert nach: Krüger, S. 84. Schiller. 42 So etwa im Verweis auf die als „Fettsteißigkeit“ oder „Steatopygie“ bezeichnete, von Ethnologen als solche wahrgenommene physiognomische Besonderheit von Nama-Frauen. Diese war dem in den 1920er Jahren erschienenen „Deutschen Kolonial-Lexikon“ immerhin gleich zwei Einträge wert, wobei der Interessent unter dem Begriff „Fettsteißigkeit“ zunächst nur auf das entsprechende Fachwort verwiesen wird (vgl. Schnee, Bd. 1, S. 610). Unter dem Eintrag „Steatopygie“ findet sich dann eine ganzspaltige, sowohl hinsichtlich der morphologischen als auch organischen Dimensionen recht detailreiche Beschreibung des besagten Körperteils. Ergänzt und validiert wird das Ganze durch einen Verweis auf empirische Untersuchungen (Sektionen) und auf Forschungsliteratur (ebd., Bd. 3, S. 402). Zu guter Letzt kann sich der interessierte Leser dann auch noch selbst mittels einer Schautafel von den Dimensionen der „Steatopygie bei Hottentottinnen“ überzeugen (ebd., Bd. 3, Tafel 183). 40 41
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was leben, und dem was sterben muss“,43 wobei diese Linie in der Logik der Texte als eine Signatur der Geschichte selbst erscheint. Betrachtet man somit die Elemente zivilisatorischer, geschichtstheoretischer Modelle und ihre „Validierung“ durch biologistische Entwicklungstheorien, wie sie in kolonialen Kontexten wirksam sind, zeichnet sich eine, auf wissenschaftlich produziertes, zumindest wissenschaftlich gestütztes Wissen rekurrierende Genealogie einer diskursiven Exklusion „eingeborener Völker“ ab und damit nicht zuletzt die Genealogie eines legitima torischen Diskurses oder sogar einer diskursiven Legitimation ihrer Vernichtung. Damit sollen nicht simplifizierend die Aufklärer als Vordenker der Vernichtungspolitik und die gesamte europäische Ideen- und Wissensgeschichte schlicht als eine zwangsläufig auf Vernichtung und letztlich die Shoah zurasende Maschinerie reduziert und denunziert werden – womit letztlich die teleologischen Muster, mit denen Politiken der Vernichtung legitimiert wurden, implizit verdoppelt, wenn nicht sogar bestätigt würden. Bedeutsam ist jedoch, dass Elemente der Geschichtsphilosophie Herders oder auch Kants und Hegels als herausragende Eckpunkte deutschen „Kultur- und Gedankengutes“ – womit nicht auf eine hierarchische Ableitung verwiesen werden soll, sondern auf eine spezifische Breite und Anschlussfähigkeit der Argumentation –, die in elementarer, möglicherweise auch trivialisierter Form zum allgemeinen Wissen um 1900 gehörten, in Diskursen, in kollektiver Rede zirkulierten, Gültigkeit beanspruchten und politisches Handeln motivieren oder zumindest sinnvoll und legitim erscheinen lassen konnten. Und: Die Argumente, mit denen Vernichtungspolitik gesellschaftlich legitimiert wurde, waren nur deshalb anschlussfähig, nur deshalb konsensfähig, weil sie mit Aspekten allgemein akzeptierter Theorien, schlicht mit wissenschaftlich produzierten „Wahrheiten“ korrespondierten.
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Foucault, S. 301.
Imre Kertész: „Der Holocaust als Kultur“ Von Irene Heidelberger-Leonard Irene Heidelberger-Leonard Imre Kertész: „Der Holocaust als Kultur“
„Der Holocaust als Kultur“? Klingt das nicht absurd? Imre Kertész stellt die Welt auf den Kopf: Diese Formulierung entspringt nicht nur seiner Feder, das Diktum legt sogar den Grundstein zu einer neuen Literatur nach Auschwitz. Der Holocaust sei ein Wert, behauptet Kertész in seinem gleichnamigen Essay, weil er „über unermessliches Leid zu unermesslichem Wissen geführt hat und damit eine unermessliche moralische Reserve birgt.“ Nicht nur ist der Holocaust in Kertész’ Augen ein Wert, er schaffe sogar Werte, und zwar als Quelle von Inspiration etwa vergleichbar mit der griechischen Tragödie oder mit der Bibel. Mit dieser kühnen These konterkariert Imre Kertész Theodor Wiesengrund Adorno: War für Adorno die Kultur nach 1945 als Teil der verwalteten Welt nur negativ besetzt, so ist sie für Kertész der einzige Zufluchtsort des Individuums, um aus der verwalteten Welt auszusteigen. Ja, für Kertész hat der Holocaust in der abendländischen Literatur eine neue Kultur hervorgebracht, eine Kultur, die nach Auschwitz nur noch von Auschwitz sprechen kann. So legt dieses Diktum „Der Holocaust als Kultur“ auch das Fundament für die Deutung von Kertész’ Leben: „Ein[en] seltsame[n] Roman“ nennt er dieses sein Leben, es ist ihm nur sinnvoll als ästhetische Existenz. Geboren wird Kertész in eine kleinbürgerliche jüdische Familie in Budapest, ausgerechnet am deutschen Schicksalsdatum, am 9. November 1929. Der Neunjährige erinnert sich an sonntägliche Spaziergänge mit seinem Vater durch Budapest. Ein Ereignis hat sich in sein Gedächtnis besonders eingebrannt: „Vom Ring her war ein unverständliches Gebrüll zu hören. […] Mein Vater erklärte, dass im nahegelegenen Kino der deutsche Film Jud Süß gespielt werde und dass die aus dem Kino strömende Menge dann Juden unter den Passanten suche und Pogrome veranstalte. … Ich […] hatte das Wort Pogrom noch nie gehört. … Doch was das Wort bedeutete, verrieten mir seine zitternden Hände […].“1 An dieser Szene lässt sich das ambivalente Verhältnis zu seinem Vater erklären. Sie zeigt „den Zusammenbruch der väterlichen Autorität vor dem erschrockenen Knaben, den man […] vom Rand des Abgrunds fernhält, statt zusammen mit ihm hineinzublicken und seine Tiefe auszumessen.“2 Der Vater verschwieg ihm, wie es 1938 um sein Judentum bestellt war, er sei in sein „Judentum hineinbefohlen“ worden. „Das Verhältnis zu meinem Vater“ schreibt er in einer unveröffentlichten Notiz, „ist die Grundformel meines Lebens.“3 Kertész (2008), S. 65. Ebd., S. 66. 3 Vorlass Kertész, Eintrag vom 7. 3. 1982. 1 2
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Zum politischen kam das häusliche Elend. Der Junge wusste sehr wohl, dass er den Eltern „eine Last“ war, denn das Paar trennte sich, und dem Vater wurde das Sorgerecht überlassen. Während die Eltern ihre Scheidung verhandelten, wurde der Fünfjährige in einer privaten Erziehungsanstalt untergebracht. Dem Knaben wurde das Internat Inbegriff des Autoritätsprinzips. Früh entdeckte das einsame Kind das Lesen, die Musik und auch das Schreiben als Versteck vor den Anforderungen der Erwachsenenwelt.4 Er habe damals längst „durchschaut, welch abscheulicher Ort für ein kleines Kind diese Welt ist“.5 „Mit meiner Kindheit“, zieht er Bilanz, „begann das unverzeihliche Gebrochen werden, mein nie überlebtes Überleben.“6 Diese Gewalterfahrung, der er schon als Sohn und Schüler ausgesetzt war, wird für Kertész zu einem Urtrauma mit Auschwitz als seinem Höhepunkt. Im Alter von 14 Jahren, nachdem der Vater schon längst in ein Zwangsarbeitslager eingezogen worden war, wird er, Imre, im Juli 1944 in einen Güterwagen gepfercht, zunächst nach Birkenau und zwei Wochen später nach Buchenwald deportiert, wo er in Rehmsdorf bei Zeitz Sklavenarbeit verrichten muss. Nach monatelangem Hunger und Zementschleppen ist der junge Mann so entkräftet, dass er in den Zustand eines „Muselmanns“ verfällt. Der mit Phlegmonen bedeckte Junge gibt sich auf. Aber gegen alle Wahrscheinlichkeit kommt die Rettung: Vermutet wird, dass polnische und tschechische Pfleger ihn kurz vor der amerikanischen Befreiung gesund gepflegt haben. Genau ist diese Rettung nicht mehr zu rekonstruieren, aber Tatsache ist, dass Imre Kertész’ Häftlingsnummer auf einer Liste erscheint, die die Abgänge der Verstorbenen verzeichnet. In Dossier K bezeichnet er diese Liste als „unanzweifelbaren Hinweis, dass mich irgend jemand aus der Liste gestrichen hatte, damit ich, als jüdischer Häftling, nicht im Zuge der Liquidation des Lagers umgebracht würde.“7 Nach 329 Tagen Haft kehrt er im Juli 1945 nach Budapest zurück, in der Hoffnung, seine Eltern wiederzufinden. Nur seine Mutter hat überlebt, der Vater ist ermordet worden. Imre Kertész probt nun das „normale“ Leben: Erst 1958 hat er seine Bestimmung als Schriftsteller gefunden und kommt zu der Erkenntnis, dass nur „eine Wirklichkeit existier[t]e“, nicht die ihm anbefohlene kommunistische Wirklichkeit sondern „ich selbst, und dass ich aus dieser einmaligen Wirklichkeit meine einmalige Welt erschaffen musste.“8 So wird Kertész’ Leben die Geschichte eines Schriftstellers, der sein Leben in Schrift verwandelt, der sich in jedem Werk neu erschafft, indem er Auschwitz in immer neuen Variationen zum Ausgangspunkt seines gesamten Werkes macht. Tatsächlich ist es allein die Literatur, mit der Kertész sein Katastrophen-Leben beglaubigen kann. Die einzige Chance für den überlebenden Schriftsteller, nach Auschwitz
Gespräch der Autorin mit Imre Kertész, Berlin, Mai 2009. Kertész (2006), S. 130. 6 Ebd., S. 145. 7 Kertész (2008), S. 83. 8 Der überflüssige Intellektuelle, in: Kertész (2004), S. 97. 4 5
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weiterzuleben, sieht Kertész „in der Selbstdokumentierung, in der Selbstanalyse, in der Objektivierung, das heißt in der Kultur“.9 Wenn es wirklich die Selbstdokumentierung ist, die Kertész als Antrieb seines Schreibens ausmacht, dann ist es umso erstaunlicher, dass er mit einer Schrift debütiert, der er den Titel gibt: Ich, der Henker. Stutzig macht an diesem Text die Perspektive, denn Imre Kertész schreibt nicht, wie zu erwarten wäre, aus der Perspektive des Opfers, sondern aus der des Täters. Das Ich, der Henker-Fragment, so heißt es in einer unveröffentlichten Tagebuch-Notiz vom 18. 1. 1959, ist vor allem […] Selbst-Ironie“.10 Die „Selbst-Ironie“ allein erklärt allerdings noch nicht, warum er, Kertész, als Opfer, mit einem Text beginnt, in dem er in die Haut des Henkers schlüpft. Gewiss spielt dabei die Schuld, überlebt zu haben, eine Rolle. Entscheidender aber für Kertész’ Erproben der Täterperspektive dürfte seine Überzeugung sein, dass Opfer und Täter im Totalitarismus austauschbar geworden sind, weil, so Kertész in Dossier K., sie sich beide „von der Bürde der Persönlichkeit“ befreiten.11 Der unschuldige Häftling, der in seiner Überlebensnot mit dem Lagersystem paktiert, der gesetzestreue Stalinist, der aus Zugehörigkeitszwang dem Machtapparat zuarbeitet – sie stehen beide mit dem mörderischen Regime im Bunde. „Die Unschuldigen sind die, die gestorben sind. Aber einer, der das durchlebt hat, kann […] nicht ganz ohne diese allgemeine menschliche Beschmutzung sein.“12 In Kertész’ Augen sind nicht nur die Henker schuldig, auch die Opfer sind nicht frei von Schuld. Beide fügen sich in ihre Schicksallosigkeit. Die These schockiert, da es doch ein gewaltiger Unterschied ist, ob man Böses antut oder Böses erleidet. Noch nie hat ein Überlebender sich so vehement dagegen gesträubt, auf seine Opferrolle reduziert zu werden wie Imre Kertész. Von den zahllosen Varianten dieses ersten Werks, Kertész selber spricht von etwa 400 Seiten,13 lässt er nur ein knapp 20-seitiges Kapitel gelten, das dreißig Jahre später Eingang in den Roman Fiasko findet. Hier legt ein Massenmörder ein Bekenntnis ab, aber es ist nicht ein Schuldbekenntnis, eher ist es eine Anklageschrift, denn Kertész’ Massenmörder ist als Objekt der Geschichte ein Henker wider Willen: „[…] nur die Rolle [ist] wesentlich, die Tatsache, dass der Mensch fähig ist, Henker oder Opfer zu sein, und im Getriebe der Todesmaschinerie wie ein Rädchen funktioniert.“14 Nach drei langen Jahren entscheidet sich Kertész, „den ganzen Ich, der Henker-Komplex beiseite zu legen, und statt dessen“, so heißt es in einer unveröffentlichten Tagebuch-Eintragung vom 18. März 1960 „meine eigene Mythologie zu schreiben – die Geschichte meiner Deportation.“15 Die „eigene Mythologie schreiKertész (2004) S. 81. Kertész, Eintrag vom 18. 01. 1959. 11 Kertész (2008), S. 148. 12 Kertész/Doerry/Hage. 13 Gespräch der Autorin mit Imre Kertész, Berlin, April 2011. 14 Kertész (1993), S. 20. 15 Vorlass Kertész, Eintrag vom 18. 3. 1960. 9
10 Vorlass
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ben“, Mythologie zu verstehen als ein Narrativ, frei von Wert und Zeit. Er wolle von einem 14 Jahre alten „durchschnittliche[n], kräftige[n], gierige[n] Jüngling“ erzählen, „der in ein Konzentrationslager gerät, das körperliche Elend kennen lernt, […] bis er sich mit dem Gedanken des Todes anfreundet – […]. Man lässt ihn aber nicht sterben. […] Seine Kondition wird in Ordnung gebracht, und man schickt ihn nach Hause – und als er zu Hause ankommt, greift […] die Erkenntnis ein, dass nach dem Bann des Todes die Welt der Ziele, der Tätigkeiten und der Verpflichtungen, die pedantische Schule […] falsch, albern und nichtig ist.“16 Am Inhalt seines ersten Romans wird sich auch im Laufe der dreizehnjährigen Niederschrift nichts ändern. Was sich ändert, ist die Art, in der er diesen Inhalt zu vermitteln sucht. Die vorher eingeschlagene Henker-Perspektive weist ihm hierzu den Weg: Ich, der Henker wird zu einer Grundschrift, von der sich alles Zukünftige ableitet. War das Henker-Fragment das Ergebnis einer ersten Inversion der Opfer-Perspektive in ihr Gegenteil, so ist der Roman eines Schicksallosen aus einer zweiten Inversion hervorgegangen.17 Es ist, als hätte sich Kertész erst in einem weiteren Anlauf auf die gemäßigtere Perspektive des Romans eines Schicksallosen einpendeln können, in der der Junge eine Zwischenstellung einnimmt zwischen Opfer und Henker. Eine Perspektive, die versucht, die Logik der Täter zu verstehen. Sein Protagonist erzählt nicht primär seinen eigenen Leidensweg, vielmehr wird er zum Sprachrohr einer exemplarischen Geschichte. Im Galeerentagebuch lesen wir über György Köves: „Wie aber, wenn der Mensch nicht mehr ist als seine Situation, die Situation im ‚Gegebenen‘?“18 Nicht um die Beschreibung der Ereignisse gehe es ihm, das hätten andere vor ihm gemacht. Bei Kertész ereignet sich Auschwitz „Schritt für Schritt“19 – in der Sprache selbst, einer eigens für diesen Ort erschaffenen, einer exterritorialen Sprache, die vom ersten bis zum letzten Satz in einem schwer nachvollziehbaren Verhältnis zu dem Beschriebenen steht. Indem Kertész vom „Glück der Konzentrationslager“20 spricht, sprengt er nicht nur die Opfer/Täter-Dichotomie, sondern er verbietet es auch dem Leser, sich in den vorgeprägten Schreckensbildern gemütlich einzurichten. Kertész’ exterritoriale Sprache scheint stark von einer ihrerseits exterritorialen Musik inspiriert worden zu sein, Schönbergs atonaler Kompositionstechnik: „Was die radikale Musik erkennt, ist das unverklärte Leid des Menschen“,21 schreibt Adorno in seiner Philosophie der neuen Musik, und er fährt fort: „Die seismographische Aufzeichnung traumatischer Schocks wird […] zugleich das technische Formgesetz der Musik.“22 In diesem Sinne wird auch der Junge aus dem Roman 16 Ebd.
von Koppenfels, S. 62 – 74. Kertész (1993), S. 21. 19 Titel des Drehbuchs zum Film, Frankfurt 2002. 20 Kertész (2005), S. 287. 21 Adorno (2003), S. 46 f. 22 Ebd., S. 47. 17 s. 18
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eines Schicksallosen zum Seismographen, er nimmt wahr, artikuliert das Wahrgenommene, aber er fällt kein Urteil. Keine teleologische Rettungsgeschichte wird hier erzählt, in Kertész’ Auschwitz-Welt herrscht der absolute Zufall: Die einen werden sofort in die Gaskammer geschickt, die anderen müssen sich zu Tode schuften. Der Junge hätte genauso gut zu den letzteren gehören können. Wie in Ich, der Henker interessiert Kertész in erster Linie die Dynamik der Zerstörung. Auf welche Weise ist es möglich, dass ein „durchschnittlicher“23 Junge sich zum Komplizen seiner Mörder machen kann? Und er erklärt: Da, wo die Situation so fremd ist, entfremdet sich auch der Mensch von sich selber. Ein Beispiel möge genügen: Kaum wurde der Junge in die Arbeitskolonne geschickt, eignet er sich auch schon den Blick des selektierenden Arztes an. Wenn er überleben will, muss er sich einen Reim auf diese ihm fremde Ordnung machen, er muss in die Haut seiner Henker schlüpfen. Die Genese des Romans eines Schicksallosen vollzieht sich in drei Schritten, die den drei Arbeitstiteln entsprechen: Urlaub im Lager24 ist der erste, ein Titel, der den Erwartungen des Lesers gründlich entgegensteuert. Die Herausforderung sieht Kertész vor allem darin, „durch den Weg des Ausdrucks“25 in die tieferen Schichten dieses Ichs zu tauchen. Dabei staunt er selbst darüber, „dass sich diese bittere Zeit des furchtbaren Elends so verschönert hat […]?“26 Vielleicht sei dieses krankhafte „Wollust-Gefühl die Unverantwortlichkeit, dass wir […] alles dem Zufall“ des Lagerlebens überlassen können, in dem man angesichts des Todes nur zu vegetieren brauche. „Den Menschen in diesem Zustand nannte man Muselmann.“27 Und Muselmann heißt auch der zweite Arbeitstitel.28 Nach der Henkerperspektive nun doch die Opferperspektive? Vollends der Welt des Lebens entfremdet, wartet dieser entmenschte Mensch sehnsüchtig auf den Tod. Hier lehnt Kertész sich eng an Thomas Manns Geschichte von Hans Castorp an, des Protagonisten aus dem Zauberberg, der „den Tod kennenlernt, um ins Leben zurückzukehren.“29 Doch es bleibt nicht beim Titel Muselmann, genauso wenig wie es bei Thomas Mann bleiben wird. Zwei Jahre später gelingt ihm nach der Lektüre von Albert Camus’ Der Fremde der Durchbruch. Der Thomas-Mann-Entwurf, wird zu einer Endfassung umgestaltet, die Camus’ impassibilité, sein pathosloses Pathos neu erschafft. So etwa, wenn es dem Jungen peinlich ist, als die Familie über die Trennung vom Vater Trauer empfindet. Immerhin liefert er die erwarteten Tränen im richtigen Augenblick, als der Vater ihn zum Abschied umarmt.30 Die Fähigkeit, Kertész, Eintrag vom 18. 3. 1960. Ebd., E. v. 18. 3. 1960. 25 Ebd., E. v. 22. 4. 1961. 26 Ebd., E. v. 19. 3. 1960. 27 Ebd. 28 Ebd., E. v. 11. 12. 1960. 29 Ebd., E. v. 21. 3. 1960. 30 Kertész (2005), S. 33. 23 Vorlass 24
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sich an die jeweilige Situation anzupassen, kennzeichnet Romanheld Köves schon vor dem Lager. Und als er in die Maschinerie des Lagers hineingeworfen wird, muss er auch dieser Logik folgen. Der Roman eines Schicksallosen entsakralisiert die Shoa, er restituiert die Sprache. Er enthüllt pietätlos, indem er den Mechanismus des totalitären Systems nachvollziehbar macht. Der Roman ist kein Roman über die Shoa, im Roman ereignet sich die Shoa, der Roman ist ein Ereignis. Im Einklang mit der neuen Tonlage, der impassibilité, pendelt sich auch der dritte und endgültige Titel auf eine Dimension ein, die jenseits der Opfer/Täter-Dichotomie liegt: Schicksallosigkeit, Roman einer Schicksallosigkeit31 soll der Roman nun heißen. „Schicksallosigkeit bedeutet, Menschen werden gezwungen, ein Schicksal zu leben, das […] nicht ihres gewesen ist. Der Junge hat nichts zu tun mit dem Judentum, er hat die Religion nicht selbst gewählt, aber er mußte ein Schicksal […] durchleben, das für die Juden bestimmt war. Dieser Junge, Gyuri Köves, vertritt die Menschheit, denn die Diktatur macht einen Menschen infantil.“32 Der neue Titel will auch die Kádár-Diktatur bloßstellen, auch sie enteignet den Menschen. Das Gegenteil von Schicksallosigkeit ist die „Möglichkeit der Tragödie“,33 die die Freiheit des Subjekts voraussetzt, aber das System Auschwitz scheint die Tragödie unmöglich zu machen. Der Junge kommt am Ende des Romans zu dieser Einsicht: „[W]enn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich: wenn es aber […] die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal, das heißt also […] wir selbst sind das Schicksal […].“34 Und er fügt hinzu: Er „könne die dumme Bitternis nicht herunterschlucken, einfach nur unschuldig sein zu sollen.“35 Wie sein Autor weigert er sich, nur Opfer gewesen zu sein. Auch Kertész’ zweiter Roman, Fiasko (1988), steht im Zeichen seiner Ursprungsschrift Ich, der Henker. Fiasko ist die Geschichte vom Alten, von Steinig, Felsen und Berg – Namen, die auf Camus’ Sisyphos verweisen.36 Der Roman, insbesondere sein erster Teil, unterscheidet sich deutlich vom Roman eines Schicksallosen: Mit seinen Parenthesen und ritualisierten Wiederholungen ist Fiasko die Quintessenz von Selbst-Reflexivität. Es ist ein Text über einen Text, ein Meta-Text. Gegenstand von Fiasko ist der Akt des Schreibens, die Schrift. Und um die Schrift geht es auch dem Protagonisten Berg in Ich, der Henker. Nicht von ungefähr beginnt Bergs Text mit den Worten „Das Schreiben“.37
31 „Roman einer Schicksallosigkeit als möglicher Titel, unbedingt aber als Untertitel“. (Kertész (1993), S. 16). 32 „Ein Roman und sein Schicksal“. Michael Töteberg im Gespräch mit Imre Kertész, in: Kertész (2005), S.295. Vgl. auch Kesting. 33 Kertész (1993), S. 16. 34 Kertész (2005), S. 284. 35 Ebd., S. 285. 36 Camus. 37 Kertész (1999), S. 363.
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Steinig hingegen ist, obwohl auch er schon als Jugendlicher das Lager überlebt hat, zur Zeit, da wir ihn kennenlernen, ein reiner Tor, ein Parzival des 20. Jahrhunderts. Seine Initiationsreise führt ihn in seiner ganzen Ungeschütztheit ins Dickicht der totalitären Strukturen des Rákosi-Regimes, wo er von einer Behörde zur anderen gejagt wird. 38 Wie sein Schöpfer verdingt er sich als Schlosser, Journalist und Lustspiel-Autor. Und wie sein Schöpfer lässt er sich von den politischen Machenschaften seiner Umgebung nie vereinnahmen. So wie Parzivals ganzer Weg auf den Gral ausgerichtet ist, ist Steinig auf der Suche nach „etwas, das unberührt ist“.39 Die Lebensstationen des Alten und Steinigs stimmen im Wesentlichen mit Kertesz’ Lebensstationen überein: Die ungeliebte Schulzeit, die Scheidung der Eltern, der Drill zum Großungartum während der Gymnasialzeit, und dann der Bruch: die Erfahrung im Alter von vierzehneinhalb Jahren „überall und jederzeit erschießbar zu sein“.40 Nach der Befreiung aus dem Lager folgt das Abitur, der Journalismus, die Zeit der musikalischen und literarischen Abenteuer von 1945 bis 1948. Folgen der Militärdienst, das Geldverdienen als Lustspielautor, – und zuletzt die Offenbarung seiner Berufung zum Schriftsteller. Wie im Selbstversuch spielt Kertész hier ein tragikomisches Spiel mit der eigenen Biographie. In einem entscheidenden Akt allerdings, so Kertész selbst im Gespräch, weicht die Biographie Steinigs von derjenigen seines Schöpfers ab. Wie Kertész wird auch Steinig während seines Militärdiensts als Wärter im zentralen Militärgefängnis eingesetzt. In Fiasko lässt Kertész den anfänglich „guten“ Gefängniswärter Steinig zum gewalttätigen Gefängniswärter werden. Der eigentlich Beschädigte, so Kertész’ nicht unproblematische Schlussfolgerung, ist nicht der Geschlagene, sondern der Schläger Steinig. Denn die „chemisch reine Tat“, wird demjenigen, der sie verübt hat, zur „niemals heilende[n] Wunde“.41 Ob auch dieser Schlag zu Kertész’ Biografie gehört, wissen wir nicht, jedenfalls scheint eine dreißig Jahre später verfasste Tagebuchnotiz in Letzte Einkehr dieses offensichtlich für Kertész einschneidende Ereignis zu kommentieren: „Ich hätte Lust, eine Periode meines Lebens zu erzählen; […] den Sündenfall, die schwierige und unverständliche Geschichte, wie ich zum Schriftsteller wurde. Vielleicht sollte ich mit dem Gefängnis beginnen.“42 Sollte etwa Steinigs erster Schlag im Militär-Gefängnis der Sündenfall gewesen sein? Hier wie im Roman eines Schicksallosen wird der entfremdete Mensch Steinig, der sich in das Räderwerk der Staatsmaschine begibt, von ihr zermalmt, das eine Mal als Opfer, das andere Mal als Henker, und nicht selten, wie Berg und Steinig veranschaulichen, beides in einem. Die Aufspaltung der Charaktere in den Alten und Steinig, Steinig und Berg ist als Selbstversuch zu verstehen: Steinig ist, 38 Vgl. Kertész (1993), S. 205: „Ein ekstatischer Einweihungsroman – sagte ich gestern“ (über Das Fiasko. d. A. 39 Ebd., S. 187. 40 Ebd., S. 28. 41 Ebd., S. 427. 42 Kertész (2013), S. 178 (12. 5. 2003).
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wie schon erwähnt, die fiktionalisierte Variante des „jungen“ Alten, und Berg ist die fiktionalisierte Variante des „alten“ Alten. Fazit: der Alte, Steinig und Berg sind Facetten ein und derselben Person. Im Galeerentagebuch beschreibt Kertész die Handlung von Fiasko als „eine Reise in die Erleuchtung“. Der Erleuchtung ist im Roman ein eigenes Kapitel gewidmet: Die Kapitelüberschrift „L“ steht für den L-förmigen Gang, auf dem Steinig einen Augenblick der Inspiration erlebt.43 Eine lebensverändernde Epiphanie, durch die all seine Wertungen in einem einzigen Moment aufblitzen: Einen Roman müsse er schreiben, seinen Roman, koste es, was es koste. „Der Roman [Fiasko]“, erklärt Kertész in Dossier K., „basiert auf einer im Grunde humoristischen Idee. […] Ein Schriftsteller [gelangt] zu der Erkenntnis, daß er gegen sich selbst arbeitet, weil ein schöpferisches Leben mit der Zeit, in der er lebt, nicht vereinbar ist. […] am Ende des Buches […] gerät er genau an dieselbe Stelle – den L-förmigen Korridor –, wo die schöpferische Vision ihn schon einmal erreicht hat: Das kreative Leben erweist sich als unausweichlicher Fluch, und das Ergebnis ist Scheitern, Fiasko.“44 Aber ist das Ergebnis wirklich nur Scheitern? Zwanzig Jahre zuvor, am 8. Mai 1987, befindet sich derselbe Imre Kertész in einem Zustand der Euphorie: „Finita l’opera!! – am Tag des Sieges. – […] Am Ende war es, als schriebe sich der Roman vollkommen von selbst […].“45 Das Notat wird zum Diktat. Die Eigengesetzlichkeit des Schreibprozesses geht einher mit der Selbstsetzung des Autors. Kertész’ Kunst der (scheinbaren) Selbstauslöschung schwelgt in einer Ästhetik der Gegensätzlichkeit: Da sind Es und Ich, Niederlage und Sieg, Scheitern und Gelingen keine Widersprüche. Kertész macht daraus kein Geheimnis: „Mein Verhältnis zur Welt ist ausschließlich subjektiv und ethisch bestimmt. Daraus schöpfe ich meine Leidenschaft […] ich will keinen Ausgleich. Ich will […] die Opposition; das Schicksal, aber mein Schicksal, das ich mit niemandem gemein habe und das mit nichts verwandt ist.“46 Diese kompromisslose Subjektivität, die den Ausgleich verpönt und die Opposition zelebriert, erreicht ihren Höhepunkt in Kertesz’ nächstem Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. „Das Fiasko“, schwört Imre Kertész noch mitten in der Niederschrift, „ist der letzte Roman, den ich […] im Zeichen der nackten Existenz schreibe.“47 Aber Kaddisch für ein nicht geborenes Kind ist in seiner perfekten paranoiden Logik, entgegen Kertész’ Absicht, alles andere als ein Abschied von der „nackten Existenz“. Das Totengebet, wenn es denn eines ist, der ritualisierende Rhythmus, die Refrains, die direkte Anrede mal an das imaginäre Kind, mal an Gott, schließlich das Amen als Schlusspunkt des Romans, all diese Stilmittel stellen die „nackte Existenz“ des Protagonisten B. geradezu aus. Allerdings preist der Kertész (1999), S. 431 – 439 und S. 33 f. Kertész (2008), S. 140. 45 Kertész (1993), S. 225. 46 Ebd., S. 90. 47 Ebd., S. 189. 43
44
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betende B. weder Gott noch die Schöpfung, noch preist er Vater oder Mutter, wie sich das für eine Kaddisch-Waise gehörte. Das „Nein“, mit dem B. den Kaddisch eröffnet, ist ein Fluch. B.s Entladung ist ein Anti-Gebet, es nimmt die Schöpfung zurück. Das Nein des Protagonisten B., Schriftsteller und literarischer Übersetzer wie sein Erfinder, ist ein Nein zur Nachkommenschaft, ein Nein zur Liebe, ein Nein zur Ehe. Der Roman ist auch eine musikalische Komposition, die nicht nur auf Celans Todesfuge aufbaut, der Text ist selbst eine Todesfuge in Prosa. Der „Spaten“ in Celans Gedicht wird in Kaddisch zur Schreibfeder, um das Grab in immer neuen Anläufen tiefer zu stechen. So werden das Schreiben und die Bestellung des Grabes unentrinnbar verwoben. Nur dass die Freiheit, die B. für seine Arbeit beansprucht, letztlich in seiner Freiheit zur „Selbstliquidierung“48 besteht. Mit dem Kaddisch-Ich hat Kertész eine Figur gestaltet, in der sich der Zivilisationsbruch des 20. Jahrhunderts kristallisiert. Nicht von ungefähr spricht die Kertész-Forschung seit Erscheinen von Kaddisch für ein nicht geborenes Kind von einer „Trilogie der Schicksallosigkeit“.49 Als autobiographische Variationen verschiedener Lebensabschnitte sind die drei Romane Bollwerke gegen die Schicksallosigkeit: Der Roman eines Schicksallosen konzentriert sich auf die Inhaftierung und Befreiung des Jugendlichen in den Jahren 1944/1945, Fiasko greift vor und spult zurück innerhalb der Zeitspanne von 1948 bis 1988. Die Erzählzeit von Kaddisch mag 198750 einsetzen, die erzählte Zeit betrifft die Vergangenheit von der Kindheit bis zur Auflösung der Ehe. Der Junge im Roman eines Schicksallosen findet sich mit seiner Situation ab; der Erwachsene in Kaddisch, der in Auschwitz sozialisiert wurde, stellt Ich und Welt mit jedem Satz in Frage. Kaddisch für ein nicht geborenes Kind ist die summa eines beschädigten Lebens, wie Adorno es definiert: B.s Geschichte ist tatsächlich die exemplarische Geschichte des „perennierende[n] Leiden[s]“, das „soviel Recht auf Ausdruck“ hat, „wie der Gemarterte zu brüllen“.51 Die einzelnen Stationen seiner Beschädigung lässt der Protagonist Revue passieren: die „pädagogische Diktatur“ im Knabeninternat, gefolgt von der „warmherzigen Schreckensherrschaft“ des Vaters im Alter von zehn Jahren.52 Kafkas Brief an den Vater liest sich wie ein Prätext zu Kaddisch, schon allein durch die Art und Weise wie Kertész die psychischen Wurzeln von Macht und Abhängigkeit bloßlegt.53 B., alias Kertész, will es scheinen, als handele es sich bei den Varianten der Schreckensherrschaft, denen der Knabe ausgesetzt war, nur um Vorstadien einer Krankheit, die in Auschwitz zu ihrer vollen Blüte ge-
Kertész (2006), S. 70. Bán. 50 Kertész (1993), S. 226: „Vor zwei Tagen habe ich […] mit dem Kaddisch begonnen“. 51 Adorno (1982), S. 355. 52 Ebd., S. 141. 53 Vgl. Stach, S. 321. 48
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langte. „Auschwitz […] erschien mir später bloß als Übertreibung jener Tugenden, zu denen ich von frühester Kindheit an erzogen worden war.“54 Auschwitz ist die Norm. Das „Unerklärbare ist nicht das Böse“, provoziert B. seine Freunde, „im Gegenteil: es ist das Gute.“55 Nicht das Leben von Diktatoren interessiere ihn, sondern einzig das Leben der Heiligen, denn dafür, dass sie sich einer mörderischen Wirklichkeit verweigert hätten, gebe es keine rationale Erklärung. Ein solcher Heiliger sei der so genannte „Herr Lehrer“ in Buchenwald gewesen. Gegen jede Vernunft habe er sein eigenes Leben riskiert, indem er dem todkranken Jungen dessen Ration Brot zurückgebracht habe, die ihm fälschlicherweise zugefallen war. Dieser Lehrer sei ein Erleuchteter, auch er suche, wie Steinig in Fiasko, nach „etwas, das unberührt ist“.56 Die Erleuchtung zelebriere das Unvorhersehbare, den Spalt, der die Freiheit erblicken lässt innerhalb der schlimmstmöglichen Determiniertheit, sie zelebriere die Rückeroberung des Ichs als einen neuen Schöpfungsakt. So schwankt B.s Weltsicht zwischen finsterster Finsternis und hellem Kinderglauben. Selbst in der Apokalypse seines univers concentrationnaire, wo nur der Abgrund zu klaffen scheint, bestaunt der Protagonist von Kaddisch das Unzerstörbare im Menschen, das, was den Menschen zum Menschen macht. In Dossier K. meint der Befragte, die „Todessehnsucht“ sei der „Urgrund“ von Kaddisch.57 Urgrund für den Urgrund aber ist sein Judesein, das sich zum ersten Mal in Kertész’ Werk so ungeschützt äußert. Ihm selber bedeute sein Judentum nichts, ja, er „pfeife“58 auf sein Judesein, schleudert er seiner Frau entgegen, womit er ein Judentum im Sinne religiöser Zugehörigkeit meint. Judentum als Erfahrung aber, bedeute ihm alles: „[A]usschließlich unter diesem einen Gesichtspunkt betrachte ich es […] als besonderes Glück, sogar als Gnade […], dass ich als gebrandmarkter Jude die Möglichkeit hatte, in Auschwitz zu sein, so dass ich auf Grund meines Judentums etwas durchlebt […] habe und etwas weiß, […]von dem ich […] nie lassen werde“.59 An anderer Stelle heißt es: „Ich wurde durch mein Judentum in die allumfassende Welt der negativen Erfahrung eingeweiht; denn alles, was ich auf Grund meiner jüdischen Erfahrung durchmachen musste, betrachte ich als Initiation; eine Initiation in das höchste Wissen um den Menschen und die Situation des Menschen unserer Zeit.“ 60 Im Sinne dieses „höchsten Wissens“ wird Kertész der „Holocaust zur Kultur“.61 Die Einsicht in die äußerste Negativität ist für ihn Vorbedingung utopischen Denkens: „Wenn der Holocaust in unseren Tagen eine Kultur hervorgebracht hat – wie es nun einmal unleugbar geschehen ist und geKertész (2006), S. 145. Ebd., S. 56. 56 Kertész (1999), S. 187. 57 Kertész (2008), S. 180. 58 Ebd., S. 154. 59 Ebd. 60 Kertész (2004), S. 144. 61 Ebd., S. 76 – 89. 54 55
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schieht – dann kann seine Literatur daraus […] Inspiration schöpfen, auf dass der nicht zu wiedergutmachenden Realität Wiedergutmachung entsprieße – der Geist, die Katharsis.“62 In Liquidation (2003), Kertész’ viertem Roman, ist von Katharsis keine Spur. Im Gegenteil, der Titel kündigt den schlimmstmöglichen Ausgang bereits an. „Wie […] sieht die Geschichte aus?“ fragt Kertész in Letzte Einkehr: „[…] B., der Schriftsteller, Medium von Auschwitz, zerstört im Zeichen von Auschwitz sein eigenes Leben und das Leben seiner Frau; er erkennt, was er getan hat, und schreibt ihrer beider Geschichte nieder, um gewissermaßen Buße zu tun und Läuterung zu bewirken“.63 Aber Liquidation ist bei allen Korrespondenzen das Gegenstück zu Kaddisch, vor allem in ästhetischer Hinsicht: Kaddisch war ein Wurf, der Roman war die Quintessenz der Angst, um mit Adorno zu sprechen. Liquidation hingegen ist eine Konstruktion, der Roman redet über die Angst.64 Liquidation ist nicht nur die umfassende Chiffre für Auschwitz, die die Selbstliquidation von B. einschließt; mit dem Titel wird zugleich auf die Liquidation des Kádár-Regimes, die Liquidation des Verlags, den B. leitete, und die Liquidation des Romans, den B. hinterlassen hat, angespielt. Am Schluss soll die Liquidation selbst liquidiert werden. Das Besondere dieses Romans besteht darin, dass der Zusammenbruch des Ostblocks und die Shoah zusammengedacht werden. Dabei intensiviert paradoxerweise die Wende von 1990 die Anstrengung, die Shoah zu begreifen, und der in Auschwitz geborene Protagonist wird noch unausweichlicher auf seine Erfahrungen von Auschwitz zurückgeworfen. Inszenierte Kaddisch für ein nicht geborenes Kind das Drama der „letzten Dinge“, so liest man Liquidation eher als literarische Versuchsanordnung. Mit Liquidation wird aus der Trilogie der Schicksallosigkeit eine Tetralogie. So ist Liquidation Fortsetzung von Kaddisch und Abschluss in einem: B.s Geschichte bis zu seinem Freitod entfaltet sich in einer von ihm verfassten „Komödie in drei Akten“,65 die – wie der Roman – den Namen Liquidation trägt. Dieses Theaterstück, das all das vorwegnimmt, was sich tatsächlich nach B.s Freitod ereignet, wird in den Roman eingebaut – es macht de facto den Roman aus.66 In Liquidation ahmt das Leben die Kunst nach. Und B. ist in Liquidation der Autor von Kaddisch. B. hat diesen Roman vor seinem Freitod Judit anvertraut. In seinem Abschiedsbrief an Judit schreibt B.: „Dir kommt es zu, diese Schrift zu verbrennen […]: Dir, die […] durch mich so tief von Auschwitz verwundet worden ist.“67 Judit verbrennt den Roman, entziffert aber noch in den Flammen B.s Botschaft an sie: „… und mittels der durch
62
Ebd., S. 88 f. Kertész (2013), S. 34 (22. 4. 2001). 64 Vgl. Adorno (1966), S. 129. 65 Kertész (2003), S. 12. 66 Ebd., S. 12 – 137. 67 Ebd., S. 131. 63
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erlittene Qualen erworbenen Ermächtigung nehme ich für Dich, allein für Dich, Auschwitz zurück …“68 „Auschwitz zurücknehmen“ aus Liebe zu Judit? B.s Geste kann nur eine gegenteilige Wirkung haben, denn mit ihr bindet er die geschiedene Frau, die sich längst in einem dem Leben zugewandten Leben eingerichtet hat, mehr an sich, als er es zu Lebzeiten vermochte. Nichts wird zurückgenommen, es liegt nicht in B.s Macht. Das einzige, was in B.s Macht liegt, ist durch seine Forderung auch Judits neues Leben zu zerstören, sie endgültig mit sich in den Abgrund zu reißen. So ist B., der allgegenwärtige Tote, auch in seiner Abwesenheit allmächtig; allmächtig, den ihm nächsten Menschen zu zerstören. So wie Kaddisch ein Zwiegespräch mit Paul Celan ist, kann Liquidation als Dialog mit Jean Améry gelesen werden.69 Amérys Essays, die Kertész während der Niederschrift von Liquidation neu entdeckt, sind für ihn „eine große Offenbarung […].“ In Amérys Schriften erkennt Kertész sich wieder: „[B]esonders ‚Über Zwang und Unmöglichkeit, Jude zu sein‘ beschäftigt mich – der Titel faßt meine eigene condition humaine zusammen.“70 Erst im Akzeptieren des Zwangs öffnet sich für Kertész und für Améry der Weg zum aufrechten Gang. Schon 1992 hatte sich Kertész in seinem Essay Die Panne. Der Holocaust als Kultur mit Jean Améry auseinandergesetzt; in dieser Hommage erklärt er Améry zu einem „Heiligen des Holocaust“.71 So wie der Lehrer in Kaddisch, wird nun auch der Protagonist B. aus Liquidation zu einem Heiligen des Holocaust. Und wie stellt sich Kertész einen Heiligen vor? Ein Heiliger ist jemand, der aus seiner Auschwitz-Geschichte radikal „die Konsequenz gezogen hat“.72 Er ist jemand, „der nach seinen eigenen Gesetzen lebt.“73 Zu Kertész’ Romanwerk gehören auch seine Tagebücher74. Es sei schließlich noch der Versuch unternommen, diese vier Tagebücher in all ihrer Unterschiedlichkeit Galeerentagebuch, Ich ein anderer, Dossier K. und Letzte Einkehr zumindest in groben Zügen zu skizzieren. Das Galeerentagebuch liest sich wie ein Bildungsroman, es ist die Geschichte eines Ichs, das sich sucht und findet. In den ersten zwanzig Jahren von 1960 bis 1980 werden Denk- und Werkgeschichte eng miteinander verschränkt. Nicht selten liest sich das Galeerentagebuch wie ein Begleitbuch zum Roman eines Schicksallosen. Der Alltag wird ausgeklammert. Kertész’ Geheimnis ist seine Fähigkeit, eine ironische Distanz zu halten zwischen seinem gelebten und seinem erschriebenen Ich. Initiationsromane sind sie alle, auch die Tagebücher, gewebt wird am gleichen Lebensteppich, sie bilden bei 68 Ebd.
Poetini; ferner: Kalisky und Siguan. Kertész (2013), S. 134 (15. 7. 2002). 71 Kertész (2004), S. 77. 72 Kertész (2003), S. 33. 73 Ebd., S. 49. 74 Nicht berücksichtigt werden konnte hier das letzte Tagebuch Kertész, Imre: Der Betrachter, Aufzeichnungen 1991 – 2001, Reinbek 2016. 69 Vgl. 70
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wechselnder Beleuchtung eine Einheit. Schon mit dem ersten Eintrag im Galeerentagebuch wird tabula rasa gemacht: „Vor einem Jahr habe ich mit der Arbeit am Roman angefangen“ – gemeint ist der Roman eines Schicksallosen „Alles muss weggeworfen werden.“75 Was folgt, ist nichts weniger als das Erschreiben der eigenen Schöpfungsgeschichte. Selbstdarstellungen sind immer Stilisierungen. Kertész äußert sich nicht als privates Ich, sondern als Schriftsteller, der sich als exemplarische Person versteht. Letztlich ist das Galeerentagebuch ein poetisches Manifest, denn wollte man seine weitgefächerten Überlegungen auf einen Nenner bringen, so geht es Kertész primär darum, in immer neuen Anläufen die ethischen und ästhetischen Gesetze einer Kunst nach Auschwitz auszuloten. Nach den zwei ersten Teilen, die immer wieder um Tod und Selbstmord kreisen, steht der letzte Teil des Galeerentagebuchs im Zeichen des Lebens. Kertész’ Schöpfungsgeschichte mündet in eine Erlösung, eine Erlösung durch eigene Kräfte. „Mein absurdes und ausgeliefertes Leben […] ist von vitalem Elan angetrieben, und meine sogenannte Persönlichkeit versucht zu steuern; doch von wem oder wodurch es dann ins Joch gespannt wird und wozu letztendlich, das bleibt ein Rätsel. Und die Kluft zwischen mir und mir wird größer und größer.“76 Diese „Kluft zwischen mir und mir“ gibt Kertész’ zweitem Tagebuchroman, der die Jahre 1991 bis 1995 umspannt, seinen Titel: Ich – ein anderer (1997). Es feiert die Öffnung des Ostblocks oder anders ausgedrückt Ich – ein anderer ist ein „Roman der Befreiung“.77 In Ich – ein anderer begegnet der Leser dem Menschenfreund Kertész, der die Bejahung probt. Ich – ein anderer ist ein Bekenntnis zum Leben, wenn auch ein schwieriges. Die geschichtliche Zäsur des Systemwechsels fällt mit der privaten Zäsur, mit dem Erleben einer neuen Liebe zusammen. In Ich – ein anderer gibt es wesentlich mehr Außenwelt als im Galeerentagebuch. War das Galeerentagebuch eher in Moll gestimmt, so ist die Tonlage des zweiten Tagebuchromans dezidiert in Dur. Um sein neues Leben in vollen Zügen genießen zu können, müsse er sich verwandeln – „doch in wen, in was?“78 Der politische Umbruch führt gleichzeitig zum Zusammenbruch seiner bisherigen Lebenskoordinaten, seiner Einsamkeit, seiner geistigen als auch materiellen Askese. Er erinnert sich an das Davor, als sein Schöpfungsdrang die Verhältnisse des Staatssozialismus zu übertrumpfen wusste. Tatsächlich stürzt die Wende Kertész in eine Schreibkrise. Sein drittes Tagebuch, Dossier K. (2006), – K. für Kertész, K. für Kafka? – wirkt leichtfüßiger. Es strahlt trotz der grundlegenden Erkenntnis „überall und jederzeit erschießbar zu sein“79 ein seltsames Weltvertrauen aus. Kein triumphales, eher ein Weltvertrauen, das von den Absurditäten des Überlebens am eigenen Leib Kertész (1993), S. 8. Gemeint ist der Roman eines Schicksallosen. Ebd., S. 299 f. 77 Kertész (2008), S. 227. 78 Ebd., S. 8. 79 Ebd., S. 16.
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zu berichten weiß. Anders als in den beiden vorangegangenen Büchern gibt es in Dossier K., zumindest im ersten Teil ein chronologisches Gerüst; man spürt, wie Kertész daran Gefallen findet, seine eigene Biografie in Szene zu setzen. Das Galeerentagebuch, Ich – ein anderer und Dossier K. sind im Prinzip drei Bände eines autobiographischen Romans. Immer steht das Schreiben im Zentrum, aber das Verhältnis zu ihm könnte unterschiedlicher nicht sein. Im Budapest der Diktatur, in der Illegalität, ist das Schreiben für Kertész eine existentielle Frage. Der Systemwechsel scheint ihm das Schreiben ungleich schwerer zu machen, aber mit der Niederlassung in Berlin fängt ein neuer Lebensabschnitt an, hier wartet die „Glücksfalle“ auf ihn. In Letzte Einkehr, geschrieben auf dem Höhepunkt seiner schriftstellerischen Laufbahn, die im Oktober 2002 mit dem Nobelpreis für Literatur gekrönt wird, offenbart Kertész den absurden Zusammenprall zwischen äußerem Weltruhm und innerem Gebrochensein. Das Altern, die Parkinson-Krankheit und nicht zuletzt die bedrängenden Rollenspiele des Nobelpreisträgers scheinen sich so geballt gegen den kreativen Künstler zu verbünden, dass er sich nicht selten nach seiner winzigen Schreibklause zurücksehnt, wo er in Armut und Einsamkeit seiner Berufung ungestört nachgehen konnte. Er verzweifelt an der Diskrepanz zwischen kometenhaftem Aufstieg auf der literarischen Weltbühne und schwindender Kreativität. Letzte Einkehr ist aber auch eine Liebeserklärung an das gute Leben, an Berlin, an das Reisen in die weite Welt. Dann wiederum überkommen ihn grundlegende Zweifel: Aber „[w]er und was bin ich überhaupt?“.80 Unbeantwortbar bleibt dies die zentrale Frage in seinem gesamten Werk. Eines freilich steht fest: „([I]ch bin nicht länger Holocaust-Clown)“.81 Wie in Galeerentagebuch, Ich – ein anderer und Dossier K. wird das Schreiben als seine einzige Identität besungen. Aber das ist nur die eine Stimme. Die Gegenstimme tönt lauter: Sie beklagt den Niedergang, auch im Schreiben. Der Terror des physischen Verfalls scheint die Oberhand gewonnen zu haben. Sollte auch der alternde Kertész, wie sein Seelenbruder Améry, „an die Grenzen des Geistes“82 gekommen sein? Nicht immer, wie dieser letzte Eintrag vom 14. Juli 2009 nahelegt: „[N]och befallen mich ab und zu die alten bekannten Glücksanfälle,“83 was ihn nicht davon abhält, eine Seite weiter mit folgender Überschrift aufzuwarten: Exit-Tagebuch.84 So geraten die Tagebücher 2001 – 2009 trotz der Liebeserklärungen, zur Seismographie eines Abbaus. Kertész macht kein Hehl daraus: Letzte Einkehr – Tagebuch wie Romanprojekt – ist ein Todesbuch. Überschaut man die schriftstellerischen Stufen, die Imre Kertész in sechs Jahrzehnten durchlaufen hat, kann man nur staunen über die Radikalität eines Werkes, das sich nicht primär, wie gemeinhin angenommen, auf „Auschwitz“ als „das 80
Ebd., S. 411 (5. 8. 2007).
81 Ebd.
Titel von Jean Amérys erstem Essay in Améry. Kertész (2013), S. 429 (14. 7. 2009). 84 Ebd., S. 430. 82 83
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Erduldete“ beruft, „sondern“ auf „das Militärgefängnis“, auf „die Situation des Henkers, des Täters“.85 Als ein geradezu brutal gegen sich selbst gerichtetes Denken, fügt es sich zusammen zu einer großen Erzählung, um nicht zu sagen zu einem Kertész-Mythos. Kertesz‘ zentrale These zeigt, wie der Totalitarismus, der in Auschwitz seine Kristallisation findet, auf die Auslöschung des Subjekts als Individuum zielt.86 Die Literatur aber zielt auf die Restitution des Subjekts. Spielt der Roman eines Schicksallosen im Konzentrationslager, handeln Fiasko, Kaddisch und Liquidation von Überlebenden, die ihre KZ-Erfahrung und ihr Judesein im Danach reflektieren. Letzte Einkehr ist die Fortsetzung von Kertész’ „Lebens-Roman“. Obwohl in der Berliner Jetztzeit angesiedelt, lässt er alle Themen noch einmal aus der Perspektive der Zukunft erklingen, einer Zukunft allerdings, die Imre Kertész sich nur als den Tod vorzustellen vermag. Dabei besteht seine Originalität nicht in dem, was er erzählt, sondern wie er es erzählt. Kertész’ Thema hat Kertész’ literarische Leistung zu lange verdeckt.87 Erst wenn die literarischen Formen begriffen werden, die Kertész in unablässiger Reflexion für jedes Werk neu geschaffen hat, wird man seinem Werk gerecht werden.
85
Ebd., S. 69 (9. 8. 2001). Schoenthaler, S. 133 – 144. 87 Vgl. Péter Nádas im Vorwort zu Kertész (2004), S. 9. Péter Nádas sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt für die inspirierenden Gespräche, die ich mit ihm in Budapest im Mai 2010 habe führen dürfen. 86 Vgl.
Genozid als philosophisches Problem Von Roy Knocke Roy Knocke Genozid als philosophisches Problem
„Ein philosophisches Problem hat die Form: ,Ich kenne mich nicht ausʻ“, so lautet Ludwig Wittgensteins Prüfstein dafür, ob wir es mit einem genuin philosophischen Tatbestand zu tun haben.1 Folgen wir diesem Gedanken, scheint das Phänomen Genozid nicht dazu geeignet, ein philosophisches Problem zu sein. Wie komplex auch immer das Verhältnis von „Tätern, Opfern, Zuschauern“2 in genozidalen Gesellschaften ist, ein philosophisches Problem scheint daraus nicht zu entstehen. Es scheint nur eine Frage fortschreitender historischer Detailforschung, bis das Zusammenspiel von Handelnden entflochten ist und Entstehung und Verlauf eines Genozids historisch darstellbar werden. Zu einer solchen Sichtweise hat in den letzten drei Jahrzehnten auch das Feld der „Genocide Studies“ mit seinen zahlreichen Publikationen beigetragen.3 Jedoch ist dieses Bild brüchig geworden: Nicht nur eine inflationäre Verwendung von Genozid im alltagssprachlichen Diskurs, um politischen Forderungen Aufmerksamkeit zu verschaffen, stimmt skeptisch ob der Reichweite des Begriffs, sondern gerade die detaillierte quellenbasierte Forschung deckte eine Vielschichtigkeit bei der Beschreibung von Genoziden auf und regte methodologische Diskussionen an, die bis heute anhalten.4 Als sich das Feld der „Genocide Studies“ in den 1980er Jahren zu formieren begann und komparative Aspekte als Gegenbewegung zur Dominanz der „Holocaust Studies“ anmahnte,5 konstatierte der Philosoph und Rabbi Emil L. Fackenheim: „Philosophers have all but ignored the Holocaust.“6 Er untermauerte diese Feststellung mit zwei methodischen Überlegungen: Zum einen verweist Fackenheim auf die Einzigartigkeit der Schoah, die primär eine Angelegenheit der Historiker sei statt der Philosophen, die eher „attuned to universals“ sind.7 Da außer der Schoah keine anderen Fälle von 1
Wittgenstein, S. 302. dieser unterkomplexen Einteilung siehe Hilberg (1990). Kritisch dazu Ehrenreich/
2 Zu
Cole. 3 Einen Überblick über die gewachsenen Publikationen bietet die vierbändige Ausgabe von Bartrop/Jacobs. 4 So fordert der Historiker Christian Gerlach, den Begriff wegen seiner willkürlichen Nutzung und analytischen Schwäche zu verabschieden und stattdessen die Analysekategorie „extrem gewalttätige Gesellschaften“ anzunehmen. Vgl. Gerlach, Extrem, S. 14 – 16. Eine ähnliche Kritik findet sich auch bereits in Kundrus/Strotbek. 5 Vgl. Levene und Weiss-Wendt. 6 Fackenheim, S. 505. 7 Ebd.
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Genozid in seinem Blickfeld sind, ist es ein einzigartiges Phänomen, das Philosophen weniger interessiert. Zum anderen hätten sich Philosophen zwar partikulären historischen Ereignissen zugewandt, wie etwas Hegel oder Marx der Französischen Revolution, jedoch nur, wenn diese positiv konnotiert waren. Ereignisse, die nicht unter eine Form von Fortschritt subsumiert werden können oder eher negative Wirkungen auf die Gesellschaft hatten, fanden keine Beachtung.8 Aus gegenwärtiger Sicht lässt sich diese Diagnose nicht mehr vollständig teilen. In den letzten Jahrzehnten sind zahlreiche Beiträge erschienen, die aus unterschiedlichen Perspektiven philosophische Implikationen der Schoah reflektieren.9 Dennoch sind die Erkenntnisse der historischen Forschung bezüglich einzelner Genozide und deren komparativer Reichweite bisher nicht ausreichend philosophisch gewürdigt worden und bergen – entgegen Fackenheims Behauptung und im Lichte der historischen Erfahrung extremer Gewalt im 20. Jahrhundert – Potenzial für eine Untersuchung jenseits des Einzelphänomens Schoah. So lässt sich gegenwärtig in Abwandlung von Fackenheim konstatieren: „Philosophers have all but ingored genocides in general.“ Der so historiografisch gelenkte Blick scheint dann doch wieder durch Wittgensteins Diktum gefärbt. Im Horizont dieses historiografischen Befundes, aber auch durch eine historisch verständige Philosophie birgt Genozid wieder philosophische Probleme. Dafür werde ich im Folgenden eine Kritik des Genozidbegriffs bei seinem Erfinder Raphael Lemkin vornehmen, um anschließend das Phänomen Genozid als philosophischen Gegenstand zu umreißen.
I. Raphael Lemkins Genozidbegriff – Eine Kritik Genozid ist ein künstlicher Begriff, der 1944 von dem Juristen Raphael Lemkin in seinem Buch Axis Rule in Occupied Europe. Laws Of Occupation, Analysis Of Government, Proposals For Redress eingeführt wurde, um die Handlungen der Achsenmächte und ihrer Marionettenregierungen als vielfältigen Angriff auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unter eine generische Perspektive zu bringen.10 In den letzten Jahren sind im Feld der „Genocide Studies“ zahlreiche Rückgriffe auf diese Bestimmung und weitere Schriften von Raphael Lemkin zu beobachten. Dabei wird der „father of genocide research“11 einerseits in Anspruch genommen, um sich gegen einseitige Definitionsversuche im Anschluss an die 8 Ebd. 9 Berenbaum/Roth; Lang; Gerrard/ Scarre. Dass Fackenheims Behauptung auch philosophiehistorisch problematisch ist, zeigt selbst ein unbedarfter Blick auf die Arbeiten von Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Karl Jaspers, Emmanuel Lévinas und Jean-Paul Sartre. 10 Diese allgemeine Ebene wird in Formulierungen Lemkins sichtbar. So spricht er im Genozid-Kapitel nicht mehr nur von „the Germans“, sondern auch verallgemeinernd von „invaders“. 11 Schaller/Zimmerer, S. 450.
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UN-Konvention über die Verhütung und Bestrafung von Genozid zu wenden, in der das Verbrechen auf bloße physische Vernichtung von vier Gruppen – die als national, ethnisch, rassisch und religiös charakterisiert werden – reduziert wird.12 Andererseits dienen Lemkins Ausführungen zu einer Weltgeschichte des Genozids dazu, Formen genozidaler Gewalt nachzuspüren und somit die „Genocide Studies“ historisch breiter aufzustellen.13 Kaum beachtet werden dabei jedoch Lemkins sozialtheoretische und moralphilosophische Überlegungen, die Anknüpfungspunkte für eine philosophische Reflexion geben können. Genozid wird von Lemkin wie folgt charakterisiert: Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate destruction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation. It is intended rather to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves. The objectives of such a plan would be disintegration of the political and social institutions, of culture, language, national feelings, religion, and the economic existence of national groups, and the destruction of the personal security, liberty, health, dignity, and even the lives of the individuals belonging to such groups.14
Zum einen legt Lemkin den Fokus von Genozid nicht allein auf ein Massentöten einzelner Individuen, die zu einer Nation gehören, sondern begreift das Phänomen als vielfältigen koordinierten Angriff auf die wichtigsten Fundamente des Lebens dieser Nationen.15 Zum anderen hat der Angriff auf Gruppen einen differenzierten und prozessualen Charakter. An einer anderen Stelle bezeichnet Lemkin Genozid auch als „composite of different acts of persecution or destruction“16 und teilt diese Angriffe sozialtheoretisch in verschiedene Felder ein: politisch, sozial, kulturell, ökonomisch, biologisch, physisch, religiös und moralisch. Diese acht Felder stellen eher eine analytische Einteilung als eine strikte Kategorisierung dar, denn viele überlappen einander. Am Beispiel der nationalsozialistischen Besatzungspolitik dekliniert Lemkin diese verschiedenen „Techniken des Genozids“17 durch: Politi12
United Nations Treaty Series 1951, S. 280. Es handelt sich um ein unveröffentlichtes Manuskript, das lückenhaft den Bogen von der Zerstörung Karthagos bis zur Vernichtungspolitik des Nazi-Regimes spannt: Lemkin (2012), S. 59 – 402. Insbesondere die Ausführungen zur Eroberung Amerikas und der Mongolenherrschaft sind dazu verwendet worden, um koloniale Mechanismen mit genozidalen Prozessen in Verbindung zu bringen. So beispielsweise bei Moses (2008). Auf einer methodisch umfassenderen Ebene an Lemkin anknüpfend: Shaw (2015). 14 Lemkin (1944), S. 79 15 In der UN-Konvention ist eine starke Reduzierung auf physische Aspekte festzustellen. Lemkin war an der Durchsetzung der Konvention maßgeblich beteiligt, aber sein theoretisch vielschichtig ausgearbeiteter Begriff fand aufgrund eines bestimmten politischen Pragmatismus auch von Lemkin selbst – am Ende keine Realisierungsmöglichkeit. Vgl. dazu Irvin-Erickson, S. 152 – 229. 16 Lemkin (1944), S. 92. 17 „Techniques of genocide“, ebd., S. 82. Diese Techniken sind nach Lemkin aber eben nicht nur auf die NS-Zeit anwendbar. 13
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sche Techniken beinhalten die Zerschlagung der souveränen Formen der administrativen und politischen Selbstbestimmung und die Einsetzung von Gesetzesäquivalenten, wie sie in NS-Deutschland üblich waren.18 Soziale Techniken zielen auf die Internierung oder Tötung von Intellektuellen, um den sozialen Zusammenhalt von Gruppen zu schwächen. Darüber hinaus fällt auch die Abschaffung lokaler juristischer Strukturen in die soziale Dimension.19 Kulturelle Techniken werden recht umfangreich charakterisiert: Von der Unterbindung sprachlicher und bildungspolitischer Autonomie über Bücherverbrennungen und rigide Kontrollen, welche Inhalte in Theater, Musik und auf anderen kulturellen Feldern noch vermittelt werden dürfen. Die Reichskulturkammer und ihre Kulturpolitik werden von Lemkin besonders herausgehoben.20 Ökonomische Techniken meinen die Aneignung von Kapital, Banken und anderen ökonomischen Strukturen, aber auch die Beschränkung des Zugangs zu diesen Einrichtungen durch rassistische Kennzeichnung der Bevölkerungsgruppen („Slawen, Juden, Deutsche“).21 Hier zeigt sich stark die Verschränkung von ökonomischen und biologistischen Techniken. Letztere zielen mittels Rassen- und Reinheitsideologien darauf ab, dem eigenen Volk durch Gesetze, die Mischehen verbieten, eine vorgeblich ungeschwächte Überlebenschance zu geben. Als Beispiel führt Lemkin die Einführung der Deutschen Volksliste nach der Besetzung Polens an.22 Physische Techniken können unterschiedliche Dimensionen annehmen. Einerseits die Kontrolle über die Lebensmittelversorgung durch restriktive Zuteilung von Rationen, anderseits durch die Gefährdung des Gesundheitszustandes, indem man medizinische Versorgung vorenthält oder Menschen unter unhygienischen Bedingungen in Ghettos sperrt. Als letzte Dimension nennt Lemkin „mass killings.“23 Religiöse Techniken überschneiden sich stark mit sozialen Techniken. Die Internierung von Geistlichen und auch die Abschaffung von religiösen Bildungseinrichtungen fallen darunter.24 Schließlich werden noch moralische Techniken aufgeführt, die dazu dienen, eine Erniedrigung der jeweiligen Gruppen gegenüber dem Besatzer herbeizuführen. Als Beispiele sind dafür der Niedrigpreis von Alkohol und die Verteilung pornografischen Materials im besetzten Polen angeführt, damit die polnische Bevölkerung – im Gegensatz zum nüchternen und enthaltsamen Arier – als suchtabhängig und damit moralisch „weniger wertvoll“ sichtbar werden sollte.25 Auffallend an diesen Charakterisierungen ist einerseits die Vielfältigkeit der Angriffsmöglichkeiten auf eine Gruppe. Demnach ist Genozid nicht hinreichend 18
Ebd, S. 82 f. Ebd., S. 83 f. Vermutlich sieht Lemkin in einer lokalen Gerichtsbarkeit einen Garant für sozialen Frieden, der dementsprechend nach Besatzermuster umgestaltet wird. 20 Ebd., S. 84. Vgl. auch Steinweis (1996). 21 Lemkin (1944), S. 85 f. 22 Ebd., S. 86 f. 23 Ebd., S. 88 f. 24 Ebd., S. 89. 25 Ebd., S. 89 f. 19
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durch die physische Vernichtung unterschiedlicher Gruppen oder eine dieser Techniken bestimmt, sondern eine Vielzahl von Akten verschiedenster Gewaltformen gegen Gruppen notwendig, um von Genozid zu sprechen. Andererseits fällt der Fokus auf ein Kollektiv als Ziel solcher genozidales Techniken und leitet Überlegungen über den sozialtheoretischen Status dieser Kollektive ein. Dabei verwendet Lemkin unterschiedliche Bezeichnungen: „nation“, „members of a nation“, „national groups“ oder einfach nur „groups“. In theoretischen Vorüberlegungen zu seiner Weltgeschichte des Genozids nennt Lemkin vier Gruppen, die auch in die UN-Konvention aufgenommen wurden: The philosophy of the Genocide Convention is based on the formula of the human cosmos. This cosmos consists of four basic groups: national, racial, religious and ethnic. The groups are protected not only by reason of human compassion but also to prevent draining the spiritual resources of mankind.26
Nach Lemkin setzt sich der menschliche Kosmos aus nationalen, rassischen, religiösen und ethnischen Gruppen zusammen, die er an anderer Stelle allgemein als „social groups“ thematisiert: As the concept of social groups is being repeatedly used in this volume, it will be useful to analyze it sociologically at this point. The social group as such is a meaningless concept. Any two or more persons who stand in any social relationship to one another form a social group. We are here concerned with particular types of social groups, namely racial, religious, national, linguistic and political groups.27
Entgegen einer allgemeinen Auffassung einer sozialen Gruppe legt er den Fokus auf bestimmte Gruppen: „racial, religious, national, linguistic and political groups“. Wenige Zeilen später erklärt er, politische und religiöse Gruppen seien Ausnahmefälle, da sie nicht mit Bezug auf „gegebene“ Eigenschaften gebildet werden, sondern durch ein gemeinsames Interesse: „Such groups lie outside the sphere of ethnic groups should be classified as associations.“28 Lemkin impliziert damit einen Unterschied in der Bildung von sozialen Gruppen. Die „racial, national, linguistic groups“ werden als diskrete, über die Zeit persistierende Entitäten konzeptualisiert, während „religious, political groups“ als weniger stabile Verbände begriffen werden. Aus diesem Unterschied leitet Lemkin einen Unterschied der genannten Gruppen bezüglich ihrer Stellung in der sozialen Wirklichkeit ab. „Racial, national, linguistic groups“ bilden den Baustein einer jeden Lemkin/Jacobs, S. 3. Lemkin, Sociology, S. 34. 28 Ebd., S. 35. Lemkin stand der Aufnahme von politischen Gruppen in die UN-Konvention kritisch gegenüber, was selbst politische Gründe hatte. Die Wahrscheinlichkeit der Annahme des Entwurfes würde unter Ausschluss von politischen Gruppen steigen, da sich die Sowjetrepubliken und einige Länder Lateinamerikas weigerten, politische Gruppen als Ziel von Genozid anzuerkennen. Vgl. dazu Cooper, S. 166 – 172. William A. Schabas führt fälschlicherweise das Permanenzkriterium an und meint, Lemkin wollte aus diesen theoretischen Gründen politische Gruppen von der Konvention ausschließen: Schabas, S. 143. Wenn dem so war, hätten religiöse Gruppen auch nicht ihren Weg in die Konvention finden dürfen. 26 27
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Kultur, während politische und religiöse Gruppen nicht notwendig dazu gehören müssen. Lemkin essentialisiert so bestimmte Gruppen, die seiner Auffassung nach unumgänglich für eine soziale Grundstruktur von Kulturen oder Zivilisationen sind, ja sogar als Träger der kulturellen Essenz der Menschheit gesehen werden.29 Erhärten lässt sich diese Leseweise mit Blick auf seine kurze Skizze The Concept of Genocide in Anthropology. Darin bezieht er sich auf zeitgenössische Kulturtheorien, und es fällt eine Tendenz hin zur amerikanischen kulturanthropologischen Schule auf.30 Diese entwickelte sich im Kontrast zur britischen Schule, die unter dem Einfluss von Darwins Theorien stand und von unterschiedlichen Entwicklungen der Völker in einem Gesamtfortschritt der Menschheit ausging.31 Stattdessen ging die amerikanische Schule, von Herder und dem Historismus beeinflusst, von der Partikularität jeder Kultur aus und lehnte die Parallelität allgemeiner kultureller Entwicklungen ab.32 Besondere Erwähnung in The Concept of Genocide in Anthropology finden die Arbeiten von Bronislaw Malinowski, den Lemkin heranzieht, um seine Ausführungen zu Gruppen als Kulturträger zu spezifizieren. Er verbindet die Auffassung von der Vollständigkeit und Selbstgenügsamkeit jeder Kultur mit Malinowskis Kulturbegriff als dynamischem, performativem Prozess von Verhaltensweisen, der auch symbolische Dimensionen haben kann.33 Einerseits will Lemkin damit aufzeigen, dass auch Dimensionen kultureller Zerstörung für eine Gruppe genozidal sein können: According to this view it is clear that the destruction of cultural symbols is genocide because it implies the destruction of their function and thus menaces the existence of the social group which exists by virtue of its common culture.34
Andererseits koppelt er an diese Ausführungen eine These, die ich die „These vom kulturellen Wert von Gruppen“ nennen möchte. Diese These versucht zu erfassen, was der spezifische moralische Status von Genozid ist, also eine Antwort darauf zu geben, warum Genozid gegenüber „bloßen“ Massakern „schlimmer“ ist. Damit wechselt Lemkin von sozialtheoretischen Registern in moralphilosophische Register und bestimmt den moralischen Status von Genozid so:
29 An anderer Stelle spricht er auch von einer Weltkultur als feinsinnigem Konzert, das durch diese Gruppen geprägt wird. Vgl. Lemkin (1944), S. 91 und Lemkin, Remarks, S. 1. 30 Lemkin, Anthropology, S. 39. Genannt werden Franz Boas, Ruth Benedict, Ralph Linton, Otto Klineberg, Clyde Kluckhohn und Melville J. Herskovits. 31 Als paradigmatische Vertreter seien hier James G. Frazer und Edward B. Taylor genannt. Vgl. auch Harris, S. 250 ff. 32 Forster, S. 199 – 243. 33 „Jeder Kultur ist ihre Vollständigkeit und Selbstgenügsamkeit eigen, weil sie dem Gesamtbereich der grundlegenden, zweckbestimmten und integrierenden Bedürfnisse genügt.“ Malinowski, S. 79. Zur ideengeschichtlichen Entwicklung dieses holistischen Konzeptes von der Romantik bis zur Nationalisierung dieser Kollektive vgl. Gellner, S. 21 – 25. 34 Lemkin, Anthropology, S. 39.
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The world represents only so much culture and intellectual vigor as are created by its component national groups. Essentially the idea of a nation signifies constructive cooperation and original contributions, based upon genuine traditions, genuine culture, and a well-developed national psychology. The destruction of a nation, therefore, results in the loss of its future contributions to the world.35
Nach Lemkin verbindet alle Menschen eine gemeinsame Zivilisation, in der die Errungenschaften einer Gruppe (national, ethnisch, religiös) von den anderen wahrgenommen und geteilt werden. Das moralische Spezifikum genozidaler Ereignisse besteht demnach im Verlust einer Gruppe, die dann, aufgrund dieser Vernichtung, ihren kulturellen Beitrag für die Weltgemeinschaft nicht mehr leisten und teilen kann. Das kulturelle Erbe der Menschheit schrumpft. Dem liegt die Überlegung zugrunde, dass Gruppen Entitäten sind, denen ein bestimmter Wert für die Menschheit zukommt, der ein kultureller Mehrwert ist. Doch tendiert diese These zu einer Form der Abgrenzung der eigenen Kultur bzw. ethnischen Identität gegenüber Anderen und Fremden aber auch Feinden und kann in eine Politisierung solcher Grenzziehungen, nativistische, essentialistische oder auch tribalistische Vorstellungen münden, die gegen Andere gerichtet sind.36 Eine polemogene Zuspitzung durch vermeintliche Notwendigkeit einer kollektiven Verortung ist damit nicht ausgeschlossen. So gesehen, werden Lemkins Kulturanschauungen selber Teil der konflikthaften Situation, die sie beschreiben: Durch eine essentialistische Auffassung kultureller Wirklichkeit wird „verständlich“, wie Widerstreit in genozidale Gewalt umschlagen oder aus ihm folgen kann. Zusammenfassend: Das Phänomen Genozid ist für Lemkin ein Prozess verschiedenster Formen von Gewalt gegen Gruppen, die als Elemente der sozialen Wirklichkeit realistisch aufgefasst werden. Verbunden mit der These vom kulturellen Wert von Gruppen entwickelt Lemkin ein Argument, um die spezifische Bedeutung von Genozid als moralischem Phänomen zu bestimmen: Als Bündel von Handlungen, die darauf abzielen, die kulturellen Ressourcen und Errungenschaften der Menschheit, getragen und vermittelt durch Gruppen, zu zerstören. Auch wenn Lemkin Gruppen im Rahmen seines Genozidbegriffs tendenziell in primordialistischen Kategorien konzeptualisiert, war es mitnichten sein Anliegen, genozidalen Logiken Vorschub zu leisten. Doch beginnen solche Logiken nicht schon mit den Begriffen, die zur Beschreibung der Wirklichkeit verwendet werden? Ist Lemkins Vokabular somit nicht unmittelbarer Teil dessen, was Hannah Arendt „the subterranean stream of Western history“37 nannte? Die Konsequenz aus der kritischen Exposition des Lemkinschen Genozidbegriffes für eine künftige Reflexion wäre genau, jene Sensibilität im Vokabular zu entwickeln, die versucht, solche unterirdischen Gewaltpotenziale zu vermeiden.
Lemkin, (1944), S. 91. Kymlicka. 37 Arendt (1951), S. ix. 35
36 Vgl.
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II. Genozid als philosophischer Gegenstand Zweifelsohne ist Genozid ein Gewaltphänomen und sollte deshalb seinen festen Platz im philosophischen Nachdenken über Gewalt haben. Mit Blick auf die gegenwärtigen, wenigen philosophischen Forschungen zu Genozid lässt sich jedoch einerseits ein Fokus auf moralphilosophische Aspekte feststellen. So wird das Phänomen überwiegend als eine „Form des Bösen“ in säkularisierten „Theorien des Bösen“ eingeordnet oder aber als „Gattungsbruch“, der eine völlige Neuordnung moralischer Verhältnisse nach sich zieht, konzeptualisiert.38 Anderseits wird die Schoah oft als Vergleichspunkt genommen, um andere mögliche Fälle von Genozid zu beurteilen. Dieses Paradigma ist jedoch längst kritisch in Frage gestellt worden, denn die Setzung eines moralphilosophischen Standards verstellt den Blick für die Spezifitäten anderer Fälle von Genozid und führt zu einer Art Privationstheorie der Genozide, mit der Schoah als „gold standard of evil“.39 Kaum in den Blick geraten dabei die Ergebnisse einer phänomenologischen und sozialwissenschaftlichen informierten Gewaltforschung, die ein Ansatzpunkt sein können, um Genozid philosophisch besser zu verstehen. In phänomenologischen Ansätzen fokussiert man auf die Bedeutung, den Sinn eines Phänomens.40 Deshalb bildet der Ausgangspunkt eine Reflexion auf den Zusammenhang zwischen Sinn und Gewalt, den der Philosoph James Dodd so zusammenfasst: „The phenomenological task is to explore the sense of violence and war from within a radical thematic of lived experience itself, where violence shows itself as its most unstable and protean.“41 Was hier betont wird, ist ein relationaler Erfahrungscharakter von Gewalt, die uns als ein sinnhaftes Ereignis „im Register unserer leibhaftigen wie unserer symbolischen Existenz“42 widerfährt. Damit widersetzt sich dieser Ansatz nicht nur einer normativ gefärbten Bevorzugung physischer Gewalt,43 einem „scientistic hunt for causation“,44 sondern auch einer Verengung des Beschreibungshorizonts durch monokausale Antwort- und Ressourcenmodelle eines Staates als hostis populi. Es geht also nicht darum, Gewalt im Rahmen vorgegebener hegemonialer Se38 Vgl. Morton, aber auch Card. Im Horizont geschichtlicher Erfahrungen komplexer: Zimmermann. 39 Stone, Uniqueness. Das bedeutet nicht, dass es gute Gründe für die Einzigartigkeit der Schoah gibt. Aber sind diese das Ergebnis komparativer Betrachtungen und nicht aus moralphilosophischen Setzungen ableitbar. Vgl. die Beiträge in Rosenberg/Myers. 40 Es wird sich hier nicht auf eine schulbildende Form von Phänomenologie festgelegt, sondern der Grundgedanke hervorgehoben. Vgl. Dodd; Staudigl, Phänomenologie. 41 Dodd, S. 15f. 42 Staudigl, Leitideen, S. 11. 43 Exemplarisch die Behauptung: „Die Begriffsbestimmung von Gewalt als absichtsvolle physische Verletzung von Menschen durch Menschen ist wertneutral.“ von Nunner-Winkler, S. 28. Diese Sicht ist getragen von einem methodischen Vorurteil, dem sich ein umfassender Gewaltbegriff entgegenstellt. Vgl. Endreß. 44 Whithead, S. 55.
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mantiken zu beschreiben als „eine Machtaktion, die zur absichtlichen körperlichen Verletzung anderer führt“45 oder Gewalt lediglich auf eine Zweck-Mittel-Relation zu reduzieren, die jede Dimension von Sinnhaftigkeit instrumentell aufzulösen versucht. Eine „poetics of violence“46, wie es der Anthropologe Neil L. Whitehead nennt, birgt demgegenüber das Potential, die Vielfalt von Gewaltordnungszusammenhängen zu erfassen, die die Lebenswelt durchzieht. Gewalt wird so auch als kultureller Faktor bestimmt, der nicht auf ein normabweichendes Verhalten innerhalb einer gegebenen Ordnung reduziert werden kann. So betonen neuere sozialwissenschaftliche Forschungen einen Wirkungszusammenhang von sozialer Ordnung und physischen wie strukturellen Gewaltphänomenen.47 Eine Geschichte der Gewalt wäre demnach eine Geschichte sozialer Praktiken und Techniken, die sich an der Entstehung spezifischer Gewaltformen und deren Legitimierung bzw. Delegitimierung gegen (Kollektiv-)Subjekte abarbeitet.48 Im Licht dieser Ansätze schlage ich deshalb vor, genozidale Gewalt als ein Phänomen „negativer Sozialität“ zu verstehen. Die „Negativität der Gewalterfahrung“ wird nicht mehr in der Hoffnung ihrer Auflösung in Politiken einer gewaltfreien Vernunft verstanden, sondern als widerstreitendes, sinnkonstituierendes Moment konzeptualisiert.49 Die Faktizität des sozialen Zwischen wird dadurch negiert, aber nicht als soziales Phänomen aufgehoben.50 Die Philosophin Judith Butler verweist auf diese Negativität mit dem Begriff von der „precariousness of life“, die alle Menschen gemeinsam hätten, da ein menschliches Leben von Geburt an sich selbst, Anderen und der Welt ausgesetzt ist.51 Das bedeutet letztlich unvermeidlich, den Anderen gewaltsam ausgesetzt zu sein und in der Auslotung von Spielräumen des Zusammenlebens nicht hinter diese prekären Grunderfahrungen zurückgehen zu können. Das gilt auch auf der Ebene eines historiografischen Selbstverständnisses, wenn wir keiner Philosophie vor dem Genozid folgen wollen, die nach klassischer Auffassung eisern verbucht, wie heute das Gerechte und das Gute global zu denken wäre.52 Eine Philosophie nach dem Genozid wäre eine Philosophie, die das Phänomen Genozid als Bestand der eigenen Geschichte versteht und versucht, nicht bei jenem sprachlosen Entsetzen „[…] wenn wir nichts anderes mehr sagen können als: Dies hätte nie geschehen dürfen“ stehen zu bleiben.53 Popitz, S. 48. Whithead, S. 55. 47 Liell/Pettenkofer; North/Wallis/ Weingast; Reemtsma. 48 Reemtsma (2009), S. 185 – 325. 49 Zu programmatischen Überlegungen eines solchen negativistischen Ansatzes vgl. Liebsch (2011). 50 Nur der Tod setzt diesem sozialen Faktum ein Ende. Vgl. Hannah Arendts Verständnis von inter homines esse in Arendt (2007), S. 17. 51 Butler. 52 Vgl. auch Liebsch (2014). 53 Arendt (2006), S. 45. 45
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Die damit angedeutete Revision sozialphilosophischen Vokabulars, um Lemkins „polykausalen“ Anspruch an das Phänomen Genozid gerecht zu werden, harrt noch einer systematischen Ausarbeitung. Ein Anknüpfungspunkt könnten Hannah Arendts Arbeiten zu totalitären Gesellschaften sein. Als Reaktion auf die historische Erfahrung der Genozide im 20. Jahrhundert können sie als Versuch gedeutet werden, auf einer sozialphilosophischen Ebene genozidale Gewalt zu ergründen. Arendt fordert eine Revision des politisch-moralischen Denkens und philosophischer Kategorienbildungen, denn die historische Erfahrung zwinge uns dazu, „den Kontinuitätszusammenhang unserer Geschichte und die Begriffe und Kategorien unseres politischen Denkens“54 radikal in Frage zu stellen. Genozidale Gewalt wird damit in ein historisch und kulturell geformtes Blickfeld von Ordnungen gerückt, in denen auch den noch so extremsten Ausformungen ein sozialer Sinn zugeschrieben wird.55 Arendt beschreibt diese Ordnung in den als notwendig erklärten Gesetzen von Natur und Geschichte, die an die Stelle der Autorität des positiven Rechts gesetzt werden. Nicht Gesetzlosigkeit oder Willkür sind die Rechtsmodi genozidaler Gesellschaften, sondern eine Rückkehr zu den „Quellen der Autorität“ selbst. Damit sind diese Gesetze nicht mehr auf die Menschen bezogen, sondern verweisen auf einen Imperativ jenseits des Menschen, der eine „höhere Form der Gesetzestreue“ erzeugt.56 Verheißen diese Bewegungsgesetze Heil und Erlösung, eine widerspruchsfreie Welt, können sie diese abgekoppelt von menschlicher Pluralität und Gemeinsamkeit nie verwirklichen. Das „eiserne Band des Terrors“, weniger Mittel der Repression als ewiger Motor der Bewegungsgesetze von Natur und Geschichte, vollzieht letztlich eine „Reduktion des Menschen auf ein Reaktionsbündel“,57 in der „auch alle Erfahrung des eigenen Todes“ abhandenkommt, „wenn es schließlich an ihnen ist, die ‚Überflüssigen‘ und ‚Schädlichen‘ den Prozessen des Terrors zur Verfügung zu stellen.“58 So gesehen, kann die Einebnung der menschlichen Pluralität auch eine Dimension sein, den moralischen Status von Genozid zu kennzeichnen. Die Aufhebung der „negativen Sozialität“ – die ständige Gefährdung des Lebens – zugunsten einer Dynamik der Produktion jener „überflüssigen Menschen“, ist hierbei das spezifische Übel. Insofern wird Lemkins normativer Anspruch im Horizont menschlicher Pluralität eingeholt und nicht mehr auf kulturelle Essentialisierungen zurückgeführt, die die Schaffung einer Ordnung der „Überflüssigen“ begünstigen. Eine phänomenologische Annäherung an Genozide muss jedoch auch die Kontingenz und Prozesshaftigkeit des Phänomens beachten. Arendts Ausführungen beziehen sich eher auf Dimensionen von Verletzungsstrukturen, die bis zum sozialen und physischen Tod führen können. Dabei bleiben andere Dimensionen unbeachtet. So gilt es auch Triebfeder-Strukturen als frühe Formen der Auflösung Arendt (2009), S. 705. Vgl. dazu Waldenfels, S. 103 – 119 und aus soziologischer Sicht Neckel/Schwab-Trapp. 56 Arendt (2009), S. 948. 57 Ebd., S. 680. 58 Ebd., S. 971. 54 55
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menschlicher Pluralität zu beachten, wie sie sich in den Phänomenen von Hass und Stigma zeigen. Ebenso schreibt sich leibhaftiges gewaltsames Sein in die Erinnerung von Kollektiven ein. Leugnungs- und Anerkennungsdiskurse über Genozid unterstreichen die poietischen Dimensionen genozidaler Gewalt und stellen bis heute eine Herausforderung dar, wie es beispielsweise an den Diskussionen über kolonialistische Gewalt oder der Leugnung des Völkermords an den Armeniern durch die Türkei zu sehen ist. Diese Überlegungen zu einem philosophischen Forschungsdesiderat über Genozide gründen letztlich auf eine Welt unter Vorbehalt, die immer wieder auf eine vom Anderen als Anderen befreite Welt abzielt. Es ist genau diese Dimension gefährdeten Lebens und menschlicher Sterblichkeit, die im Zeitalter der Genozide aufscheint und deren volle Beachtung Genozid als philosophisches Problem konturiert.
Die Kunst des Mahnmals Zwischen Geschichtspolitik, Darstellungstabu und Gedächtnisstiftung Von Ellen Rinner Ellen Rinner Die Kunst des Mahnmals. Zwischen Geschichtspolitik, Darstellungstabu und Gedächtnisstiftung
Gedächtnisstiftung durch die Setzung öffentlicher Gedenkzeichen bewegt sich immer im Spannungsfeld von Politik, Geschichtsschreibung und künstlerischem Ausdruck. Sie ist immer ein Akt visueller Kommunikation, durch den der Eingang eines spezifischen geschichtspolitischen Narrativs ins kollektive Gedächtnis durch die Instrumentalisierung von Bildwerken gewährleistet werden soll. Das künstlerische Medium der öffentlichen Implementierung solcher Botschaften ist traditionell das klassische Denkmal. Doch im Laufe des 20. Jahrhunderts haben sich unter dem Eindruck genozidaler Gewalt neue Formen öffentlichen Gedenkens herausgebildet, deren Wirkung explizit auf eine offene, unabgeschlossene und kritische Reflexion zielt. Im Folgenden möchte ich diese qualitativ neue Gattung mahnender Kunstwerke im Hinblick auf ihre historischen und theoretischen Entstehungsbedingungen, ihre formal- und rezeptionsästhetischen Funktionen und ihren spezifischen Modus der Gedächtnisstiftung hin analysieren. Gleichzeitig soll die vorgeschlagene schärfere begriffliche Trennung zwischen Denkmal und Mahnmal produktiv gemacht werden, um die konstitutiv neuen Elemente mahnender Kunstwerke präziser herauszuarbeiten.
I. Problematik des Denkmals Im Durchgang durch die Forschungsliteratur springt zunächst eine terminologische Unbestimmtheit ins Auge: Im allgemeinen Sprachgebrauch wird meist nicht zwischen Denkmal und Mahnmal unterschieden. Beide Begriffe werden synonym verwendet, obwohl es gewichtige Gründe gibt, die beiden Arten der Gedächtnisstiftung, die ihnen zugrunde liegen, klar zu unterscheiden.1 Um die Verschiebungen im Modus künstlerischer Gedächtnisstiftung näher zu umreißen, lohnt sich ein Rückblick auf die Funktionsbestimmung des Denk- und 1 Auch in Forschungsbeiträgen, die sich explizit künstlerisch gestalteten Mahnmalen widmen, wird im Sprachgebrauch oft nicht zwischen beiden Begriffen differenziert, vgl. z. B. Baigell/Young. Während in der deutschen Forschungsliteratur die Begriffe meist synonym verwendet werden, existiert im englischsprachigen Raum teilweise die Unterscheidung zwischen „memorial“/„anti-memorial“ und „monument“/„counter-monument“; vgl. z. B. Young (1992), S. 267 – 299.
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Ehrenmals, die der Kunsthistoriker Alois Riegl 1903 in seiner Schrift Der moderne Denkmalkultus anbietet: Unter Denkmal im ältesten und ursprünglichsten Sinne versteht man ein Werk von Menschenhand, errichtet zu dem bestimmten Zwecke, um einzelne menschliche Taten oder Geschicke (oder Komplexe mehrerer solcher) im Bewußtsein der nachlebenden Generationen stets gegenwärtig und lebendig zu halten.2
Die Denkmalfunktion besteht darin, bedeutsame Personen, Ereignisse oder Handlungen möglichst eindrucksvoll und wiedererkennbar ins (Bild-)Werk zu setzen und durch den öffentlichen Aufstellungsort die ständige visuelle Präsenz im allgemeinen Bewusstsein zu garantieren. Das Denkmal dokumentiert nicht, sondern verleiht der von den Auftraggebern gewünschten Deutung eines Ereignisses im Bildwerk einen dauerhaften Ausdruck. Dieser soll sich unverändert im Gedächtnis kommender Generationen, die über keinen eigenen lebensgeschichtlichen Bezug zum Ereignis verfügen, weitertradieren. Damit ist jedes öffentliche Denkmal Ausdruck eines (geschichts-)politischen Willens zur dauerhaften Fixierung eines Geschichtsbildes unter Abzug des eigentlichen Erfahrungszusammenhangs. Diese Ermächtigung zur Gestaltung zukünftigen Geschichtsbewusstseins schlägt sich in der Denkmalgestaltung traditionell im Rückgriff auf bereits bekannte Identifikationsangebote und Bildmuster sowie in der Materialwahl – z. B. Bronze, Marmor oder Stein – nieder. Durch diese gestalterischen Mittel untermauert die Denkmalform den Anspruch der visuellen Botschaft auf generationsübergreifende Verständlichkeit sowie Dauerhaftigkeit und Überzeitlichkeit. Die Denk- und Ehrenmalpraxis ebenso wie die monumentalen Nationaldenkmäler des 19. Jahrhunderts stehen fest in dieser Tradition. Auch einige Kriegsdenkmäler für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs greifen teilweise noch auf dieselben Narrativierungs- und Visualisierungsstrategien zurück, die fest im Repertoire des kollektiven Bewusstseins verankert sind.3 Dieses eindimensionale, instrumentelle Verständnis der Wirksamkeit von Bildwerken berücksichtigt jedoch nicht die spezifische semantische Offenheit insbesondere öffentlicher Erinnerungszeichen, die auf dem Bedeutungswandel beruht, den jedes einmal gesetzte Bild- oder Bauwerk im Laufe der Zeit aufgrund der sich verändernden gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse erfährt. Diese bildliche Polyvalenz, die Widerständigkeit des Erinnerungszeichens, sich dauerhaft und Riegl, S. 2. sind beispielweise Kriegsgefallenendenkmale, in denen die Bildung oder der Weiterbestand des als Frau personifizierten Nationalstaates in direkte Verbindung gebracht wird mit dem (oft religiös konnotierten) Opfertod einer ganzen Generation junger Männer. Die Sinngebung des Todes und des Verlusts verläuft über die Sicherstellung des Überlebens der nächsten Generationen. Sinnbildlich nimmt der Nationalstaat das Opfer der Männer an und ehrt es durch seinen Fortbestand. Ein Beispiel hierfür ist der Entwurf von William F. C. Ohly und Johannes Reuter für ein Kriegsgefallenendenkmal in Bitterfeld, das 1926 eingeweiht wurde, 1969 jedoch einem Kaufhaus weichen musste. 2
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unverrückbar auf eine intendierte Bedeutung und eine Rezeptionsperspektive festlegen zu lassen, brachte Robert Musil 1936 pointiert zum Ausdruck: Denkmale haben außer der Eigenschaft, daß man nicht weiß, ob man Denkmale oder Denkmäler sagen soll, noch allerhand Eigenheiten. Die wichtigste davon ist ein wenig widerspruchsvoll; das Auffallendste an Denkmälern ist nämlich, daß man sie nicht bemerkt. Es gibt nichts auf der Welt, was so unsichtbar wäre wie Denkmäler.4
Hier verkehrt sich das Insistieren auf unveränderliche Präsenz ins Gegenteil: Weder überträgt sich die Dauerhaftigkeit der materiellen Form und der Rückgriff auf vermeintlich universelle Bildmuster auf die immerwährende Erinnerung an das vom Denkmal repräsentierte Ereignis, noch wird es durch die bildliche Fixierung aus dem Lauf der Zeit gehoben. Durch den Verlust ihres Entstehungszusammenhangs werden die alten Bedeutungsträger irrelevant oder unzeitgemäß, wenn sich ihre Botschaft überhaupt noch entschlüsseln lässt. So wurde denn auch seit der Jahrhundertwende unter dem Eindruck gesellschaftlichen Wandels beständig der Tod des Denkmals in seiner traditionellen Funktion proklamiert.5 Das neue künstlerische Credo der Moderne erteilte zudem dem Verständnis von Kunst als wirklichkeitsgetreuer Nachbildung oder allegorischer Überhöhung eine radikale Absage zugunsten einer immer abstrakter und expressiver werdenden Formensprache.6 Diese Entwicklung hängt wesentlich damit zusammen, dass das 20. Jahrhundert eine Art Kulminationspunkt für kriegerische und traumatisierende Ereignisse darstellt, deren Erfahrungsqualität explizit kollektiver Art ist. Die rapide Technisierung militärischer Kriegsführung und die resultierenden Opferzahlen, der anonyme Massentod im Ersten und Zweiten Weltkrieg, die globale Bedrohung durch die atomare Aufrüstung – all jene Erfahrungen erforderten neue repräsentationelle und formale Lösungen, weil sie die Vorstellungskraft des Einzelnen sprengen und jeden Versuch einer mimetische Abbildung als Ausdrucksmittel ad absurdum führen. Angesichts der Genozide des 20. Jahrhunderts stößt die traditionelle Memorialkultur vollends an ihre Grenzen, weil diese die Notwendigkeit eines neuen Modus des Gedenkens einfordern, das über ein nationales Erinnern der eigenen Toten und Gefallenen hinausgeht. Leitende These der weiteren Überlegungen ist, dass die Musil, S. 506. Einer der bekanntesten Verfechter dieser Position ist Mumford, S. 264: „The very notion of a modern monument is a contradiction in terms: if it is a monument, it cannot be modern, and if it is modern, it cannot be a monument.“ Zur Veränderung des Denkmalbegriffs siehe auch Lipp. 6 Dementsprechend bedienen sich die Denk- und Mahnmale des 20. Jahrhunderts im öffentlichen Raum meist der Formensprache der abstrakten oder ephemeren Kunst. In diesem Rückgriff auf eine nicht-mimetische Ästhetik als einer von nationalen und kulturellen Traditionen unabhängigen Kunstsprache drückt sich die Hoffnung aus, dass sie als „Welt sprache“ menschheitsübergreifend und zu allen Zeiten verstanden werden könne. Eines der frühesten Beispiele dieser Entwicklung ist Walter Gropius’ Denkmal für die Märzgefallenen in Weimar von 1922. Vgl. auch Reuße. 4 5
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veränderten ethischen und ästhetischen Anforderungen an die Erinnerungskultur ihren Niederschlag in der Herausbildung der Gattung mahnender Kunstwerke gefunden haben.
II. Vom Denkmal zum Mahnmal Wie gezeigt wurde, ist mit jedem Denk-, Erinnerungs- oder Mahnmal eben jener neuralgische Punkt aufgerufen, an dem durch den – meist selbst vermittelten – Rückbezug auf Vergangenes ein gerichteter Appell an die Zukunft ausgehen soll. Mit dem Denkmal teilt das Mahnmal die Eigenschaft, dass es immer nur einen bestimmten, selektiven Modus des Gedächtnisses präsentiert, der im höchsten Maße von den gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Diskursen und Interessen geleitet ist und auf künftige Verbindlichkeit setzt. Das klassische Denkmal ist jedoch auf Gedächtnisstiftung durch Entzeitlichung des Ereignisses ausgerichtet und soll als ausgelagertes, unveränderliches Kollektivbewusstsein fungieren. Wie Pierre Nora in seiner Studie über die Erinnerungsorte Frankreichs treffend bemerkte: „The less memory is experienced from the inside, the more it exists only through its exterior scaffolding and outward signs.“7 Im gleichen Sinne zielt das Denkmal nicht auf einen aktiven Erinnerungsprozess, sondern ersetzt den individuell-emotionalen Vergangenheitsbezug durch allgemeingültige Bildwerke und Zeichen, die die offizielle Geschichtsschreibung stützen und tradieren sollen. Diese Tendenz zur Symbolisierung und Auslagerung von Gedächtnisinhalten ist auch Indiz einer abnehmenden Bereitschaft, sich je individuell mit dem Ereignis auseinanderzusetzen und seine Bedeutung im Rahmen der eigenen Lebenserfahrungen auszuloten. Damit ist auch die Gefahr einer konsumistischen Übernahme offizieller geschichtspolitischer Deutungsmuster aufgerufen. In diese Richtung argumentiert auch James E. Young, wenn er die Kritik an der Denkmalpraxis radikalisiert, weil sich in ihr eine Haltung ausdrücke, die einer aktiven Erinnerungsleistung – als Voraussetzung jedes mahnenden Gedenkens – polar entgegensteht: Under the illusion that our memorial edifices will always be there to remind us, we take leave of them and return only at our convenience. To the extent that we encourage monuments to do our memory-work for us, we become that much more forgetful. In effect, the initial impulse to memorialize events like the Holocaust may actually spring from an opposite and equal desire to forget them.8
Kunstwerke, die sich der Mahnung der Opfer genozidaler Gewalt verpflichten, operieren in einem paradoxen Spannungsfeld. Mit der Resolution der Vereinten Nationen vom 11. Dezember 1946 – nach der Völkermord „der Menschheit in allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugeführt“ hat und sie als Ganze „von solch
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Nora, S. 13. Young (1992), S. 273. Siehe auch Forty/Küchler.
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verabscheuungswürdiger Geissel“9 befreit werden muss – wurden die Erinnerung, das Gedenken und die Mahnung an genozidale Gewalt zu einem neuen, alle nationalen, historischen, kulturellen und religiösen Kontexte übergreifenden ethischen Imperativ erklärt. Die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begonnene Debatte über den Umgang und die Aufarbeitung solcher Menschheitsverbrechen wurde maßgeblich unter dem Eindruck der NS-Judenvernichtung geführt und mündete im Verlauf der 1970er Jahre in der Formulierung der These von der Singularität des Holocaust, die den politisch-historischen sowie philosophisch-ästhetischen Diskurs in der Folgezeit entscheidend prägte. Daraus erwuchs die paradoxe Situation, dass der Präzedenzfall der Auseinandersetzung um eine angemessene Repräsentation genozidaler Gewalt zugleich jeden Vergleich verbietet.10 Aussagen wie jene Claude Lanzmanns, dass den Holocaust ein Flammenkreis umgebe, den zu überschreiten bedeute, „sich der schlimmsten Übertretung schuldig [zu] mache[n]“,11 rücken die Debatte um die Repräsentation von und das kollektive Gedenken an genozidale Gewalt in den Widerspruch zwischen ästhetischem Darstellungstabu und ethisch-notwendiger Gedächtnisstiftung.12 Zusätzliche Brisanz gewinnt die Frage nach den spezifischen Möglichkeiten der Gedächtnisstiftung durch mahnende Kunstwerke, weil sich in der Folge von Theodor W. Adornos Diktum über die Unmöglichkeit der Dichtung nach Auschwitz Literatur unter den Generalverdacht der Affirmation gestellt sah.13 Angesichts der „unauflöslichen Dialektik von Kultur und Barbarei“ liege jedem Versuch einer literarischen oder lyrischen Annäherung oder Metaphorisierung ein Moment der Affirmation zugrunde, indem das Grauen in eine Form gebracht wird, die es konsumierbar macht. Als Reaktion auf dieses sprachkritische Diktum einer prinzipiellen Undarstellbarkeit angesichts der „Unsäglichkeit des Menschen möglichen Tötens, und seit der Moderne auch der technisch perfekten Beseitigung nicht mehr zählbarer Millionen einzelner Menschen, [die] zur Sprachlosigkeit oder zum Verstummen [führt],“ wurde stattdessen die unbegrifflich-bildende Kunst als schmaler Ausweg interpretiert, denn „sie allein kann versinnbildlichen, was nicht mehr sagbar ist.“14 9 Vgl. die Präambel des Internationalen Übereinkommens über die Verhütung und Bestrafung des Völkermords: www.igfm.de/menschenrechte/abkommen-und-vertraege/voel kermord/. 10 Ihren Höhepunkt fand dieser Diskurs um die Singularität des Holocaust bekanntermaßen 1986/87 im sogenannten Historikerstreit. Vgl. Piper; Kailitz. 11 Lanzmann (1994), S. 27. 12 Vgl. hierzu Sturm. 13 Adorno, Kulturkritik, S. 30. Bekanntermaßen revidierte Adorno selbst sein Urteil etwa 10 Jahre später in seiner Negativen Dialektik – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Lyrik Paul Celans. Zum Überblick über Reichweite und Wirkungsgeschichte des Diktums, vgl. Kiedaisch. 14 Koselleck, S. 20.
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Doch die Vermutung liegt nahe, dass eine derart vage Beschwörung der bildenden Kunst eher dem zeitgeschichtlichen Diskurs geschuldet ist, denn der Medienwechsel vom Wort zum Bild löst weder das Problem der Repräsentation noch der Rezeption. Es ist wenig plausibel, weshalb sich die Problematik von Form und Inhalt, von Abstraktion und Affirmation nicht gleichermaßen – wenn nicht in noch größerem Maße – für die bildenden Künste stellen sollte, wäre doch jeder Versuch einer historisierbaren, realistischen oder sinnstiftenden Visualisierung gleichermaßen „barbarisch“. Spätestens seit der Festlegung von genozidaler Gewalt als einzigartigem Verbrechen kann die Gedächtnisstiftung an Menschheitsverbrechen nicht durch den Rückgriff auf national- oder gruppenspezifisch etablierte Symboliken erfolgen. Die Zäsur des Holocaust erfasst Kulturproduktion und -rezeption als solche, weshalb der hoffnungsvolle Verweis auf die spezifische Medialität von unbegrifflich operierenden Künsten ins Leere laufen muss. Denn die kollektive Gedächtnisstiftung durch Kunstwerke steht ebenso wie die Literatur angesichts der Genozide des 20. Jahrhunderts vor der Herausforderung, neue ästhetische Strategien zu entwickeln. Ungeachtet und parallel zum philosophisch-ästhetischen Diskurs über die (Un-) Darstellbarkeit der Schoah ist in der Nachkriegszeit eine Vielzahl von Texten und Bildern entstanden – die Spannweite reicht von massentauglichen Produktionen wie der Fernsehserie Holocaust und Steven Spielbergs Schindlers List bis hin zu komplexen ästhetischen Formen wie der Lyrik Paul Celans und den Theaterstücken Samuel Becketts –, die den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs und das Gedächtnis der nachgeborenen Generationen entscheidend mitprägen. Diese Entwicklung macht deutlich, dass die Aufklärung über den Holocaust mittels Kunstwerken entscheidenden Anteil an der gegenwärtigen und zukünftigen Erinnerungskultur hat, vor allem angesichts des absehbaren Verschwindens von Überlebenden und Zeitzeugen.15 Deswegen ist eine kritische Analyse und Reflexion auf die Prämissen, Funktionsweisen und Intentionen gedächtnisstiftender Kunstwerke von entscheidender Bedeutung, weil sie das künftige Geschichtsbewusstsein maßgeblich formen und prägen. Hierzu werden im nächsten Abschnitt die Auswirkungen der Zäsur des Holocaust als „negativer Ursprungsmythos der Nachkriegswelt“16 exemplarisch an ausgewählten Mahnmalen in Berlin und Hamburg herausgearbeitet.17
Hartman. Margalit/Motzkin, S. 16. Siehe auch Knigge/Frei. 17 Im Folgenden werden nur Gedenkzeichen betrachtet, deren mahnende Funktion von Anfang an intendiert war. Explizit ausgenommen sind Gedenkstätten, Erinnerungsorte mit konkretem Bezug zum jeweiligen historischen Ereignis oder nicht intendierte Denkmäler, die erst durch eine nachträgliche Umwidmung zum Mahnmal wurden, wie beispielsweise das Bremer Reichskolonialehrendenkmal, das 1990 als „Anti-Kolonial-Denk-Mal“ umfunktioniert wurde. Vgl. hierzu Hinz. 15 16
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III. Mahnmale im öffentlichen Raum Grundsätzlich lassen sich zwei Formen öffentlichen Gedenkens unterscheiden: Entweder wird der städtische Raum als Bühne zur Mahnung künstlerisch gestaltet, indem Mahn- und Erinnerungszeichen gesetzt werden; oder der Raum selbst wird als Ort historischer Ereignisse kenntlich gemacht. Wie langwierig und kontrovers bereits die Entscheidungsfindung für eine der beiden Möglichkeiten verlaufen kann, lässt sich anhand der Debatte um die zentralen Mahnmale am Berliner Tiergarten für die Opfer genozidaler Gewalt im Nationalsozialismus nachzeichnen. Ausgangspunkt war der auf Betreiben von Stimmen aus der Öffentlichkeit angestoßene Diskurs um die Gestaltung und Nutzung des ehemaligen Reichssicherheitshauptamtes in den 1980er Jahren. Die nach dem Abriss der Ruinen in den 50er Jahren brachliegende Fläche fungierte bis dahin als eine Art unfreiwilliges, ungestaltetes Mahnmal und sollte zur 750-Jahrfeier der Stadt Berlin „vorzeigbar [gemacht] werden“.18 Im Zuge der Debatte kam die Forderung von Bürgerinitiativen und Verbänden der Opfer von NS-Verbrechen nach Errichtung eines oder mehrerer Mahnmale auf. Diese sollten am Ort der Planung und Organisation der Genozide an deren Opfer erinnern, um durch diese Sichtbarmachung zur Anerkennung der begangenen Verbrechen beizutragen. Stattdessen wurde die Entscheidung getroffen, den heute als Topographie des Terrors bekannten Ort als Dokumentationszentrum über die Geschichte der SS und der Gestapo und die Aufklärung über die Organisation der von ihnen verübten Verbrechen zu nutzen. Den von den Verbänden geforderten Mahnmalen wurden stattdessen alternative Bauflächen in der Nähe des Tiergartens zugewiesen. Aus dieser Entscheidung erwuchsen für deren Gestaltung diverse Schwierigkeiten, weil die geplanten Aufstellungsorte keinen historischen Bezug zu den Verbrechen besitzen, an die sie erinnern sollen. In Bezug auf die willkürliche Wahl des Ortes unterscheidet sich das von Peter Eisenman gestaltete Denkmal für die ermordeten Juden Europas (2005) nicht vom glorifizierenden Goethe-Denkmal Fritz Schapers (1880), das sich direkt gegenüber befindet. An diesem Ort prallen das abstrakte Mahnmal des 21. Jahrhunderts und die allegorische Denkmalkunst des 19. Jahrhunderts unvermittelt aufeinander, weil ihnen das gleiche ortsungebundene Repräsentationsverständnis im öffentlichen Raum zugrunde liegt. In beiden Fällen liegt der Schwerpunkt nicht auf der Dokumentation der tatsächlichen Ereignisse, die sich an den Orten abgespielt haben, sondern auf der Demonstration der symbolischen Präsenz an prominenten Plätzen. Öffentliches Gedenken wird hier als Ergebnis eines Kommunikations- und Transformationsprozesses sichtbar. So geht die Entscheidung des Deutschen Bundestags für die Errichtung des Denkmals für die ermordeten Juden Europas (Abb. 1) an seinem heutigen Platz einher mit der Überschreibung der bisherigen Geschichte des Ortes. Im heutigen Stadtbild ist nicht mehr sichtbar, dass auf dem 18 Sitzung der Bezirksverordnetenversammlung in Kreuzberg am 13. Juli 1984. S. 26, zit. nach Schittenhelm, S. 66.
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Abbildung 1: Denkmal für die ermordeten Juden Europas. Peter Eisenman, Bauzeit 2003–2005, Berlin-Mitte
Grundstück des Mahnmals einst die Ministergärten und Adelspalais angesiedelt waren, in denen später die Ministerien Preußens, des Kaiserreichs und der Weimarer Republik untergebracht waren; dass das Mahnmal sich einen Teil seiner Grundfläche mit dem ehemaligen Stadtpalais von Joseph Goebbels teilt; oder dass das gesamte Gebiet während der Teilung Berlins im sogenannten Todesstreifen lag. Die Errichtung des Mahnmals ist Ausdruck der politischen und gesellschaftlichen Entscheidung, der Repräsentation einer bestimmten Opfergruppe des Nationalsozialismus im öffentlichen Raum und damit im öffentlichen Bewusstsein im Vergleich zur konkreten Geschichte des Ortes größeres Gewicht beizumessen. Weil es keine direkte lokale Rückbindung an die Deportation und Vernichtung der europäischen Juden gibt, muss der Ort des Mahnmals mit den Ereignissen, an die es erinnern will, artifiziell verknüpft werden. Unter Verzicht auf jede sprachliche Anleitung oder Erklärung soll im Falle von Eisenmans Entwurf das Feld mit den 2711 Stelen mit seinen engen Gängen und dem gewelltem Boden die „Hegemonie des Visuellen […] überwinden, es setzt auf primäre körperliche Erfahrung und die Affekte“, um Vereinzelung und Beklemmung hervorzurufen.19 Dadurch sollen die Besucher_innen in die Lage versetzt werden, sich emotional und körperlich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen, weil er sich weder kognitiv noch visuell repräsentieren lässt. Doch wie alle Kunstwerke haben auch Mahnmale das Potential eines ästhetischen Deutungsüberschusses, das über den Stiftungszweck hinausgeht. Weil die Assoziationen und Empfindungen im Vagen verbleiben, braucht es zusätzliche Informationen, um die Wahrnehmung und Rezeption zu lenken. Die intendierte 19
Eisenman. Zum Eisenman-Entwurf, siehe auch Manguel.
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Abbildung 2: Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen. Michael Elmgreen und Ingar Dragset, Bauzeit 2007 – 2008, Berlin-Mitte
Funktion des Mahnmals muss deswegen durch Inschriften oder Ähnliches kenntlich gemacht werden, damit sich die Empfindungen der Besucher_innen nicht in subjektiver Selbstbezüglichkeit erschöpfen. Denn jedes Nacherleben oder Einfühlen muss notwendig fiktiv bleiben. Die Semantik des Denkmals für die ermordeten Juden Europas ist denn auch im höchsten Maße von der Sinngebung durch den Ort der Information abhängig. Dieser stellt allerdings eine nachträgliche Ergänzung der ursprünglichen Pläne von Peter Eisenman dar und ging auf Bedenken zurück, das Mahnmal allein wäre un- oder missverständlich. Ein Vergleich mit dem 2008 eingeweihten Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen (Abb. 2) des Künstlerduos Elmgreen und Dragset zeigt außerdem, dass eine einmal gefundene, spezifische bildnerische Ausdrucksform, die für eine konkrete Rezeptionssituation entwickelt wurde, Gefahr laufen kann, zur rein ästhetischen Formel zu werden. Der übergroße, verein-
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zelt und abseits des großen Stelenfeldes stehende Betonquader wirkt durch seine äußere Form wie eine nachträgliche Ergänzung des drei Jahre zuvor eingeweihten Eisenman-Entwurfs. Im Protokoll der Preisgerichtssitzung wurde diese „formale Korrespondenz“ zum Stelen-Motiv entweder „skeptisch beurteilt“, weil sie „vorschnell zu einer gedanklichen Gleichsetzung von Holocaust und angeblichem ‚Homocaust‘ führen“ könne, oder aber als „höchst intelligente[r] Kommentar zum Holocaust-Denkmal“ gelobt, das „ja auch der Ausgangspunkt für das jetzige Homosexuellen-Denkmal gewesen sei.“20 Hier wird deutlich, dass die Singularitätsthematik des Holocaust prägenden Einfluss auf die Auswahl des Siegerentwurfs hatte. Visuelle Erinnerungszeichen operieren immer zwischen singulärer Formfindung und Komplexitätsreduktion zugunsten größtmöglicher Verständlichkeit. Für die Rezeption entsteht dadurch die Gefahr, die künstlerische Form als Symbol oder Metapher für das Ereignis selbst misszuverstehen. Aus der visuellen Ähnlichkeit der künstlerischen Gestaltung der Gedenkzeichen wird eine möglichen Relativierung abgeleitet, die aus dem Blick verliert, dass das Mahnmal nicht auf die Repräsentation des Ereignisses zielt, sondern auf Mahnung als aktiven Prozess.21 Einem ganz anderen Ansatz folgt ein Mahnmal im Hamburger Stadtteil Harburg, das 1986 vom Künstlerduo Jochen Gerz und Esther Shalev-Gerz gestaltet wurde. Das Mahnmal gegen Faschismus, Krieg, Gewalt – für Frieden und Menschenrechte (Abb. 3 und 4) wurde anders als die Mahnmale in Berlin gezielt an einem alltäglichen, nicht repräsentativen Ort aufgestellt und besteht aus einer zwölf Meter hohen Stele mit dünner Bleiummantelung. Eine Tafel informierte die Passant_innen in sieben Sprachen über das Mahnmal und lud sie dazu ein, ihre Namen mit einem der vier an der Stele angebrachten Griffel in die Bleischicht zu ritzen.22 Sobald die erreichbare Fläche vollständig beschrieben war, wurde die Stele um dieses Stück abgesenkt. Über einen Zeitraum von sieben Jahren verschwand sie nach und nach von der Bildfläche und versank schließlich vollständig im Boden. Heute ist nur über eine Glasscheibe der Einblick auf einen Teil der Stele möglich. Das Mahnmal präsentiert sich als dialektische Wendung und Absage gegen alle Formen des ritualisierten Erinnerns entlang von Gedenksteinen und verurteilt den Fetischismus einer repräsentativen Denkmalflut, der keine tatsächlich aktive Praxis 20 Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur – Kunst im Stadtraum und am Bau: Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen, Protokoll der Preisgerichtssitzung (24./25. 1. 2006), Bericht der Vorprüfung, S. 7. (Online: http://www. gedenkort.de/files/GedO_Protokoll_Jury.pdf). 21 Der Streit um die Separierung bestimmter Opfergruppen und ihre In- oder Exklu sion in den Mahnmalsetzungen sowie die unterschiedlichen Konsequenzen der Verfolgung für diese Gruppen (beispielsweise wurde die Kriminalisierung der Homosexuellen auch nach 1945 durch die Übernahme des von den Nationalsozialisten verschärften § 175 ins Strafgesetzbuch fortgesetzt) dauert bis heute an. Für eine ausführliche Darstellung der Entstehungsgeschichte des Mahnmals und der Kontroverse, ob das Mahnmal homosexuellen Männern wie Frauen gleichermaßen gewidmet werden sollte, siehe Drechsel/Pingel. 22 Auch die gelegentliche Einschreibung faschistischer und antisemitischer Parolen und Symbole ins Mahnmal wurde bewusst in Kauf genommen und nicht zensiert.
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Abbildung 3: Mahnmal gegen Faschismus, Krieg, Gewalt – für Frieden und Menschenrechte/ Monument Against Fascism. Esther ShalevGerz and Jochen Gerz, 1986, permanent installation view, Hamburg-Harburg: Photographie des Mahnmals vor der Absenkung der Stele
Abbildung 4: Mahnmal gegen Faschismus, Krieg, Gewalt – für Frieden und Menschenrechte/ Monument Against Fascism. Esther Shalev-Gerz and Jochen Gerz, 1986, permanent installation view, Hamburg-Harburg: Photographie der Bodenplatte nach der vollständigen Absenkung der Stele im Jahr 1993
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Abbildung 5: Orte des Erinnerns – Denkmal im Bayrischen Viertel: Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden in den Jahren 1933 – 1945. Renata Stih und Frieder Schnock, 1993, Berlin-Schöneberg: Text- und Bildseite eines der 80 Schilder
des Gedenkens auf Seiten der Besucher_innen entspricht. Es thematisiert die Abwesenheit der Opfer und ihr permanent vom Verschwinden und Vergessen bedrohtes Andenken durch den Vollzug seines eigenen allmählichen Verschwindens. Statt der Errichtung eines auf Dauerhaftigkeit ausgerichteten, repräsentativen Mahnmals, das seine warnende Wirkung gerade aus der Entzeitlichung des Ereignisses produzieren will, verweist es explizit auf seine eigene sich verändernde Form.23 Mahnung und Gedenken vollziehen sich durch das Partizipationsangebot an die Besucher_innen als aktiver Prozess individueller Selbstverantwortung, denn, wie Jochen Gerz selbst kommentierte: „Die Orte der Erinnerung sind Menschen, nicht Denkmäler.“24 Eine Steigerung dieser Art von Mahnmalen als sozialer Plastik ist das vom Künstlerduo Renata Stih und Frieder Schnock konzipierte dezentrale Mahnmal Orte des Erinnerns im Bayrischen Viertel: Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden in den Jahren 1933 – 1945 (Abb. 5 und 6).25 Das 1993 eingeweihte Mahnmal geht auf die Initiative von Anwohner_innen zurück, die in den 80er Jahren die Geschichte ihres Stadtviertels während des Zweiten Weltkriegs zu erforschen begannen. Ziel des Mahnmalentwurfes ist es, die Maßnahmen sichtbar zu machen, die die Vernichtung der jüdischen Einwohner_innen des Viertels vorbereiteten und ermöglichten. Diese sollen begreiflich und nachvollziehbar werden als ein in den Alltag integrierter, schleichender Prozess aus Dutzenden von Regelungen und Gesetzen, der sich vor den Augen aller abgespielt hat. Dazu wurden 80 doppelseitig gestaltete Schilder mit den Maßen 50 × 70 cm im gesamten Viertel in einer Höhe von etwa drei Metern an Masten der Straßenbeleuchtung angebracht. Jedes Schild besteht aus einer Textseite, die Auszüge aus NS-Gesetzen und Verordnungen zeigt, mit denen die Entrechtung der Juden in Deutschland vorangetrieben wurde. Auf der anderen Seite Zum Aspekt des Transitorischen und Ephemeren, vgl. Diers. Gerz. 25 Zum Mahnmalentwurf siehe: http://www.stih-schnock.de/remembrance. 23
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Abbildung 6: Orte des Erinnerns – Denkmal im Bayrischen Viertel: Ausgrenzung und Entrechtung, Vertreibung, Deportation und Ermordung von Berliner Juden in den Jahren 1933 – 1945. Renata Stih und Frieder Schnock, 1993, Berlin-Schöneberg: Photographie des Schildes im Stadtraum
ist jeweils ein vereinfachtes Bild zu sehen, das vage auf den Textinhalt ausgerichtet ist. Außerdem stellen einige Schilder einen direkten Bezug zu ihrem Aufstellungsort her, wenn beispielsweise auf einem Schild an einem Kinderspielplatz zu lesen ist: „Arischen und nicht-arischen Kindern wird das Spielen miteinander untersagt. 1938“. Die mahnende Funktion erfüllt sich durch die Vernetzung von Orten und Informationen über ihre Geschichte. Darüber hinaus ist es von der aktiven Teilnahme und Bereitschaft der Betrachter_innen abhängig, die den Spuren ehemaligen jüdischen Lebens Aufmerksamkeit entgegenbringen müssen. Damit registriert das Mahnmal – oder treffender der Mahn-Raum – den jeweiligen Stand der Gedächtnis- und Gedenkbereitschaft der Gesellschaft. Gedächtnisstiftung ist nicht länger Sache repräsentativer, zentraler Symbolbildung, die, einmal errichtet, durch ihre bloße Existenz Anspruch auf Dauerhaftigkeit erhebt. Wie in Hamburg-Harburg wird die Funktion des Mahnmals ausgeweitet um die Aufgabe, die Menschen mit ihren stereotypischen Sichtweisen und Vorurteilen zu konfrontieren. Dazu gehören die während der Anbringung der Schilder erfolgten judenfeindlichen Beschimpfungen ebenso wie die Alarmierung der Polizei durch Anwohner_innen, die sich über die Anbringung antisemitischer Schilder besorgt zeigten.26 26 Der daraufhin erfolgte Beschluss, dass unter jeder der 80 Tafeln ein Zusatzschild mit dem Hinweis auf die Denkmalfunktion anzubringen sei, bezeugt, dass auch in diesem Fall eine rahmende Erklärung notwendig war, um die künstlerische Installation als Mahnmal zu kennzeichnen.
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IV. Mahnung als performativer Prozess Die angeführten Beispiele für öffentliche Mahnmale zeichnen sich durch eine explizit selbstreflexive Wendung aus. Die Idee einer überzeitlichen Sicherung des Gedenkens durch das repräsentative Mahnmal wird verschoben hin zu einem Verständnis gesellschaftlichen Gedenkens als permanentem Prozess der Neuverhandlung. Wie gezeigt wurde, hinterlässt der paradoxe, utopische Anspruch an Werke der bildenden Kunst in Bezug auf genozidale Gewalt in jedem Mahnmal innere Spannungen, weil die reine Verlagerung der Mahn- und Gedenkarbeit auf nicht-begriffliche Künste das Problem der Repräsentation nicht löst. Das mahnende Gedenken durch öffentliche Bildwerke vollzieht sich im andauernden Widerspruch zwischen ethischer Notwendigkeit und ästhetischem Darstellungstabu, das zur Abstraktion und damit zur semantischen Offenheit drängt. Im Falle des Denkmals für die ermordeten Juden Europas ist der ungegenständliche Entwurf eines entlokalisierten, körperlich-affektiven Gedenkens im höchsten Maße durch quasi-museale Informationszugabe abhängig. Die Mahnmale in Hamburg-Harburg und im Bayrischen Viertel hingegen müssen sich damit auseinandersetzten, dass sie durch die Mitbestimmung und Einbindung der Betrachter_innen der Gefahr ausgesetzt sind, als Plattform für faschistisches Gedankengut benutzt oder aber im Stadtraum überhaupt nicht wahrgenommen zu werden. Die Beispiele sollen verdeutlichen, dass Mahnmale ihre Bedeutung für die Untersuchung gedächtnisstiftender Prozesse nicht zuletzt über den Vergleich mit anderen Mahnmalen gewinnen. Ungeachtet des moralischen oder ästhetischen Urteils darüber, ob ein spezifisches Mahnmal gelungen, angemessen oder geschmackvoll sei, verweist die Tatsache der beständigen Neuerrichtung von Mahnmalen überhaupt auf die gesellschaftliche und politische Praxis einer andauernden, unabgeschlossenen Auseinandersetzung mit den Folgen von Genoziden. Anders als die Denkmäler des 19. Jahrhunderts, die durch die Indienstnahme eines fest definierten Symbolkanons eine bestimmte Art des Andenkens durchsetzen wollten, lässt sich das Gedenken an den Holocaust als Ereignis von menschheitsgeschichtlicher Relevanz nur realisieren, wenn es mahnenden Kunstwerken gelingt, die dauerhafte Vergegenwärtigung im je individuellen Bewusstsein zu leisten und dadurch auf das generationelle Problem des Postmemory zu reagieren. Die innovative Qualität von künstlerischen Mahnmalen besteht darin, dass sie zugleich als Objekt und Medium der Erkenntnis fungieren. Mahnmale zeichnen sich durch eine spezifische Art der Performativität aus, die grundsätzlich anders funktioniert als andere Formen des An- oder Gedenkens, denn sie zielen auf eine spezifische Art des Erlebens und der Erkenntnisgenerierung, die sich durch ästhetische Distanz, performative Einbindung und Partizipation der Rezipient_innen, Situativität und konstitutive Unabschließbarkeit auszeichnet. In diesem Sinne bezeugen Mahnmale die Kontinuität der Gedächtnisstiftung gerade durch die Diskontinuitäten ihrer Formgebung. Je größer der zeitliche Abstand zum Ereignis wird, umso drängender wird die Reflexion auf die Methodiken der Geschichtsschreibung und die Eigengesetzlichkeiten der Medien der Gedächtnisstiftung. Während die in der Folge der 60er Jah-
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re ausgefochtene Debatte um Nichtdarstellbarkeit und Singularität des Holocaust stark durch die Präsenz und Beteiligung von Zeitzeugen geprägt war, hat sich in den letzten Jahren eine Verschiebung von einem auf die Überlebenden zentrierten hin zu einem dezentrierten Diskurs vollzogen, der die Frage nach Gedächtnisstiftung und Geschichtsschreibung aus einer global vernetzten Perspektive stellt, die transgenerationell und über lokale sowie nationale Grenzen hinweg wirksam bleiben soll.27 Die Mahnmalpraxis ist wichtiger Prüfstein der andauernden Neuverhandlung des Geschichtsbewusstseins einer Gesellschaft und ihrer Identitätsbildungsprozesse. Solange jede neue Generation das Bedürfnis entwickelt, ihrer Position und Stellung zur Vergangenheit in Form von Mahnmalen Ausdruck zu verleihen, wird der Diskurs um die Verantwortung und damit das Gedenken an die Opfer weitergeführt.
V. Mahnung und Nachleben Entlang der Untersuchung künstlerisch gestalteter Mahnmale hat sich gezeigt, dass deren Funktion nicht auf die Repräsentation im Sinne einer Abbildung zielt, sondern vielmehr auf die Etablierung dessen, was sich in Anlehnung an den Kulturwissenschaftler Aby M. Warburg als Nachleben bezeichnen ließe. Seine Untersuchung der Wanderung und des transgenerationellen Nachwirkens antiker Ausdrucksformen im europäischen Kulturgedächtnis – Warburg prägte hierfür den Begriff der Pathosformeln – verband das Problem des künstlerischen Ausdrucks von Leid(ens)erfahrungen mit dem Aspekt ihrer Verarbeitung und Bewältigung. Seine revolutionäre Deutung der Kunst als „soziale[s] Erinnerungsorgan“28 richtete den Fokus kunst- und kulturwissenschaftlicher Forschung Anfang des 20. Jahrhunderts in einer bis dahin ungekannten Weise auf den gedächtnisstiftenden Aspekt von Kunstwerken. Dies legt es nahe, die Kategorie des Nachlebens für die Untersuchung künstlerischer Mahnmale nutzbar zu machen, denn anders als die Schlagworte „Vergangenheitsbewältigung“ oder „Aufarbeitung der Vergangenheit“, die eine prinzipielle Abschließbarkeit postulieren bzw. implizieren, hat Warburgs Nachleben die Qualität einer dauerhaften Wunde; er entwarf seine Pathosformeln als ungelöste und ungelöst bleibende Form- und Ausdrucksprobleme, der sich jede Generation aufs Neue stellen muss. In ähnlicher Weise antwortete auch der französische Künstler Christian Boltanski, als man ihn fragte, wie er ein Holocaust-Mahnmal gestalten würde: […] I told them that I think that the best solution to make a monument about the holocaust will be to make a monument very, very fragile and monuments that you have to rebuild every week. Because if you make a monument in bronze, after some time you forget completely why the monument was there but if you have to rebuild the monument every week, you must to [sic] repeat the prayer every week and you must to [sic] think about the monument and if the monument is destroyed – this time is very dangerous and 27 28
Vgl. hierzu auch Buchenhorst. Warburg, S. 586.
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for this reason I think it is much better to make very fragile monuments and not heavy monuments.29
Durch diesen am Nachleben orientierten Diskurs eröffnet sich auch eine neue Perspektive auf das Diktum der Undarstellbarkeit: Nicht im Sinne einer Absage an jeglichen Versuch der Darstellung, die immer in einem Verhältnis der Auslegung, Perspektivierung und Abstraktion zum genozidalen Ereignis steht, das unhintergehbar und singulär bleibt, sondern als permanente Neubefragung und Überprüfung des Bedürfnisses nach Repräsentation. Das Undarstellbarkeitsdiktum wäre demnach nicht als normativer Imperativ, als generelles Bilderverbot zu verstehen, sondern funktional zu bestimmen; als eine Art Seismograph, der die bestehenden ethischen Maßstäbe und ästhetischen Prämissen, die zur Darstellung drängen und ihr zugrunde liegen, registriert. Das Undarstellbarkeitsparadox ließe sich so als eine selbstauferlegte unbedingte Verpflichtung zur kritischen Selbstreflexion jeder Praxis und jeglichen Anspruchs auf Repräsentation verstehen. Die Aufrechterhaltung dieser (Selbst-)Zensur stellt den Ausweis einer ethischen Haltung dar, in der die These des „Zivilisationsbruchs Auschwitz“ als Signatur der Geschichte des 20. Jahrhunderts und der westlichen Zivilisation nachlebt.30 Als Abschluss sei unter der Perspektive des Nachlebens auf zwei Gedenkzeichen für Opfer genozidaler Gewalt verwiesen, deren mahnendes Potential sich bezeichnenderweise durch ihre Zerstörung umso stärker entfaltet – die also in einer buchstäblicheren Art und Weise auf eine Wunde im kollektiven Gedächtnis verweisen. Die Rede ist zum einen von dem 1919 in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul während der britischen Besetzung einiger Teile des Osmanischen Reiches erbauten Gedenkzeichens für die Opfer des Völkermords an den Armeniern (Huşartsan), (Abb. 7). Seine Besonderheit besteht darin, dass es nur wenige Jahre nach dem Völkermord und Jahrzehnte vor der offiziellen, rechtlichen Genozid-Definition im Völkerstrafrecht errichtet wurde. Es befand sich auf dem Gebiet des ehemaligen armenischen Friedhofs, der in den 1930er Jahren im Zuge der Erweiterung des Taksim-Gezi-Parks abgerissen wurde. Schon drei Jahre nach seiner Aufstellung wurde es 1922 im Verlauf der türkischen Nationalbewegung und der Unabhängigkeitskriege zerstört. Obwohl heute nichts mehr auf seine ehemalige Existenz hinweist, wird während Gedenkveranstaltungen beständig auf das einstige Mahnmal verwiesen.31 In dieser andauernden Erinnerung entfaltet sich seine nachlebende Qualität: Sein mahnender Appell wirkt auch nach seiner Zerstörung fort, weil wiederum die Leerstelle, die es hinterlassen hat, zum Katalysator für den andauernden Diskurs um die Anerkennung der türkischen Verbrechen an den Armeniern wird. Boltanski. Diner (1988) und Diner (2007). 31 Beispielsweise organisiert die türkische Menschenrechtsorganisation DurDe jährlich am 24. April eine Gedenkveranstaltung und wies 2013 im Rahmen der Proteste in der Türkei explizit auf das Mahnmal hin. (Online: http://mail.lragir.am/index/eng/0/politics/ view/30110). 29
30 Vgl.
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Abbildung 7: Erstes Denkmal für den Völkermord an den Armeniern. 1919 – 1922 (zerstört), ehemals in der Nähe des Taksim-Platzes, Konstantinopel (Istanbul): Photographie des Gedenksteins auf dem Cover von Teotigs (Teotoros Lapçinciyan) Huşartsan (1919)
Die Leugnung des Genozids und die verweigerte Repräsentation seiner Opfer im öffentlichen Raum werden auch in jüngster Zeit weitergeführt. So ordnete der türkische Ministerprsäident Erdoğan im Jahr 2011 den Abriss der Skulptur Monument of Humanity (Abb. 8) des Künstlers Mehmet Aksoy an, die nach ihrer Fertigstellung von dem nur wenige Kilometer entfernten Armenien aus sichtbar gewesen
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Abbildung 8: İnsanlık Abidesi / Monument of Humanity / Denkmal der Menschlichkeit. Mehmet Aksoy, 2006 – 2008 (zerstört), Kars (Türkei): Photographie der Statue vor dem Abriss
wäre. Ihre Errichtung ging auf den Auftrag des Bürgermeisters der ostanatolischen Stadt Kars aus dem Jahr 2006 zurück. Die 35 Meter hohe Skulptur stellt eine durch einen Riss in zwei Hälften geteilte menschliche Figur dar. Ihre erhobene Hand sollte als Zeichen der Versöhnung nicht einer der beiden Hälften, sondern beiden gemeinsam zugeordnet werden. Die Skulptur ist kein Symbol für den Völkermord an den Armeniern, sondern mahnt an sein Gedenken, indem sie die Folgen der jahrzehntelangen Leugnung für die Beziehung der beiden Länder ausstellt.32 Dieser Bezug auf die aktuelle gesellschaftliche Situation führt dazu, dass die Wucht und Aktualität ihrer Aussage durch ihre Zerstörung zusätzlich verstärkt wird. Beide Fälle bezeugen, dass es trotz der offiziell ausagierten Geschichtspolitik das persistierende Bedürfnis zur öffentlichen Mahnung gibt, das nicht zuletzt durch das Nachleben der zerstörten Mahnmale im kollektiven Gedächtnis weitertradiert und so in der Erinnerung lebendig gehalten wird.
32 Nach eigener Aussage war Aksoys größter Wunsch die Antwort der armenischen Seite mit einer Skulptur für Frieden und Versöhnung. (Online: http://www.hurriyetdailynews. com/default.aspx?pageid=438&n=monument-to-symbolize-peace-unity-2008 – 04 – 10).
Anhang
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Bildnachweise Bildnachweis
Rinner 1 (S. 288): Wikimedia Commons, User: Chaosdna (Creatice Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported licence) https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/ a/a5/Memorial_to_the_murdered_Jews_of_Europe.jpg Rinner 2 (S. 289): Wikimedia Commons, User: Times (GNU-Lizenz) https://upload.wiki media.org/wikipedia/commons/c/c9/Denkmal_fuer_verfolgte_Homosexuelle_Berlin2.JPG Rinner 3 (S. 291): Photo: Shalev-Gerz Studio, © the artist Rinner 4 (S. 291): Photo: Shalev-Gerz Studio, © the artist Rinner 5 (S. 292): © Stih & Schnock, Berlin/VG Bild-Kunst Bonn/Berlin Rinner 6 (S. 293): © Stih & Schnock, Berlin/VG Bild-Kunst Bonn/Berlin Rinner 7 (S. 297): Wikimedia Commons, Public Domain. https://upload.wikimedia.org/ wikipedia/commons/d/d5/ErmeniSoykirimAniti.jpg Rinner 8 (S. 298): Wikimedia Commons, User: Ggia (Creative Commons AttributionShare Alike 3.0 Unported license); https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/a/a5/ Monument_to_Humanity_by_Mehmet_Aksoy_in_Kars%2CTurkey.jpg
Autorinnen und Autoren Autorinnen und Autoren
Yair Auron, Prof. Dr., ist Professor an der Open University Israel. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Genozidforschung, Genozid als Thema in Bildung und Unterricht, Judentum in der Gegenwart und israelisch-palästinensische Beziehungen. Er setzt sich seit Jahrzehnten für eine offizielle Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch den Staat Israel ein und lebt in der israelisch-palästinensischen Dorfkooperative Neve Shalom – Wahat al-Salam. Er ist Autor und Herausgeber von über dreißig Büchern in Hebräisch, Englisch, Französisch, Deutsch, Armenisch und Russisch darunter: The Pain of Knowledge – Holocaust and Genocide Issues in Education, New Brunswick 2005; Israeli Identities: Jews and Arabs Facing the Self and the Other, New York/London 2012. Christoph Beeh, M. A., studierte Deutsche Philologie und Europäische Ethnologie an den Universitäten Göttingen und Yeditepe Istanbul, gefolgt von einem binationalen Masterstudium in European Studies an den Universitäten Viadrina Frankfurt/Oder und Bilgi Istanbul. Eine Promotion im Bereich der Kognitiven Linguistik an der Universität Debrecen ist in Vorbereitung. Seit 2015 ist er als Lektor am Lehrstuhl für Germanistische Linguistik der Universität Szeged tätig, im Frühjahr 2017 erfolgte eine Kurzzeitdozentur an der Namik-Kemal-Universität Tekirdag. Weitere praktische Lehrtätigkeiten in der Jugend- und Erwachsenenbildung, insbesondere im Bereich Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Letzte Veröffentlichung: Metaphern im Wandel der Moderne: Metaphern- oder Paradigmenwechsel? in: Nubert, Roxana (Hrsg.): Temeswarer Beiträge 13, 2017. Martina Bitunjac, Dr. phil, Historikerin. Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam und geschäftsführende Redakteurin der Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte (ZRGG). Seit 2014 lehrt sie an der Universität Potsdam. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Geschichte Südosteuropas, insbesondere der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, Erinnerungskulturen auf dem Westbalkan und Geschlechtergeschichte. Veröffentlichungen u. a. „Es war ein schwerer, aber ehrenvoller Kampf gegen den Faschismus.“ Jüdinnen im jugoslawischen Widerstand, in: Schoeps, J. H./Bingen, D./Botsch G. (Hrsg.), Jüdischer Widerstand in Europa (1933 – 1945). Formen und Facetten, Berlin/Boston 2016, S. 126 – 138. Le donne e il movimento ustascia, Rom 2013. Medardus Brehl, Dr. phil., Literaturwissenschaftler und Historiker, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum. Er ist Redaktionsmitglied der Zeitschrift für Genozidforschung und Mitglied des Zentrums für Mittelmeerstudien der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Genozidforschung, Diskurstheorie und Diskursgeschichte, das Verhältnis von Textualität und Historizität sowie der Themenkomplex „Gewalt und Sprache“. Veröffentlichungen sind u.a.: Vernichtung der Herero. Diskurse der Gewalt in der deutschen Kolonialliteratur, München 2007; (zusammen mit Kristin Platt): Feindschaft, München 2003. Daniel Bultmann, Dr. phil., arbeitet derzeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Asien- und Afrikawissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin. Hier forscht er
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aktuell in einem DFG-Projekt zu „Übergangsstrategien in der Demobilisierung bewaffneter Gruppen“. Seine Forschungsschwerpunkte liegen neben der Geschichte der Roten Khmer in der Gesellschaft und Politik Kambodschas, in Theorien sozialer Ungleichheit, in der Sozialstrukturanalyse nicht-staatlicher bewaffneter Gruppen sowie in der Reintegration von Soldaten und Kommandeuren im Übergang zum Frieden. Zuletzt ist von ihm erschienen: Kambodscha unter den Roten Khmer. Die Erschaffung des perfekten Sozialisten, Paderborn 2017. Mihran Dabag, Prof. Dr., Direktor des Instituts für Diaspora- und Genozidforschung der Ruhr-Universität Bochum. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Theorie strukturvergleichender Genozidforschung, Nationsbildung und Nationalismus, Geschichte des Osmanischen Reichs im 19. Jahrhundert, Ideologie der Jungtürken, Gedächtnis und Erinnerung. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, davon zuletzt erschienen: (mit Kristin Platt): Verlust und Vermächtnis. Überlebende des Genozids an den Armeniern erinnern sich, Paderborn 2015; (mit Dieter Haller, Nikolas Jaspert, Achim Lichtenberger): New Horizons. Mediterranean Research in the 21st Century, Paderborn 2016. Olaf Glöckner, Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien in Potsdam und Lehrbeauftragter an der Universität Potsdam (Geschichte, Jüdische Studien) seit 2011. Er forscht zu jüdischen Migrationsbewegungen der Gegenwart, Community Building im europäischen Judentum seit 1989 und zu modernem Antisemitismus. Zuletzt von ihm erschienen: Deutschland, die Juden und der Staat Israel. Eine politische Bestandsaufnahme, Olms, Hildesheim 2016 (hrsg. zus. mit Julius H. Schoeps). Gerd Hankel, Dr. jur., M.A., Völkerrechtler und Sprachwissenschaftler, wissenschaftlicher Angestellter der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur, assoziiert am Hamburger Institut für Sozialforschung. Autor zahlreicher Publikationen zum humanitären Völkerrecht, zum Völkerstrafrecht und zum Gewaltgeschehen im afrikanischen Gebiet der Großen Seen; zuletzt sind von ihm erschienen: Ruanda. Leben und Neuaufbau nach dem Völkermord. Wie Geschichte gemacht und zur offiziellen Wahrheit wird, Hamburg 2016; The Leipzig Trials. German war crimes and their legal consequences after World War I, Dordrecht 2014. Irene Heidelberger-Leonard, Dr. phil., emeritierte Professorin für Neue deutsche Literatur an der Université libre de Bruxelles und Honorary Professorial Fellow am Queen Mary College, University of London. Mitglied der deutschen Akademie für Sprache und Dichtung. Zahlreiche Aufsätze zur Nachkriegsliteratur. Buch-Veröffentlichungen zu Günter Grass, Alfred Andersch, Ruth Klüger, Jean Améry, Jurek Becker, Peter Weiss, Thomas Bernhard, Ingeborg Bachmann, W. G. Sebald. Zuletzt sind von ihr erschienen: Jean Améry. Revolte in der Resignation. Biographie, Stuttgart, 2004; Gesamtherausgeberin von JEAN AMERY WERKE, 9 Bände, Stuttgart, 2002 – 2009. Imre Kertész. Leben und Werk, Göttingen 2015. Hans-Christian Jasch, Dr. jur., ist Jurist und Rechtshistoriker. Nach einer beruflichen Laufbahn beim Bundesministerium des Innern und der Europäischen Kommission wurde er im Mai 2014 Direktor der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz. Er ist Autor einer Reihe von Veröffentlichungen zur Verwaltungsgeschichte im „Dritten Reich“ und hat eine biographische Untersuchung zum Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, Wilhelm Stuckart, verfasst. Er hat ein berufsgeschichtliches Fortbildungsangebot
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für Referendare zum Thema Justiz und Juristen im „Dritten Reich“ entwickelt, welches Teil der Referendarausbildung des Kammergerichts ist. Zuletzt von ihm erschienen: (zusammen mit Christoph Kreutzmüller), Die Teilnehmer – die Männer der Wannsee-Konferenz, Berlin 2017; Staatssekretär Wilhelm Stuckart und die Judenpolitik: Der Mythos von der sauberen Verwaltung, Berlin/Boston 2012. Roy Knocke, M.A., Studium der Philosophie und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Derzeit ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lepsiushaus Potsdam und Lehrbeauftragter am Institut für Jüdische Studien und Religionswissenschaft der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialphilosophie, Politische Philosophie, „Genocide Studies“, (Kultur-)Geschichte politischer Gewalt. Zuletzt von ihm erschienen: Nieder mit den Andersgläubigen? Religion, Gewalt und der Genozid an den Armeniern, in: Hosfeld, Rolf/Schaede, Stephan (Hrsg.): Der Genozid an den Armeniern, Loccum 2016, S. 225 – 240; (zusammen mit Werner Treß): Franz Werfel und der Genozid an den Armeniern, Europäisch-jüdische Studien Beiträge Bd. 22, Berlin/Boston 2015. Stefan Kühl, Prof. Dr., Studium der Soziologie und der Geschichtswissenschaft an der Universität Bielefeld, der Johns Hopkins University Baltimore, der Oxford University und der Université Paris-X-Nanterre. Zurzeit Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Seine Forschungsschwerpunkte sind Gesellschaftstheorie, Organisationssoziologie. Interaktionsforschung und Wissenschaftsgeschichte. Neuere Veröffentlichungen: Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, Berlin 2015; Internationale der Rassisten. Aufstieg und Niedergang der internationalen eugenischen Bewegung, Frankfurt am Main 2015. Frank Neubacher, Prof. Dr. iur. M.A., Studium der Rechts- und Politikwissenschaft sowie der Neueren Geschichte in Bonn und München; 1997 Promotion an der Universität Bonn; 2003 Habilitation an der Universität zu Köln; Lehrstuhlvertretungen in Köln und Dresden; 2006 Berufung an die Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2009 an die Universität zu Köln, dort Inhaber des Lehrstuhls für Kriminologie und Strafrecht sowie Direktor des Instituts für Kriminologie; 2014/15 Präsident der Kriminologischen Gesellschaft (KrimG), Wissenschaftliche Vereinigung deutscher, österreichischer und schweizerischer Kriminologen. Seine Forschungsschwerpunkte sind der Strafvollzug, bes. Gewalt unter Gefangenen; Jugendkriminalität; Kriminalität der Mächtigen; Internationale Strafgerichtshöfe; Radikalisierungsprozesse. Jüngste Buchveröffentlichungen: Kriminologie, 3. Aufl., Baden-Baden, 2017; (zusammen mit Nicole Bögelein): Krise – Kriminalität – Kriminologie, Mönchengladbach 2016. Christin Pschichholz, Dr. phil, studierte Mittlere und Neuere Geschichte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lepsiushaus Potsdam und am Lehrstuhl für Militärgeschichte an der Universität Potsdam und arbeitet an einem Forschungsprojekt über die deutsche Rezeption von Bevölkerungspolitik und ethnischer Gewalt während des Ersten Weltkriegs. Neuere Veröffentlichungen: (zusammen mit Rolf Hosfeld): Das Deutsche Reich und der Völkermord an den Armeniern, Göttingen 2017; Zwischen Diaspora, Diakonie und deutscher Orientpolitik. Deutsche evangelische Gemeinden in Istanbul und Kleinasien in osmanischer Zeit, Stuttgart 2011. Ellen Rinner, M.A., studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Philosophie an der Freien Universität Berlin, der Humboldt-Universität Berlin und der Sorbonne (Paris IV) und schloss ihr Magisterstudium mit einer Arbeit zur visuellen Gedächtnispoetik in den Werken
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von W.G. Sebald und Aby M. Warburg ab. Neben bisherigen wissenschaftlichen Tätigkeiten am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris und am Sonderforschungsbereich „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ der Freien Universität arbeitet sie als Lektorin und Übersetzerin für das Lepsiushaus Potsdam und das Historische Museum Frankfurt. Derzeit ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem Publikationsprojekt über die Geschichte einer jüdischen Bankiersfamilie. 2014 erschien der gemeinsam mit Dorothea von Hantelmann verfasste Artikel „Performativity“ in der Encyclopedia of Aesthetics. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Philosophische Ästhetik; Kunst- und Kulturtheorie des 20. Jahrhunderts; visuelle und performative Gedächtniskulturen. Dan Stone, Prof. Dr., ist Professor für Neuere Geschichte und Direktor des Holocaust Forschungsinstituts am Royal Holloway College der Universität London. Derzeit arbeitet er, gefördert durch den Leverhulme Trust, an einem Projekt über den „Internationalen Suchdienst.“ Er ist Autor und Herausgeber von sechzehn Büchern, davon sind die jüngsten Veröffentlichungen: Concentration Camps: A Short History, Oxford 2017; The Liberation of the Camps: The End of the Holocaust and its Aftermath, Yale 2015. Scott Straus, Prof. Dr., ist Professor für Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen an der Universität Wisconsin-Madison. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Genozid (mit Fokus auf den afrikanischen Kontinent), politische Gewalt und Politik in Afrika. 2011 wurde er zum Winnick Fellow am U.S. Holocaust Memorial Museum berufen und 2016 wurde er von Barack Obama zum Mitglied im United States Holocaust Memorial Council ernannt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen, davon sind die jüngsten Veröffentlichungen: Making and Unmaking Nations War, Leadership, and Genocide in Modern Africa, Ithaca 2015; (mit Lars Waldorf): Remaking Rwanda State Building and Human Rights after Mass Violence, Wisconsin 2011. Shashi Tharoor, Ph. D., ist ein indischer Jurist, Schriftsteller, Politiker. Seit 1978 arbeitete er für die UNO. Von 1989 bis 1996 war er verantwortlich für friedenserhaltende Maßnahmen im ehemaligen Jugoslawien, von 2002 bis 2007 war er einer der Stellvertreter des Generalsekretärs Kofi Annan und für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Er ist ein langjähriges Mitglied der Kongresspartei und war von 2009 bis 2010 Staatsminister im indischen Außenministerium. Er ist Autor zahlreicher Artikel, Romane, Kurzgeschichten und politischer Kommentare. Für seine schriftstellerische Arbeit hat er mehrere Auszeichnungen erhalten, u.a. den „Commenwealth Writers Prize“. Zuletzt von ihm erschienen: Inglorious Empire: What the British did to India, London 2017, India Shastra: Reflections on the nation in our time, Neu-Delhi 2015.
Personenregister Personenregister
Abdul Hamid II. 70 Abdul Quader Mollah 226 Abul Kalam Azad 226 Adler, Hans Günther 144 Adorno, Theodor W. 144, 253, 256, 261, 263, 270, 285 Akayesu, Jean-Paul 226 Aksoy, Mehmet 297, 298 Améry, Jean, 74, 264, 266 al-Baschir, Omar 235 al-Motassadeq, Mounir 187 Annan, Kofi 227 Arendt, Hannah 50, 51, 63, 131, 143, 148, 270, 275, 277, 278 Audiat, Pierre 20 Bagosora, Théoneste 204 Barayagwiza, Jean Bosco 232, 233 Bauer, Erich 186 Bauer, Fritz 188, 189 Bauer, Yehuda 25, 36, 63 Bauman, Zygmunt 63, 65, 144, 148, 163 Beara, Ljubiša 232, 233 Beckett, Samuel 286 Belhaddad, Souâd 198, 199, 200, 205 Berger, Gottlob 182 Bernstein, Eduard 244, 245, 246 Best, Werner 40 Bloch, Ernst 186 Boltanski, Christian 295 Bormann, Martin 181 Breysig, Kurt 242 Camus, Albert 257, 258 Castoriadis, Cornelius 156 Celan, Paul 261, 264, 285, 286 Cemal Pascha 30
Churchill, Ward 52 Churchill, Winston 7, 169, 224 Çiçek, Cemil 30 Chou Chet 91 Demjanjuk, John 187 Dimitrov, Georgi 43 Divović, Magbula 126 Dodik, Milorad 117, 124, 125 Döring, Wilhelm 193, 194 Eichmann, Adolf 40, 143, 144, 148, 176, 177, 178, 180, 183 Eisenman, Peter 287, 288, 289, 290 Elias, Norbert 144 Enver Pascha 30 Erdoğan, Recep Tayyip 72 Faure, Edgar 176, 177 Faurisson, Robert 62 Ferencz, Benjamin 181 Fischer, Adolf 247, 249 Fischer, Fritz 143 Franken, Rob 119 Frenssen, Gustav 247, 248, 249, 250 Friedländer, Saul 35, 38, 55, 63 Frisch, Max 131 Gauck, Joachim 75, 121 Gerz, Jochen 290, 291, 292 Goebbels, Joseph 288 Gökalp, Ziya 161, 162, 163 Göring, Hermann 183, 185, 188 Götzen, Gustav Adolf von 241, 242, 244 Goffman, Erving 73, 74 Goldhagen, Daniel 38, 41, 141, 142, 143, 144, 149, 153 Gomerski, Hubert 186
Personenregister Grew, Joseph 174 Grimm, Hans 244 Gropius, Walter 283 Habyarimana, Juvénal 109, 110, 202 Haile Selassie 104 Hartmann, Eduard von 242, 248, 248, 250 Haushofer, Karl 162 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 243, 252, 270 Heng Samrin 94 Herder, Johann Gottfried 242, 249, 250, 252, 274 Hering, August 186, 191 Heydrich, Reinhard 37, 45, 177, 183, 185, 192, 193, 194 Himmler, Heinrich 37, 40, 137, 183, 151, 178, 180, 185, 188, 190, 192, 193, 194 Hirtreiter, Josef 186 Hitler, Adolf 36, 37, 43,50, 51, 61, 62, 139, 150, 153, 165, 170, 177, 178, 180, 185, 188, 190, 192, 193, 194, 223, 230 Höss, Rudolf 177, 178 Hoettl, Wilhelm 176, 177 Hofmann, Otto 165, 183 Hou Youn 91 Hu Nim 91 Hua Guofeng 93 Hume, David 243 Idi Amin 98, 106 Ieng Sary 85, 91 Irving, David 62 Izetbegović, Alija 117 Jackson, Robert 174, 175, 177, 180, 184 Kabila, Laurent 111 Kafka, Franz 261, 265 Kagame, Paul 202 Kamp, Henk 122 Kaltenbrunner, Ernst 177 Kant, Immanuel 224, 242, 243, 252 Karadžić, Radovan 118, 123, 125, 126
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Karreman, Thom 115, 119, 120, 122 Kaya, Şükrü 18 Kayibanda, Grégoire 109, 202 Kečo, Mensud 124 Keo Meas 91 Kertész, Imre 253, 254, 255, 256, 257, 258, 259, 260, 261, 262, 263, 264, 265, 266, 267 Khieu Samphan 85 Koch, Ilse 146 Kogon, Eugen 144 Kok, Wim 122 Koy Thuon 91 Krstić, Radislav 118, 123, 229 Lammers, Hans-Heinrich 182 Lammert, Norbert 70 Lang, Johann 239 Lanzmann, Claude 55, 285 Lemkin, Raphael 7, 8, 12, 21, 52, 63, 184, 212, 213, 224, 270, 271, 272, 273, 274, 275, 278 Lenin 9 Lepsius, Johannes 20, 59 Leuchter, Frederick 62 Levi, Primo 74, 135 Lon Nol 83, 86, 89, 90, 94 Mann, Thomas 257 Mannheim, Karl 155, 156, 157, 164, 166 Mao 83, 84, 85, 91, 93, 213 McCloy, John 173 McHaney, James 181 Mehmed Reşid Bey 27 Mehmet Talât 21 Meles Zenawi 104 Mengistu Haile Mariam 104, 105 Merensky, Alexander 246 Merkel, Angela 211 Milgram, Stanley 131, 132, 134 Milošević, Slobodan 117, 123 Mladić, Ratko 11, 115, 116, 118, 123 Mohr, Robert 193
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Personenregister
Morgen, Konrad 177, 178 Morgenthau, Henry 26, 27 Muguesera, Léon 203 Müller, Heinrich 177 Mujawayo, Esther 198, 199, 200, 205 Musil, Robert 283 Mustafa Kemal Atatürk 17, 18, 20, 21, 60 Nahimana, Ferdinand 233 Ndadaye, Melchior 202, 205 Nellmann, Erich 186 Ney Sarann 91 Ngeze, Hassan 233 Nhem Ros 91 Nikolić, Tomislav 124 Nuhanović, Hasan 119 Nuon Chea 84 Obote, Milton 98, 106, 107, 111 Ohlendorf, Otto 177, 181 Ohly, William F. C. 282 Orić, Naser 118 Özalp, Kâzım 18 Pol Pot 84, 90, 91, 93, 94, 213 Popović, Vujadin 231, 233 Rajzman, Samuel 177 Rapp, Albert 191 Reemtsma, Jan Philipp 146, 200, 201, 207, 277 Renda, Abdülhalik 18 Reuter, Johannes 283 Riegl, Alois 282 Robinson, Jacob 176 Roosevelt, Franklin D. 7, 169, 170, 173, 224 Ross, Henryk 47 Sars, Saloth 84 Sartre, Jean-Paul 201, 270 Schaper, Fritz 287 Schellenberg, Walter 182 Schmaglewskaja, Severina 177 Schnock, Frieder 292, 293
Schultze, Leonhard 246 Seko, Mobutu Sese 110 Seyfettin, Ömer 163 Shavez-Gerz, Esther 290, 291 Shawcross, Hartley 84, 178 Sihanouk, Norodom 83 Six, Alfred 40 So Phim 93 Son Sen 84, 89, 91 Spielberg, Steven 286 Stalin 9, 213 Stih, Renata 292, 293 Streckenbach, Bruno 177 Stuckart, Wilhelm 169, 182, 183, 186 Sutzkever, Abraham 177 Ta Mok 92 Talât Pascha 21, 27, 30 Tehlirian, Soghomon 21 Tito, Josip Broz 116 Toynbee, Arnold 20 Tuđman, Franjo 117 Vaillant-Couturier, Marie 177 Veil, Simone 198, 199, 200, 205 Vučić, Aleksandar 125, 126 Walsh, William 176 Warburg, Aby 295 Weber, Max 147, 148, 157 Weiß, Martin 186, 191 Weißmann, Martin 154 Weizsäcker, Ernst von 182 Werfel, Franz 59 Wilhelm II. 70 Wirth, Christian 177, 178 Wisliceny, Dieter 177, 178 Wittgenstein, Ludwig 269, 270 Zenner, Carl 192, 193 Zündel, Ernst 62